Sonntagspredigten für den Alltag [Reprint 2021 ed.] 9783112491768, 9783112491751


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Sonntagspredigten für den Alltag [Reprint 2021 ed.]
 9783112491768, 9783112491751

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Sonntagspre dig tcn für den Alltag von

Oskar Bruhns Pfarrer an der Markuskirche zu Leipzig

Leipzig / I. C- Hinrichs'sche Buchhandlung

Printed in Germany Druck von W. Hoppe, Borsdorf

Vorwort Eigentümliche Fügungen Gottes warfen mich aus der

gewohnten Bahn, in sibirische Verbannung. Den Alltag mit

allen seinen Nöten und Sorgen lernte ich in 6 Jahren, in denen ich in allen möglichen Stellungen um meine Existenz

ringen mußte, kennen. In den furchtbaren äußeren und inneren Kämpfen der bolschewistischen Revolution durfte ich als Seelsorger und Prediger evangelischer Gemeinden an der Grenze Asiens und Europas armen verlassenen Men­

schen helfen, ihr Leid zu tragen. Ohne daß ich es merkte oder ein bewußtes Programm

verfolgte, führte das Mitleiden mit den unter der Last des Alltags Iusammengebrochenen mich dazu, in meinen Pre­ digten daö rein Lehrhafte zurücktreten zu lassen, weil ich

im Angesicht dessen, was ich täglich an Herzeleid miterleben mußte, unter selbstverständlicher Vermeidung jeder hoch­ klingenden Rhetorik die alte Freudenbotschaft von dem Über­ winder alles Leides in möglichst schlichten Worten bringen

mußte. Auch im Deutschland der Inflationszeit fand ich

keinen Anlaß, diese Predigtart wesentlich zu ändern.

Als ich einige Jahre an meiner lieben Markusgemeinde in Leipzig gewirkt hatte, fand ich

bei Krankenbesuchen

und Seelsorgergängen Nachschriften meiner Predigten vor,

die treue Helfer hergestellt und verbreitet hatten. Einige von diesen handschriftlich verbreiteten Predigten waren in die Hände des Inhabers der I. C. Hinrichs'schen

Buchhandlung gelangt, der mir den unerwarteten und ehren­

den Vorschlag machte, ein Bändchen meiner Predigten herauSzugeben. Ich sagte trotz mancher Bedenken zu in der Hoffnung,

daß vielleicht diese aus eigenem Erleben der Nöte deö Alltags und ihrer Überwindung entstandenen Predigten hie und da jemandem in die Hände fallen, der sich nach einem Aus­

weg aus der Leere und Trostlosigkeit seines Lebens sehnt.

Der Verfasser.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

.................................................................................................. III

Das WeihnachtsgeheimniS.................................................................

i

Die Brücke in ein glückliches neues Äahr........................................ n Lebensbeherrschung.................................................................................. 24

Wer ist Gott?........................................................................................... 34

Echte Liebe

............................................................................................... 45

Drei Rätsel im Leben der Menschen

................................................ 54

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade............................................ 66

Die Bedeutung des Ostersieges

......................................................... 77

Der neue Geist........................................................................................... 87

Der neue Alltag...................................................................................... 98 Der Segen des Leidens........................................................................109

Was entscheidet über Sieg und Untergang?................................. 119 Erntefestgedanken für moderne Menschen......................................129

Was verdanken wir Luther?............................................................... 139

Gottes Antwort auf unser „Warum?".......................................... 150

Das Weihnachtsgeheimnis Luk. 2, 15—20. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen gen Beth­ lehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber ge­ sehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

Ich las neulich den Bericht eines deutschen Missionars, der im Auftrage seiner Gesellschaft eine Inspektionsreise nach Afrika unternommen hatte. Gerade in der Weihnachts­

zeit muß er bei furchtbarer Tropenhitze und ausdörrendem

Staub die Christen in Ientral-Afrika besuchen. Da, alö er

eines Nachmittags in ein Negerdorf kommt, wird er von dm Christen des Dorfes, an derm Spitze der Häuptling

steht, mit einem lieben, alten deutschen Weihnachtslied bei

Bruhns: Sonntagspredigten.

I

Das Weihnachtsgeheimnis grüßt.

Es ist Weihnachtsabend!

Am Abend soll er die

Christvesper mit einer Ansprache halten und zieht sich zurück, um sich dazu vorzubereiten. Aber die rechte Stimmung will

nicht kommen; er schließt die Augen und stellt sich den strah­ lenden Weihnachtsbaum und die beschneiten Wälder in seiner Heimat vor, aber nichts hilft. Die brütende Hitze und die

verstaubten Palmen verderben immer wieder die Stimmung.

Ich glaube, wir können es ihm nachfühlen, wie er darunter litt, daß

die Weihnachtsstimmung ausblieb;

alle Feste

können wir Deutschen uns zur Not auch zu ganz anderen

Zeiten denken. Ostern könnten wir schließlich auch im Som­ mer feiern und Pfingsten, wenn es sein sollte, im Winter, ohne daß wir eine die Stimmung vernichtende Disharmonie fühlen müßten. Aber Weihnachten ohne all das liebe Drum

und Dran können wir uns doch schwer vorstellen. Ich will dieses liebe Drum und Dran und die Weihnachts­ stimmung nicht schelten, aber es liegt doch die Gefahr recht

nahe, daß diese Dinge so zur Hauptsache werden, daß sie

auch in der kirchlichen Feier das völlig zurückdrängen, wozu diese Stimmung uns führen soll, und wir schließlich den

christlichen Kem deS Festes, das Gottgeoffenbarte, als Ballast oder vielleicht gar als störend und als Stillosigkeit emp­

finden. Wahrlich, es wäre eine Degradierung unseres Gottes­ dienstes, ja unseres ganzen Christenglaubens, wenn sie nur

als Erzeugerin einer schönen, feierlichen, vielleicht auch heiligen Stimmung gewertet und angesehen werden sollten.

Denn Stimmungen vergehen gar zu bald, und wenn wir

nach jedem stimmungsvollen Gottesdienst oder christlichem

Das Weihnachtsgeheimnis

Fest den Sprung in den nüchternen, stimmungslosen, so

ganz anders gearteten Alltag machen müßten, waren diese Feste vielleicht eher eine Qual als eine Ausspannung und Erbauung. Dann wären unsere Feiern nichts als das Vor­

täuschen einer Scheinwelt, die der Wirklichkeit nicht stand­ hält; dann wäre Religion wirklich nur Opium fürs Volk, ein Rauschgift, daö süßes Vergessen für kurze Zeit gibt, um dann einem schmerzlichen Erwachen Platz zu machen. Nein, Weihnachtsstimmung wollen wir unö zwar nicht nehmen lassen, sie ist uns als Erinnerung an eine liebe Ver­

gangenheit und als Brücke zu Höherem und Ewigem teuer und lieb, aber wir wollen uns nicht mit solch einer unzuver­

lässigen und vorübergehenden Sache begnügen, sondern unsere Feste sollen vor allem dazu dienen, uns neuen Willen, neuen Glauben und neue Kraft für unsern Alltag zu geben.

Wie dieser Übergang vom Feiertag-Erleben zum nüchternen

Alltag

sich

so

vollziehen

soll, daß

wir dadurch neue Anregungen für unser ganzes

Leben empfangen, das zeigt uns unser heutiger Text, vor allem die handelnden Personen in ihm.

Von der Hauptperson der Weihnachtsgeschichte,

von

Jesus ist hier nur ganz kurz berichtet: „Sie fanden daö Kind in der Krippe liegend", dieses wundersame Kindlein, dessen Geburt die Engel vom Himmel auf die Erde herab­

getrieben hatte, um die unfaßbare Mär den Menschen zu er-

zählen von dem König aller Königreiche, dem Heiland aller Welt zugleich, der schwach und arm und bloß nun lag in

Marien's Schoß.

Daö Weihnachtsgeheimnis Auch von Maria, nächst Jesus die Hauptperson der Weih­

nachtsgeschichte, wird nicht viel gesagt. Nur einen Satz finden

wir im heutigen Evangelium: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen." Aber wie

unendlich viel liegt in diesem einen Satz: welches demütige Sichbescheiden, welches stille Warten und selbstverständliche

Hinnehmen des Unbegreiflichen als Geheimnis, das man

in reinen Händen tragen muß, bis es auöreift und nicht durch

Reden und Schwatzen und Erklären entweihen darf, ehe Gott selbst es einmal offenbart. Mir will es manchmal scheinen, als sei es ein Mangel unserer

evangelischen Kirche, daß man alles Geheimnisvolle im christ­ lichen Glauben erklären und erläutem will, obwohl Gott, mit

dem wir Christen doch vor allem in unserem Glaubensleben zu tun haben, seinem Wesen nach stets der Unbegreifliche bleiben wird. Schon im Schulunterricht setzt dieses übettriebene Er­ klären wollen ein und wird vielfach in Konfirmandenunterricht

und Predigt fottgesetzt. Und oft ist den Erklärem nichts weiter

gelungen, als mit ungeschickter, täppisch zufassender Hand

eine lichte Welt kindlich frommen Glaubens zu zerstören, Gott in die irdisch begrenzte Welt herabzuziehen und aus ihm, dem unfaßlich Großen, einen

kleinen erbärmlichen

Götzen zu machen, der sich nach unseren Wünschen richten

muß und von unserem Verstand gelobt oder getadelt wird, je nachdem wir ihn begreifen und mit ihm zufrieden sind oder ihn unbegreiflich finden und uns deshalb über ihn

ärgern. Gott ist für uns ein Geheimnis, und all unser Ent­

rätseln dieses Geheimnisses ist Stümperei und führt auf

DaS WeihnachlSgeheimniS dauernde Irrwege. Wir müssen Ml warten, bis Gott selbst unS sein Geheimnis offenbatt, indem er uns langsam. Schritt

für Schritt, von einer Klarheit zur anderen führt. Wie können wir uns dann wundem, wenn auch über Weihnachten ein tiefes Geheimnis liegt, das Luther in die

Motte faßte: „Den aller Welt Kreis nicht beschloß, der liegt

in Matten Schoß." Kam doch Gott selbst zu Weihnachten auf die Erde, um uns Menschenkindem himmlisches Licht

und himmlischen Ftteden zu bringen. Mit verstandesmä­

ßigem Erraten kommen wir dem Kem des Geheimnisses im Grunde nicht um das geringste näher. Es bleibt letzten Endes ebenso unverständlich und geheimnisvoll, wenn Jo­

hannes sagt: „Das Wott ward Fleisch und wohnete unter uns", als wenn wir mit unserem apostolischen Glaubens­

bekenntnis in Anlehnung an Matthäus und Lukas das Ge­

heimnis in die Motte fassen: „Empfangen vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Matta."

Unfaßbarer als das Wie der Menschwerdung bleibt, daß Gott sein Wesen aufgab und als armes Menschenkind

auf die Erde kam zu verdorbmen, nichtswürdigen Menschen­

kindem, aus lauter unbegreiflicher Liebe. Erklären können

wir dieses Geheimnis der übermenschlichen Liebe Gottes nicht, und wir wollen und dürfen es auch nicht erklärm,

dmn das hieße die nüchteme leere Verstandeswelt auch an Stelle dieses WeihnachtöheiligtumS setzen, und daS wäre

keine Bereicherung,

sondem nur eine neue Verarmung

unserer Seele. Oder gehörst du zu den nüchtemen, trockenm

Menschen, die auch die Weihnachtsfeier alles Geheimnis-

Das Weihnachtsgeheimnis vollen entkleiden möchten? Ich hörte einst von nüchternen, gemütöarmen Menschen, die aus falschem WahrheitSfana-

tiSmuS ihre Weihnachtsfeier alles Geheimnisvollen be­

raubten: Alle Sachen, die sie kauften, zeigten sie gleich ihren Kindern, um festzustellen, ob sie dem Geschmack der Kinder

entsprachen oder umgetauscht werden sollten. Das Schmükken des WeihnachtöbaumeS überließen sie ihren Kindern, daS Auflegen der Geschenke wurde gemeinsam besorgt, die

Lichter gemeinsam entzündet, und weder Peihnachtölieder

noch Weihnachtsevangelium gab es für ihre Feier. Kann diese traurige Nüchternheit unser Ideal sein? Sehnt sich nicht

unser Herz und Gemüt nach dem großen Geheimnisvollen, daS wir still anbeten und verehren können wie die Hirten

es taten? Ist eS nicht das tiefe, unfaßbare Geheimnis, das

über der Sternenwelt liegt, was unS zur feierlich heiligen Anbetung Gottes unter der glitzemden, flimmemden Ster­ nenpracht führt? Dehnt nicht die geheimnisvolle Weite des Meeres unsere Brust in Sehnsucht: Wie wundervoll muß

eS dort jenseits der glänzenden blauen Meeresfläche sein in

jenem geheimnisvollen, weil unsichtbarem Lande am anderen Ufer? Nüchternes Wissen und nüchterne Rechenexempel

kann niemand verehren oder anbeten, sie werden als be­ griffen und angeeignet, im günstigsten Fall zu weiterem ge­

legentlichen Gebrauch registriert und beiseitegestellt.

Ein

heiliges Geheimnis läßt unS nicht los, das bleibt in einem

reinen Herzen, daß wir es darin bewahren und bewegen und verehrend anbeten, so wie es Maria tat. Jahr um Jahr hat sie das Geheimnis, das über ihrem

Das Weihnacht«geheimnis Sohn und über seiner Geburt schwebte, in ihrem Herzen bewegt. 3n stillen Stunden holte sie es hervor und dachte ihm nach, ein Mosaiksteinchen trug sie zum anderen, um

daö wunderbare, geheimnisvolle Bild Jesu zu vervollstän­

digen, das seit Weihnachten in ihrer Seele ruhte. MS der Zwölfjährige ihr damals im Tempel sagte: „Muß ich nicht

sein in dem, was meines Vaters ist", und als der Erwach­ sene auf der Hochzeit zu Kana sein scheinbar hartes: „Weib, was hab ich mit dir zu schaffen?" sprach, da wurde das

Geheimnis immer dichter und unfaßbarer, ohne daß sie sich an dem Unbegreiflichen stieß. Nur einmal, als er öffent­

lich auftrat und sich um Hals und Leben zu reden schien, als er weder Gesundheit noch Ruhe schonte, sondern unent­

wegt heilte und lehrte und liebte, da wurde sie an seinem ge­

sunden Menschenverstand irre und glaubte als liebende Mutter ihn bevormunden und ihn ins schützende Elternhaus zurückbringen zu müssen. Und als sie unter dem Kreuze stand, an dem in unmenschlicher Qual der stöhnte und schrie, dem

sie einst in der heiligen Nacht, stillen Nacht das Leben gegeben, da fuhr ein Schwert durch ihr Mutterherz, das Schwert

des schneidenden Schmerzes. Und als er, auf den sie all ihre

Hoffnung gesetzt hatte, am Kreuz sein Leben aushauchte, da wurde das Geheimnis, das sie in ihrem Herzen bewahrte,

so riesengroß, daß es ihr Herz zu zersprengen drohte, weil sie meinte, der Bethlehem-Stern, der Stern ihres Lebens sei untergegangen, versunken in unbegreiflichem, geheimnis­

vollem Dunkel. Aber da, als sie meinte, das Dunkel niemals zu begreifen, offenbarte ihr Gott zu Ostern und zu Himmel-

DaS Weihnachtsgeheimnis fahrt das tiefe Geheimnis der Weihnachten; durch Nacht und Schmerz war sie zu wundervoll strahlendem Licht hin­

durchgedrungen, ihr Glauben war Schauen und ihre Sehn­ sucht Erfüllung geworden. Können wir nicht auch Ähnliches erfahren? Muffen wir es nicht auch erleben, daß wir vor undurchdringlichen Rät­

seln stehen, sodaß wir keinerlei Licht mehr sehen und unser ganzer Lebensweg in Dunkel und Nebel versunken zu sein

scheint, bis endlich einmal Gott unö das Geheimnis unseres Lebens offenbart und wir den Hellen Stern der Liebe un­ seres Gottes in dunkler Nacht auch über uns strahlen sehen.

Wie wir aus dem Dunkel zur Helligkeit gelangen können, das zeigen uns die Hirten in unserem Evangelium.

Auch ihnen war das wunderbarste Weihnachtserlebnis beschieden worden, so überwältigend groß, so herrlich stim­ mungsvoll, daß wohl manche von uns an ihrer Stelle ge­

meint hätten, diese weihevolle Stimmung nicht durch Um­

herirren und Suchen in dunkler Nacht stören zu dürfen. Ob nicht die meisten von uns dieses Erlebnis des Engelge­ sanges in stimmungsvollem stillen Sitzen am Feuer hätten ausklingen lassen: Die Erinnerungen werden ja so herrlich

lebendig, wenn man in verglimmende Glut starren kann, während rund um uns die Finsternis wie mit einer dicken

Wand uns abschließt gegen alle störenden Eindrücke. Oder wir hätten an Stelle der Hirten den verschwindenden Engeln

nachgeschaut, bis die Klarheit des Herrn, die um sie her ge­ leuchtet hatte, ganz erlosch und wieder ein Stern nach dem

andern aufgetaucht wäre aus unendlicher Tiefe des Himmels,

Das Weihnachtsgeheimnis UM in seiner stillen Weise die Ehre Gottes zu verkündigen.

Aber den Hirten war etwas anderes weit wichtiger als alle heiligen Weihnachtsstimmungen; sie mufften daS tun, waö

der Engel Gottes ihnen aufgettagen hatte — Suchen und

Forschen. In die dunkle, kalte Nacht laufen sie, von Haus zu Haus, von Mensch zu Mensch, fragend und forschend,

bis sie endlich das Kind in der Krippe finden und eö in wort­ losem Staunen und Dank anbeten können.

Lieber Mitchrist, auch dein und mein Weg heißt Suchen und Forschen. Wie manches wundersame Erleben der Liebe

und manche Hilfe Gottes ist an uns vorübergegangen, ohne eine bleibende Spur zu hinterlassen. 3m Augenblick war daS

Erleben vielleicht überwältigend, so daß wir spürten, daß

wir auf heiligem Boden standen und Gott, der Geheimnis­ volle, Allmächtige in unser Leben getreten war. Aber dann

blieben wir vielleicht im Sttmmungsvollen stecken, oder

wir vergaßen das Erlebnis oder ließen es uns durch Lust und Last deS Lebens Stück für Stück nehmen. O wäre auf

das Erlebnis das Suchen gefolgt, wie anders sähe unser

Leben aus! Zwar braucht auf das Suchen das Finden nicht so schnell zu folgen wie bei denHitten, eS wird oft ein ganzes

Menschenleben währen wie bei der Maria. Wir werden auch nicht immer auf dem geradesten Wege bergauf gehen, son6cm durch manches Dunkel hindurch müssen, vielleicht

auch manchesmal daS Irrewerden an Jesus streifen, wie Maria und Johannes der Täufer es erleben mußten, die

doch wohl die Menschen sind, die dem zu Weihnachten mensch­

gewordenen Geheimnis Gottes am nächsten gestanden haben.

Das Weihnachtsgeheimnis Aber wer das Suchen als seine heiligste Aufgabe erkannt hat, der soll eS wissen, daß auf sein Suchen stets das Finden folgt, weil Gott eS dem Aufrichtigen gelingen läßt. Er wird uns das Geheimnis dann offenbaren, wenn wir dazu reif geworden find und unsere Augen das ertragen können, was keines Menschen Auge je geschaut und unsere Ohren das

fassen können, was keines Menschen Ohr gehört hat. AuS

unseren Weihnachtsstimmungen soll das Weihnachts-Erleb­ nis werden, das Paul Gerhardt in die wundervollen Worte gefaßt hat:

„Ich lag in tiefer Todeönacht, du wurdest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und

Wonne." O, daß doch die Weihnachtssonne immer Heller und strah­

lender in unser Leben, in das Sonntags- und Alltagsleben

scheinen möge, bis wir selbst zu Trägem dieser Sonne wer­ den, daß sie durch uns auch anderen scheinen kann, wie es

einst die Hirten taten! Dann werden wir betend und sehnend mit dem Dichter singen können:

„Ich sehe dich mit Freuden an und kann nicht satt mich sehen,

und weil ich nun nicht weiter kann,

bleib ich anbetend stehen.

O daß mein Sinn ein Abgrund wär

und meine Seel ein weites Meer, daß ich dich möchte fassen!"

Amen.

io

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr Luk. 12, 4—9.

Ich sage euch aber, meinen Freunden: Fürchtet

euch nicht vor denen, die den Leib töten, und darnach nichts mehr

tun können. Ich will euch aber zeigen, vor welchen ihr euch fürchten sollt: Fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht

hat, zu werfen in die Hölle. Ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch. Verkauft man nicht fünf Sperlinge um zwei Pfennige? Dennoch ist

vor Gott deren nicht eines vergessen. Aber auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser denn viele Sperlinge. Ich sage euch aber: Wer mich bekennet vor den

Menschen, den wird auch des Menschen Sohn bekennen vor den En­

geln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird

verleugnet werden vor den Engeln Gottes.

Jedesmal, wenn die Uhren in der Sylvesternacht zum Schlag zwölf ausholen, ertönt ein lautes Hurrarufen und

Sichbeglückwünschen in den Häusern, das sich dann auf die Straßen und Plätze der Stadt überträgt und in lautes

Jubelgeschrei und lärmendes Getöse aller Art übergeht.

Macht es nun die Erinnerung an den stillen, feierlichen

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr Empfang des neuen Jahres m meinem Elternhause, macht es eine Natur- oder Charakterveranlagung, die alles laute zur Schautragen der Gefühle unangenehm empfindet; In mir hat jedesmal dieses laute Getöse in dieser Stunde ein

leises Unbehagen hervorgerufen, das je länger ich über das­

selbe nachdenke, desto tiefer und ernster wird. Wir mögen

es kehren und wenden wie wir wollen, es ist und bleibt doch eine ungeheuer ernste Stunde, wenn wieder ein Jahr seinen

Abschluß gefunden hat, wenn wieder ein Jahr, ein Stück

unseres viel zu kurzen Lebens, unwiederbringlich in den Ab­ grund der Vergangenheit geglitten ist, von dem es nie wieder

hervorsteigen wird. Sollte Silvester gerade für die, die nach dem Tode nichts mehr erwarten, die an keine Ewigkeit glau­

ben, nicht wie eine trübe, herzzerreißende Abschiedsstunde erscheinen, wenn ein kostbares Stück ihres ach, so kurzen Lebens von ihnen geht? Wie kommen aber nun gerade die, die keine innere Verbindung mit Gott haben zu diesem Jubel,

denn gerade aus ihren Kreisen erschallt er am lautesten und aufdringlichsten? Was soll dieser Jubel? Ist er weiter nichts als gedankenloses Mitmachen eines allgemein herrschenden

Brauches? Oder ist er vielleicht ein instinktiver Versuch, durch lautes Lärmen die tiefe Wehmut und die blasse Angst vor dem rasenden Lauf der Zeit zu übertönen und zu ver­

gessen; will man das Gewissen überschreien, das sonst in

dieser Nacht unbequeme und ernste Fragen an sie richten würde?

Sei dem wie es wolle, wir wollen uns nicht scheuen, heute am Anfang des neuen Jahres, das vor uns austaucht.

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr nachdem das alte zu allen anderen früheren Jahren gegangen ist, ernsten Gedanken nachzugehen. Wir wollen nicht ängst­

lich der Wahrheit aus dem Wege gehen, sondern heute, wo

wieder einmal die Vergänglichkeit erschreckend deutlich und

groß vor unS steht, uns auf das besinnen, waS im Wechsel der Zeit, im beängstigend schnellen Laufe dem Ende ent­

gegen, stehen bleibt. Und da tritt uns in dieser Feierstunde Gott entgegen, an

dem die Jahre spurlos vorüberrauschen; der heute derselbe

ist wie vor Anfang der Zeiten und wie er in alle Ewigkeit sein wird, wenn der letzte menschliche Jubel auf Erden ver­ klungen ist und der letzte menschliche Schrei und Seufzer

im All erstorben ist. Und zu diesem Gott, der das ewige Leben ist, gibt es eine Brücke für uns arme, erdgeborene,

erdgebundene Menschenkinder, eine Brücke, die auf drei Pfeilern ruht. Und die drei Pfeiler heißen: Gottesfurcht,

Gottvertrauen, Gottesliebe.

Fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht hat, zu werfen in die Hölle. Gottesfurcht! DaS ist das erste, was unser Predigttext unS zu sagen hat. Liebe

Mitchristen! Der erste Schritt zu Gott hin ist die Ehrfurcht. Wer keine Ehrfurcht hat, wer alles ehrfurchtslos bespöttelt

und belächelt, wem nichts heilig und groß und erhaben ist, der wird niemals Gott finden. Daö ist ja ein Zug, der sich in jetziger Zeit in so unendlich vielem ausgeprägt und sich zeigt

— die Menschheit sehnt sich nach etwas, vor dem sie sich in Ehrfurcht beugen kann. Wohl ertönt noch der Ruf hie und da, so wie jüngst auf einer Jugendweihe: „Seid ehrfurchtö-

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr los, das ist eure Rettung!" aber in den besseren, tieferen, besinnlicheren Seelen findet er keinen Widerhall, sondern

erweckt Abscheu. Durch unsere Jugend geht ein tiefes Sehnen nach etwas, das zur Ehrfurcht zwingt, man will Führer

durchs Leben haben, man will zu Großem aufblicken können. Eö gibt immer wieder Gelegenheiten zu beobachten, wie

auch die älteren Menschen sich gerade solchen Sttömungen und Richtungen, solchen Propheten und Führem anschließen,

die bewußt mit der Ehrfurchtölosigkeit ein Ende machen, die etwas zu geben haben, was zur Anbetung und ehrfurchts­ vollen Verehrung zwingt. Es ist, als fingen den Menschen

an die Augen darüber aufzugehen, wohin EhrfurchtSlosig-

keit führen muß, als merkten sie es immer deutlicher, daß

für sie nur zwei Wege gangbar sind — entweder Gottes­

furcht oder Menschenfurcht; entweder Ehrfurcht vor dem allmächtigen, ewigen Gott und Beugung unter seine maje­ stätische, reine Autorität, oder aber Gottlosigkeit, die zur

Anbetung von menschlicher Autorität und zu elender Men­

schenfurcht führt. Ich hatte neulich einmal mit einem aus der Kirche AuSgettetenen ein Gespräch, welcher erklärte,

er sei wie erlöst und fühle sich frei von lästigen Fesseln. Er hätte nun an Stelle des toten Autoritätsgottes die lebendige

Autorität der Wissenschaft gefunden. Nun hätte er die Wahr­

heit in der Wissenschaft entdeckt und nannte mir das, waö er unter Wissenschaft verstand — Broschüren von einem volkstümlichen Schriftsteller, der nie von der Wissenschaft ernst genommen, und schon lange zum alten Eisen geworfen worden war. Auf dessen Meinung schwor er, das war ihm

Die Brück« in ein glückliches neues Jahr Offenbarung der Wahrheit geworden. Eine kleine, lächerlich

gewordene Autorität gegen die Autorität Gottes. Das war

das Endresultat seines Fleißes, das er für Befreiung von den Fesseln des Autoritätsglaubens hielt.

Kennen wir nicht alle eine andere Fessel, die uns die

Freiheit nimmt und die Freude am Leben — ich meine die Menschenfurcht? Einst sagte Bismarck das stolze Wort: „Wir

Deutschen fürchten Gott und sonst niemand in der Welt." Wie oft muß man daS Wort umkehren: „Wir fürchten nicht mehr Gott und sonst alles auf der Welt." Worauf müssen die Menschen nicht alles Rücksicht nehmen, vor wem müssen

sie sich nicht ängstlich verstecken! Blicken wir auf unsere

Presse, die leider in jetziger Zeit die Führung der Massen in der Hand hat: Wie oft muß sie die Wahrheit unterdrücken aus Rücksicht auf geschäftliche Interessen; wie entstellt sie die Nachrichten aus Rücksicht auf ihre Geldgeber

oder

unterstützenden Kreise; traurige Menschenfurcht hat sie in

Fesseln geschlagen. Denken wir an unsere Parteiführer, wie sie oft gegen ihr besseres Gewissen für schlechte und irrige

Dinge eintreten, aus Rücksicht auf die Stimmen ihrer Wähler. Denken wir an die elende Kompromißpolitik unserer Re­ gierungen, ja an so manches klägliche Kompromiß, das im Laufe der Zeit auch unsere Kirchen haben abschließen müssen,

weil sie nicht den Mut fanden, sich ganz auf Gott zu stellen,

sondem immer auch mit der sündigen Welt liebäugelten. Wenn schon die Führer solche Wege haben gehen müssen,

kann es unS da noch wundern, wenn das Leben der Geführ­

ten, wenn unser eigenes Leben einem Hin- und Herlavieren

15

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr gleicht, einem IickzackkurS, den man gegen fein besseres

Wissen führt, um nur ja nirgends anzustoßen und möglichst

ungeschoren durchs Leben zu gehen. Nur nicht auffallen,

nur nicht anders sein wie die anderen, nur sich keinen Un­ annehmlichkeiten, keinem Spott, keinem Achselzucken oder Kopfschütteln aussetzen — das ist doch, man möchte fast

sagen, landläufige Lebensklugheit geworden. O wie unfrei sind wir geworden! Wie gebunden durch all die kleinen Rücksichten, wie getrieben durch eine klägliche Angst vor den Schreckgespenstern: öffentliche Meinung, ge­ sellschaftliche Stellung, Klatsch der Menge, Mode und Sitte.

Arme Sklaven, die nicht mehr die Kraft haben, sich zu be-

freten, die sich vielleicht in den besten Stunden ihrer Ketten

schämen, die ihre eigene Angst vielleicht auch bei klarem Nachdenken lächerlich finden und die doch nichts und nie­ mand haben, der sie befreit. Und doch ist die Befreiung so

nahe, doch könnte eine innere Umstellung sie so leicht be­

wirken. Gottesfurcht heißt der Auögang aus unserem Gefängnis, Gottesfurcht heißt die Befreiung von den

schmählichen Fesseln. Ich hatte einmal schwere Sorgen und Ärger gehabt, ich sah keinen Ausweg aus einer Lage, in die ich hineingeraten war, in der mir an sich Kleines riesen­

groß und unüberwindlich schien. Da hatte ich an demselben Tage Gelegenheit, von einem hohen, steil abfallenden Aus­ sichtspunkt in den Ort hineinzublicken, in dem mich die vielen Sorgen unfrei machten. Und als ich in den Straßen die Menschlein wimmeln und herumkrabbeln sah, die sich

und ihre Umgebung so unendlich wichtig nahmen und doch

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr so winzig klein waren, da kam die Befreiung von der großen

Last, und ich konnte wieder daö Kleine klein und das Un­ wichtige unwichtig sehen, ich hatte den AuSweg gefunden,

mutig Schluß zu machen mit den feigen, falschen Rücksichten. DaS ist es, was wahre Gottesfurcht uns gibt, wer sich vor

dem allmächtigen, gewaltigen Gott beugt, wer Ehrfurcht

empfindet und immer in dieser Ehrfurcht lebt, wer zu ihm in Ehrfurcht aufblickt, zu dem Großen, der Wolken, Luft

und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der den Strömen ihre Bahn weist und die Welten in seiner Hand hält wie Staub- und Sandkörnchen, der kann daö kleine Gewimmel

rundum nicht mehr so ernst nehmen wie bisher, der hat einen anderen, großen Maßstab in seine Hand bekommen, durch

den ihm das Kleine auch klein und gleichgültig erscheint. Willst du wirklich im neuen Jahr wieder dich beugen und

bücken, verstecken und um ein mutiges Bekennen herum­ drücken wie vielleicht bisher, und dabei deine Ruhe und Le­

bensfreude und dein inneres Gleichgewicht verlieren, oder

willst du es nicht versuchen, dich in Ehrfurcht vor dem allein

großen und guten und starken Gott zu beugen und ihm zu

folgen und von ihm dir Rat zu holen? Willst du nicht lieber ihm dienen und ihm gehorsam werden, als den vielen anderen kleinen Göttern und Götzen, die dich unfrei und unfroh machen? Wir wollen uns in Ehrfurcht zu ihm be­

kennen und in rechter Gottesfurcht uns vor ihm beugen,

denn es ist ja nicht nur Gottesfurcht, das uns mit Gott verbinden soll, sondern auch Gottvertrauen. Gottvertrauen steht den Menschen im allgemeinen

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr

näher und ist ihnen selbstverständlicher als Gottesfurcht.

Wie viel häufiger hött man aus dem Munde der Menschen die Versicherung: „Ich habe Gottverttauen" als die Er­

klärung: „Ich habe Gottesfurcht!" Und doch ist der größte Mangel deö Gottverttauens der meisten Menschen, daß sie meinen, Gott verttauen zu dürfen, ohne gottesfürchtig zu sein. Es ist wohl die häufigste Klage, die wir Geistlichen

aus dem Munde unserer Gemeindeglieder hören: „Ich hatte früher so festes, sicheres Gottverttauen, aber Gott hat meine

Bitte damals, als ich ihn in großer Bedrängnis anflehte, nicht erhört, jetzt kann ich ihm nicht mehr verttauen." Oder:

„Seitdem es mir schlecht geht im Leben, seitdem ich schuld­ los leiden muß, kann ich Gott nicht mehr verttauen." Habt ihr, die ihr solche Klagen gehött oder gar selbst ausgesprochen habt, schon einmal darüber nachgedacht, woher sie kommen? Sollte vielleicht am Schwinden deö VerttauenS Gott die

Schuld ttagen oder liegt sie nicht weit mehr an uns selbst? Bilden wir uns vielleicht ein, daß Gott unseren Willen er­

füllen, alle unsere Wünsche uns von den Augen ablesen,

allen unseren Launen nachgeben muß? Glauben wir denn wirklich im Ernst, daß Gott nichts weiter ist als unsere

Privatversicherungöanstalt gegen Unglücköfälle und Miß­ stände aller Att? Glauben wir wirklich ein Recht zu haben, zu meinen, daß bei unserem Verhältnis zu Gott wir zu be­

fehlen und er zu gehorchen hat? Äst's nicht Mangel an Ach­

tung vor Gott, solches Ansinnen zu stellen? Sogenanntes Gottverttauen ohne Ehrfurcht vor Gott ist nichts weiter als eine Degradierung, eine Herabwürdigung Gottes von

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr seiner Stellung als Herr der Welt, zur unwürdigen Stel­

lung eines Dieners für unsere Wünsche und Begierden. Und wer nicht Gott groß und allmächtig erschauernd erkannt hat, dessen Vertrauen wird auch nicht standhalten in Zeiten der Not und Enttäuschung.

Aber hat sich Gott uns nicht in einer Macht und Erhaben­

heit sondergleichen in den letzten Jahren gezeigt? Könnt ihr,

die ihr ihn über die Schlachtfelder gehen sahet in seiner furchtbaren Stärke oder ihr, die ihr eö miterleben durftet,

wie er Völker und Reiche in seinem Zorn zerttat und zer­ störte, dürft ihr wirklich noch davon reden, daß ihr ein Recht darauf habt, von ihm, dem Allmächtigen bedient zu werden,

und daß ihr ein Recht habt, ihm zu zürnen, wenn er euch einmal andere Wege führt, als ihr gern gegangen wäret?

