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German Pages 168 Year 1930
Sonntagspre dig tcn für den Alltag von
Oskar Bruhns Pfarrer an der Markuskirche zu Leipzig
Leipzig / I. C- Hinrichs'sche Buchhandlung
Printed in Germany Druck von W. Hoppe, Borsdorf
Vorwort Eigentümliche Fügungen Gottes warfen mich aus der
gewohnten Bahn, in sibirische Verbannung. Den Alltag mit
allen seinen Nöten und Sorgen lernte ich in 6 Jahren, in denen ich in allen möglichen Stellungen um meine Existenz
ringen mußte, kennen. In den furchtbaren äußeren und inneren Kämpfen der bolschewistischen Revolution durfte ich als Seelsorger und Prediger evangelischer Gemeinden an der Grenze Asiens und Europas armen verlassenen Men
schen helfen, ihr Leid zu tragen. Ohne daß ich es merkte oder ein bewußtes Programm
verfolgte, führte das Mitleiden mit den unter der Last des Alltags Iusammengebrochenen mich dazu, in meinen Pre digten daö rein Lehrhafte zurücktreten zu lassen, weil ich
im Angesicht dessen, was ich täglich an Herzeleid miterleben mußte, unter selbstverständlicher Vermeidung jeder hoch klingenden Rhetorik die alte Freudenbotschaft von dem Über winder alles Leides in möglichst schlichten Worten bringen
mußte. Auch im Deutschland der Inflationszeit fand ich
keinen Anlaß, diese Predigtart wesentlich zu ändern.
Als ich einige Jahre an meiner lieben Markusgemeinde in Leipzig gewirkt hatte, fand ich
bei Krankenbesuchen
und Seelsorgergängen Nachschriften meiner Predigten vor,
die treue Helfer hergestellt und verbreitet hatten. Einige von diesen handschriftlich verbreiteten Predigten waren in die Hände des Inhabers der I. C. Hinrichs'schen
Buchhandlung gelangt, der mir den unerwarteten und ehren
den Vorschlag machte, ein Bändchen meiner Predigten herauSzugeben. Ich sagte trotz mancher Bedenken zu in der Hoffnung,
daß vielleicht diese aus eigenem Erleben der Nöte deö Alltags und ihrer Überwindung entstandenen Predigten hie und da jemandem in die Hände fallen, der sich nach einem Aus
weg aus der Leere und Trostlosigkeit seines Lebens sehnt.
Der Verfasser.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
.................................................................................................. III
Das WeihnachtsgeheimniS.................................................................
i
Die Brücke in ein glückliches neues Äahr........................................ n Lebensbeherrschung.................................................................................. 24
Wer ist Gott?........................................................................................... 34
Echte Liebe
............................................................................................... 45
Drei Rätsel im Leben der Menschen
................................................ 54
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade............................................ 66
Die Bedeutung des Ostersieges
......................................................... 77
Der neue Geist........................................................................................... 87
Der neue Alltag...................................................................................... 98 Der Segen des Leidens........................................................................109
Was entscheidet über Sieg und Untergang?................................. 119 Erntefestgedanken für moderne Menschen......................................129
Was verdanken wir Luther?............................................................... 139
Gottes Antwort auf unser „Warum?".......................................... 150
Das Weihnachtsgeheimnis Luk. 2, 15—20. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen gen Beth lehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber ge sehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
Ich las neulich den Bericht eines deutschen Missionars, der im Auftrage seiner Gesellschaft eine Inspektionsreise nach Afrika unternommen hatte. Gerade in der Weihnachts
zeit muß er bei furchtbarer Tropenhitze und ausdörrendem
Staub die Christen in Ientral-Afrika besuchen. Da, alö er
eines Nachmittags in ein Negerdorf kommt, wird er von dm Christen des Dorfes, an derm Spitze der Häuptling
steht, mit einem lieben, alten deutschen Weihnachtslied bei
Bruhns: Sonntagspredigten.
I
Das Weihnachtsgeheimnis grüßt.
Es ist Weihnachtsabend!
Am Abend soll er die
Christvesper mit einer Ansprache halten und zieht sich zurück, um sich dazu vorzubereiten. Aber die rechte Stimmung will
nicht kommen; er schließt die Augen und stellt sich den strah lenden Weihnachtsbaum und die beschneiten Wälder in seiner Heimat vor, aber nichts hilft. Die brütende Hitze und die
verstaubten Palmen verderben immer wieder die Stimmung.
Ich glaube, wir können es ihm nachfühlen, wie er darunter litt, daß
die Weihnachtsstimmung ausblieb;
alle Feste
können wir Deutschen uns zur Not auch zu ganz anderen
Zeiten denken. Ostern könnten wir schließlich auch im Som mer feiern und Pfingsten, wenn es sein sollte, im Winter, ohne daß wir eine die Stimmung vernichtende Disharmonie fühlen müßten. Aber Weihnachten ohne all das liebe Drum
und Dran können wir uns doch schwer vorstellen. Ich will dieses liebe Drum und Dran und die Weihnachts stimmung nicht schelten, aber es liegt doch die Gefahr recht
nahe, daß diese Dinge so zur Hauptsache werden, daß sie
auch in der kirchlichen Feier das völlig zurückdrängen, wozu diese Stimmung uns führen soll, und wir schließlich den
christlichen Kem deS Festes, das Gottgeoffenbarte, als Ballast oder vielleicht gar als störend und als Stillosigkeit emp
finden. Wahrlich, es wäre eine Degradierung unseres Gottes dienstes, ja unseres ganzen Christenglaubens, wenn sie nur
als Erzeugerin einer schönen, feierlichen, vielleicht auch heiligen Stimmung gewertet und angesehen werden sollten.
Denn Stimmungen vergehen gar zu bald, und wenn wir
nach jedem stimmungsvollen Gottesdienst oder christlichem
Das Weihnachtsgeheimnis
Fest den Sprung in den nüchternen, stimmungslosen, so
ganz anders gearteten Alltag machen müßten, waren diese Feste vielleicht eher eine Qual als eine Ausspannung und Erbauung. Dann wären unsere Feiern nichts als das Vor
täuschen einer Scheinwelt, die der Wirklichkeit nicht stand hält; dann wäre Religion wirklich nur Opium fürs Volk, ein Rauschgift, daö süßes Vergessen für kurze Zeit gibt, um dann einem schmerzlichen Erwachen Platz zu machen. Nein, Weihnachtsstimmung wollen wir unö zwar nicht nehmen lassen, sie ist uns als Erinnerung an eine liebe Ver
gangenheit und als Brücke zu Höherem und Ewigem teuer und lieb, aber wir wollen uns nicht mit solch einer unzuver
lässigen und vorübergehenden Sache begnügen, sondern unsere Feste sollen vor allem dazu dienen, uns neuen Willen, neuen Glauben und neue Kraft für unsern Alltag zu geben.
Wie dieser Übergang vom Feiertag-Erleben zum nüchternen
Alltag
sich
so
vollziehen
soll, daß
wir dadurch neue Anregungen für unser ganzes
Leben empfangen, das zeigt uns unser heutiger Text, vor allem die handelnden Personen in ihm.
Von der Hauptperson der Weihnachtsgeschichte,
von
Jesus ist hier nur ganz kurz berichtet: „Sie fanden daö Kind in der Krippe liegend", dieses wundersame Kindlein, dessen Geburt die Engel vom Himmel auf die Erde herab
getrieben hatte, um die unfaßbare Mär den Menschen zu er-
zählen von dem König aller Königreiche, dem Heiland aller Welt zugleich, der schwach und arm und bloß nun lag in
Marien's Schoß.
Daö Weihnachtsgeheimnis Auch von Maria, nächst Jesus die Hauptperson der Weih
nachtsgeschichte, wird nicht viel gesagt. Nur einen Satz finden
wir im heutigen Evangelium: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen." Aber wie
unendlich viel liegt in diesem einen Satz: welches demütige Sichbescheiden, welches stille Warten und selbstverständliche
Hinnehmen des Unbegreiflichen als Geheimnis, das man
in reinen Händen tragen muß, bis es auöreift und nicht durch
Reden und Schwatzen und Erklären entweihen darf, ehe Gott selbst es einmal offenbart. Mir will es manchmal scheinen, als sei es ein Mangel unserer
evangelischen Kirche, daß man alles Geheimnisvolle im christ lichen Glauben erklären und erläutem will, obwohl Gott, mit
dem wir Christen doch vor allem in unserem Glaubensleben zu tun haben, seinem Wesen nach stets der Unbegreifliche bleiben wird. Schon im Schulunterricht setzt dieses übettriebene Er klären wollen ein und wird vielfach in Konfirmandenunterricht
und Predigt fottgesetzt. Und oft ist den Erklärem nichts weiter
gelungen, als mit ungeschickter, täppisch zufassender Hand
eine lichte Welt kindlich frommen Glaubens zu zerstören, Gott in die irdisch begrenzte Welt herabzuziehen und aus ihm, dem unfaßlich Großen, einen
kleinen erbärmlichen
Götzen zu machen, der sich nach unseren Wünschen richten
muß und von unserem Verstand gelobt oder getadelt wird, je nachdem wir ihn begreifen und mit ihm zufrieden sind oder ihn unbegreiflich finden und uns deshalb über ihn
ärgern. Gott ist für uns ein Geheimnis, und all unser Ent
rätseln dieses Geheimnisses ist Stümperei und führt auf
DaS WeihnachlSgeheimniS dauernde Irrwege. Wir müssen Ml warten, bis Gott selbst unS sein Geheimnis offenbatt, indem er uns langsam. Schritt
für Schritt, von einer Klarheit zur anderen führt. Wie können wir uns dann wundem, wenn auch über Weihnachten ein tiefes Geheimnis liegt, das Luther in die
Motte faßte: „Den aller Welt Kreis nicht beschloß, der liegt
in Matten Schoß." Kam doch Gott selbst zu Weihnachten auf die Erde, um uns Menschenkindem himmlisches Licht
und himmlischen Ftteden zu bringen. Mit verstandesmä
ßigem Erraten kommen wir dem Kem des Geheimnisses im Grunde nicht um das geringste näher. Es bleibt letzten Endes ebenso unverständlich und geheimnisvoll, wenn Jo
hannes sagt: „Das Wott ward Fleisch und wohnete unter uns", als wenn wir mit unserem apostolischen Glaubens
bekenntnis in Anlehnung an Matthäus und Lukas das Ge
heimnis in die Motte fassen: „Empfangen vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Matta."
Unfaßbarer als das Wie der Menschwerdung bleibt, daß Gott sein Wesen aufgab und als armes Menschenkind
auf die Erde kam zu verdorbmen, nichtswürdigen Menschen
kindem, aus lauter unbegreiflicher Liebe. Erklären können
wir dieses Geheimnis der übermenschlichen Liebe Gottes nicht, und wir wollen und dürfen es auch nicht erklärm,
dmn das hieße die nüchteme leere Verstandeswelt auch an Stelle dieses WeihnachtöheiligtumS setzen, und daS wäre
keine Bereicherung,
sondem nur eine neue Verarmung
unserer Seele. Oder gehörst du zu den nüchtemen, trockenm
Menschen, die auch die Weihnachtsfeier alles Geheimnis-
Das Weihnachtsgeheimnis vollen entkleiden möchten? Ich hörte einst von nüchternen, gemütöarmen Menschen, die aus falschem WahrheitSfana-
tiSmuS ihre Weihnachtsfeier alles Geheimnisvollen be
raubten: Alle Sachen, die sie kauften, zeigten sie gleich ihren Kindern, um festzustellen, ob sie dem Geschmack der Kinder
entsprachen oder umgetauscht werden sollten. Das Schmükken des WeihnachtöbaumeS überließen sie ihren Kindern, daS Auflegen der Geschenke wurde gemeinsam besorgt, die
Lichter gemeinsam entzündet, und weder Peihnachtölieder
noch Weihnachtsevangelium gab es für ihre Feier. Kann diese traurige Nüchternheit unser Ideal sein? Sehnt sich nicht
unser Herz und Gemüt nach dem großen Geheimnisvollen, daS wir still anbeten und verehren können wie die Hirten
es taten? Ist eS nicht das tiefe, unfaßbare Geheimnis, das
über der Sternenwelt liegt, was unS zur feierlich heiligen Anbetung Gottes unter der glitzemden, flimmemden Ster nenpracht führt? Dehnt nicht die geheimnisvolle Weite des Meeres unsere Brust in Sehnsucht: Wie wundervoll muß
eS dort jenseits der glänzenden blauen Meeresfläche sein in
jenem geheimnisvollen, weil unsichtbarem Lande am anderen Ufer? Nüchternes Wissen und nüchterne Rechenexempel
kann niemand verehren oder anbeten, sie werden als be griffen und angeeignet, im günstigsten Fall zu weiterem ge
legentlichen Gebrauch registriert und beiseitegestellt.
Ein
heiliges Geheimnis läßt unS nicht los, das bleibt in einem
reinen Herzen, daß wir es darin bewahren und bewegen und verehrend anbeten, so wie es Maria tat. Jahr um Jahr hat sie das Geheimnis, das über ihrem
Das Weihnacht«geheimnis Sohn und über seiner Geburt schwebte, in ihrem Herzen bewegt. 3n stillen Stunden holte sie es hervor und dachte ihm nach, ein Mosaiksteinchen trug sie zum anderen, um
daö wunderbare, geheimnisvolle Bild Jesu zu vervollstän
digen, das seit Weihnachten in ihrer Seele ruhte. MS der Zwölfjährige ihr damals im Tempel sagte: „Muß ich nicht
sein in dem, was meines Vaters ist", und als der Erwach sene auf der Hochzeit zu Kana sein scheinbar hartes: „Weib, was hab ich mit dir zu schaffen?" sprach, da wurde das
Geheimnis immer dichter und unfaßbarer, ohne daß sie sich an dem Unbegreiflichen stieß. Nur einmal, als er öffent
lich auftrat und sich um Hals und Leben zu reden schien, als er weder Gesundheit noch Ruhe schonte, sondern unent
wegt heilte und lehrte und liebte, da wurde sie an seinem ge
sunden Menschenverstand irre und glaubte als liebende Mutter ihn bevormunden und ihn ins schützende Elternhaus zurückbringen zu müssen. Und als sie unter dem Kreuze stand, an dem in unmenschlicher Qual der stöhnte und schrie, dem
sie einst in der heiligen Nacht, stillen Nacht das Leben gegeben, da fuhr ein Schwert durch ihr Mutterherz, das Schwert
des schneidenden Schmerzes. Und als er, auf den sie all ihre
Hoffnung gesetzt hatte, am Kreuz sein Leben aushauchte, da wurde das Geheimnis, das sie in ihrem Herzen bewahrte,
so riesengroß, daß es ihr Herz zu zersprengen drohte, weil sie meinte, der Bethlehem-Stern, der Stern ihres Lebens sei untergegangen, versunken in unbegreiflichem, geheimnis
vollem Dunkel. Aber da, als sie meinte, das Dunkel niemals zu begreifen, offenbarte ihr Gott zu Ostern und zu Himmel-
DaS Weihnachtsgeheimnis fahrt das tiefe Geheimnis der Weihnachten; durch Nacht und Schmerz war sie zu wundervoll strahlendem Licht hin
durchgedrungen, ihr Glauben war Schauen und ihre Sehn sucht Erfüllung geworden. Können wir nicht auch Ähnliches erfahren? Muffen wir es nicht auch erleben, daß wir vor undurchdringlichen Rät
seln stehen, sodaß wir keinerlei Licht mehr sehen und unser ganzer Lebensweg in Dunkel und Nebel versunken zu sein
scheint, bis endlich einmal Gott unö das Geheimnis unseres Lebens offenbart und wir den Hellen Stern der Liebe un seres Gottes in dunkler Nacht auch über uns strahlen sehen.
Wie wir aus dem Dunkel zur Helligkeit gelangen können, das zeigen uns die Hirten in unserem Evangelium.
Auch ihnen war das wunderbarste Weihnachtserlebnis beschieden worden, so überwältigend groß, so herrlich stim mungsvoll, daß wohl manche von uns an ihrer Stelle ge
meint hätten, diese weihevolle Stimmung nicht durch Um
herirren und Suchen in dunkler Nacht stören zu dürfen. Ob nicht die meisten von uns dieses Erlebnis des Engelge sanges in stimmungsvollem stillen Sitzen am Feuer hätten ausklingen lassen: Die Erinnerungen werden ja so herrlich
lebendig, wenn man in verglimmende Glut starren kann, während rund um uns die Finsternis wie mit einer dicken
Wand uns abschließt gegen alle störenden Eindrücke. Oder wir hätten an Stelle der Hirten den verschwindenden Engeln
nachgeschaut, bis die Klarheit des Herrn, die um sie her ge leuchtet hatte, ganz erlosch und wieder ein Stern nach dem
andern aufgetaucht wäre aus unendlicher Tiefe des Himmels,
Das Weihnachtsgeheimnis UM in seiner stillen Weise die Ehre Gottes zu verkündigen.
Aber den Hirten war etwas anderes weit wichtiger als alle heiligen Weihnachtsstimmungen; sie mufften daS tun, waö
der Engel Gottes ihnen aufgettagen hatte — Suchen und
Forschen. In die dunkle, kalte Nacht laufen sie, von Haus zu Haus, von Mensch zu Mensch, fragend und forschend,
bis sie endlich das Kind in der Krippe finden und eö in wort losem Staunen und Dank anbeten können.
Lieber Mitchrist, auch dein und mein Weg heißt Suchen und Forschen. Wie manches wundersame Erleben der Liebe
und manche Hilfe Gottes ist an uns vorübergegangen, ohne eine bleibende Spur zu hinterlassen. 3m Augenblick war daS
Erleben vielleicht überwältigend, so daß wir spürten, daß
wir auf heiligem Boden standen und Gott, der Geheimnis volle, Allmächtige in unser Leben getreten war. Aber dann
blieben wir vielleicht im Sttmmungsvollen stecken, oder
wir vergaßen das Erlebnis oder ließen es uns durch Lust und Last deS Lebens Stück für Stück nehmen. O wäre auf
das Erlebnis das Suchen gefolgt, wie anders sähe unser
Leben aus! Zwar braucht auf das Suchen das Finden nicht so schnell zu folgen wie bei denHitten, eS wird oft ein ganzes
Menschenleben währen wie bei der Maria. Wir werden auch nicht immer auf dem geradesten Wege bergauf gehen, son6cm durch manches Dunkel hindurch müssen, vielleicht
auch manchesmal daS Irrewerden an Jesus streifen, wie Maria und Johannes der Täufer es erleben mußten, die
doch wohl die Menschen sind, die dem zu Weihnachten mensch
gewordenen Geheimnis Gottes am nächsten gestanden haben.
Das Weihnachtsgeheimnis Aber wer das Suchen als seine heiligste Aufgabe erkannt hat, der soll eS wissen, daß auf sein Suchen stets das Finden folgt, weil Gott eS dem Aufrichtigen gelingen läßt. Er wird uns das Geheimnis dann offenbaren, wenn wir dazu reif geworden find und unsere Augen das ertragen können, was keines Menschen Auge je geschaut und unsere Ohren das
fassen können, was keines Menschen Ohr gehört hat. AuS
unseren Weihnachtsstimmungen soll das Weihnachts-Erleb nis werden, das Paul Gerhardt in die wundervollen Worte gefaßt hat:
„Ich lag in tiefer Todeönacht, du wurdest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und
Wonne." O, daß doch die Weihnachtssonne immer Heller und strah
lender in unser Leben, in das Sonntags- und Alltagsleben
scheinen möge, bis wir selbst zu Trägem dieser Sonne wer den, daß sie durch uns auch anderen scheinen kann, wie es
einst die Hirten taten! Dann werden wir betend und sehnend mit dem Dichter singen können:
„Ich sehe dich mit Freuden an und kann nicht satt mich sehen,
und weil ich nun nicht weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O daß mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer, daß ich dich möchte fassen!"
Amen.
io
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr Luk. 12, 4—9.
Ich sage euch aber, meinen Freunden: Fürchtet
euch nicht vor denen, die den Leib töten, und darnach nichts mehr
tun können. Ich will euch aber zeigen, vor welchen ihr euch fürchten sollt: Fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht
hat, zu werfen in die Hölle. Ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch. Verkauft man nicht fünf Sperlinge um zwei Pfennige? Dennoch ist
vor Gott deren nicht eines vergessen. Aber auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser denn viele Sperlinge. Ich sage euch aber: Wer mich bekennet vor den
Menschen, den wird auch des Menschen Sohn bekennen vor den En
geln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird
verleugnet werden vor den Engeln Gottes.
Jedesmal, wenn die Uhren in der Sylvesternacht zum Schlag zwölf ausholen, ertönt ein lautes Hurrarufen und
Sichbeglückwünschen in den Häusern, das sich dann auf die Straßen und Plätze der Stadt überträgt und in lautes
Jubelgeschrei und lärmendes Getöse aller Art übergeht.
Macht es nun die Erinnerung an den stillen, feierlichen
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr Empfang des neuen Jahres m meinem Elternhause, macht es eine Natur- oder Charakterveranlagung, die alles laute zur Schautragen der Gefühle unangenehm empfindet; In mir hat jedesmal dieses laute Getöse in dieser Stunde ein
leises Unbehagen hervorgerufen, das je länger ich über das
selbe nachdenke, desto tiefer und ernster wird. Wir mögen
es kehren und wenden wie wir wollen, es ist und bleibt doch eine ungeheuer ernste Stunde, wenn wieder ein Jahr seinen
Abschluß gefunden hat, wenn wieder ein Jahr, ein Stück
unseres viel zu kurzen Lebens, unwiederbringlich in den Ab grund der Vergangenheit geglitten ist, von dem es nie wieder
hervorsteigen wird. Sollte Silvester gerade für die, die nach dem Tode nichts mehr erwarten, die an keine Ewigkeit glau
ben, nicht wie eine trübe, herzzerreißende Abschiedsstunde erscheinen, wenn ein kostbares Stück ihres ach, so kurzen Lebens von ihnen geht? Wie kommen aber nun gerade die, die keine innere Verbindung mit Gott haben zu diesem Jubel,
denn gerade aus ihren Kreisen erschallt er am lautesten und aufdringlichsten? Was soll dieser Jubel? Ist er weiter nichts als gedankenloses Mitmachen eines allgemein herrschenden
Brauches? Oder ist er vielleicht ein instinktiver Versuch, durch lautes Lärmen die tiefe Wehmut und die blasse Angst vor dem rasenden Lauf der Zeit zu übertönen und zu ver
gessen; will man das Gewissen überschreien, das sonst in
dieser Nacht unbequeme und ernste Fragen an sie richten würde?
Sei dem wie es wolle, wir wollen uns nicht scheuen, heute am Anfang des neuen Jahres, das vor uns austaucht.
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr nachdem das alte zu allen anderen früheren Jahren gegangen ist, ernsten Gedanken nachzugehen. Wir wollen nicht ängst
lich der Wahrheit aus dem Wege gehen, sondern heute, wo
wieder einmal die Vergänglichkeit erschreckend deutlich und
groß vor unS steht, uns auf das besinnen, waS im Wechsel der Zeit, im beängstigend schnellen Laufe dem Ende ent
gegen, stehen bleibt. Und da tritt uns in dieser Feierstunde Gott entgegen, an
dem die Jahre spurlos vorüberrauschen; der heute derselbe
ist wie vor Anfang der Zeiten und wie er in alle Ewigkeit sein wird, wenn der letzte menschliche Jubel auf Erden ver klungen ist und der letzte menschliche Schrei und Seufzer
im All erstorben ist. Und zu diesem Gott, der das ewige Leben ist, gibt es eine Brücke für uns arme, erdgeborene,
erdgebundene Menschenkinder, eine Brücke, die auf drei Pfeilern ruht. Und die drei Pfeiler heißen: Gottesfurcht,
Gottvertrauen, Gottesliebe.
Fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht hat, zu werfen in die Hölle. Gottesfurcht! DaS ist das erste, was unser Predigttext unS zu sagen hat. Liebe
Mitchristen! Der erste Schritt zu Gott hin ist die Ehrfurcht. Wer keine Ehrfurcht hat, wer alles ehrfurchtslos bespöttelt
und belächelt, wem nichts heilig und groß und erhaben ist, der wird niemals Gott finden. Daö ist ja ein Zug, der sich in jetziger Zeit in so unendlich vielem ausgeprägt und sich zeigt
— die Menschheit sehnt sich nach etwas, vor dem sie sich in Ehrfurcht beugen kann. Wohl ertönt noch der Ruf hie und da, so wie jüngst auf einer Jugendweihe: „Seid ehrfurchtö-
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr los, das ist eure Rettung!" aber in den besseren, tieferen, besinnlicheren Seelen findet er keinen Widerhall, sondern
erweckt Abscheu. Durch unsere Jugend geht ein tiefes Sehnen nach etwas, das zur Ehrfurcht zwingt, man will Führer
durchs Leben haben, man will zu Großem aufblicken können. Eö gibt immer wieder Gelegenheiten zu beobachten, wie
auch die älteren Menschen sich gerade solchen Sttömungen und Richtungen, solchen Propheten und Führem anschließen,
die bewußt mit der Ehrfurchtölosigkeit ein Ende machen, die etwas zu geben haben, was zur Anbetung und ehrfurchts vollen Verehrung zwingt. Es ist, als fingen den Menschen
an die Augen darüber aufzugehen, wohin EhrfurchtSlosig-
keit führen muß, als merkten sie es immer deutlicher, daß
für sie nur zwei Wege gangbar sind — entweder Gottes
furcht oder Menschenfurcht; entweder Ehrfurcht vor dem allmächtigen, ewigen Gott und Beugung unter seine maje stätische, reine Autorität, oder aber Gottlosigkeit, die zur
Anbetung von menschlicher Autorität und zu elender Men
schenfurcht führt. Ich hatte neulich einmal mit einem aus der Kirche AuSgettetenen ein Gespräch, welcher erklärte,
er sei wie erlöst und fühle sich frei von lästigen Fesseln. Er hätte nun an Stelle des toten Autoritätsgottes die lebendige
Autorität der Wissenschaft gefunden. Nun hätte er die Wahr
heit in der Wissenschaft entdeckt und nannte mir das, waö er unter Wissenschaft verstand — Broschüren von einem volkstümlichen Schriftsteller, der nie von der Wissenschaft ernst genommen, und schon lange zum alten Eisen geworfen worden war. Auf dessen Meinung schwor er, das war ihm
Die Brück« in ein glückliches neues Jahr Offenbarung der Wahrheit geworden. Eine kleine, lächerlich
gewordene Autorität gegen die Autorität Gottes. Das war
das Endresultat seines Fleißes, das er für Befreiung von den Fesseln des Autoritätsglaubens hielt.
Kennen wir nicht alle eine andere Fessel, die uns die
Freiheit nimmt und die Freude am Leben — ich meine die Menschenfurcht? Einst sagte Bismarck das stolze Wort: „Wir
Deutschen fürchten Gott und sonst niemand in der Welt." Wie oft muß man daS Wort umkehren: „Wir fürchten nicht mehr Gott und sonst alles auf der Welt." Worauf müssen die Menschen nicht alles Rücksicht nehmen, vor wem müssen
sie sich nicht ängstlich verstecken! Blicken wir auf unsere
Presse, die leider in jetziger Zeit die Führung der Massen in der Hand hat: Wie oft muß sie die Wahrheit unterdrücken aus Rücksicht auf geschäftliche Interessen; wie entstellt sie die Nachrichten aus Rücksicht auf ihre Geldgeber
oder
unterstützenden Kreise; traurige Menschenfurcht hat sie in
Fesseln geschlagen. Denken wir an unsere Parteiführer, wie sie oft gegen ihr besseres Gewissen für schlechte und irrige
Dinge eintreten, aus Rücksicht auf die Stimmen ihrer Wähler. Denken wir an die elende Kompromißpolitik unserer Re gierungen, ja an so manches klägliche Kompromiß, das im Laufe der Zeit auch unsere Kirchen haben abschließen müssen,
weil sie nicht den Mut fanden, sich ganz auf Gott zu stellen,
sondem immer auch mit der sündigen Welt liebäugelten. Wenn schon die Führer solche Wege haben gehen müssen,
kann es unS da noch wundern, wenn das Leben der Geführ
ten, wenn unser eigenes Leben einem Hin- und Herlavieren
15
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr gleicht, einem IickzackkurS, den man gegen fein besseres
Wissen führt, um nur ja nirgends anzustoßen und möglichst
ungeschoren durchs Leben zu gehen. Nur nicht auffallen,
nur nicht anders sein wie die anderen, nur sich keinen Un annehmlichkeiten, keinem Spott, keinem Achselzucken oder Kopfschütteln aussetzen — das ist doch, man möchte fast
sagen, landläufige Lebensklugheit geworden. O wie unfrei sind wir geworden! Wie gebunden durch all die kleinen Rücksichten, wie getrieben durch eine klägliche Angst vor den Schreckgespenstern: öffentliche Meinung, ge sellschaftliche Stellung, Klatsch der Menge, Mode und Sitte.
Arme Sklaven, die nicht mehr die Kraft haben, sich zu be-
freten, die sich vielleicht in den besten Stunden ihrer Ketten
schämen, die ihre eigene Angst vielleicht auch bei klarem Nachdenken lächerlich finden und die doch nichts und nie mand haben, der sie befreit. Und doch ist die Befreiung so
nahe, doch könnte eine innere Umstellung sie so leicht be
wirken. Gottesfurcht heißt der Auögang aus unserem Gefängnis, Gottesfurcht heißt die Befreiung von den
schmählichen Fesseln. Ich hatte einmal schwere Sorgen und Ärger gehabt, ich sah keinen Ausweg aus einer Lage, in die ich hineingeraten war, in der mir an sich Kleines riesen
groß und unüberwindlich schien. Da hatte ich an demselben Tage Gelegenheit, von einem hohen, steil abfallenden Aus sichtspunkt in den Ort hineinzublicken, in dem mich die vielen Sorgen unfrei machten. Und als ich in den Straßen die Menschlein wimmeln und herumkrabbeln sah, die sich
und ihre Umgebung so unendlich wichtig nahmen und doch
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr so winzig klein waren, da kam die Befreiung von der großen
Last, und ich konnte wieder daö Kleine klein und das Un wichtige unwichtig sehen, ich hatte den AuSweg gefunden,
mutig Schluß zu machen mit den feigen, falschen Rücksichten. DaS ist es, was wahre Gottesfurcht uns gibt, wer sich vor
dem allmächtigen, gewaltigen Gott beugt, wer Ehrfurcht
empfindet und immer in dieser Ehrfurcht lebt, wer zu ihm in Ehrfurcht aufblickt, zu dem Großen, der Wolken, Luft
und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der den Strömen ihre Bahn weist und die Welten in seiner Hand hält wie Staub- und Sandkörnchen, der kann daö kleine Gewimmel
rundum nicht mehr so ernst nehmen wie bisher, der hat einen anderen, großen Maßstab in seine Hand bekommen, durch
den ihm das Kleine auch klein und gleichgültig erscheint. Willst du wirklich im neuen Jahr wieder dich beugen und
bücken, verstecken und um ein mutiges Bekennen herum drücken wie vielleicht bisher, und dabei deine Ruhe und Le
bensfreude und dein inneres Gleichgewicht verlieren, oder
willst du es nicht versuchen, dich in Ehrfurcht vor dem allein
großen und guten und starken Gott zu beugen und ihm zu
folgen und von ihm dir Rat zu holen? Willst du nicht lieber ihm dienen und ihm gehorsam werden, als den vielen anderen kleinen Göttern und Götzen, die dich unfrei und unfroh machen? Wir wollen uns in Ehrfurcht zu ihm be
kennen und in rechter Gottesfurcht uns vor ihm beugen,
denn es ist ja nicht nur Gottesfurcht, das uns mit Gott verbinden soll, sondern auch Gottvertrauen. Gottvertrauen steht den Menschen im allgemeinen
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr
näher und ist ihnen selbstverständlicher als Gottesfurcht.
Wie viel häufiger hött man aus dem Munde der Menschen die Versicherung: „Ich habe Gottverttauen" als die Er
klärung: „Ich habe Gottesfurcht!" Und doch ist der größte Mangel deö Gottverttauens der meisten Menschen, daß sie meinen, Gott verttauen zu dürfen, ohne gottesfürchtig zu sein. Es ist wohl die häufigste Klage, die wir Geistlichen
aus dem Munde unserer Gemeindeglieder hören: „Ich hatte früher so festes, sicheres Gottverttauen, aber Gott hat meine
Bitte damals, als ich ihn in großer Bedrängnis anflehte, nicht erhört, jetzt kann ich ihm nicht mehr verttauen." Oder:
„Seitdem es mir schlecht geht im Leben, seitdem ich schuld los leiden muß, kann ich Gott nicht mehr verttauen." Habt ihr, die ihr solche Klagen gehött oder gar selbst ausgesprochen habt, schon einmal darüber nachgedacht, woher sie kommen? Sollte vielleicht am Schwinden deö VerttauenS Gott die
Schuld ttagen oder liegt sie nicht weit mehr an uns selbst? Bilden wir uns vielleicht ein, daß Gott unseren Willen er
füllen, alle unsere Wünsche uns von den Augen ablesen,
allen unseren Launen nachgeben muß? Glauben wir denn wirklich im Ernst, daß Gott nichts weiter ist als unsere
Privatversicherungöanstalt gegen Unglücköfälle und Miß stände aller Att? Glauben wir wirklich ein Recht zu haben, zu meinen, daß bei unserem Verhältnis zu Gott wir zu be
fehlen und er zu gehorchen hat? Äst's nicht Mangel an Ach
tung vor Gott, solches Ansinnen zu stellen? Sogenanntes Gottverttauen ohne Ehrfurcht vor Gott ist nichts weiter als eine Degradierung, eine Herabwürdigung Gottes von
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr seiner Stellung als Herr der Welt, zur unwürdigen Stel
lung eines Dieners für unsere Wünsche und Begierden. Und wer nicht Gott groß und allmächtig erschauernd erkannt hat, dessen Vertrauen wird auch nicht standhalten in Zeiten der Not und Enttäuschung.
Aber hat sich Gott uns nicht in einer Macht und Erhaben
heit sondergleichen in den letzten Jahren gezeigt? Könnt ihr,
die ihr ihn über die Schlachtfelder gehen sahet in seiner furchtbaren Stärke oder ihr, die ihr eö miterleben durftet,
wie er Völker und Reiche in seinem Zorn zerttat und zer störte, dürft ihr wirklich noch davon reden, daß ihr ein Recht darauf habt, von ihm, dem Allmächtigen bedient zu werden,
und daß ihr ein Recht habt, ihm zu zürnen, wenn er euch einmal andere Wege führt, als ihr gern gegangen wäret?
