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German Pages 168 [170] Year 2014
Eberhard Ruschenbusch
Solon: Das Gesetzeswerk – Fragmente Übersetzung und Kommentar 2. Auflage
Geschichte Franz Steiner Verlag
Historia Einzelschriften - 215
Eberhard Ruschenbusch (†) Solon: Das Gesetzeswerk – Fragmente
historia
Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |
Journal of Ancient History | Rivista di storia antica
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen, Erfurt |
Mortimer Chambers, Los Angeles | Martin Jehne, Dresden | Mischa Meier, Tübingen | Walter Scheidel, Stanford
Band 215
Eberhard Ruschenbusch (†)
Solon: Das Gesetzeswerk – Fragmente Übersetzung und Kommentar 2. Auflage
Herausgegeben von Klaus Bringmann
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. 2., korrigierte Auflage 2014 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10783-9 (Print) ISBN 978-3-515-10800-3 (E-Book)
Eberhard Ruschenbusch (6. August 1924 – 21. Januar 2007)
INHALT Vorwort des Herausgebers ...................................................................................9 Vorwort zur 2. Auflage........................................................................................12 Bemerkungen zur Fragmentensammlung ........................................................13 Zur Text- und Überlieferungsgeschichte ..........................................................15 FRAGMENTE Privatdelikte ........................................................................................................17 – Mord, Totschlag und schwere Körperverletzung (F 1 a – F 22) ....................17 – Eigentumsdelikte (F 23 a – F 25) ...................................................................52 – Sittlichkeitsdelikte (F 26 – F 31 b) .................................................................57 – Verbalinjurien (F 32 a – F 33 b) .....................................................................63 – Schadensklagen (F 34 a – F 35) .....................................................................68 – Hinderung des gerichtlich festgestellten Zugriffsrecht auf Sachen (F 36 a – F 36 b) ..........................................................................70 Straftaten gegenüber der Gemeinde .................................................................72 – Hochverrat (F 37 a – F 37 c) ..........................................................................72 – Entziehung vom Kriegsdienst (F 38 a – F 38 k) ............................................73 Prozessrechtliches ...............................................................................................77 – Einschränkung der erlaubten Eigenmacht ( F 39) ..........................................77 – Popularklage (F 40 a – F 40 b) .......................................................................77 – Beweisrecht (F 41 a – F 44 b) ........................................................................79 – Richterliche Abstimmung? (F 45) ..................................................................82 – Zahlungsfrist bei Strafen und Bußen (F 46) ...................................................82 Familienrecht.......................................................................................................83 – Erb- und Erbtochterrecht (F 47 a) ..................................................................83 – Verbot der Ehe unter Vollgeschwistern (F 47 b) ............................................86 – Definition der paides gnesioi; zugleich Gesetz über die Engyesis (F 48 a – F 48 b) .............................................................................................88 – Erbrecht (F 49 a – F 53) .................................................................................94 – Bestimmungen über die Gewährung von Unterhalt (F 54 – F 57) ............... 118 – Adoption ( F 58 a – F 58 b) ..........................................................................124 – Unbestimmbar (F 59 – F 59 a) .....................................................................126
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Inhalt
Nachbarrecht .....................................................................................................127 – Grenzabstand und Überhang (F 60 a – F 64 a) ............................................127 Wirtschaftliche Probleme .................................................................................130 – Sicherung der Ernährung durch ein Ausfuhrverbot für alle Nahrungsmittel (F 65) ..................................................................................130 – Beschränkung des Grunderwerbs auf ein bestimmtes Maß (F 66) ..............131 – Zur Seisachthie (F 67) ..................................................................................132 – Zinsfuß (F 68)...............................................................................................134 – Verbot des Zugriffs auf die Person des Darlehensschuldners bei Zahlungsverzug (F 69 a – F 69 c)...........................................................134 – Amnestie zugunsten der dem Zugriff verfallenen Darlehensschuldner (F 70) ...........................................................................136 Aufwandsgesetze u. ä. .......................................................................................137 – Einschränkung der Brautgabe (F 71 a – F 71 b) ..........................................137 – Einschränkung des Aufwands beim Begräbnis (F 72 a – F 72 c) ................138 – Verbot der Parfümherstellung und des Parfümhandels (F 73 a – F 73 b) ....142 – Zur Paiderastie (F 74 a – F 74 e) ..................................................................143 Verfassungsrechtliches, Institutionen..............................................................144 – Bürgerrechtsverleihung (F 75) .....................................................................144 – Vereinsautonomie (F 76 a – F 76 b) .............................................................145 – Abgabe einer Einkommenserklärung vor dem Areopag zum Zweck der Einteilung in die vier Schatzungsklassen (F 77 – F 78 c) ......................146 – Naukrarie (F 79 – F 80) ................................................................................150 Kultus – Bestimmungen über Opfertiere (F 81 – F 82) ..............................................151 – Opferkalender (F 83 – F 86) .........................................................................152 – Speisung im Prytaneion (F 87 – F 89)..........................................................154 – Verschiedenes (F 90 – F 92) ........................................................................155 Gesetz zum Schutz der Gesetze gegen Abrogierung und Änderung – (F 93 a – F 93 b) ...........................................................................................156 – – – – –
Literaturverzeichnis ......................................................................................158 Indizes ..........................................................................................................161 Glossen oder wörtlich erhaltene Gesetze .....................................................161 Wörterverzeichnis ........................................................................................161 Stellenverzeichnis.........................................................................................166
VORWORT DES HERAUSGEBERS Am 21. Januar 2007 verstarb Eberhard Ruschenbusch im 83. Lebensjahr. Von 1972 bis zu seiner Emeritierung nach dem Sommersemester 1992 wirkte er als einer der beiden Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Der Verstorbene war ein herausragender Kenner der athenischen Rechts- und Verfassungsgeschichte und einer der wenigen Althistoriker, die auf dem Feld des archaischen Rechts grundlegende Pionierarbeit geleistet haben. Davon zeugen neben zahlreichen kleineren Arbeiten, die jetzt in seinen Kleinen Schriften zur griechischen Rechtsgeschichte (2005) bequem zugänglich sind, insbesondere die in den Historia Einzelschriften im Jahre 1966 erschienene Dissertation, ΣΟΛΩΝΟΣ ΝΟΜΟΙ. Die Fragmente des solonischen Gesetzeswerkes mit einer Text- und Überlieferungsgeschichte, sowie die zwei Jahre später veröffentlichten Studien zur Geschichte des athenischen Strafrechts (in Graezistische Abhandlungen 4). Die Dissertation gibt in einer ausführlichen Einleitung Rechenschaft über die Text- und Überlieferungsgeschichte des solonischen Gesetzeswerkes, unterscheidet im Hauptteil zwischen Testimonia (T 1–33) und Fragmenten und innerhalb der Fragmente wiederum zwischen solchen, die dem solonischen Gesetzeswerk zuzurechnen sind, insgesamt 93 (F 1–93), und weiteren 59, die der nachsolonischen Rechtsentwicklung angehören, aber von antiken Autoren, meist athenischen Gerichtsrednern des 4. Jahrhunderts, Solon als dem Gesetzgeber schlechthin zugeschrieben werden (94 –152). Testimonia und Fragmente sind in den beiden Originalsprachen, Griechisch und Latein, ohne Übersetzung und Kommentar abgedruckt; für das Gros der potentiellen Interessenten sind sie so gut wie unbenutzbar – und zwar nicht nur wegen des Umstands, dass unter den Studierenden die Kenntnis des Altgriechischen, von einer verschwindend kleinen Minderheit abgesehen, erloschen ist, sondern auch, weil es bei dem archaischen Recht Athens um eine Materie geht, die selbst professionellen Althistorikern weitgehend verschlossen ist. Es ist kein Zufall, das eine der jüngsten einschlägigen Veröffentlichungen, K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland (Historia Einzelschriften 131 aus dem Jahr 1999), auf eine Auswertung des einzigen Gesetzescodes aus archaischer Zeit, der hinreichend überliefert ist, verzichtet. Das Verständnis des solonischen Rechts und seine Abgrenzung von späterer Rechtsentwicklung setzen juristische Kenntnisse und ein entwickeltes Sensorium für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse voraus, in die das Recht eingebettet war, und über diese Voraussetzungen verfügte Eberhard Ruschenbusch wie kein zweiter unter den deutschsprachigen Althistorikern. Seit meiner Berufung nach Frankfurt im Wintersemester 1981/82 war es mir ein besonderes Anliegen, meinen Kollegen zu bitten, der Fragmentsammlung Übersetzung und Kommentar folgen zu lassen. Eine Übersetzung erschien mir notwendig, weil jede Übertragung eine erste Kommentierung darstellt
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Vorwort des Herausgebers
und die Übersetzung im vorliegenden Fall von nicht juristisch Geschulten so wenig geleistet werden kann wie die der Εuklidischen Elemente durch einen Gräzisten, der von Mathematik nichts versteht. Was die Kommentierung im eigentlichen Sinn anbelangt, versteht sich die Notwendigkeit juristischer Schulung ohnehin von selbst. Eberhard Ruschenbusch hat diese für die Rezeption seiner Fragmentsammlung so wichtige, ja, unerlässliche Bearbeitungsstufe zunächst übersprungen und sich der Auswertung der dem Strafrecht Athens gewidmeten Fragmente in den oben zitierten, im Jahre 1968 publizierten Studien zur Geschichte des athenischen Strafrechts zugewandt. Dann kam die Berufung aus dem Schuldienst auf den Frankfurter Lehrstuhl, und gegenüber den Anforderungen, die die Vertretung des gesamten Faches in Lehre und Forschung stellte, rückte die Fortsetzung einer Auswertung der Fragmente, von ihrer Übersetzung und Kommentierung ganz zu schweigen, für lange Zeit in den Hintergrund. Doch hat Ruschenbusch über den zahlreichen Veröffentlichungen zur griechischen und römischen Geschichte, die demnächst in der Sammlung seiner Kleinen Schriften zur Alten Geschichte neu publiziert werden, nie aufgehört, auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte zu arbeiten. Ja, er hat, wohl mitveranlasst durch meine Bitte, mit der Ausarbeitung einer Übersetzung der Fragmente zum Familienrecht mit Kommentar begonnen. Davon zeugen die im Nachlass gefundenen Blätter mit der Übersetzung und Kommentierung von F 48 b. Sie sind von der Institutssekretärin auf der in den 80er Jahren benutzten mechanischen Schreibmaschine nach handschriftlicher Vorlage abgeschrieben worden. Es scheint jedoch seinerzeit bei dem einen Fragment geblieben zu sein. Warum die Arbeit nicht fortgesetzt wurde, vermag ich nicht zu sagen; vielleicht war eine Erkrankung der Grund für den Abbruch. Jedenfalls ist soviel klar, dass die begonnene Arbeit erst geraume Zeit nach der Emeritierung wiederaufgenommen wurde, nach meiner Erinnerung um die Jahrtausendwende. Die erste Frucht der erneuten Hinwendung zu griechischen Gesetzeskodifikationen war das im Jahre 2001 in den Quellen und Forschungen zur Antiken Welt erschienene Büchlein mit dem Titel Ein altgriechisches Gesetzbuch aus dem Kontext von Platons Gesetzen herausgehoben und in das Deutsche übersetzt. Eberhard Ruschenbusch hat dann fast bis in die letzten Stunden seines Lebens an der Übersetzung und Kommentierung der solonischen Gesetze gearbeitet. Drei Tage vor seinem Tod bat er mich, für die Publikation des Manuskripts zu sorgen, und ich habe ihm diesen letzten Freundschaftsdienst zu leisten versprochen. Das Manuskript, das sich im Nachlass befand, besteht aus drei Teilen: Das Gros bildet ein Konvolut von 223 handbeschriebenen Blättern mit durchlaufender Paginierung, weiterhin aus sieben Blättern, die eine Übersetzung und Kommentierung von F 48 b in Maschinenschrift enthalten und die, wie oben angemerkt, aus einer früheren Arbeitsphase stammen. Diese Blätter, die zusätzlich handschriftliche Eintragungen aus der späteren Arbeitsphase enthalten, sind als Vorlage für die handschriftliche Version letzter Hand auf S. 126–132 des oben genannten Konvoluts benutzt worden. Schließlich fand sich im Nachlass eine Mappe mit Blättern ohne Paginierung, die zuletzt, unmittelbar vor Eintritt des Todes, noch in Bearbeitung waren. Sie enthalten, handgeschrieben, die Übersetzung der F 71 a und b, F 72