Klingt eS nicht vielmehr wie ein unfaßbar großes Geschenk, eine Gnade ohnegleichen, wenn es im heutigen Text heißt: „Auch sind eure Haare auf eurem Haupt alle gezählt."

O, wenn wir doch wirkliches, rechtes, demütiges Gott-

verttauen lernen wollten, daß wir ins neue Jahr mit diesem Gottverttauen gewappnet treten können! Wie geborgen

dürften wir uns dann fühlen! Gottverttauen heißt: blind, ohne zu fragen und wenn eS sein soll ohne zu murren, seine

Hand in die Hand Gottes legen und sich von ihm führen lassen, wohin er will. Da kann eö einem wohl geschehen,

daß man lange im Dunkeln gehen muß, daß man Anfang

und Ziel des Weges weder sieht noch ahnt, aber wenn man

nur die feste, starke Hand Gottes festhält, dann wird eö bald heller und klarer werden um uns. Wir werden schon

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr ahnend Ziel und Zweck des Weges unterscheiden lernen und

allmählich immer mehr und mehr in die Helligkeit Gottes

treten, bis unö endlich der lichte, strahlende Schein der vollen Gottessonne umleuchtet und uns die Augen aufgehen: Gottes Wege sind wohl oft wunderlich und anders als

unsere Wege, aber wer sie rückschauend überblickt, der kann nicht genug staunen über Gottes Weisheit und über seine

Voraussicht bis ins Kleinste und Allerkleinste hinein.

Vor uns liegt ein neues Jahr im Nebel der Zukunft ver­ borgen. Wer kann die Einzelheiten deuten und unterscheiden?

Aber eins können wir doch sagen: Es wird uns so mancher Wunsch, den wir hegen, nicht in Erfüllung gehen, es wird

so manche Wolke über uns hinwegziehen, und die dunklen Stunden werden dieses Jahr ebensowenig ausbleiben, wie

sie je sonst fortgeblieben sind. Aber was auch kommen mag — wenn wir ein kindliches Vertrauen haben zu Gott, der helfen kann, weil er groß und mächtig ist, und helfen will, weil

er nichts in seinem großen Haushalt vergißt und zwecklos umkommen läßt, weder den Sperling auf dem Dach, noch die Blumen auf dem Felde, am wenigsten uns, seine Kinder.

— Wenn wir mit diesem Verttauen inS neue Jahr gehen, das auch dann nicht versagt, wenn manches nicht so kommt,

wie wir es erwarten zu dürfen meinten, dann sind wir ge­

borgen, dann können wir getrost vorwärts schreiten ins Ungewisse, denn Gott ist bei uns. Gottesfurcht und Gott-

verttauen sind die beiden Pfeiler, auf denen die Verbindung

zwischen uns und Gott auftechterhalten wird. Und dazu

kommt noch ein drittes, das ich am liebsten mit der helfenden

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr

Hand vergleichen möchte, die von jenseits sich uns entgegen­

streckt und uns zieht und stützt, damit wir den Schritt ins Reich Gottes wagen. Das dritte und größte ist: Gottes

Liebe. Noch von Weihnachten her klingt es in unseren Ohren,

das große, wunderbare: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab!" Und wenn es im heutigen Text heißt, Gott könne uns nicht vergessen, da wir

doch besser sind wie die Sperlinge auf dem Dach, so ist damit nicht bloß gemeint, daß Gott ein sorglicher Hausvater ist,

der nichts verderben läßt, was noch Wert hat in seinem Haushalt, sondern es heißt vor allem: Gott kann euch nicht

vergessen und kann auch nichts verderben lassen, weil er

euch so lieb hat. — Lieber Mitchrist! Wenn du zurückdenkst an die verflossenen Jahre deines Lebens: Hast du nicht Gottes Liebe auch manchmal ergreifend und überwältigend

groß in deinem Leben gespürt? Denk' an deine sonnigen Kindertage, denk' an dein Eltemhaus, an deine Eltern, die

dir das beste geben wollten und die dich auf Händen trugen, denk' an die glücklichen Tage und Zeiten deines Lebens, wo

alles eitel Lust und Sonnenschein um dich und in dir war— hast du da nicht Gottes Liebe gespürt? O, wenn es dir manch­ mal in trüben Stunden des Leides und der Enttäuschung

geschienen hat, als hätte dich Gott garnicht mehr lieb, dann hattest du einfach all den Reichtum des Glückes vergessen,

den auch du einst genossen hast. Und wie war es in deinen

trüben, dunklen Stunden? Hast du nicht damals Gottes Liebe ganz besonders deutlich gespürt oder zum mindesten,

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr du hättest sie spüren und erfahren können, wenn du nur

gewollt hättest. Gott ist mit unö gegangen unser ganzes

langes Leben hindurch. Wir sind manchmal unö selbst untreu

geworden — Gott ist stets derselbe geblieben in seiner Liebe und in seiner Güte. Ja, diese Liebe GotteS ist es, die selbst das

Sterbezimmer eines

Christen

zu

einem

heiligen,

strahlenden Tempel Gottes machen kann, von dem die, die eintteten „fühlen", das Land wo ich stehe ist heiliges Land.

Denn es ist heiliges Land, wo ein leidender, mit dem Tode ringender Mensch ganz kindlich vertrauensvoll seine Seele

in GotteS Hände legt, ohne alle Furcht und ohne gittern,

weil er weiß: „Die Liebe höret nimmer auf." So, wie die Liebe

Gottes mich auf Erden beschirmt und erfreut und getröstet hat, so wird und muß dieselbe Liebe mich aufnehmen, wenn

ich an die Himmelspforte klopfe, denn über meinem Leben und Sterben stehen die Worte Gottes: „Ich habe dich je und je ge-

liebet, und darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte." Gottesfurcht, Gottvertrauen, GotteSliebe — wer diese drei Dinge im Herzen hat, der kann ohne Scheu und

Angst Jahresschluß und Neujahr feiern, den erschreckt nicht

der rasende Lauf der Jahre, den ängstigt nicht daö heran­ nahende Ende, er fühlt sich völlig geborgen in GotteS Hand.

Der schickt auf der Schwelle des neuen Jahres einen dank­ baren Blick zurück ins vergangene Jahr — bis hierher hat

der Herr geholfen — wie herrlich, wie unerforschlich groß sind seine Wege — und der schreitet hoch erhobenen Hauptes ins neue Jahr hinein. Auch dann, wenn es sein letztes hier

auf Erden sein sollte.

Die Brücke in ein glückliches neues Jahr

Einst saß der alternde Bismarck mit seinen Freunden auf

der Terrasse seines Hauses in Fn'edrichsruh und blickte über die Baumriesen des Sachsenwaldes

hinweg auf die am

Himmel aufblitzenden Sterne. Da sagte er: „Wenn man

diese ganze große Natur sieht, so ist es doch unmöglich zu begreifen, daß Gott sich um jeden einzelnen Menschen kümmern sollte. Und doch", fuhr er nach einer kurzen Pause

fort, „ich habe eö unzählige Male in meinem Leben erfahren, daß er sich um jeden persönlich kümmert."

Gott mit uns, das ist der Halt, den wir haben, wenn wir in's Dunkel blicken und ins Ungewisse schreiten. Darum vor­

wärts mit Gott ins neue Jahr, der Herr unser Gott segne euch und behüte euch!

Amen.

Lebensbeherrschung i. MoseS 50, 15—21. Die Brüder aber Josephs fürchteten sich, da ihr Vater gestorben war, und sprachen: Joseph möchte uns gram sein und vergelten alle Bosheit, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tod und sprach: Also sollt ihr Joseph sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Misse­ tat und ihre Sünde, daß sie so übel an dir getan haben. So vergib doch nun diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters. Aber Joseph weinte, da sie solches mit ihm redeten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Joseph sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich bin unter Gott. Ihr gedachtet's böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, daß er täte, wie es jetzt am Tage ist, zu erhallen viel Volks. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch versorgen und eure Kinder. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Wie viele Menschen gibt es unter uns, auch gerade in unserer Gemeinde, die unter ihrem Alltag leiden, unter den

Sorgen und Rätseln des Lebens. Da gibt es manche, die fortgesetzt unter irgendeinem Menschen, von dem sie nicht

loskommen können, seufzen, sei eö nun in der Ehe oder im Dienste — sie können ihm nichts zu Gefallen und Dank

Lebensbeherrschung tun, sie haben oft den Eindruck, als hätte er es nur darauf

abgesehen, ihnen daS Leben schwer und

unerträglich zu

machen, und das nimmt ihnen jede Freude und Frieden. Oder andere leiden unter ihren Wohnungsverhältnissen, sie sind durch die Wohnungsnot gezwungen mit Menschen eine

Wohnung zu teilen, mit denen sie sich nicht verstehen, die

sie bei jeder Gelegenheit schikanieren und ihnen daö Leben

zur Hölle machen, oder sie haben Nachbarn im Hause, mit denen es alle Augenblicke Jank und Streit gibt, obwohl sie selbst nichts mehr ersehnen als Frieden und ein stilles, ruhi­

ges Leben. Und wieder andere haben schwere Nahrungs­ sorgen, entweder sind sie arbeitslos geworden, oder ihr Ge­

schäft oder Handwerk wirft nicht soviel ab, wie sie zum Leben brauchen, oder Krankheit hindert sie am Verdienen des Le­ bensunterhaltes. Es gibt gewiß nicht allzuviel Menschen,

die mit diesen Dingen nichts zu schaffen haben, irgendwie oder irgendwann haben wir alle uns damit herumschlagen müssen, manchen haben sie das ganze Glück, daS sie zu

besitzen meinten, zerstört, und bei aller sozialen Fürsorge

und allen Wohnungöreformen werden sie nicht schwinden,

so oder so kommen sie doch wieder heraus; denn wir Men­ schen leiden eben stets an uns selbst und an unseren Mit­

menschen, d. h. entweder an den Sorgen, die wir uns machen, oder an Neid, Unfreundlichkeit und Mißtrauen unserer Mit­

menschen. Deshalb ist es auch für uns so wichtig zu erfahren, ob es nicht ein Mittel gibt, diese Dinge unschädlich zu machen,

indem wir sie von innen heraus überwinden und uns über sie stellen. Jeder, der daS gekonnt hat, kann uns daher Lehr-

Lebensbeherrschung meister sein, so auch Joseph in der heutigen Texterzählung,

der deS Rätsels Lösung gefunden hatte und sie andern weiter­ gab, und zwar in einem ganz kurzen und deshalb auch klaren

Wort: „Ich bin unter Gott." Wir wollen betrachten,

ob diese Lösung, die Joseph gefunden hat, auch auf uns angewendet werden kann.

Joseph hat so schwere

Erlebnisse

gehabt,

wie selten

ein Mensch. Er, der aus wohlhabendem Hause stammte,

der von seinem Vater verwöhnt und verhätschelt worden war, war plötzlich in die Hände von Sklavenhändlern geraten, und waö das Schmerzlichste dabei war:

seine

eigenen Brüder hatten ihn an diese Leute verkauft, aus Eifersucht, Neid

und Gekränktheit. Die ganze Schmach

der Gefangenschaft, des Sklavenmarktes, des Handelns

und Feilschens um ihn wie um ein Stück Vieh, hatte Joseph

durchkosten müssen, und alö er endlich in ein gutes Haus kam, wo man ihn gut behandelte, da traf ihn wieder

das Unglück, daß die Frau des Hauses ihn mit unerlaubten, unsauberen Anträgen verfolgte und schließlich aus gekränk­

ter Eitelkeit verleumdete und ins Gefängnis werfen ließ.

Uns, denen der glückliche Ausgang der ganzen Angelegen­

heit bekannt ist, ist es vielleicht gar nicht zum Bewußtsein

gekommen, was Joseph zu der Zeit durchzumachen gehabt hat, wie er in der Finsternis seines Unglückes gefragt und

gehadert haben wird: Warum mußte mich das treffen, gibt eö keinen Gott, der über die, die ihn fürchten, seine schützende

Hand ausbreitet? Wie kann Gott zulassen, daß dasBöse und

Gemeine und Schmutzige triumphiert, gibt es denn keine

LebenSbehcrrschung Gerechtigkeit? Könnte jemand von uns den Joseph verur-

teilen, wenn er so gesprochen hätte in seiner Not? Ist daö

nicht auch unsere Art so zu sprechen? War das Dunkel nicht

wirklich so dicht, daß er nicht einen Schritt vor sich sehen konnte, daß Vergangenheit und Zukunft in Finsternis lagen?

Aber aus dieser Not findet er allmählich einen Ausweg, der alle Fragen klärt und alle Unzufriedenheit beruhigt und alle Angst vor der Zukunft zerstreut: „Ich bin unter Gott." Dieser Glaube wird ihm wohl kaum auf einen Schlag

gekommen sein, er wird ihn sich wohl Schritt für Schritt haben erkämpfen müssen, so wie er uns auch nicht in den

Schoß fällt, wie eine reife Frucht, sondem oft erst als Ernte

aus bitterschmerzlicher Tränensaat gegeben wird. Aber als er ihn endlich hatte, dann bekam sein Leben ein neues Aus­

sehen, dann ging die Sonne auf und warf ihre Hellen Strah­ len selbst in das tiefste Dunkel seines Gefängnisses und alles

seines Unglückes.

„Ich bin unter Gott" — wir verstehen es vielleicht besser, wenn wir eö in die Worte fassen würden: „Ich bin in Gottes Hand."

„Ach bin jemand, den Gott hin-

und herschiebt, um ihn für seine Zwecke zu benutzen, ich bin nicht wie ein welkes Blatt, das vom Winde hin und

her getrieben wird ohne Ziel und Sinn, ohne Zweck, nur weil der Wind stark und das Blatt haltlos ist, sondem je­ mand braucht mich als Figur auf seinem großen Schach­

brett, als ein Rädchen in seinem Uhrwerk, das einen wunder­ bar großen Zweck verfolgt und einen großen Sieg erringen

helfen soll. Aber doch wieder anders als die toten Dinge,

Lebensbeherrschung wie Schachfiguren oder Rädchen im Uhrwerk — doch mit der Möglichkeit begabt, das ganze Werk Gottes meinerseits zu sortiern oder zu stören, doch wieder in der Lage, Gottes

Hin- und Herschieben zu durchkreuzen, indem ich das, was er mir schickt, um mich zu einem brauchbaren Werkzeuge in seiner

Hand zu machen, durch meinen inneren Widerstand um

alle Wirkungen bringen und vielleicht geradezu in das Ge­ genteil von Gottes Plänen verwandeln kann." Das war es,

was Joseph in seiner Not begriffen und verstehen gelernt hatte, und nachdem ihm darüber die Augen aufgegangen waren, gab es für ihn keinen Zweifel mehr: „Ich bin unter Gott!" Ihm vertraue ich mich an für mein ganzes Leben, er soll

mich führen, wohin er will; wie Gott will, ich halte still!"

Versteht ihr, liebe Mitchristen, welch ein Strom des Trostes von diesem Glauben aus in Josephs Herz strömen mußte!

Also kein verpfuschtes Leben, kein sinnloses, zweckloses Leiden, kein Sieg des Bösen, gegen daS wir Menschenkinder

machtlos sind, kein undurchdringliches Dunkel vor uns und

am Ende unseres Lebens, sondern überall Gottes Liebe: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein

Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit." Da wurde es ganz still in

seinem Herzen, da ging es ihm so wie allen, die in Gottes Nähe

sind: die stürmischen Wogen der Sorge und Not legen sich,

und Gottes Stille breitet sich aus über uns, und wir spüren das Wehen des Friedens, der höher ist als alle Vernunft. So war Joseph zum Gottesmann geworden, von dem wir

jetzt, nach fünftausend Jahren, noch lernen können, so war er

Lebensbeherrschung zu dem geworden, der auch mit den Menschen und mit den

großen Fragen seines Arbeitslebens fertigwerden

konnte.

Von hier aus konnte er das gütig abgeklärte, friedfertige

Wort seinen Brüdern sagen: „Ihr gedachtet eS böse zu

machen, aber Gott gedachte eö gut zu machen." Die Brüder hatten unverantwortlich gegen Joseph gehan­ delt. Gewiß hatte der verwöhnte Lieblingssohn des Vaters sie

oft gereizt und ihren Zorn erregt, aber daS, was sie ihm und ihrem alten Vater antaten, steht doch in keinem Verhältnis zu

der Schuld deSJoseph. Das war doch so unerhört roh und grau­

sam, daß wohl kaum jemand unter unö Ähnliches von seinen

Mitmenschen hat erdulden müssen. Aber auch über dies schwerste Erlebnis seines Lebens, über den Haß gegen seine

Brüder, der sich wohl auch sonst bei ihm geregt hat, hat ihm

doch die Erkenntnis, daß er unter Gott war, hinweggeholfen. Nun erscheinen ihm seine harten, neidischen Brüder alö Werk­

zeuge Gotteö, die in all ihrer Bosheit doch GotteS Pläne ausführten. Aber er sah auch, daß Gott ihre Bosheit und

ihren Neid schwer an ihnen gestraft hatte und daß sie sich von

ihm, dem Allmächtigen, hatten strafen und zurechtweisen lassen. Denn daö ist eö, waö wir von dem Glaubensstand­

punkt des Joseph aus immer wieder sehen, daß Gott auch menschliche Sünden benutzen kann, um seine Zwecke zu er­

reichen, und doch deshalb keineswegs diese Bosheit gut­

heißt und ungestraft läßt, wenn er sie auch seinen Zwecken dienstbar macht gegen den Willen des Sünders. Sondern

daß auch hier daö Wort bleibt: „Gott dräuet zu strafen alle, die seine Gebote übertteten." Aber wenn wir diesen Stand-

Lebensbeherrschung punkt gewonnen haben, dann können wir uns nicht mehr von Menschen unseren Frieden dauernd rauben lassen, dann können wir nicht Rache brüten und auf Wiedervergeltung

sinnen und uns in Haß und Ärger verzehren, dann wissen

wir, daß Gott im Regimente sitzt und daß die Rache sein ist und er vergelten wird, und daß seinem Gericht niemand

sich entziehen kann. Aber wir wissen dann auch, daß nichts,

waS geschieht, ohne GotteS Zulassen geschehen kann und daß er durch alles, was wir auch durch gottlose, schlechte Menschen erdulden müssen, uns erziehen und fördern und

uns etwas besondres sagen will, und daß er vielleicht auch

haßerfüllte Menschen dazu benutzt, uns dazu zu bringen und dahin zu stellen, wo er uns haben und brauchen will. Ich glaube, liebe Freunde, daß ich gewiß nicht der Einzige

sein werde in diesem Gotteshaus, der die Richtigkeit deS Wortes: „Menschen gedachten eS böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte eS gut zu machen", an sich erlebt hat.

Aber dann sollten wir alle auch gläubig bekennen: „Ich bin unter Gott", und ihm alle Rache und Strafe böser Menschen

anvertrauen und uns nicht mehr fürchten — der Herr ist bei uns, was können uns Menschen tun!

Aber aus diesem Verttauensverhältnis zu Gott folgt noch etwas anderes, was unö das Zusammenleben mit Menschen und das Erttagen von Unrecht, das Menschen uns zufügen,

erleichtert. Als Joseph seine Brüder voller Mißttauen und Furcht und mit einem unruhigen, geängsteten Gewissen

vor sich stehen sieht, da fängt er an zu weinen. Er hat heißes

Mitleid mit denen, die noch nicht den festen Halt bei Gott

3o

Lebensbeherrschung gefunden haben, den er besitzt, die noch nicht furchtlos ge­ worden sind, weil sie sich unter Gott wissen, und dieses Mit­ leid macht ihn ganz besonders freundlich zu ihnen. Haben

wir nicht auch allen Anlaß und Grund mitleidig zu sein mit denen, die wir befangen sehen in ihren Sünden, die nicht

freikommen von ihren Fehlern oder unfrei sind durch ihr

schlechtes, unfrohes Gewissen und die dann auö dieser ihrer Unfreiheit heraus unfreundlich und lieblos, mißtrauisch,

neidisch, zänkisch und nachtragend sind? Sind sie nicht ge­ wissermaßen als seelisch krank zu behandeln? Sind sie nicht

unendlich unglücklich, weil sie den nicht kennen, der ihre Krankheit heilen kann, der ihnen den Frieden und die Freude

und die Harmonie gibt, die ihnen fehlt? Können wir Kran­

ken und Unglücklichen wirklich zürnen, ist nicht da vielmehr vergebendes Mitleid am Platze? Ich glaube, wenn wir das

behalten und nicht gleich wieder vergessen, dann werden wir auch wie Joseph versuchen, durch Freundlichkeit und Liebe und Geduld die Sünde der Brüder zu überwinden,

statt Mißttauen mit Mißtrauen und Scheltwort mit Schelt­

wort und Haß mit Haß zu vergelten. Spürt ihr nicht, daß in diesem Stehen unter Gott ein Ausweg liegt für unsere

Not mit den Menschen, die uns oft das Herz und Leben schwer machen, daß auch für uns hier die Aussicht sich er­

öffnet, wieder Frieden in's Haus zu bekommen, wenn wir

friedlos geworden sein sollten?

Und endlich gibt uns das Bewußtsein: „Ich bin unter Gott" noch ein Letztes für unseren Alltag: die Möglich­

keit

zu

fröhlicher

Arbeit.

3n welch wundervoller

3*

Lebensbeherrschung Harmonie ist Josephs Leben, seit er weiß, daß er in Gottes Hand ist. Dadurch wird alles bei ihm, man möchte fast

sagen, unter einen Generalnenner gebracht, sein Verhältnis zu den Menschen, zu seinen eigenen Erlebnissen, seiner Ver­

gangenheit und Zukunft und schließlich auch zu seiner Arbeit.

Er erkennt, daß er Gottes Arbeit tut, daß er bei allem seinen Schaffen und Tun GotteS Ziele verwirklichen helfen

muß, und ein Handlanger und Werkzeug Gottes sein darf.

Und das gibt ihm Sicherheit und Freude bei seinem ver­ antwortungsvollen, schweren Beruf, ein ganzes großes Volk

in Hungerzeiten zu erhalten.

Wie wunderbar muß es doch dem Joseph erschienen sein, wenn er an seine Lebensführung zurückdachte, an die merk­

würdig verschlungenen Wege Gottes, die ihn schließlich zum Ziele führten, der Versorger eines großen Volkes zu sein.

Gewiß, so geht eS nicht vielen von uns, mancher Menschen Leben verläuft völlig normal, ohne irgendwelche Abenteuer und direkte Eingriffe GotteS. Aber doch können auch sie es merken, daß Gott sie an einen bestimmten Platz gestellt und

eine ganz bestimmte Arbeit anvertraut hat, zu der er ihnen die ganz besonders reichen Gaben schenkte. Ist es nicht

von größtem Wert und Bedeutung, das zu wissen? Es ist

mir, als würde dadurch unser Arbeitsleben veredelt, als würden wir selbst dadurch höhergehoben, aus armen Tage­

löhnern und Sklaven zu Gehilfen und Werkzeugen GotteS

gemacht, aus Menschen, die für vergänglichen, irdischen Lohn schaffen und sich mühen ohne irgendwelche größeren Ziele zu kennen, als das tägliche Brotverdienen, zu Men-

Lebensbeherrschung schen, die selbständig Mitarbeiten dürfm an Gottes großem

Werk. O, wenn wir daö doch wieder unserem armen, verirrten

Volke zurufen könnten: „du bist unter Gott, du tust GotteS

Arbeit und stehst an Gottes Werk", dann hörte so manches mißmutige Seufzen über die Tretmühle der Arbeit auf, dann blickten die Augen wieder froher und selbstbewußter und freier ins Leben, denn sie fühlten sich durch Gottes Verttauen geadelt und gehoben, weil sie alle ja GotteS

Gehilfen sein dürfen in seinem Werk der Erhaltung der

Erde.

Fünf Jahttausende liegen zwischen Joseph und unS, die Welt ist anders und modern geworden, aber Gott ist der alte, und seine Kraft ist auch noch der alte, zuverlässige Halt

für unS alle. Versuch's zu machen wie Joseph und stelle

dich unter Gott, so wirst auch du Frieden und Sicherheit finden im Leben und Sterben. Amen.

Wer ist Gott? i. Könige 19/ 7—iz. Und der Engel des Herrn kam zum andern Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Stehe auf und iß; denn du hast einen großen Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch Kraft derselben Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis an den Berg Gottes Horeb. Und kam daselbst in eine Höhle und blieb daselbst über Nacht. Und siehe/ das Wort des Herrn kam zu ihm und sprach zu ihm: Was machst du hier, Elia? Er sprach: Ich habe geeifert um den Herrn, den Gott Zebaoth; denn die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert erwürgt; und ich bin allein übrig ge­ blieben, und sie stehen darnach, daß sie mir mein Leben nehmen. Er sprach: Gehe heraus und tritt auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr ging vorüber und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles sanftes Sausen. Da das Elias hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging heraus und trat in die Tür der Höhle. Und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach: Was hast du hier zu tun, Elia?

Äm heutigen Text tritt uns Elias entgegen, eine der größ­ ten menschlichen Gestalten der ganzen Bibel/ ein Held, der uns noch heute helle Bewunderung abgewinnt, wenn wir die

Wer ist Gott? von ihm handelnden Kapitel der Bibel durchlesen. Furchtlos

gegen Hoch und Gering tritt er dem gekrönten König Ahab seinerseits wie ein Souverain entgegen, etwa wie einst der

Kaiser einem kleinen Reichsfürsten entgegentreten konnte,

als gleichberechtigt, aber doch weit über ihn erhaben. Elias ist eine der wenigm, ganz ungebrochnen Persönlichkeiten der Bibel, ich wüßte außer Johannes dem Täufer keinen,

der als Mensch an ihn herangereicht hätte, eine knorrige Eiche, ein Fels im tobenden Meer des Ungehorsams und

Abfalls von Gott, so steht er da, ein ganzer Mann und Gottesstreiter.

Aber was ihn ganz besonders auszeichnet ist die unerhötte Kraft seines GottverttauenS: stellm wir uns doch einmal vor was das hieß, daß er, der Geächtete, durch unge­

zählte Reiche Verfolgte, vor Ahab, der ihn bis aufs Blut

haßte, hinzutteten wagte, um die Hofpriester deö Ahab zum Gottesgericht herauszufordern. Die Macht seiner Per­

sönlichkeit war so groß, daß Ahab, der auch ein ganzer Mann

war, nicht „nein" sagen konnte, und sich Elias fügte. Es kam zum bekannten Gottesurteil auf dem Berge Karmel,

wo die 450 Baalspriester auf der einen Seite, Elias allein

auf der anderen, jeder von seinem Gott Feuer für das Opfer­ tier, daS auf dem Altar lag, erbaten. Während die Baals­ priester sich nach ihrer Weise blutig geißelten, schrien und

tanzten, um ihren Gott zum Handeln anzuspornen, blieb EliaS ruhig und zuversichtlich, schon ein Sieger im voraus

und erlebte das unerhötte Wunder, daß Gott sein Opfer

entzündete. Mit Hilfe deö völlig erschüttetten Volkes, daS 3'

35

Wer ist Gott? vom AuSgang des Gottesurteils die Wahl seines Gottes für die Zukunft abhängig gemacht hatte, richtete dann Elias die Feinde Gottes am Bach Kidron.

Und wieder tritt er vor Ahab: „es wird regnen, iß und

trink, Gott ist wieder gnädig", und das bei völlig wolken­ losem Himmel, von dem die Sonne schon seit Jahren unbarm­

herzig alles verbrannt hatte. Und wieder erlebt er den Triumph seines Glaubens, es regnet — und als Sieger zieht

er mit Ahab in der Hauptstadt ein.

Aber auf diesen ungeheuern Triumph seines Gottverttauens folgt eine namenlose Enttäuschung — das Volk

wendet sich doch nicht Gott zu, der seine Macht so sichtbar gezeigt hat. Die Königin schäumt vor Wut und trachtet nach

wie vor EliaS nach dem Leben. Und was das Schlimmste ist: Gott sieht ruhig zu, wie die Bosheit überhand nimmt,

Gott rührt keinen Finger, um seine Macht zu beweisen. Elias

muß wieder fliehen. In die Wüste geht er, ein seelisch ge­ brochener Mann: „Es ist genug Herr, nimm meine Seele von mir", das ist die letzte Bitte eines Verzweifelten. Und

da führt ihn Gott zum Horeb und erscheint ihm, um ihm,

der mit Gott hadert, wie ein Freund dem Freunde Rede und Antwort zu stehen, und läßt Elias einen Blick tun in seine Pläne und seinen Willen, läßt EliaS schon bei Lebzeiten den

Schleier ein wenig lüften, der über dem großen, unfaßbaren

Rätsel für uns schwächliche, sündige Menschen gebreitet ist,

über dem Rätsel „Gott". Wer ist Gott? — Was ist sein Wesen? — Das ist eine Frage, die die Menschheit bewegt, solange sie denken und über

36

Wer ist Gott?

ihre Gefühle sich Rechenschaft ablegen kann. Spengler nennt

die Frage nach dem Unsichtbaren, nach Gott, das, was

alle Kultur geschaffen,

waö Bewegung in die

Völker

gebracht hat, und behauptet, daß mit ihr sich unbewußt selbst die abmühen, die an keinen Gott glauben. Denn

jede Weltanschauung, sagt er, ist nur eine Bejahung oder

Verneinung der Religion, das ist Gottes. — Wer ist Gott? Darüber wollen wir heute miteinander reden, indem wir die 4 Erscheinungen des Elias am Horeb bettachten.

„Und siehe, der Herr ging vorüber, heißt es, und ein großer, starker Wind, der Berge zerriß und Felsen zerbrach, vor dem

Herm her, aber der Herr war nicht im Winde." Das war eine Wiederholung der Enttäuschung für Elias, die er eben erlebt hatte. Wie im Wirbelwind daherfahrend, im glühenden

Zorn, in furchtbarer Gerechtigkeit unerbittlich züchtigend,

so hatte Elias sich Gott gedacht, und an diesem Gott war er irre geworden, diesen Glauben hatte er nicht mehr.

Meine lieben Mitchristen: stellen wir uns nicht auch häufig, in bezug auf andere besonders, unseren Gott so vor, wie

Eliaö ihn gedacht und ihn gepredigt hatte? Ja, ist diese Vor­ stellung von Gott nicht so eigentlich der landläufige Gott? So denken ihn sich auch die Ungläubigen am liebsten, als solcher lebt er in den Massen. Mir fällt da eine Szene aus Rußland ein, wo auf offenem Markt ein kommunistischer

Freidenker, ein richttger Kommödiant und flacher Demagog eine Schmährede wider Gott hielt und plötzlich schrie: „Wenn

es einen Gott gibt, so soll er mich in 3 Minuten erschlagen auf die Beleidigungen hin, die ich ihm ins Gesicht geschleu-

Wer ist Gott? dert habe." Und als unter atemloser Spannung der Massen

die Zeit verstrichen war, erklärte er unter wildem Gelächter: „Nun seht ihr, daß es keinen Gott gibt." Gewiß, diese Vorstellung von Gott ist kindisch, aber ist die landläu­

fige

Meinung

unsere kleinliche

etwa

tiefer?

Rache

Ist 'der Gott,

befehlen,

der

Gott,

dem der

wir

unsere

Feinde strafen soll, der Gott, dem wir voll Haß die Ver­

nichtung unserer Widersacher zuttauen, nicht auch ein solcher Gott, der wie eine Windsbraut über die Erde fegen soll, alles

vernichtend, alles zerstörend,

was sich ihm in den Weg

stellt oder noch schlimmer, was uns nicht gefällt? Seien

wir doch etwas vorsichtiger mit dem Verttauen auf diesen „gerechten" Gott — wäre er der, als den wir ihn gem haben

wollten, um unsern Haß zu stillen, dann wäre er auch uns gegenüber nur der gerechte Gott, und dann wehe der

Menschheit, wehe der Welt, wehe, dreimal wehe aber auch über unö. An diesem „gerechten" Gott ist unser Volk im Kriege irregeworden, weil sie den wahren Gott nicht verstanden

haben. Aber auch für andere, ernste Christen, hat Gott dieses Ge­

sicht, daö sind die Ungeduldigen, die sofort Früchte sehen wollen,

die nach

äußeren

Erfolgen

streben

oder ver­

zagen und wie EliaS hadern, wenn diese ausbleiben. War­ um zeigt Gott nicht seine Macht, warum wirkt sein Wort

nicht mehr, warum zerbricht er nicht die harten Herzen des Volkes, warum schickt er nicht seinen Geist, der alles neu macht? DaS sind Gedanken,'die manchem ernsten Christen schon

gekommen sind. Und noch eine Art von Gedankengängen

38

Wer ist Gott? gehen vielleicht von dieser falschen Vorstellung Gotteö aus:

das ungeduldige Warten auf die Wiederkunft Jesu zum Gericht, das heutigen TageS in gewissen Kreisen der Christen­

heit wieder so modem geworden ist. Gewalt, Zerstörung, Scheidung, plötzliche gewaltsame Bekehrung, das ist es,

was diese Christen erwarten, und beweisen damit, daß sie

Gott nicht begriffen haben, denn sie haben die Vorläufer Gotteö, gelegentliche Begleiter Gottes, für Gott selbst ge­

nommen, denn ewig unverändert wird über all diesen mensch­

lichen Gedanken und Hoffnungen das Wott stehen: „Aber Gott war nicht in dem Winde." Gott ist nicht von uns ge­

schaffen, sondem wir von ihm, wir können Gott nicht nach

unserer Willkür ummodeln, sondem Gott ist der, der er ist, von Anbeginn an derselbe. Wer ist denn nun Gott? „Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben, aber der Herr

war nicht im Erdbeben." Wohl nie fühlt sich der Mensch hilfloser der Natur gegenüber, als wenn der Boden, auf dem er steht, auf dem er zu gehen gewohnt ist, schwankt

oder bricht. Schon mancher hat im furchtbaren Aufruhr der

Elemente, draußen auf tobender See, im Ungewitter und Erdbeben gemeint Gott zu erleben. Die Alten zogen daraus

den Schluß, Gott sei Natur und weiter nichts, und beteten Naturgötzen an. Und noch heutigen Tages ist dieser Irrwahn verbreitet, denn wieder heißt es, wir haben unsere Gottes­ dienste in der Natur draußen, wir beten Gott in der Natur

an, Natur und Gott ist eins, Gott ist nur Materie und weiter

nichts. Gewiß spricht Gott durch die Natur zu uns, gewiß tonnen große Naturereignisse, Naturerschütterungen oder

Wer ist Gott? das Versenken in die unendliche Größe der Schöpfung in uns Gefühle

wachrufen, die der Gottesanbetung nahe­

kommen: Gefühle der Demut, wo wir unö sehen wie wir wirklich sind, klein und schwach und nichtig, und über uns

etwas, was unendlich viel mächtiger und vollkommener ist, als wir. Aber daö ist nicht genug, das ist nicht des Rätsels Lösung,

sondern erinnert an ein fernes Ahnen der Lösung. Es ist

nur, als ginge Gott vorüber in seiner ganzen, unfaßbaren Größe und der äußerste Saum seines langen Mantels hätte

unö gestreift, weiter nichts ist es, was wir in der Natur erschauen und erleben können. Gott ist nicht im Erdbeben,

Gott ist nicht in der Natur, er ist über der Natur, über dem Erdbeben, über den furchtbaren Katastrophen, die über die Erde gehen, nicht aber diese selbst. Mancher hat gemeint,

Gott im furchtbaren Trommelfeuer zu erleben, wenn die Erde zittette und bebte, wenn alles, was Menschenhände gemacht hatten, zu einem Nichts von Menschenhänden zer­

stört wurde. Aber auch das war nicht Gott, es war nur eine seiner erschütternden Predigten über daS alte Wott, das

wir oft nicht wahr haben wollen in unsrer eitlen Selbstüber­

hebung: „Wie so gar nichts sind doch die Menschenkinder,

die so sicher wohnen." Denn auch das ist nicht daS Letzte, was Gott uns zu sagen hat, das ist nicht der letzte Inhalt seiner Offenbarungen, nur eine Einleitung ist eS zu dem

großen eigentlichen Geheimnis, zur Lösung des Rätsels, die er dadurch vorbereiten will, aber die Lösung selbst ist es

nicht. WaS ist nun die Lösung? Wer ist Gott? —

Wer ist Goll? Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Das Feuer läutert, daS Feuer verbrennt die Schlacken und die Spreu, das Feuer wärmt und belebt. Läge da nicht nahe zu glauben, daß Gott im Feuer ist? Wir

neigen oft der Ansicht zu, daß Gott an uns herangetreten ist, wenn wir im schweren Läuterungsfeuer des Leides und

Kummers und der inneren und äußeren Prüfungen gewesen sind. Und gewiß ist Gott in diesen Zeiten ganz besonders

nah, gewiß führt gerade das Kreuz am häufigsten zu Gott.