Klingt eS nicht vielmehr wie ein unfaßbar großes Geschenk, eine Gnade ohnegleichen, wenn es im heutigen Text heißt: „Auch sind eure Haare auf eurem Haupt alle gezählt."
O, wenn wir doch wirkliches, rechtes, demütiges Gott-
verttauen lernen wollten, daß wir ins neue Jahr mit diesem Gottverttauen gewappnet treten können! Wie geborgen
dürften wir uns dann fühlen! Gottverttauen heißt: blind, ohne zu fragen und wenn eS sein soll ohne zu murren, seine
Hand in die Hand Gottes legen und sich von ihm führen lassen, wohin er will. Da kann eö einem wohl geschehen,
daß man lange im Dunkeln gehen muß, daß man Anfang
und Ziel des Weges weder sieht noch ahnt, aber wenn man
nur die feste, starke Hand Gottes festhält, dann wird eö bald heller und klarer werden um uns. Wir werden schon
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr ahnend Ziel und Zweck des Weges unterscheiden lernen und
allmählich immer mehr und mehr in die Helligkeit Gottes
treten, bis unö endlich der lichte, strahlende Schein der vollen Gottessonne umleuchtet und uns die Augen aufgehen: Gottes Wege sind wohl oft wunderlich und anders als
unsere Wege, aber wer sie rückschauend überblickt, der kann nicht genug staunen über Gottes Weisheit und über seine
Voraussicht bis ins Kleinste und Allerkleinste hinein.
Vor uns liegt ein neues Jahr im Nebel der Zukunft ver borgen. Wer kann die Einzelheiten deuten und unterscheiden?
Aber eins können wir doch sagen: Es wird uns so mancher Wunsch, den wir hegen, nicht in Erfüllung gehen, es wird
so manche Wolke über uns hinwegziehen, und die dunklen Stunden werden dieses Jahr ebensowenig ausbleiben, wie
sie je sonst fortgeblieben sind. Aber was auch kommen mag — wenn wir ein kindliches Vertrauen haben zu Gott, der helfen kann, weil er groß und mächtig ist, und helfen will, weil
er nichts in seinem großen Haushalt vergißt und zwecklos umkommen läßt, weder den Sperling auf dem Dach, noch die Blumen auf dem Felde, am wenigsten uns, seine Kinder.
— Wenn wir mit diesem Verttauen inS neue Jahr gehen, das auch dann nicht versagt, wenn manches nicht so kommt,
wie wir es erwarten zu dürfen meinten, dann sind wir ge
borgen, dann können wir getrost vorwärts schreiten ins Ungewisse, denn Gott ist bei uns. Gottesfurcht und Gott-
verttauen sind die beiden Pfeiler, auf denen die Verbindung
zwischen uns und Gott auftechterhalten wird. Und dazu
kommt noch ein drittes, das ich am liebsten mit der helfenden
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr
Hand vergleichen möchte, die von jenseits sich uns entgegen
streckt und uns zieht und stützt, damit wir den Schritt ins Reich Gottes wagen. Das dritte und größte ist: Gottes
Liebe. Noch von Weihnachten her klingt es in unseren Ohren,
das große, wunderbare: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab!" Und wenn es im heutigen Text heißt, Gott könne uns nicht vergessen, da wir
doch besser sind wie die Sperlinge auf dem Dach, so ist damit nicht bloß gemeint, daß Gott ein sorglicher Hausvater ist,
der nichts verderben läßt, was noch Wert hat in seinem Haushalt, sondern es heißt vor allem: Gott kann euch nicht
vergessen und kann auch nichts verderben lassen, weil er
euch so lieb hat. — Lieber Mitchrist! Wenn du zurückdenkst an die verflossenen Jahre deines Lebens: Hast du nicht Gottes Liebe auch manchmal ergreifend und überwältigend
groß in deinem Leben gespürt? Denk' an deine sonnigen Kindertage, denk' an dein Eltemhaus, an deine Eltern, die
dir das beste geben wollten und die dich auf Händen trugen, denk' an die glücklichen Tage und Zeiten deines Lebens, wo
alles eitel Lust und Sonnenschein um dich und in dir war— hast du da nicht Gottes Liebe gespürt? O, wenn es dir manch mal in trüben Stunden des Leides und der Enttäuschung
geschienen hat, als hätte dich Gott garnicht mehr lieb, dann hattest du einfach all den Reichtum des Glückes vergessen,
den auch du einst genossen hast. Und wie war es in deinen
trüben, dunklen Stunden? Hast du nicht damals Gottes Liebe ganz besonders deutlich gespürt oder zum mindesten,
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr du hättest sie spüren und erfahren können, wenn du nur
gewollt hättest. Gott ist mit unö gegangen unser ganzes
langes Leben hindurch. Wir sind manchmal unö selbst untreu
geworden — Gott ist stets derselbe geblieben in seiner Liebe und in seiner Güte. Ja, diese Liebe GotteS ist es, die selbst das
Sterbezimmer eines
Christen
zu
einem
heiligen,
strahlenden Tempel Gottes machen kann, von dem die, die eintteten „fühlen", das Land wo ich stehe ist heiliges Land.
Denn es ist heiliges Land, wo ein leidender, mit dem Tode ringender Mensch ganz kindlich vertrauensvoll seine Seele
in GotteS Hände legt, ohne alle Furcht und ohne gittern,
weil er weiß: „Die Liebe höret nimmer auf." So, wie die Liebe
Gottes mich auf Erden beschirmt und erfreut und getröstet hat, so wird und muß dieselbe Liebe mich aufnehmen, wenn
ich an die Himmelspforte klopfe, denn über meinem Leben und Sterben stehen die Worte Gottes: „Ich habe dich je und je ge-
liebet, und darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte." Gottesfurcht, Gottvertrauen, GotteSliebe — wer diese drei Dinge im Herzen hat, der kann ohne Scheu und
Angst Jahresschluß und Neujahr feiern, den erschreckt nicht
der rasende Lauf der Jahre, den ängstigt nicht daö heran nahende Ende, er fühlt sich völlig geborgen in GotteS Hand.
Der schickt auf der Schwelle des neuen Jahres einen dank baren Blick zurück ins vergangene Jahr — bis hierher hat
der Herr geholfen — wie herrlich, wie unerforschlich groß sind seine Wege — und der schreitet hoch erhobenen Hauptes ins neue Jahr hinein. Auch dann, wenn es sein letztes hier
auf Erden sein sollte.
Die Brücke in ein glückliches neues Jahr
Einst saß der alternde Bismarck mit seinen Freunden auf
der Terrasse seines Hauses in Fn'edrichsruh und blickte über die Baumriesen des Sachsenwaldes
hinweg auf die am
Himmel aufblitzenden Sterne. Da sagte er: „Wenn man
diese ganze große Natur sieht, so ist es doch unmöglich zu begreifen, daß Gott sich um jeden einzelnen Menschen kümmern sollte. Und doch", fuhr er nach einer kurzen Pause
fort, „ich habe eö unzählige Male in meinem Leben erfahren, daß er sich um jeden persönlich kümmert."
Gott mit uns, das ist der Halt, den wir haben, wenn wir in's Dunkel blicken und ins Ungewisse schreiten. Darum vor
wärts mit Gott ins neue Jahr, der Herr unser Gott segne euch und behüte euch!
Amen.
Lebensbeherrschung i. MoseS 50, 15—21. Die Brüder aber Josephs fürchteten sich, da ihr Vater gestorben war, und sprachen: Joseph möchte uns gram sein und vergelten alle Bosheit, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tod und sprach: Also sollt ihr Joseph sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Misse tat und ihre Sünde, daß sie so übel an dir getan haben. So vergib doch nun diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters. Aber Joseph weinte, da sie solches mit ihm redeten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Joseph sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich bin unter Gott. Ihr gedachtet's böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, daß er täte, wie es jetzt am Tage ist, zu erhallen viel Volks. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch versorgen und eure Kinder. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Wie viele Menschen gibt es unter uns, auch gerade in unserer Gemeinde, die unter ihrem Alltag leiden, unter den
Sorgen und Rätseln des Lebens. Da gibt es manche, die fortgesetzt unter irgendeinem Menschen, von dem sie nicht
loskommen können, seufzen, sei eö nun in der Ehe oder im Dienste — sie können ihm nichts zu Gefallen und Dank
Lebensbeherrschung tun, sie haben oft den Eindruck, als hätte er es nur darauf
abgesehen, ihnen daS Leben schwer und
unerträglich zu
machen, und das nimmt ihnen jede Freude und Frieden. Oder andere leiden unter ihren Wohnungsverhältnissen, sie sind durch die Wohnungsnot gezwungen mit Menschen eine
Wohnung zu teilen, mit denen sie sich nicht verstehen, die
sie bei jeder Gelegenheit schikanieren und ihnen daö Leben
zur Hölle machen, oder sie haben Nachbarn im Hause, mit denen es alle Augenblicke Jank und Streit gibt, obwohl sie selbst nichts mehr ersehnen als Frieden und ein stilles, ruhi
ges Leben. Und wieder andere haben schwere Nahrungs sorgen, entweder sind sie arbeitslos geworden, oder ihr Ge
schäft oder Handwerk wirft nicht soviel ab, wie sie zum Leben brauchen, oder Krankheit hindert sie am Verdienen des Le bensunterhaltes. Es gibt gewiß nicht allzuviel Menschen,
die mit diesen Dingen nichts zu schaffen haben, irgendwie oder irgendwann haben wir alle uns damit herumschlagen müssen, manchen haben sie das ganze Glück, daS sie zu
besitzen meinten, zerstört, und bei aller sozialen Fürsorge
und allen Wohnungöreformen werden sie nicht schwinden,
so oder so kommen sie doch wieder heraus; denn wir Men schen leiden eben stets an uns selbst und an unseren Mit
menschen, d. h. entweder an den Sorgen, die wir uns machen, oder an Neid, Unfreundlichkeit und Mißtrauen unserer Mit
menschen. Deshalb ist es auch für uns so wichtig zu erfahren, ob es nicht ein Mittel gibt, diese Dinge unschädlich zu machen,
indem wir sie von innen heraus überwinden und uns über sie stellen. Jeder, der daS gekonnt hat, kann uns daher Lehr-
Lebensbeherrschung meister sein, so auch Joseph in der heutigen Texterzählung,
der deS Rätsels Lösung gefunden hatte und sie andern weiter gab, und zwar in einem ganz kurzen und deshalb auch klaren
Wort: „Ich bin unter Gott." Wir wollen betrachten,
ob diese Lösung, die Joseph gefunden hat, auch auf uns angewendet werden kann.
Joseph hat so schwere
Erlebnisse
gehabt,
wie selten
ein Mensch. Er, der aus wohlhabendem Hause stammte,
der von seinem Vater verwöhnt und verhätschelt worden war, war plötzlich in die Hände von Sklavenhändlern geraten, und waö das Schmerzlichste dabei war:
seine
eigenen Brüder hatten ihn an diese Leute verkauft, aus Eifersucht, Neid
und Gekränktheit. Die ganze Schmach
der Gefangenschaft, des Sklavenmarktes, des Handelns
und Feilschens um ihn wie um ein Stück Vieh, hatte Joseph
durchkosten müssen, und alö er endlich in ein gutes Haus kam, wo man ihn gut behandelte, da traf ihn wieder
das Unglück, daß die Frau des Hauses ihn mit unerlaubten, unsauberen Anträgen verfolgte und schließlich aus gekränk
ter Eitelkeit verleumdete und ins Gefängnis werfen ließ.
Uns, denen der glückliche Ausgang der ganzen Angelegen
heit bekannt ist, ist es vielleicht gar nicht zum Bewußtsein
gekommen, was Joseph zu der Zeit durchzumachen gehabt hat, wie er in der Finsternis seines Unglückes gefragt und
gehadert haben wird: Warum mußte mich das treffen, gibt eö keinen Gott, der über die, die ihn fürchten, seine schützende
Hand ausbreitet? Wie kann Gott zulassen, daß dasBöse und
Gemeine und Schmutzige triumphiert, gibt es denn keine
LebenSbehcrrschung Gerechtigkeit? Könnte jemand von uns den Joseph verur-
teilen, wenn er so gesprochen hätte in seiner Not? Ist daö
nicht auch unsere Art so zu sprechen? War das Dunkel nicht
wirklich so dicht, daß er nicht einen Schritt vor sich sehen konnte, daß Vergangenheit und Zukunft in Finsternis lagen?
Aber aus dieser Not findet er allmählich einen Ausweg, der alle Fragen klärt und alle Unzufriedenheit beruhigt und alle Angst vor der Zukunft zerstreut: „Ich bin unter Gott." Dieser Glaube wird ihm wohl kaum auf einen Schlag
gekommen sein, er wird ihn sich wohl Schritt für Schritt haben erkämpfen müssen, so wie er uns auch nicht in den
Schoß fällt, wie eine reife Frucht, sondem oft erst als Ernte
aus bitterschmerzlicher Tränensaat gegeben wird. Aber als er ihn endlich hatte, dann bekam sein Leben ein neues Aus
sehen, dann ging die Sonne auf und warf ihre Hellen Strah len selbst in das tiefste Dunkel seines Gefängnisses und alles
seines Unglückes.
„Ich bin unter Gott" — wir verstehen es vielleicht besser, wenn wir eö in die Worte fassen würden: „Ich bin in Gottes Hand."
„Ach bin jemand, den Gott hin-
und herschiebt, um ihn für seine Zwecke zu benutzen, ich bin nicht wie ein welkes Blatt, das vom Winde hin und
her getrieben wird ohne Ziel und Sinn, ohne Zweck, nur weil der Wind stark und das Blatt haltlos ist, sondem je mand braucht mich als Figur auf seinem großen Schach
brett, als ein Rädchen in seinem Uhrwerk, das einen wunder bar großen Zweck verfolgt und einen großen Sieg erringen
helfen soll. Aber doch wieder anders als die toten Dinge,
Lebensbeherrschung wie Schachfiguren oder Rädchen im Uhrwerk — doch mit der Möglichkeit begabt, das ganze Werk Gottes meinerseits zu sortiern oder zu stören, doch wieder in der Lage, Gottes
Hin- und Herschieben zu durchkreuzen, indem ich das, was er mir schickt, um mich zu einem brauchbaren Werkzeuge in seiner
Hand zu machen, durch meinen inneren Widerstand um
alle Wirkungen bringen und vielleicht geradezu in das Ge genteil von Gottes Plänen verwandeln kann." Das war es,
was Joseph in seiner Not begriffen und verstehen gelernt hatte, und nachdem ihm darüber die Augen aufgegangen waren, gab es für ihn keinen Zweifel mehr: „Ich bin unter Gott!" Ihm vertraue ich mich an für mein ganzes Leben, er soll
mich führen, wohin er will; wie Gott will, ich halte still!"
Versteht ihr, liebe Mitchristen, welch ein Strom des Trostes von diesem Glauben aus in Josephs Herz strömen mußte!
Also kein verpfuschtes Leben, kein sinnloses, zweckloses Leiden, kein Sieg des Bösen, gegen daS wir Menschenkinder
machtlos sind, kein undurchdringliches Dunkel vor uns und
am Ende unseres Lebens, sondern überall Gottes Liebe: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein
Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit." Da wurde es ganz still in
seinem Herzen, da ging es ihm so wie allen, die in Gottes Nähe
sind: die stürmischen Wogen der Sorge und Not legen sich,
und Gottes Stille breitet sich aus über uns, und wir spüren das Wehen des Friedens, der höher ist als alle Vernunft. So war Joseph zum Gottesmann geworden, von dem wir
jetzt, nach fünftausend Jahren, noch lernen können, so war er
Lebensbeherrschung zu dem geworden, der auch mit den Menschen und mit den
großen Fragen seines Arbeitslebens fertigwerden
konnte.
Von hier aus konnte er das gütig abgeklärte, friedfertige
Wort seinen Brüdern sagen: „Ihr gedachtet eS böse zu
machen, aber Gott gedachte eö gut zu machen." Die Brüder hatten unverantwortlich gegen Joseph gehan delt. Gewiß hatte der verwöhnte Lieblingssohn des Vaters sie
oft gereizt und ihren Zorn erregt, aber daS, was sie ihm und ihrem alten Vater antaten, steht doch in keinem Verhältnis zu
der Schuld deSJoseph. Das war doch so unerhört roh und grau
sam, daß wohl kaum jemand unter unö Ähnliches von seinen
Mitmenschen hat erdulden müssen. Aber auch über dies schwerste Erlebnis seines Lebens, über den Haß gegen seine
Brüder, der sich wohl auch sonst bei ihm geregt hat, hat ihm
doch die Erkenntnis, daß er unter Gott war, hinweggeholfen. Nun erscheinen ihm seine harten, neidischen Brüder alö Werk
zeuge Gotteö, die in all ihrer Bosheit doch GotteS Pläne ausführten. Aber er sah auch, daß Gott ihre Bosheit und
ihren Neid schwer an ihnen gestraft hatte und daß sie sich von
ihm, dem Allmächtigen, hatten strafen und zurechtweisen lassen. Denn daö ist eö, waö wir von dem Glaubensstand
punkt des Joseph aus immer wieder sehen, daß Gott auch menschliche Sünden benutzen kann, um seine Zwecke zu er
reichen, und doch deshalb keineswegs diese Bosheit gut
heißt und ungestraft läßt, wenn er sie auch seinen Zwecken dienstbar macht gegen den Willen des Sünders. Sondern
daß auch hier daö Wort bleibt: „Gott dräuet zu strafen alle, die seine Gebote übertteten." Aber wenn wir diesen Stand-
Lebensbeherrschung punkt gewonnen haben, dann können wir uns nicht mehr von Menschen unseren Frieden dauernd rauben lassen, dann können wir nicht Rache brüten und auf Wiedervergeltung
sinnen und uns in Haß und Ärger verzehren, dann wissen
wir, daß Gott im Regimente sitzt und daß die Rache sein ist und er vergelten wird, und daß seinem Gericht niemand
sich entziehen kann. Aber wir wissen dann auch, daß nichts,
waS geschieht, ohne GotteS Zulassen geschehen kann und daß er durch alles, was wir auch durch gottlose, schlechte Menschen erdulden müssen, uns erziehen und fördern und
uns etwas besondres sagen will, und daß er vielleicht auch
haßerfüllte Menschen dazu benutzt, uns dazu zu bringen und dahin zu stellen, wo er uns haben und brauchen will. Ich glaube, liebe Freunde, daß ich gewiß nicht der Einzige
sein werde in diesem Gotteshaus, der die Richtigkeit deS Wortes: „Menschen gedachten eS böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte eS gut zu machen", an sich erlebt hat.
Aber dann sollten wir alle auch gläubig bekennen: „Ich bin unter Gott", und ihm alle Rache und Strafe böser Menschen
anvertrauen und uns nicht mehr fürchten — der Herr ist bei uns, was können uns Menschen tun!
Aber aus diesem Verttauensverhältnis zu Gott folgt noch etwas anderes, was unö das Zusammenleben mit Menschen und das Erttagen von Unrecht, das Menschen uns zufügen,
erleichtert. Als Joseph seine Brüder voller Mißttauen und Furcht und mit einem unruhigen, geängsteten Gewissen
vor sich stehen sieht, da fängt er an zu weinen. Er hat heißes
Mitleid mit denen, die noch nicht den festen Halt bei Gott
3o
Lebensbeherrschung gefunden haben, den er besitzt, die noch nicht furchtlos ge worden sind, weil sie sich unter Gott wissen, und dieses Mit leid macht ihn ganz besonders freundlich zu ihnen. Haben
wir nicht auch allen Anlaß und Grund mitleidig zu sein mit denen, die wir befangen sehen in ihren Sünden, die nicht
freikommen von ihren Fehlern oder unfrei sind durch ihr
schlechtes, unfrohes Gewissen und die dann auö dieser ihrer Unfreiheit heraus unfreundlich und lieblos, mißtrauisch,
neidisch, zänkisch und nachtragend sind? Sind sie nicht ge wissermaßen als seelisch krank zu behandeln? Sind sie nicht
unendlich unglücklich, weil sie den nicht kennen, der ihre Krankheit heilen kann, der ihnen den Frieden und die Freude
und die Harmonie gibt, die ihnen fehlt? Können wir Kran
ken und Unglücklichen wirklich zürnen, ist nicht da vielmehr vergebendes Mitleid am Platze? Ich glaube, wenn wir das
behalten und nicht gleich wieder vergessen, dann werden wir auch wie Joseph versuchen, durch Freundlichkeit und Liebe und Geduld die Sünde der Brüder zu überwinden,
statt Mißttauen mit Mißtrauen und Scheltwort mit Schelt
wort und Haß mit Haß zu vergelten. Spürt ihr nicht, daß in diesem Stehen unter Gott ein Ausweg liegt für unsere
Not mit den Menschen, die uns oft das Herz und Leben schwer machen, daß auch für uns hier die Aussicht sich er
öffnet, wieder Frieden in's Haus zu bekommen, wenn wir
friedlos geworden sein sollten?
Und endlich gibt uns das Bewußtsein: „Ich bin unter Gott" noch ein Letztes für unseren Alltag: die Möglich
keit
zu
fröhlicher
Arbeit.
3n welch wundervoller
3*
Lebensbeherrschung Harmonie ist Josephs Leben, seit er weiß, daß er in Gottes Hand ist. Dadurch wird alles bei ihm, man möchte fast
sagen, unter einen Generalnenner gebracht, sein Verhältnis zu den Menschen, zu seinen eigenen Erlebnissen, seiner Ver
gangenheit und Zukunft und schließlich auch zu seiner Arbeit.
Er erkennt, daß er Gottes Arbeit tut, daß er bei allem seinen Schaffen und Tun GotteS Ziele verwirklichen helfen
muß, und ein Handlanger und Werkzeug Gottes sein darf.
Und das gibt ihm Sicherheit und Freude bei seinem ver antwortungsvollen, schweren Beruf, ein ganzes großes Volk
in Hungerzeiten zu erhalten.
Wie wunderbar muß es doch dem Joseph erschienen sein, wenn er an seine Lebensführung zurückdachte, an die merk
würdig verschlungenen Wege Gottes, die ihn schließlich zum Ziele führten, der Versorger eines großen Volkes zu sein.
Gewiß, so geht eS nicht vielen von uns, mancher Menschen Leben verläuft völlig normal, ohne irgendwelche Abenteuer und direkte Eingriffe GotteS. Aber doch können auch sie es merken, daß Gott sie an einen bestimmten Platz gestellt und
eine ganz bestimmte Arbeit anvertraut hat, zu der er ihnen die ganz besonders reichen Gaben schenkte. Ist es nicht
von größtem Wert und Bedeutung, das zu wissen? Es ist
mir, als würde dadurch unser Arbeitsleben veredelt, als würden wir selbst dadurch höhergehoben, aus armen Tage
löhnern und Sklaven zu Gehilfen und Werkzeugen GotteS
gemacht, aus Menschen, die für vergänglichen, irdischen Lohn schaffen und sich mühen ohne irgendwelche größeren Ziele zu kennen, als das tägliche Brotverdienen, zu Men-
Lebensbeherrschung schen, die selbständig Mitarbeiten dürfm an Gottes großem
Werk. O, wenn wir daö doch wieder unserem armen, verirrten
Volke zurufen könnten: „du bist unter Gott, du tust GotteS
Arbeit und stehst an Gottes Werk", dann hörte so manches mißmutige Seufzen über die Tretmühle der Arbeit auf, dann blickten die Augen wieder froher und selbstbewußter und freier ins Leben, denn sie fühlten sich durch Gottes Verttauen geadelt und gehoben, weil sie alle ja GotteS
Gehilfen sein dürfen in seinem Werk der Erhaltung der
Erde.
Fünf Jahttausende liegen zwischen Joseph und unS, die Welt ist anders und modern geworden, aber Gott ist der alte, und seine Kraft ist auch noch der alte, zuverlässige Halt
für unS alle. Versuch's zu machen wie Joseph und stelle
dich unter Gott, so wirst auch du Frieden und Sicherheit finden im Leben und Sterben. Amen.
Wer ist Gott? i. Könige 19/ 7—iz. Und der Engel des Herrn kam zum andern Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Stehe auf und iß; denn du hast einen großen Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch Kraft derselben Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis an den Berg Gottes Horeb. Und kam daselbst in eine Höhle und blieb daselbst über Nacht. Und siehe/ das Wort des Herrn kam zu ihm und sprach zu ihm: Was machst du hier, Elia? Er sprach: Ich habe geeifert um den Herrn, den Gott Zebaoth; denn die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert erwürgt; und ich bin allein übrig ge blieben, und sie stehen darnach, daß sie mir mein Leben nehmen. Er sprach: Gehe heraus und tritt auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr ging vorüber und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles sanftes Sausen. Da das Elias hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging heraus und trat in die Tür der Höhle. Und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach: Was hast du hier zu tun, Elia?
Äm heutigen Text tritt uns Elias entgegen, eine der größ ten menschlichen Gestalten der ganzen Bibel/ ein Held, der uns noch heute helle Bewunderung abgewinnt, wenn wir die
Wer ist Gott? von ihm handelnden Kapitel der Bibel durchlesen. Furchtlos
gegen Hoch und Gering tritt er dem gekrönten König Ahab seinerseits wie ein Souverain entgegen, etwa wie einst der
Kaiser einem kleinen Reichsfürsten entgegentreten konnte,
als gleichberechtigt, aber doch weit über ihn erhaben. Elias ist eine der wenigm, ganz ungebrochnen Persönlichkeiten der Bibel, ich wüßte außer Johannes dem Täufer keinen,
der als Mensch an ihn herangereicht hätte, eine knorrige Eiche, ein Fels im tobenden Meer des Ungehorsams und
Abfalls von Gott, so steht er da, ein ganzer Mann und Gottesstreiter.
Aber was ihn ganz besonders auszeichnet ist die unerhötte Kraft seines GottverttauenS: stellm wir uns doch einmal vor was das hieß, daß er, der Geächtete, durch unge
zählte Reiche Verfolgte, vor Ahab, der ihn bis aufs Blut
haßte, hinzutteten wagte, um die Hofpriester deö Ahab zum Gottesgericht herauszufordern. Die Macht seiner Per
sönlichkeit war so groß, daß Ahab, der auch ein ganzer Mann
war, nicht „nein" sagen konnte, und sich Elias fügte. Es kam zum bekannten Gottesurteil auf dem Berge Karmel,
wo die 450 Baalspriester auf der einen Seite, Elias allein
auf der anderen, jeder von seinem Gott Feuer für das Opfer tier, daS auf dem Altar lag, erbaten. Während die Baals priester sich nach ihrer Weise blutig geißelten, schrien und
tanzten, um ihren Gott zum Handeln anzuspornen, blieb EliaS ruhig und zuversichtlich, schon ein Sieger im voraus
und erlebte das unerhötte Wunder, daß Gott sein Opfer
entzündete. Mit Hilfe deö völlig erschüttetten Volkes, daS 3'
35
Wer ist Gott? vom AuSgang des Gottesurteils die Wahl seines Gottes für die Zukunft abhängig gemacht hatte, richtete dann Elias die Feinde Gottes am Bach Kidron.
Und wieder tritt er vor Ahab: „es wird regnen, iß und
trink, Gott ist wieder gnädig", und das bei völlig wolken losem Himmel, von dem die Sonne schon seit Jahren unbarm
herzig alles verbrannt hatte. Und wieder erlebt er den Triumph seines Glaubens, es regnet — und als Sieger zieht
er mit Ahab in der Hauptstadt ein.
Aber auf diesen ungeheuern Triumph seines Gottverttauens folgt eine namenlose Enttäuschung — das Volk
wendet sich doch nicht Gott zu, der seine Macht so sichtbar gezeigt hat. Die Königin schäumt vor Wut und trachtet nach
wie vor EliaS nach dem Leben. Und was das Schlimmste ist: Gott sieht ruhig zu, wie die Bosheit überhand nimmt,
Gott rührt keinen Finger, um seine Macht zu beweisen. Elias
muß wieder fliehen. In die Wüste geht er, ein seelisch ge brochener Mann: „Es ist genug Herr, nimm meine Seele von mir", das ist die letzte Bitte eines Verzweifelten. Und
da führt ihn Gott zum Horeb und erscheint ihm, um ihm,
der mit Gott hadert, wie ein Freund dem Freunde Rede und Antwort zu stehen, und läßt Elias einen Blick tun in seine Pläne und seinen Willen, läßt EliaS schon bei Lebzeiten den
Schleier ein wenig lüften, der über dem großen, unfaßbaren
Rätsel für uns schwächliche, sündige Menschen gebreitet ist,
über dem Rätsel „Gott". Wer ist Gott? — Was ist sein Wesen? — Das ist eine Frage, die die Menschheit bewegt, solange sie denken und über
36
Wer ist Gott?
ihre Gefühle sich Rechenschaft ablegen kann. Spengler nennt
die Frage nach dem Unsichtbaren, nach Gott, das, was
alle Kultur geschaffen,
waö Bewegung in die
Völker
gebracht hat, und behauptet, daß mit ihr sich unbewußt selbst die abmühen, die an keinen Gott glauben. Denn
jede Weltanschauung, sagt er, ist nur eine Bejahung oder
Verneinung der Religion, das ist Gottes. — Wer ist Gott? Darüber wollen wir heute miteinander reden, indem wir die 4 Erscheinungen des Elias am Horeb bettachten.
„Und siehe, der Herr ging vorüber, heißt es, und ein großer, starker Wind, der Berge zerriß und Felsen zerbrach, vor dem
Herm her, aber der Herr war nicht im Winde." Das war eine Wiederholung der Enttäuschung für Elias, die er eben erlebt hatte. Wie im Wirbelwind daherfahrend, im glühenden
Zorn, in furchtbarer Gerechtigkeit unerbittlich züchtigend,
so hatte Elias sich Gott gedacht, und an diesem Gott war er irre geworden, diesen Glauben hatte er nicht mehr.
Meine lieben Mitchristen: stellen wir uns nicht auch häufig, in bezug auf andere besonders, unseren Gott so vor, wie
Eliaö ihn gedacht und ihn gepredigt hatte? Ja, ist diese Vor stellung von Gott nicht so eigentlich der landläufige Gott? So denken ihn sich auch die Ungläubigen am liebsten, als solcher lebt er in den Massen. Mir fällt da eine Szene aus Rußland ein, wo auf offenem Markt ein kommunistischer
Freidenker, ein richttger Kommödiant und flacher Demagog eine Schmährede wider Gott hielt und plötzlich schrie: „Wenn
es einen Gott gibt, so soll er mich in 3 Minuten erschlagen auf die Beleidigungen hin, die ich ihm ins Gesicht geschleu-
Wer ist Gott? dert habe." Und als unter atemloser Spannung der Massen
die Zeit verstrichen war, erklärte er unter wildem Gelächter: „Nun seht ihr, daß es keinen Gott gibt." Gewiß, diese Vorstellung von Gott ist kindisch, aber ist die landläu
fige
Meinung
unsere kleinliche
etwa
tiefer?
Rache
Ist 'der Gott,
befehlen,
der
Gott,
dem der
wir
unsere
Feinde strafen soll, der Gott, dem wir voll Haß die Ver
nichtung unserer Widersacher zuttauen, nicht auch ein solcher Gott, der wie eine Windsbraut über die Erde fegen soll, alles
vernichtend, alles zerstörend,
was sich ihm in den Weg
stellt oder noch schlimmer, was uns nicht gefällt? Seien
wir doch etwas vorsichtiger mit dem Verttauen auf diesen „gerechten" Gott — wäre er der, als den wir ihn gem haben
wollten, um unsern Haß zu stillen, dann wäre er auch uns gegenüber nur der gerechte Gott, und dann wehe der
Menschheit, wehe der Welt, wehe, dreimal wehe aber auch über unö. An diesem „gerechten" Gott ist unser Volk im Kriege irregeworden, weil sie den wahren Gott nicht verstanden
haben. Aber auch für andere, ernste Christen, hat Gott dieses Ge
sicht, daö sind die Ungeduldigen, die sofort Früchte sehen wollen,
die nach
äußeren
Erfolgen
streben
oder ver
zagen und wie EliaS hadern, wenn diese ausbleiben. War um zeigt Gott nicht seine Macht, warum wirkt sein Wort
nicht mehr, warum zerbricht er nicht die harten Herzen des Volkes, warum schickt er nicht seinen Geist, der alles neu macht? DaS sind Gedanken,'die manchem ernsten Christen schon
gekommen sind. Und noch eine Art von Gedankengängen
38
Wer ist Gott? gehen vielleicht von dieser falschen Vorstellung Gotteö aus:
das ungeduldige Warten auf die Wiederkunft Jesu zum Gericht, das heutigen TageS in gewissen Kreisen der Christen
heit wieder so modem geworden ist. Gewalt, Zerstörung, Scheidung, plötzliche gewaltsame Bekehrung, das ist es,
was diese Christen erwarten, und beweisen damit, daß sie
Gott nicht begriffen haben, denn sie haben die Vorläufer Gotteö, gelegentliche Begleiter Gottes, für Gott selbst ge
nommen, denn ewig unverändert wird über all diesen mensch
lichen Gedanken und Hoffnungen das Wott stehen: „Aber Gott war nicht in dem Winde." Gott ist nicht von uns ge
schaffen, sondem wir von ihm, wir können Gott nicht nach
unserer Willkür ummodeln, sondem Gott ist der, der er ist, von Anbeginn an derselbe. Wer ist denn nun Gott? „Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben, aber der Herr
war nicht im Erdbeben." Wohl nie fühlt sich der Mensch hilfloser der Natur gegenüber, als wenn der Boden, auf dem er steht, auf dem er zu gehen gewohnt ist, schwankt
oder bricht. Schon mancher hat im furchtbaren Aufruhr der
Elemente, draußen auf tobender See, im Ungewitter und Erdbeben gemeint Gott zu erleben. Die Alten zogen daraus
den Schluß, Gott sei Natur und weiter nichts, und beteten Naturgötzen an. Und noch heutigen Tages ist dieser Irrwahn verbreitet, denn wieder heißt es, wir haben unsere Gottes dienste in der Natur draußen, wir beten Gott in der Natur
an, Natur und Gott ist eins, Gott ist nur Materie und weiter
nichts. Gewiß spricht Gott durch die Natur zu uns, gewiß tonnen große Naturereignisse, Naturerschütterungen oder
Wer ist Gott? das Versenken in die unendliche Größe der Schöpfung in uns Gefühle
wachrufen, die der Gottesanbetung nahe
kommen: Gefühle der Demut, wo wir unö sehen wie wir wirklich sind, klein und schwach und nichtig, und über uns
etwas, was unendlich viel mächtiger und vollkommener ist, als wir. Aber daö ist nicht genug, das ist nicht des Rätsels Lösung,
sondern erinnert an ein fernes Ahnen der Lösung. Es ist
nur, als ginge Gott vorüber in seiner ganzen, unfaßbaren Größe und der äußerste Saum seines langen Mantels hätte
unö gestreift, weiter nichts ist es, was wir in der Natur erschauen und erleben können. Gott ist nicht im Erdbeben,
Gott ist nicht in der Natur, er ist über der Natur, über dem Erdbeben, über den furchtbaren Katastrophen, die über die Erde gehen, nicht aber diese selbst. Mancher hat gemeint,
Gott im furchtbaren Trommelfeuer zu erleben, wenn die Erde zittette und bebte, wenn alles, was Menschenhände gemacht hatten, zu einem Nichts von Menschenhänden zer
stört wurde. Aber auch das war nicht Gott, es war nur eine seiner erschütternden Predigten über daS alte Wott, das
wir oft nicht wahr haben wollen in unsrer eitlen Selbstüber
hebung: „Wie so gar nichts sind doch die Menschenkinder,
die so sicher wohnen." Denn auch das ist nicht daS Letzte, was Gott uns zu sagen hat, das ist nicht der letzte Inhalt seiner Offenbarungen, nur eine Einleitung ist eS zu dem
großen eigentlichen Geheimnis, zur Lösung des Rätsels, die er dadurch vorbereiten will, aber die Lösung selbst ist es
nicht. WaS ist nun die Lösung? Wer ist Gott? —
Wer ist Goll? Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Das Feuer läutert, daS Feuer verbrennt die Schlacken und die Spreu, das Feuer wärmt und belebt. Läge da nicht nahe zu glauben, daß Gott im Feuer ist? Wir
neigen oft der Ansicht zu, daß Gott an uns herangetreten ist, wenn wir im schweren Läuterungsfeuer des Leides und
Kummers und der inneren und äußeren Prüfungen gewesen sind. Und gewiß ist Gott in diesen Zeiten ganz besonders
nah, gewiß führt gerade das Kreuz am häufigsten zu Gott.