Vorwort des Herausgebers
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a–c, F 74 a–e, F 75, F 76 a und b sowie F 79–92. Mit Ausnahme von F 75 und F 79 sowie einer den Opferkalender betreffenden Erläuterung zu F 81–86 enthalten diese Blätter keinerlei Kommentierung, sondern nur einzelne Stichworte als Merkstützen für die geplante, aber nicht mehr zur Ausführung gelangte Kommentierung. Abgeschlossen war also nur das Konvolut der 223 fortlaufend paginierten Blätter mit den Bemerkungen zur Text- und Überlieferungsgeschichte sowie mit der Übersetzung und Kommentierung der F 1–70, F 73, F 77–78 und F 93. Nicht mehr zur Ausführung gelangt ist ein geplanter zweiter Teil mit einzelnen Artikeln wie z. B. zum Bodenrecht oder zum Geldwesen der solonischen Zeit. Die Fragmente, die in der Sammlung von 1966/1983 unter die Überschrift „Falsches, Zweifelhaftes, Unbrauchbares“ gestellt wurden (F 94–152), hat Ruschenbusch mit Ausnahme von F 136 nicht übersetzt und kommentiert. Obwohl also der Verstorbene nicht mehr letzte Hand an sein Werk legen konnte, scheint mir doch die von ihm gewünschte Herausgabe des Vorhandenen nicht nur eine Pflicht der Pietät zu sein, sondern sie ist auch erforderlich um der Sache willen, der wissenschaftlichen Erschließung des solonischen Gesetzeswerkes. Im Folgenden lege ich Rechenschaft darüber ab, wie bei der Bearbeitung und der Herausgabe des hinterlassenen Manuskripts verfahren wurde. Ich habe keine inhaltlichen Änderungen und keine Ergänzungen im Kommentar vorgenommen. Vorangestellt sind der Übersetzung die Originaltexte der Fragmente. Warum Ruschenbusch sie nicht in sein hinterlassenes Manuskript aufgenommen hat und auch keinerlei Hinweise gegeben hat, wie in dieser Hinsicht verfahren werden sollte, vermag ich nicht zu sagen. Für eine Aufnahme der Originaltexte schienen indessen folgende Gründe zu sprechen: Der Wiederabdruck der betreffenden Texte erleichtert die Benutzung von Übersetzung und Kommentar, und er war auch deshalb notwendig, weil im Kommentar häufig Lemmata im Wortlaut der Originaltexte zitiert werden. Ruschenbusch hat zudem einige Texte neu aufgenommen und den Auszug aus dem drakontischen Blutrecht (F 5 a) nicht mehr, wie 1966/1983, nach IG I² 115, sondern nach IG I³ 104, d. h. nach dem von R. S. Stroud revidierten Text, übersetzt und kommentiert. – Die Abkürzungen der Namen antiker Autoren und Werke habe ich nach dem Abkürzungsverzeichnis des Neuen Pauly vereinheitlicht. Die Hinweise des Kommentars auf wissenschaftliche Literatur werden mit Verfassernamen und Erscheinungsjahr, gegebenenfalls auch mit Seitenzahlen zitiert. Die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis (ebenso die Auflösung einiger anderer Abkürzungen). Tiefer eingegriffen wurde in die Zitierweise griechischer Texte und Begriffe, da Ruschenbusch, wohl bedingt durch die längere Entstehungszeit des Manuskripts, in dieser Hinsicht inkonsequent verfahren ist. Er hat im Kommentar Griechisches entweder in lateinischen Buchstaben transkribiert oder in der Originalsprache zitiert, ohne dass erkennbar wäre, warum bald so, bald anders verfahren wurde. Bei der Bearbeitung des Manuskripts bin ich im Allgemeinen so vorgegangen, dass zentrale Begriffe des attischen Rechts transkribiert – z. B. Aidesis oder Prorrhesis –, hingegen Lemmata aus den Originalfragmenten im Wortlaut abgedruckt werden. Griechischen Zitaten im Kommentar, die nicht aus den Fragmenten stammen, habe ich eine deutsche Übersetzung beigefügt und zum Zeichen meiner Urheberschaft mit dem Kürzel K. B. versehen. In drei
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Vorwort des Herausgebers
Fällen hat der Verfasser Texte athetiert, die er 1966/1983 in die Fragmentsammlung aufgenommen hatte, und dies im Kommentar begründet (F 7; F 9 und F 38). Die Athetierung habe ich durch Einklammerung der betreffenden Fragmentnummern mit [ ] kenntlich gemacht. Die Texte sind der Fragmentsammlung von 1966/1983 entnommen (zu den Ausnahmen s. o.), ebenso mit Modifikationen die Bemerkungen, mit denen Ruschenbusch die von ihm verwendeten Zeichen und die Art der Textpräsentation erläutert hat (s. S. 13 f.). Bei der Vorbereitung des Manuskripts zur Publikation sowie beim Korrekturlesen hat mir Frau Simone Ladikos, studentische Hilfskraft am Historischen Seminar/Abt. Alte Geschichte, wertvolle Hilfe geleistet. Bei dem mühsamen Geschäft des Korrekturlesens hat mich zusätzlich wie bei früheren Gelegenheiten Herr Tilman Moritz, M. A. unterstützt. Meinem Freund, Prof. Dr. Dieter Flach, verdanke ich wertvolle Anregungen und Korrekturen. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Das aus dem Nachlass herausgegebene Werk sei dem Andenken meines Kollegen gewidmet, der mir in Freundschaft verbunden war. Frankfurt am Main im Juni 2009 Klaus Bringmann
VORWORT ZUR 2. AUFLAGE Früher als erwartet ist die erste Auflage vergriffen. Für die zweite ist der Text neu durchgesehen worden. Gefundene Druckfehler und Versehen sind beseitigt worden. Der Inhalt ist unverändert. Frankfurt am Main im Februar 2014 Klaus Bringmann
BEMERKUNGEN ZUR FRAGMENTENSAMMLUNG F 23 b: Aufgenommen sind alle Gesetze, Bestimmungen und Glossen, die ausdrücklich als solonisch bezeichnet werden, und weiterhin alle Stücke, bei denen die Herkunft aus den Axones bzw. Kyrbeis bezeugt ist, auch wenn der Name Solons selbst nicht erwähnt wird. Dabei sind Zeugnisse, die sich nicht auf ein bestimmtes Gesetz beziehen, sondern entweder über den Inhalt des Gesetzeswerkes Auskunft geben (wie F 1, 4, 40) oder in mehreren Gesetzen erscheinende Ausdrücke oder Formeln anführen (wie F 3, 41, 57, 79), als Fragmente behandelt worden. F 23 d*: Zweitens glaubte der Verfasser auf die Aufnahme von neun (meistens wörtlich erhaltenen) Stücken aus dem Code vom Jahre 403 (F 23 d, 29 a, 32 b, 33 b, 48 b, 49 a, 50 b, 53, 74 e) nicht verzichten zu können, da sie durch Parallelzeugnisse, Inhalt und Stil in jeder Hinsicht als original solonisch gesichert sind. Doch um dem Leser die Kontrolle zu ermöglichen, sind diese Stücke durch * hinter der Nummer des Fragments gekennzeichnet. F 6**: Drittens musste als Bestandteil des solonischen Gesetzeswerkes das Blutrecht in diese Sammlung aufgenommen werden (s. F 1), wobei lediglich die Stücke fortgelassen worden sind, die aller Wahrscheinlichkeit nach erst in die Zeit nach Solon gehören. Der Kontrollmöglichkeit wegen sind diejenigen Stücke des Blutrechts, bei denen nicht der Name Solons erwähnt wird, durch ** gekennzeichnet. Schließlich ist das von Aristoteles im Zusammenhang der Geschichte des Peisistratos anonym angeführte Gesetz über die Errichtung einer Tyrannis (F 37 a**) in diese Sammlung aufgenommen worden. Maßgebend dafür war einmal, dass die Parallelüberlieferung ohnehin die Existenz eines derartigen Gesetzes für die Axones sichert (s. F 37 b, c), und dann auch die Überlegung, dass Aristoteles dieses Gesetz nur den Axones entnommen haben kann. F 23 c (51) (= F 15 b): Die hinter der Nummer des Fragments Petit gedruckte Zahl in Klammern bedeutet die Seite (hier 51), auf der das betr. Fragment (hier F 23 c) bei C. SONDHAUS, De Solonis legibus, Diss. Jena 1909, entweder wörtlich angeführt oder erwähnt wird. Die in Klammern befindliche Fragmentenzahl mit dem Gleichheitszeichen davor (hier (= F 15 b)) besagt, dass der ziemlich umfangreiche umstehende Text von F 23 c vollständig bei F 15 b zu lesen ist. Den Fragmenten bzw. Fragmentengruppen ist eine Überschrift beigegeben, die über die mögliche Deutung des Fragments Auskunft gibt. Weiterhin ist in all den Fällen, in denen ein Gesetz oder eine Glosse missverstanden worden ist, im Text des Fragmentes das Zeichen (( )) verwendet und dem Fragment eine Adnotatio beigefügt worden (s. F 23 b).
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Bemerkungen zur Fragmentensammlung
Testimonium: Die den Fragmenten hinzugesetzten Testimonia sollen über Inhalt, Textgestaltung oder Echtheit des betr. Fragments Auskunft geben. Indizes: Die Indizes enthalten 1. ein Verzeichnis der Fragmente, die Glossen oder wörtlich erhaltene Gesetze bieten, 2. ein Wörterverzeichnis, das alle Stellen berücksichtigt, in denen der originale Wortlaut überliefert ist, und 3. ein Verzeichnis der Fundstellen. Gliederung: Da abgesehen von sechs Stücken, bei denen die Nummer des Axon erhalten ist, nichts über die Gliederung des solonischen Gesetzeswerkes bekannt ist, sind die Fragmente F 1–93 nach Sachgebieten angeordnet worden. Diese Anordnung bietet zugleich den Vorteil, dass der Benutzer der Sammlung oft schon aus den benachbarten Fragmenten, also dem „Gesamtsystem“, einmal die Echtheit des Fragments überprüfen und zweitens den Inhalt und die Bedeutung eines Fragments ermitteln kann.
ZUR TEXT- UND ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE 1) Der Kommentar dient in erster Linie der Erklärung der einzelnen Fragmente und der Frage ihrer Echtheit. 2) Dass uns das solonische Gesetzeswerk in Fragmenten erhalten geblieben ist, ist heute communis opinio. Strittig ist lediglich die Echtheit einzelner Fragmente. 3) Axones und Kyrbeis (Ruschenbusch 1966/1983, 14 ff.): Während für Eratosthenes und Polemon, die beide noch die Axones vollständig gesehen hatten, Axones und Kyrbeis faktisch identisch waren und Aristophanes von Byzanz sie lediglich darin unterschied, dass die Axones die Gesetze und die Kyrbeis die Opfer enthalten hätten, unterscheidet Stroud 1979 beide voneinander. Dabei stützt er sich nicht auf die frühe Überlieferung, sondern auf die verfälschenden Aussagen Späterer. 4) Der Umfang des solonischen Gesetzeswerkes (Ruschenbusch 1966/1983, 25) dürfte auf maximal 30 bis 45 Teubnerseiten zu veranschlagen sein (s. F 5 a). Lehrreich ist hier ein Vergleich mit Platons Gesetzen: vgl. Ruschenbusch 2001. 5) Zum Aufbewahrungsort (Ruschenbusch 1966/1983, 31), zur Geltungsdauer (ebda. 32) und zur Zerstörung der Axones (ebda. 37: nach 200 v. Chr.) gibt es keine neuen Gesichtspunkte. Wichtig ist allein, dass zur Text- und Überlieferungsgeschichte die verlorengegangenen Schriften des Aristoteles, unter denen sich auch die Texte der Axones befanden (T 1), ab 82 v. Chr. in Rom greifbar waren und dort kommentiert wurden (T 2–4 und Ruschenbusch 1966/1983, 50 ff.). 6) Axones und Zwölftafelgesetz (Ruschenbusch 1966/1983, 51 und 1963, 250 ff.): Wenn Siewert 1978, 331 ff. den Vergleich von XII tab. und Axones auf Cicero (De legibus aus dem Jahr 52/1) zurückführt, so übersieht er, dass die von Cicero in De legibus benutzte Ausgabe der XII tab. den Vergleich bereits enthielt: s. den gleichen Wortlaut tralata bei Cic. leg. 2,59 und Gaius ad leges XII tab. in: Dig. 47,22,4; vgl. auch noch Gaius ad legem XII tab. in: Dig. 10,1,13. Vermutlich ist der Vergleich zwischen 55 und 52 v. Chr. von Servius Sulpicius Rufus durchgeführt worden. Unsicherheit über einen derartigen Kommentar des Servius zeigt Wieacker 1988, 604.