Gewiß würden die wenigsten Menschen ohne den Segen des Leides die Heimat der Seele finden können. Aber doch ist

es ein Irrtum zu glauben, daß Gott selbst in dem Leid und in den schweren Schickungen ist, und daß daher jeder, der

durch Kummer und Not hat gehen müssen, deshalb schon

ein Anrecht auf die ewige Seligkeit erhalten hätte, wie man

es hie und da über schwergeprüfte Menschen sagen hört.

Es geht mit den Leiden geradeso wie mit dem Feuer, sie läutem wohl, aber sie können auch hart machen. Sie ver­

nichten das Unbrauchbare, aber sie können auch unendlich viel Wertvolles zerstören. Wenn etwas zulange dem Feuer ausgesetzt wird, ohne daraus heraus zu kommen, dann ver­

brennt es zu Schlacken. Wenn jemand keinen Ausweg aus dem Leide sieht, wenn er hoffnungslos drin stecken bleibt,

dann kann er durch das Leid Schaden nehmen an seiner Seele und nie die Antwort auf die Frage finden: „Wer ist

Gott?" sondern in Gott nur den schrecklich richtenden Gott

sehen, der straft, oder aber den Gott, der am Zerstören und am Einschüchtern und Demütigen seinen höchsten Gefallen hat.

4i

Wer ist Gott? Auch im Feuer war Gott nicht. Wie ist denn Gott, wenn

all diese Dinge nur seine Vorboten und Vorbereiter auf ihn selbst sind? Gibt eö überhaupt noch eine Möglichkeit für

unS Menschen, Gott zu erkennen, wenn das größte und mächtigste Erkennbare nur ein Schatten seiner Größe ist,

nur der Auftakt zu dem, was er in Wirklichkeit ist? „Und nach dem Feuer kam ein sanfteö, stilles Sausen. Da das Elias hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem

Mantel und ging heraus und ttat vor die Tür der Höhle."

Welch ein Gegensatz zu dem Toben und Wüten der Ele­

mente, zum Jittern der Berge und Beben der Erde — alles wird ganz Ml und ruhig — der Herr kommt selbst

als ein Mles, sanftes Sausen. Und Elias, der geeifert hatte um Gott, der mit dem Schwerte gewütet hatte

um seines Gotteö willen, erkennt auf einmal, daß Gott da ist, er, an dem er irregeworden, an dem er gezweifelt

hatte, weil er ihn sich so ganz anders vorgestellt hatte. Nun weiß er es, ohne daß ihm jemand zu sagen braucht — daö

ist Gott. Nun fragt er nicht mehr warum, nun hadert er nicht mehr, weil Gott es anders gemacht hat, als er erwartet. Alles, alles schweigt in tiefer Ehrfurcht und Ehrerbietung in

ihm, alles verMmmt vor dem Unfaßbaren—„Gott ist da". — Daö ist Gott — ein stilles, sanftes Sausen, daö alles

Ml macht, das ein Bewußtsein des Geborgenseins sonder­ gleichen gibt, das alles verstummen macht in unS und um unö, und alles in Frieden verwandelt, was in Auftuhr und Zwist getobt hatte — das ist Gott.

Nicht Rache und Strafe, nicht Gerechtigkeit und Zerstören

Wer ist Gott? und Tod, denen, die sündigen, ist sein eigentliches Wesen, sondern Friede und Liebe und Gnade. Alles andere ist nur

Vorbereitung zur Erkenntnis dieses seines wunderbaren

Wesens. O, daß du das fassen könntest im Glauben, lieber Mit­

christ! O, daß du eS erleben könntest wie Elias, daß der Herr zu dir kommt, im stillen, sanften Sausen und es dir von selbst wie Schuppen von den Augen fiele und du von

selbst die Lösung des Rätsels in deinem eigenen Erleben fändest: jetzt ahne ich wie Gott ist, weil ich es selbst erlebt

habe. Wende dich nicht enttäuscht von ihm ab, wenn er dir

seine Vorboten schickt, hadre nicht mit ihm, wenn du ihn nicht gleich verstehen kannst, und wenn du lauter Rätsel zu

sehen meinst; warte nur ab. Du wirst und mußt eS erleben,

das sanfte, stille Sausen, daß dein Herz springen wird vor Jubel und du es nicht fassen kannst, das Glück über den

Frieden, den Gott dir gab, über den Halt, den das Vertrauen

auf ihn dir schickte.

Und dann wird eine andere Gestalt in ihrer ganzen Größe vor dich treten, in Dornenkrone und Purpurmantel die Ge­

stalt des Gekreuzigten, er, der Liebe, Gnade, Friede brachte, und du wirst eS ahnen, warum er sprechen durfte: „Ich und

mein Vater sind eins" und dann hinging und für unS starb, weil auch er das stille sanfte Wesen Gottes hatte, das so unendlich lieben kann. Und diese unfaßliche Gnade und

Liebe wird dich niederzwingen in die Knie, daß du, statt zu fragen und zu Hadem, anbetend in tiefster Dankbarkeit

deine Hände erhebst und bekennst: „Mein Herr und mein

Wer ist Gott? Gott!" — Selig, wer so seinen Gott erleben kann als stilles,

sanftes

Sausen, das

das Herz fest

und

stark macht,

und den Frieden gibt, der höher ist, als alles Menschlich-

Irdische, den Frieden der Gnade und Vergebung. Der hat

Gott gefunden für Leben und Sterben. Amen.

Echte Liebe Röm. i2, 9—ii. Die Liebe sei nicht falsch. Hasset baS Arge, hanget dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket euch in die Zeit.

In jedem der Schriftabschnitte, die von alters her uns für die einzelnen Sonntage gegeben sind, liegt ein köstlicher Schatz. Aber er liegt nicht bei allen gleich klar und deutlich

zutage. Manchmal muß man lange schürfen und graben und bekommt den Schatz vielleicht nur goldkornweise zu­

sammen, so wie ein Goldwäscher sich seinen Schatz aus dem Sand zusammenliest. Dann wieder, bei anderen Texten,

liegen die Kostbarkeiten klar zutage. Sie sind geschliffenen Edelsteinen zu vergleichen, nach denen man nur zu greifen

braucht, um einen fertigen Schatz zu besitzen. Solch ein Schatz,

der klar zutage liegt, ist der heutige Text: eine Fülle von wundervollen Worten finden wir in ihm. Hier kommt es

nur darauf an, daß man die schon fertiggeschliffenen Edel-

Echte Liebe

steine zu einem Schmuck zusammenfügt. Dieser Schmuck

soll die Liebe sein, denn die Liebe ist das Kostbarste und Höchste von allem. So wollen wir heute von der Liebe spre­

chen und drei Fragen zu beantworten suchen: Erstens, was Liebe ist, zweitens, wie Liebe ist, drittens, wo wir die

Liebe finden. i.

Was ist Liebe? Hat es einen Zweck, überhaupt noch darüber zu sprechen? Weiß das nicht jeder Mensch? Wenn

wir hören, wie oft das Wort Liebe gebraucht wird und wie oft sie angepriesen und hochgepriesen wird, wenn wir an

die vielen Millionen Bücher denken, die über die Liebe han­ deln, dann müßte man sagen: Es ist unnütz, darüber noch

Worte zu verlieren. Und doch! Mancher Blick in das Leben und in den Alltag zeigt unö, daß über dem Wort Liebe irgend­ ein großes Mißverständnis schweben muß. Da redet man in hohen Tönen von der Liebe und beweist durch die Tat,

daß diese hohen Töne Unwahrheit waren. Man redet von

der Liebe, die nimmer aufhört und Menschen, die sich einst heiß liebten, stehen sich bald darauf in Haß und Gleichgültig­

keit gegenüber. Auf manchem Kreuz der Friedhöfe steht daS berrliche Wort: „Die Liebe höret nimmer auf", und dann

sehen wir vielleicht, daß ein solches Grabmal vernachlässigt

und vergessen ist, und wenn wir Nachforschungen anstellen, erweist es sich, daß die nächsten Angehörigen wohl noch

leben, aber den, der unter dem Hügel ruht, haben sie längst vergessen. Und das herrliche Wort, daS sie auf das Kreuz schrieben, war eine große Lüge. Oder man preist die Liebe als

46

Echte Liebe das größte Glück auf der Welt, und doch bringt den Men­ schen nichts größeres Unglück als die Liebe! So ist die Liebe zu dem am häufigsten mißbrauchten Wort geworden, denn

kein Wort ist so oft herabgewürdigt und in den Schmutz ge­ zogen worden, wie dieses, weil so viel Unwahrheit damit verknüpft ist.

Also die Frage, was Liebe ist, ist wohl berechtigt. Vor allem müssen wir feststellen, daß das Wort Liebe nur dort angewendet werden sollte, wo ein Gefühl vorhanden ist,

daS bereit ist, seinen eigenen Vorteil und seine eigenen In­

teressen und Belange zu vergessen um des anderen willen,

das sein eigenes Glück hintenan setzt um den anderen, seinen Mitmenschen, etwas Gutes zu erweisen, ein Gefühl, das

bereit ist, auch Opfer zu bringen um des anderen willen, kurz ein Gefühl, das mit Selbstsucht nichts zu tun hat.

Denn Liebe und Egoismus sind Begriffe, die

einander

ausschließen. Wenn wir Dinge mit Liebe bezeichnen, die im Grunde

nur Selbstsucht sind, so ist das ein Mißbrauch. Wenn wir alles das, was von der christlichen Liebe auögesagt wird, einfach auf unsere weltliche, irdische Liebe beziehen, wird gar zu leicht eine Unwahrheit dabei herauskommen, denn

eine Liebe, die nichts weiter wünscht, als den Besitz des anderm, oder eine Liebe, die spricht: „Du mußt mein werden,

sonst gehe ich zugrunde", ist keine Liebe, denn da denkt man nur an sich, nicht an das Glück und den Vorteil des anderen.

Dieses Gefühl ist von der Selbstsucht nicht weit entfernt, deswegen verdient es nicht die Bezeichnung Liebe. Gewiß,

Echte Liebe auch diese Liebe ist etwas Natürliches. Und weil sie etwas

Natürliches ist, ist sie an sich etwas Reines und Hohes, wenn wir sie nicht selbst herabwürdigen. Aber eS wäre ein Irrtum zu meinen, daß diese Liebe schon eine gute Tat sei, daß wir unö etwas zugute halten können, wenn wir unsere Ehe­ gatten und unsere Kinder lieb haben. Wie oft hat selbst die

Mutterliebe nichts mit der wahren, echten Liebe zu tun. Denn oft liebt im Grunde die Mutter nur sich selbst: sie denkt nur

daran, wie sie ihr Kind recht vorteilhaft den Menschen zeigen kann. Sie vergöttert ihr Kind, sie betet eS an, sie vergißt,

daß ihr die Seele ihres Kindeö als köstlicher Schatz anver­ traut ist, für den sie sich aufopfern sollte, statt in ihr Kind

blind verliebt zu sein. Und auch dann, wenn zwei miteinander

auf den Lebensweg traten und wirklich glaubten, die wahre

Liebe im Herzen zu haben und dann nach wenigen Monaten

die große Enttäuschung kam und sie merkten, daß sie sich jemanden alö LebenSgefähtten gewählt hatten, der gar nicht zu ihnen paßte, mit dem sie nichts gemeinsam hatten, dann war daS, was sie Liebe nannten, keine Liebe, sondem nur

äußerliches Verliebtsein, nur Schein. — 2.

Wie ist nun die richtige und echte Liebe? Da gibt uns unser

Text eine wundervolle Antwort. Eine Reihe von Eigenschaften nennt er uns, als erste: Die Liebe sei nicht falsch! Da­ mit begegnet das Wort Gottes einem Irrtum, der sehr weit in der Welt verbreitet ist, auch gerade in bezug auf daS, was

man christliche Nächstenliebe nennt. Man meint, die christ-

Echte Liebe

liche Nächstenliebe müsse alles zudecken, ihr Wesen sei, alles

zu übersehen und alles zu vergeben und auch zum Unrecht

Ml zu schweigen. Sie bestehe darin, mit allen gut Freund zu sein und niemand zu verletzen oder zu nahe zu treten. Das hält man für Liebe. Dem widerspricht das Wort Gottes,

das uns wamt: Die Liebe sei nicht falsch! Wie oft ist daö, was wir Liebe nennen, nur feine Diplomatie. Man möchte überall gern gesehen sein, und darum läßt man immer drei

gerade sein, man stößt nirgends an und redet allen nach

dem Munde, und so ist das, was man als Liebe preist, weiter nichts als Ängstlichkeit und Falschheit. Man zeigt ein ganz

anderes Gesicht, alö man in Wirklichkeit hat. Man setzt den Menschen gegenüber ein freundliches Gesicht auf, und im

Herzen sitzt der Groll und wird gehegt und gepflegt durch Jahre hindurch. Das ist nicht Liebe, sondern nur die Maske

der Liebe. Die Liebe muß aufrichtig sein, ohne Falsch.

DaS heißt nun nicht, daß man einfach herauspoltern soll,

was einem gerade einfällt, daß man den anderen verletzt durch daö sogenannte: „Die Wahrheit sagen", oder daß man gar die Fehler deö anderen lächerlich macht. Daö ist unter

der Forderung der Wahrheit in der Liebe natürlich nicht zu verstehen. Aber wir sollen in jedem Fall offen und auf­ richtig mit unseren Freunden sprechen, wenn auch voller

Nachsicht, Verständnis und Geduld. Selbst wenn wir viel­ leicht das Opfer ihrer Freundschaft bringen sollten, weil

sie sich über uns ärgern, muß die wahre echte Liebe uns zu Wahrhaftigkeit gegen unsere Freunde zwingen. Oder glaubt wirklich jemand, daß Gott die Menschen höher schätzt, die 4 Bruhns: Sonntagspredigten.

49

Echte Liebe aus Schwäche, der sie den Namen Liebe geben, zu allem Häßlichen stillschweigen,

die mit ansehen, wie sich ihre

ganze Umgebung allmählich in einen Sumpf verwandelt, als vielmehr die andern, die den Mut haben, schlechtes wirk­

lich schlecht und Sünde Sünde zu nennen? Wer wirklich die Liebe im Herzen trägt, muß auch die Kraft in sich fühlen,

etwas Unangenehmes zu tun, auch auf die Gefahr hin, die innere Ruhe dabei zu verlieren.

„Hasset das Arge und hänget dem Guten an!" Hasse das

Arge in deinem Nächsten und gehe dem Guten nach in ihm, ohne aber dabei deinen Nächsten selbst zu verachten oder

kritiklos zu vergöttern! Wer wirklich Liebe

zu

seinem

Gott hat, der will auch, daß die Sache Gotteö überall zum

Siege

kommt, auch in uns

und

in

denen, die

mit uns auf dem Wege sind. Daher ist es unsere Pflicht,

unserm Nächsten bei der Überwindung der Fehler zu helfen, aber natürlich nur in aller Liebe. Solange wir noch einen

Groll in uns haben und eine Verärgerung über seine Fehler

empfinden, ist es uns noch nicht möglich, ihn in aller Liebe

auf seine Mängel aufmerksam zu machen. Erst müssen wir innerlich allen Arger überwunden haben, dann können wir

in offener Aussprache auch unseren Mitmenschen helfen. Aber

dazu gehört eins: „Die brüderliche Liebe sei herzlich", d. h. wenn eS richtig übersetzt wäre: Die brüderliche Liebe sei

brennend, sei heiß. Wenn wir nur laue Gefühle der Sym­

pathie oder deö Wohlwollens gegen unseren Nächsten haben, werden wir darauf achten, möglichst ohne Reibung mit unseren

Nächsten auszukommen. Nur eine wirklich heiße

Echte Liebe

Liebe scheut auch das nicht, sich mit seinem Nächsten zu Über­ werfen, um seine Seele zu retten.

„Ein jeder komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor," heißt es weiter. Dies Wort paßt so recht in unsere Zeit. Man

hat eS oft ausgesprochen, daß wir mitten in einer Krisis der Ehe stehen, und behauptet wohl mit Recht, daß die meisten Ehen heute unglücklich sind. Es fehlt nicht an Be­

mühungen, die Ehe wieder zu einem glücklichen Zusammen­ leben zu gestalten. So ist kürzlich ein Buch erschienen das

die Eheftage

von allen Seiten zu beleuchten sucht. Aber

die Hauptsache scheint doch vergessen zu sein. An der soge­ nannten Liebe fehlt es wohl kaum, wohl aber an gegensei­ tiger Achtung. „Einer bringe dem anderen Ehrerbietung entgegen", das sollte die Grundlage der Ehe sein. Aber wo soll die Achtung Herkommen, wenn die Eheleute so leben,

daß sie keine Achtung mehr voreinander haben können, auch keine Achtung vor sich selbst. Oder wenn sich die Eheleute

gar nicht um die Weltanschauung des anderen kümmern, wenn es ihnen ganz gleichgültig ist, was der andere glaubt

und was daS Ziel seines Lebens ist, dann können wir uns nicht wundern, wenn das Eheglück zu einer seltenen Pflanze

wird auf Erden. Denn nichts gibt unö leichter wirkliche Ach­

tung voreinander als eine gemeinsame Weltanschauung, ge­

meinsamer Glaube und ein gemeinsames Wandeln einem hohen Ziel entgegen, denn dann achtet einer den andern als Kind und Geschöpf Gottes. Wo solche Achtung fehlt, wird

auch eine heiße Liebe der Ehegatten zu einander allmählich ver­ lorengehen und sich in Haß oder Gleichgültigkeit verwandeln. 4'

51

Echte Liebe Die Dinge, die Paulus als Grundlage der Liebe bezeichnet, sind: Aufrichtigkeit, heiße, herzliche Liebe, das Suchen des

Gutm in dem anderen und Achtung. Aber selbst wo das alles vorhanden ist, wird dort, wo Menschen miteinander

auf dem Wege sind, auch stets die Möglichkeit zu Mißver­ stehen, Streit und Verärgerung naheliegen. Es wird kaum

zwei Menschen geben, die durchs Leben gegangen sind, ohne daß je ein Mißverständnis zwischen ihnen gewesen wäre. Deshalb kommt alles darauf an, daß wir diese Miß­

verständnisse überwinden, um sie nicht zu Haß und einer Entfremdung werden zu taffen, daß wir bereit sind, dem

anderen zu vergeben oder daß wir sagen: Bitte vergib! Sonst

wird

auch

das

festgegründetste

Verhältnis

der

Liebe zwischen zwei Menschen nicht standhalten können.

Endlich sagt Paulus noch ein Wort, das nicht ganz ver­ ständlich ist: Schicket euch in die Zeit! Besser nach dem Ur­ text: Dienet der Zeit! Bedenket bei eurem Dienst, daß die

Zeit dahingeht! Wenn wir bedenken, daß wir nur kurze Zeit miteinander auf dem Wege sind, daß wir Menschen

sind, deren Leben dahinfliegt, dann können wir auch nicht lange miteinander Hadem. Du, der du vielleicht einen Jom oder Groll im Herzen ttägst gegen einen anderen Menschen,

könntest du diesen Zom und diesen Ärger noch aufrechterhalten,

wenn dein Gegner vor dir auf der Totenbahre läge? Könntest du dann noch sagen: Das, was er mir angetan hat, war so

schwer, daß ich es ihm nicht vergebm kann? Wenn wir doch im Zusammenleben

mit unseren Mitmmschen

bedenken

wollten, daß die Zeit dahingeht und daß einmal die Trm-

52

Echte Liebe nungsstunde schlägt und daß uns dann unser Ärger ganz klein erscheinen wird, so klein, daß wir ihn gar zu gern als nie

geschehen zurücknehmen möchten. O, daß wir doch bei allen

den klemm Verärgerungen den Tag vor Augm hätten, wo

wir Abschied nehmm müssen, wieviel leichter könnten wir Ärger und Kränkungm vergessm. Und nun zum Schluß die letzte Frage: Wo finden wir die Liebe? Es wird viel von Liebe gesprochen in unserer liebe­

armen Zeit, denn jeder fühlt es: Nur die Liebe kann die

Krisis unserer Zeit lösen. Das große Fragen nach Liebe ist

im letzten Grunde ein Fragen nach der Quelle aller Liebe,

nach Gott. Wmn wir heute sehm, daß die Liebe die Menschm nicht mehr eint, daß die Liebe im Zusammenleben der Men­

schen nicht mehr stichhält, so liegt das daran, daß Gott fehlt, daß wir den nicht haben und den nicht im Herzen tragen,

der uns die größte Liebe erwiesm hat, daß Er sein Lebm

hingab für uns. Darum antwottm wir auf die Frage: Wo ist Liebe zu finden, nur: Die Liebe ist bei Gott! Wenn du dich

nach Liebe sehnst, dann mache dich auf zu deinem Gott.

Dann wird dein Leben wieder einen Inhalt und ein Ziel

haben. So wollm wir heute schließen mit dem Hinweis auf den, der auö Liebe zu uns Mensch wurde und sich hingab

für unS, um uns zu retten und uns zu helfm. Wenn Er bei

uns ist, dann wird auch die Liebe bei uns sein. Darum mache dich auf und gehe zu deinem Heiland, damit dein Herz wieder liebewarm werde.

Amen.

Drei Rätsel im Leben der Menschen Joh. ii, i—16. E6 lag aber einer krank mit Namen Lazaruö, von Bethanien, in dem Flecken Marias und ihrer Schwester Martha. (Ma­ ria aber war, die den Herrn gesalbt hat mit Salbe und seine Füße ge­ trocknet mit ihrem Haar; deren Bruder Lazarus, war krank.) Da sandten seine Schwestern zu ihm und ließen ihm sagen: Herr, siehe/ den du lieb hast, der liegt krank. Da Jesus das hörte, sprach er: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Jesus aber hatte Martha lieb und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte, daß er krank war, blieb er zwei Tage an dem Ort, da er war. Darnach spricht er zu seinen Jün­ gern: Laßt uns wieder nach Judäa ziehen! Seine Jünger sprachen zu ihm: Meister, jenes Mal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dahin ziehen? Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser Welt. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich; denn eS ist kein Licht in ihm. Solches sagte er, und darnach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke. Da sprachen seine Jünger: Herr, schläft er, so wirds besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem Tode; sie meinten aber, er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazaruö ist gestorben; Und ich bin froh um euretwillen, daß ich nicht dagewesen bin, auf daß ihr glaubet. Aber lasset uns zu ihm ziehen! Da sprach Thomas, der genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: Laßt uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben!

Wer die verschiedenen Kulturstufen der Völker betrachtet,

dem fällt eö stets auf, wie für die Menschen einer niedrigen

Kulturstufe, die im Kampfe mit der Natur und den Ele-

Drei Rätsel im Leben der Menschen menten stehen, die Welt voller Wunder und Rätsel und Geheimnisse ist. Sie sind noch wie die Kinder, die ja auch

auf Schritt und Tritt vor Rätseln stehen, die sie nicht lösen

können; für sie hat die Welt noch den Schrecken des Unheim­

lichen, aber auch den Zauber des Geheimnisvollen. Aber wie den Kindern sich dann allmählich ein Rätsel nach dem andern, ein Geheimnis über das andere offenbart und

natürlich erklärt, so geht eS bei der wachsenden Kultur auch

den Menschen, bis sie dann in der Großstadt ein Leben fast ohne Rätsel, und von allem Geheimnisvollen entkleidet,

führen. Denn in der, von Menschenhand aus Stein gebauten, von Menschen erdachten und völlig beherrschten Großstadt scheint ja alles erklärlich, alles gesetzmäßig zu sein; alles

vom Willen der Menschen abzuhängen. Er kann die Nacht taghell erleuchten, er kann Menschen über und unter der Erde in größter Geschwindigkeit hin und her befördern; er

kann Wüsteneien in blühende Gärten und Parks und frucht­

baren Ackerboden in Steinwüsten verwandeln.

Über die

Angst vor dem Rätselhaften und Geheimnisvollen im Leben, glaubt der auf die Großstadt-Errungenschaften Stolze daher

verächtlich lächeln zu dürfen. — Treten einmal Geheimnisse

auch an ihn heran, die er sich nicht erklären kann, so hilft er sich meist mit Schlagworten darüber hinweg, oder er erklärt das Unerklärliche lächelnd für Aberglauben. Vor ihm liegt das Leben meist klar und nüchtem ohne Zauber und Reiz

wie eine Rechenaufgabe. Er übersieht alles seiner Meinung nach wie seine Handfläche und erklärt kühl und überlegen:

Es gibt keine Rätsel und nichts Unerklärliches im Leben.

Drei Rätsel im Leben der Menschen Und doch ist diese Lösung aller Rätsel durch Technik und Zivilisation nur eine scheinbare. ES ist diesen Menschen im

Grunde genommen nur gelungen, die Grenze des Rätsel­ haften und Geheimnisvollen weiter von sich

hinauszu-

schieben, den klaren und hell beleuchteten Fleck um sich zu erweitern. Oder er verschließt einfach die Augen dafür, daß jenseits des Lichtkreises seines Wissens und seiner Erklä-

rungen daS rätselhafte Dunkel doch noch waltet — und erst dann merkt er dessen Vorhandensein, wenn es einmal

in seinen LebenSkreiS einbricht, und das große, rätselhafte Fragezeichen des Todes, Leides oder Unglückes plötzlich auch sein ganzes Dasein beherrscht. Denn solange diese Dinge

auf Erden herrschen, wird eS Rätsel geben auch für den

klarsten Kopf und für daS kälteste Herz und für den selbst­

sichersten, eingebildesten Kulturschwärmer. An diesen Dingen bricht sich all unser Wissen, Können, unsere Technik und Kultur. Darum wollen wir uns nicht wundern, wenn in

der heutigen Erzählung über Jesus vieles, uns Rätselhafte enthalten ist. Sie stellt ja einen Ausschnitt aus dem wirk­

lichen Leben dar. —

Jesus erhält einen Angst- und Hilferuf aus Bethanien: Lazaruö, der Bruder von Maria und Mattha, ist schwer er­

krankt. In unendlich bescheidener, rücksichtsvoller Form ist dieses Hilfesuchen erfolgt. Keinerlei Bitte wird daran ge­

knüpft; nichts, was an einen noch so milden Druck erinnern könnte. Die Schwestern überlassen die Handlungsweise ganz

Jesu und legen ihres Bruders Geschick vertrauensvoll in

seine Hand: „Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank."

56

Drei Rätsel im Leben der Menschen

Der, den du lieb hast... — liegt nicht wirklich ein ganz

besonderes warmes, freundschaftliches Licht auf allen Be­ gegnungen Jesu mit den Geschwistern auö Bethanien? Ein wunderbares, reines, tiefeS Freundschaftsverhältnis ver­ bindet sie, so daß wir das Gefühl haben, daß, wenn Jesus

irgendwo auf Erden zu Hause war, er in Bethanien ein wirk­

liches Heim gefunden hatte. Und nun dies beinah Unglaubliche, Unfaßbare: Jesus

hört von der schweren Krankheit, er muß die tief innere Besorgnis seiner Freunde merken, muß also aufs Emsteste gefaßt sein — und bleibt doch zwei Tage ohne äußeren Zwang an dem Ort, wo ihn die Botschaft antrifft, als ginge

sie ihn nichts an, als sei er gar nicht dazu da, andem zu helfen und auf ihre Bitten zu hörm. Ist das nicht ein Rätsel?

Warum handelt Jesus so? Haben wir, liebe Mitchristen, nicht schon Ähnliches erlebt?

Wir waren in großer Not und Sorge. Es war uns, als müßten jeden Augenblick die Wellen über uns zusammen­ schlagen; als sei die Sonne unseres Glückes im Untergehen. In dieser Not wußten wir keinen anderen Rat, als dm Hei­

land anzuflehen. Es war kein schwächliches Beim, das

wie ein unsicheres Tasten und Spielm mit Gedanken und Gefühlen ist, sondem das Anklammem eines Versinkenden

an den letzten Halt, der noch zwischen ihm und dem Unter­

gang steht, oder wie ein sehnsüchtiges sich Recken und Strekken, um noch irgendwo einen Schein der untergehenden

Sonne zu erblicken. Aber wir mußten die bittere Enttäu­ schung erleben, daß wir uns müde und gebrochm von den

Drei Rätsel im Leben der Menschen

Knien erheben mußten, Gott erhörte unser Flehen und

Weinen nicht und ließ die Sonne unseres Glückes untergehen. Und die Erde ging ihren Gang weiter, als wäre nichts ge­ schehen. Gottes Helle Sonne schien strahlend

auf unser

bitteres Weh und Leid, als ginge unser Schmerz Gott nichts

an, als kümmere Er sich nicht um unsere Tränen und Angst.

Ist das nicht ein Rätsel? Habt ihr noch nie vor solchen Rät­ seln gestanden, wo ihr auf euer banges Warum keine Ant­

wort erhieltet; wo ihr das furchtbare Gefühl hattet, als sprächet ihr ins Leere, als gäbe es keinen Gott und keinen Heiland, der euch lieb hat? Nicht wahr, damals fühltet ihr

etwas von den erdrückenden Rätseln des Leides: Gibt es einen lieben Gott? Oder sind alle diese Worte nur Trug

und leerer Schall? Warum legt der uns ein Leid auf, der

uns lieb hat?

Aber das Rätsel des Leides ist nicht das einzige. Sondern dazu kommt noch ein anderes großes, daö Rätsel des Todes. Jesus, der von sich gesagt hat: Ich bin die Auferstehung und

das Leben,-------- Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; Jesus, der seine Macht über den Tod unzählige Male gezeigt hatte — läßt es ruhig geschehen, daß Lazarus

stirbt. — Ist auch er machtlos gegen den Tod? Muß er sich auch beugen vor dem unerbittlichen Knochenmann, der nicht

auf unsere Wünsche Rücksicht nimmt und sich nicht um

zerrissene Herzen kümmert? Hat der Tod also doch das letzte Wort zu sprechen, gegen das all unser Sträuben und

Aufmucken vergeblich ist? Da stehen wir mitten vor dem

großen Geheimnis, das unser Dasein beschattet und dem

Drei Rätsel im Leben der Menschen

sich der wissenssicherste, kutturstolzeste und oberflächlichste Großstädter ebensowenig auf die Dauer entziehen kann, wie das rückständigste, vorurteilövollste, verängstigteste Natur­

kind; ja dem jener oft weit hilfloser gegenüber steht, als

dieser. Wenn du es auch früher nie gespürt haben solltest, das tiefe Geheimnis, das quälende Rätsel unseres Menschen­ daseins, — als du am Sterbebette deines Vaters, deiner

Mutter oder deines Lebensgefährten standest und in das stille, blasse Antlitz blicktest, aus dem vor wenigen Augen­ blicken dich noch zwei liebewarme Augen angeblickt hatten, da hat auch dich der heilige Schauer vor der unerbittlichen

Majestät des Todes gepackt, daß du das tiefe, rätselvolle Geheimnis spüttest, das über unserm Leben liegt. Was ist

der Tod? Was kommt nachher, wenn der Vorhang gefallen ist? Gibt es etwas, das stärker ist, gibt es eine Macht, die den Tod überwinden kann? Oder ist es wirklich denkbar,

daß der, der noch unter uns in tausend Erinnerungen weilt, der, der in unserem Herzen lebt, völlig und endgültig auf­ gehört hat zu existieren? ist es möglich, daß wir selbst in

dieser einen Todesstunde unsere Existenz und unser Dasein verlieren? Wenn wir einmal vor solche Fragen gestellt waren,

dann merken wir es, auf wie schwankendem Grunde unsere materielle oder materialistische, unsere egoistische oder men-

schenvergöttemde Weltanschauung steht. Der Tod stößt das

alles um, und unser überttiebenes Selbstverttauen sinkt unter seinen Sensenstreichen zusammen.

Aber es ist noch ein Rätsel im Menschendasein, das uns

im heuttgen Textwort entgegenttitt: Jesus zieht nach Je-

Drei Rätsel im Leben der Menschen

rusalem, obwohl er weiß, daß die Juden ihn hassen, und ihn bei der letzten Begegnung auf Veranlassung der um ihre

Macht besorgten Priester steinigen wollten. Warum tut Je­ sus das? Ist eS Fatalismus — seinem Schicksal entgeht doch niemand —? Geht er, der tiefer in die Weltzusammen­

hänge geblickt hat wie wir, blind in sein Verhängnis, weil er es fühlt, daß es ihm doch nicht gegeben ist, seinem Ge­ schick zu entrinnen? Wir haben ja auch im letzten Jahrzehnt

etwas zu spüren bekommen von der Macht deS Verhäng­ nisses, daS uns in seinen Strudel hinabzog, ob wir wollten oder nicht; daS die Männer und Söhne unseres Volkes

zermalmte, daS unsern Reichtum und unsere Macht zerbrach und Tausende an den Bettelstab brachte. Ist eS angesichts

dieses Verhängnisses nicht das Klügste, es zu machen wie JesuS es zu tun scheint, alles unnütze Sträuben aufgeben,

einen doch nutzlosen Widerstand aufzugeben und sich hinab­ reißen zu lassen in den doch unvermeidlichen Untergang?

Ist eS nicht daS Vernünftigste, sich von seinem Schicksal treiben zu lassen?