Gewiß würden die wenigsten Menschen ohne den Segen des Leides die Heimat der Seele finden können. Aber doch ist
es ein Irrtum zu glauben, daß Gott selbst in dem Leid und in den schweren Schickungen ist, und daß daher jeder, der
durch Kummer und Not hat gehen müssen, deshalb schon
ein Anrecht auf die ewige Seligkeit erhalten hätte, wie man
es hie und da über schwergeprüfte Menschen sagen hört.
Es geht mit den Leiden geradeso wie mit dem Feuer, sie läutem wohl, aber sie können auch hart machen. Sie ver
nichten das Unbrauchbare, aber sie können auch unendlich viel Wertvolles zerstören. Wenn etwas zulange dem Feuer ausgesetzt wird, ohne daraus heraus zu kommen, dann ver
brennt es zu Schlacken. Wenn jemand keinen Ausweg aus dem Leide sieht, wenn er hoffnungslos drin stecken bleibt,
dann kann er durch das Leid Schaden nehmen an seiner Seele und nie die Antwort auf die Frage finden: „Wer ist
Gott?" sondern in Gott nur den schrecklich richtenden Gott
sehen, der straft, oder aber den Gott, der am Zerstören und am Einschüchtern und Demütigen seinen höchsten Gefallen hat.
4i
Wer ist Gott? Auch im Feuer war Gott nicht. Wie ist denn Gott, wenn
all diese Dinge nur seine Vorboten und Vorbereiter auf ihn selbst sind? Gibt eö überhaupt noch eine Möglichkeit für
unS Menschen, Gott zu erkennen, wenn das größte und mächtigste Erkennbare nur ein Schatten seiner Größe ist,
nur der Auftakt zu dem, was er in Wirklichkeit ist? „Und nach dem Feuer kam ein sanfteö, stilles Sausen. Da das Elias hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem
Mantel und ging heraus und ttat vor die Tür der Höhle."
Welch ein Gegensatz zu dem Toben und Wüten der Ele
mente, zum Jittern der Berge und Beben der Erde — alles wird ganz Ml und ruhig — der Herr kommt selbst
als ein Mles, sanftes Sausen. Und Elias, der geeifert hatte um Gott, der mit dem Schwerte gewütet hatte
um seines Gotteö willen, erkennt auf einmal, daß Gott da ist, er, an dem er irregeworden, an dem er gezweifelt
hatte, weil er ihn sich so ganz anders vorgestellt hatte. Nun weiß er es, ohne daß ihm jemand zu sagen braucht — daö
ist Gott. Nun fragt er nicht mehr warum, nun hadert er nicht mehr, weil Gott es anders gemacht hat, als er erwartet. Alles, alles schweigt in tiefer Ehrfurcht und Ehrerbietung in
ihm, alles verMmmt vor dem Unfaßbaren—„Gott ist da". — Daö ist Gott — ein stilles, sanftes Sausen, daö alles
Ml macht, das ein Bewußtsein des Geborgenseins sonder gleichen gibt, das alles verstummen macht in unS und um unö, und alles in Frieden verwandelt, was in Auftuhr und Zwist getobt hatte — das ist Gott.
Nicht Rache und Strafe, nicht Gerechtigkeit und Zerstören
Wer ist Gott? und Tod, denen, die sündigen, ist sein eigentliches Wesen, sondern Friede und Liebe und Gnade. Alles andere ist nur
Vorbereitung zur Erkenntnis dieses seines wunderbaren
Wesens. O, daß du das fassen könntest im Glauben, lieber Mit
christ! O, daß du eS erleben könntest wie Elias, daß der Herr zu dir kommt, im stillen, sanften Sausen und es dir von selbst wie Schuppen von den Augen fiele und du von
selbst die Lösung des Rätsels in deinem eigenen Erleben fändest: jetzt ahne ich wie Gott ist, weil ich es selbst erlebt
habe. Wende dich nicht enttäuscht von ihm ab, wenn er dir
seine Vorboten schickt, hadre nicht mit ihm, wenn du ihn nicht gleich verstehen kannst, und wenn du lauter Rätsel zu
sehen meinst; warte nur ab. Du wirst und mußt eS erleben,
das sanfte, stille Sausen, daß dein Herz springen wird vor Jubel und du es nicht fassen kannst, das Glück über den
Frieden, den Gott dir gab, über den Halt, den das Vertrauen
auf ihn dir schickte.
Und dann wird eine andere Gestalt in ihrer ganzen Größe vor dich treten, in Dornenkrone und Purpurmantel die Ge
stalt des Gekreuzigten, er, der Liebe, Gnade, Friede brachte, und du wirst eS ahnen, warum er sprechen durfte: „Ich und
mein Vater sind eins" und dann hinging und für unS starb, weil auch er das stille sanfte Wesen Gottes hatte, das so unendlich lieben kann. Und diese unfaßliche Gnade und
Liebe wird dich niederzwingen in die Knie, daß du, statt zu fragen und zu Hadem, anbetend in tiefster Dankbarkeit
deine Hände erhebst und bekennst: „Mein Herr und mein
Wer ist Gott? Gott!" — Selig, wer so seinen Gott erleben kann als stilles,
sanftes
Sausen, das
das Herz fest
und
stark macht,
und den Frieden gibt, der höher ist, als alles Menschlich-
Irdische, den Frieden der Gnade und Vergebung. Der hat
Gott gefunden für Leben und Sterben. Amen.
Echte Liebe Röm. i2, 9—ii. Die Liebe sei nicht falsch. Hasset baS Arge, hanget dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket euch in die Zeit.
In jedem der Schriftabschnitte, die von alters her uns für die einzelnen Sonntage gegeben sind, liegt ein köstlicher Schatz. Aber er liegt nicht bei allen gleich klar und deutlich
zutage. Manchmal muß man lange schürfen und graben und bekommt den Schatz vielleicht nur goldkornweise zu
sammen, so wie ein Goldwäscher sich seinen Schatz aus dem Sand zusammenliest. Dann wieder, bei anderen Texten,
liegen die Kostbarkeiten klar zutage. Sie sind geschliffenen Edelsteinen zu vergleichen, nach denen man nur zu greifen
braucht, um einen fertigen Schatz zu besitzen. Solch ein Schatz,
der klar zutage liegt, ist der heutige Text: eine Fülle von wundervollen Worten finden wir in ihm. Hier kommt es
nur darauf an, daß man die schon fertiggeschliffenen Edel-
Echte Liebe
steine zu einem Schmuck zusammenfügt. Dieser Schmuck
soll die Liebe sein, denn die Liebe ist das Kostbarste und Höchste von allem. So wollen wir heute von der Liebe spre
chen und drei Fragen zu beantworten suchen: Erstens, was Liebe ist, zweitens, wie Liebe ist, drittens, wo wir die
Liebe finden. i.
Was ist Liebe? Hat es einen Zweck, überhaupt noch darüber zu sprechen? Weiß das nicht jeder Mensch? Wenn
wir hören, wie oft das Wort Liebe gebraucht wird und wie oft sie angepriesen und hochgepriesen wird, wenn wir an
die vielen Millionen Bücher denken, die über die Liebe han deln, dann müßte man sagen: Es ist unnütz, darüber noch
Worte zu verlieren. Und doch! Mancher Blick in das Leben und in den Alltag zeigt unö, daß über dem Wort Liebe irgend ein großes Mißverständnis schweben muß. Da redet man in hohen Tönen von der Liebe und beweist durch die Tat,
daß diese hohen Töne Unwahrheit waren. Man redet von
der Liebe, die nimmer aufhört und Menschen, die sich einst heiß liebten, stehen sich bald darauf in Haß und Gleichgültig
keit gegenüber. Auf manchem Kreuz der Friedhöfe steht daS berrliche Wort: „Die Liebe höret nimmer auf", und dann
sehen wir vielleicht, daß ein solches Grabmal vernachlässigt
und vergessen ist, und wenn wir Nachforschungen anstellen, erweist es sich, daß die nächsten Angehörigen wohl noch
leben, aber den, der unter dem Hügel ruht, haben sie längst vergessen. Und das herrliche Wort, daS sie auf das Kreuz schrieben, war eine große Lüge. Oder man preist die Liebe als
46
Echte Liebe das größte Glück auf der Welt, und doch bringt den Men schen nichts größeres Unglück als die Liebe! So ist die Liebe zu dem am häufigsten mißbrauchten Wort geworden, denn
kein Wort ist so oft herabgewürdigt und in den Schmutz ge zogen worden, wie dieses, weil so viel Unwahrheit damit verknüpft ist.
Also die Frage, was Liebe ist, ist wohl berechtigt. Vor allem müssen wir feststellen, daß das Wort Liebe nur dort angewendet werden sollte, wo ein Gefühl vorhanden ist,
daS bereit ist, seinen eigenen Vorteil und seine eigenen In
teressen und Belange zu vergessen um des anderen willen,
das sein eigenes Glück hintenan setzt um den anderen, seinen Mitmenschen, etwas Gutes zu erweisen, ein Gefühl, das
bereit ist, auch Opfer zu bringen um des anderen willen, kurz ein Gefühl, das mit Selbstsucht nichts zu tun hat.
Denn Liebe und Egoismus sind Begriffe, die
einander
ausschließen. Wenn wir Dinge mit Liebe bezeichnen, die im Grunde
nur Selbstsucht sind, so ist das ein Mißbrauch. Wenn wir alles das, was von der christlichen Liebe auögesagt wird, einfach auf unsere weltliche, irdische Liebe beziehen, wird gar zu leicht eine Unwahrheit dabei herauskommen, denn
eine Liebe, die nichts weiter wünscht, als den Besitz des anderm, oder eine Liebe, die spricht: „Du mußt mein werden,
sonst gehe ich zugrunde", ist keine Liebe, denn da denkt man nur an sich, nicht an das Glück und den Vorteil des anderen.
Dieses Gefühl ist von der Selbstsucht nicht weit entfernt, deswegen verdient es nicht die Bezeichnung Liebe. Gewiß,
Echte Liebe auch diese Liebe ist etwas Natürliches. Und weil sie etwas
Natürliches ist, ist sie an sich etwas Reines und Hohes, wenn wir sie nicht selbst herabwürdigen. Aber eS wäre ein Irrtum zu meinen, daß diese Liebe schon eine gute Tat sei, daß wir unö etwas zugute halten können, wenn wir unsere Ehe gatten und unsere Kinder lieb haben. Wie oft hat selbst die
Mutterliebe nichts mit der wahren, echten Liebe zu tun. Denn oft liebt im Grunde die Mutter nur sich selbst: sie denkt nur
daran, wie sie ihr Kind recht vorteilhaft den Menschen zeigen kann. Sie vergöttert ihr Kind, sie betet eS an, sie vergißt,
daß ihr die Seele ihres Kindeö als köstlicher Schatz anver traut ist, für den sie sich aufopfern sollte, statt in ihr Kind
blind verliebt zu sein. Und auch dann, wenn zwei miteinander
auf den Lebensweg traten und wirklich glaubten, die wahre
Liebe im Herzen zu haben und dann nach wenigen Monaten
die große Enttäuschung kam und sie merkten, daß sie sich jemanden alö LebenSgefähtten gewählt hatten, der gar nicht zu ihnen paßte, mit dem sie nichts gemeinsam hatten, dann war daS, was sie Liebe nannten, keine Liebe, sondem nur
äußerliches Verliebtsein, nur Schein. — 2.
Wie ist nun die richtige und echte Liebe? Da gibt uns unser
Text eine wundervolle Antwort. Eine Reihe von Eigenschaften nennt er uns, als erste: Die Liebe sei nicht falsch! Da mit begegnet das Wort Gottes einem Irrtum, der sehr weit in der Welt verbreitet ist, auch gerade in bezug auf daS, was
man christliche Nächstenliebe nennt. Man meint, die christ-
Echte Liebe
liche Nächstenliebe müsse alles zudecken, ihr Wesen sei, alles
zu übersehen und alles zu vergeben und auch zum Unrecht
Ml zu schweigen. Sie bestehe darin, mit allen gut Freund zu sein und niemand zu verletzen oder zu nahe zu treten. Das hält man für Liebe. Dem widerspricht das Wort Gottes,
das uns wamt: Die Liebe sei nicht falsch! Wie oft ist daö, was wir Liebe nennen, nur feine Diplomatie. Man möchte überall gern gesehen sein, und darum läßt man immer drei
gerade sein, man stößt nirgends an und redet allen nach
dem Munde, und so ist das, was man als Liebe preist, weiter nichts als Ängstlichkeit und Falschheit. Man zeigt ein ganz
anderes Gesicht, alö man in Wirklichkeit hat. Man setzt den Menschen gegenüber ein freundliches Gesicht auf, und im
Herzen sitzt der Groll und wird gehegt und gepflegt durch Jahre hindurch. Das ist nicht Liebe, sondern nur die Maske
der Liebe. Die Liebe muß aufrichtig sein, ohne Falsch.
DaS heißt nun nicht, daß man einfach herauspoltern soll,
was einem gerade einfällt, daß man den anderen verletzt durch daö sogenannte: „Die Wahrheit sagen", oder daß man gar die Fehler deö anderen lächerlich macht. Daö ist unter
der Forderung der Wahrheit in der Liebe natürlich nicht zu verstehen. Aber wir sollen in jedem Fall offen und auf richtig mit unseren Freunden sprechen, wenn auch voller
Nachsicht, Verständnis und Geduld. Selbst wenn wir viel leicht das Opfer ihrer Freundschaft bringen sollten, weil
sie sich über uns ärgern, muß die wahre echte Liebe uns zu Wahrhaftigkeit gegen unsere Freunde zwingen. Oder glaubt wirklich jemand, daß Gott die Menschen höher schätzt, die 4 Bruhns: Sonntagspredigten.
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Echte Liebe aus Schwäche, der sie den Namen Liebe geben, zu allem Häßlichen stillschweigen,
die mit ansehen, wie sich ihre
ganze Umgebung allmählich in einen Sumpf verwandelt, als vielmehr die andern, die den Mut haben, schlechtes wirk
lich schlecht und Sünde Sünde zu nennen? Wer wirklich die Liebe im Herzen trägt, muß auch die Kraft in sich fühlen,
etwas Unangenehmes zu tun, auch auf die Gefahr hin, die innere Ruhe dabei zu verlieren.
„Hasset das Arge und hänget dem Guten an!" Hasse das
Arge in deinem Nächsten und gehe dem Guten nach in ihm, ohne aber dabei deinen Nächsten selbst zu verachten oder
kritiklos zu vergöttern! Wer wirklich Liebe
zu
seinem
Gott hat, der will auch, daß die Sache Gotteö überall zum
Siege
kommt, auch in uns
und
in
denen, die
mit uns auf dem Wege sind. Daher ist es unsere Pflicht,
unserm Nächsten bei der Überwindung der Fehler zu helfen, aber natürlich nur in aller Liebe. Solange wir noch einen
Groll in uns haben und eine Verärgerung über seine Fehler
empfinden, ist es uns noch nicht möglich, ihn in aller Liebe
auf seine Mängel aufmerksam zu machen. Erst müssen wir innerlich allen Arger überwunden haben, dann können wir
in offener Aussprache auch unseren Mitmenschen helfen. Aber
dazu gehört eins: „Die brüderliche Liebe sei herzlich", d. h. wenn eS richtig übersetzt wäre: Die brüderliche Liebe sei
brennend, sei heiß. Wenn wir nur laue Gefühle der Sym
pathie oder deö Wohlwollens gegen unseren Nächsten haben, werden wir darauf achten, möglichst ohne Reibung mit unseren
Nächsten auszukommen. Nur eine wirklich heiße
Echte Liebe
Liebe scheut auch das nicht, sich mit seinem Nächsten zu Über werfen, um seine Seele zu retten.
„Ein jeder komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor," heißt es weiter. Dies Wort paßt so recht in unsere Zeit. Man
hat eS oft ausgesprochen, daß wir mitten in einer Krisis der Ehe stehen, und behauptet wohl mit Recht, daß die meisten Ehen heute unglücklich sind. Es fehlt nicht an Be
mühungen, die Ehe wieder zu einem glücklichen Zusammen leben zu gestalten. So ist kürzlich ein Buch erschienen das
die Eheftage
von allen Seiten zu beleuchten sucht. Aber
die Hauptsache scheint doch vergessen zu sein. An der soge nannten Liebe fehlt es wohl kaum, wohl aber an gegensei tiger Achtung. „Einer bringe dem anderen Ehrerbietung entgegen", das sollte die Grundlage der Ehe sein. Aber wo soll die Achtung Herkommen, wenn die Eheleute so leben,
daß sie keine Achtung mehr voreinander haben können, auch keine Achtung vor sich selbst. Oder wenn sich die Eheleute
gar nicht um die Weltanschauung des anderen kümmern, wenn es ihnen ganz gleichgültig ist, was der andere glaubt
und was daS Ziel seines Lebens ist, dann können wir uns nicht wundern, wenn das Eheglück zu einer seltenen Pflanze
wird auf Erden. Denn nichts gibt unö leichter wirkliche Ach
tung voreinander als eine gemeinsame Weltanschauung, ge
meinsamer Glaube und ein gemeinsames Wandeln einem hohen Ziel entgegen, denn dann achtet einer den andern als Kind und Geschöpf Gottes. Wo solche Achtung fehlt, wird
auch eine heiße Liebe der Ehegatten zu einander allmählich ver lorengehen und sich in Haß oder Gleichgültigkeit verwandeln. 4'
51
Echte Liebe Die Dinge, die Paulus als Grundlage der Liebe bezeichnet, sind: Aufrichtigkeit, heiße, herzliche Liebe, das Suchen des
Gutm in dem anderen und Achtung. Aber selbst wo das alles vorhanden ist, wird dort, wo Menschen miteinander
auf dem Wege sind, auch stets die Möglichkeit zu Mißver stehen, Streit und Verärgerung naheliegen. Es wird kaum
zwei Menschen geben, die durchs Leben gegangen sind, ohne daß je ein Mißverständnis zwischen ihnen gewesen wäre. Deshalb kommt alles darauf an, daß wir diese Miß
verständnisse überwinden, um sie nicht zu Haß und einer Entfremdung werden zu taffen, daß wir bereit sind, dem
anderen zu vergeben oder daß wir sagen: Bitte vergib! Sonst
wird
auch
das
festgegründetste
Verhältnis
der
Liebe zwischen zwei Menschen nicht standhalten können.
Endlich sagt Paulus noch ein Wort, das nicht ganz ver ständlich ist: Schicket euch in die Zeit! Besser nach dem Ur text: Dienet der Zeit! Bedenket bei eurem Dienst, daß die
Zeit dahingeht! Wenn wir bedenken, daß wir nur kurze Zeit miteinander auf dem Wege sind, daß wir Menschen
sind, deren Leben dahinfliegt, dann können wir auch nicht lange miteinander Hadem. Du, der du vielleicht einen Jom oder Groll im Herzen ttägst gegen einen anderen Menschen,
könntest du diesen Zom und diesen Ärger noch aufrechterhalten,
wenn dein Gegner vor dir auf der Totenbahre läge? Könntest du dann noch sagen: Das, was er mir angetan hat, war so
schwer, daß ich es ihm nicht vergebm kann? Wenn wir doch im Zusammenleben
mit unseren Mitmmschen
bedenken
wollten, daß die Zeit dahingeht und daß einmal die Trm-
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Echte Liebe nungsstunde schlägt und daß uns dann unser Ärger ganz klein erscheinen wird, so klein, daß wir ihn gar zu gern als nie
geschehen zurücknehmen möchten. O, daß wir doch bei allen
den klemm Verärgerungen den Tag vor Augm hätten, wo
wir Abschied nehmm müssen, wieviel leichter könnten wir Ärger und Kränkungm vergessm. Und nun zum Schluß die letzte Frage: Wo finden wir die Liebe? Es wird viel von Liebe gesprochen in unserer liebe
armen Zeit, denn jeder fühlt es: Nur die Liebe kann die
Krisis unserer Zeit lösen. Das große Fragen nach Liebe ist
im letzten Grunde ein Fragen nach der Quelle aller Liebe,
nach Gott. Wmn wir heute sehm, daß die Liebe die Menschm nicht mehr eint, daß die Liebe im Zusammenleben der Men
schen nicht mehr stichhält, so liegt das daran, daß Gott fehlt, daß wir den nicht haben und den nicht im Herzen tragen,
der uns die größte Liebe erwiesm hat, daß Er sein Lebm
hingab für uns. Darum antwottm wir auf die Frage: Wo ist Liebe zu finden, nur: Die Liebe ist bei Gott! Wenn du dich
nach Liebe sehnst, dann mache dich auf zu deinem Gott.
Dann wird dein Leben wieder einen Inhalt und ein Ziel
haben. So wollm wir heute schließen mit dem Hinweis auf den, der auö Liebe zu uns Mensch wurde und sich hingab
für unS, um uns zu retten und uns zu helfm. Wenn Er bei
uns ist, dann wird auch die Liebe bei uns sein. Darum mache dich auf und gehe zu deinem Heiland, damit dein Herz wieder liebewarm werde.
Amen.
Drei Rätsel im Leben der Menschen Joh. ii, i—16. E6 lag aber einer krank mit Namen Lazaruö, von Bethanien, in dem Flecken Marias und ihrer Schwester Martha. (Ma ria aber war, die den Herrn gesalbt hat mit Salbe und seine Füße ge trocknet mit ihrem Haar; deren Bruder Lazarus, war krank.) Da sandten seine Schwestern zu ihm und ließen ihm sagen: Herr, siehe/ den du lieb hast, der liegt krank. Da Jesus das hörte, sprach er: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Jesus aber hatte Martha lieb und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte, daß er krank war, blieb er zwei Tage an dem Ort, da er war. Darnach spricht er zu seinen Jün gern: Laßt uns wieder nach Judäa ziehen! Seine Jünger sprachen zu ihm: Meister, jenes Mal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dahin ziehen? Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser Welt. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich; denn eS ist kein Licht in ihm. Solches sagte er, und darnach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke. Da sprachen seine Jünger: Herr, schläft er, so wirds besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem Tode; sie meinten aber, er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazaruö ist gestorben; Und ich bin froh um euretwillen, daß ich nicht dagewesen bin, auf daß ihr glaubet. Aber lasset uns zu ihm ziehen! Da sprach Thomas, der genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: Laßt uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben!
Wer die verschiedenen Kulturstufen der Völker betrachtet,
dem fällt eö stets auf, wie für die Menschen einer niedrigen
Kulturstufe, die im Kampfe mit der Natur und den Ele-
Drei Rätsel im Leben der Menschen menten stehen, die Welt voller Wunder und Rätsel und Geheimnisse ist. Sie sind noch wie die Kinder, die ja auch
auf Schritt und Tritt vor Rätseln stehen, die sie nicht lösen
können; für sie hat die Welt noch den Schrecken des Unheim
lichen, aber auch den Zauber des Geheimnisvollen. Aber wie den Kindern sich dann allmählich ein Rätsel nach dem andern, ein Geheimnis über das andere offenbart und
natürlich erklärt, so geht eS bei der wachsenden Kultur auch
den Menschen, bis sie dann in der Großstadt ein Leben fast ohne Rätsel, und von allem Geheimnisvollen entkleidet,
führen. Denn in der, von Menschenhand aus Stein gebauten, von Menschen erdachten und völlig beherrschten Großstadt scheint ja alles erklärlich, alles gesetzmäßig zu sein; alles
vom Willen der Menschen abzuhängen. Er kann die Nacht taghell erleuchten, er kann Menschen über und unter der Erde in größter Geschwindigkeit hin und her befördern; er
kann Wüsteneien in blühende Gärten und Parks und frucht
baren Ackerboden in Steinwüsten verwandeln.
Über die
Angst vor dem Rätselhaften und Geheimnisvollen im Leben, glaubt der auf die Großstadt-Errungenschaften Stolze daher
verächtlich lächeln zu dürfen. — Treten einmal Geheimnisse
auch an ihn heran, die er sich nicht erklären kann, so hilft er sich meist mit Schlagworten darüber hinweg, oder er erklärt das Unerklärliche lächelnd für Aberglauben. Vor ihm liegt das Leben meist klar und nüchtem ohne Zauber und Reiz
wie eine Rechenaufgabe. Er übersieht alles seiner Meinung nach wie seine Handfläche und erklärt kühl und überlegen:
Es gibt keine Rätsel und nichts Unerklärliches im Leben.
Drei Rätsel im Leben der Menschen Und doch ist diese Lösung aller Rätsel durch Technik und Zivilisation nur eine scheinbare. ES ist diesen Menschen im
Grunde genommen nur gelungen, die Grenze des Rätsel haften und Geheimnisvollen weiter von sich
hinauszu-
schieben, den klaren und hell beleuchteten Fleck um sich zu erweitern. Oder er verschließt einfach die Augen dafür, daß jenseits des Lichtkreises seines Wissens und seiner Erklä-
rungen daS rätselhafte Dunkel doch noch waltet — und erst dann merkt er dessen Vorhandensein, wenn es einmal
in seinen LebenSkreiS einbricht, und das große, rätselhafte Fragezeichen des Todes, Leides oder Unglückes plötzlich auch sein ganzes Dasein beherrscht. Denn solange diese Dinge
auf Erden herrschen, wird eS Rätsel geben auch für den
klarsten Kopf und für daS kälteste Herz und für den selbst
sichersten, eingebildesten Kulturschwärmer. An diesen Dingen bricht sich all unser Wissen, Können, unsere Technik und Kultur. Darum wollen wir uns nicht wundern, wenn in
der heutigen Erzählung über Jesus vieles, uns Rätselhafte enthalten ist. Sie stellt ja einen Ausschnitt aus dem wirk
lichen Leben dar. —
Jesus erhält einen Angst- und Hilferuf aus Bethanien: Lazaruö, der Bruder von Maria und Mattha, ist schwer er
krankt. In unendlich bescheidener, rücksichtsvoller Form ist dieses Hilfesuchen erfolgt. Keinerlei Bitte wird daran ge
knüpft; nichts, was an einen noch so milden Druck erinnern könnte. Die Schwestern überlassen die Handlungsweise ganz
Jesu und legen ihres Bruders Geschick vertrauensvoll in
seine Hand: „Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank."
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Drei Rätsel im Leben der Menschen
Der, den du lieb hast... — liegt nicht wirklich ein ganz
besonderes warmes, freundschaftliches Licht auf allen Be gegnungen Jesu mit den Geschwistern auö Bethanien? Ein wunderbares, reines, tiefeS Freundschaftsverhältnis ver bindet sie, so daß wir das Gefühl haben, daß, wenn Jesus
irgendwo auf Erden zu Hause war, er in Bethanien ein wirk
liches Heim gefunden hatte. Und nun dies beinah Unglaubliche, Unfaßbare: Jesus
hört von der schweren Krankheit, er muß die tief innere Besorgnis seiner Freunde merken, muß also aufs Emsteste gefaßt sein — und bleibt doch zwei Tage ohne äußeren Zwang an dem Ort, wo ihn die Botschaft antrifft, als ginge
sie ihn nichts an, als sei er gar nicht dazu da, andem zu helfen und auf ihre Bitten zu hörm. Ist das nicht ein Rätsel?
Warum handelt Jesus so? Haben wir, liebe Mitchristen, nicht schon Ähnliches erlebt?
Wir waren in großer Not und Sorge. Es war uns, als müßten jeden Augenblick die Wellen über uns zusammen schlagen; als sei die Sonne unseres Glückes im Untergehen. In dieser Not wußten wir keinen anderen Rat, als dm Hei
land anzuflehen. Es war kein schwächliches Beim, das
wie ein unsicheres Tasten und Spielm mit Gedanken und Gefühlen ist, sondem das Anklammem eines Versinkenden
an den letzten Halt, der noch zwischen ihm und dem Unter
gang steht, oder wie ein sehnsüchtiges sich Recken und Strekken, um noch irgendwo einen Schein der untergehenden
Sonne zu erblicken. Aber wir mußten die bittere Enttäu schung erleben, daß wir uns müde und gebrochm von den
Drei Rätsel im Leben der Menschen
Knien erheben mußten, Gott erhörte unser Flehen und
Weinen nicht und ließ die Sonne unseres Glückes untergehen. Und die Erde ging ihren Gang weiter, als wäre nichts ge schehen. Gottes Helle Sonne schien strahlend
auf unser
bitteres Weh und Leid, als ginge unser Schmerz Gott nichts
an, als kümmere Er sich nicht um unsere Tränen und Angst.
Ist das nicht ein Rätsel? Habt ihr noch nie vor solchen Rät seln gestanden, wo ihr auf euer banges Warum keine Ant
wort erhieltet; wo ihr das furchtbare Gefühl hattet, als sprächet ihr ins Leere, als gäbe es keinen Gott und keinen Heiland, der euch lieb hat? Nicht wahr, damals fühltet ihr
etwas von den erdrückenden Rätseln des Leides: Gibt es einen lieben Gott? Oder sind alle diese Worte nur Trug
und leerer Schall? Warum legt der uns ein Leid auf, der
uns lieb hat?
Aber das Rätsel des Leides ist nicht das einzige. Sondern dazu kommt noch ein anderes großes, daö Rätsel des Todes. Jesus, der von sich gesagt hat: Ich bin die Auferstehung und
das Leben,-------- Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; Jesus, der seine Macht über den Tod unzählige Male gezeigt hatte — läßt es ruhig geschehen, daß Lazarus
stirbt. — Ist auch er machtlos gegen den Tod? Muß er sich auch beugen vor dem unerbittlichen Knochenmann, der nicht
auf unsere Wünsche Rücksicht nimmt und sich nicht um
zerrissene Herzen kümmert? Hat der Tod also doch das letzte Wort zu sprechen, gegen das all unser Sträuben und
Aufmucken vergeblich ist? Da stehen wir mitten vor dem
großen Geheimnis, das unser Dasein beschattet und dem
Drei Rätsel im Leben der Menschen
sich der wissenssicherste, kutturstolzeste und oberflächlichste Großstädter ebensowenig auf die Dauer entziehen kann, wie das rückständigste, vorurteilövollste, verängstigteste Natur
kind; ja dem jener oft weit hilfloser gegenüber steht, als
dieser. Wenn du es auch früher nie gespürt haben solltest, das tiefe Geheimnis, das quälende Rätsel unseres Menschen daseins, — als du am Sterbebette deines Vaters, deiner
Mutter oder deines Lebensgefährten standest und in das stille, blasse Antlitz blicktest, aus dem vor wenigen Augen blicken dich noch zwei liebewarme Augen angeblickt hatten, da hat auch dich der heilige Schauer vor der unerbittlichen
Majestät des Todes gepackt, daß du das tiefe, rätselvolle Geheimnis spüttest, das über unserm Leben liegt. Was ist
der Tod? Was kommt nachher, wenn der Vorhang gefallen ist? Gibt es etwas, das stärker ist, gibt es eine Macht, die den Tod überwinden kann? Oder ist es wirklich denkbar,
daß der, der noch unter uns in tausend Erinnerungen weilt, der, der in unserem Herzen lebt, völlig und endgültig auf gehört hat zu existieren? ist es möglich, daß wir selbst in
dieser einen Todesstunde unsere Existenz und unser Dasein verlieren? Wenn wir einmal vor solche Fragen gestellt waren,
dann merken wir es, auf wie schwankendem Grunde unsere materielle oder materialistische, unsere egoistische oder men-
schenvergöttemde Weltanschauung steht. Der Tod stößt das
alles um, und unser überttiebenes Selbstverttauen sinkt unter seinen Sensenstreichen zusammen.
Aber es ist noch ein Rätsel im Menschendasein, das uns
im heuttgen Textwort entgegenttitt: Jesus zieht nach Je-
Drei Rätsel im Leben der Menschen
rusalem, obwohl er weiß, daß die Juden ihn hassen, und ihn bei der letzten Begegnung auf Veranlassung der um ihre
Macht besorgten Priester steinigen wollten. Warum tut Je sus das? Ist eS Fatalismus — seinem Schicksal entgeht doch niemand —? Geht er, der tiefer in die Weltzusammen
hänge geblickt hat wie wir, blind in sein Verhängnis, weil er es fühlt, daß es ihm doch nicht gegeben ist, seinem Ge schick zu entrinnen? Wir haben ja auch im letzten Jahrzehnt
etwas zu spüren bekommen von der Macht deS Verhäng nisses, daS uns in seinen Strudel hinabzog, ob wir wollten oder nicht; daS die Männer und Söhne unseres Volkes
zermalmte, daS unsern Reichtum und unsere Macht zerbrach und Tausende an den Bettelstab brachte. Ist eS angesichts
dieses Verhängnisses nicht das Klügste, es zu machen wie JesuS es zu tun scheint, alles unnütze Sträuben aufgeben,
einen doch nutzlosen Widerstand aufzugeben und sich hinab reißen zu lassen in den doch unvermeidlichen Untergang?
Ist eS nicht daS Vernünftigste, sich von seinem Schicksal treiben zu lassen?