FRAGMENTE PRIVATDELIKTE Mord, Totschlag und schwere Körperverletzung Echtheit: Irgendwann im 7. Jh. v. Chr. hat Drakon das Blutrecht geschaffen, und im Jahre 594 hat es Solon in sein Gesetzbuch übernommen (F 1). Doch überliefert ist es aus der Zeit um 400. Da das Blutrecht in der Zwischenzeit von über 200 Jahren nicht unwesentlich abgeändert worden war (s. u.), stellt sich die Frage, was denn eigentlich von dem überlieferten Blutrecht drakontisch ist. Auszugehen ist von dem wörtlich erhaltenen 8. Gesetz des 13. Axon, dem solonischen Amnestiegesetz (F 70). In ihm wird für die Zeit vor 594 als Blutgericht neben den Epheten das Prytaneion erwähnt. Zuständig war es für den Fall, dass der Täter unbekannt geblieben oder die Tötung durch ein Tier bzw. einen Gegenstand verursacht worden war. Besetzt war es allein mit dem Archon Basileus und den vier Königen der vier vorkleisthenischen Phylen (Aristot. Ath. pol. 57,4). Da es also am Prytaneion keine Epheten gab, müssen die einundfünfzig Epheten eine Aufgabe gehabt haben, die es am Prytaneion nicht gab, und diese Aufgabe war die Entscheidung darüber, ob eine Tat vorsätzlich oder unvorsätzlich geschehen war oder straflos blieb. Die Tatsache, dass es ausschließlich im Hinblick auf die Tatumstände ein besonderes Blutgericht am Prytaneion gab, lässt darauf schließen, dass es wie im 5. und 4. Jh. so auch schon zur Zeit Drakons für die Epheten mehrere den Tatumständen entsprechende Gerichtshöfe gegeben hat, für vorsätzliche Tötung die Stätte am Areopag, für unvorsätzliche am Palladion, für straflose am Delphinion und für den Sonderfall einer vorsätzlichen Tötung im Ausland durch einen wegen unvorsätzlicher Tötung landesflüchtigen Athener am Phreatto. Die Differenzierung der Tat nach den Umständen war natürlich kein Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zur Regelung der Tatfolgen: Bei vorsätzlicher und unvorsätzlicher Tötung blieb es nach Ausweis der Fragmente bei der althergebrachten Blutrache seitens der Verwandten des Getöteten, jedoch mit dem Unterschied, dass demjenigen, der unvorsätzlich getötet hatte, innerhalb einer bestimmten Frist auf festgelegtem Wege die Flucht ins Ausland gewährt und sein Eigentum vor Repressalien geschützt wurde. Und selbst jenseits der Grenzen genoss der Flüchtige noch Rechtsschutz, wenn er sich an die ihm gemachten Auflagen hielt (s. F 5; 6; 13 und 16–18). Für denjenigen, der einen Mitbürger entweder in Abwehr einer Unrechtstat oder versehentlich beim Wettkampf oder im Kriege getötet hatte, hatte die Tötung keine Folgen. Der Tote liege bußlos, heißt es lapidar (F 19–21). Eng verbunden mit der Blutrache war die Möglichkeit der außergerichtlichen Streitbeilegung durch die Zahlung eines Lösegelds seitens des Täters und durch den Verzicht auf die Blutrache seitens der Verwandten des Getöteten (F 5 und
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Privatdelikte
9–12). Dieser Überblick zeigt, dass das athenische Blutrecht des 5. und 4. Jh. in seinen Grundzügen von Drakon stammte. Zum Verfahrensablauf: Jemand war getötet worden. Es stand dann den Verwandten des Getöteten frei, gegen Zahlung eines Lösegelds auf die Rache am Täter zu verzichten. Scheiterte jedoch eine außergerichtliche Streitbeilegung, so kam es in aller Öffentlichkeit zur Prorrhesis (F 5). Um zu verhindern, dass der Täter als Schutzflehender Asyl suchte und sich kultisch von der Tat reinigte, forderten die Verwandten des Getöteten den Täter auf, bis zum Prozess alle heiligen Stätten, darunter auch die Agora, und alle Amtslokale und Gerichte zu meiden (F 14). Gleichzeitig dürfte die Ladung vor Gericht erfolgt sein. Die Verhandlung begann mit einer Eidesleistung, der Diomosia. Mit ihr stellte der Archon Basileus in einem formalen Beweisverfahren fest, ob der Beschuldigte getötet hatte oder nicht: Barfuß auf den Eingeweiden eines unter Beachtung aller religiöser Vorschriften geschlachteten Ebers, Widders und Stieres stehend (F 8), beschworen der Kläger und – in der Funktion von Eideshelfern – seine Zeugen mit einem Überführungseid die Schuld des Angeklagten: κτεῖναι τὸν δεινά (den Betreffenden getötet zu haben: K. B.), möglicherweise mit dem Zusatz χειρὶ ἐργασάμενον bzw. βουλεύσαντα (mit eigener Hand bzw. als Anstifter oder Verursacher: K. B.), doch sonst ohne jede weitere Qualifizierung der Tat. Verbunden war dieser Eid mit einer Verfluchung der eigenen Person, der Angehörigen und des ganzen Hauses mitsamt dem Vieh und den Feldern (F 8) für den Fall der Unwahrheit des Beeideten. Die Feststellung der Tatfrage durch einen Überführungseid gehörte nun in eine Zeit, in der man noch an die Strafe der Schwurgötter für den Fall eines Meineids glaubte und daher nur dann zu klagen wagte, wenn die Tat mit allen Begleitumständen offenkundig war und es somit keinerlei Zweifel an der Täterschaft des Beschuldigten geben konnte. Bedingt war diese Offenkundigkeit der Tat durch die allgemeinen Lebensverhältnisse: Griechenland hatte im 4. Jh. im Mutterland, in der und um die Ägäis rd. 750 Staaten. Davon hatten 590 (= 78,6 %) nicht mehr als 800 Familien. Eine solche ‚Normalpolis’ ist 25 bis 100 km² groß. Stellt man sie sich als einen Kreis mit der Siedlung als Mittelpunkt vor, so hat man nach 2,8 bis 5,6 km die Grenze erreicht. Was die Zahl der Familien angeht, so haben von den 750 Poleis 430 (= 57 %) nicht mehr als 66, 133 oder 400 Familien. Noch kleinräumiger ist das Bild in Athen: Von den 139 Siedlungen (Demen) des 4. Jh. hatten 93 (= 67 %) gerade 42, 84 oder 126 Familien: zu allen s. Ruschenbusch 1978, 3 ff. und 1985, 253 ff. Bei dieser Kleinräumigkeit kannte in einer Siedlung jeder jeden. Man wusste um den Besitzstand der Mitbürger, mitsamt dem Vieh. Man wusste um Freundschaften, aber auch um Hass und Feindschaft. Drohte Gefahr, so genügte der Hilferuf, um die Nachbarn zu alamieren. Und damit war die Offenkundigkeit einer Tat die Regel. Im Allgemeinen ging es um folgende Sachverhalte: 1. Vor Zeugen hatte jemand im Streit einen anderen erschlagen. Meist stand dabei fest, ob er in Gegenwehr und damit rechtens oder ob er den ersten Schlag geführt und damit vorsätzlich getötet hatte.
Mord, Totschlag und schwere Körperverletzung
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2. Vor Zeugen hatte jemand in Abwehr einer Selbsthilfemaßnahme einen anderen erschlagen. War die Selbsthilfe unrechtmäßig und dazu gewalttätig erfolgt, hatte der Täter rechtens getötet, anderenfalls vorsätzlich. 3. Zusammen mit den Nachbarn hatte jemand den nächtlichen Dieb auf der Verfolgung erschlagen. Der Fall war eindeutig, die Tötung war rechtens. 4. Jemand, der bestohlen worden war, versuchte vor Zeugen, in ein Haus einzudringen, weil er dort den gestohlenen Gegenstand wusste. Stieß er auf Widerstand und erschlug den anderen, so machte er sich der vorsätzlichen Tötung schuldig. 5. Jemand hatte den Verführer von Frauen der Familie beim Vollzug des Geschlechtsverkehrs erschlagen. Die Tat war rechtens, natürlich nur, wenn sie vor Zeugen geschah, die beweisen konnten, dass alle gesetzlichen Spielregeln dabei beachtet worden waren. Man muss sich klar machen, dass jede rechtserhebliche Handlung grundsätzlich vor Zeugen ablief, und so war in den meisten Fällen Offenkundigkeit gegeben. Damit aber war die Qualifizierung der Tat als vorsätzlich, unvorsätzlich oder straflos relativ einfach. Die Zuordnung des Falles an das jeweilige Ephetengericht bereitete keine großen Schwierigkeiten. Doch zurück zum Verfahrensablauf. Da der Beschuldigte einmal wegen der Offenkundigkeit der Tat und dann auch aus Furcht vor der Strafe der Schwurgötter dem Überführungseid des Klägers einfach keinen Reinigungseid entgegensetzen konnte, war das formale Beweisverfahren durchaus wirksam. Selbst noch im 4. Jh. verweigerte derjenige, der in erlaubter Eigenmacht oder aus entschuldbarem Irrtum heraus getötet hatte (s. F 19–21), bei der Diomosia den Eid mit der Erklärung: „Er gebe zu, getötet zu haben, doch in Einklang mit den Gesetzen“ (Aristot. Ath. pol. 57,3; Demosth. or. 23,74; Aischyl. Eum. 429). Schwierigkeiten ergaben sich erst dann, als auch bei nicht offenkundiger Tat geklagt wurde und der Beschuldigte wegen des Fehlens von Tatzeugen die Tat mit einem Reinigungseid bestreiten konnte. Es stand dann Eid gegen Eid, und die Tatfrage konnte nur noch auf dem Wege der freien Beweiswürdigung entschieden werden. Doch ein solcher Fall sollte sich erst im Gefolge der Sophistik und des Aufkommens der Gerichtsrhetorik ergeben. Solon selbst war noch fest davon überzeugt, dass die Götter jedes Unrecht, darunter auch den Meineid bestrafen (frg. 1,25 ff.). Und so übertrug er mit seiner Gesetzgebung das formale Beweisverfahren der Diomosia als Antomosia auch auf alle anderen Prozesse (s. Ruschenbusch 2005, 118 ff.). Nach der Klärung der Tatfrage in der Diomosia entschieden dann die 51 Epheten in freier Beweiswürdigung (διαγνῶναι) über die Willensrichtung (F 5 und F 18). Der wegen vorsätzlicher Tötung Verurteilte wurde dann in klassischer Zeit den Elfmännern zur Hinrichtung im Beisein der Verwandten des Getöteten übergeben (Demosth. or. 23,69). Doch zur Zeit Drakons und Solons gab es noch keine Todesstrafe und somit auch noch keinen staatlichen Strafvollzug (s. Ruschenbusch 2005, 77 ff.). Folglich dürfte der Verurteilte auf der Stelle den Verwandten des Getöteten
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zum sofortigen Vollzug der Rache ausgeliefert worden sein, so wie es beim verurteilten Verführer (μοῖχος) der Fall war, den die Gestellungsbürgen nach dem Urteilsspruch (καταδίκη: s. F 70) dem Sieger im Prozess zum Vollzug der Rache zu übergeben hatten (Demosth. or. 59,66). Änderungen im Blutrecht: A) Die Todesstrafe: Abgesehen von dem Fall, dass sich der Täter dem Prozess durch lebenslängliche Flucht ins Ausland entzogen hatte, standen in klassischer Zeit auf vorsätzliche Tötung die Todesstrafe, vollstreckt durch die Elfmänner im Beisein der Verwandten des Getöteten, und die Einziehung des Vermögens zugunsten des Staates (Demosth. or. 21,43 und 23,69). Da jedoch die solonische Rechtsordnung nur „negatives Strafrecht“ kannte, d. h. den Entzug des Rechtsschutzes und die Drohung mit der Strafe der Götter, aber keinerlei Strafe, die seitens staatlicher Organe aktiv vollstreckt wurde, wie die Todesstrafe, die Gefängnishaft und die Einziehung des Vermögens (Ruschenbusch 2005, 77 ff.), müssen die Todesstrafe und die Einziehung des Vermögens in der Zeit nach Solon eingeführt worden sein. Bis dahin gab es also nur die althergebrachte Blutrache, und das bestätigen auch folgende Zeugnisse und Überlegungen: 1) Das frühestens von Solon stammende F 16 erlaubte weiterhin, den Blutschuldigen auf athenischem Boden zu töten, verbot aber, seinen Leichnam zu misshandeln. Stellt man jetzt einmal die Frage, an wen der Gesetzgeber als möglichen Vollzieher der Strafe gedacht hat, so lautet die einzige plausible Antwort: an die Verwandten des Getöteten in Verfolgung der Blutrache. 2) Mit F 6, F 17 und F 18 wird demjenigen, der wegen unvorsätzlicher Tötung verurteilt worden ist, für das Verlassen athenischen Bodens und den Aufenthalt im Ausland Rechtsschutz gewährt. Fragt man auch hier, vor wem der Gesetzgeber den Flüchtigen schützt, so lautet auch hier die Antwort: vor den Verwandten des Getöteten in Verfolgung der Blutrache. 3) Wenn jemand wegen einer unvorsätzlichen Tötung im Ausland lebte und einer weiteren, diesmal vorsätzlichen Tötung beschuldigt wurde, dann wurde ihm an einem Ort der Küste Attikas namens Phreatto Gelegenheit gegeben, sich von einem Schiff aus vor dem Ephetengericht zu rechtfertigen (Demosth. or. 23,77 f.; Aristot. Ath. pol. 57,3). Verstehen lässt sich die seltsame Duplizität einer unvorsätzlichen und vorsätzlichen Tötung nur von der Blutrache her: Im Verlauf einer Blutrache konnte es durchaus schon passieren, dass statt des Flüchtigen der Verfolger getötet und damit der Flüchtige eine zweite Bluttat begangen hatte. Für diesen Fall war das Gericht in Phreatto zuständig. Es prüfte, ob der Flüchtige aus Vorsatz oder aus Notwehr getötet hatte. Dabei war die beweisbedürftige Frage, ob der Beklagte sich des Besuchs der Grenzmärkte und der amphiktyonischen Festveranstaltungen enthalten hatte oder nicht (F 18). Im ersten Fall hatte der Flüchtige in Notwehr und somit rechtens getötet, da der erschlagene Verfolger in unerlaubter Eigenmacht gehandelt hatte, im