Liebe Mitchristen, da stehen wir vor drei Rätseln des Men­ schenlebens: Leid, Tod und Schicksal, und uns bleibt nichts anderes übrig, als uns mit diesen Geheimnissen irgendwie auöeinanderzusetzen. Einfach an ihnen vorbeizusehen und die Augen zuhalten bis unS die Hände in unerbittlich harter Weise von den

Augen gerissen werden, das geht nicht an, weil eS feige und

unwürdig ist. Wozu sind die Rätsel da? Warum schafft Gott

nicht diese Geißeln des Menschengeschlechtes einfach fort?

Wir wollen uns von Anfang an klar machen, daß wir

Drei Rätsel im Leben der Menschen mit den Mitteln unseres Verstandes — und wenn wir noch

so viel Scharfsinn und Zeit daran verwenden — nicht den Sinn dieser Geheimnisse erraten können, weil ihre Lösung nicht in den engen Grenzen dieser Welt liegt. Die rein mensch­

liche, materialistische DieSseitS-Weltanschauung hat diesen Fragen gegenüber stets ihre vollständigste Hilflosigkeit er­

wiesen. Sie kann hier nur zwei Ratschläge geben: Möglichst schnell vergessen, was nicht zu ändern ist oder sich zu stoi­

schem Gleichmut gegenüber diesen Schicksalsschlägen zwin­

gen, die wir Menschen doch nicht aus der Welt schaffen kön­ nen. Alles andere, was von dieser Anschauung aus zur Lösung der Rätsel vorgebracht worden ist, ist leeres Gerede,

das wie Rauch vor dem Winde verfliegt, wenn wirklich ein­

mal solch ein Rätsel in das Leben tritt. Und Vergessen und Gleichmut sind keine Lösungen, sondem im Grunde nur

eine völlige Bankrott-Erklärung. Wir müssen unS schon auf

einen uns fremden Boden begeben, um ahnen zu können,

wozu diese Dinge von Gott zugelassen werden. Wir müssen dieselben einmal vom göttlichen Standpunkt Jesu aus be­

trachten. Gehen wir dazu wieder zu dem in unserer Geschichte berichteten Fall zurück.

JesuS läßt die Schwestern zwei Tage lang watten, ehe

er sich auf den Weg macht, um ihnen zu helfen. Daß eS nicht

Lieblosigkeit gewesen sein kann vonseiten Jesu, das fühlen wir doch mit vollkommener Sicherheit. Es muß doch irgend­ wie Fürsorge für die Seelen der Schwestem gewesen sein,

die ihn zu seiner Handlungsweise trieb. Diese wollte er fördern und reifen lassen, und eine sofortige Hilfe hätte daö

Drei Rätsel im Leben der Menschen

kaum bewirken können. Es ist ja leider Menschenart, alle noch so wunderbare Hilfe bald als selbstverständlich hinzu­

nehmen. Haben wir selbst nicht schon gebetet, und Gott er­

füllte unS unsere Bitten, ohne daß wir später auch nur im entferntesten daran dachten, daß die Erfüllung unserer

Wünsche aus Gotteö Hand kam? DaS, was wir erlebten, erschien unö ebenso natürlich, wie uns alle die Wunder dieser Welt natürlich erscheinen und wie wir die wunder­

barsten Erlebnisse oft mit stumpfer Gleichgültigkeit über

unö ergehen lassen. Erst werden wir gezittett und gebangt

haben; wenn lange Zeit alles Beten umsonst schien, alle

Hilfe aussichtslos und dann fast unerwattet noch die Ret­ tung kam, dann wußten wir etwas von dem unsagbar reichen Segen des Psalmenworteö: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen." Und würde

uns nicht aller Segen, der durch das Leid erwächst, verloren

gehen, wenn der Herr unö das Kreuz abnehmen würde, sobald wir darum bitten? Liegt nicht gerade im Druck, in

der Last des Kreuzes der Anttieb, alle Seelenkräfte anzu­ spornen, um nicht darunter zusammenzubrechen? Und ist

nicht anderseits gerade dieser Druck deö Kreuzes das, was uns zum Beten und Schreien veranlaßt: Herr, befreie mich

von

der Last des Kreuzes, laß den bitteren Kelch des

Leides an mir vorübergehen? Vor einigen Wochen wurde ein altes Fräulein unsere

Gemeinde beerdigt, das 36 Jahre lang ans Bett gefesselt war und unsägliche Schmerzen hat erdulden müssen all die

langen Jahre hindurch. Und doch hat diese Schwester Selma,

Drei Rätsel im Leben der Menschen

wie sie in den Kreisen ihrer Freunde genannt wurde, gerade durch ihr Kreuz einen so wunderbaren inneren Reichtum er­

worben, daß sie, die arme Kranke, unzähligen anderen mit vollen Händen Trost und Segen austeilen konnte. Merken

wir eö nicht in diesem Falle klar und deutlich, welcher Segen aus dem Kreuz entstehen kann? Auch sie hatte einst um

Gesundheit gefleht, und doch versagte Gott ihr die Erfüllung, weil er durch sie viele andere unter dem Kreuz segnen wollte.

Hast du, lieber Mitchrist, es nicht auch an dir erfahren,

daß sich unter einem Leid dein Herz Gott öffnete? Erinnerst

du dich nicht der Tage, wo um dich tiefeö Dunkel herrschte, so daß du nicht mehr ein noch aus wußtest und die Sonne deines Glückes für immer untergegangen zu sein schien? War eS nicht der Glaube an Gott, der dich damals errettet hat? Hast du dich nicht vielleicht erst in dieser Zeit zum ersten

Male in voller Klarheit begriffen, waS uns Christen der Glaube an den Heiland, den Kreuzträger und Sieger über

den Tod, bedeuten kann? Es ist doch kein Zufall, kein weichmütigeS Mitfühlen, wenn Jesus sich immer wieder an die

Traurigen, an die Armen, an die Mühseligen und Beladenen

wendet. Sondern sie allein sind eS doch, deren Herzen sich

nach ihm sehnen; sie sind es, die flehend ihre leeren Hände ihm entgegenstrecken. Sie sind unter dem Kreuz hellhörig

geworden, daß sie das, was er ihnen sagen und bringen will, aufnehmen — Erlösung und Frieden der Seele.

Ich glaube, wenn wir von diesem Standpunkte aus das Leid, das über die Erde geht, ansehen, begreifen wir doch

auch, daß eS seinen Platz auf der Erde haben muß und daß

63

Drei Rätsel im Leben der Menschen Gott auf das wirksamste Mittel, uns reif und innerlich reich zu machen, verzichten würde, wenn er das Leid aus der Welt nähme. Und endlich noch eins: Solange eS Menschen auf Erden

gibt, wird es auch den Tod geben. Der steht am Ende un­ serer Laufbahn mit so unabwendbarer Sicherheit, daß noch niemand auf seinem Wege ihn hat umgehen können. Ob

wir an ihn hier gedacht oder ihn vergessen haben, ob wir

unS auf ihn vorbereiteten oder in den Tag hineinlebten, ob wir ihn herbeisehnten als Erlöser von Schmerzen oder gegen ihn uns sträubten mit der ganzen, unverbrauchten Kraft der Jugend, er kommt doch über jeden. — Trostlos

wenn wir dann völlig hilflos sind oder ihm stumpf ent­ gegentaumeln, wie die unwissende Kreatur es tut. Für einen

aufrechten, tapferen Menschen — und das sollen wir alle

fein — geziemt es sich, mit offenen Augen dem Tod ins An­ gesicht zu sehen, und das können und dürfen wir, wenn wir mit Thomas sprechen lernen: „Wir wollen mit Jesu ziehen,

damit wir mit ihm sterben." Wer mit Jesu durch sein ganzes Leben gegangen ist, wer erkannt hat, daß sein Schicksal aus GotteS Hand kommt, der kann auch mit einem Lächeln auf den Lippen dem Tode entgegengehen, denn er weiß, daß der,

der mit ihm war sein Leben lang, und ihm das Schwerste und Schmerzlichste stets abnahm, der Heiland Jesus Chri­

stus, auch in der letzten Not bei ihm sein wird. Der hat dann nicht bloß mit den Lippen, sondem auch mit dem Herzen

beten gelernt: — „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir", und der weiß auch, daß Jesus auf diese Bitten

Drei Rätsel im Leben der Menschen

sein Ja und Amen, „eS soll also geschehen" antwortet und daß eS darum auch für ihn heißen kann: „Wer so stirbt,

der stirbt wohl." Aber wir wollen doch unser Evangelium nicht verlassen, ohne einen Blick auf die letzte Lösung aller Rätsel zu wer­

fen. Sie steht freilich noch nicht in unserem Text, aber sein

ganzer Inhalt weist auf dieses Ziel hin, so daß auch über unserem Text ein Leuchten wie von einer Hellen Lichtvision

liegt — Auferstehung. — DaS ist doch die völlige, endgültige Lösung aller Rätsel

und Geheimnisse unseres Erdenlebens, dieses unfaßbare, wundervolle Wort: Auferstehung! Etwas, was über die

Grenzen des Lebens hinausreicht, was völlig jenseits ist und deshalb ganz aus Gottes Hand kommt. DaS Wunder aller Wunder, daS wir erleben sollen: Du sollst leben, ob du gleich stürbest! Wer etwas von diesem Wunder gläubigen

Herzens hier auf Erden hat erleben können, d. h. wer es an

sich hat erfahren können, das Gewaltige: „Siehe, ich mache alles neu!" vor dessm Auge teilen sich die Nebel, die über seinem Leben lagern. Wo er einst nichts als Geheimnisse

und Rätsel sah, da lichtet sich das Dunkel, und er sieht die

liebevoll ordnende Hand Gottes und liest über seinem Leben mit unauslöschlicher Schrift die Worte: „Ich habe dich

je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen, aus lauter Güte." Und dann wird sein Herz friedvoll, weil es geborgen ist in Gott.

Amen. 5

Bruhns: Sonntagspredigten.

65

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade Luk. 23, 39—43. Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und wir zwar sind billig darin, denn wir empfangen, was unsre Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes getan. Und er sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.

„Ziehe deine Schuhe aus, denn das Land, darauf du

stehst, ist heiliges Land." Dieses Wort sagte einst Gott MoseS, als er sich anschickte, mit dem Volk Israel den alten Bund zu schließen; wieviel mehr gilt dies Wort uns, die wir heute auf den heiligen Boden treten wollen, auf dem einst der

neue Bund, der Bund der Gnade, geschlossen wurde. Heilige Herzen, heilige Gedanken wollen wir uns zum heutigen

Tage erbitten, es ist heiliges Land, besonders für uns Evan­ gelische. ES ist wohl mehr als Zufall, daß gerade wir Evan-

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade gelischen diesen Tag mit solcher Inbrunst begehen, daß er

zu einem der größten Feiertage in unserer Kirche geworden ist, denn über keinem Ereignis in der ganzen Heilsgeschichte

unseres Gottes steht das Wort „Gnade", das den Grund­ pfeiler unseres evangelischen Glaubens bildet, mit so un­

auslöschlicher Schrift geschrieben, wie über dem Karfrei-

tagsereignis, über dem Kreuz Christi.

Das Kreuz Christi ist die ergreifendste und lauteste Predigt

der Gnade, die jemals gehalten worden ist, eine echte, er­

schütternde Jesuspredigt, ohne viel Worte durch die Tat. Nichts von unserer Art hat diese Predigt Jesu; nicht eine

einzige tiefgründige Abhandlung über die Gnade, fernen

Vortrag, keine Erklärung der Zusammenhänge zwischen Schuld und Gnade hat er uns gegeben, statt dessen ging er

hin und ließ sich für uns ans Kreuz schlagen. Und auch dort

am Kreuz kein Wort der Erklärung an die Seinen, warum er diesen schauerlichen, allen bisherigen religiösen Anschau­

ungen und der ganzen Tradition widersprechenden Weg gehen mußte. Kein Wort, das auch nur auf den Sinn seines

Leidens und Sterbens, auf irgendeinen Trost in dem ent­

setzlichen Zusammenbruche hinweist, bloß wieder eine Tat, die alles, was geschehen ist, unendlich viel besser erklärt als die tiefgründigste religiöse Abhandlung. Er gibt einem armen,

von Menschen mit Recht verachteten, von der menschlichen

Gesellschaft auSgestoßenen und gerichteten Verbrecher das felsenfeste Versprechen: „Heute wirst du mit mir im Pa­ radiese sein!"

Bei dieser Geschichte, die zwischen den beiden zum Kreuzeö5-

67

Jesu Kreuz — baS Zeichen der Gnade tobe Verdammten sich abspielt, wollen wir heute in heiliger

Andacht verweilen, nicht um etwas Ergänzendes dazu zu sagen oder sie geistreich auSzulegen. Hier können wir nur

schauen und staunen und anbeten, denn zu übermenschlich

groß ist das, was Jesus uns auf Golgatha getan hat. Vom Schächer, den nichts mehr als Gnade allein retten

konnte, und Jesus, der das ersehnte Geschenk der Gnade gab, wollen wir heute sprechen.

Dem Schächer war jeder Halt genommen, und deshalb

hatte er alle Hoffnung aufgegeben und hoffte allein noch auf Gnade. Und worauf hätte er noch hoffen sollen, denn

die Menschheit hatte ihn völlig aufgegeben, hatte ihn als

Verbrecher aus ihrer Mitte gestoßen, da war es ihm klar geworden, daß ihm kein Mensch mehr helfen konnte, daß er endgültig und völlig von allen Menschen im Stich ge­ lassen worden war. Für uns ein grauenhafter Gedanke: mir

kann und will kein Mensch mehr helfen; und doch— ein Ge­ danke, den wir nicht einfach abweisen dürften, mit dem Hin­

weis, das kann und wird mir nie geschehen. Wir verlassen uns oft fest auf den Halt, den wir an anderen Menschen zu

finden gewohnt sind, und doch ist das nur ein scheinbarer Halt. Denke an deine Sterbestunde, die Menschenkunst wohl hinausschieben kann, aber die doch einmal kommen wird und

muß, und wo auch du es fühlen wirst, daß in dieser Stunde kein Mensch, auch der liebste nicht, dir einen Halt bieten kann. Und nicht nur diese äußerste Stunde wird uns allen das

lehren, daß die Menschen uns keinen Halt geben. Haben wir nicht im Grunde genommen es schon lange erkannt, daß in

Jesu Kreuz — bas Zeichen der Gnade den ganz großen und wichtigen Fragen uns Menschen nicht

helfen können; zwar in tausend Kleinigkeiten und Äußer­ lichkeiten erfreut uns menschlicher Beistand, aber wie steht eS z. B. um die großen Entscheidungen des Lebens, kann uns

die irgend jemand abnehmen? Haben wir bei den allerbesten, allerwohlmeinendsten Ratschlägen nicht immer daS Gefühl,

daß sie die letzte, die wichtigste, die alles entscheidende Frage

unserer Ungewißheit nicht beantworten? Wie steht es um die Sorgen, die uns die Nachtruhe rauben, die großen Schmer­

zen, die unser Herz zerreißen, die inneren Kämpfe, wo es um Selbstbehauptung oder Untergang geht, um die Ver­

suchungen, wo es um unsere Reinheit und Ehre geht? Haben

wir nicht das alles selbst meist ganz allein durchzukämpfen? Kann uns da etwa jemand so helfen, daß er uns die Ent­

scheidung abnimmt? Und erst recht der letzte, große, alles

entscheidende Schritt, der Schritt des Glaubens zu Gott hin muß von uns allein gemacht werden, den kann uns nie­ mand abnehmen, niemand uns sagen: daS tue ich für dich! Und wenn wir einen noch so treuen Seelsorger, noch

so gereiften Freund haben, den Schritt müssen wir doch

allein tun.

Liebe Mitchristen, ist nicht da unsere Hoffnung auf mensch­ lichen Halt vielleicht an sich schon ein großer Irrtum? Spielt

bei diesem Sichanklammern an Menschen nicht eins eine große Rolle — wir wollen die Verantwortung von uns auf

andere schieben, wir wollen die Entscheidung aufschieben, indem wir immer und immer wieder bei anderen Anregung

und Rat und Hilfe suchen, obwohl unser innerstes Gefühl es

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade

unö sagen müßte, hier hilft dir niemand, hier mußt du doch

allein handeln. 3m

Grunde sind wir, ebenso wie der

Schächer, in dieser Frage bloß aus uns selbst gestellt, nur

mit dem Unterschied vielleicht, daß er eS damals am Kreuz klar begriff, während wir uns immer wieder einer Täu­ schung hingeben und uns selbst betrügen.

Und noch ein anderer Halt war dem Schächer endgültig

genommen, der Halt an den äußeren Verhältnissen, an der gewohnten Umgebung, die für unö ja mit die stärkste Stütze

ist. Ihm war seine furchtbare Einsamkeit klar geworden,

schon äußerlich; aus der Menge buchstäblich herausgehoben, ausgestoßen von der Erde, und vom Himmel nicht ausge­

nommen, so hing er zwischen Himmel und Erde. Niemand,

der ihn bemitleidete, niemand, der mit ihm ging, allein dem Nichts gegenüber oder dem Richter. Das war es, was die

Einsamkeit für ihn so unerträglich machte, zu einer Qual

ohnegleichen — allein mit seinem Richter, ganz allein vor

seinen alles durchbohrenden, alles wissenden Augen, allein mit seiner Sündenlast. Fällt uns da, liebe Schwestern und

Brüder, nicht eine Stunde unserers Lebens ein, wo auch auf

unS diese furchtbare Einsamkeit lasten wird mit ihrer ganzen unerbittlichen Schwere, unsere Sterbestunde? Wenn unö

sonst stets liebe Menschen umgaben, wenn wir mitten im

Trubel der Arbeit oder Freude kaum je dazu kamen, unö einsam zu fühlen, wenn wir vielleicht geflissentlich der Ein­

samkeit aus dem Wege gingen, weil wir instinktiv fühlten, daß wir das Alleinsein mit unserem Richter, mit unserem Gewissen, nicht ertragen konnten, in dieser einen, der letzten

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade Stunde unseres Lebens, werden auch wir die Einsamkeit in

ihrer ganzen unerträglichen Schwere fühlen, niemand von den unseren, auch der treueste nicht, wird dann mit uns gehen. Da wird es auch für unö heißen: du und dein Richter und

sonst nichts und niemand. Wehe unö, wenn zu diesem Ver­ lassensein von Menschen und der lastenden Einsamkeit dann noch daS hinzukommt, waö den Todeökampf deö Schächers

so namenlos bitter machte: daß er den Halt, den ihm sein Glaube an Gott bisher geboten hatte, auch verloren hatte.

Die Worte: „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist?" sprechen, glaube ich,

nicht von Gottesfurcht, sondern drücken zitternde Furcht vor

Gott aus, weil er eö wußte, weil sein zermartertes Gewissen ihm sagte, daß sein Los in der Ewigkeit nicht anders sein

und werden könnte als es jetzt war — Verdammnis: alles aus, keinerlei Veränderung zum Besseren mehr, nichts,

woran sich die Hoffnung anklammern konnte, kein Licht­ strahl, kein Schimmer der Liebe mehr, im Angesicht der ewigen Qual.

Ich weiß, viele mögen diesen Gedanken gar nicht anrühren,

sie gehen solchem Ernst geflissentlich aus dem Wege, sie wol­

len ihre sogenannte teuer erkämpfte Ruhe nicht verlieren und verstecken sich hinter der Lüge: ich habe mir nichts vor­ zuwerfen und brauche mich vor meinem Gott nicht zu fürch­

ten. Aber selbst auf die Gefahr hin, diese Ruhe zu vernichten,

muß eö heute gesagt werden, müßte eö in ihr Leben hinein­ geschrien werden, in die ganze Sattheit und Selbstzufrieden­

heit der gedankenlosen Ruheseligkeit: vergiß nicht, daß du

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade auch einst dort stehen wirst wo der Schächer stand, Auge in Auge allein mit deinem Richter. Bist du wirklich sicher, daß diese furchtbar ernste Stunde, wo du ganz einsam sein wirst, nicht auch für dich der Anfang einer Ewigkeit sein wird,

über der das schreckliche Wort „Verdammnis" steht? Es muß endlich auch bei uns aus sein mit dem Scheinhalt, an

den so viele sich anklammern und den sie Gottes Gerechtig­ keit nennen, denn vor der Gerechtigkeit Gottes kann jeder

von uns, auch der Frömmste und Beste, nur zittern.

Eine schlimmere Finsternis und dunklere Nacht kann man sich gar nicht denken als die, aus der heraus der Schächer seine Bitte, seine letzte, einzigste, an Jesus richtete, denn er

hatte auch noch den letzten Halt, den wir haben, den Glauben an sich selbst, endgültig verloren, er hatte sich selbst aufge­

geben: „wir empfangen, was unsere Taten wert sind."

Das war der vollkommene Bankrott, da war nichts, nicht

ein Schein mehr von Wertvollem in seinen Augen übrig ge­ blieben: ich habe Verdammnis verdient, ich bin am Ende mit Schrecken. Wir können uns das gar nicht vorstellen,

was solch ein Bekenntnis eigentlich bedeuten mag, sich selbst aufzugeben, über sich selbst den Stab zu brechen; aber wir

ahnen es doch, daß das der tiefste Abgrund der Finsternis

sein muß. Und doch, liebe Mitchristen, das ist der Punkt, wo Licht in die schreckliche Finsternis kommen kann, Leben

in den grauenhaften Tod, Seligkeit in die Verdammnis. Das ist der Wendepunkt, dieses Bekenntnis: ich habe Ver­ dammnis verdient, denn hier kann nun endlich das andere

unfaßbar Große einsetzen, was dort anfängt, wo wir uns

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade selbst aufgeben: Gottes Gnade. Als der Schächer soweit

gekommen war, daß er allen Halt, den Menschen haben

können, verloren hatte und nur noch eine Bitte aussprechen konnte: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich

kommst!", da erfolgte die Zusicherung der Gnade: „heute wirst du mit mir im Paradiese sein!" Damit wandelte sich alles für den Schächer: zwar am

Kreuz in der äußerlichen Not des Leidens blieb er, aber sie

hörte auf, Verdammnis zu sein, denn das verdorbene, ver­

lorene Leben deö Schächers hatte ein Ziel erhalten, das Leiden einen Sinn, er blickte nicht mehr schaudernd ins Nichts, sondern vor seinen Augen lag in unendlicher Ausdehnung,

und doch greifbar nahe, das Paradies, das seine Heimat sein und bleiben sollte in alle Ewigkeit. Was brauchte er

jetzt noch darüber zu trauern, daß kein Mensch ihm helfen

konnte und wollte, sein Heiland half ihm ja. Was schadete

eS ihm, daß die Menschheit ihn aus ihrer Mitte gestoßen

hatte, Jesuö nahm ihn doch auf. Ja, was machte eö letzten Endes aus, daß ihn die Menschen als Verbrecher verachteten,

die Worte Jesu erhoben ihn weit, weit über alle die anderen, die über ihn den Kopf geschüttelt hatten, über alle die Ge­ rechten, die sich schaudernd von ihm abwandten. Die völlig

unverdiente, auch von ihm als reines Geschenk empfundene Gnade Jesu öffnete ihm die Tür inS Himmelreich, die

wohl für viele, vielleicht für alle ewig verschlossen bleiben

würde, die als Richter und Gerechte unter dem Kreuz standen. Fort war auch der Schrecken der Einsamkeit, der ihn

vorher in Todesangst geschüttelt hatte, er war ja nicht mehr

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade

allein, selbst nicht mehr allein in der einsamsten Stunde seines Lebens, wo seine Augen brechen und der unerbittliche Tod seine kalte Hand ihm aufs Herz legen würde. Jesus würde mit ihm

sein, Jesu warme liebevolle Hand würde seine erstarrenden

Finger fassen und ihn hineinführen über die dunkle Schwelle

des Todes, ins Paradies. Und nun braucht er auch nicht mehr

allein vor den Richter zu treten, vor dem selbst der Kühnste und Vorlauteste zitternd verstummt, vor Gott. Jesus wollte ihn hinführen zu Gott, dem Richter, und sagen: „sieh Vater,

hier bringe ich dir einen, den du mir gegeben hast, nimm ihn in Gnaden an um meinetwillen, denn ich starb und litt

für ihn." Und dann mußte ja alles, alles gut werden.

Kannst du das begreifen, lieber Mitchrist? Ahnst du nun, was Jesus dem verlorenen und verdammten Schächer am

Kreuz gab, als er ihm feierlich verhieß: „heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Geht nicht in dir eine Ahnung davon auf, was in dem Wort Gnade liegt? Vielleicht spürst du in

dir ein Sehnen nach dieser Gnade, die auch dein Leben ganz und gar umwandeln müßte, daß eS völlig anders würde

als bisher, anders in bezug auf Ziel und Zweck und Inhalt.

Wenn du dieses Sehnen hast, oh, dann gib den falschen Hochmut und die falsche Sicherheit endlich auf, wirf all die

irrtümlichen Hoffnungen beiseite, auch für dich ist die Gnade bereit, wenn du all deine vermeintliche Gerechtigkeit und

dein eingebildetes Recht aufgibst und durch die Last deines

verdorbenen Lebens und zerschlagenen Glückes innerlich ge­ brochen endlich bitten wolltest: „Herr, gedenke mein, wenn

du in dein Reich kommst, Herr, sei mir Sünder gnädig!"

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade Nur in den Schwachen ist der Herr mächtig, nur in denen wird Gott alles in allem sein können, die sich an seiner Gnade

allein genügen lassen, an der Gnade, die vom Kreuz Christi zu uns herniederströmt! Es ist mir jedesmal, wenn ich von dieser Gnade sprechen

muß, als versagte mir die Sprache, als fehlten mir die Worte, um das auözusprechen, was in meinem Herzen lebt. Heiliges Land, auf dem man steht und wo man spürt: wehe, ich habe

unreine Lippen. Aber Worte wollen wir ja auch nicht darüber

machen, sondern still aufschauen auf ihn, der, um uns diese

Gnade zu schenken und das größte Wunder zu vollbringen, das es gibt, schmutzige Sünder zu heiligen Kindern Gottes zu machen, am Kreuz die ganze Pein des Todes erlitt. Wenn

wir stille halten und uns in daS, was wir sehen, vertiefen, dann tut sich auch uns eine Welt auf, so ganz anders wie

unsere gewohnte, und wir blicken in die schier unfaßbaren

Zusammenhänge der Gnade, die über Kreuz und Schmach

hinaus ins Reich Gottes führen. Auch uns! Und wir fühlen eS, daß nicht nur unser Leben, sondern vor allem unser Sterben anders werden muß, wenn wir diesen Weg der Gnade suchen, daß dann auch wir nicht einsam und von

allen verlassen über die schaurige Schwelle des Jenseits

gehen müssen, sondem daß dann er bei uns ist, Jesus,

unser Heiland, und wir geborgen in seiner Liebe, umgeben von seiner milden Barmherzigkeit, eingehen werden ins

Reich des Vaters. Das ist Gnade, deren wir teilhaftig werden sollen. Das läßt sich nicht mit dem Verstand ergrübeln und erforschen.

Jesu Kreuz — das Zeichen der Gnade das läßt sich nur erleben in seiner für unsere menschlichen Begriffe vollständigen Unfaßbarkeit. Der russische Dichter Dostojewsky, einer der Begnadeten, die mit Seheraugen die Tiefe göttlicher Gnade geahnt haben, läßt einen nach

Vergebung lechzenden Sünder folgendes sprechen: „Mitleid

aber wird der mit unö haben, der mit allen Mitleid hat und der alles und alle verstanden hat; er, der einzige, der ist auch dein Richter. Er wird an jenem Tage zu uns sprechen: kommt auch ihr — wird er sagen —, kommt ihr Trunkenbolde, kommt

ihr Schwächlinge, kommt ihr Sünder! Und wir alle werden

hervortreten, ohne unö zu schämen, und werden vor ihm

stehen — Und die Weisen und Klugen werden auSrufen: Herr! warum nimmst du sie auf? Und er wird sagen: ich nehme sie auf, ihr Klugen, ich nehme sie auf, ihr Weisen,

weil sich kein einziger für dessen würdig hielt — Und wird seine Hände auöstrecken, und wir werden niedersinken — und werden weinen — und alles verstehen! Dann werden

wir alles verstehen — Herr, dein Reich komme!"

Die Weisen und Klugen und Gerechten werden sich viel­ leicht abwenden von dieser Gnade, aber wir, die wir unö als

Sünder fühlen, als Unwürdige, die wir an uns und unserer

Güte und Kraft irre geworden sind, wir wollen hintreten

unter das Kreuz Jesu, das Zeichen und die Bestätigung der Gnade, und es gläubig anschauen und an unö erleben, bis

auch wir davor niedersinken und verstehend die Hände aus­ strecken und flehen: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst, zu uns komme, Herr, dein Reich, Reich der Gnade."

Amen.

das

Die Bedeutung des Ostersieges

Luk. 24, i—9. Aber am ersten Tage der Woche sehr früh kamen sie zum Grabe und trugen die Spezerei, die sie bereitet hatten, und etliche mit ihnen. Sie fanden aber den Stein abgewälzt von dem Grabe und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesu nicht. Und da sie darum bekümmert waren, siehe, da traten zu ihnen zwei Männer mit glänzenden Kleidern. Und sie erschraken und schlugen ihre Angesichter nieder zur Erde. Da sprachen die zu ihnen: Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier; er ist auf­ erstanden. Gedenket daran, wie er euch sagte, da er noch in Galiläa war und sprach: Des Menschen Sohn muß überantwortet werden in die Hände der Sünder und gekreuzigt werden und am dritten Tage auferstehen. Und sie gedachten an seine Worte. Und sie gingen wieder vom Grabe und verkündigten das alles den Elfen und den andern allen.

Es hat in meinem Leben Zeiten gegeben, wo ich mit der Auferstehung

Jesu

nichts

Rechtes

anzufangen

wußte.

Nicht, daß ich sie in Unglauben geleugnet hätte, aber ich sah in ihr etwas, was ich gar nicht für mein Glaubensleben

nötig hatte. Daß Jesus auch nach dem Tode weiter existieren müßte, war mir persönlich ebenso sicher und klar, wie das Fortleben der Seele nach dem Tode, woran ich glaubte.

Die Bedeutung des OstersiegeS Aber dann kamen in meinem Leben Zeiten, wo mir Jesu Auf­ erstehung ganz groß und wichtig wurde, zu einem Grundpfeiler

meines Glaubens, — das waren die Zeiten, wo alle Hoff­

nungen auf Recht und Gerechtigkeit, auf den Triumph der guten Sache und den Sieg der Wahrheit schwanden, wo ein

geradezu undurchdringliches Dunkel über meiner Zukunft

lag, wo alle menschliche Hilfe versagte. Damals lernte ich begreifen, daß es nur eine Glaubensgewähr für den Sieg

des Guten, nur eine Hoffnung darauf, daß das Recht stärker ist wie die Ungerechtigkeit, gibt, und daß nur eine Tatsache

unö trotz des Siegesfestes des Todes an die triumphierende Kraft des Lebens glauben läßt, — die Auferstehung Jesu von den Toten. Damals in den dunkelsten Stunden meines

Lebens lernte ich Ostern dankbaren Herzens feiern und lernte mitjubeln: „Leben und Sieg ist da, singet Hallelujah!"

Sollten nicht die Erlebnisse der letzten Jahrzehnte so man­

chen in unserm deutschen Volk gelehrt haben sich an Ostern zu freuen? Sollten nicht auch wir, denen einst der Sieg des

Guten selbstverständliche Naturordnung zu sein schien, jetzt, wo wir die furchtbare Übermacht des Bösen kennengelernt haben, uns freuen an Jesu Ostersieg über alle Mächte der Finsternis? Wirklich Feste feiern können wir nur dann, wenn das Fest einem inneren Bedürfnis entgegenkommt, wenn die rechte Stimmung da ist, sich zu freuen. Die rechte Stimmung

zur Osterfreude ist nur da, wo man mitten im Dunkel drin­ gesteckt hat, ohne einen Ausweg zu finden. Sollte nicht jetzt

unser Volk für die rechte Osterstimmung vorbereitet sein, weil die Dunkelheit so groß ist, die unö umgibt?

Die Bedeutung des OstersiegeS

Wir wollen heute betrachten: i. wie unerträglich das Leben ohne Ostern sein kann, 2. daß Ostern ein

SiegeSfest ist und 3. daß dieses Fest uns allen eine Aufgabe stellt. —

Wie unerträglich das Leben ohne Ostern sein kann, da­ von gibt unser heutiger Text uns ein anschauliches Bild.

Die Frauen, die am Ostermorgen auf die Wanderschaft ge­ gangen sind, haben kein anderes Ziel mehr, als das Grab.

Wie fest hatten sie auf Jesus vertraut, wie war er der In­

halt ihres Lebens, Denkens und Fühlens geworden, der

eigentliche Sinn ihres Daseins, und nun, wo er tot war, da konnten sie nur noch an sein Grab pilgem, um dort zu

trauern. Wie manches Menschen Leben gleicht diesem Pilgem

der Frauen zum Grabe. Da sind aste die Unzähligen, die glauben, das Dasein des Menschen sei mit dem Tode

zu

Ende. Für sie alle ist das ganze Leben nur eine Wandemng zum Grabe, eine Wanderung, die ja gewiß zeitweilig durch blühende Gärten und weite, blumige Wiesen führen kann, aber die doch schließlich vor der Trostlosigkeit des Nichts

endet. Man kann natürlich diesen traurigen Ausgang der Wanderschaft für längere oder kürzere Zeit vergessen, man kann natürlich Ablenkungen suchen und finden, und das tun auch die meisten Menschen im ausgiebigsten Maße! Aber wenn man

sich einmal dessen bewußt geworden ist, daß der Weg unaufhalt­ sam dem Grabe entgegenführt, daß eS ja bei dieser Weltan­

schauung kein anderes Ziel als den Tod gibt, dann kann man

sich nicht mehr an den schönen Blumen freuen, dann hört man nicht mehr die Vögel jubeln und jauchzen, dann scheint die

Die Bedeutung des OstersiegeS Sonne uns nicht mehr Freude ins Herz, dann können alle diese Dinge das Dunkel des Grabes nicht verscheuchen, das mit unabwendbar surchtbarer Sicherheit uns einmal doch um­

fangen muß. Wer sich einmal der Trostlosigkeit des Lebens

ohne die Auferstehungshoffnung bewußt geworden, über dessen Leben lastet eine schwere, schwarze Wolke, die keinen Lichtstrahl mehr durchläßt.

Aber dieser Gang dem Grabe entgegen, mitten im blühen­ den Frühling, war nicht das einzige, was die Frauen traurig

machte. Es war die Begegnung mit dem Rätselhaften im Leben, die ihnen alle Freude raubte. Da hatten sie am Kar­

freitagabend Jesu Leichnam inS Grab gelegt, und mit dem schweren Stein die Tür verschlossen, und nun kamen sie nach

der Sabbatruhe des sonnabends hin und fanden das Grab

leer. Daß das Rätselhafte dieses Vorganges sie tief beun­ ruhigen mußte, daß sie keinerlei Aufklärung für das Ge­

heimnis finden konnten, liegt ja auf der Hand, denn ohne Jesu Auferstehung wäre eS ein ewiges Geheimnis geblieben, das

all ihr Scharfsinn nicht zu enträtseln vermocht hätte.