Liebe Mitchristen, da stehen wir vor drei Rätseln des Men schenlebens: Leid, Tod und Schicksal, und uns bleibt nichts anderes übrig, als uns mit diesen Geheimnissen irgendwie auöeinanderzusetzen. Einfach an ihnen vorbeizusehen und die Augen zuhalten bis unS die Hände in unerbittlich harter Weise von den
Augen gerissen werden, das geht nicht an, weil eS feige und
unwürdig ist. Wozu sind die Rätsel da? Warum schafft Gott
nicht diese Geißeln des Menschengeschlechtes einfach fort?
Wir wollen uns von Anfang an klar machen, daß wir
Drei Rätsel im Leben der Menschen mit den Mitteln unseres Verstandes — und wenn wir noch
so viel Scharfsinn und Zeit daran verwenden — nicht den Sinn dieser Geheimnisse erraten können, weil ihre Lösung nicht in den engen Grenzen dieser Welt liegt. Die rein mensch
liche, materialistische DieSseitS-Weltanschauung hat diesen Fragen gegenüber stets ihre vollständigste Hilflosigkeit er
wiesen. Sie kann hier nur zwei Ratschläge geben: Möglichst schnell vergessen, was nicht zu ändern ist oder sich zu stoi
schem Gleichmut gegenüber diesen Schicksalsschlägen zwin
gen, die wir Menschen doch nicht aus der Welt schaffen kön nen. Alles andere, was von dieser Anschauung aus zur Lösung der Rätsel vorgebracht worden ist, ist leeres Gerede,
das wie Rauch vor dem Winde verfliegt, wenn wirklich ein
mal solch ein Rätsel in das Leben tritt. Und Vergessen und Gleichmut sind keine Lösungen, sondem im Grunde nur
eine völlige Bankrott-Erklärung. Wir müssen unS schon auf
einen uns fremden Boden begeben, um ahnen zu können,
wozu diese Dinge von Gott zugelassen werden. Wir müssen dieselben einmal vom göttlichen Standpunkt Jesu aus be
trachten. Gehen wir dazu wieder zu dem in unserer Geschichte berichteten Fall zurück.
JesuS läßt die Schwestern zwei Tage lang watten, ehe
er sich auf den Weg macht, um ihnen zu helfen. Daß eS nicht
Lieblosigkeit gewesen sein kann vonseiten Jesu, das fühlen wir doch mit vollkommener Sicherheit. Es muß doch irgend wie Fürsorge für die Seelen der Schwestem gewesen sein,
die ihn zu seiner Handlungsweise trieb. Diese wollte er fördern und reifen lassen, und eine sofortige Hilfe hätte daö
Drei Rätsel im Leben der Menschen
kaum bewirken können. Es ist ja leider Menschenart, alle noch so wunderbare Hilfe bald als selbstverständlich hinzu
nehmen. Haben wir selbst nicht schon gebetet, und Gott er
füllte unS unsere Bitten, ohne daß wir später auch nur im entferntesten daran dachten, daß die Erfüllung unserer
Wünsche aus Gotteö Hand kam? DaS, was wir erlebten, erschien unö ebenso natürlich, wie uns alle die Wunder dieser Welt natürlich erscheinen und wie wir die wunder
barsten Erlebnisse oft mit stumpfer Gleichgültigkeit über
unö ergehen lassen. Erst werden wir gezittett und gebangt
haben; wenn lange Zeit alles Beten umsonst schien, alle
Hilfe aussichtslos und dann fast unerwattet noch die Ret tung kam, dann wußten wir etwas von dem unsagbar reichen Segen des Psalmenworteö: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen." Und würde
uns nicht aller Segen, der durch das Leid erwächst, verloren
gehen, wenn der Herr unö das Kreuz abnehmen würde, sobald wir darum bitten? Liegt nicht gerade im Druck, in
der Last des Kreuzes der Anttieb, alle Seelenkräfte anzu spornen, um nicht darunter zusammenzubrechen? Und ist
nicht anderseits gerade dieser Druck deö Kreuzes das, was uns zum Beten und Schreien veranlaßt: Herr, befreie mich
von
der Last des Kreuzes, laß den bitteren Kelch des
Leides an mir vorübergehen? Vor einigen Wochen wurde ein altes Fräulein unsere
Gemeinde beerdigt, das 36 Jahre lang ans Bett gefesselt war und unsägliche Schmerzen hat erdulden müssen all die
langen Jahre hindurch. Und doch hat diese Schwester Selma,
Drei Rätsel im Leben der Menschen
wie sie in den Kreisen ihrer Freunde genannt wurde, gerade durch ihr Kreuz einen so wunderbaren inneren Reichtum er
worben, daß sie, die arme Kranke, unzähligen anderen mit vollen Händen Trost und Segen austeilen konnte. Merken
wir eö nicht in diesem Falle klar und deutlich, welcher Segen aus dem Kreuz entstehen kann? Auch sie hatte einst um
Gesundheit gefleht, und doch versagte Gott ihr die Erfüllung, weil er durch sie viele andere unter dem Kreuz segnen wollte.
Hast du, lieber Mitchrist, es nicht auch an dir erfahren,
daß sich unter einem Leid dein Herz Gott öffnete? Erinnerst
du dich nicht der Tage, wo um dich tiefeö Dunkel herrschte, so daß du nicht mehr ein noch aus wußtest und die Sonne deines Glückes für immer untergegangen zu sein schien? War eS nicht der Glaube an Gott, der dich damals errettet hat? Hast du dich nicht vielleicht erst in dieser Zeit zum ersten
Male in voller Klarheit begriffen, waS uns Christen der Glaube an den Heiland, den Kreuzträger und Sieger über
den Tod, bedeuten kann? Es ist doch kein Zufall, kein weichmütigeS Mitfühlen, wenn Jesus sich immer wieder an die
Traurigen, an die Armen, an die Mühseligen und Beladenen
wendet. Sondern sie allein sind eS doch, deren Herzen sich
nach ihm sehnen; sie sind es, die flehend ihre leeren Hände ihm entgegenstrecken. Sie sind unter dem Kreuz hellhörig
geworden, daß sie das, was er ihnen sagen und bringen will, aufnehmen — Erlösung und Frieden der Seele.
Ich glaube, wenn wir von diesem Standpunkte aus das Leid, das über die Erde geht, ansehen, begreifen wir doch
auch, daß eS seinen Platz auf der Erde haben muß und daß
63
Drei Rätsel im Leben der Menschen Gott auf das wirksamste Mittel, uns reif und innerlich reich zu machen, verzichten würde, wenn er das Leid aus der Welt nähme. Und endlich noch eins: Solange eS Menschen auf Erden
gibt, wird es auch den Tod geben. Der steht am Ende un serer Laufbahn mit so unabwendbarer Sicherheit, daß noch niemand auf seinem Wege ihn hat umgehen können. Ob
wir an ihn hier gedacht oder ihn vergessen haben, ob wir
unS auf ihn vorbereiteten oder in den Tag hineinlebten, ob wir ihn herbeisehnten als Erlöser von Schmerzen oder gegen ihn uns sträubten mit der ganzen, unverbrauchten Kraft der Jugend, er kommt doch über jeden. — Trostlos
wenn wir dann völlig hilflos sind oder ihm stumpf ent gegentaumeln, wie die unwissende Kreatur es tut. Für einen
aufrechten, tapferen Menschen — und das sollen wir alle
fein — geziemt es sich, mit offenen Augen dem Tod ins An gesicht zu sehen, und das können und dürfen wir, wenn wir mit Thomas sprechen lernen: „Wir wollen mit Jesu ziehen,
damit wir mit ihm sterben." Wer mit Jesu durch sein ganzes Leben gegangen ist, wer erkannt hat, daß sein Schicksal aus GotteS Hand kommt, der kann auch mit einem Lächeln auf den Lippen dem Tode entgegengehen, denn er weiß, daß der,
der mit ihm war sein Leben lang, und ihm das Schwerste und Schmerzlichste stets abnahm, der Heiland Jesus Chri
stus, auch in der letzten Not bei ihm sein wird. Der hat dann nicht bloß mit den Lippen, sondem auch mit dem Herzen
beten gelernt: — „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir", und der weiß auch, daß Jesus auf diese Bitten
Drei Rätsel im Leben der Menschen
sein Ja und Amen, „eS soll also geschehen" antwortet und daß eS darum auch für ihn heißen kann: „Wer so stirbt,
der stirbt wohl." Aber wir wollen doch unser Evangelium nicht verlassen, ohne einen Blick auf die letzte Lösung aller Rätsel zu wer
fen. Sie steht freilich noch nicht in unserem Text, aber sein
ganzer Inhalt weist auf dieses Ziel hin, so daß auch über unserem Text ein Leuchten wie von einer Hellen Lichtvision
liegt — Auferstehung. — DaS ist doch die völlige, endgültige Lösung aller Rätsel
und Geheimnisse unseres Erdenlebens, dieses unfaßbare, wundervolle Wort: Auferstehung! Etwas, was über die
Grenzen des Lebens hinausreicht, was völlig jenseits ist und deshalb ganz aus Gottes Hand kommt. DaS Wunder aller Wunder, daS wir erleben sollen: Du sollst leben, ob du gleich stürbest! Wer etwas von diesem Wunder gläubigen
Herzens hier auf Erden hat erleben können, d. h. wer es an
sich hat erfahren können, das Gewaltige: „Siehe, ich mache alles neu!" vor dessm Auge teilen sich die Nebel, die über seinem Leben lagern. Wo er einst nichts als Geheimnisse
und Rätsel sah, da lichtet sich das Dunkel, und er sieht die
liebevoll ordnende Hand Gottes und liest über seinem Leben mit unauslöschlicher Schrift die Worte: „Ich habe dich
je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen, aus lauter Güte." Und dann wird sein Herz friedvoll, weil es geborgen ist in Gott.
Amen. 5
Bruhns: Sonntagspredigten.
65
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade Luk. 23, 39—43. Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und wir zwar sind billig darin, denn wir empfangen, was unsre Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes getan. Und er sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.
„Ziehe deine Schuhe aus, denn das Land, darauf du
stehst, ist heiliges Land." Dieses Wort sagte einst Gott MoseS, als er sich anschickte, mit dem Volk Israel den alten Bund zu schließen; wieviel mehr gilt dies Wort uns, die wir heute auf den heiligen Boden treten wollen, auf dem einst der
neue Bund, der Bund der Gnade, geschlossen wurde. Heilige Herzen, heilige Gedanken wollen wir uns zum heutigen
Tage erbitten, es ist heiliges Land, besonders für uns Evan gelische. ES ist wohl mehr als Zufall, daß gerade wir Evan-
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade gelischen diesen Tag mit solcher Inbrunst begehen, daß er
zu einem der größten Feiertage in unserer Kirche geworden ist, denn über keinem Ereignis in der ganzen Heilsgeschichte
unseres Gottes steht das Wort „Gnade", das den Grund pfeiler unseres evangelischen Glaubens bildet, mit so un
auslöschlicher Schrift geschrieben, wie über dem Karfrei-
tagsereignis, über dem Kreuz Christi.
Das Kreuz Christi ist die ergreifendste und lauteste Predigt
der Gnade, die jemals gehalten worden ist, eine echte, er
schütternde Jesuspredigt, ohne viel Worte durch die Tat. Nichts von unserer Art hat diese Predigt Jesu; nicht eine
einzige tiefgründige Abhandlung über die Gnade, fernen
Vortrag, keine Erklärung der Zusammenhänge zwischen Schuld und Gnade hat er uns gegeben, statt dessen ging er
hin und ließ sich für uns ans Kreuz schlagen. Und auch dort
am Kreuz kein Wort der Erklärung an die Seinen, warum er diesen schauerlichen, allen bisherigen religiösen Anschau
ungen und der ganzen Tradition widersprechenden Weg gehen mußte. Kein Wort, das auch nur auf den Sinn seines
Leidens und Sterbens, auf irgendeinen Trost in dem ent
setzlichen Zusammenbruche hinweist, bloß wieder eine Tat, die alles, was geschehen ist, unendlich viel besser erklärt als die tiefgründigste religiöse Abhandlung. Er gibt einem armen,
von Menschen mit Recht verachteten, von der menschlichen
Gesellschaft auSgestoßenen und gerichteten Verbrecher das felsenfeste Versprechen: „Heute wirst du mit mir im Pa radiese sein!"
Bei dieser Geschichte, die zwischen den beiden zum Kreuzeö5-
67
Jesu Kreuz — baS Zeichen der Gnade tobe Verdammten sich abspielt, wollen wir heute in heiliger
Andacht verweilen, nicht um etwas Ergänzendes dazu zu sagen oder sie geistreich auSzulegen. Hier können wir nur
schauen und staunen und anbeten, denn zu übermenschlich
groß ist das, was Jesus uns auf Golgatha getan hat. Vom Schächer, den nichts mehr als Gnade allein retten
konnte, und Jesus, der das ersehnte Geschenk der Gnade gab, wollen wir heute sprechen.
Dem Schächer war jeder Halt genommen, und deshalb
hatte er alle Hoffnung aufgegeben und hoffte allein noch auf Gnade. Und worauf hätte er noch hoffen sollen, denn
die Menschheit hatte ihn völlig aufgegeben, hatte ihn als
Verbrecher aus ihrer Mitte gestoßen, da war es ihm klar geworden, daß ihm kein Mensch mehr helfen konnte, daß er endgültig und völlig von allen Menschen im Stich ge lassen worden war. Für uns ein grauenhafter Gedanke: mir
kann und will kein Mensch mehr helfen; und doch— ein Ge danke, den wir nicht einfach abweisen dürften, mit dem Hin
weis, das kann und wird mir nie geschehen. Wir verlassen uns oft fest auf den Halt, den wir an anderen Menschen zu
finden gewohnt sind, und doch ist das nur ein scheinbarer Halt. Denke an deine Sterbestunde, die Menschenkunst wohl hinausschieben kann, aber die doch einmal kommen wird und
muß, und wo auch du es fühlen wirst, daß in dieser Stunde kein Mensch, auch der liebste nicht, dir einen Halt bieten kann. Und nicht nur diese äußerste Stunde wird uns allen das
lehren, daß die Menschen uns keinen Halt geben. Haben wir nicht im Grunde genommen es schon lange erkannt, daß in
Jesu Kreuz — bas Zeichen der Gnade den ganz großen und wichtigen Fragen uns Menschen nicht
helfen können; zwar in tausend Kleinigkeiten und Äußer lichkeiten erfreut uns menschlicher Beistand, aber wie steht eS z. B. um die großen Entscheidungen des Lebens, kann uns
die irgend jemand abnehmen? Haben wir bei den allerbesten, allerwohlmeinendsten Ratschlägen nicht immer daS Gefühl,
daß sie die letzte, die wichtigste, die alles entscheidende Frage
unserer Ungewißheit nicht beantworten? Wie steht es um die Sorgen, die uns die Nachtruhe rauben, die großen Schmer
zen, die unser Herz zerreißen, die inneren Kämpfe, wo es um Selbstbehauptung oder Untergang geht, um die Ver
suchungen, wo es um unsere Reinheit und Ehre geht? Haben
wir nicht das alles selbst meist ganz allein durchzukämpfen? Kann uns da etwa jemand so helfen, daß er uns die Ent
scheidung abnimmt? Und erst recht der letzte, große, alles
entscheidende Schritt, der Schritt des Glaubens zu Gott hin muß von uns allein gemacht werden, den kann uns nie mand abnehmen, niemand uns sagen: daS tue ich für dich! Und wenn wir einen noch so treuen Seelsorger, noch
so gereiften Freund haben, den Schritt müssen wir doch
allein tun.
Liebe Mitchristen, ist nicht da unsere Hoffnung auf mensch lichen Halt vielleicht an sich schon ein großer Irrtum? Spielt
bei diesem Sichanklammern an Menschen nicht eins eine große Rolle — wir wollen die Verantwortung von uns auf
andere schieben, wir wollen die Entscheidung aufschieben, indem wir immer und immer wieder bei anderen Anregung
und Rat und Hilfe suchen, obwohl unser innerstes Gefühl es
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade
unö sagen müßte, hier hilft dir niemand, hier mußt du doch
allein handeln. 3m
Grunde sind wir, ebenso wie der
Schächer, in dieser Frage bloß aus uns selbst gestellt, nur
mit dem Unterschied vielleicht, daß er eS damals am Kreuz klar begriff, während wir uns immer wieder einer Täu schung hingeben und uns selbst betrügen.
Und noch ein anderer Halt war dem Schächer endgültig
genommen, der Halt an den äußeren Verhältnissen, an der gewohnten Umgebung, die für unö ja mit die stärkste Stütze
ist. Ihm war seine furchtbare Einsamkeit klar geworden,
schon äußerlich; aus der Menge buchstäblich herausgehoben, ausgestoßen von der Erde, und vom Himmel nicht ausge
nommen, so hing er zwischen Himmel und Erde. Niemand,
der ihn bemitleidete, niemand, der mit ihm ging, allein dem Nichts gegenüber oder dem Richter. Das war es, was die
Einsamkeit für ihn so unerträglich machte, zu einer Qual
ohnegleichen — allein mit seinem Richter, ganz allein vor
seinen alles durchbohrenden, alles wissenden Augen, allein mit seiner Sündenlast. Fällt uns da, liebe Schwestern und
Brüder, nicht eine Stunde unserers Lebens ein, wo auch auf
unS diese furchtbare Einsamkeit lasten wird mit ihrer ganzen unerbittlichen Schwere, unsere Sterbestunde? Wenn unö
sonst stets liebe Menschen umgaben, wenn wir mitten im
Trubel der Arbeit oder Freude kaum je dazu kamen, unö einsam zu fühlen, wenn wir vielleicht geflissentlich der Ein
samkeit aus dem Wege gingen, weil wir instinktiv fühlten, daß wir das Alleinsein mit unserem Richter, mit unserem Gewissen, nicht ertragen konnten, in dieser einen, der letzten
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade Stunde unseres Lebens, werden auch wir die Einsamkeit in
ihrer ganzen unerträglichen Schwere fühlen, niemand von den unseren, auch der treueste nicht, wird dann mit uns gehen. Da wird es auch für unö heißen: du und dein Richter und
sonst nichts und niemand. Wehe unö, wenn zu diesem Ver lassensein von Menschen und der lastenden Einsamkeit dann noch daS hinzukommt, waö den Todeökampf deö Schächers
so namenlos bitter machte: daß er den Halt, den ihm sein Glaube an Gott bisher geboten hatte, auch verloren hatte.
Die Worte: „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist?" sprechen, glaube ich,
nicht von Gottesfurcht, sondern drücken zitternde Furcht vor
Gott aus, weil er eö wußte, weil sein zermartertes Gewissen ihm sagte, daß sein Los in der Ewigkeit nicht anders sein
und werden könnte als es jetzt war — Verdammnis: alles aus, keinerlei Veränderung zum Besseren mehr, nichts,
woran sich die Hoffnung anklammern konnte, kein Licht strahl, kein Schimmer der Liebe mehr, im Angesicht der ewigen Qual.
Ich weiß, viele mögen diesen Gedanken gar nicht anrühren,
sie gehen solchem Ernst geflissentlich aus dem Wege, sie wol
len ihre sogenannte teuer erkämpfte Ruhe nicht verlieren und verstecken sich hinter der Lüge: ich habe mir nichts vor zuwerfen und brauche mich vor meinem Gott nicht zu fürch
ten. Aber selbst auf die Gefahr hin, diese Ruhe zu vernichten,
muß eö heute gesagt werden, müßte eö in ihr Leben hinein geschrien werden, in die ganze Sattheit und Selbstzufrieden
heit der gedankenlosen Ruheseligkeit: vergiß nicht, daß du
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade auch einst dort stehen wirst wo der Schächer stand, Auge in Auge allein mit deinem Richter. Bist du wirklich sicher, daß diese furchtbar ernste Stunde, wo du ganz einsam sein wirst, nicht auch für dich der Anfang einer Ewigkeit sein wird,
über der das schreckliche Wort „Verdammnis" steht? Es muß endlich auch bei uns aus sein mit dem Scheinhalt, an
den so viele sich anklammern und den sie Gottes Gerechtig keit nennen, denn vor der Gerechtigkeit Gottes kann jeder
von uns, auch der Frömmste und Beste, nur zittern.
Eine schlimmere Finsternis und dunklere Nacht kann man sich gar nicht denken als die, aus der heraus der Schächer seine Bitte, seine letzte, einzigste, an Jesus richtete, denn er
hatte auch noch den letzten Halt, den wir haben, den Glauben an sich selbst, endgültig verloren, er hatte sich selbst aufge
geben: „wir empfangen, was unsere Taten wert sind."
Das war der vollkommene Bankrott, da war nichts, nicht
ein Schein mehr von Wertvollem in seinen Augen übrig ge blieben: ich habe Verdammnis verdient, ich bin am Ende mit Schrecken. Wir können uns das gar nicht vorstellen,
was solch ein Bekenntnis eigentlich bedeuten mag, sich selbst aufzugeben, über sich selbst den Stab zu brechen; aber wir
ahnen es doch, daß das der tiefste Abgrund der Finsternis
sein muß. Und doch, liebe Mitchristen, das ist der Punkt, wo Licht in die schreckliche Finsternis kommen kann, Leben
in den grauenhaften Tod, Seligkeit in die Verdammnis. Das ist der Wendepunkt, dieses Bekenntnis: ich habe Ver dammnis verdient, denn hier kann nun endlich das andere
unfaßbar Große einsetzen, was dort anfängt, wo wir uns
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade selbst aufgeben: Gottes Gnade. Als der Schächer soweit
gekommen war, daß er allen Halt, den Menschen haben
können, verloren hatte und nur noch eine Bitte aussprechen konnte: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich
kommst!", da erfolgte die Zusicherung der Gnade: „heute wirst du mit mir im Paradiese sein!" Damit wandelte sich alles für den Schächer: zwar am
Kreuz in der äußerlichen Not des Leidens blieb er, aber sie
hörte auf, Verdammnis zu sein, denn das verdorbene, ver
lorene Leben deö Schächers hatte ein Ziel erhalten, das Leiden einen Sinn, er blickte nicht mehr schaudernd ins Nichts, sondern vor seinen Augen lag in unendlicher Ausdehnung,
und doch greifbar nahe, das Paradies, das seine Heimat sein und bleiben sollte in alle Ewigkeit. Was brauchte er
jetzt noch darüber zu trauern, daß kein Mensch ihm helfen
konnte und wollte, sein Heiland half ihm ja. Was schadete
eS ihm, daß die Menschheit ihn aus ihrer Mitte gestoßen
hatte, Jesuö nahm ihn doch auf. Ja, was machte eö letzten Endes aus, daß ihn die Menschen als Verbrecher verachteten,
die Worte Jesu erhoben ihn weit, weit über alle die anderen, die über ihn den Kopf geschüttelt hatten, über alle die Ge rechten, die sich schaudernd von ihm abwandten. Die völlig
unverdiente, auch von ihm als reines Geschenk empfundene Gnade Jesu öffnete ihm die Tür inS Himmelreich, die
wohl für viele, vielleicht für alle ewig verschlossen bleiben
würde, die als Richter und Gerechte unter dem Kreuz standen. Fort war auch der Schrecken der Einsamkeit, der ihn
vorher in Todesangst geschüttelt hatte, er war ja nicht mehr
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade
allein, selbst nicht mehr allein in der einsamsten Stunde seines Lebens, wo seine Augen brechen und der unerbittliche Tod seine kalte Hand ihm aufs Herz legen würde. Jesus würde mit ihm
sein, Jesu warme liebevolle Hand würde seine erstarrenden
Finger fassen und ihn hineinführen über die dunkle Schwelle
des Todes, ins Paradies. Und nun braucht er auch nicht mehr
allein vor den Richter zu treten, vor dem selbst der Kühnste und Vorlauteste zitternd verstummt, vor Gott. Jesus wollte ihn hinführen zu Gott, dem Richter, und sagen: „sieh Vater,
hier bringe ich dir einen, den du mir gegeben hast, nimm ihn in Gnaden an um meinetwillen, denn ich starb und litt
für ihn." Und dann mußte ja alles, alles gut werden.
Kannst du das begreifen, lieber Mitchrist? Ahnst du nun, was Jesus dem verlorenen und verdammten Schächer am
Kreuz gab, als er ihm feierlich verhieß: „heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Geht nicht in dir eine Ahnung davon auf, was in dem Wort Gnade liegt? Vielleicht spürst du in
dir ein Sehnen nach dieser Gnade, die auch dein Leben ganz und gar umwandeln müßte, daß eS völlig anders würde
als bisher, anders in bezug auf Ziel und Zweck und Inhalt.
Wenn du dieses Sehnen hast, oh, dann gib den falschen Hochmut und die falsche Sicherheit endlich auf, wirf all die
irrtümlichen Hoffnungen beiseite, auch für dich ist die Gnade bereit, wenn du all deine vermeintliche Gerechtigkeit und
dein eingebildetes Recht aufgibst und durch die Last deines
verdorbenen Lebens und zerschlagenen Glückes innerlich ge brochen endlich bitten wolltest: „Herr, gedenke mein, wenn
du in dein Reich kommst, Herr, sei mir Sünder gnädig!"
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade Nur in den Schwachen ist der Herr mächtig, nur in denen wird Gott alles in allem sein können, die sich an seiner Gnade
allein genügen lassen, an der Gnade, die vom Kreuz Christi zu uns herniederströmt! Es ist mir jedesmal, wenn ich von dieser Gnade sprechen
muß, als versagte mir die Sprache, als fehlten mir die Worte, um das auözusprechen, was in meinem Herzen lebt. Heiliges Land, auf dem man steht und wo man spürt: wehe, ich habe
unreine Lippen. Aber Worte wollen wir ja auch nicht darüber
machen, sondern still aufschauen auf ihn, der, um uns diese
Gnade zu schenken und das größte Wunder zu vollbringen, das es gibt, schmutzige Sünder zu heiligen Kindern Gottes zu machen, am Kreuz die ganze Pein des Todes erlitt. Wenn
wir stille halten und uns in daS, was wir sehen, vertiefen, dann tut sich auch uns eine Welt auf, so ganz anders wie
unsere gewohnte, und wir blicken in die schier unfaßbaren
Zusammenhänge der Gnade, die über Kreuz und Schmach
hinaus ins Reich Gottes führen. Auch uns! Und wir fühlen eS, daß nicht nur unser Leben, sondern vor allem unser Sterben anders werden muß, wenn wir diesen Weg der Gnade suchen, daß dann auch wir nicht einsam und von
allen verlassen über die schaurige Schwelle des Jenseits
gehen müssen, sondem daß dann er bei uns ist, Jesus,
unser Heiland, und wir geborgen in seiner Liebe, umgeben von seiner milden Barmherzigkeit, eingehen werden ins
Reich des Vaters. Das ist Gnade, deren wir teilhaftig werden sollen. Das läßt sich nicht mit dem Verstand ergrübeln und erforschen.
Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade das läßt sich nur erleben in seiner für unsere menschlichen Begriffe vollständigen Unfaßbarkeit. Der russische Dichter Dostojewsky, einer der Begnadeten, die mit Seheraugen die Tiefe göttlicher Gnade geahnt haben, läßt einen nach
Vergebung lechzenden Sünder folgendes sprechen: „Mitleid
aber wird der mit unö haben, der mit allen Mitleid hat und der alles und alle verstanden hat; er, der einzige, der ist auch dein Richter. Er wird an jenem Tage zu uns sprechen: kommt auch ihr — wird er sagen —, kommt ihr Trunkenbolde, kommt
ihr Schwächlinge, kommt ihr Sünder! Und wir alle werden
hervortreten, ohne unö zu schämen, und werden vor ihm
stehen — Und die Weisen und Klugen werden auSrufen: Herr! warum nimmst du sie auf? Und er wird sagen: ich nehme sie auf, ihr Klugen, ich nehme sie auf, ihr Weisen,
weil sich kein einziger für dessen würdig hielt — Und wird seine Hände auöstrecken, und wir werden niedersinken — und werden weinen — und alles verstehen! Dann werden
wir alles verstehen — Herr, dein Reich komme!"
Die Weisen und Klugen und Gerechten werden sich viel leicht abwenden von dieser Gnade, aber wir, die wir unö als
Sünder fühlen, als Unwürdige, die wir an uns und unserer
Güte und Kraft irre geworden sind, wir wollen hintreten
unter das Kreuz Jesu, das Zeichen und die Bestätigung der Gnade, und es gläubig anschauen und an unö erleben, bis
auch wir davor niedersinken und verstehend die Hände aus strecken und flehen: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst, zu uns komme, Herr, dein Reich, Reich der Gnade."
Amen.
das
Die Bedeutung des Ostersieges
Luk. 24, i—9. Aber am ersten Tage der Woche sehr früh kamen sie zum Grabe und trugen die Spezerei, die sie bereitet hatten, und etliche mit ihnen. Sie fanden aber den Stein abgewälzt von dem Grabe und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesu nicht. Und da sie darum bekümmert waren, siehe, da traten zu ihnen zwei Männer mit glänzenden Kleidern. Und sie erschraken und schlugen ihre Angesichter nieder zur Erde. Da sprachen die zu ihnen: Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier; er ist auf erstanden. Gedenket daran, wie er euch sagte, da er noch in Galiläa war und sprach: Des Menschen Sohn muß überantwortet werden in die Hände der Sünder und gekreuzigt werden und am dritten Tage auferstehen. Und sie gedachten an seine Worte. Und sie gingen wieder vom Grabe und verkündigten das alles den Elfen und den andern allen.
Es hat in meinem Leben Zeiten gegeben, wo ich mit der Auferstehung
Jesu
nichts
Rechtes
anzufangen
wußte.
Nicht, daß ich sie in Unglauben geleugnet hätte, aber ich sah in ihr etwas, was ich gar nicht für mein Glaubensleben
nötig hatte. Daß Jesus auch nach dem Tode weiter existieren müßte, war mir persönlich ebenso sicher und klar, wie das Fortleben der Seele nach dem Tode, woran ich glaubte.
Die Bedeutung des OstersiegeS Aber dann kamen in meinem Leben Zeiten, wo mir Jesu Auf erstehung ganz groß und wichtig wurde, zu einem Grundpfeiler
meines Glaubens, — das waren die Zeiten, wo alle Hoff
nungen auf Recht und Gerechtigkeit, auf den Triumph der guten Sache und den Sieg der Wahrheit schwanden, wo ein
geradezu undurchdringliches Dunkel über meiner Zukunft
lag, wo alle menschliche Hilfe versagte. Damals lernte ich begreifen, daß es nur eine Glaubensgewähr für den Sieg
des Guten, nur eine Hoffnung darauf, daß das Recht stärker ist wie die Ungerechtigkeit, gibt, und daß nur eine Tatsache
unö trotz des Siegesfestes des Todes an die triumphierende Kraft des Lebens glauben läßt, — die Auferstehung Jesu von den Toten. Damals in den dunkelsten Stunden meines
Lebens lernte ich Ostern dankbaren Herzens feiern und lernte mitjubeln: „Leben und Sieg ist da, singet Hallelujah!"
Sollten nicht die Erlebnisse der letzten Jahrzehnte so man
chen in unserm deutschen Volk gelehrt haben sich an Ostern zu freuen? Sollten nicht auch wir, denen einst der Sieg des
Guten selbstverständliche Naturordnung zu sein schien, jetzt, wo wir die furchtbare Übermacht des Bösen kennengelernt haben, uns freuen an Jesu Ostersieg über alle Mächte der Finsternis? Wirklich Feste feiern können wir nur dann, wenn das Fest einem inneren Bedürfnis entgegenkommt, wenn die rechte Stimmung da ist, sich zu freuen. Die rechte Stimmung
zur Osterfreude ist nur da, wo man mitten im Dunkel drin gesteckt hat, ohne einen Ausweg zu finden. Sollte nicht jetzt
unser Volk für die rechte Osterstimmung vorbereitet sein, weil die Dunkelheit so groß ist, die unö umgibt?
Die Bedeutung des OstersiegeS
Wir wollen heute betrachten: i. wie unerträglich das Leben ohne Ostern sein kann, 2. daß Ostern ein
SiegeSfest ist und 3. daß dieses Fest uns allen eine Aufgabe stellt. —
Wie unerträglich das Leben ohne Ostern sein kann, da von gibt unser heutiger Text uns ein anschauliches Bild.
Die Frauen, die am Ostermorgen auf die Wanderschaft ge gangen sind, haben kein anderes Ziel mehr, als das Grab.
Wie fest hatten sie auf Jesus vertraut, wie war er der In
halt ihres Lebens, Denkens und Fühlens geworden, der
eigentliche Sinn ihres Daseins, und nun, wo er tot war, da konnten sie nur noch an sein Grab pilgem, um dort zu
trauern. Wie manches Menschen Leben gleicht diesem Pilgem
der Frauen zum Grabe. Da sind aste die Unzähligen, die glauben, das Dasein des Menschen sei mit dem Tode
zu
Ende. Für sie alle ist das ganze Leben nur eine Wandemng zum Grabe, eine Wanderung, die ja gewiß zeitweilig durch blühende Gärten und weite, blumige Wiesen führen kann, aber die doch schließlich vor der Trostlosigkeit des Nichts
endet. Man kann natürlich diesen traurigen Ausgang der Wanderschaft für längere oder kürzere Zeit vergessen, man kann natürlich Ablenkungen suchen und finden, und das tun auch die meisten Menschen im ausgiebigsten Maße! Aber wenn man
sich einmal dessen bewußt geworden ist, daß der Weg unaufhalt sam dem Grabe entgegenführt, daß eS ja bei dieser Weltan
schauung kein anderes Ziel als den Tod gibt, dann kann man
sich nicht mehr an den schönen Blumen freuen, dann hört man nicht mehr die Vögel jubeln und jauchzen, dann scheint die
Die Bedeutung des OstersiegeS Sonne uns nicht mehr Freude ins Herz, dann können alle diese Dinge das Dunkel des Grabes nicht verscheuchen, das mit unabwendbar surchtbarer Sicherheit uns einmal doch um
fangen muß. Wer sich einmal der Trostlosigkeit des Lebens
ohne die Auferstehungshoffnung bewußt geworden, über dessen Leben lastet eine schwere, schwarze Wolke, die keinen Lichtstrahl mehr durchläßt.
Aber dieser Gang dem Grabe entgegen, mitten im blühen den Frühling, war nicht das einzige, was die Frauen traurig
machte. Es war die Begegnung mit dem Rätselhaften im Leben, die ihnen alle Freude raubte. Da hatten sie am Kar
freitagabend Jesu Leichnam inS Grab gelegt, und mit dem schweren Stein die Tür verschlossen, und nun kamen sie nach
der Sabbatruhe des sonnabends hin und fanden das Grab
leer. Daß das Rätselhafte dieses Vorganges sie tief beun ruhigen mußte, daß sie keinerlei Aufklärung für das Ge
heimnis finden konnten, liegt ja auf der Hand, denn ohne Jesu Auferstehung wäre eS ein ewiges Geheimnis geblieben, das
all ihr Scharfsinn nicht zu enträtseln vermocht hätte.