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zweiten Fall lag vorsätzliche Tötung vor, da der Verfolger die Blutrache in Übereinstimmung mit dem Gesetz ausgeübt hatte. Das seltsame Verfahren vor dem Gericht in Phreatto setzt die Blutrache voraus. 4) Das Wergeld (F 9–F 13) und die damit erkaufte Respektierung (Aidesis: s. F 5 und 6) bildeten wie schon in Hom. Il. 9,632 ff. das Korrelat zur Blutrache. 5) Wenn sich der Täter dem Prozess durch die Flucht entzogen und damit die Tat gestanden hatte, konnten die Verwandten des Getöteten, um eine Wergeldzahlung oder die Auslieferung des Täters zu erzwingen, auf sein Eigentum zugreifen (s. zu F 17) und aus seinem Verwandtenkreis bis zu drei Geiseln nehmen (F 13). Auch hier wird die Blutrache vorausgesetzt. Eingeführt wurde die Todesstrafe nach Solon, aber noch vor 508 (s. unter E). Literatur: Thür 1990, 143 ff., irrig, da ohne gebührende Berücksichtigung von Ruschenbusch 2005, 77–80 und F 22. B) Prorrhesis: Mit ihr forderten die Angehörigen des Getöteten den Beschuldigten auf, sich von allen gehegten Stätten fernzuhalten. Da es nun seltsam war, dass ein Verbot, auf dessen Übertretung der Entzug des Rechtsschutzes, die Atimie stand, von den Angehörigen des Getöteten ausging und nicht von einer Amtsperson, sprach in späterer Zeit der Archon Basileus dieses Verbot aus (Aristot. Ath. pol. 57,2), jedoch erst nach Einreichung der Klage (Demosth. or. 47,69). C) Aidesis: Die Aidesis war ursprünglich ein Akt der außergerichtlichen Streitbeilegung, ein Verzicht auf die Blutrache gegen die Zahlung eines Lösegeldes, wobei die Tatsache, ob der Täter vorsätzlich oder unvorsätzlich getötet hatte, keine Rolle spielte. In klassischer Zeit gab es eine Aidesis nur noch bei unvorsätzlicher Tötung und auch nur noch, nachdem der Verurteilte bereits ins Exil gegangen war. Da die Lösegeldzahlung verschwunden war, wurde die Aidesis zu einem einseitigen Rechtsakt, zur Begnadigung. Zeitpunkt und Umstände der Änderung entziehen sich unserer Kenntnis. D) Deuteros Logos: Doppelte Plaidoyers der Parteien gab es im athenischen Recht nur in einem Prozess, in dem die Richter nach dem Schuldspruch noch in einem zweiten Abstimmungsgang über das Strafmaß bzw. den Wert des Streitgegenstands zu entscheiden hatten (ἀγὼν τιμητός), Beispiele sind dafür Demosth. or. 27 und 28,30; 31,45 und 46 und Plat. apol., weiterhin Demosth. or. 23,69; Antiph. 5,13; 6,14 und die Tetralogien 2–4. Wenn es nun im Blutprozess zwei Plaidoyers gab, dann also aus folgendem Grunde: Das erste Plaidoyer galt der Frage, ob der Beklagte getötet hatte oder nicht. Nachdem darüber abgestimmt worden war, galt das zweite Plaidoyer der Frage, wie die Tat zu qualifizieren, also wie der Täter zu bestrafen sei. Doch mit den Tetralogien des Antiphon war diese klare Scheidung dahin. Auch fehlte, wie wieder die Tetralogien zeigen, die Abstimmung nach den ersten Plaidoyers. Trotzdem waren die doppelten Plaidoyers im Blutprozess eine relativ späte Erscheinung. Sie entstammen einer Zeit, als die Diomosia als formales Beweisverfahren wirkungslos geworden war und man auch institutionell damit zu
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rechnen hatte, dass der Beklagte dem Überführungseid des Klägers einen Reinigungseid entgegensetzte. Eine genauere Datierung ergibt sich wie folgt: Noch um 450 versuchten die Parteien Schuld und Unschuld nicht in Plaidoyers darzulegen, sondern durch Befragen der Gegenpartei. Beispiele dafür sind das altertümliche, vielleicht sogar solonische Gesetz (lex ap. Demosth. or. 46,10). Die Parteien mussten einander die Fragen beantworten, doch Zeugnis ablegen mussten sie nicht (s. zu F 41–F 44): Aischyl. Eum. 582 ff. vom Jahre 458 und Aristoph. Ach. 687 vom Jahre 426. Anklänge an dieses Verfahren finden sich bei Plat. apol. 24 D ff.; And. 1,101; Lys. 12,24 ff.; 13,30 und 32; 22,15; Isai. 11,5 und Deinarch. 1,83. Demnach sind die doppelten Plaidoyers eine Erscheinung der ab 430 unter dem Einfluss der Sophistik sich entwickelnden Gerichtsrhetorik. E) Der Rat auf dem Areopag: In klassischer Zeit war der Areopag Blutgericht im Falle der vorsätzlichen Tötung. Wie F 2 lehrt, war der Rat auf dem Areopag zur Zeit Drakons noch kein Blutgericht. Eine Bestätigung dessen liefert einmal das solonische Amnestiegesetz (F 70) und zum anderen das Verfahren vor dem Gericht in Phreatto, bei dem die Epheten über vorsätzliche Tötung entschieden. Allerdings dürfte der Areopaghügel auch schon zur Zeit Drakons Sitz eines Blutgerichts gewesen sein, allerdings besetzt mit den Epheten (s. o.). Die Tatsache, dass in der Folgezeit der Rat auf dem Areopag mit der Gerichtsbarkeit bei vorsätzlicher Tötung betraut wurde, während in allen anderen Fällen und so auch beim Gericht in Phreatto die Gerichtsbarkeit der Epheten bestehen blieb, lässt vermuten, dass der Grund dafür in einer Änderung der Behandlung der vorsätzlichen Tötung zu suchen ist. Die einzige Änderung, die wir kennen, ist die Abschaffung der Blutrache und die Einführung der Todesstrafe, und das erklärt auch, warum man es beim Gericht in Phreatto bei den Epheten beließ, obwohl dort über vorsätzliche Tötung zu Gericht gesessen wurde: Es gab dort keinen Vollzug der Todesstrafe. Somit fällt die Betrauung des Rates auf dem Areopag mit der Blutgerichtsbarkeit in die Zeit nach Solon (s. o.) und in die Zeit vor 508. Denn um 508 haben wir das erste Beispiel für die Todesstrafe und die Einziehung des Vermögens zugunsten des Staates (Hdt. 5,72,4; Schol. ad Aristoph. Lys. 273; vgl. auch Hdt. 6,137 zum Jahre 489). F) Prodikasia: Zur Vorbereitung der Gerichtsverhandlung hielt der Archon Basileus in drei aufeinander folgenden Monaten jeweils eine Vorverhandlung ab, um dann im vierten Monat den Fall vor das betr. Blutgericht zu bringen (Ant. 6,42). Weiterhin war gesetzlich bestimmt, dass der Archon Basileus, der die Klage entgegennahm, sie auch vor das Blutgericht brachte, mit der Konsequenz, dass der Archon Basileus in den letzten vier Monaten des Amtsjahres keine Klage annehmen durfte (Ant. 6,41 ff.) und somit zwischen der Tat und der Entgegennahme der Klage bzw. der Gerichtsverhandlung vier bis acht Monate liegen konnten. Das alles passt nicht in eine Zeit, in der der Täter im Regelfall auf frischer Tat angetroffen und möglicherweise von den Angehörigen des Getöteten festgesetzt worden war. Zu
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erwarten ist ein Prozess gleich nach der Tat, so wie es ursprünglich bei der Apagoge und der Phasis der Fall war (s. Ruschenbusch 2005, 113–117). G) Pheugein: Mit dem Übergang von der Blutrache zum „positiven Strafrecht“, zu einem Prozess mit Strafvollstreckung seitens des Staates, bekam φεύγειν, das bisher „fliehen“ hieß, die Bedeutung „verbannt sein/werden“. H) Graphe traumatos ek pronoias, Klage wegen vorsätzlicher Körperverletzung: Zugrunde lag dieser Klage der Tatbestand der Körperverletztung infolge versuchter Tötung (Lys. 3,28 und 41 ff.; 4,5 ff.). Als Graphe war diese Klage eine sogenannte Popularklage, also eine Klage, zu deren Erhebung jeder Vollbürger berechtigt war, und nicht nur – wie bei einer Privatklage (δίκη) – der Verletzte. Die Popularklage wegen Unrechtstaten gegenüber einer einzelnen Person ist eine Schöpfung Solons (F 40), allerdings noch nicht mit der Bezeichnung Graphe, sondern mit der Bezeichnung Eisangelia. Die von anderen Blutklagen abweichende Gestaltung der Popularklage erklärt sich aus dem Sachverhalt, der allen Popularklagen des Privatstrafrechts zugrunde lag, nämlich dass der Verletzte rechtlich oder, wie hier, physisch nicht imstande war, selbst zu klagen. Belegt ist die Klage bei Demosth. or. 54,18; Aischin. 2,93; 3,51; 3,212. Zum Tatbestand s. Lipsius 1905–1915, 605 f. I) Endeixis: lex ap. Demosth. or. 23,51 lautet: „Keine Blutklage ist statthaft, wenn jemand einen Blutschuldigen wegen Bannbruchs anzeigt“ – und damit dessen Bestrafung mit dem Tode herbeiführt. Die Endeixis ist mit der Apagoge, der Vorführung vor Gericht, sowohl hinsichtlich der Folgen als auch vom Tatbestand her, dem sie zugeordnet ist, eng verwandt und wird oft alternativ zur Apagoge genannt, aber zu einer Apagoge, die ihren ursprünglichen Charakter als Handhaftverfahren verloren hat. Sie ist also eine späte Erscheinung (s. Ruschenbusch 2005, 113 f.). Der früheste Beleg, aber das besagt bei dem Mangel an Quellen für das 5. Jh. gar nichts, ist Aristoph. Equ. 278 f. vom Jahre 425. Literatur: Die Literatur ist im Großen und Ganzen unbefriedigend. Man hört nichts vom Gerüft (= Hilferuf) und den Schreimannen und der Festnahme des Täters (s. nur Hom. Od. 8,265–332; βοηθεῖν, das spätere „helfen“, bedeutet ursprünglich „auf den Hilferuf herbeieilen“) und von Gestellungsbürgen. Das ganze soziale und rechtliche Umfeld, das ja erst mit den Gesetzen zusammen das Recht ausmacht, bleibt ausgeblendet. Dass Institutionen unbeachtet bleiben, weil die Funktion der Diomosia in ihrer Rolle als Beweisrecht und die Aufgabe der Epheten und der Bedeutungswandel von δικάζειν verkannt werden, und dass die Gesetze des 7. Jh. mit einer über 200 Jahre späteren Rechtspraxis interpretiert werden, macht die Sache noch schlimmer. Ein großer Lichtblick ist die Neupublikation der Blutrechtsinschrift von 409/8 (IG I³ 104) durch R. S. Stroud. Dafür sei ihm großer Dank. Für die klassische Zeit unterrichten sehr zuverlässig Lipsius 1905–1915, 600 ff., MacDowell 1963 und Harrison 1971, 36 ff. Für die archaische Zeit sei ge-
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nannt: Latte RE XVI.1 (1933) 278 ff. s. v. Mord; Stroud 1968; Gagarin 1981; Heitsch 1984, sorgfältig, aber im Endergebnis irrig, und Körner 1993, 26 ff. F1a Aristot. Ath. pol. 7,1: πολιτείαν δὲ κατέστησε καὶ νόμους ἔθηκεν ἄλλους, τοῖς δὲ Δράκοντος θεσμοῖς ἐπαύσαντο χρώμενοι πλὴν τῶν φονικῶν. Übersetzung: Er (Solon) schuf eine Verfassung und gab neue Gesetze. Von den Gesetzen Drakons machte man keinen Gebrauch mehr, mit Ausnahme des Blutrechts. F1b Plut. Sol. 17,1: πρῶτον μὲν οὖν τοὺς Δράκοντος νόμους ἀνεῖλε πλὴν τῶν φονικῶν ἅπαντας διὰ τὴν χαλεπότητα καὶ τὸ μέγεθος τῶν ἐπιτιμίων· μία γὰρ ὀλίγου δεῖν ἅπασιν ὥριστο ζημία τοῖς ἁμαρτάνουσι, θάνατος. App. crit. ἐπιτιμίων: κολάσεων Smg τοῖς ἁμαρτάνουσι ζημία Y.