Wie oft begegnen wir nicht solchen Rätseln, die für unser Verstehen völlig unzugänglich sind. Da hören wir klagen:

warum mußte mein junger, starker, gesunder Mann, der Ernährer und Erzieher einer großen Familie durch einen sinnlosen Zufall ums Leben kommen, und im Nachbarhause

lebt eine alte Frau, die leidet unsägliche Schmerzen, kann nicht leben und nicht sterben, ist sich und anderen eine Plage

und sehnt sich nach Erlösung und stirbt doch nicht? Oder da hören wir eine andere Klage: mir geschieht himmelschreiendes, .80

Die Bedeutung des Ostersieg es unerhörtes Unrecht, ich kann mich wenden wohin ich will, niemand kümmert sich um mich, und denen, die mir Unrecht

tun, geht es gut, ihnen glückt alles; mit dem Gelde, um das sie mich gebracht haben, verschaffen sie sich neue Reichtümer. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Oder eine dn'tte Klage: ich

mag anfangen was ich will, mich über meine Kräfte mühen und schaffen, aber ich komme nicht vorwärts, immer wieder

kommen unverschuldete Rückschläge und Unglücksfälle, und meinem Kollegen, der sich nie anstrengt, der die Arbeit an sich herantreten läßt, der viel weniger kann als ich, dem geht es glänzend. Kennst du nicht ähnliche Rätsel? Hast du nicht auch schon darunter geseufzt? Gewiß lösen sich manche Rätsel

von selbst auf, und manche Geheimnisse werden klar und durchsichtig, so daß wir schon hier im Leben auf unsere

Frage warum eine unzweideutige Antwort erhalten. Aber

wir wollen uns daS eine auch ganz klar machen, daß unend­

lich vieles unbegreiflich, ein unlösbares Rätsel bleibt; daß hier im Leben lange nicht immer der ersehnte Ausgleich er­ folgt, sondern daß unendlich oft die Menschen wegsterben, ohne die Strafe für ihre Übergriffe erlitten zu haben; das

neben den unter ihrer Schuld Leidenden auch viele sind, die unverschuldet ins Unglück geraten, und daß wirklich mit

irdischem Maße gemessen so mancher frühe Tod und langes Dahinsiechen sinnlos sind und bleiben. Das ist ein für unser

Verstehen undurchdringliches Dunkel, und wer einmal von diesem Dunkel umfangen worden ist, der sehnt sich mit der

ganzen Kraft seiner Seele daraus weg, ins Licht hinein.

Die Bedeutung des OstersiegeS Und noch eines erfahren wir über die Frauen am Ostermorgen, sie stehen am leeren Grabe, sie sind in der unmittelbaren

Nähe des Auferstandenen und sind dabei doch bekümmert.

Die Sorgenlast drückt sie nieder, sie können nicht die Sonne sehen, die scheint, weil ihre Blicke nur zur Erde und zum

Erdenstaub gerichtet sind. Kennst du nicht auch diese Last der Erdensorgen, die uns einfach zu zerbrechen droht, so daß wir nichts anderes denken können, als diese Sorgen, und es nicht

merken, daß die Sorgen schon lange zerstreut und gegen­ standslos geworden sind. Aber wir merken es nicht, weil

wir nicht mehr die Kraft haben unsere Blicke aufzurichten und das zu sehen, was die Sonne verscheucht — den Sieg des Lichtes über alle Finsternis! Denn das ist es, was Ostern

denen verkündet, die aus ihrer Dunkelheit heraus mit sehn­ süchtigen Blicken dem Licht entgegengeschaut haben, denen,

die sich nicht abfinden konnten und wollten mit den Unge­ rechtigkeiten und Rätseln des Lebens: „Jesus ist Sieger und mit ihm und durch ihn sind Tod, Sünde und Sorge über­ wunden."

Welch ungeheure Bedeutung in der Botschaft dieses Sieges

liegt, können wir uns kaum mehr ganz klar machen, weil wir uns so sehr an diese Worte gewöhnt haben, daß wir sie

gedankenlos

hinnehmen als

etwas

Selbstverständliches.

Aber dieser Glaube an Jesu Sieg, der Glaube an den Sieg

des Lebens und des Guten und des Rechts war es, der einst unsere Vorfahren, die Germanen, für das Christentum ge­ wann. Denn in der Religion der Germanen war dieser

Glaube keineswegs vorhanden, im Gegenteil standen sie

Die Bedeutung des OstersiegeS alle unter der niederdrückenden Überzeugung, daß niemand

seinem finsteren, dunklen Geschick entgehen könne, daß man

trotz aller Tapferkeit und allen Mutes doch schließlich unter­ liegen müsse, so wie die Nibelungen, trotz des Mutes des finsteren Hagen doch schließlich alle an König Etzels Hof

umkamen. Ja sogar die Götter, die etwas Licht in diese Finster­ nis hereinbrachten, entgehen ihrem Geschick nicht, nach ver­ zweifelter Gegenwehr kommen sie alle um im Kampf mit

den Unholden und Riesen, und finstere Dunkelheit und Bos­ heit herrschen über die verödete Erde. So sah die Vorstellungs­ welt der Germanen aus, denen nichts übrig blieb als mit Mut und männlich aufrechter Entschlossenheit den Tod zu

ertragen, weil kein Lichtstrahl in ihr Dunkel fiel. Mußte es nicht wie eine Erlösung für sie klingen: das „Leben und Sieg ist da, singet Hallelujah!" Mußte eS nicht ihrer ganzen

Gedankenwelt eine neue Richtung geben, wenn es nun durch Christus, durch Ostern heißen konnte: „Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten, siehe er ist auferstanden, er ist

wahrhaftig auferstanden." Also nicht der Tod hat daS letzte Wort, nicht das dunkle, finstre Grauen bleibt der Herrscher, er ist nicht mehr das unabwendbare, grausame Geschick, dem niemand entgehen kann, sondern das Leben ist, trotz allem,

was wir sehen und erleben, stärker wie der Tod. Das Gute besiegt schließlich daS Böse, Sorge und Sünde sind nicht

allmächtig, denn Jesus zertritt die Feinde des Menschenge­

schlechtes mit sieghaftem Tritt, die Ostersonne überstrahlt leuchtend und für alle Ewigkeit die Finsternis

des Kar­

freitags. 6*

83

Die Bedeutung des OstersiegeS Könnt ihr eS jetzt ermessen, wie anstelle des UrgrauenS, des Zitterns und abergläubischen Fürchtens vor schrecklichen

Mächten der Finstemis nun Osterjubel einziehen mußte in die Herzen, wie nun in deutschen Landen die Herzen vor

Freude übergingen und der Sang ertönte: „Christ ist er­ standen von der Marter alle, des sollen wir alle froh sein,

Christ will unser Trost sein! Hallelujah!" O! solch ein Osterjubel soll auch heute bei dir herrschen!

Vielleicht kommst du vom frischen Grabe hierher — Christ ist erstanden, waS sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?

Deine bitteren Tränen sollen versiegen, daS Leben siegt, es

darf nur noch ein Trennungöschmerz übrig bleiben, wie ihn eine Mutter fühlt, die ihre Tochter von sich ziehen lassen

muß in ihr neues Heim, in dem die Tochter an der Seite des geliebten Mannes ihr Glück findet. Da kann wohl Sehnsucht

im Herzen der Mutter sein, aber nie verzweifeltes Weinen und Klagen. So sollt auch ihr nicht klagen, sondern auch nur euch heißer sehnen fernen: „O! wann werde ich dahin kommen,

daß ich dort mit all den Frommen, seh' dein holdes An­

gesicht."

Und ihr, die ihr mit den Rätseln des Lebens nicht fertig werden könnt, auch euch gibt Ostern den Schlüssel zu den

Geheimnissen in die Hand. Wenn auch hier auf Erden kein Ausgleich geschaffen wird, wenn es heutigen Tages Men­

schen ähnlich gehen sollte wie Jesuö, der trotz seiner Unschuld nicht gerechtfertigt wurde, der sterben mußte, trotzdem Tau­

sende ihn brauchten; so öffnet Ostern den dunklen Vorhang

und läßt unS einen Blick tun in das Jenseits, wo Gott ab-

Dir Bedeutung des OstersiegeS wischen wird alle Tränen aus ihren Augen, und wo die Leid­ tragenden getröstet und die Kreuzträger erhöht werden, wo ein jeglicher seinen Lohn erhalten wird, wie er gehandelt

hat zu Lebenszeiten, eS sei gut oder böse. Weil Luther Ostern erlebt hatte, konnte er sein trotziges Lied singen: „Und wenn

die Welt voll Teufel wär" ... und weil Paulus an die

Auferstehung glaubte, stimmte er seinen Siegesgesang an: „Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg, Gott sei

Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn

Jesum Christum." — Fühlst du es jetzt, daß zu Ostern alle Glocken klingen und singen sollten in der Welt, als wärö

ein Siegeöfest! Es ist ein Sieg, wie er größer nie erfochten ist, — Jesus siegt, denn er ist auferstanden! —

Aber aus diesem Siegesfest erwächst eine Aufgabe für uns alle, die wir diesen Sieg kennen und in unserm Herzen

den Siegesgesang mitsingen. Die Frauen am Grabe hatten

diese Aufgabe sofort erfaßt, denn es heißt von ihnen: „Und

sie gingen wieder vom Grabe und verkündigten das alles den Elfen und den andern allen." — Ja! kann es denn noch etwas Größeres und Schöneres geben, als den Bedrückten,

den Traurigen und den im Dunkel dahinschleichenden Men­

schen zuzurufen: „Christus ist auferstanden, fort mit euem Sorgen und mit eurer Todesangst, fort mit eurer tiefen Mut­

losigkeit, die euch alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft nimmt. DaS Gute und das Leben siegen doch!"

Heute, wo unser deutsches Volk nur Dunkelheit sieht, wo jeder Lichtschein, der sich irgendwie zeigt, sofort von feind­

lichen Händen zugedeckt wird, heute braucht es wieder mehr

Die Bedeutung des OstersiegeS denn je Ostersonne für Herzen und Häuser. Tragt ihr sie ihnen inS Leben, die ihr hergekommen seid Ostern zu feiern!

Niemand ist dazu zu schwach oder zu wenig vorgebildet. Einst waren es schlichte Frauen, die Gott zu Osteraposteln aus­

gewählt hatte, sollten Frauen heute nicht mehr dazu taugen?

Nein! niemand soll und darf sich ausschließen, jeder soll es durch sein Leben bezeugen, daß das Leben und das Gute

stärker sind, als Tod und Sünde. Jeder soll es den Ver­

zagten und Enttäuschten sagen, daß trotz alles Dunkels es

doch Tag wird, weil Jesus im Regiment sitzt und seine Sie­ gesfahnen noch heute wehen, allen zur Freude, die an ihn glauben! Amen.

Der neue Geist Apostelgesch. 2, 12—18. Sie entsetzten sich aber alle und wurden irre und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Die andern aber hatten's ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins. Da trat Petrus auf mit den Elfen, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ähr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr zu Je­ rusalem wohnet, das sei euch kundgetan, und lasset meine Worte zu euren Ohren eingehen. Denn diese sind nicht trunken, wie ihr wähnet — sintemal es ist die dritte Stunde am Tage —; sondern das Lst's, was durch den Propheten Joel zuvor gesagt ist: „Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weis­ sagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Ältesten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in denselben Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.

Unser heutiges Textwort ist der Erzählung von der Aus­

gießung des heiligen Geistes auf die Jünger entnommen.

Jesus hatte ihnen in seinen Abschiedsreden, wie wir sie am

ausführlichsten im Johannes-Evangelium lesen, den heil. Geist, den Parakleten, verheißen, ein Wort, das Luther mit „Tröster" übersetzt, daö wir vielleicht besser mit „Sach-

Der neue Geist Walter, Fürsprecher" wiedergeben sollten. Dieser Paraklet sollte an den verwaisten Jüngern die Stelle Jesu überneh­

men, sollte sie in alle Wahrheit führen, und sollte ihnen Stütze und Halt sein. Auf diesen Freund und Beistand war­ teten die Jünger, indem sie jeden Tag im Tempel im Gebet

zusammen waren und sein Kommen erflehten. Und da zu Pfingsten geschah das Wunder, das plötzlich das ganze Haus, darin die Jünger waren, erfüllt wurde von etwas Unsichtbarem, Unfaßbarem, das wie ein gewal­

tiges Brausen, wie ein mächtiger Wind vom Himmel kam, und dann, fast möchte man meinen, sichtbar wurde: „Man

sah an ihnen die Zungen zerteilt,als wären sie Feuer." Also,

irgendeine nie dagewesene Erscheinung trat ein, für deren Beschreibung

der

Verfasser

der

Apostelgeschichte Lukaö

mühsam nach Worten ringt, weil er daö Neue nicht auszu­ drücken imstande ist. Und dann geschah etwas, was sich in

klaren, greifbaren Tatsachen zeigt und in genauen Worten ausgesprochen werden kann — die Jünger predigen, predigen

in merkwürdiger Sprache, aber doch so gewaltig, daß 3000

sich an einem Tage taufen lassm, daß 3000 die gewaltige Kraft des neuen Geistes an sich verspüren. An ihrer ganzen

bisherigen Weltanschauung und Lebensrichtung werden sie irre; die Macht des Geistes zwingt sie, ein neues, ungewisses Leben zu beginnen, weil sie sich durch diese Macht überwun­

den fühlen. Was war nun das, was in Wirklichkeit zu Pfingsten ge­

schah? Darüber wollen wir heute nachdenken, indem wir hören.

Der neue Geist wie i. die

Unbeteiligten,

Andersdenkenden

das

Geschehnis beurteilen; waö 2. in den Jüngern vor sich ging und was 3. daö Ereignis bewirkte. Zur Beurteilung deö PfingstereigniffeS ist eS an sich nicht gleichgültig, was unbeteiligte Zuschauer sür einen Eindruck

davon gehabt haben. Aber was werden wir von einem Ur­ teil über ein Ereignis mit so weltbewegenden Folgen zu halten haben, wenn es lautet: „Sie sind voll süßen Weines." Gewiß werden sie den äußeren Eindruck, den das Verhalten

der Jünger gemacht hat, einigermaßen richtig wiedergegeben haben. Aber es ist doch nur eine ganz äußerliche Ähnlichkeit

gewesen, die vielleicht im Durcheinandersprechen und in der

deutlich zutage tretenden Begeisterung sich zeigte. ES ist ein Urteil, daS für die Charakterisierung deS Verhaltens der Jünger wenig Wert hat, wohl aber bezeichnend für die Men­

schen selbst ist, die dieses Urteil fällen. Sie haben für daö, waS da wirklich vorgegangen ist, gar kein Organ, sie begreifen

eS überhaupt nicht, daß da vor ihren Augen etwas absolut

nicht Alltägliches geschehen ist, und statt still abzuwarten, was auS dem sonderbar Wunderbaren sich entwickeln würde

sind sie gleich fertig mit ihrem oberflächlichen, herrlich un­

komplizierten Urteil: „sie sind voll süßen WeineS." Man möchte fast meinen, daß die, die so urteilten, heute leben. ES ist dieselbe Weisheit, die der Unglaube noch heute

gleich zur Hand hat, auf die er nicht wenig stolz ist, weil

alles dadurch so furchtbar einfach und unverwickelt wird; man braucht sich bei diesem Urteil garnicht aufzuregen und

sich gar keine Gedanken über Neues, noch nicht Gesehenes 89

Der neue Geist zu machen. Mit einem Schlagwort tut man das Unverständ­

liche ab und kann dann ruhig weiter in der gewohnten Ge­

dankenlosigkeit und in der gewohnten Selbstüberhebung, die alles zu wissen und zu durchschauen meint, verharren.

Kennen wir nicht alle diese hausbackene, philisterhafte, nüchterne Weisheit, die sich mit einigen gedankenlosen Wor­

ten über Dinge hinwegsetzt, über die die Klügsten sich die

Köpfe zerbrochen haben, um dann bei dem demütigen: „Ich weiß, daß ich nichts weiß" anzulangen? Diese stumpfe, satte

Selbstüberhebung ist noch heutigen Tages der Tod jedes geistigen und geistlichen Lebens. Man ist immer fertig und

bereit mit seinem Urteil, weil alles im Leben für diese Art Leute nur eine Oberfläche, aber keine Tiefe hat. Da heißt es: „Die Welt ist durch Zufall entstanden", oder gar: „Der

Mensch stammt vom Affen ab" oder: „Alles ist Entwicke­ lung." Oder man meint hochmütig: „Es gibt keinen Gott,

weil ich ihn nicht gesehen habe" oder: „Ich glaube nur das, was ich begreifen kann, alles andere ist Unsinn und Ein­

bildung." Oder sie verstecken sich hinter die Wissenschaft oder vielmehr daS, was sie Wissenschaft nennen und wo­ runter sie etwas verstehen, was sie völlig verflacht, um alle

Tiefen und offen gebliebenen Fragen gebracht haben, und

der sie nur das entnahmen, was ihnen paßte.

Wir werden uns über diese Urteile nicht wundern können, denn die sie fällen, sind Menschen aus einer — man möchte

fast sagen — anderen Welt. Wenn man mit ihnen spricht, dann kommt eS uns vor, als redeten sie eine andere Sprache

wie wir, weil sie alles geistliche einfach nicht fassen und be-

Der neue Geist greifen können. Sie kennen auch kein still bescheidenes Ab­

warten : Ich kann es zwar eben noch nicht erfassen und mit­ machen, aber ich werde weiter prüfen und forschen und nach­

denken, ob ich vielleicht der Sache seinen tieferen Sinn ab­ gewinne, die sie für unzählige andere emste Gottsucher ge­

habt hat, und durch den sie selig und glücklich geworden sind. Sie kennen deshalb auch nicht die Freude des Findens, wenn das Dunkel sich allmählich lichtet und man in weiter

Ferne die ersehnte Wahrheit zu ahnen beginnt. Wem diese Demut und dieses bescheidene Abwarten ganz

abgeht, der wird nie etwas vom Wehen des heiligen Geistes

erfahren, über den können neue, welterschüttemde Bewe­ gungen dahinbrausen, ohne daß er jemals etwas davon

ahnt. Und trifft ihn einmal doch ein leiser Hauch deö Neuen, dann hüllt er sich schnell in seine hausbackene Selbstüber­ hebung und hat eine banale, flache Erklärung zur Hand,

und das Neue, wirklich Lebendige ist für ihn abgetan.

Hier ist der entscheidende Punkt: In der inneren Bereit­

schaft sich einem neuen Geist zu erschließen liegt die Ent­ scheidung über die Zukunft. Wer diesen Geist ablehnt, für den gibt eö nur ein Stehenbleiben, daS zu einem allmäh­ lichen VerknöcherungS- und Absterbeprozeß wird. Wer sich

dem Geiste Gottes öffnet, für den gibt eS ein BorwärtS-

fchreiten von einem inneren reichen Erleben zum anderen, ein freies Wachstum,

einem wunderbar hohen Ziel ent­

gegen. — Aber sind das nicht zu hochtönende Versprechungen? Ist

eS Tatsache, daß wir solch einen unendlich großen, herr-

9i

Der neue Geist lichen Fortschritt erleben sollen, wo doch im heutigen Text

nur von einem Geist gesprochen ist, der die Gabe des Weis­ sagens verleihen soll: „Auf meine Knechte und auf meine

Mägde will ich in denselbigen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen." Äst denn daS Weis­

sagen wirklich ein ernstzunehmendes Gut, ist nicht viel Einbildung und Spielerei dabei, wenn jemand sich anmaßt,

unö die Zukunft vorauSzusagen oder sonst allerhand Weis­

sagungen auszusprechen? Ja wenn daS Wort hier im landläufigen Sinne gebraucht

wäre, dann hätte die Gabe, die der Geist Gottes den Men­

schen vermittelt, nicht viel Wert. Aber der jetzige Sprach­ gebrauch ist ein Mißbrauch eines Wortes, das ursprünglich und überall in der Bibel eine ganz andere, ernstere Bedeu­

tung hatte. ES bedeutet, daß jemand innerlich so ganz eins geworden ist mit Gott, daß er nicht bloß im Auftrage Gottes, sondern auch ganz im Sinne Gottes reden kann; daß sich vor seinen Glaubenöaugen, den Augen seiner Seele, die großen Zusammenhänge der Dinge, die Gott allein ordnet,

ahnend enthüllen, daß er von Gott selbst die Weisheit er­ hält, den tieferen und den meisten ewig verborgenen Sinn der Dinge zu schauen und anderen zu verkündigen. Wer

diese Gabe erhalten hat, der bildet sich nicht mehr ein, über alles selbst urteilen zu dürfen und mit Geheimnissen und

Tiefen spielend fertigzuwerden, der wartet geduldig ab,

bis Gott ihn das schauen läßt, was ihm vorher verschlossen und daher unverständlich war, bis Gott den Schleier des

Geheimnisses lüftet und ihn in das verborgene Land seiner

Der neue Geist Hoffnung und Sehnsucht blicken läßt. Wer den Geist der

Weissagung erhalten hat, der bleibt mit seinem Leben und Erleben nicht an der Oberfläche, sondern spricht gehorsam aufhorchend: „Rede Herr, dein Knecht hört." Der weiß,

daß, soviel der Himmel höher ist als die Erde, Gottes Ge­ danken höher sind wie unsere Gedanken, und der lernt auch hinter scheinbaren Härten in der Lebensführung und in „un­

gerechten" Schicksalsschlägen die

liebevolle Hand Gotteö

erkennen. Aber der Geist der Weissagung öffnet auch die Augen

für die erschütternden Tatsachen, daß die Sünde mit Not­ wendigkeit Verderben nach sich zieht, daß jede Schuld sich auf Erden rächt, daß jede Sünde, auch die am häufigsten

unbeachtet begangene Sünde der Selbstsucht, Unrecht ist und irgendwie Schaden anrichtet. Er erkennt den TodeSkeim in

einem vielleicht blühmden, mächtigen, lebenstrotzenden Volk, weil er die Schoßsünde deö Volkes durchschaut und erhebt

im Namen Gotteö seine warnende Stimme: „Irret euch

nicht, Gott läßt sich nicht spotten, waö der Mensch säet,daö

wird er ernten." Das ist die Gabe, die der heilige Geist den Menschen ver­

mittelt, mit GotteS Augen sich selbst und die Welt zu schauen; eine Gabe, die durch ihre schonungslose Selbstkritik uns

furchtbar unbequem sein kann, die aber keinerlei Selbst­ überhebung aufkommen läßt, weil der, der sie besitzt, weiß,

daß er selbst nichts ist und nichts bedeutet, weil Gott alles ist und auö Gottes Hand alle Erkenntnis und alles innere

Wachstum und alle Erfolge kommen. Aber weil eben die.

Der neue Geist die die Gabe des heiligen Geistes von Gott haben, selbst mit all ihrer Stümperei und ihrem Versagen und all den mensch­

lichen Mißgriffen zurücktreten wollen, deshalb kann Gott

durch sie so Großes wirken, wie er einst durch die Jünger tat. Diese schwachen, ängstlichen, wenig gebildeten Fischer

und Handwerker setzten eine Welt in Bewegung, stürzten

Reiche und schufen einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte, weil Gottes Kraft in ihnen mächtig war und sie diese Kraft

nicht durch eigenen Vorwitz hinderten, sondern nur seine Werkzeuge und Gefäße sein wollten.

Liebe Mitchristen! DaS ist es auch, was wir heutigen TageS vor allem brauchen, solch eine Umwälzung von innen heraus;

nicht eine Umwälzung, wo der Geist des Hasses, der Hab­ sucht und des Eigennutzes triumphiert, — dadurch wird nicht das Geringste wirklich gebessert — sondem wo Gottes Geist

zur Herrschaft kommt, und wir alle uns wieder von diesem

Geist führen und leiten und einigen lassen. Solch eine wunderbare Wendung kann nur geschehen, wenn Gott wieder

ein Pfingsten über die Erde gehen läßt, wenn er wieder

seinen Geist in die Herzen der Menschen ausgießt, nicht hie und da bloß dem einen oder anderen, — obwohl auch das

schon viel bedeuten würde — sondern wenn er seinen hei­ ligen Geist in seine Gemeinde, seine Kirche auf Erden gibt. Wir Menschen, auch die geistbegnadetsten Gottesmänner,

dringen nicht durch bei der Masse, die für das Geistige und

Geistliche kein Organ hat, denn alles prallt an ihrer stump­ fen, satten Selbstzufriedenheit ab. Der Geist der Weissagung

im biblischen Sinne muß einziehen in ihre Herzen und ihnen

Der neue Geist Augen und Ohren öffnen, daß sie die großen Wunder Gottes wiedererkennen und sich Gott zu ihrem König erwählen,

der der verdurstenden Menschheit Ströme lebendigen Wassers geben kann, daß sie wieder neu und jung werde.

Und das ist das schönste an Pfingsten, daß Gott spricht: „Ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch."

Auf daß sie alle eins werden, ein Geist, eine Taufe, ein Gott

und Vater, ein Glaube, eine Kirche. Liebe Freunde! Ist das

nicht wundervoll, was uns hier in Aussicht gestellt wird?

Eine Einigung in einem Geist! Nicht mehr diese furchtbaren Trennungen, die durch die ganze Menschheit gehen und auch

unser Volk zerreißen, nicht mehr Volk wider Volk, arm wider reich, vornehm gegen gering, Mann wider Weib, Par­

tei wider Pattei, Konkurrent gegen Konkurrenten,

jung

gegen alt, sondern eins. Gott will etwas geben, was alle

diese Gegensätze, alle diese unglückseligen, klaffenden Ab­

gründe überbrückt; Bruder soll sich zu Bruder, Schwester zu Schwester finden — eine Kirche. —

Können wir etwas dazu tun? oder müssen wir müßig, die Hände im Schoß, zusehen, bis Gott seinen Geist strömen läßt? Hat eö am Ende keinen Sinn, zu schaffen und zu werben, solange uns Gott seinen Geist vorenthält? Ist eö nicht Ver­

messenheit, wenn wir Gott vorgreifen wollen, bevor er die Pforten des Himmels geöffnet hat, um seinen Geist aus­

zugießen auf alles Fleisch? Nein, nimmermehr sollen wir Fatalisten werden, die faul und stumpf warten, bis das

Wunder geschieht. Wir wissen, daß das Wunder von Gott

und von ihm allein kommt und kommen muß, aber wir

Der neue Geist können das Gefäß bauen, um die Ströme des Geistes auf­ zunehmen, wir müssen schaffen und arbeiten, um in schwerer,

ermüdender, scheinbar aussichtsloser Kleinarbeit den Boden

vorzubereiten. Keine Arbeit ist dabei zu klein, zu unwichtig oder unbedeutend, alle Hände sollen sich regen, daß das Wunder endlich geschehen kann. Die Gebetshände sollen

sich zum Himmel emporstrecken im Flehen: „Komm, heiliger Geist", in der Fürbitte: „Dein Reich komme, erbarme dich unserer Gemeinde, unseres Volkes,

der armen kranken

Menschheit, schick deinen Geist!" Wir sollen durch Wort

und Vorbild schaffen, daß die Menschen wieder einträchtig beisammen sind im Gotteshaus, wie die Jünger einst zu

Pfingsten, daß sie sich wieder unter das Wort stellen, wieder

auf Gottes Stimme lauschen lernen. Wir wissen zwar, daß

wohl durch einzelne Gottbegnadete

Gott

seine

Arbeit

tut, daß aber nur die große Kirche, die Gemeinde Gottes,

der Ort ist, wo Gott zum Herm der Welt wird, zum Herr­ scher, dem kein Herrscher gleichet, daß sie die Stätte ist, in die er einziehen, in der er sein Szepter schwingen wird. Sie

gilt es zu bauen, in ihr und für sie zu wirken, damit es neu

und herrlich werden kann in der Welt; daß sein Wille ge­ schehe auf Erden, wie im Himmel, und eine Herde unter

einem Hirten werde. Pfingsten — keine Pfingstgebräuche und schönen kirch­ lichen Sitten zeichnen dieses Fest aus. Und die allzu Weisen

sind mit ihrem Urteil schnell bereit, sie schütteln die Köpfe und zucken die Achseln über die, die auf die Gabe des hei­

ligen Geistes warten. 96

Der neue Geist Wir wollen unö durch das nicht irremachen lassen, son­

dern unS sehnen und beten um ein Pfingsten, um das Wun­ der, daß Gottes Geist in uns, in der Kirche und in der ganzen

Welt zur Herrschaft kommt!

Ja, komm du Geist der Wahrheit und kehre bei unS ein!

Komm, Herr Gott, heiliger Geist! Amen.

7

Bruhns:

Sonntagspredigten.

97

Der neue Alltag Apostelgesch. 2, 42—47. Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. ES kam auch allen Seelen Furcht an, und geschahen viel Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig waren geworden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Ähre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war. Und sie waren täglich und stets beieinander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in Häusern, nahmen die Speise und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber tat hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeinde.

Am vorigen Sonntag haben wir Trinitatis, das letzte Fest des Kirchenjahres, gefeiert, wo noch einmal, wie in leisen Akkorden,

die Töne zusammenklangen, die einst zu Weihnachten, zu Ostern

und Pfingsten an unser Ohr drangen. Heute ist der erste Sonntag der festlosen Zeit. Wir haben wohl noch den fernen

Klang der Feiertagsglocken in den Ohren; es zittert noch

etwas nach von der Freude ,

die in den Festtagen uns

gegeben wurde, aber wir stehen doch wieder mit unserem ganzen Sein mitten im Alltag. Und nun soll es sich erweisen.

Der neue Alltag ob wir wirklich Feste zu feiern verstehen, d. h. ob etwas von der Freude,

die uns in den großen Festen der Christen­

heit gegeben wurde, nun noch weiter in unseren Herzen bleibt, ob diese Freude imstande ist, unseren Alltag zu

veredeln und und seiner

ihm

mit seinen Sorgen und seiner Not

Enttäuschung

ihren Stempel aufzudrücken.

Denn unser Alltagsleben ist die Probe

aufs

Exempel

und der Beweis dafür, daß das, was uns in den Festtagen gegeben wurde, nämlich daß die großen Taten Gottes,

wirklich einen tiefen Einfluß auf unser Leben haben. Denn eS ist eine unleugbare Tatsache, daß die Außenstehenden

nicht durch unsere Feiertage überzeugt und nicht dadurch gewonnen werden, wie wir uns in unseren FesttagSgewän-

dern im Gotteshaus zeigen, sondem dadurch, wie sie uns im Alltag sehen. Denn nicht wahr. Feste zu feiern verstehen

sie auch, vielleicht imponierender und lauter als wir, aber das, waS als stilles Sehnen, auö unausgesprochenem Leid

in ihren Herzen klingt, das ist die Überwindung deö Alltags.

Denn — wir wollen es uns ganz klar machen —, daß der Alltag ungeheuer schwer auf der Menschheit lastet, daß wir

alle uns heraussehnen aus dieser Tretmühle des täglichen Einerleies, aus all dem Leid der sozialen Verhältnissen und des Wirtschaftslebens, und daß viele doch keinen rechten

Ausweg sehen. Aber wir wissen es, daß unser Gott und der

Glaube an ihn, uns diesen AuSweg gibt. Und so wollen wir unS denn von dem heutigen Sonntag, der an der Schwelle der festlosen Jett steht, ein Programm geben lassen, wie

wir das Leid und die Last deö Alltags durch Gott überwin7'

99

Der neue Alltag den sollen. Wir wollen uns aus unserem Text sagen lassen erstens: was der eigentliche Grund für die Last des Alltags

ist, zweitens: uns ein Heilmittel zeigen lassen, und drittens

betrachten, wie durch dieses Heilmittel das Leben zu einem anderen wird.

Was ist der letzte Grund dafür, daß das Zusammenleben der Menschen ein so schweres ist?

Wir hören unendlich viele Gründe; jeder weiß etwas zu sagen, waS sein Leben bedrückt. Wir können es in unzähligen Zeitungsartikeln lesen. Da heißt es: Soziale Ungerechtig­

keit, Änflationseleyd, Aufwertungöverbrechen, oder wie alle

die vielen Dinge heißen, die unS als Gründe für das Elend der Menschheit immer wieder vorgetragen werden. Gewiß,

wir wollen eS nicht übersehen: in diesen Gründen liegt viel

Recht und wir wollen nicht meinen, daß das alles nicht wie eine schwere Last auf die Menschen drückt, aber wir wollen unS

auch klar machen, daß alle diese Gründe oder Veranlassun­ gen zum Leid doch eine große Wurzel haben und daß wir

nur dann wirklich etwas bessern können, wenn wir die Wur­ zel finden und sie bekämpfen. Diese Wurzel alles Übels im

Zusammenleben der Menschen ist und

bleibt

doch

vor

allem die Selbstsucht der Menschen, der rücksichtslose Egois­

mus. Man hat die Selbstsucht verschleiern wollen, indem man ihr ein schönes Mäntelchen umhing, und in gefälligeren

Worten auödrückte, daß sie nicht so häßlich aussehe. Da spricht man von dem notwendigen Kampf umS Dasein oder von dem Platz an der Sonne, den man sich erobern müsse, oder von der freien Bahn dem Tüchtigen, und vergißt bei allen

ioo

Der neue Alltag

diesen entschuldigenden Worten doch eins: daß die Selbstsucht, die bloß ihr eigenes Glück baut, die rücksichtslos die Ellbogen

braucht, um vorwärtszukommen, ihr Glück stets auf Kosten

anderer findet; daß der Weg zum Aufstieg und zum Glück der Egoisten immer über die Tränen und das Leid und das

Glück anderer geht. Wie ein dunkles, schwarzes Verhängnis

liegt über der Menschheit die Selbstsucht. Wie wenig wirk­

liches Zusammenarbeiten finden wir, wie wenig wirkliches Hand in Hand gehen, einem Ziel entgegen. Wir finden

unter den Menschen meist ein Gegeneinanderarbeiten, ja viele empfinden eö geradezu als das Normale, daß jeder in seinem Nachbar einen Konkurrenten erblickt, gegen den

er mit aller Macht kämpfen muß, ja daß man in seinem

Nächsten fast einen Feind sieht. Dadurch wird das Zusammen­ leben der Menschen so unerträglich schwer. Denn es gibt

auf dieser Grundlage kein gegenseitiges Verständnis, sötte

dem nur noch völliges Mißverstehen, man mißtraut sei­

nem Nachbar, man kann das nicht verstehen waS er will, ja man will ihn auch gar nicht verstehen. So durchzieht unsere Häuser und unser Geschäftsleben und unser ganzes Volk ein trostloser Kampf aller gegen alle, weil man keinen ge­

meinsamen Boden und kein gemeinsames Ziel mehr hat. Jeder

hat seinen eigenen kleinen Götzen, das eigene „Ich", daö er anbetet und weil jeder nur sein eigenes Ziel vor Augen, sein eigenes Ich lieb hat, dem er Genuß verschaffen will,

darum gibt eS bestenfalls ein Nebeneinandergehen, das aber durch jeden kleinen Anstoß zu einem Gegmeinandergehen

wird. Das ist etwas, was durch die ganze Menschheit geht. IOI

Der neue Alltag dieses Elend der Selbstsucht, welches unser Glück zerstört und das kaum eine gemeinsame Freude mehr aufkommen läßt. Denn eö ist doch leider wahr geworden, daß im Ge­

schäftöleben des einen Leid oft deö andern Freude ist und

deö einen Glück des andern Tränen.