Wie oft begegnen wir nicht solchen Rätseln, die für unser Verstehen völlig unzugänglich sind. Da hören wir klagen:
warum mußte mein junger, starker, gesunder Mann, der Ernährer und Erzieher einer großen Familie durch einen sinnlosen Zufall ums Leben kommen, und im Nachbarhause
lebt eine alte Frau, die leidet unsägliche Schmerzen, kann nicht leben und nicht sterben, ist sich und anderen eine Plage
und sehnt sich nach Erlösung und stirbt doch nicht? Oder da hören wir eine andere Klage: mir geschieht himmelschreiendes, .80
Die Bedeutung des Ostersieg es unerhörtes Unrecht, ich kann mich wenden wohin ich will, niemand kümmert sich um mich, und denen, die mir Unrecht
tun, geht es gut, ihnen glückt alles; mit dem Gelde, um das sie mich gebracht haben, verschaffen sie sich neue Reichtümer. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Oder eine dn'tte Klage: ich
mag anfangen was ich will, mich über meine Kräfte mühen und schaffen, aber ich komme nicht vorwärts, immer wieder
kommen unverschuldete Rückschläge und Unglücksfälle, und meinem Kollegen, der sich nie anstrengt, der die Arbeit an sich herantreten läßt, der viel weniger kann als ich, dem geht es glänzend. Kennst du nicht ähnliche Rätsel? Hast du nicht auch schon darunter geseufzt? Gewiß lösen sich manche Rätsel
von selbst auf, und manche Geheimnisse werden klar und durchsichtig, so daß wir schon hier im Leben auf unsere
Frage warum eine unzweideutige Antwort erhalten. Aber
wir wollen uns daS eine auch ganz klar machen, daß unend
lich vieles unbegreiflich, ein unlösbares Rätsel bleibt; daß hier im Leben lange nicht immer der ersehnte Ausgleich er folgt, sondern daß unendlich oft die Menschen wegsterben, ohne die Strafe für ihre Übergriffe erlitten zu haben; das
neben den unter ihrer Schuld Leidenden auch viele sind, die unverschuldet ins Unglück geraten, und daß wirklich mit
irdischem Maße gemessen so mancher frühe Tod und langes Dahinsiechen sinnlos sind und bleiben. Das ist ein für unser
Verstehen undurchdringliches Dunkel, und wer einmal von diesem Dunkel umfangen worden ist, der sehnt sich mit der
ganzen Kraft seiner Seele daraus weg, ins Licht hinein.
Die Bedeutung des OstersiegeS Und noch eines erfahren wir über die Frauen am Ostermorgen, sie stehen am leeren Grabe, sie sind in der unmittelbaren
Nähe des Auferstandenen und sind dabei doch bekümmert.
Die Sorgenlast drückt sie nieder, sie können nicht die Sonne sehen, die scheint, weil ihre Blicke nur zur Erde und zum
Erdenstaub gerichtet sind. Kennst du nicht auch diese Last der Erdensorgen, die uns einfach zu zerbrechen droht, so daß wir nichts anderes denken können, als diese Sorgen, und es nicht
merken, daß die Sorgen schon lange zerstreut und gegen standslos geworden sind. Aber wir merken es nicht, weil
wir nicht mehr die Kraft haben unsere Blicke aufzurichten und das zu sehen, was die Sonne verscheucht — den Sieg des Lichtes über alle Finsternis! Denn das ist es, was Ostern
denen verkündet, die aus ihrer Dunkelheit heraus mit sehn süchtigen Blicken dem Licht entgegengeschaut haben, denen,
die sich nicht abfinden konnten und wollten mit den Unge rechtigkeiten und Rätseln des Lebens: „Jesus ist Sieger und mit ihm und durch ihn sind Tod, Sünde und Sorge über wunden."
Welch ungeheure Bedeutung in der Botschaft dieses Sieges
liegt, können wir uns kaum mehr ganz klar machen, weil wir uns so sehr an diese Worte gewöhnt haben, daß wir sie
gedankenlos
hinnehmen als
etwas
Selbstverständliches.
Aber dieser Glaube an Jesu Sieg, der Glaube an den Sieg
des Lebens und des Guten und des Rechts war es, der einst unsere Vorfahren, die Germanen, für das Christentum ge wann. Denn in der Religion der Germanen war dieser
Glaube keineswegs vorhanden, im Gegenteil standen sie
Die Bedeutung des OstersiegeS alle unter der niederdrückenden Überzeugung, daß niemand
seinem finsteren, dunklen Geschick entgehen könne, daß man
trotz aller Tapferkeit und allen Mutes doch schließlich unter liegen müsse, so wie die Nibelungen, trotz des Mutes des finsteren Hagen doch schließlich alle an König Etzels Hof
umkamen. Ja sogar die Götter, die etwas Licht in diese Finster nis hereinbrachten, entgehen ihrem Geschick nicht, nach ver zweifelter Gegenwehr kommen sie alle um im Kampf mit
den Unholden und Riesen, und finstere Dunkelheit und Bos heit herrschen über die verödete Erde. So sah die Vorstellungs welt der Germanen aus, denen nichts übrig blieb als mit Mut und männlich aufrechter Entschlossenheit den Tod zu
ertragen, weil kein Lichtstrahl in ihr Dunkel fiel. Mußte es nicht wie eine Erlösung für sie klingen: das „Leben und Sieg ist da, singet Hallelujah!" Mußte eS nicht ihrer ganzen
Gedankenwelt eine neue Richtung geben, wenn es nun durch Christus, durch Ostern heißen konnte: „Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten, siehe er ist auferstanden, er ist
wahrhaftig auferstanden." Also nicht der Tod hat daS letzte Wort, nicht das dunkle, finstre Grauen bleibt der Herrscher, er ist nicht mehr das unabwendbare, grausame Geschick, dem niemand entgehen kann, sondern das Leben ist, trotz allem,
was wir sehen und erleben, stärker wie der Tod. Das Gute besiegt schließlich daS Böse, Sorge und Sünde sind nicht
allmächtig, denn Jesus zertritt die Feinde des Menschenge
schlechtes mit sieghaftem Tritt, die Ostersonne überstrahlt leuchtend und für alle Ewigkeit die Finsternis
des Kar
freitags. 6*
83
Die Bedeutung des OstersiegeS Könnt ihr eS jetzt ermessen, wie anstelle des UrgrauenS, des Zitterns und abergläubischen Fürchtens vor schrecklichen
Mächten der Finstemis nun Osterjubel einziehen mußte in die Herzen, wie nun in deutschen Landen die Herzen vor
Freude übergingen und der Sang ertönte: „Christ ist er standen von der Marter alle, des sollen wir alle froh sein,
Christ will unser Trost sein! Hallelujah!" O! solch ein Osterjubel soll auch heute bei dir herrschen!
Vielleicht kommst du vom frischen Grabe hierher — Christ ist erstanden, waS sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?
Deine bitteren Tränen sollen versiegen, daS Leben siegt, es
darf nur noch ein Trennungöschmerz übrig bleiben, wie ihn eine Mutter fühlt, die ihre Tochter von sich ziehen lassen
muß in ihr neues Heim, in dem die Tochter an der Seite des geliebten Mannes ihr Glück findet. Da kann wohl Sehnsucht
im Herzen der Mutter sein, aber nie verzweifeltes Weinen und Klagen. So sollt auch ihr nicht klagen, sondern auch nur euch heißer sehnen fernen: „O! wann werde ich dahin kommen,
daß ich dort mit all den Frommen, seh' dein holdes An
gesicht."
Und ihr, die ihr mit den Rätseln des Lebens nicht fertig werden könnt, auch euch gibt Ostern den Schlüssel zu den
Geheimnissen in die Hand. Wenn auch hier auf Erden kein Ausgleich geschaffen wird, wenn es heutigen Tages Men
schen ähnlich gehen sollte wie Jesuö, der trotz seiner Unschuld nicht gerechtfertigt wurde, der sterben mußte, trotzdem Tau
sende ihn brauchten; so öffnet Ostern den dunklen Vorhang
und läßt unS einen Blick tun in das Jenseits, wo Gott ab-
Dir Bedeutung des OstersiegeS wischen wird alle Tränen aus ihren Augen, und wo die Leid tragenden getröstet und die Kreuzträger erhöht werden, wo ein jeglicher seinen Lohn erhalten wird, wie er gehandelt
hat zu Lebenszeiten, eS sei gut oder böse. Weil Luther Ostern erlebt hatte, konnte er sein trotziges Lied singen: „Und wenn
die Welt voll Teufel wär" ... und weil Paulus an die
Auferstehung glaubte, stimmte er seinen Siegesgesang an: „Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg, Gott sei
Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn
Jesum Christum." — Fühlst du es jetzt, daß zu Ostern alle Glocken klingen und singen sollten in der Welt, als wärö
ein Siegeöfest! Es ist ein Sieg, wie er größer nie erfochten ist, — Jesus siegt, denn er ist auferstanden! —
Aber aus diesem Siegesfest erwächst eine Aufgabe für uns alle, die wir diesen Sieg kennen und in unserm Herzen
den Siegesgesang mitsingen. Die Frauen am Grabe hatten
diese Aufgabe sofort erfaßt, denn es heißt von ihnen: „Und
sie gingen wieder vom Grabe und verkündigten das alles den Elfen und den andern allen." — Ja! kann es denn noch etwas Größeres und Schöneres geben, als den Bedrückten,
den Traurigen und den im Dunkel dahinschleichenden Men
schen zuzurufen: „Christus ist auferstanden, fort mit euem Sorgen und mit eurer Todesangst, fort mit eurer tiefen Mut
losigkeit, die euch alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft nimmt. DaS Gute und das Leben siegen doch!"
Heute, wo unser deutsches Volk nur Dunkelheit sieht, wo jeder Lichtschein, der sich irgendwie zeigt, sofort von feind
lichen Händen zugedeckt wird, heute braucht es wieder mehr
Die Bedeutung des OstersiegeS denn je Ostersonne für Herzen und Häuser. Tragt ihr sie ihnen inS Leben, die ihr hergekommen seid Ostern zu feiern!
Niemand ist dazu zu schwach oder zu wenig vorgebildet. Einst waren es schlichte Frauen, die Gott zu Osteraposteln aus
gewählt hatte, sollten Frauen heute nicht mehr dazu taugen?
Nein! niemand soll und darf sich ausschließen, jeder soll es durch sein Leben bezeugen, daß das Leben und das Gute
stärker sind, als Tod und Sünde. Jeder soll es den Ver
zagten und Enttäuschten sagen, daß trotz alles Dunkels es
doch Tag wird, weil Jesus im Regiment sitzt und seine Sie gesfahnen noch heute wehen, allen zur Freude, die an ihn glauben! Amen.
Der neue Geist Apostelgesch. 2, 12—18. Sie entsetzten sich aber alle und wurden irre und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Die andern aber hatten's ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins. Da trat Petrus auf mit den Elfen, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ähr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr zu Je rusalem wohnet, das sei euch kundgetan, und lasset meine Worte zu euren Ohren eingehen. Denn diese sind nicht trunken, wie ihr wähnet — sintemal es ist die dritte Stunde am Tage —; sondern das Lst's, was durch den Propheten Joel zuvor gesagt ist: „Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weis sagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Ältesten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in denselben Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.
Unser heutiges Textwort ist der Erzählung von der Aus
gießung des heiligen Geistes auf die Jünger entnommen.
Jesus hatte ihnen in seinen Abschiedsreden, wie wir sie am
ausführlichsten im Johannes-Evangelium lesen, den heil. Geist, den Parakleten, verheißen, ein Wort, das Luther mit „Tröster" übersetzt, daö wir vielleicht besser mit „Sach-
Der neue Geist Walter, Fürsprecher" wiedergeben sollten. Dieser Paraklet sollte an den verwaisten Jüngern die Stelle Jesu überneh
men, sollte sie in alle Wahrheit führen, und sollte ihnen Stütze und Halt sein. Auf diesen Freund und Beistand war teten die Jünger, indem sie jeden Tag im Tempel im Gebet
zusammen waren und sein Kommen erflehten. Und da zu Pfingsten geschah das Wunder, das plötzlich das ganze Haus, darin die Jünger waren, erfüllt wurde von etwas Unsichtbarem, Unfaßbarem, das wie ein gewal
tiges Brausen, wie ein mächtiger Wind vom Himmel kam, und dann, fast möchte man meinen, sichtbar wurde: „Man
sah an ihnen die Zungen zerteilt,als wären sie Feuer." Also,
irgendeine nie dagewesene Erscheinung trat ein, für deren Beschreibung
der
Verfasser
der
Apostelgeschichte Lukaö
mühsam nach Worten ringt, weil er daö Neue nicht auszu drücken imstande ist. Und dann geschah etwas, was sich in
klaren, greifbaren Tatsachen zeigt und in genauen Worten ausgesprochen werden kann — die Jünger predigen, predigen
in merkwürdiger Sprache, aber doch so gewaltig, daß 3000
sich an einem Tage taufen lassm, daß 3000 die gewaltige Kraft des neuen Geistes an sich verspüren. An ihrer ganzen
bisherigen Weltanschauung und Lebensrichtung werden sie irre; die Macht des Geistes zwingt sie, ein neues, ungewisses Leben zu beginnen, weil sie sich durch diese Macht überwun
den fühlen. Was war nun das, was in Wirklichkeit zu Pfingsten ge
schah? Darüber wollen wir heute nachdenken, indem wir hören.
Der neue Geist wie i. die
Unbeteiligten,
Andersdenkenden
das
Geschehnis beurteilen; waö 2. in den Jüngern vor sich ging und was 3. daö Ereignis bewirkte. Zur Beurteilung deö PfingstereigniffeS ist eS an sich nicht gleichgültig, was unbeteiligte Zuschauer sür einen Eindruck
davon gehabt haben. Aber was werden wir von einem Ur teil über ein Ereignis mit so weltbewegenden Folgen zu halten haben, wenn es lautet: „Sie sind voll süßen Weines." Gewiß werden sie den äußeren Eindruck, den das Verhalten
der Jünger gemacht hat, einigermaßen richtig wiedergegeben haben. Aber es ist doch nur eine ganz äußerliche Ähnlichkeit
gewesen, die vielleicht im Durcheinandersprechen und in der
deutlich zutage tretenden Begeisterung sich zeigte. ES ist ein Urteil, daS für die Charakterisierung deS Verhaltens der Jünger wenig Wert hat, wohl aber bezeichnend für die Men
schen selbst ist, die dieses Urteil fällen. Sie haben für daö, waS da wirklich vorgegangen ist, gar kein Organ, sie begreifen
eS überhaupt nicht, daß da vor ihren Augen etwas absolut
nicht Alltägliches geschehen ist, und statt still abzuwarten, was auS dem sonderbar Wunderbaren sich entwickeln würde
sind sie gleich fertig mit ihrem oberflächlichen, herrlich un
komplizierten Urteil: „sie sind voll süßen WeineS." Man möchte fast meinen, daß die, die so urteilten, heute leben. ES ist dieselbe Weisheit, die der Unglaube noch heute
gleich zur Hand hat, auf die er nicht wenig stolz ist, weil
alles dadurch so furchtbar einfach und unverwickelt wird; man braucht sich bei diesem Urteil garnicht aufzuregen und
sich gar keine Gedanken über Neues, noch nicht Gesehenes 89
Der neue Geist zu machen. Mit einem Schlagwort tut man das Unverständ
liche ab und kann dann ruhig weiter in der gewohnten Ge
dankenlosigkeit und in der gewohnten Selbstüberhebung, die alles zu wissen und zu durchschauen meint, verharren.
Kennen wir nicht alle diese hausbackene, philisterhafte, nüchterne Weisheit, die sich mit einigen gedankenlosen Wor
ten über Dinge hinwegsetzt, über die die Klügsten sich die
Köpfe zerbrochen haben, um dann bei dem demütigen: „Ich weiß, daß ich nichts weiß" anzulangen? Diese stumpfe, satte
Selbstüberhebung ist noch heutigen Tages der Tod jedes geistigen und geistlichen Lebens. Man ist immer fertig und
bereit mit seinem Urteil, weil alles im Leben für diese Art Leute nur eine Oberfläche, aber keine Tiefe hat. Da heißt es: „Die Welt ist durch Zufall entstanden", oder gar: „Der
Mensch stammt vom Affen ab" oder: „Alles ist Entwicke lung." Oder man meint hochmütig: „Es gibt keinen Gott,
weil ich ihn nicht gesehen habe" oder: „Ich glaube nur das, was ich begreifen kann, alles andere ist Unsinn und Ein
bildung." Oder sie verstecken sich hinter die Wissenschaft oder vielmehr daS, was sie Wissenschaft nennen und wo runter sie etwas verstehen, was sie völlig verflacht, um alle
Tiefen und offen gebliebenen Fragen gebracht haben, und
der sie nur das entnahmen, was ihnen paßte.
Wir werden uns über diese Urteile nicht wundern können, denn die sie fällen, sind Menschen aus einer — man möchte
fast sagen — anderen Welt. Wenn man mit ihnen spricht, dann kommt eS uns vor, als redeten sie eine andere Sprache
wie wir, weil sie alles geistliche einfach nicht fassen und be-
Der neue Geist greifen können. Sie kennen auch kein still bescheidenes Ab
warten : Ich kann es zwar eben noch nicht erfassen und mit machen, aber ich werde weiter prüfen und forschen und nach
denken, ob ich vielleicht der Sache seinen tieferen Sinn ab gewinne, die sie für unzählige andere emste Gottsucher ge
habt hat, und durch den sie selig und glücklich geworden sind. Sie kennen deshalb auch nicht die Freude des Findens, wenn das Dunkel sich allmählich lichtet und man in weiter
Ferne die ersehnte Wahrheit zu ahnen beginnt. Wem diese Demut und dieses bescheidene Abwarten ganz
abgeht, der wird nie etwas vom Wehen des heiligen Geistes
erfahren, über den können neue, welterschüttemde Bewe gungen dahinbrausen, ohne daß er jemals etwas davon
ahnt. Und trifft ihn einmal doch ein leiser Hauch deö Neuen, dann hüllt er sich schnell in seine hausbackene Selbstüber hebung und hat eine banale, flache Erklärung zur Hand,
und das Neue, wirklich Lebendige ist für ihn abgetan.
Hier ist der entscheidende Punkt: In der inneren Bereit
schaft sich einem neuen Geist zu erschließen liegt die Ent scheidung über die Zukunft. Wer diesen Geist ablehnt, für den gibt eö nur ein Stehenbleiben, daS zu einem allmäh lichen VerknöcherungS- und Absterbeprozeß wird. Wer sich
dem Geiste Gottes öffnet, für den gibt eS ein BorwärtS-
fchreiten von einem inneren reichen Erleben zum anderen, ein freies Wachstum,
einem wunderbar hohen Ziel ent
gegen. — Aber sind das nicht zu hochtönende Versprechungen? Ist
eS Tatsache, daß wir solch einen unendlich großen, herr-
9i
Der neue Geist lichen Fortschritt erleben sollen, wo doch im heutigen Text
nur von einem Geist gesprochen ist, der die Gabe des Weis sagens verleihen soll: „Auf meine Knechte und auf meine
Mägde will ich in denselbigen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen." Äst denn daS Weis
sagen wirklich ein ernstzunehmendes Gut, ist nicht viel Einbildung und Spielerei dabei, wenn jemand sich anmaßt,
unö die Zukunft vorauSzusagen oder sonst allerhand Weis
sagungen auszusprechen? Ja wenn daS Wort hier im landläufigen Sinne gebraucht
wäre, dann hätte die Gabe, die der Geist Gottes den Men
schen vermittelt, nicht viel Wert. Aber der jetzige Sprach gebrauch ist ein Mißbrauch eines Wortes, das ursprünglich und überall in der Bibel eine ganz andere, ernstere Bedeu
tung hatte. ES bedeutet, daß jemand innerlich so ganz eins geworden ist mit Gott, daß er nicht bloß im Auftrage Gottes, sondern auch ganz im Sinne Gottes reden kann; daß sich vor seinen Glaubenöaugen, den Augen seiner Seele, die großen Zusammenhänge der Dinge, die Gott allein ordnet,
ahnend enthüllen, daß er von Gott selbst die Weisheit er hält, den tieferen und den meisten ewig verborgenen Sinn der Dinge zu schauen und anderen zu verkündigen. Wer
diese Gabe erhalten hat, der bildet sich nicht mehr ein, über alles selbst urteilen zu dürfen und mit Geheimnissen und
Tiefen spielend fertigzuwerden, der wartet geduldig ab,
bis Gott ihn das schauen läßt, was ihm vorher verschlossen und daher unverständlich war, bis Gott den Schleier des
Geheimnisses lüftet und ihn in das verborgene Land seiner
Der neue Geist Hoffnung und Sehnsucht blicken läßt. Wer den Geist der
Weissagung erhalten hat, der bleibt mit seinem Leben und Erleben nicht an der Oberfläche, sondern spricht gehorsam aufhorchend: „Rede Herr, dein Knecht hört." Der weiß,
daß, soviel der Himmel höher ist als die Erde, Gottes Ge danken höher sind wie unsere Gedanken, und der lernt auch hinter scheinbaren Härten in der Lebensführung und in „un
gerechten" Schicksalsschlägen die
liebevolle Hand Gotteö
erkennen. Aber der Geist der Weissagung öffnet auch die Augen
für die erschütternden Tatsachen, daß die Sünde mit Not wendigkeit Verderben nach sich zieht, daß jede Schuld sich auf Erden rächt, daß jede Sünde, auch die am häufigsten
unbeachtet begangene Sünde der Selbstsucht, Unrecht ist und irgendwie Schaden anrichtet. Er erkennt den TodeSkeim in
einem vielleicht blühmden, mächtigen, lebenstrotzenden Volk, weil er die Schoßsünde deö Volkes durchschaut und erhebt
im Namen Gotteö seine warnende Stimme: „Irret euch
nicht, Gott läßt sich nicht spotten, waö der Mensch säet,daö
wird er ernten." Das ist die Gabe, die der heilige Geist den Menschen ver
mittelt, mit GotteS Augen sich selbst und die Welt zu schauen; eine Gabe, die durch ihre schonungslose Selbstkritik uns
furchtbar unbequem sein kann, die aber keinerlei Selbst überhebung aufkommen läßt, weil der, der sie besitzt, weiß,
daß er selbst nichts ist und nichts bedeutet, weil Gott alles ist und auö Gottes Hand alle Erkenntnis und alles innere
Wachstum und alle Erfolge kommen. Aber weil eben die.
Der neue Geist die die Gabe des heiligen Geistes von Gott haben, selbst mit all ihrer Stümperei und ihrem Versagen und all den mensch
lichen Mißgriffen zurücktreten wollen, deshalb kann Gott
durch sie so Großes wirken, wie er einst durch die Jünger tat. Diese schwachen, ängstlichen, wenig gebildeten Fischer
und Handwerker setzten eine Welt in Bewegung, stürzten
Reiche und schufen einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte, weil Gottes Kraft in ihnen mächtig war und sie diese Kraft
nicht durch eigenen Vorwitz hinderten, sondern nur seine Werkzeuge und Gefäße sein wollten.
Liebe Mitchristen! DaS ist es auch, was wir heutigen TageS vor allem brauchen, solch eine Umwälzung von innen heraus;
nicht eine Umwälzung, wo der Geist des Hasses, der Hab sucht und des Eigennutzes triumphiert, — dadurch wird nicht das Geringste wirklich gebessert — sondem wo Gottes Geist
zur Herrschaft kommt, und wir alle uns wieder von diesem
Geist führen und leiten und einigen lassen. Solch eine wunderbare Wendung kann nur geschehen, wenn Gott wieder
ein Pfingsten über die Erde gehen läßt, wenn er wieder
seinen Geist in die Herzen der Menschen ausgießt, nicht hie und da bloß dem einen oder anderen, — obwohl auch das
schon viel bedeuten würde — sondern wenn er seinen hei ligen Geist in seine Gemeinde, seine Kirche auf Erden gibt. Wir Menschen, auch die geistbegnadetsten Gottesmänner,
dringen nicht durch bei der Masse, die für das Geistige und
Geistliche kein Organ hat, denn alles prallt an ihrer stump fen, satten Selbstzufriedenheit ab. Der Geist der Weissagung
im biblischen Sinne muß einziehen in ihre Herzen und ihnen
Der neue Geist Augen und Ohren öffnen, daß sie die großen Wunder Gottes wiedererkennen und sich Gott zu ihrem König erwählen,
der der verdurstenden Menschheit Ströme lebendigen Wassers geben kann, daß sie wieder neu und jung werde.
Und das ist das schönste an Pfingsten, daß Gott spricht: „Ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch."
Auf daß sie alle eins werden, ein Geist, eine Taufe, ein Gott
und Vater, ein Glaube, eine Kirche. Liebe Freunde! Ist das
nicht wundervoll, was uns hier in Aussicht gestellt wird?
Eine Einigung in einem Geist! Nicht mehr diese furchtbaren Trennungen, die durch die ganze Menschheit gehen und auch
unser Volk zerreißen, nicht mehr Volk wider Volk, arm wider reich, vornehm gegen gering, Mann wider Weib, Par
tei wider Pattei, Konkurrent gegen Konkurrenten,
jung
gegen alt, sondern eins. Gott will etwas geben, was alle
diese Gegensätze, alle diese unglückseligen, klaffenden Ab
gründe überbrückt; Bruder soll sich zu Bruder, Schwester zu Schwester finden — eine Kirche. —
Können wir etwas dazu tun? oder müssen wir müßig, die Hände im Schoß, zusehen, bis Gott seinen Geist strömen läßt? Hat eö am Ende keinen Sinn, zu schaffen und zu werben, solange uns Gott seinen Geist vorenthält? Ist eö nicht Ver
messenheit, wenn wir Gott vorgreifen wollen, bevor er die Pforten des Himmels geöffnet hat, um seinen Geist aus
zugießen auf alles Fleisch? Nein, nimmermehr sollen wir Fatalisten werden, die faul und stumpf warten, bis das
Wunder geschieht. Wir wissen, daß das Wunder von Gott
und von ihm allein kommt und kommen muß, aber wir
Der neue Geist können das Gefäß bauen, um die Ströme des Geistes auf zunehmen, wir müssen schaffen und arbeiten, um in schwerer,
ermüdender, scheinbar aussichtsloser Kleinarbeit den Boden
vorzubereiten. Keine Arbeit ist dabei zu klein, zu unwichtig oder unbedeutend, alle Hände sollen sich regen, daß das Wunder endlich geschehen kann. Die Gebetshände sollen
sich zum Himmel emporstrecken im Flehen: „Komm, heiliger Geist", in der Fürbitte: „Dein Reich komme, erbarme dich unserer Gemeinde, unseres Volkes,
der armen kranken
Menschheit, schick deinen Geist!" Wir sollen durch Wort
und Vorbild schaffen, daß die Menschen wieder einträchtig beisammen sind im Gotteshaus, wie die Jünger einst zu
Pfingsten, daß sie sich wieder unter das Wort stellen, wieder
auf Gottes Stimme lauschen lernen. Wir wissen zwar, daß
wohl durch einzelne Gottbegnadete
Gott
seine
Arbeit
tut, daß aber nur die große Kirche, die Gemeinde Gottes,
der Ort ist, wo Gott zum Herm der Welt wird, zum Herr scher, dem kein Herrscher gleichet, daß sie die Stätte ist, in die er einziehen, in der er sein Szepter schwingen wird. Sie
gilt es zu bauen, in ihr und für sie zu wirken, damit es neu
und herrlich werden kann in der Welt; daß sein Wille ge schehe auf Erden, wie im Himmel, und eine Herde unter
einem Hirten werde. Pfingsten — keine Pfingstgebräuche und schönen kirch lichen Sitten zeichnen dieses Fest aus. Und die allzu Weisen
sind mit ihrem Urteil schnell bereit, sie schütteln die Köpfe und zucken die Achseln über die, die auf die Gabe des hei
ligen Geistes warten. 96
Der neue Geist Wir wollen unö durch das nicht irremachen lassen, son
dern unS sehnen und beten um ein Pfingsten, um das Wun der, daß Gottes Geist in uns, in der Kirche und in der ganzen
Welt zur Herrschaft kommt!
Ja, komm du Geist der Wahrheit und kehre bei unS ein!
Komm, Herr Gott, heiliger Geist! Amen.
7
Bruhns:
Sonntagspredigten.
97
Der neue Alltag Apostelgesch. 2, 42—47. Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. ES kam auch allen Seelen Furcht an, und geschahen viel Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig waren geworden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Ähre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war. Und sie waren täglich und stets beieinander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in Häusern, nahmen die Speise und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber tat hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeinde.
Am vorigen Sonntag haben wir Trinitatis, das letzte Fest des Kirchenjahres, gefeiert, wo noch einmal, wie in leisen Akkorden,
die Töne zusammenklangen, die einst zu Weihnachten, zu Ostern
und Pfingsten an unser Ohr drangen. Heute ist der erste Sonntag der festlosen Zeit. Wir haben wohl noch den fernen
Klang der Feiertagsglocken in den Ohren; es zittert noch
etwas nach von der Freude ,
die in den Festtagen uns
gegeben wurde, aber wir stehen doch wieder mit unserem ganzen Sein mitten im Alltag. Und nun soll es sich erweisen.
Der neue Alltag ob wir wirklich Feste zu feiern verstehen, d. h. ob etwas von der Freude,
die uns in den großen Festen der Christen
heit gegeben wurde, nun noch weiter in unseren Herzen bleibt, ob diese Freude imstande ist, unseren Alltag zu
veredeln und und seiner
ihm
mit seinen Sorgen und seiner Not
Enttäuschung
ihren Stempel aufzudrücken.
Denn unser Alltagsleben ist die Probe
aufs
Exempel
und der Beweis dafür, daß das, was uns in den Festtagen gegeben wurde, nämlich daß die großen Taten Gottes,
wirklich einen tiefen Einfluß auf unser Leben haben. Denn eS ist eine unleugbare Tatsache, daß die Außenstehenden
nicht durch unsere Feiertage überzeugt und nicht dadurch gewonnen werden, wie wir uns in unseren FesttagSgewän-
dern im Gotteshaus zeigen, sondem dadurch, wie sie uns im Alltag sehen. Denn nicht wahr. Feste zu feiern verstehen
sie auch, vielleicht imponierender und lauter als wir, aber das, waS als stilles Sehnen, auö unausgesprochenem Leid
in ihren Herzen klingt, das ist die Überwindung deö Alltags.
Denn — wir wollen es uns ganz klar machen —, daß der Alltag ungeheuer schwer auf der Menschheit lastet, daß wir
alle uns heraussehnen aus dieser Tretmühle des täglichen Einerleies, aus all dem Leid der sozialen Verhältnissen und des Wirtschaftslebens, und daß viele doch keinen rechten
Ausweg sehen. Aber wir wissen es, daß unser Gott und der
Glaube an ihn, uns diesen AuSweg gibt. Und so wollen wir unS denn von dem heutigen Sonntag, der an der Schwelle der festlosen Jett steht, ein Programm geben lassen, wie
wir das Leid und die Last deö Alltags durch Gott überwin7'
99
Der neue Alltag den sollen. Wir wollen uns aus unserem Text sagen lassen erstens: was der eigentliche Grund für die Last des Alltags
ist, zweitens: uns ein Heilmittel zeigen lassen, und drittens
betrachten, wie durch dieses Heilmittel das Leben zu einem anderen wird.
Was ist der letzte Grund dafür, daß das Zusammenleben der Menschen ein so schweres ist?
Wir hören unendlich viele Gründe; jeder weiß etwas zu sagen, waS sein Leben bedrückt. Wir können es in unzähligen Zeitungsartikeln lesen. Da heißt es: Soziale Ungerechtig
keit, Änflationseleyd, Aufwertungöverbrechen, oder wie alle
die vielen Dinge heißen, die unS als Gründe für das Elend der Menschheit immer wieder vorgetragen werden. Gewiß,
wir wollen eS nicht übersehen: in diesen Gründen liegt viel
Recht und wir wollen nicht meinen, daß das alles nicht wie eine schwere Last auf die Menschen drückt, aber wir wollen unS
auch klar machen, daß alle diese Gründe oder Veranlassun gen zum Leid doch eine große Wurzel haben und daß wir
nur dann wirklich etwas bessern können, wenn wir die Wur zel finden und sie bekämpfen. Diese Wurzel alles Übels im
Zusammenleben der Menschen ist und
bleibt
doch
vor
allem die Selbstsucht der Menschen, der rücksichtslose Egois
mus. Man hat die Selbstsucht verschleiern wollen, indem man ihr ein schönes Mäntelchen umhing, und in gefälligeren
Worten auödrückte, daß sie nicht so häßlich aussehe. Da spricht man von dem notwendigen Kampf umS Dasein oder von dem Platz an der Sonne, den man sich erobern müsse, oder von der freien Bahn dem Tüchtigen, und vergißt bei allen
ioo
Der neue Alltag
diesen entschuldigenden Worten doch eins: daß die Selbstsucht, die bloß ihr eigenes Glück baut, die rücksichtslos die Ellbogen
braucht, um vorwärtszukommen, ihr Glück stets auf Kosten
anderer findet; daß der Weg zum Aufstieg und zum Glück der Egoisten immer über die Tränen und das Leid und das
Glück anderer geht. Wie ein dunkles, schwarzes Verhängnis
liegt über der Menschheit die Selbstsucht. Wie wenig wirk
liches Zusammenarbeiten finden wir, wie wenig wirkliches Hand in Hand gehen, einem Ziel entgegen. Wir finden
unter den Menschen meist ein Gegeneinanderarbeiten, ja viele empfinden eö geradezu als das Normale, daß jeder in seinem Nachbar einen Konkurrenten erblickt, gegen den
er mit aller Macht kämpfen muß, ja daß man in seinem
Nächsten fast einen Feind sieht. Dadurch wird das Zusammen leben der Menschen so unerträglich schwer. Denn es gibt
auf dieser Grundlage kein gegenseitiges Verständnis, sötte
dem nur noch völliges Mißverstehen, man mißtraut sei
nem Nachbar, man kann das nicht verstehen waS er will, ja man will ihn auch gar nicht verstehen. So durchzieht unsere Häuser und unser Geschäftsleben und unser ganzes Volk ein trostloser Kampf aller gegen alle, weil man keinen ge
meinsamen Boden und kein gemeinsames Ziel mehr hat. Jeder
hat seinen eigenen kleinen Götzen, das eigene „Ich", daö er anbetet und weil jeder nur sein eigenes Ziel vor Augen, sein eigenes Ich lieb hat, dem er Genuß verschaffen will,
darum gibt eS bestenfalls ein Nebeneinandergehen, das aber durch jeden kleinen Anstoß zu einem Gegmeinandergehen
wird. Das ist etwas, was durch die ganze Menschheit geht. IOI
Der neue Alltag dieses Elend der Selbstsucht, welches unser Glück zerstört und das kaum eine gemeinsame Freude mehr aufkommen läßt. Denn eö ist doch leider wahr geworden, daß im Ge
schäftöleben des einen Leid oft deö andern Freude ist und
deö einen Glück des andern Tränen.