Übersetzung: Zuerst hob er mit Ausnahme des Blutrechts alle Gesetze Drakons auf, und zwar wegen der Härte und Schwere der Strafen. Denn es gab fast nur eine einzige Strafe für alle Unrechtstäter, den Tod [es folgen Beispiele]. F 1 c: Ael. v. h. 8.10 F 1 d: Cedren. Hist. Comp. 1 p. 145,19 (Corp. Script. Hist. Byz. Bd. l3,1) Beide Stücke, nicht in Ruschenbusch 1966/1983, bringen nichts Neues und werden deshalb weder abgedruckt noch übersetzt. Echtheit: Die Übernahme des drakontischen Blutrechts in das Recht Solons bezeugen noch u. a. IG I³ 104 vom Jahre 409/8, das Psephisma des Teisamenos (And. 1,83 f.) von 403 und die Reden des 4. Jh., u. a. Lys. 1 und Demosth. or. 23 und 43. Über die Frage, ob Solon das Blutrecht in die Axones übernommen hat, s. F 5 a. Erklärung: Dass Drakon außer dem Blutrecht noch weitere Gesetze gegeben hat, ist aus einer Reihe von Gründen unmöglich: 1) Das Abschlussgesetz F 22 betrifft nur das Blutrecht, τὸν θεσμὸν τόνδε, nicht weitere Gesetze, θεσμούς: vgl. Sol. frg. 30,18. 2) Das Abschlussgesetz F 22 bedroht denjenigen, der das Blutrecht abrogiert oder abändert, mit der Atimie, der Friedlosigkeit. Angenommen, Drakon habe außer
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dem Blutrecht noch weitere Gesetze gegeben, so hätte er auch diese durch ein zweites Abschlussgesetz vor Abrogierung und Abänderung durch die Androhung der Atimie geschützt, und Solon wäre durch die Abschaffung dieser weiteren Gesetze mit seiner Person, seinen Kindern und seinem Eigentum der Friedlosigkeit verfallen gewesen. 3) Solon erlässt für sein Gesetzeswerk ein gleichlautendes Abschlussgesetz (F 93) und erklärt damit seine Gesetze für unantastbar. Wollte er dieser Anordnung strikte Beachtung verschaffen, durfte er sich keinen Eingriff in das Recht Drakons erlauben. 4) Bei der Aussage des 4. Jh., Drakon habe noch weitere Gesetze gegeben und diese seien von Solon abgeschafft worden, handelt es sich, da es im 4. Jh. keine lebendige Überlieferung aus der Zeit Drakons und Solons gab, entweder um pure Phantasie oder aber um einen Rückschluss, der die Existenz der abrogierten Gesetze zur Voraussetzung hat. Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage, warum es aus diesen Gesetzen, im Unterschied zu denen des Blutrechts, keine Glossen gibt. 5) Es gibt überhaupt nur zwei weitere Gesetze, die ernsthaft auf Drakon zurückgeführt werden (Stroud 1968, 78 f.), das Gesetz über den Diebstahl und das Gesetz über den Müßiggang (ἀργία). Bei beiden Gesetzen ist die Überlieferung ausgesprochen fragwürdig (s. F 140; F 141; F 23 a und F 148): Drakon soll hier – selbst bei Bagatellfällen – die Todesstrafe vorgesehen haben. Doch die Todesstrafe ist erst in der Zeit nach Solon in Erscheinung getreten (s. o.), so dass beide Gesetze als Falsifikate betrachtet werden müssen. Zudem ist selbst für das 4. Jh. die Existenz einer Klage wegen Müßiggangs unwahrscheinlich: Von den überhaupt nur zwei Belegen entfällt Demosth. or. 57,32, wo ἀρτίας oder ἀργίας überliefert ist. Denn dem Kontext nach (s. 57,32 und 34) ist zu schreiben ατίας, wenn es sich bei περὶ τῆς ἀρτίας oder ἀργίας nicht überhaupt um ein Glossem handelt. – Bei Anecd. Bekk. 310,1–6 heißt es, der Archon sei u. a. für die Klagen παρανοίας und ἀργίας zuständig. In dem ausführlichen Klagenkatalog bei Aristot. Ath. pol. 56,6 erscheint zwar die Klage παρανοίας, aber die Klage ἀργίας fehlt. Sie ist überflüssig, da die Vermögensverschwendung durch die Klage παρανοίας verfolgt werden konnte. Sie verdankt ihre Entstehung einem Missverständnis von F 77/78, bedingt durch die Furcht der „bürgerlichen“ Gesellschaft des 4. Jh. vor der „arbeitsscheuen“ Klasse (s. Isokr. or. 7,44; Phanodemos in: FgrHist 325 F 10 und Philochoros in: FgrHist 328 F 196). Wie soll man sich übrigens die weiteren Gesetze Drakons vorstellen? Wegen der Schwere der Strafen (F 16) handelt es sich bei ihnen offensichtlich nur um Strafrecht. Ein Blick auf die solonische Gesetzgebung zeigt, dass das ganze „bürgerliche Recht“ mit seinen familienrechtlichen Bestimmungen (F 47–59), das Nachbarrecht (F 60–64), das Gesetz über die Vereinsautonomie (76), über die Bürgerrechtsverleihung (F 75), die Speisung im Prytaneion (F 87–89), die Bestattung (F 72), die Aus-
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fuhr von landwirtschaftlichen Produkten (F 65) und anderes dergleichen bei Drakon nicht zu finden gewesen sind. Die öffentlichen Straftatbestände des Amtsvergehens, geregelt durch den Archonteneid (Belege in Ruschenbusch 2005, 77 Anm. 6), und des Hochverrats (F 70 und 37) sind der drakontischen Zeit bekannt gewesen. Nur weniges andere wäre anzureihen, so das Gesetz gegen Abrogierung und Änderung der Gesetze (F 22), das allerdings zum Blutrecht gehört. An privaten Straftatbeständen sind für die drakontische Zeit vorauszusetzen: 1) Tötung und vielleicht Körperverletzung, Brandstiftung und Giftmord, 2) Raub und Diebstahl, 3) Handgreiflichkeiten (αἰκία) und 4) Geschlechtsdelikte (μοιχεία). Wenn wir jetzt das drakontische Recht auf diese Delikte hin durchmustern, so gehen wir zweckmäßigerweise vom Blutrecht des 4. Jh. aus. Die Bestimmungen lauten: 1) „Der Rat vom Areopag soll richten über Mord, vorsätzliche Körperverletzung, Brandstiftung, (Beibringung von) Gift, wenn jemand damit tötet“ (lex ap. Demosth. or. 23,22). 2) „Wenn jemand tötet … , indem er, auf offener Straße (einen Angreifer?) niedermacht … oder (zur Verhinderung sexueller Gewalt) gegen Ehefrau, Mutter, Schwester, Tochter oder Nebenfrau, sofern er sie (zur Erzeugung) von Kindern mit dem Status von Freigeborenen hat, so soll er deswegen nicht wegen Tötung fliehen“ (lex ap. Demosth. or. 23,53). 3) „Und wenn jemand einen, der unrechtmäßig fortträgt oder forttreibt, bei handhafter Abwehr tötet, so soll (der Betreffende) bußlos getötet sein“ (lex ap. Demosth. or. 23,60). 4) „Wenn jemand einen, der mit ungerechter Gewaltanwendung den Anfang macht, tötet, so soll (der Betreffende) bußlos getötet sein“ (IG I³ 104,33). 5) „Wenn jemand zu nächtlicher Zeit etwas stiehlt, so darf man ihn töten, auf der Verfolgung verletzen und (der Exekutivbehörde der) Elfmänner vorführen, wenn man möchte“ (Demosth. or. 24,13). Mit der Tötung behandelt also das Blutrecht zugleich die vorsätzliche Körperverletzung, die Brandstiftung und den Giftmord, zweitens die Geschlechtsdelikte, drittens den Raub, soweit es sich um handhafte Tat handelt, viertens die Handgreiflichkeiten und fünftens den Nachtdiebstahl, soweit es sich ebenfalls um eine handhafte Tat handelt. Es fehlt also nur der Tatbestand des handhaften Tagdiebstahls, um ein zwar dürftiges, aber für die drakontische Zeit ausreichendes Deliktsrecht vollständig zu machen. Allerdings kamen die vorgenannten Tatbestände nur vor Gericht, wenn sie eine Tötung zur Folge gehabt hatten. In allen anderen Fällen blieb es – wie noch bei Homer – dabei, dass der von einer Unrechtstat Betroffene sich selbst sein Recht zu verschaffen hatte. Nach diesem Befund sind „weitere“ Gesetze Drakons überhaupt nicht zu erwarten.
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F2 (= Τ 7) Plut. Sol. 19,3: οἱ μὲν οὖν πλεῖστοι τὴν ἐξ Ἀρείου πάγου βουλὴν … Σόλωνα συστήσασθαί φασι, καὶ μαρτυρεῖν αὐτοῖς δοκεῖ μάλιστα τὸ μηδαμοῦ τὸν Δράκοντα λέγειν μηδ’ ὀνομάζειν Ἀρεοπαγίτας, ἀλλὰ τοῖς ἐφέταις ἀεὶ διαλέγεσθαι περὶ τῶν φονικῶν. App. crit. ἀρεοπαγίταις U.