Auf diese Art und

Weise wird das Leben zu einer Hölle.

Aus dieser Selbstsucht entsteht mit Notwendigkeit noch

etwas anderes. Wmn man tagaus, tagein in die Häuser der Menschen kommt und von ihren kleinen oder großen Sorgen und von den tiefen Schatten hört, die über ihrem

Leben liegen, sieht man, welch eine Hochflut von Zank und

Streit, von Mißverständnissen und Gekränktheit durch die

Herzen und das Leben der Menschen zieht. Und wenn man dann

den letzten Grund dieses Zankes und Streites sucht, sind eS meist nur Kleinigkeiten. Alles und jedes wird zum Anlaß

genommen, sich mit seinem Nächsten zu entzweien und die Wege auseinandergehen zu fassen. Und obwohl es meist nur Nichtigkeiten sind, findet man doch nicht die Kraft, auö diesen

Kleinigkeiten herauSzukommen. Keiner ist klug und stark

genug, um hinzugehen und dem anderen die Hand hinzu­ strecken und zu sagen: Laß die Kleinigkeiten begraben sein! Die Selbstsucht hat die Menschen so klein gemacht, und daher

finden sie keinen Ausweg. Daö sind die beiden Dinge, die das Leben des Alltags oft zu einem so trostlosen machen,

und die gemeinsame Wurzel des Übels ist die Selbstsucht. Eö gibt keinen anderen Weg, um die Leiden deö AlltagS-

auö der Welt zu schaffen als den, das Übel an der Wurzel anzupacken. Wir können nicht daran glaubm, daß eö mög-

Der neue Alltag lich wäre, durch soziale Reformen oder durch eine blutige

Revolution oder durch eine neue Regierungsform eine wirk­ liche Besserung herbeizuführen. Gewiß, wir Christen wer­ den uns dem nie verschließen, wenn eS gilt, Tränen zu trock­

nen und gegen Unrecht zu kämpfen, mit den Waffen die uns

Gott für den Kampf gegeben hat. Aber eine wirkliche Radikalkur ist nur dann möglich, wenn wir das Übel an

der Wurzel anfassen. Und da gibt eS nur ein Heilmittel,

das wirklich hilft: Neue Menschen. Ja, ist das denn ein Heilmittel? Heißt eö nicht mit

anderen Worten: Es ist unmöglich, etwas zu ändern? Heißt das nicht: Irgendeiner Utopie nachjagen? Kann denn ein

Mensch den andem neu machen?

Oder können wir uns

selbst neu machen? Nein, bei Menschen ist daö unmöglich,

aber wir kennen einen, der gesagt hat: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er nicht in das

Reich Gottes kommen" und „Siehe, ich mache alles neu!" Dieser eine ist Jesus. Wir blieben ewig stecken im Fluch der

Selbstsucht, wenn nicht in der heiligen Schrift die herrlichen

Worte stünden von einem neuen Geist, von einem neuen Herzen, daö Jesus geben will; und daß diesen Worten und Versprechungen wirkliche Tatsachen entsprechen, beweist die

kurze Schilderung des Lebens der ersten Christen. In schlichten, packenden Worten zeichnet unser Text das

Leben der ersten Gemeinde, die aus dem Geist Jesu gefroren

war und die ganz und gar auf einem Boden lebte, den Jesus vorbereitet hatte. „Sie waren alle beieinander und hielten

alle Dinge gemein, ihre Güter und Habe verkauften sie und

Der neue Alllag teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war." Es klingt fast wie ein Märchen, daß so etwas möglich ist. Und

doch ist gerade in diesem einen, waS uns berichtet wird, ein Beweis dafür, daß unser Heiland uns nicht bloß schöne

Sonntagsgefühle geben will, sondern daß es sein Wille war, den Alltag umzugestalten. Die schlichte Erzählung unseres Textes hat von jeher eine ungeheure Anziehungskraft aus­

geübt. Selbst die Feinde Jesu wie Karl Marx haben auf das

Leben der ersten Christen als auf einen Jdealzustand hinge­ wiesen : wenn damals Kommunismus geherrscht habe, warum

sollte er sich jetzt nicht verwirklichen lassen, so dozierten sie.

Nur eins übersahen sie dabei, daß es vor allen Dingen darauf ankommt, die Wurzel des Übels auszureißen, wenn man

wirklich die Verhältnisse bestem will, während durch äußere

Zwangsmaßnahmen, die sie anwenden wollten, nur die

Nutznießer der Privilegien andere würden und das alte Elend wieder in einem anderen Gewände erscheinen mußte.

WaS daS Leben dieser ersten Gemeinde so wunderbar an­ ziehend gestaltet, liegt auf rein geistlichem Gebiet: Gemein­

schaft mit Gott durch Jesus und Gemeinschaft untereinander,

das ist das einzige Heilmittel. ES ist also eine ganz neue Welt, die unsere Textworte schildern: „Sie blieben beständig in der

Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen

und im Gebet." Die erste Voraussetzung für diesen neuen

Alltag ist, daß wir uns in die Apostellehre vertiefen. Da steht im Mittelpunkt dieser Lehre unzweifelhaft die Person

Jesu. Wer sich von ihm leiten läßt und durch den Glauben mit ihm in Lebensgemeinschaft tritt, der wird zu einem neuen

Der neue Alltag Leben gedrängt. Wieviel hat uns das eine Wort, das über Weihnachten steht, zu sagen:

„Also hat Gott die Welt

geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab."

Müssen

wir uns durch dieses Wort nicht tief beschämt daß wir immer

noch

nach

unseren

kleinen

fühlen,

Vorteilen

gieren; öffnet dieses Wort nicht unsere Hände, daß wir

anderen helfen müssen, wenn wir unS

vor

die Liebe

Gottes gestellt sehen, der seinen einzigen Sohn für unS

fortgab? Und weiter das

stellt uns der Apostel Lehre vor

Kreuz, an dem in erschütternder Weise daS Wort

verwirklicht wird: „Wie er geliebt hat die Seinen, hat er sie geliebt bis ans Ende." Können wir wirklich noch nach­ tragend sein, wenn wir ihn sprechen hören: „Vater, vergib ihnen"? Oder können wir unsere Unfreundlichkeit oder Ge­ reiztheit entschuldigen mit Nervosität oder gedrückter Stim­

mung, wenn wir auö seinem todesmatten, gequälten Munde die Worte der Liebe hören: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein?" Und können wir engherzig auf unser Recht

pochen und um jeden Preis uns selbst durchzusetzen suchen im Angesicht des Kreuzes mit seiner stummen erschüttern­ den Frage: „DaS tat ich für dich, was tust du für mich?"

Wahrlich, als Mensch gewordenes Opfer der Liebe steht

Jesus vor unS. Muß nicht der, der ihn täglich sucht, sich seines Egoismus' schämen und seine Selbstsucht bekämpfen? Hast du daS nicht auch schon in deinem Leben erfahren, lieber

Mitchrist, daß der Glaube an JesuS dich zwingt, hinzugehen

und desgleichen zu tun wie er?

Aber am unmittelbarsten predigt den neuen Geist doch 105

Der neue Alltag das

heilige

Abendmahl,

über

dem

daö

Wort

Jesu

schwebt: „So oft ihr von diesem Brot esset und von

diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herm Tod verkündigen"

und über dem der abschiednehmende Heiland die Worte

sprach: „Daö ist mein Leib, das ist mein Blut, für euch ge­ geben zur Vergebung der Sünden." Ich glaube, wir haben

es schon alle erfahren in stillen Feierstunden unserer Abend­

mahlsgänge, daß unsere Selbstsucht uns in dieser Stunde der Gemeinschaft mit Jesus in ihrer ganzen Unwürdigkeit

und Verwerflichkeit erschien, daß wir daö Bedürfnis spür­ ten hinzugehen und uns mit unseren Widersachern zu ver­

söhnen, daß wir uns vomahmen, einem Menschen, den wir

gekränkt hatten, nun doppelt Liebe und Freundlichkeit zu

erweisen. Solltest du daö noch nie gespürt haben, lieber Freund? Dann fürchte ich, daß dein Abendmahlsgang nur eine äußere Form war, bei der deine Seele kalt blieb. Aber

jedenfalls war er nicht das, waö er einst für die Urchristen­ heit war — eine Kommunion, ein Gemeinschaftömahl —,

bei dem alles Trennende abfiel und in nichts zusammen­ schrumpfte, weil sie sich alle in Dankbarkeit beugten vor

der

unendlichen Liebe

Jesu Christi:

„Für euch gegeben

zur Vergebung der Sünden."

Und noch eins nennt der heutige Teft, was den neuen Geist in der Gemeinde zur Herrschaft führte: „Sie blieben

beständig im Gebet." Nicht im Gebet des Pharisäers: — Ich danke dir Gott, daß ich besser bin wie die anderen —

sondern im Gebet des Zöllners: Herr, sei mir Sünder gnä­

dig. Wenn unser Gebet ein wirklich emsteS Ringen und

106

Der neue Alllag Kämpfen mit Gott ist — und das sollte jedes Gebet sein — wenn wir auf den Knien liegen vor ihm und mit ihm um den Frieden unserer Seele ringen, dann ist es doch undenk­

bar, daß wir gleich darauf hingehen und unseren Bruder

anfahren: „Bezahle mir alles, was du mir schuldig bist." Und wer im Ernst sein Vaterunser betet, der kann die Hand des Bruders nicht wegstoßen, die sich Vergebung heischend ihm entgegenstreckt, denn in seinen Ohren klingt das Wort nach: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben...

Das ist der Weg der Gemeinschaft wo viele eins werden

durch einen Geist, wo viele einen Weg gemeinsam gehen, einer dem andern helfend und stützend und Hilfe empfangend.

Ständig bleiben in der Apostel Lehre, im Brotbrechen und

im Gebet. So kommt der neue Geist, der neue Menschen schafft, so entsteht ein Alltag, der wie ein Festtag wirkt, so

werden Häuser gebaut, von denen man mit Freude sagen

kann: Siehe, eine Hütte Gotteö bei den Menschen! Wollen wir nicht auch mitschaffen und mit Hand anlegen, daß es

nicht bloß hie und da eine solche Hütte Gotteö in der Christen­ heit gebe, sondern daß aus diesen Hütten eine Stadt Gottes

werde? Fangen wir doch dort an, wo eö am nächsten liegt, in unserem eigenen Hause, bei unserer Familie. Wollen wir doch anfangen das, was Egoismus zerstörte, durch den neuen Geist, den Gott in unser Herz legt, wieder herrlich

aufzubauen. DaS soll eS sein, was von den Festen, die hinter unö liegen und von derem hellen, göttlichen Schein noch ein Glanz in

unseren Herzen geblieben ist, in unseren Alltag strömt und

Der neue Alltag ihn neu und licht und warm gestaltet. Dann wird auch über

unserem Alltag immer wieder das Wort stehen: „Sie lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber tat hinzu täglich, die

da selig wurden zu der Gemeinde." O, daß doch dieses Wort wieder bei uns wahr würde,und unser Alltag für JesuS und das, waö er uns bietet, werben könnte!

Amen.

Der Segen des Leidens (Gustav - Adolf - Festpredigt.)

Epheser z, 13. Darum bitte ich, daß ihr nicht müde werbet um meiner Trübsale willen, die ich für euch leide, welche euch eine Ehre sind.

Das Kapitel, dem unser Textwort entnommen ist, be­ ginnt mit den Worten: „Ich, Paulus, der Gefangme Christi

Jesu." Dicke, undurchbrechbare Mauern trennen ihn also von seinen Freunden, unter ständiger, mißtrauischer Be­

wachung seiner Feinde befindet er sich, statt mit Dransetzung aller Kräfte an der großen Sache des Himmelreiches ar­

beiten zu können, fitzt er scheinbar brachgelegt in der Trost­

losigkeit seiner Einsamkeit. Es scheint ein rätselhaftes Ge­ heimnis Gotteö zu sein, daß dieser Mann, statt am Missions­

werk mitzuarbeiten, untätig sein muß. Erinnert nicht in vielem die Diaspora an den gefangenen Paulus: Dicke Mauem von Friedensverträgen, die für die

Ewigkeit geschaffen sein wollen, trennen vielfach unsere

Glaubenöbrüder von uns, ihren Freunden. Hilflos sind sie

der Gewalt der Feinde preiögegeben, in ihren natürlichsten

Der Segen des Leidens und berechtigsten Lebensäußerungen behindert durch rohe Gewalt. Wer in der auölandSdeutschen Diaspora gewirkt hat, der weiß, daß schmerzlicher als die täglichen Kämpfe und die tausend kleinen Leiden das Gefühl der Vereinsamung drückt, daß vielfach das Alleinstehen in scheinbar aussichts­ losem Kampf schwer auf der Arbeitsfreude lastet. Es ist

also ähnliches Leid, wie eS der gefangene Paulus durchkämpfen mußte; so können wir auch seine Worte: „darum bitte ich, daß ihr nicht müde werdet um meiner Trübsal willen, die

ich für euch leide", als Bitte der Diaspora annehmen, und betrachten, was sie unS zu sagen hat: 1. Die Trübsal der Diaspora ein Segen für unS;

2. sie bittet unS, nicht müde zu werden. Die Trübsal der Diaspora ein Segen für uns.

Diese Behauptung ist auf den ersten Blick nicht ganz ver­

ständlich, da der Zusammenhang dabei zu fehlen scheint.

Wie kann das, was unbekannte Leute und seien es tausendmal Volks- und Glaubensgenossen, auszustehen und durchzu­ kämpfen haben, unS hier im Heimatlande von Nutzen oder

Segen sein? Aber beobachten wir eö nicht oft im Reiche GotteS, daß des einen Leiden andern zur Erlösung und zum

Segen werden? Denken wir doch an Jesu Wort: „Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, bleibt eö allein, wenn eö aber erstirbt, bringt eS viel Frucht."

Dieses Wort bezieht sich gewiß in erster Linie auf Jesu Er­ lösertod und sein stellvertretendes Leiden, aber eö ist damit auch ein Gesetz ausgedrückt, das im ganzen großen Haus­

halte GotteS gilt. Schon die Naturwissenschaft weiß, daß HO

Der Segen des Leidens keinerlei Energie nutzlos verlorengeht und daß aus dem Tode und Verwelken des einen stets Leben und Kraft für

andere fließt. Aber auch aus Leiden und Opfer der Menschen

entsteht immer irgendwie Segen und neues Leben, wenn

wir das auch nicht gleich sehen; wo aber die Aussaat an Opfer und Leiden gespart wird, kann auch keine Ernte er­

folgen. Und da heißt es nicht bloß, daß die, die mit Tränen säen, selbst einmal mit Freuden ernten werden, sondem eS

kann auch heißen, meine Trübsal leide ich für euch, das

heißt, die Leiden des einen werden einem ganz anderen zum Segen.

Für die Richtigkeit dieses Wortes

gibt es kaum einen

besseren Beweis, als den gefangenen Paulus. Während er in seiner Gefangenschaft gewiß manchesmal gemeint haben wird, zur Untätigkeit verbannt zu sein, ließ Gott ein Wunder

geschehen, von dessen Tragweite gewiß Paulus sich am we­

nigsten eine klare Vorstellung gemacht haben wird. Die Briefe, die er aus seiner Gefangenschaft geschrieben hat, sind

für Millionen Menschen zu einem Hellen Licht in dunklen Stunden geworden, und gerade die Worte, von denen wir

spüren, daß sie unter Tränen und Kämpfen geschrieben worden sind, leuchten wie die köstlichsten Edelsteine weltüberwindenden Glaubensmuteö. Denn der erhöhte Heiland,

der bei ihm war, und als dessen Werkzeug er sich in seiner

Schwäche fühlte, ließ aus der Tränensaat immer wieder neues, köstliches Leben sprießen, denn im Reiche Gottes

wird keine Träne umsonst geweint und kein Gebet umsonst gesprochen und kein Kreuz zwecklos getragen.

ui

Der Segen des Leidens Wenn wir von hier aus das alles betrachten, was Gott an Leid und Verfolgung und Elend über unsere Brüder in der Zerstreuung hat gehen lassen, dann verstummt das unge­

duldige Fragen und Hadem — warum müssen gerade wir

evangelischm Deutschen so viel leiden? dann erstirbt der Zweifel: gibt es dmn einen Gott, der Gebete erhört und

dem wir unsere Wege befehlen können, weil er alles wohl macht? dann schäum wir ahnend in Zusammenhänge, die aus dem Nebel auftauchen, und bemerken, wie hie und da die Tränensaat zu keimen beginnt und aus dem Tode des

einen Leben und sieghafte Kraft der andem entsteht. So

lernen wir unfern Gott wieder inniger anbeten und ehren, der allein das Wunder tun kann, Fluch zum Segen zu wm-

den und Tod in Leben. Vor einem Jahr verließ ein junger Pfarrer in Rußland

seine Familie, um ahnungsbangen Herzens nach Sibirien zu ziehen, dort die Evangelischen in ihrer Einsamkeit zu stär­

ken. Auf einer seiner Reisen erschoß ihn hinterrücks ein est­ nischer Kommunist, weil, wie er sagte, durch die Predigt des

Pastors

seine

ganze

kommunistische Agitationsarbeit in

diesen Dörfem um ihre Früchte gebracht worden sei, und weil er kein anderes Mittel besaß, das Evangelium zu be­

kämpfen, als den Revolver.

Als die Nachricht von dem

scheinbar sinnlosen Tode nach Petersburg zum Bischof kam,

glaubte dieser, daß jegliche Arbeit an dieser sibirischen Ge­

meinde nun für lange unmöglich sein würde. Wer beschreibt sein Erstaunen, alö am nächsten Tage zwei Zöglinge des von ihm geleiteten Predigerseminarö zu ihm kamen, um ihn zu 112

Der Segen des Leibens bitten, gleich nach Beendigung ihres Studiums nach Si­

birien geschickt zu werden, um in die Fußstapfen des ermor­

deten Pfarrers zu treten. Noch heutigen Tages wird auf den Gräbern der Märtyrer die Kirche Gottes gebaut, und aus ihrer Blutaussaat erwächst eine herrliche Ernte an Liebe

und Gottverttauen. Aber noch in einem weitgehenderen Sinne sind die Trüb­

sale und Kämpfe der Diaspora ein Segen: sie können uns, der Mutterkirche, manche Fingerzeige geben für die Lösung der Probleme, die uns beschäftigen. In unseren geordneten,

festgefügten Verhältnissen rächen sich Fehler, die begangen werden, oft erst nach Generationen, dort draußen in der

Kampfesfront der Diaspora, wo der Gegner jede Schwäche

sofort erspäht und Fehler sofort die ernstesten Folgen zei­ tigen, treiben die Probleme einer viel schnelleren Lösung zu als bei uns. Wer auf die Kämpfe draußen achtet, der spürt

etwas davon, daß sie auch um unseretwillen gekämpft wer­ den, daß sie uns viel angehen und uns den Weg weisen

wollen. Stellen uns nicht die Leiden unserer GlaubenSbrüder in Rußland in erschütternder Form die Gefahr vor Augen, die jetzt wieder vom Antichristentum der Sache unseres Hei­

landes auch in unserer Heimat droht? predigt die furchtbare Verrohung und sittliche Verkommenheit der kommunistisch

erzogenen Jugend Rußlands uns nicht zäheren Widerstand gegen die Entchristlichung der Schule und ernsteren Kampf gegen den Geist, der auch bei uns die Massen ergreifen will?

Ist nicht in der Diaspora vielfach in Zeiten der Trübsal und Not die Kraft einer wirklichen Volkskirche herrlich in Er8 Bruhns: Sonntagspredlgten.

“3

Der Segen des Leidens scheinung getreten, nach der wir uns in der Heimat noch

vergeblich sehnen? Ich habe eö erlebt, daß in meiner ruß­ ländischen Stadtgemeinde, die über ein Jahr lang ohne Pfarrer gewesen war, kein einziger Gottesdienst ausgefallen

war, weil sonntäglich Kirchgemeindevertreter die Gottes­

dienste hielten, abwechselnd in vier Sprachen. Und als in schwerer Sorgenzeit ihnen die gedruckten Predigten, die sie anfangs vorlasen, nicht recht zu passen schienen, da haben

sie zaghaften Herzens selbst Predigten geschrieben, die sie zur innerlichen Erbauung der Gemeinde hielten. Aber auch denen unter uns, die in schwerer, aufreibender,

scheinbar erfolgloser Arbeit stehen, kann ein Wort, daö aus

bedrohter Diaspora neulich zu uns herüberklang, unendlich

viel geben. Da wurde uns geschrieben: „Wir stehen auf einsamen, aussichtslosen Posten, wir haben die Hoffnung

auf eine bessere Zukunft endgültig begraben, wir sehen Ver­ fall und Zusammenbruch überall, den wir nicht ändern

können. Da gibt es nur eins — täglich treu seine Pflicht er­ füllen, und alles Übrige Gott zu überlassen, solange er uns noch brauchen kann." Ja, wo die Not groß und furchtbar

wird, da kann auch Gott besonders groß und herrlich werden, da kann endlich all das Trachten nach menschlichen Mitteln

und menschlicher Weisheit aufhören und eine Bitte daö

Herz erfüllen und eine Hoffnung Kraft geben, auch im furchtbarsten Sturm und Schiffbruch durchzuhalten: Herr, dein Reich komme!

Wer diese Ströme von Gottes Kraft nie gespürt hat, die aus der Trübsal dort draußen und ihrer Überwindung zu H4

Der Segen des Leidens UNS herüber branden, der kennt den Segen der Gustav AdolfArbeit noch nicht, der hat eö noch nicht gespürt, daß in ihr

Gott seine wunderlichen, wunderbaren Wege geht, die wir

nur ahnend durchschauen können: Deine Gedanken sind höher wie unsere Gedanken und deine Wege höher als unsere Wege. Herr, dein Name ist wunderbar.

Wahrlich die Diaspora draußen hat jedem von uns viel zu geben, wenn wir nur darauf achten wollten, was sie mit

kampfgewohntem, narbenbedecktem Arm und vielleicht auch manchmal mit tränendem Auge unö aus ihrer Vereinsamung

anbietet. Daher hat sie auch ein Recht, ihre bittende Stimme zu erheben „Darum bitte ich, daß ihr nicht müde

werdet." Müßte diese Mahnung nicht unaufhörlich zu uns dringen?

Droht nicht unserm Glaubensleben ein schier unentrinnbares Verhängnis durch daS Nachlassen der lebendigen Kräfte?

Ich glaube jeder, dem sein Glaube mehr war als Formsache, hat schon dieses Verhängnis gespürt, daß langsam, aber mit furchtbarer Zähigkeit der Alltag an seinem Glauben

nagte und die schönsten und zartesten Erlebnisse immermehr

zur Selbstverständlichkeit werden ließ. Muß nicht vielleicht Gott, um unS aus dem Fluch des Selbstverständlichen und der Erstarrung zu retten, unS ungewöhnliche Eindrücke

schicken, die das ganze feingefügte Gewebe des GewohnheitöchristentumS mit hartem Griff zerreißen und uns vor Tat­ sachen

stellen,

denen ein halberstorbener,

verknöcherter

Glaube nicht standhält. Dann verlangt er mit unabweis­ barem Emst, daß wir tiefer graben und erntn neuen leben-



115

Der Segen des Leidens Ligen Grund legen müssen, wenn wir nicht mit leeren Hän­

den der vollen Hilflosigkeit preisgegeben sein wollen. Daö

sind die Zeiten in unserm Leben, wo Gott und ein vernehm­

liches „nicht müde werden" zuruft. ES ist selbstverständlich, daß auch der Gesamtkirche ähnliche

Zeiten des MüdewerdenS, deö Nachlasienö der lebendigen Kräfte drohen. DaS ist die große Gefahr, in die das kirch­ liche Leben immer wieder versinkt, dieses Absterben und diese Verknöcherung, wo die tote Form über den lebendigen Inhalt triumphiert. Gegen diesen Fluch deS GewohnheitS-

kirchentumS und Namenschristentums schickt Gott der Kirche immer wieder neue Aufgaben, die nur durch lebendigen

GlaubenSmut und

wirkliche

Bruderliebe gelöst

werden

können. So sind die christlichen Liebeswerke nicht nur eine bittere

Pflicht für die Kirche, sondern auch eine sprudelnde Quelle neuer frischer Lebenskräfte. Eine Kirche, die sich ausschließlich der Pflege der eigenen treuen Gemeindeglieder hingeben würde, muß bald einer trostlosen Engherzigkeit und Ver­

knöcherung verfallen.

Mir möchte scheinen, als habe Gott gerade mit unserer Deutsch-Evangelischen Kirche noch Großes vor, da er ihr eine ganz besonders schwere und doch unabweisbare Arbeit ge­

geben hat, wie die Pflege der evangelischen, deutschen Dia­ spora eö ist. Außer den Juden gibt eS kein anderes Volk

der Erde, das durch seine Geschichte und Entwicklung so über die ganze Erde zerstreut worden wäre, wie unser Volk, und daS so unsagbar schwere, alle Kräfte erfordernde Aufgaben

116

Der Segen des Leibens erhalten hat durch die Spaltung in zwei Konfessionen, die

durcheinandergewürfelt in unserm Vaterlande leben. Viel­ leicht neigt gerade unser Volk besonders zu beschaulicher

Ruhe, Engherzigkeit und Verknöcherung, daß Gott ihm durch

seine besonderen Verhältnisse täglich und stündlich zurufen

muß: „Werdet nicht müde, arbeitet und tut Gutes jedermann,

allermeist an des Glaubens Genossen." So ist die Gustav

Adolf-Arbeit eine unabweisbare Aufgabe Gottes, die die Gemeinde nicht müde werden läßt.

Ein unübersehbarer

Strom von Gottvettrauen und Liebe ist in den zahllosen Briefen enthalten, die im Zentralvorstand aus- und eingehen;

dmn in jedem dieser Briefe ist entweder eine verttauenSvolle Bitte aus großer Not heraus, oder eine Gabe aus Bruder­

liebe, oder ein Dank für gewährte Liebe enthalten, die alle einer Quelle entströmen, der unendlichen Liebe unseres

Heilandes, der uns geliebt hat bis ans Ende. Und wenn wir uns klar machen, daß unsere Gustav Adolf-Arbeit Reichö-

gotteSarbeit ist, wie nur irgmdein anderes christliches Liebes­ werk und weiter nichts sein will und sein kann, dann ahnt

man etwas davon, welche Fülle lebendiger Kräfte in un­ serem Werke vertreten sind.

Jedesmal, wenn der Gustav Adolf-Verein an unsere Tür klopft, wenn wir von seiner Arbeit hören, ruft auS der Not

der Brüder Gottes Stimme uns zu: „Darum bitte ich, daß ihr nicht müde werdet." Ich war einmal zu einem Gustav Adolf-Fest in einem völlig unkirchlichen Dorfe unseres deut­

schen Vaterlandes. Nach dem Vorttag, der nicht nur von erschütternder Not, sondem auch von erhebender Glaubens­

uz

Der Segen des Leibens kraft gehandelt hatte, erhob sich der alte Ortöpfarrer zu

einem kurzen Schlußwort: „Jahrzehntelang habe ich hier gearbeitet, aber ein Zeichen wirklich lebendigen Glaubens oder echter Liebe habe ich noch nicht erlebt. Herr Gott! gib

mir doch einmal ein Zeichen, daß meine Arbeit nicht vergeblich gewesen ist." Mit diesen erschütternden Worten setzte er sich.

Die Kollekte, die darauf gesammelt wurde, ergab eine so unerwartet große Summe, daß ich den Pfarrer beim Ab­ schied fragen konnte: „Haben Sie nicht doch vielleicht heute

den ersehnten Beweis erhalten?", worauf er stumm mildem Kopf nickte. Und ist es nicht wirklich greifbar zu spüren, wie

dort inder kleinen toten Landgemeinde der Ruf Gottes durch die Trübsal der Diaspora gezündet hatte: ich bitte, daß ihr nicht müde werdet? wie sich ein lebendiger Segensstrom aus der

Feme der evangelichen Auslandskirche in die Herzen un­ serer Gemeindeglieder ergoß, zum Beweis, daß wir durch Christus verbunden sind zu einer Gemeinschaft der Gläubigen. Einst in schwerer Zeit hat das Volk von Schleswig-Hol­

stein sich gestützt auf ein Königöwort: „Up ewig ungedeelt"; wir wissen, daß daS Wort gebrochen wurde. Aber wir wollen

uns in dunkler, deutsch-evangelischer Leidenözeit auf eine unerschütterliche Verheißung Gottes

stützen:

„Ein

Leib

und ein Geist, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller." Und wir können noch hinzufügen: eine gemeinsame Trübsal und ein gemeinsames Kreuz, das

wir tragen in der Nachfolge unseres Herm, des KreuzeSträgerS, der den Fluch des Kreuzes in Segen verwandelte

und zum Sieger wurde, damit auch wir siegen. Amen. n8

Was entscheidet über Sieg und Untergang? Apostelgesch. 5, 34—42, Da stand aber auf tm Rat ein Pharisäer mit Namen Gamaliel, ein Schriftgelehrter, in Ehren gehalten vor allem Volk, und hieß die Apostel ein wenig hinauStun und sprach zu ihnen: Ähr Männer von Israel, nehmet euer selbst wahr an diesen Menschen, was ihr tun sollt. Vor diesen Tagen stand auf TheudaS und gab vor, er wäre etwas, und hingen an ihm eine Zahl Männer, bei vierhundert; der ist erschlagen, und alle, die ihm zufielen, sind zerstreut und zunicht geworden. Darnach stand auf Judas aus Ga­ liläa in den Tagen der Schätzung und machte viel Volks abfällig ihm nach; und der ist auch umgekommen, und alle die ihm zufielen sind zerstreut. Und nun sage ich euch: Lasset ab von diesen Menschen und lasset sie fahren! Ist der Rat oder das Werk aus den Menschen, so wird'S untergehen; ist's aber aus Gott, so könnet ihr'S nicht dämp­ fen; auf daß ihr nicht erfunden werdet als die wider Gott streiten wollen. Da fielen sie ihm zu und riefen die Apostel, stäupten sie und geboten ihnen, sie sollten nicht reden in dem Namen Jesu, und ließen sie gehen. Sie gingen aber fröhlich von des Rats Angesicht, daß sie würdig gewesen waren, um seines Namens willen, Schmach zu leiden, und hörten nicht auf, alle Tage im Tempel hin und her in Häusern zu lehren und zu predigen das Evangelium von Jesu Christo.

Die Weltgeschichte ist daS Weltgerichte! Gegen dieses Wort haben wir Deutsche doch manche schwere Bedenken,

denn eS ist uns unerträglich zu denken, daß Gott durch den 119

Was entscheidet über Sieg und Untergang?

Auögang des Weltkrieges zum Ausdruck habe bringen wollen,

daß die Sache unserer Feinde gerechter ist als die unsere.

Und gewiß ist es ein Irrtum zu meinen, daß Gott durch

die Zuteilung des Sieges etwa ein Volk für besser erklärt als das andere. Aber richtig ist doch, daß, wenn ein Volk

untergeht oder besiegt wird, ein Gericht Gotteö über dieses Volk vorliegt, daß Gott dann sein Urteil: „Gewogen, ge-

wogen und zu leicht befunden" über das Volk auöspricht, und das Volk strafen oder bestem will. Aber ebenso wahr ist die Tatsache, daß die Gottesurteile oft von unsauberen

Händen vollstreckt werden, kennen wir doch in unserer Ge­

schichte auch so manche „Gottesgeißeln", die keineswegs Gott näherstanden als ihre Opfer, und da sie schwere Schuld auf

sich luden, nur zu bald selbst unter Gottes Gericht kamen. Ein tief beherzigmswertes Wort über das Wirken Gotteö in der Geschichte spricht im heutigen Text veralte weise Schrift­

gelehrte Gamaliel. Eine wichtige Sitzung des hohen Rates beschäftigt sich mit der Bewegung, die der Tod und die Auf­

erstehung Jesu von Nazareth ausgelöst hat. Meinungen

schwirren hin und her, die einen wollen die Bewegung mit rücksichtsloser Strenge niederzwingen, die anderen sind für

Milde, da findet Gamaliel das rechte Wort. Er hat sein Leben mit offenen Augen gelebt und hat mehr als einmal

gesehen, daß geistige Bewegungen zuerst mit großer Kraft einsetzten, um dann bald in Schmach und Schande oder in

Aufruhr und Blutvergießen kläglich zu enden. Aus diesen

Erlebnissen hat er den Schluß gezogen, daß Gott im Re­ giment sitzt und die Zügel des Weltgeschehens in der Hand

Was entscheidet über Sieg und Untergang? hält. „Ist ein Rat oder ein Werk aus Menschen, so wird eö untergehen, ist es aber aus Gott, so

könnt ihr es nicht dämpfen", das sind die Worte der

abgeklärten Weisheit, die ihre Wahrheit aus der Verbindung mit Gott schöpfen. Ihnen wollen wir auch heute nachgehen.

Ist ein Rat oder ein Werk aus Menschen, so wird eS untergehen.

In unserer schnellebigen Zeit müßte dieses Wort etwas

Selbstverständliches

enthalten:

In

ständigem, nimmer­

ruhenden Wechsel geht das Leben seinen Gang. Wie im Film Bild auf Bild an unö vorüberrollt, ohne Spuren auf der

Leinwand zu hinterlassen, die den Augenblick überdauern,

so rauschen die unzähligen Eindrücke an uns vorüber, meist ohne eine wirkliche Spur zu ziehen, wie Schatten an uns

vorübergleitend. Seit mehr als einem Jahrzehnt stehen wir

in solch einer Periode rasend schneller Vergänglichkeit: Reiche sind zusammengebrochen, in denen jahrhundertelang der

Schwerpunkt des Weltgeschehens lag, Vermögen sind aus

einer Hand in die andere geflossen, als wären sie Nebel­

streifen, die vom Winde hierhin und dorthin geweht, aber

mit den stärksten Händen nicht gehalten werden können. Die Erde dreier Weltteile und ungezählter Reiche deckt die Söhne unseres Landes, die einst in kraftstrotzender Jugend

von uns zogen. Weltanschauungen, die allgemein anerkannt wurden, sind zusammengebrochen. Kunstrichtungen, Moden

und Geschmack, die einst ihre unerbittliche Herrschaft auSübten, sind heute abgetan, belächelt von den Kindern einer

neuen Zeit; zum alten Eisen geworfen, erscheinen sie uns

Was entscheidet über Sieg und Untergang?

heute als Verzerrung, Übertreibung und kindliche Stüm­

perei. Alles Menschenwerk — deshalb vergänglich, deshalb

in sich selbst, in seinem Wesen den Untergang tragend. Und

mittendrin

in

diesem Wirbel des Vergänglichen

stehen wir, auch vergänglich, auch stetem Wechsel und steter

Veränderung unterworfen. Wer von uns hätte nicht schon mal über sein eigenes Jugendbildnis leise gelächelt, oder die

Achseln gezuckt über eine Meinung, die er einst vor Jahren geäußert, einen Brief, den er einst geschrieben hatte? Aber

doch wieder Kinder einer anderen Welt,

die des ewigen

Wechsels nicht froh werden können, denen die Vergäng­

lichkeit Schmerz bereitet, behaftet mir dem Sehnen nach Vollkommenheit, mit der nimmerschweigenden Sehnsucht nach einer unvergänglichen Liebe und einem bleibmden Glück,

das alle Wechsel der Zeiten überdauert, ausgestattet mit dem

Streben, einen Standpunkt zu gewinnen, der den ruhenden, festen Punkt im ewigen Wechsel der Zeiten und Erscheinungen

darstellt. Vergänglichkeit und Ewigkeit sind die beiden Pole,

zwischen denen wir uns bewegen und

deren Widerstreit

unsere brennendsten Schmerzen und unsere heißesten Trä­

nen hervorruft, wenn das,

was für ewig nach unserem

Wollen und Wünschen unser sein sollte, uns entrissen wird.