Auf diese Art und
Weise wird das Leben zu einer Hölle.
Aus dieser Selbstsucht entsteht mit Notwendigkeit noch
etwas anderes. Wmn man tagaus, tagein in die Häuser der Menschen kommt und von ihren kleinen oder großen Sorgen und von den tiefen Schatten hört, die über ihrem
Leben liegen, sieht man, welch eine Hochflut von Zank und
Streit, von Mißverständnissen und Gekränktheit durch die
Herzen und das Leben der Menschen zieht. Und wenn man dann
den letzten Grund dieses Zankes und Streites sucht, sind eS meist nur Kleinigkeiten. Alles und jedes wird zum Anlaß
genommen, sich mit seinem Nächsten zu entzweien und die Wege auseinandergehen zu fassen. Und obwohl es meist nur Nichtigkeiten sind, findet man doch nicht die Kraft, auö diesen
Kleinigkeiten herauSzukommen. Keiner ist klug und stark
genug, um hinzugehen und dem anderen die Hand hinzu strecken und zu sagen: Laß die Kleinigkeiten begraben sein! Die Selbstsucht hat die Menschen so klein gemacht, und daher
finden sie keinen Ausweg. Daö sind die beiden Dinge, die das Leben des Alltags oft zu einem so trostlosen machen,
und die gemeinsame Wurzel des Übels ist die Selbstsucht. Eö gibt keinen anderen Weg, um die Leiden deö AlltagS-
auö der Welt zu schaffen als den, das Übel an der Wurzel anzupacken. Wir können nicht daran glaubm, daß eö mög-
Der neue Alltag lich wäre, durch soziale Reformen oder durch eine blutige
Revolution oder durch eine neue Regierungsform eine wirk liche Besserung herbeizuführen. Gewiß, wir Christen wer den uns dem nie verschließen, wenn eS gilt, Tränen zu trock
nen und gegen Unrecht zu kämpfen, mit den Waffen die uns
Gott für den Kampf gegeben hat. Aber eine wirkliche Radikalkur ist nur dann möglich, wenn wir das Übel an
der Wurzel anfassen. Und da gibt eS nur ein Heilmittel,
das wirklich hilft: Neue Menschen. Ja, ist das denn ein Heilmittel? Heißt eö nicht mit
anderen Worten: Es ist unmöglich, etwas zu ändern? Heißt das nicht: Irgendeiner Utopie nachjagen? Kann denn ein
Mensch den andem neu machen?
Oder können wir uns
selbst neu machen? Nein, bei Menschen ist daö unmöglich,
aber wir kennen einen, der gesagt hat: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er nicht in das
Reich Gottes kommen" und „Siehe, ich mache alles neu!" Dieser eine ist Jesus. Wir blieben ewig stecken im Fluch der
Selbstsucht, wenn nicht in der heiligen Schrift die herrlichen
Worte stünden von einem neuen Geist, von einem neuen Herzen, daö Jesus geben will; und daß diesen Worten und Versprechungen wirkliche Tatsachen entsprechen, beweist die
kurze Schilderung des Lebens der ersten Christen. In schlichten, packenden Worten zeichnet unser Text das
Leben der ersten Gemeinde, die aus dem Geist Jesu gefroren
war und die ganz und gar auf einem Boden lebte, den Jesus vorbereitet hatte. „Sie waren alle beieinander und hielten
alle Dinge gemein, ihre Güter und Habe verkauften sie und
Der neue Alllag teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war." Es klingt fast wie ein Märchen, daß so etwas möglich ist. Und
doch ist gerade in diesem einen, waS uns berichtet wird, ein Beweis dafür, daß unser Heiland uns nicht bloß schöne
Sonntagsgefühle geben will, sondern daß es sein Wille war, den Alltag umzugestalten. Die schlichte Erzählung unseres Textes hat von jeher eine ungeheure Anziehungskraft aus
geübt. Selbst die Feinde Jesu wie Karl Marx haben auf das
Leben der ersten Christen als auf einen Jdealzustand hinge wiesen : wenn damals Kommunismus geherrscht habe, warum
sollte er sich jetzt nicht verwirklichen lassen, so dozierten sie.
Nur eins übersahen sie dabei, daß es vor allen Dingen darauf ankommt, die Wurzel des Übels auszureißen, wenn man
wirklich die Verhältnisse bestem will, während durch äußere
Zwangsmaßnahmen, die sie anwenden wollten, nur die
Nutznießer der Privilegien andere würden und das alte Elend wieder in einem anderen Gewände erscheinen mußte.
WaS daS Leben dieser ersten Gemeinde so wunderbar an ziehend gestaltet, liegt auf rein geistlichem Gebiet: Gemein
schaft mit Gott durch Jesus und Gemeinschaft untereinander,
das ist das einzige Heilmittel. ES ist also eine ganz neue Welt, die unsere Textworte schildern: „Sie blieben beständig in der
Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen
und im Gebet." Die erste Voraussetzung für diesen neuen
Alltag ist, daß wir uns in die Apostellehre vertiefen. Da steht im Mittelpunkt dieser Lehre unzweifelhaft die Person
Jesu. Wer sich von ihm leiten läßt und durch den Glauben mit ihm in Lebensgemeinschaft tritt, der wird zu einem neuen
Der neue Alltag Leben gedrängt. Wieviel hat uns das eine Wort, das über Weihnachten steht, zu sagen:
„Also hat Gott die Welt
geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab."
Müssen
wir uns durch dieses Wort nicht tief beschämt daß wir immer
noch
nach
unseren
kleinen
fühlen,
Vorteilen
gieren; öffnet dieses Wort nicht unsere Hände, daß wir
anderen helfen müssen, wenn wir unS
vor
die Liebe
Gottes gestellt sehen, der seinen einzigen Sohn für unS
fortgab? Und weiter das
stellt uns der Apostel Lehre vor
Kreuz, an dem in erschütternder Weise daS Wort
verwirklicht wird: „Wie er geliebt hat die Seinen, hat er sie geliebt bis ans Ende." Können wir wirklich noch nach tragend sein, wenn wir ihn sprechen hören: „Vater, vergib ihnen"? Oder können wir unsere Unfreundlichkeit oder Ge reiztheit entschuldigen mit Nervosität oder gedrückter Stim
mung, wenn wir auö seinem todesmatten, gequälten Munde die Worte der Liebe hören: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein?" Und können wir engherzig auf unser Recht
pochen und um jeden Preis uns selbst durchzusetzen suchen im Angesicht des Kreuzes mit seiner stummen erschüttern den Frage: „DaS tat ich für dich, was tust du für mich?"
Wahrlich, als Mensch gewordenes Opfer der Liebe steht
Jesus vor unS. Muß nicht der, der ihn täglich sucht, sich seines Egoismus' schämen und seine Selbstsucht bekämpfen? Hast du daS nicht auch schon in deinem Leben erfahren, lieber
Mitchrist, daß der Glaube an JesuS dich zwingt, hinzugehen
und desgleichen zu tun wie er?
Aber am unmittelbarsten predigt den neuen Geist doch 105
Der neue Alltag das
heilige
Abendmahl,
über
dem
daö
Wort
Jesu
schwebt: „So oft ihr von diesem Brot esset und von
diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herm Tod verkündigen"
und über dem der abschiednehmende Heiland die Worte
sprach: „Daö ist mein Leib, das ist mein Blut, für euch ge geben zur Vergebung der Sünden." Ich glaube, wir haben
es schon alle erfahren in stillen Feierstunden unserer Abend
mahlsgänge, daß unsere Selbstsucht uns in dieser Stunde der Gemeinschaft mit Jesus in ihrer ganzen Unwürdigkeit
und Verwerflichkeit erschien, daß wir daö Bedürfnis spür ten hinzugehen und uns mit unseren Widersachern zu ver
söhnen, daß wir uns vomahmen, einem Menschen, den wir
gekränkt hatten, nun doppelt Liebe und Freundlichkeit zu
erweisen. Solltest du daö noch nie gespürt haben, lieber Freund? Dann fürchte ich, daß dein Abendmahlsgang nur eine äußere Form war, bei der deine Seele kalt blieb. Aber
jedenfalls war er nicht das, waö er einst für die Urchristen heit war — eine Kommunion, ein Gemeinschaftömahl —,
bei dem alles Trennende abfiel und in nichts zusammen schrumpfte, weil sie sich alle in Dankbarkeit beugten vor
der
unendlichen Liebe
Jesu Christi:
„Für euch gegeben
zur Vergebung der Sünden."
Und noch eins nennt der heutige Teft, was den neuen Geist in der Gemeinde zur Herrschaft führte: „Sie blieben
beständig im Gebet." Nicht im Gebet des Pharisäers: — Ich danke dir Gott, daß ich besser bin wie die anderen —
sondern im Gebet des Zöllners: Herr, sei mir Sünder gnä
dig. Wenn unser Gebet ein wirklich emsteS Ringen und
106
Der neue Alllag Kämpfen mit Gott ist — und das sollte jedes Gebet sein — wenn wir auf den Knien liegen vor ihm und mit ihm um den Frieden unserer Seele ringen, dann ist es doch undenk
bar, daß wir gleich darauf hingehen und unseren Bruder
anfahren: „Bezahle mir alles, was du mir schuldig bist." Und wer im Ernst sein Vaterunser betet, der kann die Hand des Bruders nicht wegstoßen, die sich Vergebung heischend ihm entgegenstreckt, denn in seinen Ohren klingt das Wort nach: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben...
Das ist der Weg der Gemeinschaft wo viele eins werden
durch einen Geist, wo viele einen Weg gemeinsam gehen, einer dem andern helfend und stützend und Hilfe empfangend.
Ständig bleiben in der Apostel Lehre, im Brotbrechen und
im Gebet. So kommt der neue Geist, der neue Menschen schafft, so entsteht ein Alltag, der wie ein Festtag wirkt, so
werden Häuser gebaut, von denen man mit Freude sagen
kann: Siehe, eine Hütte Gotteö bei den Menschen! Wollen wir nicht auch mitschaffen und mit Hand anlegen, daß es
nicht bloß hie und da eine solche Hütte Gotteö in der Christen heit gebe, sondern daß aus diesen Hütten eine Stadt Gottes
werde? Fangen wir doch dort an, wo eö am nächsten liegt, in unserem eigenen Hause, bei unserer Familie. Wollen wir doch anfangen das, was Egoismus zerstörte, durch den neuen Geist, den Gott in unser Herz legt, wieder herrlich
aufzubauen. DaS soll eS sein, was von den Festen, die hinter unö liegen und von derem hellen, göttlichen Schein noch ein Glanz in
unseren Herzen geblieben ist, in unseren Alltag strömt und
Der neue Alltag ihn neu und licht und warm gestaltet. Dann wird auch über
unserem Alltag immer wieder das Wort stehen: „Sie lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber tat hinzu täglich, die
da selig wurden zu der Gemeinde." O, daß doch dieses Wort wieder bei uns wahr würde,und unser Alltag für JesuS und das, waö er uns bietet, werben könnte!
Amen.
Der Segen des Leidens (Gustav - Adolf - Festpredigt.)
Epheser z, 13. Darum bitte ich, daß ihr nicht müde werbet um meiner Trübsale willen, die ich für euch leide, welche euch eine Ehre sind.
Das Kapitel, dem unser Textwort entnommen ist, be ginnt mit den Worten: „Ich, Paulus, der Gefangme Christi
Jesu." Dicke, undurchbrechbare Mauern trennen ihn also von seinen Freunden, unter ständiger, mißtrauischer Be
wachung seiner Feinde befindet er sich, statt mit Dransetzung aller Kräfte an der großen Sache des Himmelreiches ar
beiten zu können, fitzt er scheinbar brachgelegt in der Trost
losigkeit seiner Einsamkeit. Es scheint ein rätselhaftes Ge heimnis Gotteö zu sein, daß dieser Mann, statt am Missions
werk mitzuarbeiten, untätig sein muß. Erinnert nicht in vielem die Diaspora an den gefangenen Paulus: Dicke Mauem von Friedensverträgen, die für die
Ewigkeit geschaffen sein wollen, trennen vielfach unsere
Glaubenöbrüder von uns, ihren Freunden. Hilflos sind sie
der Gewalt der Feinde preiögegeben, in ihren natürlichsten
Der Segen des Leidens und berechtigsten Lebensäußerungen behindert durch rohe Gewalt. Wer in der auölandSdeutschen Diaspora gewirkt hat, der weiß, daß schmerzlicher als die täglichen Kämpfe und die tausend kleinen Leiden das Gefühl der Vereinsamung drückt, daß vielfach das Alleinstehen in scheinbar aussichts losem Kampf schwer auf der Arbeitsfreude lastet. Es ist
also ähnliches Leid, wie eS der gefangene Paulus durchkämpfen mußte; so können wir auch seine Worte: „darum bitte ich, daß ihr nicht müde werdet um meiner Trübsal willen, die
ich für euch leide", als Bitte der Diaspora annehmen, und betrachten, was sie unS zu sagen hat: 1. Die Trübsal der Diaspora ein Segen für unS;
2. sie bittet unS, nicht müde zu werden. Die Trübsal der Diaspora ein Segen für uns.
Diese Behauptung ist auf den ersten Blick nicht ganz ver
ständlich, da der Zusammenhang dabei zu fehlen scheint.
Wie kann das, was unbekannte Leute und seien es tausendmal Volks- und Glaubensgenossen, auszustehen und durchzu kämpfen haben, unS hier im Heimatlande von Nutzen oder
Segen sein? Aber beobachten wir eö nicht oft im Reiche GotteS, daß des einen Leiden andern zur Erlösung und zum
Segen werden? Denken wir doch an Jesu Wort: „Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, bleibt eö allein, wenn eö aber erstirbt, bringt eS viel Frucht."
Dieses Wort bezieht sich gewiß in erster Linie auf Jesu Er lösertod und sein stellvertretendes Leiden, aber eö ist damit auch ein Gesetz ausgedrückt, das im ganzen großen Haus
halte GotteS gilt. Schon die Naturwissenschaft weiß, daß HO
Der Segen des Leidens keinerlei Energie nutzlos verlorengeht und daß aus dem Tode und Verwelken des einen stets Leben und Kraft für
andere fließt. Aber auch aus Leiden und Opfer der Menschen
entsteht immer irgendwie Segen und neues Leben, wenn
wir das auch nicht gleich sehen; wo aber die Aussaat an Opfer und Leiden gespart wird, kann auch keine Ernte er
folgen. Und da heißt es nicht bloß, daß die, die mit Tränen säen, selbst einmal mit Freuden ernten werden, sondem eS
kann auch heißen, meine Trübsal leide ich für euch, das
heißt, die Leiden des einen werden einem ganz anderen zum Segen.
Für die Richtigkeit dieses Wortes
gibt es kaum einen
besseren Beweis, als den gefangenen Paulus. Während er in seiner Gefangenschaft gewiß manchesmal gemeint haben wird, zur Untätigkeit verbannt zu sein, ließ Gott ein Wunder
geschehen, von dessen Tragweite gewiß Paulus sich am we
nigsten eine klare Vorstellung gemacht haben wird. Die Briefe, die er aus seiner Gefangenschaft geschrieben hat, sind
für Millionen Menschen zu einem Hellen Licht in dunklen Stunden geworden, und gerade die Worte, von denen wir
spüren, daß sie unter Tränen und Kämpfen geschrieben worden sind, leuchten wie die köstlichsten Edelsteine weltüberwindenden Glaubensmuteö. Denn der erhöhte Heiland,
der bei ihm war, und als dessen Werkzeug er sich in seiner
Schwäche fühlte, ließ aus der Tränensaat immer wieder neues, köstliches Leben sprießen, denn im Reiche Gottes
wird keine Träne umsonst geweint und kein Gebet umsonst gesprochen und kein Kreuz zwecklos getragen.
ui
Der Segen des Leidens Wenn wir von hier aus das alles betrachten, was Gott an Leid und Verfolgung und Elend über unsere Brüder in der Zerstreuung hat gehen lassen, dann verstummt das unge
duldige Fragen und Hadem — warum müssen gerade wir
evangelischm Deutschen so viel leiden? dann erstirbt der Zweifel: gibt es dmn einen Gott, der Gebete erhört und
dem wir unsere Wege befehlen können, weil er alles wohl macht? dann schäum wir ahnend in Zusammenhänge, die aus dem Nebel auftauchen, und bemerken, wie hie und da die Tränensaat zu keimen beginnt und aus dem Tode des
einen Leben und sieghafte Kraft der andem entsteht. So
lernen wir unfern Gott wieder inniger anbeten und ehren, der allein das Wunder tun kann, Fluch zum Segen zu wm-
den und Tod in Leben. Vor einem Jahr verließ ein junger Pfarrer in Rußland
seine Familie, um ahnungsbangen Herzens nach Sibirien zu ziehen, dort die Evangelischen in ihrer Einsamkeit zu stär
ken. Auf einer seiner Reisen erschoß ihn hinterrücks ein est nischer Kommunist, weil, wie er sagte, durch die Predigt des
Pastors
seine
ganze
kommunistische Agitationsarbeit in
diesen Dörfem um ihre Früchte gebracht worden sei, und weil er kein anderes Mittel besaß, das Evangelium zu be
kämpfen, als den Revolver.
Als die Nachricht von dem
scheinbar sinnlosen Tode nach Petersburg zum Bischof kam,
glaubte dieser, daß jegliche Arbeit an dieser sibirischen Ge
meinde nun für lange unmöglich sein würde. Wer beschreibt sein Erstaunen, alö am nächsten Tage zwei Zöglinge des von ihm geleiteten Predigerseminarö zu ihm kamen, um ihn zu 112
Der Segen des Leibens bitten, gleich nach Beendigung ihres Studiums nach Si
birien geschickt zu werden, um in die Fußstapfen des ermor
deten Pfarrers zu treten. Noch heutigen Tages wird auf den Gräbern der Märtyrer die Kirche Gottes gebaut, und aus ihrer Blutaussaat erwächst eine herrliche Ernte an Liebe
und Gottverttauen. Aber noch in einem weitgehenderen Sinne sind die Trüb
sale und Kämpfe der Diaspora ein Segen: sie können uns, der Mutterkirche, manche Fingerzeige geben für die Lösung der Probleme, die uns beschäftigen. In unseren geordneten,
festgefügten Verhältnissen rächen sich Fehler, die begangen werden, oft erst nach Generationen, dort draußen in der
Kampfesfront der Diaspora, wo der Gegner jede Schwäche
sofort erspäht und Fehler sofort die ernstesten Folgen zei tigen, treiben die Probleme einer viel schnelleren Lösung zu als bei uns. Wer auf die Kämpfe draußen achtet, der spürt
etwas davon, daß sie auch um unseretwillen gekämpft wer den, daß sie uns viel angehen und uns den Weg weisen
wollen. Stellen uns nicht die Leiden unserer GlaubenSbrüder in Rußland in erschütternder Form die Gefahr vor Augen, die jetzt wieder vom Antichristentum der Sache unseres Hei
landes auch in unserer Heimat droht? predigt die furchtbare Verrohung und sittliche Verkommenheit der kommunistisch
erzogenen Jugend Rußlands uns nicht zäheren Widerstand gegen die Entchristlichung der Schule und ernsteren Kampf gegen den Geist, der auch bei uns die Massen ergreifen will?
Ist nicht in der Diaspora vielfach in Zeiten der Trübsal und Not die Kraft einer wirklichen Volkskirche herrlich in Er8 Bruhns: Sonntagspredlgten.
“3
Der Segen des Leidens scheinung getreten, nach der wir uns in der Heimat noch
vergeblich sehnen? Ich habe eö erlebt, daß in meiner ruß ländischen Stadtgemeinde, die über ein Jahr lang ohne Pfarrer gewesen war, kein einziger Gottesdienst ausgefallen
war, weil sonntäglich Kirchgemeindevertreter die Gottes
dienste hielten, abwechselnd in vier Sprachen. Und als in schwerer Sorgenzeit ihnen die gedruckten Predigten, die sie anfangs vorlasen, nicht recht zu passen schienen, da haben
sie zaghaften Herzens selbst Predigten geschrieben, die sie zur innerlichen Erbauung der Gemeinde hielten. Aber auch denen unter uns, die in schwerer, aufreibender,
scheinbar erfolgloser Arbeit stehen, kann ein Wort, daö aus
bedrohter Diaspora neulich zu uns herüberklang, unendlich
viel geben. Da wurde uns geschrieben: „Wir stehen auf einsamen, aussichtslosen Posten, wir haben die Hoffnung
auf eine bessere Zukunft endgültig begraben, wir sehen Ver fall und Zusammenbruch überall, den wir nicht ändern
können. Da gibt es nur eins — täglich treu seine Pflicht er füllen, und alles Übrige Gott zu überlassen, solange er uns noch brauchen kann." Ja, wo die Not groß und furchtbar
wird, da kann auch Gott besonders groß und herrlich werden, da kann endlich all das Trachten nach menschlichen Mitteln
und menschlicher Weisheit aufhören und eine Bitte daö
Herz erfüllen und eine Hoffnung Kraft geben, auch im furchtbarsten Sturm und Schiffbruch durchzuhalten: Herr, dein Reich komme!
Wer diese Ströme von Gottes Kraft nie gespürt hat, die aus der Trübsal dort draußen und ihrer Überwindung zu H4
Der Segen des Leidens UNS herüber branden, der kennt den Segen der Gustav AdolfArbeit noch nicht, der hat eö noch nicht gespürt, daß in ihr
Gott seine wunderlichen, wunderbaren Wege geht, die wir
nur ahnend durchschauen können: Deine Gedanken sind höher wie unsere Gedanken und deine Wege höher als unsere Wege. Herr, dein Name ist wunderbar.
Wahrlich die Diaspora draußen hat jedem von uns viel zu geben, wenn wir nur darauf achten wollten, was sie mit
kampfgewohntem, narbenbedecktem Arm und vielleicht auch manchmal mit tränendem Auge unö aus ihrer Vereinsamung
anbietet. Daher hat sie auch ein Recht, ihre bittende Stimme zu erheben „Darum bitte ich, daß ihr nicht müde
werdet." Müßte diese Mahnung nicht unaufhörlich zu uns dringen?
Droht nicht unserm Glaubensleben ein schier unentrinnbares Verhängnis durch daS Nachlassen der lebendigen Kräfte?
Ich glaube jeder, dem sein Glaube mehr war als Formsache, hat schon dieses Verhängnis gespürt, daß langsam, aber mit furchtbarer Zähigkeit der Alltag an seinem Glauben
nagte und die schönsten und zartesten Erlebnisse immermehr
zur Selbstverständlichkeit werden ließ. Muß nicht vielleicht Gott, um unS aus dem Fluch des Selbstverständlichen und der Erstarrung zu retten, unS ungewöhnliche Eindrücke
schicken, die das ganze feingefügte Gewebe des GewohnheitöchristentumS mit hartem Griff zerreißen und uns vor Tat sachen
stellen,
denen ein halberstorbener,
verknöcherter
Glaube nicht standhält. Dann verlangt er mit unabweis barem Emst, daß wir tiefer graben und erntn neuen leben-
8»
115
Der Segen des Leidens Ligen Grund legen müssen, wenn wir nicht mit leeren Hän
den der vollen Hilflosigkeit preisgegeben sein wollen. Daö
sind die Zeiten in unserm Leben, wo Gott und ein vernehm
liches „nicht müde werden" zuruft. ES ist selbstverständlich, daß auch der Gesamtkirche ähnliche
Zeiten des MüdewerdenS, deö Nachlasienö der lebendigen Kräfte drohen. DaS ist die große Gefahr, in die das kirch liche Leben immer wieder versinkt, dieses Absterben und diese Verknöcherung, wo die tote Form über den lebendigen Inhalt triumphiert. Gegen diesen Fluch deS GewohnheitS-
kirchentumS und Namenschristentums schickt Gott der Kirche immer wieder neue Aufgaben, die nur durch lebendigen
GlaubenSmut und
wirkliche
Bruderliebe gelöst
werden
können. So sind die christlichen Liebeswerke nicht nur eine bittere
Pflicht für die Kirche, sondern auch eine sprudelnde Quelle neuer frischer Lebenskräfte. Eine Kirche, die sich ausschließlich der Pflege der eigenen treuen Gemeindeglieder hingeben würde, muß bald einer trostlosen Engherzigkeit und Ver
knöcherung verfallen.
Mir möchte scheinen, als habe Gott gerade mit unserer Deutsch-Evangelischen Kirche noch Großes vor, da er ihr eine ganz besonders schwere und doch unabweisbare Arbeit ge
geben hat, wie die Pflege der evangelischen, deutschen Dia spora eö ist. Außer den Juden gibt eS kein anderes Volk
der Erde, das durch seine Geschichte und Entwicklung so über die ganze Erde zerstreut worden wäre, wie unser Volk, und daS so unsagbar schwere, alle Kräfte erfordernde Aufgaben
116
Der Segen des Leibens erhalten hat durch die Spaltung in zwei Konfessionen, die
durcheinandergewürfelt in unserm Vaterlande leben. Viel leicht neigt gerade unser Volk besonders zu beschaulicher
Ruhe, Engherzigkeit und Verknöcherung, daß Gott ihm durch
seine besonderen Verhältnisse täglich und stündlich zurufen
muß: „Werdet nicht müde, arbeitet und tut Gutes jedermann,
allermeist an des Glaubens Genossen." So ist die Gustav
Adolf-Arbeit eine unabweisbare Aufgabe Gottes, die die Gemeinde nicht müde werden läßt.
Ein unübersehbarer
Strom von Gottvettrauen und Liebe ist in den zahllosen Briefen enthalten, die im Zentralvorstand aus- und eingehen;
dmn in jedem dieser Briefe ist entweder eine verttauenSvolle Bitte aus großer Not heraus, oder eine Gabe aus Bruder
liebe, oder ein Dank für gewährte Liebe enthalten, die alle einer Quelle entströmen, der unendlichen Liebe unseres
Heilandes, der uns geliebt hat bis ans Ende. Und wenn wir uns klar machen, daß unsere Gustav Adolf-Arbeit Reichö-
gotteSarbeit ist, wie nur irgmdein anderes christliches Liebes werk und weiter nichts sein will und sein kann, dann ahnt
man etwas davon, welche Fülle lebendiger Kräfte in un serem Werke vertreten sind.
Jedesmal, wenn der Gustav Adolf-Verein an unsere Tür klopft, wenn wir von seiner Arbeit hören, ruft auS der Not
der Brüder Gottes Stimme uns zu: „Darum bitte ich, daß ihr nicht müde werdet." Ich war einmal zu einem Gustav Adolf-Fest in einem völlig unkirchlichen Dorfe unseres deut
schen Vaterlandes. Nach dem Vorttag, der nicht nur von erschütternder Not, sondem auch von erhebender Glaubens
uz
Der Segen des Leibens kraft gehandelt hatte, erhob sich der alte Ortöpfarrer zu
einem kurzen Schlußwort: „Jahrzehntelang habe ich hier gearbeitet, aber ein Zeichen wirklich lebendigen Glaubens oder echter Liebe habe ich noch nicht erlebt. Herr Gott! gib
mir doch einmal ein Zeichen, daß meine Arbeit nicht vergeblich gewesen ist." Mit diesen erschütternden Worten setzte er sich.
Die Kollekte, die darauf gesammelt wurde, ergab eine so unerwartet große Summe, daß ich den Pfarrer beim Ab schied fragen konnte: „Haben Sie nicht doch vielleicht heute
den ersehnten Beweis erhalten?", worauf er stumm mildem Kopf nickte. Und ist es nicht wirklich greifbar zu spüren, wie
dort inder kleinen toten Landgemeinde der Ruf Gottes durch die Trübsal der Diaspora gezündet hatte: ich bitte, daß ihr nicht müde werdet? wie sich ein lebendiger Segensstrom aus der
Feme der evangelichen Auslandskirche in die Herzen un serer Gemeindeglieder ergoß, zum Beweis, daß wir durch Christus verbunden sind zu einer Gemeinschaft der Gläubigen. Einst in schwerer Zeit hat das Volk von Schleswig-Hol
stein sich gestützt auf ein Königöwort: „Up ewig ungedeelt"; wir wissen, daß daS Wort gebrochen wurde. Aber wir wollen
uns in dunkler, deutsch-evangelischer Leidenözeit auf eine unerschütterliche Verheißung Gottes
stützen:
„Ein
Leib
und ein Geist, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller." Und wir können noch hinzufügen: eine gemeinsame Trübsal und ein gemeinsames Kreuz, das
wir tragen in der Nachfolge unseres Herm, des KreuzeSträgerS, der den Fluch des Kreuzes in Segen verwandelte
und zum Sieger wurde, damit auch wir siegen. Amen. n8
Was entscheidet über Sieg und Untergang? Apostelgesch. 5, 34—42, Da stand aber auf tm Rat ein Pharisäer mit Namen Gamaliel, ein Schriftgelehrter, in Ehren gehalten vor allem Volk, und hieß die Apostel ein wenig hinauStun und sprach zu ihnen: Ähr Männer von Israel, nehmet euer selbst wahr an diesen Menschen, was ihr tun sollt. Vor diesen Tagen stand auf TheudaS und gab vor, er wäre etwas, und hingen an ihm eine Zahl Männer, bei vierhundert; der ist erschlagen, und alle, die ihm zufielen, sind zerstreut und zunicht geworden. Darnach stand auf Judas aus Ga liläa in den Tagen der Schätzung und machte viel Volks abfällig ihm nach; und der ist auch umgekommen, und alle die ihm zufielen sind zerstreut. Und nun sage ich euch: Lasset ab von diesen Menschen und lasset sie fahren! Ist der Rat oder das Werk aus den Menschen, so wird'S untergehen; ist's aber aus Gott, so könnet ihr'S nicht dämp fen; auf daß ihr nicht erfunden werdet als die wider Gott streiten wollen. Da fielen sie ihm zu und riefen die Apostel, stäupten sie und geboten ihnen, sie sollten nicht reden in dem Namen Jesu, und ließen sie gehen. Sie gingen aber fröhlich von des Rats Angesicht, daß sie würdig gewesen waren, um seines Namens willen, Schmach zu leiden, und hörten nicht auf, alle Tage im Tempel hin und her in Häusern zu lehren und zu predigen das Evangelium von Jesu Christo.
Die Weltgeschichte ist daS Weltgerichte! Gegen dieses Wort haben wir Deutsche doch manche schwere Bedenken,
denn eS ist uns unerträglich zu denken, daß Gott durch den 119
Was entscheidet über Sieg und Untergang?
Auögang des Weltkrieges zum Ausdruck habe bringen wollen,
daß die Sache unserer Feinde gerechter ist als die unsere.
Und gewiß ist es ein Irrtum zu meinen, daß Gott durch
die Zuteilung des Sieges etwa ein Volk für besser erklärt als das andere. Aber richtig ist doch, daß, wenn ein Volk
untergeht oder besiegt wird, ein Gericht Gotteö über dieses Volk vorliegt, daß Gott dann sein Urteil: „Gewogen, ge-
wogen und zu leicht befunden" über das Volk auöspricht, und das Volk strafen oder bestem will. Aber ebenso wahr ist die Tatsache, daß die Gottesurteile oft von unsauberen
Händen vollstreckt werden, kennen wir doch in unserer Ge
schichte auch so manche „Gottesgeißeln", die keineswegs Gott näherstanden als ihre Opfer, und da sie schwere Schuld auf
sich luden, nur zu bald selbst unter Gottes Gericht kamen. Ein tief beherzigmswertes Wort über das Wirken Gotteö in der Geschichte spricht im heutigen Text veralte weise Schrift
gelehrte Gamaliel. Eine wichtige Sitzung des hohen Rates beschäftigt sich mit der Bewegung, die der Tod und die Auf
erstehung Jesu von Nazareth ausgelöst hat. Meinungen
schwirren hin und her, die einen wollen die Bewegung mit rücksichtsloser Strenge niederzwingen, die anderen sind für
Milde, da findet Gamaliel das rechte Wort. Er hat sein Leben mit offenen Augen gelebt und hat mehr als einmal
gesehen, daß geistige Bewegungen zuerst mit großer Kraft einsetzten, um dann bald in Schmach und Schande oder in
Aufruhr und Blutvergießen kläglich zu enden. Aus diesen
Erlebnissen hat er den Schluß gezogen, daß Gott im Re giment sitzt und die Zügel des Weltgeschehens in der Hand
Was entscheidet über Sieg und Untergang? hält. „Ist ein Rat oder ein Werk aus Menschen, so wird eö untergehen, ist es aber aus Gott, so
könnt ihr es nicht dämpfen", das sind die Worte der
abgeklärten Weisheit, die ihre Wahrheit aus der Verbindung mit Gott schöpfen. Ihnen wollen wir auch heute nachgehen.
Ist ein Rat oder ein Werk aus Menschen, so wird eS untergehen.
In unserer schnellebigen Zeit müßte dieses Wort etwas
Selbstverständliches
enthalten:
In
ständigem, nimmer
ruhenden Wechsel geht das Leben seinen Gang. Wie im Film Bild auf Bild an unö vorüberrollt, ohne Spuren auf der
Leinwand zu hinterlassen, die den Augenblick überdauern,
so rauschen die unzähligen Eindrücke an uns vorüber, meist ohne eine wirkliche Spur zu ziehen, wie Schatten an uns
vorübergleitend. Seit mehr als einem Jahrzehnt stehen wir
in solch einer Periode rasend schneller Vergänglichkeit: Reiche sind zusammengebrochen, in denen jahrhundertelang der
Schwerpunkt des Weltgeschehens lag, Vermögen sind aus
einer Hand in die andere geflossen, als wären sie Nebel
streifen, die vom Winde hierhin und dorthin geweht, aber
mit den stärksten Händen nicht gehalten werden können. Die Erde dreier Weltteile und ungezählter Reiche deckt die Söhne unseres Landes, die einst in kraftstrotzender Jugend
von uns zogen. Weltanschauungen, die allgemein anerkannt wurden, sind zusammengebrochen. Kunstrichtungen, Moden
und Geschmack, die einst ihre unerbittliche Herrschaft auSübten, sind heute abgetan, belächelt von den Kindern einer
neuen Zeit; zum alten Eisen geworfen, erscheinen sie uns
Was entscheidet über Sieg und Untergang?
heute als Verzerrung, Übertreibung und kindliche Stüm
perei. Alles Menschenwerk — deshalb vergänglich, deshalb
in sich selbst, in seinem Wesen den Untergang tragend. Und
mittendrin
in
diesem Wirbel des Vergänglichen
stehen wir, auch vergänglich, auch stetem Wechsel und steter
Veränderung unterworfen. Wer von uns hätte nicht schon mal über sein eigenes Jugendbildnis leise gelächelt, oder die
Achseln gezuckt über eine Meinung, die er einst vor Jahren geäußert, einen Brief, den er einst geschrieben hatte? Aber
doch wieder Kinder einer anderen Welt,
die des ewigen
Wechsels nicht froh werden können, denen die Vergäng
lichkeit Schmerz bereitet, behaftet mir dem Sehnen nach Vollkommenheit, mit der nimmerschweigenden Sehnsucht nach einer unvergänglichen Liebe und einem bleibmden Glück,
das alle Wechsel der Zeiten überdauert, ausgestattet mit dem
Streben, einen Standpunkt zu gewinnen, der den ruhenden, festen Punkt im ewigen Wechsel der Zeiten und Erscheinungen
darstellt. Vergänglichkeit und Ewigkeit sind die beiden Pole,
zwischen denen wir uns bewegen und
deren Widerstreit
unsere brennendsten Schmerzen und unsere heißesten Trä
nen hervorruft, wenn das,
was für ewig nach unserem
Wollen und Wünschen unser sein sollte, uns entrissen wird.