Übersetzung: Die meisten behaupten nun, dass Solon den Rat auf dem Areopag begründet habe, und das Hauptzeugnis dafür scheint zu sein, dass Drakon an keiner Stelle die Areopagiten erwähnt, sondern sich in Sachen des Blutrechts immer nur an die Epheten wendet (es folgt F 70). Echtheit und Erklärung: Die Information, dass das drakontische Blutrecht als Blutgericht nur die Epheten, aber nie den Areopag erwähnt, hat Plutarch aus einem Axoneskommentar (s. u.). – In einer Diskussion darüber, ob der Rat auf dem Areopag erst von Solon geschaffen worden sei oder schon vor ihm bestanden habe, bemerkt Plutarch, dass das Blutrecht nur immer die Epheten erwähnt, aber nie den Areopag. Doch dann verweist er darauf, dass das solonische Amnestiegesetz (F 70) den Areopag als bereits bestehend erwähnt, und endet dann in einer Aporie. In der modernen Literatur bis hin zum Jahre 1952 hat diese Quellenlage zu verschiedenen Lösungen geführt. Dabei spielen folgende drei Gesichtspunkte eine Rolle: 1) Eine Existenz des Areopags ist für die Zeit von Drakon bis Solon und davor a priori anzunehmen. 2) Die Mythen sprechen von einem sehr hohen Alter des Areopags als Blutgerichtshof. 3) Der Areopag wird im Amnestiegesetz des Solon (F 70) als vorsolonischer Gerichtshof angeführt. Hierzu ist zu sagen: 1) Es ist zu unterscheiden zwischen den sonstigen Funktionen des Areopags und seiner Funktion als Blutgerichtshof. Mag der Rat auf dem Areopag auch vordrakontisch sein, in der Frage nach seiner Blutgerichtsbarkeit besagt dies nichts. 2) Die Mythen über das hohe Alter der Blutgerichte entstammen – abgesehen von den Eumeniden des Aischylos – erst dem Ende des 5. Jhs. und sind daher im Vergleich zu den urkundlich gesicherten Fakten nicht beweiskräftig, zumal sie schon ein gut Teil antiquarischer Spekulation aufweisen (vgl. Jacoby im Kommentar zu Hellanikos F 1 und 22 in: FgrHist III b Suppl.). 3) Gewichtig ist allein die Erwähnung einer Gerichtsbarkeit des Areopags im solonischen Amnestiegesetz bei Plut. Sol. 19,4 (= F 70). Der Text von F 70 lautet in Übersetzung: „Diejenigen, die fried- und rechtlos waren, bevor Solon sein Archontat antrat, sollen wieder im Rechtsschutz stehen außer denjenigen, die vom Areopag, oder denjenigen, die von den Epheten oder vom Prytaneion, verurteilt von den Königen, wegen Tötung oder Blutvergießens oder wegen (Errichtung oder Beteiligung an) einer Tyrannis landflüchtig waren, als dieses Gesetz erlassen wurde.“
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Die Klausel „wegen Tötung oder Blutvergießens“ gehört zu „von den Epheten oder vom Prytaneion“, während „wegen (der Errichtung oder Beteiligung an) einer Tyrannis“ mit „die vom Areopag“ zu verbinden ist. Dass der Gesetzgeber der Vielgliedrigkeit nicht ganz Herr geworden ist und so die Klausel „wegen (der Errichtung oder Beteiligung an) einer Tyrannis“ etwas irreführend gestellt hat, befremdet nur uns. Denn erstens wusste der Zeitgenosse, wie das Gesetz zu verstehen war, und zweitens hat der Gesetzgeber durch die Wörter für „außer denjenigen, die …, oder denjenigen, die“ und „wegen Tötung oder Blutvergießens oder wegen (Errichtung oder Beteiligung an) einer Tyrannis“ die Beziehungen klar genug herausgestellt. Gegen den Befund, dass der Areopag erst in der Zeit nach Solon zum Mordgericht bestellt worden ist, schien nun zu sprechen, dass das solonische Amnestiegesetz den Areopag als Blutgericht anführt. Die genaue Interpretation des Textes zeigt jedoch, dass das Amnestiegesetz dem genannten Befund nicht nur nicht widerspricht, sondern ihn sogar bestätigt: Durch die Wiederaufnahme des Relativpronomens ist das Blutgericht der Epheten und am Prytaneion scharf vom Areopag abgegrenzt. Daraus geh eindeutig hervor, dass der Areopag in drakontischer Zeit kein Blutgericht war. Literatur: Die von Ruschenbusch 2005, 34 ff. vorgeschlagene Lösung (Zuständigkeit des Areopags für die Errichtung einer Tyrannis bzw. Beteiligung an ihr) vertraten schon Stahl 1891, 482, De Sanctis 1912, 187, Lenschau, RE VII A 2 (1948), 1805 f., neuerdings Gagarin 1981, 127–132 mit guten Beobachtungen zum Chiasmus: 153–158 und Carawan 1998, 15–17. – Wallace 1985, 7–28 ist unbrauchbar, da er auf die laufende Diskussion überhaupt nicht eingeht und zudem im athenischen Recht völlig inkompetent ist. F3 Phot. 126,17 Reitz.: ἀνδραφόνων· οὕτως Σόλων ἐν τοῖς ἄξοσιν τῶν ἀνδροφόνων ἀεί φησιν. App. crit. ἄξοσι b Reitzenstein.
Übersetzung: Andraphonon (der Blutschuldigen): Diese Schreibweise findet sich immer bei Solon in den Axones anstelle von androphonon. Echtheit: Glosse aus den solonischen Axones. Zu diesen s. Komm. zu F 1. Wortlaut: Die Glosse stammt natürlich nicht direkt aus den Axones, sondern entweder aus Aristoteles bzw. aus Asklepiades oder Seleukos (s. T 1–14 mit Ruschenbusch 1966/1983, 50–52). Da sich in den Fragmenten aus dem Blutrecht immer nur die Schreibung mit o findet (F 16–18), möchte man annehmen, dass sich diese Schreibung auch in den Axones fand und dass es sich bei der obigen Glosse um eine Fehllesung handelt.
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Da sich aber die Schreibung mit a mehrfach in den Axones gefunden haben soll, kann es sich bei der Schreibung mit a nicht um eine Fehllesung gehandelt haben: non liquet. F4a Diog. Laert. l,59: ἐρωτηθείς, διὰ τί κατὰ πατροκτόνου νόμον οὐκ ἔθηκε, διὰ τὸ ἀπελπίσαι ἔφη. Übersetzung: Als man ihn fragte, weshalb er in seinen Gesetzen den Vatermord nicht behandelt habe, sagte er: „weil ich so etwas für unmöglich gehalten hatte“. F4b Cic. Pro Sext. Rosc. Am. 70: eius porro civitatis sapientissimum Solonem dicunt fuisse, eum, qui leges, quibus hodie quoque utuntur, scripserit. is cum interrogaretur, cur nullum supplicium constituisset in eum, qui parentem necasset, respondit se id neminem facturum putasse. App. crit. scripserit codd: scripsit Halm
F4c Orosius hist. 5,16,23: Publicius siquidem Malleolus servis adnitentibus matrem suam interfecit, damnatus parricidii insutusque in culleum et in mare proiectus est; inpleveruntque Romani et facinus et poenam, unde et Solo Atheniensis decernere non ausus fuerat, dum fieri posse non credit.
App. crit. Publius D siquidem: quidam PR inpleveruntque et L discernere D credet La, credidit vulg.
F 4 b und 4 c bringen inhaltlich nichts Neues und werden deshalb nicht übersetzt. F 136 Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 3,211: ὁ Σόλων Ἀθηναίοις τὸν περὶ τῶν ἀκρίτων νόμον ἔθετο, καθ’ ὃν φονεύειν ἑκάστῳ τὸν ἑαυτοῦ παῖδα ἐπέτρεψεν. Übersetzung: Solon gab den Athenern das Gesetz über Tatbestände, die nicht der Strafverfolgung unterliegen. Er ermöglicht darin jedem, sein eigenes Kind zu töten. Korrektur: ἐξεῖναι = „möglich sein“ ist falsch als „erlaubt sein“ gedeutet worden. Erklärung: Bei der Beschäftigung mit dem Thema der Gesetzeslücken (ἄγραφα ἀδικήματα: Schol. ad Plat. rep. 565 C) stellten die Sophisten fest, dass die Tötung
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des Vaters durch den Sohn oder des Sohnes durch den Vater infolge der Gestaltung der Blutklage als einer Privatstrafklage, zu deren Aufstellung nur die Angehörigen des Getöteten berechtigt waren, ohne rechtliche Konsequenzen blieb, da der potentielle Kläger mit dem Täter identisch war. Im 4. Jh. benutzte man zur Verfolgung einer solchen Tat die Popularklage wegen Asebie (Plat. Euthyphr. 5 C, Demosth. or. 22,2 und 24,7). Literatur: Ruschenbusch 2005, 17 ff., besonders 23 f. F5a IG I³ 104, 10–25 (Neulesung anstelle von IG I² 115); 26–29 = F 18; 33–38 = F 19 10 προ̑ τος ἄχσον. καὶ ἐὰμ μὲ ’κ [π]ρονοί[α]ς [κ]τ[ένει τίς τινα, φεύγ]ε[ν· δ]ικάζεν δὲ τὸς βασιλέας αἴτι̣ο[ν] φόν̣ [ο] Ε..............17..........Ε [β]ολεύσαντα· τὸς δὲ ἐφέτας διαγν[ộ]ν̣ [α]ι̣. [αἰδέσασθαι δ’ ἐὰμ μὲν πατὲ]ρ ε῏ι ἒ ἀδελφὸ[ς] ἒ hυẽς, hάπαντ[α]ς, ἒ τὸν κ̣ ο[λύοντα κρατẽν· ἐὰν δὲ μὲ] ḥοῦ15 τοι ο῟σι̣, μέχρ’ ἀνεφ[σι]ότετος καὶ̣ [ἀνεφσιο̑, ἐὰν hάπαντες αἰδέσ]α̣σθαι ἐθέλοσι, τὸν κο[λύ]οντ̣α [κ]ρα[τε̑ν· ἐὰν δὲ τούτον μεδὲ hε̑ς ε῏ι, κτ]ένει δὲ ἄκο[ν], γνο̑σι δὲ hοι̣ [πε]ντ[έκοντα καὶ hε̑ς hοι ἐφέται ἄκοντ]α̣ κτȇναι, ἐσέσθ[ο]ν δὲ ḥ[οι φ]ρ[άτορες ἐὰν ἐθέλοσι δέκα· τούτος δ]ὲ ḥ ọι πεντέκο[ν]τ[α καὶ] hεȇς ἀρ[ι]στ̣ [ίνδεν hαιρέσθον. καὶ hοι δὲ πρ]ότε[ρ]20 ον κτέ[ν]α[ντ]ε[ς ἐν] το̑ [ιδε το̑ ι θεσμο̑ ι ἐνεχέσθον. προειπε̑ν δ]ὲ το̑ ι κτέν̣ α̣ν̣ [τι ἐν ἀ]γορ̣[ᾶι μέχρ’ ἀνεφσιότετος καὶ ἀνεφσιο̑ · συνδιόκ]εν δὲ [κ]ἀνεφσ[ιὸς καὶ ἀνεφσιο̑ ν παῖδας καὶ γαμβρὸς καὶ πενθερὸ]ς καὶ φρ̣[ά]τ[ο]ρ[ας......................36...........................] αἴτιος [ε῏ι] φό[νο...................26........... τὸς πεντέκοντ]α κα̣ὶ 25 hένα...............................42...................... φόνο hέλ̣ οσ[ι............................35.................... ἐὰν δ]έ [τ]ις τὸ[ν ἀν]δ̣ρ̣[οφόνον κτένει ἒ αἴτιος ε῏ι φόνο, ἀπεχόμενον ἀγορᾶ]ς ἐφορί[α]ς κ̣[α]ὶ [ἄθλον καὶ hιερο̑ν Ἀμφικτυονικο̑ν, hόσπερ τὸν Ἀθεν]αῖον κ̣[τένα]ν̣ [τα, ἐν τοῖς αὐτοῖς ἐνέχεσθαι· διαγιγνόσκεν δὲ τὸς] ἐ[φ]έτα[ς] 30 ....Ε̣......................39............................................τ̣ει ἑμεδ̣[απε̑ι.........................41..........................................]ΟΝΑΤ. ...................45........................................Α̣Ν̣Α̣.. Ν̣[..................39................... ἄρχον]τ̣α χερ̣ο̑ ν̣ ἀ[δίκον...............30............. χερ]ο̑ ν ἀδίκον κ35 τέ[νει...7...]Σ̣[........19......... διαγιγνόσκ]εν̣ δὲ τὸς ἐ[φέτ]ας..................36................ΕΙΣΕ ἐλεύθε[ρ]ος ̣ε῏ι̣. κ̣ α̣[ὶ ἐὰν φέροντα ἒ ἄγοντα βίαι ἀδίκος εὐθὺς] ἀ̣μυνόμενος κτέ[ν]ει, ν̣ [εποινὲ τεθνάναι .........19...........]Σ̣ΕΧΟΝΤΟΒ.