Es gäbe nichts Bleibendes und Beständiges, nichts, was unserem Sehnen nach Vollkommenheit entspräche, wenn

nicht durch Gottes Gnade „Ewigkeit in die Zeit" hinein­ ragen würde, wenn wir nicht auch trotz unserer Vergäng­

lichkeit alö Kinder Gottes teilhaben könnten an der Ewig­ keit. Nur so weit wir Ewiges in irdische Verhältnisse durch

Was entscheidet über Sieg und Untergang?

unsere innere Verbundenheit mit Gott hineintragen, hat unser Glück und unsere Liebe Bestand. Nirgends sehen wir das klarer wie in der aus Lebenszeit abgeschlossenen Ehe.

Erklärt sich nicht die Unbeständigkeit so manchen Eheglückes daraus, daß es ganz und gar aus Menschlichem bestand, daß seine Grundlage bloß vergängliche Dinge waren —

Schönheit, Reichtum und sogenannte Liebe, die doch nur Egoismus war, weil sie bloß besitzen und nehmen, aber nicht

geben und opfern und aufgeben wollte? Kann denn auf Vergänglichem seinem Wesen nach Irdischem etwas anderes

aufgebaut werden, als bloß wieder Irdisch-Vergängliches? Können wir uns wirklich wundem, wenn eine solche Ehe,

die vielleicht anfangs eitel Seligkeit war,

später immer

schaler und leerer und sinnloser erscheint, weil alles, was zwei Menschen verband, allmählich zusammenbrach, da eö

nur zeitlich war? Hier bezeugt das Wort sein unerschütter­ liches Recht: Ist ein Werk oder Rat aus Menschen, so wird eö untergehen, ist es aber aus Gott, so bleibt eö bestehen.

Das ist eö, was meist unseren jungen und oft auch den alten Eheleuten fehlt; in ihrem Zusammenleben gibt es nichts Ewig-Göttliches, das haben sie von allem Anfang an als

etwas Wertloses und zum Zusammenleben Unnötiges bei­

seitegelassen, und daher verfällt nun mit den irdischen Grund­ lagen auch ihr Glück selbst rettungslos der Vergänglichkeit.

Fast möchte man sagen, daß es allgemeine Anschauung

unserer Zeit ist, daß man GotteS Wort und Gebet im all­ täglichen Leben nicht braucht, daß diese Dinge bloß den äu­

ßeren Schmuck eines großen Festtages, wie etwa der Trau-

Was entscheidet über Sieg und Untergang?

tag ist, abzugeben haben. Und doch gibt es nichts, was zwei Menschen enger verknüpfen kann, als der Glaube, einen ge­ meinsamen Weg

zur Ewigkeit,

Gott

entgegenzugehen,

auf dem einer dem anderen Helfer sein muß. Gibt es etwas anderes, was die kleinen Verärgerungen und unausbleib­

lichen Mißverständnisse leichter aus dem Wege schaffen kann,

als wenn zwei als Bittende und Vergebung Suchende sich

gemeinsam vor einem Gotte beugen, in aufrichtigem Abend­ gebet: Vergib mir meine Schuld, wie ich vergebe meinen

Schuldigem? Da findet sich Herz zu Herzen in freundlichem

Vergeben, und aus kleinen Mißverständnissen kann nicht der

furchtbare Berg von Verärgerungen angehäuft werden, der zwei Menschen für ewig voneinander trennt. Aus der natürlichen Liebe, die zwei junge Menschen un­

widerstehlich anzieht, kann eine bleibende Liebe, die nicht das

ihre sucht, die opferbereit und opferfreudig ist, doch nur dann entstehen, wenn sie aus der ewigen, unerschöpflichen Quelle der Liebe, aus Gott, Kraft und Reinheit empfangen, die ihr natürlich egoistisches Herz allmählich

ummacht,

daß es mit einer Liebe lieben kann, die nimmer aufhört.

Wie oft hören wir heutigen Tages Eltem über ihre Kinder klagen: da haben sie sich für ihre Kinder aufgeopfert, solange diese jung waren, und als sie selbständig wurden, da kümmer­ ten diese sich um ihre Eltem nicht mehr. Oder Eltern klagen

über die Ehrfurchtslosigkeit und Unbelehrbarkeit ihrer Kin­ der, die das Zusammenleben im Hause zu einer Hölle wer­

den lassen. Sollte nicht auch der Grund hierfür darin liegen, daß das Göttlich-Ewige in der Erziehung und in dem Ver-

Was entscheidet über Sieg und Untergang? hältnis der Stiern zu ihren Kindern hinter dem rein Mensch­ lichen zurücktrat und daher das Verhältnis zwischen ihnen

dem Fluch der Vergänglichkeit anheimfiel? Wir haben alle mit tiefem Schmerz den Zusammenbruch

deö Widerstandswillens und des Patriotismus in unserem deutschen Volke erlebt. Liegt nicht vielleicht der tiefste Grund für diese traurige Erscheinung darin, daß man mehr auf

Haß und übertriebener Siegerstimmung den Patriotismus aufbauen wollte, als auf wirklicher Liebe zum Vaterlande, die im letzten Grunde nichts weiter ist als die christliche

Opferwilligkeit? Wir wollen uns doch mit Ernst prüfen, ob unser Leben

und unser Glück seine Kraft aus Gott schöpft oder bloß aus

Menschlich-Irdischem und mit allem Ernst damach streben,

unS die ewigen Quellen der Gotteskraft zu offnen, daß wir nicht daö Jusammenbrechen sehen, nach dessen Beständig­

keit sich die besten Kräfte unserer Seele sehnen.

Denn was aus Gott ist, können Menschen nicht dämpfen.

Als Gamaliel damals diese Worte prägte, war er wohl

der festen Überzeugung, daß die Sache der Jünger Jesu nicht aus Gott sei und deshalb keinen Bestand haben würde.

Wir wissen, daß er sich geirrt hat. WaS ist nicht über das Christentum alles eingestürmt, mit welcher teuflischen Bos­ heit ist nicht gerade der Glaube an Christus verfolgt worden,

und mehr alö einmal haben die Gegner gejubelt: „jetzt haben

wir dem verhaßten Irrwahn den Todesstoß versetzt." Unzähligemale haben ihre Führer die Achseln mitleidig gezuckt: „mit

Was entscheidet über Sieg und Untergang?

dem Christentum ist es aus, es ist erledigt, kein gebildeter, ver­ nünftiger Mensch glaubt mehr daran." Und doch lebt der

Glaube noch heute, doch beweist er seine Lebenskraft täglich von

neuem, trotz allem und allem, er geht nicht unter und kein Mensch kann ihn dämpfen, weil er aus Gott ist. Diese Glau­

benszuversicht, die sich auf tausendfältiger Erfahrung stützt, wollen wir uns tief ins Herz schreiben lassen: die Sache

unseres Heilandes kann nicht untergehen, weil sie aus Gott ist.

Es gibt nichts, was die Kampfesfteudigkeit und Sicher­

heit mehr lähmt, als daö Bewußtsein, für eine verlorene

Sache zu kämpfen, oder auf verlorenem Posten zu stehen. Und wenn wir es erleben müssen, wie breit sich der Un­ glaube macht, wie siegesgewiß und sicher die auftreten, die

über unseren Glauben mit einem mitleidigen Lächeln hin­ weggehen zu dürfen meinen, wenn man die kleine Schar derer, die noch in der Kirche sich Kraft für ihr Leben geben

lassen, mit den Massen derer vergleicht, die sich um Gott kaum mehr kümmern, so könnte uns wohl ein Zweifel an­

kommen, ob wir uns nicht an eine längst überwundene, längst veraltete Sache aus Erziehung und

klammern.

in

euer

Gewohnheit

O, daß ihr heute Mut mitnehmen könntet Alltagsleben,

auch

in

euer

vielleicht

stilles,

zähes Ringen um eine Menschenseele, oder gar in eure

schwierigen Versuche, euer Haus

und

Leben gegen die

herrschende Mode oder gegen den Willen der Verwandten

und Bekannten auf dem Grunde GotteS aufzubauen. Von den Jüngern hören wir, daß sie nach einer schweren körper­ lichen Züchtigung fröhlich von dem Angesicht des RateS-

WaS entscheidet über Sieg und Untergang? heimgegangen sind, denn für sie stand es felsenfest, daß

ihre Sache aus Gott sei und deshalb nie und nimmer von

Menschen zu Fall gebracht werden könnte. Auch wir müssen es glauben, daß die Sache unseres Gottes siegen wird auch

gegen den Willen der ganzen Welt. Aber wenn Bestand oder Untergang einer Lehre oder Re­ ligion davon abhängt, ob sie aus Gott oder Menschen sind, und wenn wir sagen müssen, daß eine geistliche Bewegung

um so schneller zugrunde gehen wird, je weniger sie aus der

Wahrheit Gottes ist, dann ergibt sich für jede Kirche die

Pflicht, immer wieder ihren Glauben zu prüfen, ob er wirk­ lich aus Gott seine ausschlaggebenden Kräfte zieht. Denn in jeder Kirchenlehre ist göttlicher Inhalt in menschliche Form gefaßt; wie nahe liegt da die Gefahr, daß die mensch­

liche Form höher geschätzt und stärker gepflegt wird, wie der

göttliche Inhalt. In der katholischen Kirche zur Zeit Luthers

war das in so erschreckendem Maße der Fall, daß die gött­ liche Wahrheit von all dem Menschlichen schier erstickt wurde

und in mancher Sekte wird noch heutigen TageS das Gött­ liche ganz vom Irdischen verdunkelt. Auch unsere evange­ lische Kirche wird nur dann alle Stürme überdauem, wenn sie auf dem Grund der reinen Gotteswahrheit verbleibt

und sich von aller menschlichen Beimischung femhält. Aber noch stärker ist der einzelne Mensch dieser Gefahr

ausgesetzt, daß er die göttliche Wahrheit seines Glaubens durch menschliches Unkraut überwuchem läßt. Wir alle kennen doch unbequeme Forderungen Gottes, auf die unser

überhebliches,

selbstsüchtiges,

ttotzigeö

Herz

eigensinnig

WaS entscheidet über Sieg und Untergang? „Nein" antwortet. Wir alle kennen doch Dinge, die wir hin und her wenden und kehren, bis wir meinen, unsere sündlichen Begierden mit Gottes Wort irgendwie vereinigen zu

können. Oder ertappen wir uns nicht oft darauf, daß wir

Gott zu uns herabziehen, daß wir dem großen, allmächtigen Gott menschliche Schwächen und menschliche Gedanken an­ dichten, um ihn dadurch für unser Denken und Wünschen zurechtzustutzen? Ja, benutzen wir nicht geradezu Göttliches oft dazu, um unseren irdischen Schwächen und Fehlem ein

schönes Mäntelchen umzuhängen? Das heißt Menschliches über Göttliches stellen. Aber dann dürfen wir uns auch nicht wundem, wenn unser Glaube in entscheidender Stunde versagt,

da ja auch er dann auö Menschen stammt und nicht mehr aus Gott. Nur wenn Gott ganz groß und wahrund heilig in unserem

Leben steht und wir mit unseren Gedanken ganz klein vor ihm geworden sind, dann kann unseren Glauben niemand dämpfen,

weder Menschenfurcht, noch Not, noch Sorge,noch Tod, dann

haben wir den Grund gefunden, der unseren Anker ewig hält.

Ist eine Sache aus Gott, so können Menschen sie nicht dämpfen. Da liegt der Rettungsanker gegen alle Vergäng­ lichkeit, die uns so viel Leid und Enttäuschung bringt. Wenn

wir unser Glück auf Gott aufbauen, und unser Leben lang suchen und streben, dem Unvergänglichen immer größeren

Raum in unserem Leben und Denken zu verschaffen, dann mag die Vergänglichkeit ihren Weg gehen, wir haben das

gefunden, waö bleibt und standhält — das Beste unseres Lebens das aus Gott ist. DaS gebe unö allen Gott!

Amen.

Erntefestgedanken für moderne Menschen i. Korinth. 15, 10. Von Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.

Wie em schlichtes Naturkind vom Lande, das in die fremde,

andersartige Großstadt verschlagen worden ist, nimmt sich daS Erntefest unter all den Festen und Sonntagen aus, die wir feiern. Heute denken wir an die Arbeit, während wir

sonst doch Dinge behandeln, die scheinbar mit der Arbeit und dem Kampf umS Dasein wenig zu tun haben. Heute werden durch den reichen Blumenschmuck und all die Er­

träge deS Gartens, die den Altar schmücken, unsere Gedanken

auf die Landarbeit gelenkt, und schon durch den Namen „Erntefest" tauchen Bilder vor unfern Augen auf, die sonst in der Kirche, vielleicht auch in unserm Leben fremd sind

und ferne liegen. Ein golden glänzendes Emtefeld, auf dem das reife Korn tief die Köpfe neigt unter dem Emtesegen.

Heiße Mitsommersonne liegt auf den Fluren und läßt den

roten Mohn doppelt hell aufleuchten unter all den gelben

Halmen. Schnitter schreiten durch das Korn, die Sense schwirrt, und schwankend neigen sich die Ähren. Ein hochbe­ ladener Erntewagen schwankt zum Hof, um seine reiche 9

Bruhns:

Gonntagspredigten.

129

Erntefestgebanken für moderne Menschen Last in die Scheunen abzuladen. Das sind Bilder, die bei

dem Namen „Erntefest" vor unsern Augen sich entrollen. Aber was haben sie mit unserm gehetzten, vielleicht Acht­ und sonnenlosen Großstadtleben zu tun? Soll hier in der

Kirche ein zarter Schleier der Poesie über unsere ganz anders­

artige Arbeit gebreitet werden? Sollen wir über die herbe

Wirklichkeit und Erfolglosigkeit unserer Arbeit durch solches

Erzählm von der reichen Ernte anderer hinweggetäuscht werden, will man uns über die öde und Eintönigkeit unsers Alltags durch bunte lockende Bilder aus einer für uns ver­

sunkenen Welt hinweghelfen? Nein, dazu ist weder die Kirche noch der Glaube da, um

einen schönen, trügerischen Schein und Glanz zu verbreiten, den der Alltag mit rauher Hand doch zerstören würde. Nein,

der Glaube an Gott, das Christentum will unfern Alltag

durchdringen mit göttlichen Gedanken und ewigem Inhalt. Dazu feiern wir Erntefest, um an diesem Tage unser Berufs­

leben, unsere Arbeit von einer anderen Seite anzusehen wie alle Tage. Wir sollen uns heute unsere Arbeit veredeln lassen, wollen sie aus dem engen, trostlosen Zusammenhang

von bloßer Arbeitsleistung und entsprechendem Lohn heraus­ heben lassen und sie von einem höheren und deshalb wah­

rerem, vollkommnerem Gesichtspunkt aus bewachten. Wer

so Erntefest feiert, der nimmt von dieser Feier einen Halt mit in seine Alltagsarbeit und hat dadurch einen Segen

für lange Zeit erhalten. Und so wollen wir heute von un­ serer Arbeit sprechen und bewachten:

i. „daß unsere Arbeit unser Beruf aus Gottes Gnaden ist".

Erntefestgedanken für moderne Menschen

2. „wie wir uns deshalb zu unserer Arbeit verhalten sollen."

Unsere Arbeit ist unser Berus von Gottes Gna­ den. Paulus schreibt im Korintherbrief: „Von Gottes Gnaden bin ich, was ich bin, und seine Gnade an mir ist nicht vergeb­

lich gewesen, sondem ich habe viel mehr gearbeitet, als sie alle." Und was Paulus von seiner Arbeit als Missionar

und Prediger der Heiden sagt, das dürfen und müssen auch wir auf unsere Arbeit anwenden: „Von Gottes Gnaden

sind wir, waö wir sind." ES gibt wohl kaum einen tieferen Gegensatz als diese wun­

derbarfreie, dankbare Auffassung von der Arbeit, wie Paulus

sie hat, und der, die gewissen Kreisen unseres Volkes von ihren Führern seit Jahrzehnten eingeredet wird. Solange

wird von den Schattenseiten der Arbeit geredet, bis sie nur noch als Last erscheint: „Arbeiten müssen wir, um Geld zu

verdienen, um essen und leben zu können, sonst geht uns die Arbeit nichts an." Das bedeutet doch, daß man geflissent­

lich bestrebt ist, den Arbeitern die Liebe zur Arbeit zu nehmen, jedes innere Verhältnis zu dem, was der Arbeiter schafft,

ihm zu zerstören, jeden inneren Zusammenhang zwischen dem einzelnen Menschen und dem Werk, an dem er arbeitet, zu verhindern, und damit gerade das unserm Volke zu neh­

men, was Luther und die lutherische Erziehung ihm als köstlichstes Gut in den Kampf ums Dasein, in seinen Alltag

mitgegeben hat. Denn während unsere Nachbarvölker

meist die Arbeit als Last, als Fluch betrachten, oder als das leider einzige, leidige Mittel sich einen bequemeren LebenS-

IZI

Erntefestgebanken für moderne Menschen abend zu schaffen; während man aus ihrem Munde gar

zu oft die Klage hört: unser Leben ist schwer, eine unerträg­ liche Last, weil wir so viel arbeiten müssen, hatte unser deut­

sches Volk als Erbe Luthers eine Freude an der Arbeit, eine Liebe, ein inneres Verhältnis zu der Arbeit überkommen, wie

wohl kein anderes Volk. Ja, man möchte fast sagen: in unserm deutschen Volke gab eS und gibt es noch heute unendlich

Viele, denen die Arbeit wirklich eine Art von

Gottes­

dienst ist, weil sie durch Luther und dank der Gedanken, die er aus der Heiligen Schrift unserem Volk fruchtbar ge­

macht hat, eine Ahnung erhalten haben, daß die Arbeit, die

sie zu leisten haben, irgendwie mit Gott zusammenhängt. Wie viele verbitterte, neiderfüllte Menschen gibt es heu­

tigen TageS leider auch schon bei unS, die darüber nicht hinauskommen, daß andere mehr verdienen als sie, die

keine Freude mehr daran haben können und keinen rechten

Sinn mehr darin finden können, was den größten Teil ihres Daseins ausfüllt — ihre Arbeit! — Aus dieser öden, mecha­

nischen, aller Freude entkleideten Auffassung, die eine ge­

wisse Weltanschauung unserem Volke aufzuzwingen sucht, gibt eö nur einen befreienden Ausweg — zurück zu dem freien, tiefen Glauben eines Paulus und Luther — „aus

Gottes Gnaden bin ich, was ich bin." Aber was heißt nun dieses große Wort: „Von Gottes

Gnaden"? Das heißt nichts mehr und nichts weniger, als daß wir auch unsere Arbeit von Gott haben, daß Gott hinter

unserm großen oder kleinen täglichen Pflichtenkreis steht, daß Gott uns zu unserer Arbeit berufen hat. Wer ist eö

Erntefestgedanken für moderne Menschen

denn, der uns die Gaben gegeben hat, die uns zu tüchtigen Arbeitern in unserm Beruf machen? Ist es nicht Gott, dem

wir unsere Besonderheit, unsere eigentümlichen Anlagen

letzten Endes allein verdanken? Steht nicht hinter dem viel­ leicht sonderbaren, eigentümlichen Verlauf unsres Lebens,

das uns in unfern Beruf führte, ohne daß wir vielleicht ur­ sprünglich selbst daran gedacht hatten, die ordnende, füh­

rende Hand Gottes? Man braucht doch gewiß nicht das Erlebnis eines Paulus vor Damaskus' Pforten gehabt zu

haben, wo Gott ihn aus seiner Bahn warf, um ihm eine neue Arbeit zu geben, um eine Ahnung davon zu erhalten,

daß wir in unsere Arbeit von Gott gestellt sind, daß des­ halb jede Arbeit „Beruf" ist, weil Gott uns dazu berufen

hat. Wir können auch unter völlig normal verlaufenden Ver­ hältnissen sehm, wie wir aus Gottes Gnade zu dem geworden sind, was wir sind, weil eö Gottes Geschenk war, daß wir

die Familie, daö Vaterhaus, die Umgebung, die Begabung,

Gesundheit und Kraft erhielten, die letzthin uns zu dem werden ließen, was wir sind.

Aber wenn wir unsere Arbeit und Beruf so anzusehen ge­ lernt haben, dann können wir nicht mehr meinen, daß unser Arbeitsleben etwas sei, das Gott nichts angeht, daß es frömmer und Gott wohlgefälliger sei, seine Arbeit aufzu­

geben und in'S Kloster zu gehen, als fleißig und gewissen­ haft einen Beruf zu erfüllen. Dann steht unser Beruf als etwas Hohes und Gottgewolltes, Gottgesegnetes vor uns, an dem wir Freude haben können und müssen, auch gerade

als rechte Christen. Dann kann unsere Arbeit nicht bloß

Erntefestgedanken für moderne Menschen das irdische Ziel des Verdienens und Reichwerdens haben, sondern eine treue Berufsarbeit hat dann noch den tieferen

Sinn — daß wir selber durch unsere Arbeit Gott entgegen­ wachsen, anderen durch die Arbeit dienen, wenn nicht an­

ders so durch daS Beispiel das wir geben, durch Treue und Fleiß.

Vor Gott ist dann auch die Frage nach der äußeren Be­

deutung, nach Umfang und Größe unsrer Arbeitsleistung

gleichgültig, da ja Gott es ist, der die Gaben verschieden verteilt und jedem auf seinen Platz stellt. Jeder, der seine

Arbeit, sei sie klein oder groß, recht erfüllt, gehört zu den treuen Haushaltem, die von Gott Lob und Lohn erhalten werden, weil sie durch ihre Arbeit Gott in hingebmdem Ge­

horsam ehrten. Und da will Emtefest unS, die wir bei der stets gleichbleibendm Alltagsarbeit alle weitm Aus­ blicke verlieren,

die

Einerlei leiden und

wir

vielleicht

unter

einem

ödm

der Gefahr verfallm, in gedanken­

loser Mechanisierung unser Arbeitölebm nur auf der freud­ losen Frage nach Geldverdienen aufzubauen — unö soll

Emtefest zurufen: „Du darfst und sollst stolz auf Deine Ar­

beit sein. Deine Arbeit, welcher Art sie auch sei, — und mag sie für menschliche Begriffe auch noch so minderwertig und unwichtig erscheinen — wird geadelt durch Gott, durch dessen Gnade du bist, waS du bist, der dich auf den Platz berief,

auf dem du stehst. Ihm bist du deshalb verpflichtet, indem du deine Arbeit in seinem Geist tust und deine Gaben ge­

brauchst." Wem seine Arbeit Beruf von Gott geworden ist, der

Erntefestgedanken für moderne Menschen

findet dann auch leicht die richtige Stellung zu seiner Arbeit. Und diese richtige Stellung besteht vor allem

in zwei Dingen: in der Treue und in der inneren Anteil­

nahme an der Arbeit. „Nun aber fragt man von einem Haushalter, daß ein

jeglicher treu erfunden werde", sagt Paulus, und Jesus sagt: „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen

treu." Auch eine kleine und unbedeutende Arbeit wird durch

die Treue bis ins kleinste geadelt. Diese Treue ist nicht mit Kleinlichkeit und Pedanterie zu verwechseln, die stets eine Folge von Engherzigkeit und Beschränktheit sind, sondern

Treue entspringt aus dem Bewußtsein, daß wir einem

anderen größeren Herrn innerlich verpflichtet sind. Sie er­ hält ihre größte Kraft aus der Verbindung mit Gott. Wenn

wir daran glauben, daß wir Gottes Werkzeuge sind in seiner Weltregierung, die sich liebevoll der Kleinen und Allerklein­ sten annimmt, wenn wir ihm vertrauen, daß er durch kleine Dienste und Gehorsam große Ziele zur Erfüllung bringen

kann, dann werden wir wissen, daß von unserer Treue und

Gewissenhaftigkeit auch

dann viel abhängt, wenn wir

keine Erfolge sehen.

Darin besteht die rechte Stellung zur Arbeit, auch wenn sie schwer und erfolglos ist, daß wir treu bleiben bis ins kleinste — Gott wird die Arbeit dann nicht ohne Segen

lassen. Denn erst die Treue macht eine Arbeit zu einer sittlich

hochstehenden Tat, wie ja auch die Ehe erst durch die Treue ihren sittlichen Adel empfängt.

Wie manche Hausfrau seufzt unter der Kleinheit und

135

Erntefestgedanken für moderne Menschen Enge ihres Berufs, unter dem täglichen Einerlei der Arbeit,

die so gar nichts zu bedeuten scheint, unter dem ewig sich gleichbleibenden Kreislauf ihrer häuslichen Verrichtungen,

die von den anderen als selbstverständlich hingenommen werden und die niemand anerkennt. Liebe Schwestern, wenn

ihr nur treu seid in euren kleinen Pflichten, so ist einer da, der eure Treue voll und ganz anerkennt: Gott, durch dessen Gnade ihr seid, was ihr seid, und dem ihr durch eure Treue

am besten dient, und dessen Werk ihr durch hingebende Treue am testen fördert. Und mancher Arbeiter, der jahrein jahr­ aus an seiner Maschine steht und immer ein und dieselbe Arbeit und Handreichung tut, mag wohl seufzen unter der

tödlichen §>de und Seelenlosigkeit seiner Verrichtung; aber

auch diese Arbeit erhält ein anderes Gesicht, wenn sie durch Treue geadelt wird, wenn wir uns, statt uns über unsere schein­ bar sinnlose Arbeit zu ärgern, einen Lichtstrahl in die öde des

Arbeitslebens geben lassen durch den Glauben: „durch GotteS Gnade bin ich, was ich bin, und auch meine Arbeit

ist nicht vergeblich, Gott kann auch aus meiner Arbeit irgend­ einen Segen erwachsen lassen."

Aber wie denn? Könnte nicht solch eine seelenlose Arbeit

jeder andere ebenso tun wie wir, sind wir nicht geradezu zu einem Stück Maschine herabgewürdigt? Ja, Gott sei es geklagt, daß Menschen fast zu leblosen Maschinenteilen

herabgewürdigt werden, und doch hängt viel davon ab, wie

wir die Arbeit tun: wenn wir sie trotz allem fröhlich tun, wenn wir in Treue und Liebe zum Werk stehen, dessen Teile wir nun einmal sind, wenn wir nicht bloß an uns und unser 136

Erntefestgedanken für moderne Menschen kleines Ich denken und uns durch Neid und Erbitterung

vom rechten Weg abbringen lassen, dann sind wir durch die

Art, wie wir unsere Arbeit leisten, anderen ein Beispiel und ein Halt, dann tun wir vielleicht gerade bei einer seelenlosen Arbeit durch unsere Treue einen segensreichen Dienst an

Seelen anderer, zur Ehre Gottes und zur Größe seines

Reiches.

Das haben wir wieder vor allem Luther zu verdanken, daß er diese tief christlichen Gedanken unserem Volk erschlos­

sen hat. Er hat es unserem Volk gelehrt, daß Arbeit eine Freude ist, weil wir durch sie Gott dienen können, indem

wir in seinem großen Haushalt unfern kleinen Posten treu

und mit frohem Herzen auöfüllen. Das ist unsere aller­

wichtigste Pflicht gegen Gott, diese innere Anteilnahme an unserer Arbeit, die alles Murren und freudlose Schaffen unmöglich macht, und die Treue bis ins kleinste. Wer unserm

Volke die Freude an der Arbeit wiederzugeben imstande ist,

der gibt dem Volk das Glück wieder und dadurch Sonnen­

schein ins dunkelwerdende Leben. Aber noch ein Gedanke liegt in der richtigen Stellung zur Ar­

beit enthalten. Wenn Gott uns auf einen bestimmten Posten berufen hat, uns ganz bestimmte Gaben und Anlagen und Kräfte gab, die sich im Arbeitsleben auöwirken können, dann wird er, unser Auftraggeber, dessen Handlanger wir sind, auch dafür Sorge tragen, daß unsere Arbeit nicht ver­

geblich ist. Wenn wir auf die Erfolge unserer Arbeit zurück­

blicken, so können sie äußerlich noch so gering sein, eines haben sie uns doch gebracht, daß wir jahrzehntelang satt

Erntefestgedanken für moderne Menschen zu essen hatten — daß wir leben und auch manche Freude haben konnten. Durch diese Erkenntnis wird auch unser Ar-

beitSsonntag zum Emtedankfest. So wollen auch wir heute

nicht heimgehen, ohne Gott von Herzen gedankt zu haben

für allen Segen, den er auf unser Tun gelegt hat; und dar­

über recht von Herzen froh zu werden suchen, was er, unser lieber Vater, uns an Arbeit, Amt und Beruf anvertraut hat.

Erntefest ist von jeher ein Freudenfest gewesen. Wenn die

letzten

Erntewagen

bekränzt

in die

Scheunen

ge­

fahren sind, das letzte Obst eingeerntet wird, dann über­

kommt den Landmann ein Gefühl der dankbaren Sicher­ heit: „Gott sei Dank, alles ist geborgen, jetzt kann ich ruhig dem Winter entgegengehen, denn Gott hat mir den Tisch

reich gedeckt." So soll Erntefest auch für uns ein Freuden­ fest werden: „Gott sei Dank, ich bin geborgen, Gott hat ge­

segnet und wird segnen, unter seiner Hand und seinem Schutz kann ich mein Leben sicher leben, denn über mir und meinem

Leben und Arbeiten steht das wunderbar liebe, vertrauen­

erweckende Wort: „Von Gottes Gnaden bin ich, was ich bin, und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen." Amen.

Was verdanken wir Luther? Röm. 5, i—2. Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn JesuS Christus, durch welchen wir auch den Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darin wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll.

Am heutigen Reformationöfest ist es selbstverständlich, daß wir evangelischen Christen in herzlicher Dankbarkeit

des Mannes gedenken,

der damals vor 400 Jahren den

Kampf mit seinem Gewissen und mit Rom durchfocht, dem

wir die Freiheit des Glaubens verdanken — Luther. Haben wir recht mit unserer Dankbarkeit? Oder ist es vielleicht

ein schwerer Irrtum, wenn wir meinen, Luther habe durch

seine Tat einen großen Segen der Welt gebracht? Wenn wir

sehen, wie gerade auS evangelischen Ländern die Ideen deö Umsturzes ausgegangen sind, die noch heute unsere Welt nicht zur Ruhe kommen lassen, wenn wir vor den traurigen

Tatsachen nicht die Augen verschließen, daß weiteste Volks­ kreise in evangelischen Landen dem Christentum völlig ent­

fremdet sind und ihm feindlich, ja haßerfüllt gegenüber­ stehen, dann können wir es verstehen, daß der Vorwurf

Andersgläubiger auch in den Kreisen Evangelischer Boden

Was verdanken wir Luther? findet: Luther habe durch feine Reformation unsäglich großes

Unheil über die Welt gebracht, indem er die Autorität der Kirche zerstörte, die die Verkörperung des Reiches Gottes, die Stellvertreterin Gottes auf Erden war, in der die reine,

unverfälschte Tradition der Apostel und Väter erhalten

gewesen sei. Um diesen Vorwurf zu entkräften, genügt ja wohl der Hinweis auf die eine Tatsache, daß im letzten Jahrhundert vor Luther die katholische Kirche selbst wieder­

holt die größten Anstrengungen gemacht hat, die Kirche zu reformieren, und daß alle diese Versuche an der Machtgier

der Päpste abprallten. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß auch die katholische Kirche gleich nach Luther genötigt war,

eine Reformation an sich selbst vorzunehmen im Triden­ tiner Konzil, weil sie die schreienden Mißstände selbst emp­

fand und sogar die Päpste durch Luthers Tat hatten ein­ sehen müssen, daß ihre Kirche auSgespielt hätte, wenn sie

nicht ganz anders, viel ernster, tiefer, innerlicher würde, wie bisher. Daß Luther recht hatte, hat vor allem diese von Rom

selbst durchgeführte bestätigt.

Erneuerung der katholischen Kirche

Aber ist Luther nicht doch viel zu weit gegangen?

Hat er nicht im radikalen Eifer vieles zerstört und abge­ schafft, was vielleicht lebenskräftig und segensreich war, was von Gott gewollt und geordnet gewesen ist? Hat er nicht am Ende das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, als

er seine neue Kirche gründete, während die jetzige, gereinigte

und erneuerte katholische Kirche die Reformen in rechter Weisheit und in rechtem Maße durchgeführt hat, und daher die rechte Lehre in viel herrlicherer Form besitzt und den

Was verdanken wir Luther? rechten Weg zu Gott ganz anders weisen kann, wie wir? Wir wollen darüber nicht streiten, ob eS nicht vielleicht um

manche schöne Volkösitte schade ist, die Luther nicht in die evangelisch-lutherische Kirche übernommen hat; in diesen Dingen ließe sich viel dafür und dawider anführen, aber das

Wesentliche sind diese Sitt en nicht. Wir wollen unS heute auf das Wesentlichste besinnen, was wir Luther zu verdanken haben,

und waS wir uns von niemand nehmen oder schmälern lassen wollen, denn wer sich auf dieses Große besinnt, dem sind die anderen Fragen dann klein und unbedeutend. Und da sind es zwei Dinge, die Luther nach dem schwersten inneren

Ringen uns erkämpft hat. Er hat das freie Christen­

recht für alle wieder erobert und er hat die rechte Christenpflicht jedem aufS eigene Gewissen ge­

legt.

Die Reformation hat das freie Christenrecht für alle wieder erobert, das ist das Recht des freien, persönlichen,

direkten Zugangs zu Gott. An Stelle der Fragen, die in der katholischen Kirche bis heute im Mittelpunkte der religiösen Lehren stehen, der Fragen: Wie stehst du zu deiner Kirche,

zu deinem Beichtvater, zu den Heiligen, zu der Mutter Gottes,

hat Luther eine andere Frage inS Zentrum unseres GlaubenölebenS gerückt: Wie stehst du zu deinem Gott? Also nicht mehr du und dein Mittler, sondem — du und dein Gott!