Es gäbe nichts Bleibendes und Beständiges, nichts, was unserem Sehnen nach Vollkommenheit entspräche, wenn
nicht durch Gottes Gnade „Ewigkeit in die Zeit" hinein ragen würde, wenn wir nicht auch trotz unserer Vergäng
lichkeit alö Kinder Gottes teilhaben könnten an der Ewig keit. Nur so weit wir Ewiges in irdische Verhältnisse durch
Was entscheidet über Sieg und Untergang?
unsere innere Verbundenheit mit Gott hineintragen, hat unser Glück und unsere Liebe Bestand. Nirgends sehen wir das klarer wie in der aus Lebenszeit abgeschlossenen Ehe.
Erklärt sich nicht die Unbeständigkeit so manchen Eheglückes daraus, daß es ganz und gar aus Menschlichem bestand, daß seine Grundlage bloß vergängliche Dinge waren —
Schönheit, Reichtum und sogenannte Liebe, die doch nur Egoismus war, weil sie bloß besitzen und nehmen, aber nicht
geben und opfern und aufgeben wollte? Kann denn auf Vergänglichem seinem Wesen nach Irdischem etwas anderes
aufgebaut werden, als bloß wieder Irdisch-Vergängliches? Können wir uns wirklich wundem, wenn eine solche Ehe,
die vielleicht anfangs eitel Seligkeit war,
später immer
schaler und leerer und sinnloser erscheint, weil alles, was zwei Menschen verband, allmählich zusammenbrach, da eö
nur zeitlich war? Hier bezeugt das Wort sein unerschütter liches Recht: Ist ein Werk oder Rat aus Menschen, so wird eö untergehen, ist es aber aus Gott, so bleibt eö bestehen.
Das ist eö, was meist unseren jungen und oft auch den alten Eheleuten fehlt; in ihrem Zusammenleben gibt es nichts Ewig-Göttliches, das haben sie von allem Anfang an als
etwas Wertloses und zum Zusammenleben Unnötiges bei
seitegelassen, und daher verfällt nun mit den irdischen Grund lagen auch ihr Glück selbst rettungslos der Vergänglichkeit.
Fast möchte man sagen, daß es allgemeine Anschauung
unserer Zeit ist, daß man GotteS Wort und Gebet im all täglichen Leben nicht braucht, daß diese Dinge bloß den äu
ßeren Schmuck eines großen Festtages, wie etwa der Trau-
Was entscheidet über Sieg und Untergang?
tag ist, abzugeben haben. Und doch gibt es nichts, was zwei Menschen enger verknüpfen kann, als der Glaube, einen ge meinsamen Weg
zur Ewigkeit,
Gott
entgegenzugehen,
auf dem einer dem anderen Helfer sein muß. Gibt es etwas anderes, was die kleinen Verärgerungen und unausbleib
lichen Mißverständnisse leichter aus dem Wege schaffen kann,
als wenn zwei als Bittende und Vergebung Suchende sich
gemeinsam vor einem Gotte beugen, in aufrichtigem Abend gebet: Vergib mir meine Schuld, wie ich vergebe meinen
Schuldigem? Da findet sich Herz zu Herzen in freundlichem
Vergeben, und aus kleinen Mißverständnissen kann nicht der
furchtbare Berg von Verärgerungen angehäuft werden, der zwei Menschen für ewig voneinander trennt. Aus der natürlichen Liebe, die zwei junge Menschen un
widerstehlich anzieht, kann eine bleibende Liebe, die nicht das
ihre sucht, die opferbereit und opferfreudig ist, doch nur dann entstehen, wenn sie aus der ewigen, unerschöpflichen Quelle der Liebe, aus Gott, Kraft und Reinheit empfangen, die ihr natürlich egoistisches Herz allmählich
ummacht,
daß es mit einer Liebe lieben kann, die nimmer aufhört.
Wie oft hören wir heutigen Tages Eltem über ihre Kinder klagen: da haben sie sich für ihre Kinder aufgeopfert, solange diese jung waren, und als sie selbständig wurden, da kümmer ten diese sich um ihre Eltem nicht mehr. Oder Eltern klagen
über die Ehrfurchtslosigkeit und Unbelehrbarkeit ihrer Kin der, die das Zusammenleben im Hause zu einer Hölle wer
den lassen. Sollte nicht auch der Grund hierfür darin liegen, daß das Göttlich-Ewige in der Erziehung und in dem Ver-
Was entscheidet über Sieg und Untergang? hältnis der Stiern zu ihren Kindern hinter dem rein Mensch lichen zurücktrat und daher das Verhältnis zwischen ihnen
dem Fluch der Vergänglichkeit anheimfiel? Wir haben alle mit tiefem Schmerz den Zusammenbruch
deö Widerstandswillens und des Patriotismus in unserem deutschen Volke erlebt. Liegt nicht vielleicht der tiefste Grund für diese traurige Erscheinung darin, daß man mehr auf
Haß und übertriebener Siegerstimmung den Patriotismus aufbauen wollte, als auf wirklicher Liebe zum Vaterlande, die im letzten Grunde nichts weiter ist als die christliche
Opferwilligkeit? Wir wollen uns doch mit Ernst prüfen, ob unser Leben
und unser Glück seine Kraft aus Gott schöpft oder bloß aus
Menschlich-Irdischem und mit allem Ernst damach streben,
unS die ewigen Quellen der Gotteskraft zu offnen, daß wir nicht daö Jusammenbrechen sehen, nach dessen Beständig
keit sich die besten Kräfte unserer Seele sehnen.
Denn was aus Gott ist, können Menschen nicht dämpfen.
Als Gamaliel damals diese Worte prägte, war er wohl
der festen Überzeugung, daß die Sache der Jünger Jesu nicht aus Gott sei und deshalb keinen Bestand haben würde.
Wir wissen, daß er sich geirrt hat. WaS ist nicht über das Christentum alles eingestürmt, mit welcher teuflischen Bos heit ist nicht gerade der Glaube an Christus verfolgt worden,
und mehr alö einmal haben die Gegner gejubelt: „jetzt haben
wir dem verhaßten Irrwahn den Todesstoß versetzt." Unzähligemale haben ihre Führer die Achseln mitleidig gezuckt: „mit
Was entscheidet über Sieg und Untergang?
dem Christentum ist es aus, es ist erledigt, kein gebildeter, ver nünftiger Mensch glaubt mehr daran." Und doch lebt der
Glaube noch heute, doch beweist er seine Lebenskraft täglich von
neuem, trotz allem und allem, er geht nicht unter und kein Mensch kann ihn dämpfen, weil er aus Gott ist. Diese Glau
benszuversicht, die sich auf tausendfältiger Erfahrung stützt, wollen wir uns tief ins Herz schreiben lassen: die Sache
unseres Heilandes kann nicht untergehen, weil sie aus Gott ist.
Es gibt nichts, was die Kampfesfteudigkeit und Sicher
heit mehr lähmt, als daö Bewußtsein, für eine verlorene
Sache zu kämpfen, oder auf verlorenem Posten zu stehen. Und wenn wir es erleben müssen, wie breit sich der Un glaube macht, wie siegesgewiß und sicher die auftreten, die
über unseren Glauben mit einem mitleidigen Lächeln hin weggehen zu dürfen meinen, wenn man die kleine Schar derer, die noch in der Kirche sich Kraft für ihr Leben geben
lassen, mit den Massen derer vergleicht, die sich um Gott kaum mehr kümmern, so könnte uns wohl ein Zweifel an
kommen, ob wir uns nicht an eine längst überwundene, längst veraltete Sache aus Erziehung und
klammern.
in
euer
Gewohnheit
O, daß ihr heute Mut mitnehmen könntet Alltagsleben,
auch
in
euer
vielleicht
stilles,
zähes Ringen um eine Menschenseele, oder gar in eure
schwierigen Versuche, euer Haus
und
Leben gegen die
herrschende Mode oder gegen den Willen der Verwandten
und Bekannten auf dem Grunde GotteS aufzubauen. Von den Jüngern hören wir, daß sie nach einer schweren körper lichen Züchtigung fröhlich von dem Angesicht des RateS-
WaS entscheidet über Sieg und Untergang? heimgegangen sind, denn für sie stand es felsenfest, daß
ihre Sache aus Gott sei und deshalb nie und nimmer von
Menschen zu Fall gebracht werden könnte. Auch wir müssen es glauben, daß die Sache unseres Gottes siegen wird auch
gegen den Willen der ganzen Welt. Aber wenn Bestand oder Untergang einer Lehre oder Re ligion davon abhängt, ob sie aus Gott oder Menschen sind, und wenn wir sagen müssen, daß eine geistliche Bewegung
um so schneller zugrunde gehen wird, je weniger sie aus der
Wahrheit Gottes ist, dann ergibt sich für jede Kirche die
Pflicht, immer wieder ihren Glauben zu prüfen, ob er wirk lich aus Gott seine ausschlaggebenden Kräfte zieht. Denn in jeder Kirchenlehre ist göttlicher Inhalt in menschliche Form gefaßt; wie nahe liegt da die Gefahr, daß die mensch
liche Form höher geschätzt und stärker gepflegt wird, wie der
göttliche Inhalt. In der katholischen Kirche zur Zeit Luthers
war das in so erschreckendem Maße der Fall, daß die gött liche Wahrheit von all dem Menschlichen schier erstickt wurde
und in mancher Sekte wird noch heutigen TageS das Gött liche ganz vom Irdischen verdunkelt. Auch unsere evange lische Kirche wird nur dann alle Stürme überdauem, wenn sie auf dem Grund der reinen Gotteswahrheit verbleibt
und sich von aller menschlichen Beimischung femhält. Aber noch stärker ist der einzelne Mensch dieser Gefahr
ausgesetzt, daß er die göttliche Wahrheit seines Glaubens durch menschliches Unkraut überwuchem läßt. Wir alle kennen doch unbequeme Forderungen Gottes, auf die unser
überhebliches,
selbstsüchtiges,
ttotzigeö
Herz
eigensinnig
WaS entscheidet über Sieg und Untergang? „Nein" antwortet. Wir alle kennen doch Dinge, die wir hin und her wenden und kehren, bis wir meinen, unsere sündlichen Begierden mit Gottes Wort irgendwie vereinigen zu
können. Oder ertappen wir uns nicht oft darauf, daß wir
Gott zu uns herabziehen, daß wir dem großen, allmächtigen Gott menschliche Schwächen und menschliche Gedanken an dichten, um ihn dadurch für unser Denken und Wünschen zurechtzustutzen? Ja, benutzen wir nicht geradezu Göttliches oft dazu, um unseren irdischen Schwächen und Fehlem ein
schönes Mäntelchen umzuhängen? Das heißt Menschliches über Göttliches stellen. Aber dann dürfen wir uns auch nicht wundem, wenn unser Glaube in entscheidender Stunde versagt,
da ja auch er dann auö Menschen stammt und nicht mehr aus Gott. Nur wenn Gott ganz groß und wahrund heilig in unserem
Leben steht und wir mit unseren Gedanken ganz klein vor ihm geworden sind, dann kann unseren Glauben niemand dämpfen,
weder Menschenfurcht, noch Not, noch Sorge,noch Tod, dann
haben wir den Grund gefunden, der unseren Anker ewig hält.
Ist eine Sache aus Gott, so können Menschen sie nicht dämpfen. Da liegt der Rettungsanker gegen alle Vergäng lichkeit, die uns so viel Leid und Enttäuschung bringt. Wenn
wir unser Glück auf Gott aufbauen, und unser Leben lang suchen und streben, dem Unvergänglichen immer größeren
Raum in unserem Leben und Denken zu verschaffen, dann mag die Vergänglichkeit ihren Weg gehen, wir haben das
gefunden, waö bleibt und standhält — das Beste unseres Lebens das aus Gott ist. DaS gebe unö allen Gott!
Amen.
Erntefestgedanken für moderne Menschen i. Korinth. 15, 10. Von Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.
Wie em schlichtes Naturkind vom Lande, das in die fremde,
andersartige Großstadt verschlagen worden ist, nimmt sich daS Erntefest unter all den Festen und Sonntagen aus, die wir feiern. Heute denken wir an die Arbeit, während wir
sonst doch Dinge behandeln, die scheinbar mit der Arbeit und dem Kampf umS Dasein wenig zu tun haben. Heute werden durch den reichen Blumenschmuck und all die Er
träge deS Gartens, die den Altar schmücken, unsere Gedanken
auf die Landarbeit gelenkt, und schon durch den Namen „Erntefest" tauchen Bilder vor unfern Augen auf, die sonst in der Kirche, vielleicht auch in unserm Leben fremd sind
und ferne liegen. Ein golden glänzendes Emtefeld, auf dem das reife Korn tief die Köpfe neigt unter dem Emtesegen.
Heiße Mitsommersonne liegt auf den Fluren und läßt den
roten Mohn doppelt hell aufleuchten unter all den gelben
Halmen. Schnitter schreiten durch das Korn, die Sense schwirrt, und schwankend neigen sich die Ähren. Ein hochbe ladener Erntewagen schwankt zum Hof, um seine reiche 9
Bruhns:
Gonntagspredigten.
129
Erntefestgebanken für moderne Menschen Last in die Scheunen abzuladen. Das sind Bilder, die bei
dem Namen „Erntefest" vor unsern Augen sich entrollen. Aber was haben sie mit unserm gehetzten, vielleicht Acht und sonnenlosen Großstadtleben zu tun? Soll hier in der
Kirche ein zarter Schleier der Poesie über unsere ganz anders
artige Arbeit gebreitet werden? Sollen wir über die herbe
Wirklichkeit und Erfolglosigkeit unserer Arbeit durch solches
Erzählm von der reichen Ernte anderer hinweggetäuscht werden, will man uns über die öde und Eintönigkeit unsers Alltags durch bunte lockende Bilder aus einer für uns ver
sunkenen Welt hinweghelfen? Nein, dazu ist weder die Kirche noch der Glaube da, um
einen schönen, trügerischen Schein und Glanz zu verbreiten, den der Alltag mit rauher Hand doch zerstören würde. Nein,
der Glaube an Gott, das Christentum will unfern Alltag
durchdringen mit göttlichen Gedanken und ewigem Inhalt. Dazu feiern wir Erntefest, um an diesem Tage unser Berufs
leben, unsere Arbeit von einer anderen Seite anzusehen wie alle Tage. Wir sollen uns heute unsere Arbeit veredeln lassen, wollen sie aus dem engen, trostlosen Zusammenhang
von bloßer Arbeitsleistung und entsprechendem Lohn heraus heben lassen und sie von einem höheren und deshalb wah
rerem, vollkommnerem Gesichtspunkt aus bewachten. Wer
so Erntefest feiert, der nimmt von dieser Feier einen Halt mit in seine Alltagsarbeit und hat dadurch einen Segen
für lange Zeit erhalten. Und so wollen wir heute von un serer Arbeit sprechen und bewachten:
i. „daß unsere Arbeit unser Beruf aus Gottes Gnaden ist".
Erntefestgedanken für moderne Menschen
2. „wie wir uns deshalb zu unserer Arbeit verhalten sollen."
Unsere Arbeit ist unser Berus von Gottes Gna den. Paulus schreibt im Korintherbrief: „Von Gottes Gnaden bin ich, was ich bin, und seine Gnade an mir ist nicht vergeb
lich gewesen, sondem ich habe viel mehr gearbeitet, als sie alle." Und was Paulus von seiner Arbeit als Missionar
und Prediger der Heiden sagt, das dürfen und müssen auch wir auf unsere Arbeit anwenden: „Von Gottes Gnaden
sind wir, waö wir sind." ES gibt wohl kaum einen tieferen Gegensatz als diese wun
derbarfreie, dankbare Auffassung von der Arbeit, wie Paulus
sie hat, und der, die gewissen Kreisen unseres Volkes von ihren Führern seit Jahrzehnten eingeredet wird. Solange
wird von den Schattenseiten der Arbeit geredet, bis sie nur noch als Last erscheint: „Arbeiten müssen wir, um Geld zu
verdienen, um essen und leben zu können, sonst geht uns die Arbeit nichts an." Das bedeutet doch, daß man geflissent
lich bestrebt ist, den Arbeitern die Liebe zur Arbeit zu nehmen, jedes innere Verhältnis zu dem, was der Arbeiter schafft,
ihm zu zerstören, jeden inneren Zusammenhang zwischen dem einzelnen Menschen und dem Werk, an dem er arbeitet, zu verhindern, und damit gerade das unserm Volke zu neh
men, was Luther und die lutherische Erziehung ihm als köstlichstes Gut in den Kampf ums Dasein, in seinen Alltag
mitgegeben hat. Denn während unsere Nachbarvölker
meist die Arbeit als Last, als Fluch betrachten, oder als das leider einzige, leidige Mittel sich einen bequemeren LebenS-
IZI
Erntefestgebanken für moderne Menschen abend zu schaffen; während man aus ihrem Munde gar
zu oft die Klage hört: unser Leben ist schwer, eine unerträg liche Last, weil wir so viel arbeiten müssen, hatte unser deut
sches Volk als Erbe Luthers eine Freude an der Arbeit, eine Liebe, ein inneres Verhältnis zu der Arbeit überkommen, wie
wohl kein anderes Volk. Ja, man möchte fast sagen: in unserm deutschen Volke gab eS und gibt es noch heute unendlich
Viele, denen die Arbeit wirklich eine Art von
Gottes
dienst ist, weil sie durch Luther und dank der Gedanken, die er aus der Heiligen Schrift unserem Volk fruchtbar ge
macht hat, eine Ahnung erhalten haben, daß die Arbeit, die
sie zu leisten haben, irgendwie mit Gott zusammenhängt. Wie viele verbitterte, neiderfüllte Menschen gibt es heu
tigen TageS leider auch schon bei unS, die darüber nicht hinauskommen, daß andere mehr verdienen als sie, die
keine Freude mehr daran haben können und keinen rechten
Sinn mehr darin finden können, was den größten Teil ihres Daseins ausfüllt — ihre Arbeit! — Aus dieser öden, mecha
nischen, aller Freude entkleideten Auffassung, die eine ge
wisse Weltanschauung unserem Volke aufzuzwingen sucht, gibt eö nur einen befreienden Ausweg — zurück zu dem freien, tiefen Glauben eines Paulus und Luther — „aus
Gottes Gnaden bin ich, was ich bin." Aber was heißt nun dieses große Wort: „Von Gottes
Gnaden"? Das heißt nichts mehr und nichts weniger, als daß wir auch unsere Arbeit von Gott haben, daß Gott hinter
unserm großen oder kleinen täglichen Pflichtenkreis steht, daß Gott uns zu unserer Arbeit berufen hat. Wer ist eö
Erntefestgedanken für moderne Menschen
denn, der uns die Gaben gegeben hat, die uns zu tüchtigen Arbeitern in unserm Beruf machen? Ist es nicht Gott, dem
wir unsere Besonderheit, unsere eigentümlichen Anlagen
letzten Endes allein verdanken? Steht nicht hinter dem viel leicht sonderbaren, eigentümlichen Verlauf unsres Lebens,
das uns in unfern Beruf führte, ohne daß wir vielleicht ur sprünglich selbst daran gedacht hatten, die ordnende, füh
rende Hand Gottes? Man braucht doch gewiß nicht das Erlebnis eines Paulus vor Damaskus' Pforten gehabt zu
haben, wo Gott ihn aus seiner Bahn warf, um ihm eine neue Arbeit zu geben, um eine Ahnung davon zu erhalten,
daß wir in unsere Arbeit von Gott gestellt sind, daß des halb jede Arbeit „Beruf" ist, weil Gott uns dazu berufen
hat. Wir können auch unter völlig normal verlaufenden Ver hältnissen sehm, wie wir aus Gottes Gnade zu dem geworden sind, was wir sind, weil eö Gottes Geschenk war, daß wir
die Familie, daö Vaterhaus, die Umgebung, die Begabung,
Gesundheit und Kraft erhielten, die letzthin uns zu dem werden ließen, was wir sind.
Aber wenn wir unsere Arbeit und Beruf so anzusehen ge lernt haben, dann können wir nicht mehr meinen, daß unser Arbeitsleben etwas sei, das Gott nichts angeht, daß es frömmer und Gott wohlgefälliger sei, seine Arbeit aufzu
geben und in'S Kloster zu gehen, als fleißig und gewissen haft einen Beruf zu erfüllen. Dann steht unser Beruf als etwas Hohes und Gottgewolltes, Gottgesegnetes vor uns, an dem wir Freude haben können und müssen, auch gerade
als rechte Christen. Dann kann unsere Arbeit nicht bloß
Erntefestgedanken für moderne Menschen das irdische Ziel des Verdienens und Reichwerdens haben, sondern eine treue Berufsarbeit hat dann noch den tieferen
Sinn — daß wir selber durch unsere Arbeit Gott entgegen wachsen, anderen durch die Arbeit dienen, wenn nicht an
ders so durch daS Beispiel das wir geben, durch Treue und Fleiß.
Vor Gott ist dann auch die Frage nach der äußeren Be
deutung, nach Umfang und Größe unsrer Arbeitsleistung
gleichgültig, da ja Gott es ist, der die Gaben verschieden verteilt und jedem auf seinen Platz stellt. Jeder, der seine
Arbeit, sei sie klein oder groß, recht erfüllt, gehört zu den treuen Haushaltem, die von Gott Lob und Lohn erhalten werden, weil sie durch ihre Arbeit Gott in hingebmdem Ge
horsam ehrten. Und da will Emtefest unS, die wir bei der stets gleichbleibendm Alltagsarbeit alle weitm Aus blicke verlieren,
die
Einerlei leiden und
wir
vielleicht
unter
einem
ödm
der Gefahr verfallm, in gedanken
loser Mechanisierung unser Arbeitölebm nur auf der freud losen Frage nach Geldverdienen aufzubauen — unö soll
Emtefest zurufen: „Du darfst und sollst stolz auf Deine Ar
beit sein. Deine Arbeit, welcher Art sie auch sei, — und mag sie für menschliche Begriffe auch noch so minderwertig und unwichtig erscheinen — wird geadelt durch Gott, durch dessen Gnade du bist, waS du bist, der dich auf den Platz berief,
auf dem du stehst. Ihm bist du deshalb verpflichtet, indem du deine Arbeit in seinem Geist tust und deine Gaben ge
brauchst." Wem seine Arbeit Beruf von Gott geworden ist, der
Erntefestgedanken für moderne Menschen
findet dann auch leicht die richtige Stellung zu seiner Arbeit. Und diese richtige Stellung besteht vor allem
in zwei Dingen: in der Treue und in der inneren Anteil
nahme an der Arbeit. „Nun aber fragt man von einem Haushalter, daß ein
jeglicher treu erfunden werde", sagt Paulus, und Jesus sagt: „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen
treu." Auch eine kleine und unbedeutende Arbeit wird durch
die Treue bis ins kleinste geadelt. Diese Treue ist nicht mit Kleinlichkeit und Pedanterie zu verwechseln, die stets eine Folge von Engherzigkeit und Beschränktheit sind, sondern
Treue entspringt aus dem Bewußtsein, daß wir einem
anderen größeren Herrn innerlich verpflichtet sind. Sie er hält ihre größte Kraft aus der Verbindung mit Gott. Wenn
wir daran glauben, daß wir Gottes Werkzeuge sind in seiner Weltregierung, die sich liebevoll der Kleinen und Allerklein sten annimmt, wenn wir ihm vertrauen, daß er durch kleine Dienste und Gehorsam große Ziele zur Erfüllung bringen
kann, dann werden wir wissen, daß von unserer Treue und
Gewissenhaftigkeit auch
dann viel abhängt, wenn wir
keine Erfolge sehen.
Darin besteht die rechte Stellung zur Arbeit, auch wenn sie schwer und erfolglos ist, daß wir treu bleiben bis ins kleinste — Gott wird die Arbeit dann nicht ohne Segen
lassen. Denn erst die Treue macht eine Arbeit zu einer sittlich
hochstehenden Tat, wie ja auch die Ehe erst durch die Treue ihren sittlichen Adel empfängt.
Wie manche Hausfrau seufzt unter der Kleinheit und
135
Erntefestgedanken für moderne Menschen Enge ihres Berufs, unter dem täglichen Einerlei der Arbeit,
die so gar nichts zu bedeuten scheint, unter dem ewig sich gleichbleibenden Kreislauf ihrer häuslichen Verrichtungen,
die von den anderen als selbstverständlich hingenommen werden und die niemand anerkennt. Liebe Schwestern, wenn
ihr nur treu seid in euren kleinen Pflichten, so ist einer da, der eure Treue voll und ganz anerkennt: Gott, durch dessen Gnade ihr seid, was ihr seid, und dem ihr durch eure Treue
am besten dient, und dessen Werk ihr durch hingebende Treue am testen fördert. Und mancher Arbeiter, der jahrein jahr aus an seiner Maschine steht und immer ein und dieselbe Arbeit und Handreichung tut, mag wohl seufzen unter der
tödlichen §>de und Seelenlosigkeit seiner Verrichtung; aber
auch diese Arbeit erhält ein anderes Gesicht, wenn sie durch Treue geadelt wird, wenn wir uns, statt uns über unsere schein bar sinnlose Arbeit zu ärgern, einen Lichtstrahl in die öde des
Arbeitslebens geben lassen durch den Glauben: „durch GotteS Gnade bin ich, was ich bin, und auch meine Arbeit
ist nicht vergeblich, Gott kann auch aus meiner Arbeit irgend einen Segen erwachsen lassen."
Aber wie denn? Könnte nicht solch eine seelenlose Arbeit
jeder andere ebenso tun wie wir, sind wir nicht geradezu zu einem Stück Maschine herabgewürdigt? Ja, Gott sei es geklagt, daß Menschen fast zu leblosen Maschinenteilen
herabgewürdigt werden, und doch hängt viel davon ab, wie
wir die Arbeit tun: wenn wir sie trotz allem fröhlich tun, wenn wir in Treue und Liebe zum Werk stehen, dessen Teile wir nun einmal sind, wenn wir nicht bloß an uns und unser 136
Erntefestgedanken für moderne Menschen kleines Ich denken und uns durch Neid und Erbitterung
vom rechten Weg abbringen lassen, dann sind wir durch die
Art, wie wir unsere Arbeit leisten, anderen ein Beispiel und ein Halt, dann tun wir vielleicht gerade bei einer seelenlosen Arbeit durch unsere Treue einen segensreichen Dienst an
Seelen anderer, zur Ehre Gottes und zur Größe seines
Reiches.
Das haben wir wieder vor allem Luther zu verdanken, daß er diese tief christlichen Gedanken unserem Volk erschlos
sen hat. Er hat es unserem Volk gelehrt, daß Arbeit eine Freude ist, weil wir durch sie Gott dienen können, indem
wir in seinem großen Haushalt unfern kleinen Posten treu
und mit frohem Herzen auöfüllen. Das ist unsere aller
wichtigste Pflicht gegen Gott, diese innere Anteilnahme an unserer Arbeit, die alles Murren und freudlose Schaffen unmöglich macht, und die Treue bis ins kleinste. Wer unserm
Volke die Freude an der Arbeit wiederzugeben imstande ist,
der gibt dem Volk das Glück wieder und dadurch Sonnen
schein ins dunkelwerdende Leben. Aber noch ein Gedanke liegt in der richtigen Stellung zur Ar
beit enthalten. Wenn Gott uns auf einen bestimmten Posten berufen hat, uns ganz bestimmte Gaben und Anlagen und Kräfte gab, die sich im Arbeitsleben auöwirken können, dann wird er, unser Auftraggeber, dessen Handlanger wir sind, auch dafür Sorge tragen, daß unsere Arbeit nicht ver
geblich ist. Wenn wir auf die Erfolge unserer Arbeit zurück
blicken, so können sie äußerlich noch so gering sein, eines haben sie uns doch gebracht, daß wir jahrzehntelang satt
Erntefestgedanken für moderne Menschen zu essen hatten — daß wir leben und auch manche Freude haben konnten. Durch diese Erkenntnis wird auch unser Ar-
beitSsonntag zum Emtedankfest. So wollen auch wir heute
nicht heimgehen, ohne Gott von Herzen gedankt zu haben
für allen Segen, den er auf unser Tun gelegt hat; und dar
über recht von Herzen froh zu werden suchen, was er, unser lieber Vater, uns an Arbeit, Amt und Beruf anvertraut hat.
Erntefest ist von jeher ein Freudenfest gewesen. Wenn die
letzten
Erntewagen
bekränzt
in die
Scheunen
ge
fahren sind, das letzte Obst eingeerntet wird, dann über
kommt den Landmann ein Gefühl der dankbaren Sicher heit: „Gott sei Dank, alles ist geborgen, jetzt kann ich ruhig dem Winter entgegengehen, denn Gott hat mir den Tisch
reich gedeckt." So soll Erntefest auch für uns ein Freuden fest werden: „Gott sei Dank, ich bin geborgen, Gott hat ge
segnet und wird segnen, unter seiner Hand und seinem Schutz kann ich mein Leben sicher leben, denn über mir und meinem
Leben und Arbeiten steht das wunderbar liebe, vertrauen
erweckende Wort: „Von Gottes Gnaden bin ich, was ich bin, und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen." Amen.
Was verdanken wir Luther? Röm. 5, i—2. Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn JesuS Christus, durch welchen wir auch den Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darin wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll.
Am heutigen Reformationöfest ist es selbstverständlich, daß wir evangelischen Christen in herzlicher Dankbarkeit
des Mannes gedenken,
der damals vor 400 Jahren den
Kampf mit seinem Gewissen und mit Rom durchfocht, dem
wir die Freiheit des Glaubens verdanken — Luther. Haben wir recht mit unserer Dankbarkeit? Oder ist es vielleicht
ein schwerer Irrtum, wenn wir meinen, Luther habe durch
seine Tat einen großen Segen der Welt gebracht? Wenn wir
sehen, wie gerade auS evangelischen Ländern die Ideen deö Umsturzes ausgegangen sind, die noch heute unsere Welt nicht zur Ruhe kommen lassen, wenn wir vor den traurigen
Tatsachen nicht die Augen verschließen, daß weiteste Volks kreise in evangelischen Landen dem Christentum völlig ent
fremdet sind und ihm feindlich, ja haßerfüllt gegenüber stehen, dann können wir es verstehen, daß der Vorwurf
Andersgläubiger auch in den Kreisen Evangelischer Boden
Was verdanken wir Luther? findet: Luther habe durch feine Reformation unsäglich großes
Unheil über die Welt gebracht, indem er die Autorität der Kirche zerstörte, die die Verkörperung des Reiches Gottes, die Stellvertreterin Gottes auf Erden war, in der die reine,
unverfälschte Tradition der Apostel und Väter erhalten
gewesen sei. Um diesen Vorwurf zu entkräften, genügt ja wohl der Hinweis auf die eine Tatsache, daß im letzten Jahrhundert vor Luther die katholische Kirche selbst wieder
holt die größten Anstrengungen gemacht hat, die Kirche zu reformieren, und daß alle diese Versuche an der Machtgier
der Päpste abprallten. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß auch die katholische Kirche gleich nach Luther genötigt war,
eine Reformation an sich selbst vorzunehmen im Triden tiner Konzil, weil sie die schreienden Mißstände selbst emp
fand und sogar die Päpste durch Luthers Tat hatten ein sehen müssen, daß ihre Kirche auSgespielt hätte, wenn sie
nicht ganz anders, viel ernster, tiefer, innerlicher würde, wie bisher. Daß Luther recht hatte, hat vor allem diese von Rom
selbst durchgeführte bestätigt.
Erneuerung der katholischen Kirche
Aber ist Luther nicht doch viel zu weit gegangen?
Hat er nicht im radikalen Eifer vieles zerstört und abge schafft, was vielleicht lebenskräftig und segensreich war, was von Gott gewollt und geordnet gewesen ist? Hat er nicht am Ende das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, als
er seine neue Kirche gründete, während die jetzige, gereinigte
und erneuerte katholische Kirche die Reformen in rechter Weisheit und in rechtem Maße durchgeführt hat, und daher die rechte Lehre in viel herrlicherer Form besitzt und den
Was verdanken wir Luther? rechten Weg zu Gott ganz anders weisen kann, wie wir? Wir wollen darüber nicht streiten, ob eS nicht vielleicht um
manche schöne Volkösitte schade ist, die Luther nicht in die evangelisch-lutherische Kirche übernommen hat; in diesen Dingen ließe sich viel dafür und dawider anführen, aber das
Wesentliche sind diese Sitt en nicht. Wir wollen unS heute auf das Wesentlichste besinnen, was wir Luther zu verdanken haben,
und waS wir uns von niemand nehmen oder schmälern lassen wollen, denn wer sich auf dieses Große besinnt, dem sind die anderen Fragen dann klein und unbedeutend. Und da sind es zwei Dinge, die Luther nach dem schwersten inneren
Ringen uns erkämpft hat. Er hat das freie Christen
recht für alle wieder erobert und er hat die rechte Christenpflicht jedem aufS eigene Gewissen ge
legt.
Die Reformation hat das freie Christenrecht für alle wieder erobert, das ist das Recht des freien, persönlichen,
direkten Zugangs zu Gott. An Stelle der Fragen, die in der katholischen Kirche bis heute im Mittelpunkte der religiösen Lehren stehen, der Fragen: Wie stehst du zu deiner Kirche,
zu deinem Beichtvater, zu den Heiligen, zu der Mutter Gottes,
hat Luther eine andere Frage inS Zentrum unseres GlaubenölebenS gerückt: Wie stehst du zu deinem Gott? Also nicht mehr du und dein Mittler, sondem — du und dein Gott!