App. crit. Z.12 ε[ναι εἴτε αὐτόχερ εἴτ]ε [β]ολ Ru, alii similiter. Z. 21 wegen stoichedon μέχρ’ statt ἐντός Stroud. Z. 36 φ[έ]τας Ru (nach Foto).
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Übersetzung: Erster Axon. Und wenn jemand jemanden unvorsätzlich tötet, dann soll er außer Landes gehen. Die Könige sollen feststellen, dass er der Tötung schuldig sei, entweder eigenhändig tötend oder planend (s. u.). Erkennen aber sollen die Epheten. Eine Versöhnung (mit dem Täter) kann erfolgen durch den Vater oder den Bruder oder die Söhne, aber nur einhellig. Wenn einer dagegen ist, gilt dessen Entscheidung. Wenn es aber aus diesem Kreis keinen gibt, dann durch die Verwandten bis hin zur Vetternschaft und zwar bis zum Vetter1, wenn alle die Versöhnung wollen. Wenn einer dagegen ist, gilt dessen Entscheidung. Wenn es aus diesem Kreis keinen gibt, und er (der Täter) unvorsätzlich getötet hat und die Einundfünfzig, die Epheten, erkennen, dass er unvorsätzlich getötet hat, dann sollen ihn die Phratriegenossen, und zwar zehn, wieder in das Land lassen, wenn sie wollen. Diese sollen die Einundfünfzig ihrer Würdigkeit nach wählen. Dies Gesetz soll auch für diejenigen gelten, die früher getötet haben. – Ankündigen sollen (die Verfolgung) dem Blutschuldigen auf der Agora die Verwandten bis zur Vetternschaft, und zwar des Vetters. An der Verfolgung sollen teilnehmen auch Vettern und deren Söhne, die Schwiegersöhne (und auch wohl Schwäger), Schwiegerväter und Phratriegenossen … Z. 26–29 (= F 18 a): Wenn jemand den Blutschuldigen tötet oder an dessen Tötung schuldig ist, obwohl er sich vom Grenzmarkt und von Wettkämpfen und Festen der Grenznachbarn ferngehalten hat, so sollen ihn dieselben Folgen treffen, wie wenn er einen Athener getötet hätte. Erkennen aber sollen die Epheten … Z. 33–38 (= F 19 a): … (wenn jemand bei Handgreiflichkeiten) anfangend mit ungerechten Händen … (jemand) einen, der anfängt mit ungerechten Händen, tötet, (so soll der bußlos tot sein) … Erkennen aber sollen die Epheten … oder frei ist. Und wenn (jemand) einen, der mit Gewalt und unrechtmäßig wegträgt oder wegführt, sofort bei der Abwehr tötet, dann soll er (der Getötete) bußlos tot sein. (Erkennen (διαγνῶναι) aber sollen die Epheten.) F 5 b* Lex ap. Demosth. or. 43,57: προειπεῖν τῷ κτείναντι ἐν ἀγορᾷ ἐντὸς ἀνεψιότητος καὶ ἀνεψιοῦ· συνδιώκειν δὲ καὶ ἀνεψιοὺς καὶ ἀνεψιῶν παῖδας καὶ γαμβροὺς καὶ πενθεροὺς καὶ φράτερας. αἰδέσασθαι δέ, ἐάν μὲν πατὴρ ᾖ ἢ ἀδελφὸς ἢ υἱεῖς, ἅπαντας ἢ τὸν κωλύοντα κρατεῖν. ἐὰν δὲ τούτων μηδεὶς ᾖ, κτείνῃ δέ ἄκων, γνῶσι δὲ οἱ πεντήκοντα καὶ εἷς, οἱ ἐφέται, ἄκοντα κτεῖναι, ἐσέσθων οἱ φράτερες, ἐὰν ἐθέλωσι, δέκα· τούτους δὲ οἱ πεντήκοντα καὶ εἷς ἀριστίνδην αἱρείσθων. καὶ οἱ πρότερον κτείναντες ἐν τῷδε τῷ θεσμῷ ἐνεχέσθων. 1
Es handelt sich um einen formelhaften Gebrauch (vgl. F 5 b), der zum Ausdruck bringt, dass innerhalb des Kollektivs jedes Mitglied angesprochen ist, also etwa „bis hin zur Vetternschaft und zwar bis hin zu jedem einzelnen“ (K. B.).
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App. crit. προειπεῖν Reiske: προσειπεῖν codd. καὶ ἀνεψιοὺς post γαμβροὺς codd., corr. Voemel post πενθεροὺς habent codd. καὶ ἀνεψιαδοῦς, secl. Voemel φράτέρας, ες: φράτορας. ες codd. αἰδέσασθαι δέ, ἐὰν: ἐὰν αἰδέσασθαι δεῖ codd. ἅπαντας IG Ι3 104: πάντας codd. οἱ ἐφέται: ἢ οἱ (i. e. hοι) ἐφέται codd. τούτους: τούτοις codd.
Übersetzung: Ankündigen sollen (die Verfolgung) dem Blutschuldigen auf der Agora die Verwandten einschließlich (ἐντός) der Vetternschaft, und zwar des Vetters. An der Verfolgung sollen auch teilnehmen die Vettern und deren Söhne, die Schwiegersöhne (und auch wohl Schwäger), Schwiegerväter und Phratriegenossen. Eine Versöhnung (mit dem Täter) kann erfolgen durch den Vater oder den Bruder oder die Söhne, aber nur einhellig. Wenn einer dagegen ist, gilt dessen Entscheidung. [Hier fehlen die Bestimmungen von F 5 a,14–17.] Wenn es aus diesem Kreis keinen gibt, und er (der Täter) unvorsätzlich getötet hat, und die Einundfünfzig, die Epheten, erkennen, dass er unvorsätzlich getötet hat, dann sollen ihn die Phratriegenossen, und zwar zehn, wieder in das Land lassen, wenn sie wollen. Diese sollen die Einundfünfzig ihrer Würdigkeit nach wählen. Dieses Gesetz soll auch für diejenigen gelten, die früher getötet haben. F5c Anecd. Bekker Ι 401,18 (Synag.): ἀνεφιαδοῖ … καὶ Δημοσθένης ἐν τῷ περὶ τοῦ Ἁγνίου κλήρου παρατίθεται νόμον, ἐν ᾧ γέγραπται «καὶ πενθεροὺς καὶ ἀνεψιαδοῦς» (cf. app. crit. ad F 5 b) … λέγεται καὶ ἀνεψιότης. Δημοσθένης καὶ Σόλωνος νόμους παρατίθεται ἐν τῷ περὶ Ἁγνίου κλήρου, ἐν οἷς ἐστίν ἡ ἀνεψιότης (F 5 b). Übersetzung: anepsiadoi (Großneffen) … und Demosthenes führt in der Rede über die Erbschaft des Hagnias (Demosth. or. 43) ein Gesetz an (§ 57), in dem steht „und Schwiegerväter und Großneffen“ (vgl. app. crit. ad F 5 b) … Man sagt auch anepsiotes = Vetternschaft. Demosthenes führt in der Rede über die Erbschaft des Hagnias auch Gesetze Solons an, in denen anepsiotes steht (= F 5 b). F5d Poll. 3,28: Δημοσθένης δὲ τῆς «ἀνεψιότητος» εἴρηκε (or. 43, 63) καὶ Σόλων. App. crit. εἶπεν C.
Übersetzung: Demosthenes sagt „der Vetternschaft“(or. 43,63) und (so auch) Solon (= F 5 a und b). Erklärung: Mit einer Modifikation betreffs der vorsätzlichen Tötung in Zeile 11 spiegelt die Inschrift – soweit wir sehen – den alten Aufbau und Inhalt aus der Zeit Drakons wieder. Sie behandelt das ganze Blutrecht, also die vorsätzliche, unvor-
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sätzliche und die bußlose Tötung. Sie beginnt in Zeile 11 ff. mit Bestimmungen über die Strafen und die Gerichtsbarkeit, fährt dann in Zeile 13 ff. mit der außergerichtlichen Versöhnung fort, wobei die Verwandten genannt werden, die in erster und zweiter Linie zu Versöhnungsverhandlungen berechtigt sind. Im Falle ihres Fehlens räumen Zeilen 16 ff. den Phratriegenossen das Recht ein, den Geflüchteten wieder in das Land zu lassen, aber nur wenn die Tötung nach Erkenntnis der Epheten unvorsätzlich verübt worden war. Für deren Wahl bestimmen Zeilen 18 f. das Verfahren. Zeilen 19 f. legen fest, dass die Regelung von Zeilen 16 ff. nicht nur für die Zukunft gelten solle, sondern auch schon für vergangene unvorsätzliche Tötung. – Wichtig ist bei diesem Abschnitt, dass für Drakon die außergerichtliche Einigung der Parteien die Regel bildet und bei fehlendem Einigungswillen das Gerichtsverfahren eigentlich nur die Ausnahme ist. – Zeile 20 setzt mit der Prorrhesis das Gerichtsverfahren ein. Der Personenkreis der zur Ankündigung der Blutfehde berechtigt ist, wird im Rückgriff auf die Beschreibung der zur Aidesis Berechtigten (in Zeilen 13 ff.) nur summarisch beschrieben. Hinzugefügt wird, dass sich an der Verfolgung auch die weitere Verwandtschaft, auch von seiten der Angeheirateten, und die Phratriegenossen mit beteiligen. Die Zeilen 26 ff. behandeln einen Fall, bei dem es sich in der Regel um eine vorsätzliche Tötung seitens des Bluträchers handelt. In den Zeilen 33 ff. und 37 ff. sind Fälle bußloser Tötung genannt. Einzelerklärung: Zeile 10 πρõτος ἄχσον, Zeile 56 δεύτερος ἄχσον: Drakon hat also das Blutrecht auf mindestens zwei Axones publiziert. – Der erste Axon hat 2238 Buchstaben, dazu kamen noch vor Zeile 11 ca. 74 Buchstaben für den Satz mit den weggefallenen Bestimmungen über die vorsätzliche Tötung (s. u.), so dass der Axon rd. 2300 Buchstaben, also 1.84 Teubnerseite (= 1250 Buchstaben pro Seite) umfasst hat. Legt man dieselben Maße auch für die Axones Solons an, so kommt man bei 16 bis 24 Axones auf 30 bis 45 Teubnerseiten. – Das drakontische Blutrecht ist nie in die Axones Solons integriert worden, sondern bestand getrennt von ihnen selbständig weiter. So heißt es im Phephisma des Teisamenos zur Gesetzesredaktion von 403/2: „Man solle die Gesetze (νόμοι) Solons gebrauchen …, aber auch die Gesetze (θεσμοί) Drakons, soweit wir sie bisher gebraucht haben“ (And. 1,83). Und so heißt es in der Blutrechtsinschrift von 409/8 in Zeile 4: „Sie sollen das Gesetz Drakons über die Tötung aufzeichnen.“ Bei einer Integration wäre derartiges in Vergessenheit geraten. Da jedoch das Blutrecht formal einen Teil des solonischen Gesetzeswerkes bildete und in dieser Form auch in die Axonesausgaben und -kommentare eingegangen ist, werden Glossen aus dem und Geschichten über das Blutrecht ohne weiteres unter dem Namen Solons angeführt (so F 3; F 5 c und d; F 11; F 12; 15 b (Lys. 10,17) und F 4). Doch sie sind Drakon zuzuordnen. – Zeilen 11 ff.: Der Text des Blutrechts beginnt mit den Worten „Und wenn jemand unvorsätzlich einen anderen getötet hat, so soll er fliehen.“ Das und am Anfang bedeutet also, dass davor etwas weggefallen ist, nämlich die Regelung der vorsätzlichen Tötung, bestehend aus dem einzigen Satz: ἐὰν ἐκ προνοίας κτένει τίς τινα, χρῆσθαι αὐτõι, hοίος ἂν ἐθέλει, τὰ δὲ χρήματα αὐτõ ἄτιμα ἐναι: „Wenn jemand vorsätzlich einen anderen getötet hat, kann man mit ihm verfahren, wie man will, sein Besitz aber soll schutzlos sein.“ Zu χρῆσθαι = töten s. Demosth. or.