Es liegt darin etwas erschüttemd Großes, daß wir kleinen,

unwürdigen, schwachen, sündigen Menschenkinder das freie Recht haben sollen, vor unseren Gott zu treten, daß wir

selbst den Kampf um Gott aufnehmen und durchfechten

141

Was verdanken wir Luther? dürfen und müssen, diesen Kampf, der keinem der ganz Großen in der Geschichte deS GlaubmS erspart geblieben

und den manche nur als äußerlich Gebrochene, aber innerlich

Reiche und Starke bestehen konnten. Da sehen wir den Erzvater des auserwählten Volkes, an

der einsamen Furt deS Jabbok im Kampf mit Gott, den selbstbewußten, starken, in tausend menschlichen Listen und Tücken erfahrenen Jakob. Und als der Kampf endete, war

seine äußere Kraft gebrochen, da war er zwar ein körperlich hilfloser Mann, aber dennoch der, der im Verttauen auf

Gott seinem

feindlichen Bruder

entgegenzog

und durch

sein Gottvertrauen den Zürnenden, schwer Bewaffneten,

entwaffnete.

Und da sehen wir MoseS im Ringen mit Gott oben auf dem Sinai, er, der dem mächtigsten König der damaligen Zeit, Pharao getrotzt hatte, dessen auögestreckter Arm das

Meer zerteilte, dessen Stab aus dem Felsen Wasser schlug, wagt nicht, Gott vor Augen zu treten und ihn anzuschauen,

weil seine Augen es nicht ertragen hätten, dem Allmäch­

tigen, dem Herrn der Welt ins Angesicht zu schäum.

Und EliaS, der Ahab und Jsebel den Fehdehandschuh hin­ geworfen, der jahrelang Dürre über das ganze Land ge­

bracht, der den Baalsdienst mit Feuer und Schwett auögerottet hatte, er der Große, vielleicht der Größte des Alten

Testamentes, verdeckt sein Haupt mit seinem Mantel, als

Gott wie ein stilles, sanftes Rauschen an ihm vorübergeht. In dieses Ringen um Gott, wo eS um Sein oder Nicht­

sein geht, wo der Mensch nach dem Höchstm und Letzten

WaS verdanken wir Luther? greift, was ihm zu erreichen möglich ist, wollte Luther jeden Christen hineinstellen. Er hat ihn selbst durchgefochten und mit seinem Herzblut erkauft, diesen freien Zugang zu Gott, gegen alle Widerstände Roms und römischer Vorurteile hat

er sich sein Recht erzwungen und ertrotzt, frei und direkt ohne menschliche Vermittelung und menschliche Hinder­

nisse mit Gott zu verkehren und dieses höchste und herr­

lichste Recht des persönlichen Verkehrs mit Gott hat er für

uns alle, die wir lutherische Christen sind, neu erobert. Aber können wir dieses Recht auöüben? Heißt eS nicht nach den Sternen greifen, wenn wir sündigen, schwachen

Menschenkinder uns unterfangen, Auge in Auge unserem

Gott gegenüberzustehen? Muß es nicht uns so gehen, wie so manchem aus dem Alten Testament, der in Selbstüber­

hebung Gott zu nahe kam, der ohne Vermittlung Gott nahte und zerschmettert wurde durch die unerträgliche Wucht

der Größe Gottes? Wir wollen es uns garnicht verhehlen, daß diese persönliche Auseinandersetzung mit Gott, natürlich wenn sie Wirklichkeit ist und nicht bloß Schein, ungeheuere

Anforderungen an den

einzelnen stellt, daß sie wahrlich

nicht bequem ist.

Es gibt gewiß sehr viele Menschen, die sich dieser Sache entziehen, die Kampf und Verantwortung scheuen, indem sie Gott Gott sein lassen und sich gar nicht um ihn kümmern,

und gar keine Verbindung mit ihm suchen. Wieder andere finden einen Ausweg, indem sie menschliche Vermittlung, die Kirche,

den Seelsorger zur Erfüllung äußerer Formen zwischen sich und ihren Gott schieben, weil sie meinen, es nicht ertragen zu

Was verdanken wir Luther? können, in herrlicher Freiheit und tapferer Selbständigkeit vor Gott zu treten und mit ihm die Gemeinschaft zu suchen.

Da ist es die katholische Kirche, die von jeher dem einzelnen Menschen die Verantwortung abgenommen hat. Sie hat sich

zwischen Gott und die einzelne Seele gestellt und behauptet, die Macht und daö Recht zu haben, die Sache der einzelnen Men­

schenseele vor Gott zu führen und mit Gott zu ordnen, wenn

nur der Mensch selbst die Autorität der Kirche voll und ganz anerkennt und gewisse, mehr oder weniger äußere Pflichten

erfüllt. So tritt in ihr an Stelle der großen Seelenkämpfe, an Stelle deö selbständigm Suchens nach Gott das Kleine und Äußerliche, die vielen kleinen Gebote und HilfSmittel-

chen und Leistungen der katholischen Kirche. Wir wollen heute die Frage nicht berühren, ob solch ein

Dazwischentreten überhaupt möglich und erlaubt ist, denn

der Beweis aus der heiligen Schrift, auf den die katholische Kirche sich in dieser Sache beruft, ist wohl mehr als zweifel­

haft. Denn wäre der Gedanke nicht unerträglich, daß Gott diese Mittlerschaft verwerfen könnte; dann würden ja alle, die sich darauf verlassen, Opfer eines großen Irrtums und müßten

dieses Opfer vielleicht mit ihrer Seligkeit bezahlen. Aber wir wollen es uns recht klar machen, daß dieses Höchste, was ein

Mensch erreichen kann, dieses waö ihn über alle Kreatur hinaushebt, daß er Gemeinschaft haben soll mit Gott, dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, nie und nimmer auf billige,

mehr oder weniger äußerliche Art erlangt werden kann, schon

seinem Wesen nach nie durch Fürsprache anderer Menschen, sondern nur durch eigenes Suchen. Denn wie überall im

Waö verdanken wir Luther? Leben, so ist es erst recht hier bei dem Allerhöchsten der Fall:

für etwas wirklich Wertvolles muß auch immer ein hoher Preis gezahlt werden. Die Erlangung von wirklich Wert­

vollem kostet Mühe und Arbeit, und wenn man etwas auf der Straße findet wenn es einem leicht und ohne wirklich

große Anstrengung in den Schoß fällt, dann hat es auch keinen rechten Wert für uns. Hier mehr wie irgendwo anders

gilt daS Wort: „Und setzt du nicht das Leben ein, nie wird das Leben gewonnen sein."

Und dazu das andere: — Ze weniger man jemand zu­ mutet, desto kleiner und unbedeutender wird er bleiben. „Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zielen." Und das

ist ja doch der Wille GotteS: durch unser Gottsuchen und

durch unsere Gemeinschaft mit Gott sollen wir weit hin­

auswachsen auö den Kleinlichkeiten und den Unwichtig­

keiten des Alltags und aus dem ganzen Elend der mensch­ lichen Unvollkommenheit zur Herrlichkeit der freien Kinder GotteS.

Gewiß wird die Aufgabe nicht leicht sein, und mancher

wäre gern bereit, auf dieses von Luther unö erkämpfte Recht

freiwillig zu verzichten, um den anderen weit bequemeren, im Rahmen der kleinen Leistungen sich bewegenden Weg der katholischen Kirche zu gehen, wenn er eS nur mit dem

anderen vereinen könnte, was Luther und die Reformation uns gebracht haben, mit der Christenpflicht, die jedem

aufs eigene Gewissen gelegt worden ist. Worin besteht nun diese Christenpflicht? Sie ergibt sich von selbst aus dem freien Christenrecht, wie ja richtig verstandene

Was verdanken wir Luther? große Rechte stets auch große Pflichten nach sich ziehen. In

dem beseligenden Großen, das uns weit über uns selbst

hinauShebt, daß wir freien, offenen Zugang zu Gott haben,

liegt die erdrückend und erschütternd große Pflicht, diesen freien Zugang zu dem Vater im Himmel zu bewahren. Wehe dir, wenn die Pforte zugeschlagen ist, wenn du den Weg

verfehlt, die Stunde verpaßt hast, wehe dir, wenn die Tür

zum Hochzeitssaal verschlossen ist und du ewig draußen bleibst! Das ist es, was Luther den Christen klarzumachen bestrebt war: Auf euch selbst, auf euch ganz allein lastet die

große Wucht der Verantwortung, wenn ihr den Weg ver­ fehlt und wenn Gott den freien Zugang verschließt. Ihr

und nur ihr allein habt diese Pflicht zu tragen, und wenn

ihr die Tür verschlossen findet, dann öffnet sie euch keine Fürbitte der Heiligen und keine Seelenmesse und kein Ablaß und keine letzte ölung, und wie all die Mittel und Mittel­

chen heißen mögen, dann erwartet euch nur noch das, was die Schrift Heulen und Jähneklappern nennt. Und so lastet denn auf unserem Gewissen, ungemildert durch Mittels­ personen und kirchliche Fürsprache die ganze Wucht des

Wortes: Schaffet, daß ihr selig werdet mit Furcht und

Jittern. Es lag etwas ungeheuer kraftvoll Männliches darin,

wie Luther sich dieser Pflicht unterzog, wie er nicht bloß

nach den Rechten griff, sondem die Pflichten auf sich nahm auch als sie ihn zu zerbrechen drohten durch ihre namenlose Schwere damals im Kloster zu Erfurt.

Und männliche Tapferkeit erfordem diese Pflichten auch. von uns, mit Herumdrücken um die Wahrheit, mit AuS-

146

Was verdanken wir Luther? weichen und Abwälzen der Verantwortung auf andere, mit HinauSschiebm der Entscheidung erreichen wir daö Ziel nicht, nur ein Entweder — Oder gilt: Schaffe, daß du selig

wirst mit Furcht und Zittern — oder gehe zu Grunde! Gerade durch diese Pflicht und Verantwottung, die keine Mittelspersonen und keinen Selbstbetrug durch die kleinen

Mittel der Beruhigung und Verschleierung mehr kennt, sind

wir dorthin gestellt, wohin Gott uns führen will, vor den

Abgrund der eigenen Unfähigkeit, den die volle Erkenntnis der Wahrheit uns zeigt. Wenn wir die Seligkeit ersehnen

mit allen Fasem unseres Herzens, wenn wir einen Anlauf nach dem anderen nehmen und doch nicht die Kluft über­ springen können, die uns von Gott trennt, wenn wir immer

wieder an unserer Sünde uns wund stoßen, weil durch unsere

Schuld der freie Zugang zu Gott uns versperrt ist, dann werden wir uns mit der ganzen Kraft unseres Glaubens an ihn anklammem, der die Sünder zu sich ruft und für die Sünder gestorbm ist — an Jesus Christus, unsern Hei­

land. Dann werden wir eö begreifen, wie recht Jesus hatte, als er sagte: Keiner kommt zum Vater, denn durch mich,

und: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Dann

werden wir erst in rechter Dankbarkeit auf Jesu Kreuz blikken und vor ihn hinsinken können: Herr, sei mir Sünder

gnädig. Aber dann wird der Anblick des Gekreuzigten auch an unser Gewissen rühren: Daö tat ich für dich, was tust du für mich? Alles, was den Weg des einzelnen Menschen

zu seinem Heiland stört, was die furchtbare Gefahr, in der unsere Seele schwebt, verdeckt, alles, was uns hindert zu IO*

147

Was verdanken wir Luther? begreifen, daß Gnade und nur Gnade allein uns selig machen kann, hat Luther beseitigt, und dafür wollen wir ihm

vom ganzen Herzen dankbar sein und bleiben und uns durch nichts und niemand unfern Heiland nehmen oder auf den

zweiten oder dritten Platz drängen lassen. „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben,

so haben wir Frieden mit Gott durch unfern Hern Jesum Christum." Wer das einmal in seinem eigenen Leben erkannt

hat, wer nach vergeblichem Ringen um Frieden und Halt in die­ sem Einen und Letzten den Frieden erkämpft hat, wer ge­ rechtfertigt worden ist durch den Glauben an die Gnade Jesu Christi, der hat weder Priester noch Papst, weder Beicht­

stuhl, noch Jubeljahr mit päpstlichem Ablaß, noch katho­

lischen Kirchenpomp, noch Messegesang mehr nötig, der klammert sich an das Eine „Allein auS Gnaden" und singt

allen Anfeindungen und Verfolgungen siegessicher ent­

gegen: „Ein Wörtlein kann ihn fällen, daS Wort sie sollen

lassen stahn: — Allein aus Gnaden." In diesem „Allein aus Gnaden" liegt auch die Antwort

auf die letzte Frage: Mutet daS Luthertum seinen Ge­ meindegliedern nicht zuviel zu, wenn es sie darauf hin­

weist, daß sie allein, ohne menschliche Vermittlung den

Zugang zu Gott erhalten können und erringen müssen. Wäre eS Verdienst, das unö die Himmelstür erschließen

muß, stünden wir noch im Alten Testament, wo die An­ näherung an Gott Vernichtung durch die unerträgliche Größe

Gottes nach sich ziehen konnte, wäre menschliche Würdig­ keit und Stärke nötig, diesen freien Zugang zu Gott zu fin-

Was verdanken wir Luther? den, so müßten wir alle verzagen, dann hätte Luther nicht

nur uns, sondern auch sich zu viel zugetraut und hätte Wert­ volles zerstört, ohne Ersatz zu schassen. Aber weil es klar

und unmißverständlich heißt: „Durch Jesum Christum haben wir einen Zugang im Glauben zu dieser Gnade und Frieden mit Gott, weil wir wissen, daß wir gerechtfertigt werden

aus Gnaden und aus Gnaden allein", darum ist uns nichts

Unmögliches zugemutet. Denn Gnade kann jeder empfangen, der nur seine Hand bittend ausstrecken und sie sich mit­

unverdienter Gnade und Liebe füllen lassen kann, jeder,

der sich demütig seiner Schwäche bewußt ist und sich von

ihm helfen läßt, der uns mächtig macht, Christus. Heute am Reformationsfest wollen wir nicht nur Luther dankbar sein für das, was er uns erkämpft und errungen

hat nach namenlos hartem Ringen, sondern wir wollen

uns auch dessen bewußt werden, daß wir als freie Gottes­

kinder den offenen Zugang haben zu Gott als unveräußer­ liches Recht. Und dieses Recht wollen wir uns durch nichts und niemand schmälern lassen und nicht eher ruhen, bis wir aus eigenster Erfahrung wie einst Luther, die Worte

aus dem Römerbrief nachsprechen können: Nun wir denn

sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum.

Amen.

Gottes Antwort auf unser „Warum?" Offenb. 7/ 9—17. Darnach sah ich, und siehe, eine große Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhl stehend und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und Palmen in ihren Händen, schrieen mit großer Stimme und sprachen: Heil sei dem, der auf dem Stuhl sitzt, unserm Gott, und dem Lamm! Und alle Engel standen um den Stuhl und um die Ältesten und um die vier Tiere und fielen vor dem Stuhl auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Und es antwortete der Äl­ testen einer und sprach zu mir: Wer sind diese, mit den weißen Klei­ dern angetan, und woher sind sie gekommen? Und ich sprach zu ihm: Herr, du weißt e6. Und er sprach zu mir: Diese sind's, die gekommen sind aus großer Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes. Darum sind sie vor dem Stuhl Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Stuhl sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie wird nicht mehr hungern noch dürsten; eS wird auch nicht auf sie fallen die Sonne oder irgendeine Hitze; denn das Lamm mitten im Stuhl wird sie weiden und leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.

Die Offenbarung Johannis, der unser Schriftwort ent­

nommen ist, ist das umstrittenste Buch der Bibel. Wäh­ rend z. B. Martin Luther das Buch nicht hoch gewertet hat, 150

Gottes Antwort auf unser „Warum?" ist eS anderen Christen fast als die wichtigste Schrift der gan­

zen Bibel erschienen. Wer die Apokalypse ohne Voreinge­ nommenheit liest, wird neben völlig unverständlichen, in tiefstes

Dunkel

veralteter

Symbolik

gehüllten Stücken

wunderbar lebensvolle und zu Herzen gehende Stellen finden. Wer von uns wollte solche köstliche Edelsteine missen

wie etwa: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben" oder „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an." Es ist uns, als spräche der erhöhte Heiland selbst zu uns und wollte Dinge offenbaren, die seine Jünger

zu seinen Lebzeiten nicht tragen konnten. Und neben diesen

herrlichen Worten finden sich ganze Kapitel, über die die Ausleger sich vergeblich den Kopf zerbrechen, ohne doch

Licht in das Dunkel bringen zu können. Denn sie enthalten

Bilder, die wohl den Zeitgenossen Johannis verständlich

waren, weil in der damaligen Zeit sowohl von den Juden als unter den Heiden solche ähnliche Apokalypsen geschrieben

und gern gelesen wurden, die aber für unö so vieldeutig sind, daß eine allgemein gültige Erklärung unmöglich ist. Und gerade dieser dunklen Stellen haben sich seit jeher bis zum heutigen Tage unberufene Schwarmgeister bemächtigt,

um ihre tollen, ungesunden Phantasien und Spitzfindig­ keiten in sie hineinzulegen und die Menschen durch ihre Aus­ legungen zu beunruhigen. Können wir uns wundern, wenn

diese falschen Propheten die Offenbarung Johannis durch

ihre Spielereien in Mißkredit gebracht haben? Und doch enthält sie wunderbar tiefe und herrliche Offen­

barungen aus einer anderen Welt, und unser heutiger Text

ip

Gottes Antwort auf unser „Warum?" ist in diesem Schatz von Schauungen einer der herrlichsten

Juwelen. Da erlebt Johannes eine der ganz seltenen Stun­ den im Leben besonders von Gott begnadeter Christen, daß

sich der dichte und undurchsichtige Vorhang, der das Jen­ seits vom Diesseits trennt, für einen kurzen Augenblick bei­

seiteschiebt, und er einen Blick werfen kann in das unbe­ kannte Land, dem wir alle entgegenstreben. Und dieser eine

Blick, den seine staunenden Augen tun dürfen, genügt um Licht hineinzubringen in die tiefsten und dunkelsten Geheim­

nisse des Lebens, von denen er und Millionen mit ihm in

hilfloser Ratlosigkeit gestanden hatten. Dieser eine Blick zeigt ihm ungeahnte Zusammenhänge, breitet über Kämpfe und Leiden des Lebens einen tiefen seligen Frieden und läßt aus

einem scheinbar unharmonischen Durcheinander eine stille, wundervolle Harmonie entstehen.

Was Johannes sah, wollen wir heute betrachten, um dann

in unserem Leben und Umwelt erkennen zu lernen, daß der Strom des Leides, der durch die Welt fließt, im

Reiche

Gottes

denen

zur Freude

wird,

die ihr

Kreuz vor Gottes Thron tragen.

ES gibt eine Frage, die von jeher die Menschheit bewegt hat und in alle Ewigkeit bewegen wird — die Frage nach

der Bedeutung des Leides. Schmerz und Kummer passen so

absolut nicht in all das hinein, was der Inhalt unserer Hoff­ nung und unseres Glückes ist, was wir an Gütern und Gaben des Lebens schätzen, daß sie stets als Fremdkörper empfun­ den werden, deren Beseitigung und Bekämpfung die Haupt­

aufgabe der Menschheit ist. Wir wollen es zwar gar nicht

Gottes Antwort auf unser „Warum?" übersehen, wie vieles gerade im Kampfe gegen das Leid

in all seinen Gestalten erreicht worden ist, die schönsten und edelsten Fortschritte des Menschengeschlechts verdanken der Bekämpfung dieser Feinde des menschlichen Glückes ihre

Entstehung. Aber trotz alledem steht das Leid heute so gut

wie irgend jemals früher als Zerstörer unseres Glückes da mitten im Leben der Menschen und spottet aller Bekämp­ fungsversuche. Ob wir wollen oder nicht, das Leid drängt

sich in jedes Menschen Leben irgendwie ein, und an dieser

Tatsache ändert unsere Annahme oder Ablehnung des christ­ lichen Glaubens nichts, nichts unsere Verneinung oder Be­ jahung der jetzigen gesellschaftlichen und staatlichen Ord­

nungen. Es ist schlechterdings keine ernstzunehmende Welt­ anschauung oder Weltordnung denkbar, in der das Leid

einfach ausgeschaltet sein könnte, denn es drängt sich überall hinein und zwingt alle, sich früher oder später mit diesem unerwünschten, ungebetenen Gesellen zu befassen.

Wenn wir unseren Text aufmerksam verfolgen, finden wir

in ihm verschiedene Erreger der Trübsal und Tränen genannt, die, solange es Menschen gegeben hat und solange eS sündige,

irrende Menschen geben wird, in das Leben des Menschen eingreifen. Hunger und Durst heißt einer der Leidbringer. Wir nennen ihn heutigen TageS die soziale Frage oder wirt­ schaftliche Not. Was hilft gegen ihn alle soziale Fürsorge,

alle Gesetzgebung zum Schutz der Schwachen oder auch aller Umsturz der wirtschaftlichen oder politischen Verhält­ nisse. Ist durch alles das irgendwo schon Hunger und Durst,

die wirtschaftliche Not ausgeschaltet worden? Vielleicht

Gottes Antwort auf unser „Warum?"

haben die Kreise gewechselt, die Not leiden, vielleicht ist manche besondere Not gelindert worden, aber ausgeschaltet ist diese Not deshalb nicht im Entferntesten. Wer durch die Häuser unserer Städte geht, der spürt die Not in furchtbarer

Deutlichkeit und Schwere; bald so — bald so lauten die

Klagen, oft aus dem Munde von Menschen, die allen Wider­ stand aufgegeben haben und hilflos zuschauen, wie die Not

ihnen Freude und Frieden aus Herz und Haus raubt. Und neben dem wirtschaftlichen Elend dringt der Tod als Feind des menschlichen Glückes in unzählige Häuser ein,

und kein Mittel gibt es, um seine stets siegreiche Herrschaft

über die Menschheit zu brechen. Ein Blick auf die Tausende von Grabhügeln, die jährlich neu auf unseren Friedhöfen aufgeworfen werden, redet eine deutliche Sprache von den Tränen, die oft verzweifelt, oft ttostlos oder in bitterer

Selbstanklage und Reue an Totenbahren geweint werden.

Wie oft stehen die Leidttagenden völlig ratlos in ihrem Schmerz, sie finden keine Erklärung für das, was ihnen begegnete.

Was der Tod ist, wissen

sie zwar — daß

es jedes Menschen Los ist, zu sterben, wissen sie auch von Kind auf, und doch stehen sie hilflos vor der furchtbar ernsten

Rätselfrage: „Warum mußte der Tod bei mir einziehen,

warum mußte ein Mensch ihm folgen in das unbekannte

Land, dm ich so sehr zu meinem Glück brauchte, warum trifft gerade mich daö harte Los einsam und allein zu bleiben auf Er­

den ? " Wer einmal dieses „Warum" aus seinem wildzerrissmen

Herzen in stillen schwarzen Nächten herausgestöhnt und

herausgeweint hat, der weiß, wie bitter weh dieser Schmerz tut.

154

Gotteö Antwort auf unser „Warum?" Und doch gibt es noch eine schwerere Trübsal. Die Bibel, die in Menschenherzen zu lesen versteht, wie kein anderes Buch auf der Welt, kennt eine Verzweiflung, die so groß

ist, daß Menschen den Tod herbeisehnen, um diese Schmerzen

loszuwerden. Da erzählt Jesus von Menschen, die die Hügel

bitten werden, sie zu bedecken und die Berge, über sie zu

fallen, weil sie den furchtbaren Qualen ihres Gewissens auf diese Art zu entgehen hoffen. JudaS Jschariot war ein solcher, der diese unerträglich bohrenden Qualen nicht mehr

ertragen konnte und lieber alle Schrecken eines furchtbaren Todeö wählte, als das unauSlöschbare Feuer der Gewissens­ bisse weiter zu erdulden, das Sünde und Schuld ihm be­ reiteten. Ja gibt es etwas Furchtbareres alö auf ein durch eigene Schuld verpfuschtes und verdorbenes Leben blicken

zu müssen, als aus ganzem Herzen zu bereuen und doch keine Macht und keine Weisheit zu kennen, die daö Verdorbene

wieder in Ordnung bringen und das zerbrochene Glück wieder ganz machen kann? Daö ist wohl der brennendste Schmerz, den es geben kann, sehen müssen, was man an­

gerichtet, waö man sich und anderen genommen, in seinem und im Leben anderer zerstört hat, und doch den nicht zu kennen, der helfen, vergeben und wieder gutmachen kann. Aber auch daö Herzeleid des verlorenen Sohnes und deö

bußfertigen Zöllners im Tempel, das Leid deö Schächers am

Kreuz über seine Sünde, sind echt und bitter genug gewesen. Und wenn unö die Augen aufgehen über unsere Schuld, dann sind auch wir um unseren Frieden und Freude gekom­

men, bevor wir nicht den gefunden haben, der unö voll Liebe

i55

GolteS Antwort auf unser „Warum?" und Erbarmen sein liebes „Vergeben" und „Vergessen"

zuruft.

Und endlich sieht Johannes auch die große Schar derer im Geist, die unter anderen Menschen leiden, auf die die Hitze erbarmungslos

niederbrennt von einem Tag zum

andern und niemand ist da, der diese Verfolgungshitze und

die menschliche Bosheit von ihnen abwendet. Heute gibt

eö gewiß keine solchen Christenverfolgungen mehr wie einst­ mals, als Johannes seine Offenbarung schrieb, aber wie

Menschen auch in unserem geordneten Deutschland andere Menschen bedrängen und quälen können, das weiß jeder, der durch Amt und Beruf in das Leben seiner Mitmenschen tiefer hineinblicken muß. Wieviele Frauen leiden namenloses

Elend durch die Trunksucht ihrer Männer, welche Mißhand­

lungen erdulden manche Kinder durch geradezu unmensch­ lich harte und schlechte Eltern, was für Leiden bereiten sich Ehegatten oft durch unbeherrschte Launen und unfreundliches

Wesen oder Untreue und Leichtsinn. Oft sind es grauenhafte

Marterwege, die Menschen unter uns gehen müssen und

können's doch niemand sagen, was sie fast zu Tode peinigt, weil sie nicht Schande und Verachtung auf das Haupt derer laden wollen, die ihnen nahestehen.

Es ist ein breiter, schwarzer Strom, der durch die Welt, unser Volk und Land zieht, und wessen Füße dieser Strom bespült oder wen er mit sich in seine dunklen Tiefen hinab­

reißt, dem geht die Sonne unter und die Sterne erlöschen,

für den treten alle anderen Fragen in den Hintergrund vor der einen, die nun die wichtigste und größte geworden ist, i;6

Gottes Antwort auf unser „Warum?" vor der Frage „Warum?" Und das macht die Frage so

schwer und ernst, daß eine Antwort auf sie innerhalb der engen Schranken dieses Lebens nicht gefunden werden kann.

Denn, wie es für unser Verstehen unbegreiflich ist, warum ein junger, hoffnungsfreudiger Mensch oder ein eben erst

zum Leben erwachtes Kind sterben muß, während alte, keinem

Menschen mehr nützliche oder notwendige Menschen sich und

anderen zur Plage leben, so ist es uns auch unfaßlich, wenn wir uns nur auf dieses Leben beschränken, wie Gott das

unverschuldete Leiden hilfloser Kinder zulassen kann, oder

warum Gott trotz seiner Zusage für uns zu sorgen, Menschen

ihr halbes Leben lang in wirtschaftlicher Not läßt, ohne ihnen

die rettende Hand entgegenzustrecken. Das sind Geheim­ nisse, tiefe,

dunkle Geheimnisse,

die wir

nicht erraten

können, die uns Gott allein nur offenbaren kann. Das, was Johannes im heutigen Textwort schaut, gibt

eine Antwort auf manches „Warum". Da sieht er eine unabsehbare, unzählbare Schar Menschen vor dem Throne Jesu

stehen,

aus

allen

Völkern

der

Welt.

Lauter

frohe, selige, glückliche Menschen, die das überströmende

Dankbarkeitsgefühl ihres Herzens hinaussingen und jubeln

müssen, lauter schöne, geschmückte Menschen in strahlend

weißen Kleidem und mit strahlenden Augen.

Und doch

lauter Menschen, die aus dunkelster Nacht kommen, die auf

Erden hungerten und dursteten, die weinten und klagten,

und denen das Leben so viel Schweres aufgeladen hatte,

daß sie meinten, die Last nicht tragen zu können. Was war denn geschehen, daß solch eine wunderbare, unbegreifliche

Gotte« Antwort auf unser „Warum?" Veränderung mit ihnen vorgegangen war, daß ihre von Tränen getrübten Augen wieder strahlen und ihre Gesichter vor Freude leuchten

konnten?

Hatten sie

den natür­

lichen und selbstverständlichen Ausgleich erlebt, in dem das

jenseitige Leben ihnen daö gab, waö das diesseitige Leben ihnen schuldig geblieben war? Ging eS ihnen wie Kindem, die die Eltern mit Liebe und Freundlichkeit überhäufen, um

sie die Schmerzen vergessen zu lassen, die sie ohne ihre Schuld ertragen mußten? Nein, das Leid ihres Lebens war nicht

ihr Verdienst, wofür sie nun den Lohn erhalten sollten. Leid trifft alle Erdenbürger, den einen so, daß man davon großes

Aufheben machen kann und tiefes Mitleid mit ihm haben

muß, den anderen im Verborgenen, daß nur er allein etwas davon weiß und sich in Schmerzen windet, ohne daß jemand

etwas davon erfährt. Und wer von uns besitzt den Maßstab, das Leid zu messen und gegeneinander zu vergleichen, daß

man abschätzen könnte, welcher Kreuzträger am schwersten zu tragen hat? Nein, das Leid, das die Menschen traf, war nicht ihr Ver­

dienst — aber, daß sie zum Throne Gottes kamen mit

ihrer Last, daß sie unter ihrem Kreuz den Weg zu ihrem Er­ löser suchten, daS hat ihnen den wunderbaren Frieden in ihre

Herzen gezaubert und ließ

sie ausiubeln vor Seligkeit.

Denn das Leid selbst wird unö gegeben, daS bricht ungerufen

und unerwartet in unser Leben hinein, und wir müssen oft

die Hände in schmerzlicher Kraftlosigkeit sinken lassen, weil wir eS nicht von uns stoßen sönnen. Aber wohin wir mit unserem Kreuz gehen, das hängt von uns ab: der eine trägt

158

Gottes Antwort auf unser „Warum?" es direkt in die Hölle, in die Hölle der Verbitterung und der

Ablehnung und Verfluchung Gottes, in den entsetzlichen Zustand, in dem es nicht nur um ihn dunkel ist, sondem

noch dunklere Nacht in seinem Herzen herrscht. Und der andere trägt sein Kreuz betend und vertrauend vor GotteS Thron,

er trägt es tapfer und aufrecht bergan auf die Höhen, wo GotteSStuhl steht. Zuerst wird eö ihm so sauer, daß er dar­ unter zusammenzubrechen droht, aber allmählich spürt er,

wie die Kräfte zunehmen, wie die Augen auf Dinge zu achten lernen, die er früher übersah, ja wie die Kräfte allmählich dazu reichen, den schwächeren Mitmenschen zu helfen, ihr

Kreuz zu tragen und zu erleichtern. Und da wird ihm das

Leid zum Segm und seine trüben Augen blicken zuversicht­ licher und sein weheö Herz spürt wieder Freude, reine wun­

derbare Gottesfreude.

Aber nicht nur die, die unverschuldetes Leid getragen und überwunden haben, sammeln sich am Throne Gottes, son­

dern auch solche, die die weißen, reinen Kleider, die Gott ihnen einst mitgab auf ihren Lebensweg, durch ihr leichtfer­

tiges und unbedachtes, ja vielleicht auch böswilliges Wan­ dern durch den Schmutz der Sttaße verunreinigt hatten. Alle die, die daö bitterste Leid über ein verpfuschtes Leben beklagen, die an Totenbetten gestanden haben mit dem ent­

setzlichen Bewußtsein im Herzen, nicht mehr sühnen und

gutmachen zu können, auf ihre Bitte: „Vergib mir" keine Antwott erhalten. Aber sie ttieb Schmerz und Reue nicht

auf den grauenhaften Weg des Verräters Judas oder auf

den Irrweg, in Vergnügungen und Ausschweifungen aller

159

Gottes Antwort auf unser „Warum?" Art oder in der Hetze und Hast der Arbeit Vergessen zu suchen,

sondern sie trieb ihr Schmerz zu dem, der allen solchen Leiden ein Ende bereitet, der die beschmutzten Kleider wieder rein

und weiß macht durch seine Gnade — zu Jesus. Durch seine

unendliche Liebe, die am Kreuz das Leben hingab für die

Sünder, sind sie geheilt von ihrem Elend und Schmerzen und sammeln sich in grenzenloser Dankbarkeit um diesen

Thron, der ihr ganzes Leben neu machte und ihm neuen

Sinn und Inhalt gab. Und denen, die am Throne Gottes

sich gesammelt haben, sind alle Tränen getrocknet und alles Leid ist aus ihrem Leben ausgeschaltet, ja sie alle, die unter Unglück und Trübsal schier verschmachteten, lächeln über all ihr Leid, seit sie unter dem wohnen, der auf dem Throne sitzet.

Was ist denn wunderbar Großes geschehen, was haben sie erlebt, daß sie nun befreit lächeln können über das, was

sie einst im furchtbaren Druck gefangen hielt und ihnen alle

Freude zerstörte? Meine lieben Mitchristen! Was da geschehen ist, können

wir nicht einmal von ferne ahnen. Eö ist so unfaßlich groß, so übermenschlich herrlich, daß keines Menschen Auge jemals

ähnliches gesehen und keines Menschen Ohr ähnliches ge­ hört hat, daß wir eS uns in seiner Auswirkung und Bedeu­

tung nicht einmal vorstellen können — sie haben Gott von

Angesicht zu Angesicht gesehen, haben seine Güte und un­ faßbare Liebe erfahren, die so wunderbar zu trösten versteht,

daß alle Not und Trübsal ein Ende hat und für alle Zeiten

auS dem Gedächtnis und der Erinnerung gewischt ist.

Gottes Antwort auf unser „Warum?" Ahnst du vielleicht doch von ferne, welche Bedeutung es

für dich haben könnte, von diesem unfaßbar Herrlichen aus, daS vor uns liegt, dein Leben mit all seinen Enttäuschungen

und Lasten und Tränen zu beurteilen? Ahnst du nicht, wie sich im Licht der Offenbarung dessen, was kommen wird,

wenn wir GotteS Thron suchen, das Geheimnis, das über unserem Leide liegt, klären muß? Ahnst du nicht, wie auf die verzweifelte Frage „warum?" immer lauter, immer voll­

tönender, immer vertrauenerweckender die

Antwort er­

klingt: „Weil du reif werden solltest für die Ewigkeit, dar­

um hast du Leid tragen müssen, denn ohne Kranz keine Krone." Und wenn wir diese wundersame Liebe GotteS

einst ganz erfahren werden, werden auch wir mit den

um den Thron Gescharten stammelnd nach Motten ringend antworten: „Amen, Lob und Ehre, Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit." Dann werden wir nichts mehr fragen, sondern

staunend schauen und selig sein.

Amen.