Es liegt darin etwas erschüttemd Großes, daß wir kleinen,
unwürdigen, schwachen, sündigen Menschenkinder das freie Recht haben sollen, vor unseren Gott zu treten, daß wir
selbst den Kampf um Gott aufnehmen und durchfechten
141
Was verdanken wir Luther? dürfen und müssen, diesen Kampf, der keinem der ganz Großen in der Geschichte deS GlaubmS erspart geblieben
und den manche nur als äußerlich Gebrochene, aber innerlich
Reiche und Starke bestehen konnten. Da sehen wir den Erzvater des auserwählten Volkes, an
der einsamen Furt deS Jabbok im Kampf mit Gott, den selbstbewußten, starken, in tausend menschlichen Listen und Tücken erfahrenen Jakob. Und als der Kampf endete, war
seine äußere Kraft gebrochen, da war er zwar ein körperlich hilfloser Mann, aber dennoch der, der im Verttauen auf
Gott seinem
feindlichen Bruder
entgegenzog
und durch
sein Gottvertrauen den Zürnenden, schwer Bewaffneten,
entwaffnete.
Und da sehen wir MoseS im Ringen mit Gott oben auf dem Sinai, er, der dem mächtigsten König der damaligen Zeit, Pharao getrotzt hatte, dessen auögestreckter Arm das
Meer zerteilte, dessen Stab aus dem Felsen Wasser schlug, wagt nicht, Gott vor Augen zu treten und ihn anzuschauen,
weil seine Augen es nicht ertragen hätten, dem Allmäch
tigen, dem Herrn der Welt ins Angesicht zu schäum.
Und EliaS, der Ahab und Jsebel den Fehdehandschuh hin geworfen, der jahrelang Dürre über das ganze Land ge
bracht, der den Baalsdienst mit Feuer und Schwett auögerottet hatte, er der Große, vielleicht der Größte des Alten
Testamentes, verdeckt sein Haupt mit seinem Mantel, als
Gott wie ein stilles, sanftes Rauschen an ihm vorübergeht. In dieses Ringen um Gott, wo eS um Sein oder Nicht
sein geht, wo der Mensch nach dem Höchstm und Letzten
WaS verdanken wir Luther? greift, was ihm zu erreichen möglich ist, wollte Luther jeden Christen hineinstellen. Er hat ihn selbst durchgefochten und mit seinem Herzblut erkauft, diesen freien Zugang zu Gott, gegen alle Widerstände Roms und römischer Vorurteile hat
er sich sein Recht erzwungen und ertrotzt, frei und direkt ohne menschliche Vermittelung und menschliche Hinder
nisse mit Gott zu verkehren und dieses höchste und herr
lichste Recht des persönlichen Verkehrs mit Gott hat er für
uns alle, die wir lutherische Christen sind, neu erobert. Aber können wir dieses Recht auöüben? Heißt eS nicht nach den Sternen greifen, wenn wir sündigen, schwachen
Menschenkinder uns unterfangen, Auge in Auge unserem
Gott gegenüberzustehen? Muß es nicht uns so gehen, wie so manchem aus dem Alten Testament, der in Selbstüber
hebung Gott zu nahe kam, der ohne Vermittlung Gott nahte und zerschmettert wurde durch die unerträgliche Wucht
der Größe Gottes? Wir wollen es uns garnicht verhehlen, daß diese persönliche Auseinandersetzung mit Gott, natürlich wenn sie Wirklichkeit ist und nicht bloß Schein, ungeheuere
Anforderungen an den
einzelnen stellt, daß sie wahrlich
nicht bequem ist.
Es gibt gewiß sehr viele Menschen, die sich dieser Sache entziehen, die Kampf und Verantwortung scheuen, indem sie Gott Gott sein lassen und sich gar nicht um ihn kümmern,
und gar keine Verbindung mit ihm suchen. Wieder andere finden einen Ausweg, indem sie menschliche Vermittlung, die Kirche,
den Seelsorger zur Erfüllung äußerer Formen zwischen sich und ihren Gott schieben, weil sie meinen, es nicht ertragen zu
Was verdanken wir Luther? können, in herrlicher Freiheit und tapferer Selbständigkeit vor Gott zu treten und mit ihm die Gemeinschaft zu suchen.
Da ist es die katholische Kirche, die von jeher dem einzelnen Menschen die Verantwortung abgenommen hat. Sie hat sich
zwischen Gott und die einzelne Seele gestellt und behauptet, die Macht und daö Recht zu haben, die Sache der einzelnen Men
schenseele vor Gott zu führen und mit Gott zu ordnen, wenn
nur der Mensch selbst die Autorität der Kirche voll und ganz anerkennt und gewisse, mehr oder weniger äußere Pflichten
erfüllt. So tritt in ihr an Stelle der großen Seelenkämpfe, an Stelle deö selbständigm Suchens nach Gott das Kleine und Äußerliche, die vielen kleinen Gebote und HilfSmittel-
chen und Leistungen der katholischen Kirche. Wir wollen heute die Frage nicht berühren, ob solch ein
Dazwischentreten überhaupt möglich und erlaubt ist, denn
der Beweis aus der heiligen Schrift, auf den die katholische Kirche sich in dieser Sache beruft, ist wohl mehr als zweifel
haft. Denn wäre der Gedanke nicht unerträglich, daß Gott diese Mittlerschaft verwerfen könnte; dann würden ja alle, die sich darauf verlassen, Opfer eines großen Irrtums und müßten
dieses Opfer vielleicht mit ihrer Seligkeit bezahlen. Aber wir wollen es uns recht klar machen, daß dieses Höchste, was ein
Mensch erreichen kann, dieses waö ihn über alle Kreatur hinaushebt, daß er Gemeinschaft haben soll mit Gott, dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, nie und nimmer auf billige,
mehr oder weniger äußerliche Art erlangt werden kann, schon
seinem Wesen nach nie durch Fürsprache anderer Menschen, sondern nur durch eigenes Suchen. Denn wie überall im
Waö verdanken wir Luther? Leben, so ist es erst recht hier bei dem Allerhöchsten der Fall:
für etwas wirklich Wertvolles muß auch immer ein hoher Preis gezahlt werden. Die Erlangung von wirklich Wert
vollem kostet Mühe und Arbeit, und wenn man etwas auf der Straße findet wenn es einem leicht und ohne wirklich
große Anstrengung in den Schoß fällt, dann hat es auch keinen rechten Wert für uns. Hier mehr wie irgendwo anders
gilt daS Wort: „Und setzt du nicht das Leben ein, nie wird das Leben gewonnen sein."
Und dazu das andere: — Ze weniger man jemand zu mutet, desto kleiner und unbedeutender wird er bleiben. „Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zielen." Und das
ist ja doch der Wille GotteS: durch unser Gottsuchen und
durch unsere Gemeinschaft mit Gott sollen wir weit hin
auswachsen auö den Kleinlichkeiten und den Unwichtig
keiten des Alltags und aus dem ganzen Elend der mensch lichen Unvollkommenheit zur Herrlichkeit der freien Kinder GotteS.
Gewiß wird die Aufgabe nicht leicht sein, und mancher
wäre gern bereit, auf dieses von Luther unö erkämpfte Recht
freiwillig zu verzichten, um den anderen weit bequemeren, im Rahmen der kleinen Leistungen sich bewegenden Weg der katholischen Kirche zu gehen, wenn er eS nur mit dem
anderen vereinen könnte, was Luther und die Reformation uns gebracht haben, mit der Christenpflicht, die jedem
aufs eigene Gewissen gelegt worden ist. Worin besteht nun diese Christenpflicht? Sie ergibt sich von selbst aus dem freien Christenrecht, wie ja richtig verstandene
Was verdanken wir Luther? große Rechte stets auch große Pflichten nach sich ziehen. In
dem beseligenden Großen, das uns weit über uns selbst
hinauShebt, daß wir freien, offenen Zugang zu Gott haben,
liegt die erdrückend und erschütternd große Pflicht, diesen freien Zugang zu dem Vater im Himmel zu bewahren. Wehe dir, wenn die Pforte zugeschlagen ist, wenn du den Weg
verfehlt, die Stunde verpaßt hast, wehe dir, wenn die Tür
zum Hochzeitssaal verschlossen ist und du ewig draußen bleibst! Das ist es, was Luther den Christen klarzumachen bestrebt war: Auf euch selbst, auf euch ganz allein lastet die
große Wucht der Verantwortung, wenn ihr den Weg ver fehlt und wenn Gott den freien Zugang verschließt. Ihr
und nur ihr allein habt diese Pflicht zu tragen, und wenn
ihr die Tür verschlossen findet, dann öffnet sie euch keine Fürbitte der Heiligen und keine Seelenmesse und kein Ablaß und keine letzte ölung, und wie all die Mittel und Mittel
chen heißen mögen, dann erwartet euch nur noch das, was die Schrift Heulen und Jähneklappern nennt. Und so lastet denn auf unserem Gewissen, ungemildert durch Mittels personen und kirchliche Fürsprache die ganze Wucht des
Wortes: Schaffet, daß ihr selig werdet mit Furcht und
Jittern. Es lag etwas ungeheuer kraftvoll Männliches darin,
wie Luther sich dieser Pflicht unterzog, wie er nicht bloß
nach den Rechten griff, sondem die Pflichten auf sich nahm auch als sie ihn zu zerbrechen drohten durch ihre namenlose Schwere damals im Kloster zu Erfurt.
Und männliche Tapferkeit erfordem diese Pflichten auch. von uns, mit Herumdrücken um die Wahrheit, mit AuS-
146
Was verdanken wir Luther? weichen und Abwälzen der Verantwortung auf andere, mit HinauSschiebm der Entscheidung erreichen wir daö Ziel nicht, nur ein Entweder — Oder gilt: Schaffe, daß du selig
wirst mit Furcht und Zittern — oder gehe zu Grunde! Gerade durch diese Pflicht und Verantwottung, die keine Mittelspersonen und keinen Selbstbetrug durch die kleinen
Mittel der Beruhigung und Verschleierung mehr kennt, sind
wir dorthin gestellt, wohin Gott uns führen will, vor den
Abgrund der eigenen Unfähigkeit, den die volle Erkenntnis der Wahrheit uns zeigt. Wenn wir die Seligkeit ersehnen
mit allen Fasem unseres Herzens, wenn wir einen Anlauf nach dem anderen nehmen und doch nicht die Kluft über springen können, die uns von Gott trennt, wenn wir immer
wieder an unserer Sünde uns wund stoßen, weil durch unsere
Schuld der freie Zugang zu Gott uns versperrt ist, dann werden wir uns mit der ganzen Kraft unseres Glaubens an ihn anklammem, der die Sünder zu sich ruft und für die Sünder gestorbm ist — an Jesus Christus, unsern Hei
land. Dann werden wir eö begreifen, wie recht Jesus hatte, als er sagte: Keiner kommt zum Vater, denn durch mich,
und: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Dann
werden wir erst in rechter Dankbarkeit auf Jesu Kreuz blikken und vor ihn hinsinken können: Herr, sei mir Sünder
gnädig. Aber dann wird der Anblick des Gekreuzigten auch an unser Gewissen rühren: Daö tat ich für dich, was tust du für mich? Alles, was den Weg des einzelnen Menschen
zu seinem Heiland stört, was die furchtbare Gefahr, in der unsere Seele schwebt, verdeckt, alles, was uns hindert zu IO*
147
Was verdanken wir Luther? begreifen, daß Gnade und nur Gnade allein uns selig machen kann, hat Luther beseitigt, und dafür wollen wir ihm
vom ganzen Herzen dankbar sein und bleiben und uns durch nichts und niemand unfern Heiland nehmen oder auf den
zweiten oder dritten Platz drängen lassen. „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben,
so haben wir Frieden mit Gott durch unfern Hern Jesum Christum." Wer das einmal in seinem eigenen Leben erkannt
hat, wer nach vergeblichem Ringen um Frieden und Halt in die sem Einen und Letzten den Frieden erkämpft hat, wer ge rechtfertigt worden ist durch den Glauben an die Gnade Jesu Christi, der hat weder Priester noch Papst, weder Beicht
stuhl, noch Jubeljahr mit päpstlichem Ablaß, noch katho
lischen Kirchenpomp, noch Messegesang mehr nötig, der klammert sich an das Eine „Allein auS Gnaden" und singt
allen Anfeindungen und Verfolgungen siegessicher ent
gegen: „Ein Wörtlein kann ihn fällen, daS Wort sie sollen
lassen stahn: — Allein aus Gnaden." In diesem „Allein aus Gnaden" liegt auch die Antwort
auf die letzte Frage: Mutet daS Luthertum seinen Ge meindegliedern nicht zuviel zu, wenn es sie darauf hin
weist, daß sie allein, ohne menschliche Vermittlung den
Zugang zu Gott erhalten können und erringen müssen. Wäre eS Verdienst, das unö die Himmelstür erschließen
muß, stünden wir noch im Alten Testament, wo die An näherung an Gott Vernichtung durch die unerträgliche Größe
Gottes nach sich ziehen konnte, wäre menschliche Würdig keit und Stärke nötig, diesen freien Zugang zu Gott zu fin-
Was verdanken wir Luther? den, so müßten wir alle verzagen, dann hätte Luther nicht
nur uns, sondern auch sich zu viel zugetraut und hätte Wert volles zerstört, ohne Ersatz zu schassen. Aber weil es klar
und unmißverständlich heißt: „Durch Jesum Christum haben wir einen Zugang im Glauben zu dieser Gnade und Frieden mit Gott, weil wir wissen, daß wir gerechtfertigt werden
aus Gnaden und aus Gnaden allein", darum ist uns nichts
Unmögliches zugemutet. Denn Gnade kann jeder empfangen, der nur seine Hand bittend ausstrecken und sie sich mit
unverdienter Gnade und Liebe füllen lassen kann, jeder,
der sich demütig seiner Schwäche bewußt ist und sich von
ihm helfen läßt, der uns mächtig macht, Christus. Heute am Reformationsfest wollen wir nicht nur Luther dankbar sein für das, was er uns erkämpft und errungen
hat nach namenlos hartem Ringen, sondern wir wollen
uns auch dessen bewußt werden, daß wir als freie Gottes
kinder den offenen Zugang haben zu Gott als unveräußer liches Recht. Und dieses Recht wollen wir uns durch nichts und niemand schmälern lassen und nicht eher ruhen, bis wir aus eigenster Erfahrung wie einst Luther, die Worte
aus dem Römerbrief nachsprechen können: Nun wir denn
sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum.
Amen.
Gottes Antwort auf unser „Warum?" Offenb. 7/ 9—17. Darnach sah ich, und siehe, eine große Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhl stehend und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und Palmen in ihren Händen, schrieen mit großer Stimme und sprachen: Heil sei dem, der auf dem Stuhl sitzt, unserm Gott, und dem Lamm! Und alle Engel standen um den Stuhl und um die Ältesten und um die vier Tiere und fielen vor dem Stuhl auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Und es antwortete der Äl testen einer und sprach zu mir: Wer sind diese, mit den weißen Klei dern angetan, und woher sind sie gekommen? Und ich sprach zu ihm: Herr, du weißt e6. Und er sprach zu mir: Diese sind's, die gekommen sind aus großer Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes. Darum sind sie vor dem Stuhl Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Stuhl sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie wird nicht mehr hungern noch dürsten; eS wird auch nicht auf sie fallen die Sonne oder irgendeine Hitze; denn das Lamm mitten im Stuhl wird sie weiden und leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Die Offenbarung Johannis, der unser Schriftwort ent
nommen ist, ist das umstrittenste Buch der Bibel. Wäh rend z. B. Martin Luther das Buch nicht hoch gewertet hat, 150
Gottes Antwort auf unser „Warum?" ist eS anderen Christen fast als die wichtigste Schrift der gan
zen Bibel erschienen. Wer die Apokalypse ohne Voreinge nommenheit liest, wird neben völlig unverständlichen, in tiefstes
Dunkel
veralteter
Symbolik
gehüllten Stücken
wunderbar lebensvolle und zu Herzen gehende Stellen finden. Wer von uns wollte solche köstliche Edelsteine missen
wie etwa: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben" oder „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an." Es ist uns, als spräche der erhöhte Heiland selbst zu uns und wollte Dinge offenbaren, die seine Jünger
zu seinen Lebzeiten nicht tragen konnten. Und neben diesen
herrlichen Worten finden sich ganze Kapitel, über die die Ausleger sich vergeblich den Kopf zerbrechen, ohne doch
Licht in das Dunkel bringen zu können. Denn sie enthalten
Bilder, die wohl den Zeitgenossen Johannis verständlich
waren, weil in der damaligen Zeit sowohl von den Juden als unter den Heiden solche ähnliche Apokalypsen geschrieben
und gern gelesen wurden, die aber für unö so vieldeutig sind, daß eine allgemein gültige Erklärung unmöglich ist. Und gerade dieser dunklen Stellen haben sich seit jeher bis zum heutigen Tage unberufene Schwarmgeister bemächtigt,
um ihre tollen, ungesunden Phantasien und Spitzfindig keiten in sie hineinzulegen und die Menschen durch ihre Aus legungen zu beunruhigen. Können wir uns wundern, wenn
diese falschen Propheten die Offenbarung Johannis durch
ihre Spielereien in Mißkredit gebracht haben? Und doch enthält sie wunderbar tiefe und herrliche Offen
barungen aus einer anderen Welt, und unser heutiger Text
ip
Gottes Antwort auf unser „Warum?" ist in diesem Schatz von Schauungen einer der herrlichsten
Juwelen. Da erlebt Johannes eine der ganz seltenen Stun den im Leben besonders von Gott begnadeter Christen, daß
sich der dichte und undurchsichtige Vorhang, der das Jen seits vom Diesseits trennt, für einen kurzen Augenblick bei
seiteschiebt, und er einen Blick werfen kann in das unbe kannte Land, dem wir alle entgegenstreben. Und dieser eine
Blick, den seine staunenden Augen tun dürfen, genügt um Licht hineinzubringen in die tiefsten und dunkelsten Geheim
nisse des Lebens, von denen er und Millionen mit ihm in
hilfloser Ratlosigkeit gestanden hatten. Dieser eine Blick zeigt ihm ungeahnte Zusammenhänge, breitet über Kämpfe und Leiden des Lebens einen tiefen seligen Frieden und läßt aus
einem scheinbar unharmonischen Durcheinander eine stille, wundervolle Harmonie entstehen.
Was Johannes sah, wollen wir heute betrachten, um dann
in unserem Leben und Umwelt erkennen zu lernen, daß der Strom des Leides, der durch die Welt fließt, im
Reiche
Gottes
denen
zur Freude
wird,
die ihr
Kreuz vor Gottes Thron tragen.
ES gibt eine Frage, die von jeher die Menschheit bewegt hat und in alle Ewigkeit bewegen wird — die Frage nach
der Bedeutung des Leides. Schmerz und Kummer passen so
absolut nicht in all das hinein, was der Inhalt unserer Hoff nung und unseres Glückes ist, was wir an Gütern und Gaben des Lebens schätzen, daß sie stets als Fremdkörper empfun den werden, deren Beseitigung und Bekämpfung die Haupt
aufgabe der Menschheit ist. Wir wollen es zwar gar nicht
Gottes Antwort auf unser „Warum?" übersehen, wie vieles gerade im Kampfe gegen das Leid
in all seinen Gestalten erreicht worden ist, die schönsten und edelsten Fortschritte des Menschengeschlechts verdanken der Bekämpfung dieser Feinde des menschlichen Glückes ihre
Entstehung. Aber trotz alledem steht das Leid heute so gut
wie irgend jemals früher als Zerstörer unseres Glückes da mitten im Leben der Menschen und spottet aller Bekämp fungsversuche. Ob wir wollen oder nicht, das Leid drängt
sich in jedes Menschen Leben irgendwie ein, und an dieser
Tatsache ändert unsere Annahme oder Ablehnung des christ lichen Glaubens nichts, nichts unsere Verneinung oder Be jahung der jetzigen gesellschaftlichen und staatlichen Ord
nungen. Es ist schlechterdings keine ernstzunehmende Welt anschauung oder Weltordnung denkbar, in der das Leid
einfach ausgeschaltet sein könnte, denn es drängt sich überall hinein und zwingt alle, sich früher oder später mit diesem unerwünschten, ungebetenen Gesellen zu befassen.
Wenn wir unseren Text aufmerksam verfolgen, finden wir
in ihm verschiedene Erreger der Trübsal und Tränen genannt, die, solange es Menschen gegeben hat und solange eS sündige,
irrende Menschen geben wird, in das Leben des Menschen eingreifen. Hunger und Durst heißt einer der Leidbringer. Wir nennen ihn heutigen TageS die soziale Frage oder wirt schaftliche Not. Was hilft gegen ihn alle soziale Fürsorge,
alle Gesetzgebung zum Schutz der Schwachen oder auch aller Umsturz der wirtschaftlichen oder politischen Verhält nisse. Ist durch alles das irgendwo schon Hunger und Durst,
die wirtschaftliche Not ausgeschaltet worden? Vielleicht
Gottes Antwort auf unser „Warum?"
haben die Kreise gewechselt, die Not leiden, vielleicht ist manche besondere Not gelindert worden, aber ausgeschaltet ist diese Not deshalb nicht im Entferntesten. Wer durch die Häuser unserer Städte geht, der spürt die Not in furchtbarer
Deutlichkeit und Schwere; bald so — bald so lauten die
Klagen, oft aus dem Munde von Menschen, die allen Wider stand aufgegeben haben und hilflos zuschauen, wie die Not
ihnen Freude und Frieden aus Herz und Haus raubt. Und neben dem wirtschaftlichen Elend dringt der Tod als Feind des menschlichen Glückes in unzählige Häuser ein,
und kein Mittel gibt es, um seine stets siegreiche Herrschaft
über die Menschheit zu brechen. Ein Blick auf die Tausende von Grabhügeln, die jährlich neu auf unseren Friedhöfen aufgeworfen werden, redet eine deutliche Sprache von den Tränen, die oft verzweifelt, oft ttostlos oder in bitterer
Selbstanklage und Reue an Totenbahren geweint werden.
Wie oft stehen die Leidttagenden völlig ratlos in ihrem Schmerz, sie finden keine Erklärung für das, was ihnen begegnete.
Was der Tod ist, wissen
sie zwar — daß
es jedes Menschen Los ist, zu sterben, wissen sie auch von Kind auf, und doch stehen sie hilflos vor der furchtbar ernsten
Rätselfrage: „Warum mußte der Tod bei mir einziehen,
warum mußte ein Mensch ihm folgen in das unbekannte
Land, dm ich so sehr zu meinem Glück brauchte, warum trifft gerade mich daö harte Los einsam und allein zu bleiben auf Er
den ? " Wer einmal dieses „Warum" aus seinem wildzerrissmen
Herzen in stillen schwarzen Nächten herausgestöhnt und
herausgeweint hat, der weiß, wie bitter weh dieser Schmerz tut.
154
Gotteö Antwort auf unser „Warum?" Und doch gibt es noch eine schwerere Trübsal. Die Bibel, die in Menschenherzen zu lesen versteht, wie kein anderes Buch auf der Welt, kennt eine Verzweiflung, die so groß
ist, daß Menschen den Tod herbeisehnen, um diese Schmerzen
loszuwerden. Da erzählt Jesus von Menschen, die die Hügel
bitten werden, sie zu bedecken und die Berge, über sie zu
fallen, weil sie den furchtbaren Qualen ihres Gewissens auf diese Art zu entgehen hoffen. JudaS Jschariot war ein solcher, der diese unerträglich bohrenden Qualen nicht mehr
ertragen konnte und lieber alle Schrecken eines furchtbaren Todeö wählte, als das unauSlöschbare Feuer der Gewissens bisse weiter zu erdulden, das Sünde und Schuld ihm be reiteten. Ja gibt es etwas Furchtbareres alö auf ein durch eigene Schuld verpfuschtes und verdorbenes Leben blicken
zu müssen, als aus ganzem Herzen zu bereuen und doch keine Macht und keine Weisheit zu kennen, die daö Verdorbene
wieder in Ordnung bringen und das zerbrochene Glück wieder ganz machen kann? Daö ist wohl der brennendste Schmerz, den es geben kann, sehen müssen, was man an
gerichtet, waö man sich und anderen genommen, in seinem und im Leben anderer zerstört hat, und doch den nicht zu kennen, der helfen, vergeben und wieder gutmachen kann. Aber auch daö Herzeleid des verlorenen Sohnes und deö
bußfertigen Zöllners im Tempel, das Leid deö Schächers am
Kreuz über seine Sünde, sind echt und bitter genug gewesen. Und wenn unö die Augen aufgehen über unsere Schuld, dann sind auch wir um unseren Frieden und Freude gekom
men, bevor wir nicht den gefunden haben, der unö voll Liebe
i55
GolteS Antwort auf unser „Warum?" und Erbarmen sein liebes „Vergeben" und „Vergessen"
zuruft.
Und endlich sieht Johannes auch die große Schar derer im Geist, die unter anderen Menschen leiden, auf die die Hitze erbarmungslos
niederbrennt von einem Tag zum
andern und niemand ist da, der diese Verfolgungshitze und
die menschliche Bosheit von ihnen abwendet. Heute gibt
eö gewiß keine solchen Christenverfolgungen mehr wie einst mals, als Johannes seine Offenbarung schrieb, aber wie
Menschen auch in unserem geordneten Deutschland andere Menschen bedrängen und quälen können, das weiß jeder, der durch Amt und Beruf in das Leben seiner Mitmenschen tiefer hineinblicken muß. Wieviele Frauen leiden namenloses
Elend durch die Trunksucht ihrer Männer, welche Mißhand
lungen erdulden manche Kinder durch geradezu unmensch lich harte und schlechte Eltern, was für Leiden bereiten sich Ehegatten oft durch unbeherrschte Launen und unfreundliches
Wesen oder Untreue und Leichtsinn. Oft sind es grauenhafte
Marterwege, die Menschen unter uns gehen müssen und
können's doch niemand sagen, was sie fast zu Tode peinigt, weil sie nicht Schande und Verachtung auf das Haupt derer laden wollen, die ihnen nahestehen.
Es ist ein breiter, schwarzer Strom, der durch die Welt, unser Volk und Land zieht, und wessen Füße dieser Strom bespült oder wen er mit sich in seine dunklen Tiefen hinab
reißt, dem geht die Sonne unter und die Sterne erlöschen,
für den treten alle anderen Fragen in den Hintergrund vor der einen, die nun die wichtigste und größte geworden ist, i;6
Gottes Antwort auf unser „Warum?" vor der Frage „Warum?" Und das macht die Frage so
schwer und ernst, daß eine Antwort auf sie innerhalb der engen Schranken dieses Lebens nicht gefunden werden kann.
Denn, wie es für unser Verstehen unbegreiflich ist, warum ein junger, hoffnungsfreudiger Mensch oder ein eben erst
zum Leben erwachtes Kind sterben muß, während alte, keinem
Menschen mehr nützliche oder notwendige Menschen sich und
anderen zur Plage leben, so ist es uns auch unfaßlich, wenn wir uns nur auf dieses Leben beschränken, wie Gott das
unverschuldete Leiden hilfloser Kinder zulassen kann, oder
warum Gott trotz seiner Zusage für uns zu sorgen, Menschen
ihr halbes Leben lang in wirtschaftlicher Not läßt, ohne ihnen
die rettende Hand entgegenzustrecken. Das sind Geheim nisse, tiefe,
dunkle Geheimnisse,
die wir
nicht erraten
können, die uns Gott allein nur offenbaren kann. Das, was Johannes im heutigen Textwort schaut, gibt
eine Antwort auf manches „Warum". Da sieht er eine unabsehbare, unzählbare Schar Menschen vor dem Throne Jesu
stehen,
aus
allen
Völkern
der
Welt.
Lauter
frohe, selige, glückliche Menschen, die das überströmende
Dankbarkeitsgefühl ihres Herzens hinaussingen und jubeln
müssen, lauter schöne, geschmückte Menschen in strahlend
weißen Kleidem und mit strahlenden Augen.
Und doch
lauter Menschen, die aus dunkelster Nacht kommen, die auf
Erden hungerten und dursteten, die weinten und klagten,
und denen das Leben so viel Schweres aufgeladen hatte,
daß sie meinten, die Last nicht tragen zu können. Was war denn geschehen, daß solch eine wunderbare, unbegreifliche
Gotte« Antwort auf unser „Warum?" Veränderung mit ihnen vorgegangen war, daß ihre von Tränen getrübten Augen wieder strahlen und ihre Gesichter vor Freude leuchten
konnten?
Hatten sie
den natür
lichen und selbstverständlichen Ausgleich erlebt, in dem das
jenseitige Leben ihnen daö gab, waö das diesseitige Leben ihnen schuldig geblieben war? Ging eS ihnen wie Kindem, die die Eltern mit Liebe und Freundlichkeit überhäufen, um
sie die Schmerzen vergessen zu lassen, die sie ohne ihre Schuld ertragen mußten? Nein, das Leid ihres Lebens war nicht
ihr Verdienst, wofür sie nun den Lohn erhalten sollten. Leid trifft alle Erdenbürger, den einen so, daß man davon großes
Aufheben machen kann und tiefes Mitleid mit ihm haben
muß, den anderen im Verborgenen, daß nur er allein etwas davon weiß und sich in Schmerzen windet, ohne daß jemand
etwas davon erfährt. Und wer von uns besitzt den Maßstab, das Leid zu messen und gegeneinander zu vergleichen, daß
man abschätzen könnte, welcher Kreuzträger am schwersten zu tragen hat? Nein, das Leid, das die Menschen traf, war nicht ihr Ver
dienst — aber, daß sie zum Throne Gottes kamen mit
ihrer Last, daß sie unter ihrem Kreuz den Weg zu ihrem Er löser suchten, daS hat ihnen den wunderbaren Frieden in ihre
Herzen gezaubert und ließ
sie ausiubeln vor Seligkeit.
Denn das Leid selbst wird unö gegeben, daS bricht ungerufen
und unerwartet in unser Leben hinein, und wir müssen oft
die Hände in schmerzlicher Kraftlosigkeit sinken lassen, weil wir eS nicht von uns stoßen sönnen. Aber wohin wir mit unserem Kreuz gehen, das hängt von uns ab: der eine trägt
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Gottes Antwort auf unser „Warum?" es direkt in die Hölle, in die Hölle der Verbitterung und der
Ablehnung und Verfluchung Gottes, in den entsetzlichen Zustand, in dem es nicht nur um ihn dunkel ist, sondem
noch dunklere Nacht in seinem Herzen herrscht. Und der andere trägt sein Kreuz betend und vertrauend vor GotteS Thron,
er trägt es tapfer und aufrecht bergan auf die Höhen, wo GotteSStuhl steht. Zuerst wird eö ihm so sauer, daß er dar unter zusammenzubrechen droht, aber allmählich spürt er,
wie die Kräfte zunehmen, wie die Augen auf Dinge zu achten lernen, die er früher übersah, ja wie die Kräfte allmählich dazu reichen, den schwächeren Mitmenschen zu helfen, ihr
Kreuz zu tragen und zu erleichtern. Und da wird ihm das
Leid zum Segm und seine trüben Augen blicken zuversicht licher und sein weheö Herz spürt wieder Freude, reine wun
derbare Gottesfreude.
Aber nicht nur die, die unverschuldetes Leid getragen und überwunden haben, sammeln sich am Throne Gottes, son
dern auch solche, die die weißen, reinen Kleider, die Gott ihnen einst mitgab auf ihren Lebensweg, durch ihr leichtfer
tiges und unbedachtes, ja vielleicht auch böswilliges Wan dern durch den Schmutz der Sttaße verunreinigt hatten. Alle die, die daö bitterste Leid über ein verpfuschtes Leben beklagen, die an Totenbetten gestanden haben mit dem ent
setzlichen Bewußtsein im Herzen, nicht mehr sühnen und
gutmachen zu können, auf ihre Bitte: „Vergib mir" keine Antwott erhalten. Aber sie ttieb Schmerz und Reue nicht
auf den grauenhaften Weg des Verräters Judas oder auf
den Irrweg, in Vergnügungen und Ausschweifungen aller
159
Gottes Antwort auf unser „Warum?" Art oder in der Hetze und Hast der Arbeit Vergessen zu suchen,
sondern sie trieb ihr Schmerz zu dem, der allen solchen Leiden ein Ende bereitet, der die beschmutzten Kleider wieder rein
und weiß macht durch seine Gnade — zu Jesus. Durch seine
unendliche Liebe, die am Kreuz das Leben hingab für die
Sünder, sind sie geheilt von ihrem Elend und Schmerzen und sammeln sich in grenzenloser Dankbarkeit um diesen
Thron, der ihr ganzes Leben neu machte und ihm neuen
Sinn und Inhalt gab. Und denen, die am Throne Gottes
sich gesammelt haben, sind alle Tränen getrocknet und alles Leid ist aus ihrem Leben ausgeschaltet, ja sie alle, die unter Unglück und Trübsal schier verschmachteten, lächeln über all ihr Leid, seit sie unter dem wohnen, der auf dem Throne sitzet.
Was ist denn wunderbar Großes geschehen, was haben sie erlebt, daß sie nun befreit lächeln können über das, was
sie einst im furchtbaren Druck gefangen hielt und ihnen alle
Freude zerstörte? Meine lieben Mitchristen! Was da geschehen ist, können
wir nicht einmal von ferne ahnen. Eö ist so unfaßlich groß, so übermenschlich herrlich, daß keines Menschen Auge jemals
ähnliches gesehen und keines Menschen Ohr ähnliches ge hört hat, daß wir eS uns in seiner Auswirkung und Bedeu
tung nicht einmal vorstellen können — sie haben Gott von
Angesicht zu Angesicht gesehen, haben seine Güte und un faßbare Liebe erfahren, die so wunderbar zu trösten versteht,
daß alle Not und Trübsal ein Ende hat und für alle Zeiten
auS dem Gedächtnis und der Erinnerung gewischt ist.
Gottes Antwort auf unser „Warum?" Ahnst du vielleicht doch von ferne, welche Bedeutung es
für dich haben könnte, von diesem unfaßbar Herrlichen aus, daS vor uns liegt, dein Leben mit all seinen Enttäuschungen
und Lasten und Tränen zu beurteilen? Ahnst du nicht, wie sich im Licht der Offenbarung dessen, was kommen wird,
wenn wir GotteS Thron suchen, das Geheimnis, das über unserem Leide liegt, klären muß? Ahnst du nicht, wie auf die verzweifelte Frage „warum?" immer lauter, immer voll
tönender, immer vertrauenerweckender die
Antwort er
klingt: „Weil du reif werden solltest für die Ewigkeit, dar
um hast du Leid tragen müssen, denn ohne Kranz keine Krone." Und wenn wir diese wundersame Liebe GotteS
einst ganz erfahren werden, werden auch wir mit den
um den Thron Gescharten stammelnd nach Motten ringend antworten: „Amen, Lob und Ehre, Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit." Dann werden wir nichts mehr fragen, sondern
staunend schauen und selig sein.
Amen.