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59,66 und ICret. IV 72 col. 2,55; Hdt. 1,210; vgl. weiterhin Thuk. 1,126 ἀπεχρήσαντο und χρηστός = friedlos: Aristot. frg. 550 R und Hesych s. o. Demgegenüber hat Gagarin 1981, 80 ff. geltend gemacht, im Sprachgebrauch sei nicht καί konnektiv, sondern δέ. Demzufolge müsse καὶ ἐάν soviel wie „even if = auch wenn“ bedeuten. Und so übersetzt er: „Εven if a man not intentionally kills another, he is exiled.“ Er nimmt an, dass die vorsätzliche Tötung per implicationem miterledigt worden sei, mit der Konsequenz: „If the killing is intentional, the killer is also exiled … In other words, Drakon wrote no separate law on intentional homicide” (101). Kritik: 1) Um des genauen Verständnisses willen muss sich der Gesetzgeber expressis verbis ausdrücken, nicht per implicationem. 2) In klassischer Zeit wurde derjenige, der vorsätzlich getötet hatte, zum Tode verurteilt. Wenn die Strafe vor Einführung der Todesstrafe nur das Exil war, dann hätte der Übergang zur Todesstrafe eine erhebliche Strafverschärfung bedeutet, möglich, aber unwahrscheinlich. 3) Die Todesstrafe wurde in klassischer Zeit im Beisein der Verwandten des Getöteten vollstreckt (Demosth. or. 23,69), wobei das Recht, das Sterben des Täters mit ansehen zu dürfen, als Rest der althergebrachten Blutrache verstanden wird. Bei der Annahme, die Strafe sei das Exil gewesen, bleibt die ganze Sache unverständlich. 4) Wie soll man sich das Geschehen konkret vorstellen? Wurde etwa der wegen vorsätzlicher Tötung Verurteilte nach dem Urteilsspruch aus dem Gericht entlassen und flüchtete, oder wurde er sogleich den Elfmännern zum sofortigen Vollzug der Strafe bzw. vor Einführung der Todesstrafe den Angehörigen des Getöteten zum Vollzug der Blutrache übergeben? Die Parallele bei Demosth. or. 59,66 spricht für Letzteres. 5) καὶ ἐάν hat durchaus konnektive Kraft, wenigstens in der archaischen Sprache. So heißt es „und (wenn)“ in lex ap. Demosth. or. 23,60 (= F 19 b), 46,20 (= F 53), bei Demosth. or. 59,66 und bei Plat. leg. 843 D–E im Nachbarschaftsrecht, das aus den Axones in das Gesetzbuch von 403 ff. übernommen worden ist, gleich viermal hintereinander καὶ ἐάν = „und wenn“. 6) Wenn Plat. leg. 865 B ff. die vorsätzliche Tötung auf die unvorsätzliche folgen lässt, so ist das bedeutungslos: Platon, der schon der neueren Regelung der vorsätzlichen Tötung folgt (Todesstrafe!), hat als Vorlage das Gesetzbuch von 403 ff., nicht etwa IG I³ 104. Zu beachten ist auch, dass es im 4. Jh. neben dem Gesetzbuch am Areopag eine weitere Stele mit dem Blutrecht gab: s. lex ap. Demosth. or. 23,22 (Überschrift) und Lys. 1,30; vgl. Demosth. or. 47,71; s. auch F 5 b. Fazit: Da in IG I³ 104 die Aidesis (Zeilen 13 ff.), die Prorrhesis (Zeilen 20 ff.) und dazu das Gesetz in Zeilen 27 ff. (= F 18 b) auch die vorsätzliche Tötung betreffen, müssen in Zeile 11 vor dem καὶ (ἐάν) = „und (wenn)“ die abrogierten Bestimmun-
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gen über die vorsätzliche Tötung gestanden haben, und zwar in der oben gegebenen Form. Zeilen 11 f.: δικάζειν mit A. c. I: s. ICret. IV 47,17; IV 72 col. 3.6; 5.31; 9.38; Hdt. 3,14,5. Dass es aus dem 5./4. Jh. keine Belege gibt, liegt daran, dass δικάζειν die Bedeutung wechselt. In archaischer Zeit bezeichnet dikazein mit den Komposita καταδικάζειν = „verurteilen“ (s. F 23 d; F 70), ἀποδικάζειν = „freisprechen“, ἐπιδικάζειν = „zusprechen“ und διαδικάζειν = „zwischen den Ansprüchen zweier Parteien entscheiden“ die Tätigkeit des Beamten in seiner Funktion als Richter, als δικαστής: s. die Formel lex ap. Demosth. or. 23,28 (= F 16) und 43,71. Als Richter leitet der Archon die Verhandlung, stellt in der Diomosia, d. h. in formalem Beweisverfahren (s. dazu F 41–44), wohl mit einem Zwischenurteil, fest, ob der Beschuldigte getötet hat, und verkündet, nachdem die Epheten – unter seiner Leitung – über die Tatumstände entschieden hatten, das Endurteil. Zudem hat δικάζειν, so wie hier, die verengte Bedeutung „in der Diomosia die Schuld feststellen“. Im 5./4. Jh. bezeichnet δικάζειν die Tätigkeit der richtenden Körperschaft wie des Volksgerichts oder des Areopags (s. nur lex ap. Demosth. or. 23,22), mag vielleicht auch das Verkünden des Endurteils immer noch als κατα-/ἀποδικάζειν benannt worden sein. Zeilen 11 f.: δικάζειν bezieht sich natürlich auch auf die abrogierte Bestimmung über vorsätzliche Tötung. – Zeile 12: Zur Ergänzung der Lücke s. die Parallelen Plat. leg. 871 E–D; 872 B; Antiph. 5,47; 5,62; Demosth. or. 20,158; vgl. Antiph. 6,16; 1,94 – Zeile 12: τοὺς βασιλέας: Mit Ausnahme des Areopag sind die Blutgerichte in Aufgabe und Zusammensetzung unverändert geblieben. Sie hatten ja auch nur eine einzige Aufgabe: die Feststellung der Tatumstände. Während am Prytaneion keine Epheten, dafür aber die vier Phylenkönige expressis verbis erwähnt werden, fehlen sie in den ephetischen Gerichtshöfen. Und so auch hier. Demnach handelt es sich bei dem psychologisch völlig verständlichen Plural um einen sog. „kollektiven Plural“ im Sinne von „der jeweilige Basileus“ (zum kollektiven Plural s. F 13 und F 16, wobei immer nur der „jeweilige“ gemeint ist). – In Zeilen 12 f. ist bei βουλεύεσθαι primär an die nichtkörperliche Tötung zu denken, erst sekundär an die Anstiftung. Von Drakon bis heute kennt alles differenzierte Blutrecht als drei Grundtatbestände die vorsätzliche, die fahrlässige und die straflose Tötung. Übersetzt man βουλεύεσθαι ganz einseitig mit „planning“, so fällt der ganze Bereich der Fahrlässigkeit (μὲ ’κ προνοίας) weg, es sei denn, Drakon meinte mit dem Wort etwas ganz anderes: Bei der Fahrlässigkeit wird zwar die Tötung des anderen nicht geplant, wohl aber die Handlung, die den Tod des anderen herbeiführt, so die Brandstiftung, die Verabreichnung des Pharmakon, so der Schuss auf das Wild (vgl. Hdt. 1,35–43) oder das Baumfällen. In Zeile 12 bedeutet αἴτιος „schuldig“, unterteilt in schuldig der eigenhändigen Tötung und der Planung einer Handlung, die den Tod des anderen herbeiführt. Nicht anders Z. 26 f. (F 18). Fasst man dort κτέναι als eigenhändige Tötung auf, so ergibt sich für αἴτιος auch die Bedeutung „schuldig“ in dem Sinne, dass eine Handlung geplant wurde, die den Tod des anderen bewirkt.
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Zeile 11: μὲ ̓κ προνοίας wird in Zeile 17 durch ἄκων wiederaufgenommen. Durch den Hinweis von MacDowell 1978 auf Aristot. m. mor. 1188 b 29 ff. μηδὲν προνοηθείς = ἄκων ist die Identität gesichert. Die ganze weitere Diskussion darüber, die von modernen Vorstellungen geprägt ist, war völlig überflüssig. – Z. 11: φεύγειν ist hier noch ganz konkret mit „fliehen, flüchten“ zu übersetzen, nicht mit „verbannt werden.“ Der Verurteilte flüchtet aus Attika vor der Blutrache der Verwandten des Getöteten. Nur ihnen gegenüber ist er „friedlos“, nicht etwa allen Mitbürgern gegenüber, wie es bei der Verbannung der Fall ist. Zeile 13: Die Aidesis, die bei Homer noch die Ausnahme bildet (s. Il. 9, 632 ff.), ist, wie die ausführliche Behandlung in der Inschrift beweist, bei Drakon schon der Regelfall. Bei der Aidesis handelt es sich um einen außergerichtlichen Vergleich vor einem gerichtlichen Vorgehen: Gegen die Zahlung eines Wergeldes (s. F 10– 12) verzichten die Verwandten des Getöteten auf ihr Racherecht. Es ist jetzt Sache des Blutschuldigen, für die Reinigung von der Befleckung durch die Bluttat zu sorgen (s. F 6). – Die ausdrückliche Betonung des Erfordernisses der unvorsätzlichen Tötung ist nur verständlich unter der Voraussetzung, dass den Verwandten des Getöteten die Aidesis nicht nur bei unvorsätzlicher Tötung gegeben war, sondern auch bei vorsätzlicher. Ist eine Aidesis – aus welchen Gründen auch immer – nicht zustande gekommen und befindet sich der Verurteilte schon längere Zeit im Ausland, so haben die Phratriemitglieder, die sich ja nach Zeile 23 auch an der Strafverfolgung beteiligen dürfen, beim Fehlen jeglicher zur Aidesis berechtigten Verwandten das Recht, demjenigen, der – gerichtlich festgestellt – unvorsätzlich getötet hat, die Rückkehr zu erlauben. Es ist hier hervorzuheben, dass die jetzt nicht mehr vorhandenen Verwandten dem Täter seinerzeit keine Aidesis gewähren wollten und dass Drakon sich mit dieser Bestimmung massiv über deren Willen hinwegsetzte. Mit dem, der vorsätzlich getötet hatte, genauso zu verfahren dürfte er Bedenken gehabt haben. Es erhebt sich die Frage, ob sich hier schon die spätere Regelung ankündigt, die Aidesis auf die unvorsätzliche Tötung zu beschränken. Zeile 20: Gibt es keinen Vergleich, so setzt mit der Prorrhesis das Gerichtsverfahren ein. In ihrem Wesen ist die Prorrhesis eine Art von Fluch und Verwünschung (so Latte, RE ΧVI.1 (1933), 283 ff.), zugleich eine Fehdeankündigung und vielleicht auch wohl die Ladung zum Prozess. Wenn sie nach Zeile 21 auf der Agora erfolgt, so ist damit der Platz gemeint (so auch Antiph. 5,10) und nicht etwa eine Versammlung. Eine solche dürften die Verwandten des Getöteten kaum abgewartet haben. Mit der Prorrhesis wird der Täter von allen gehegten Stätten ausgeschlossen, wohl vor allem, um eine Reinigung von der Befleckung zu verhindern (F 14). F 5 b entstammt einer späteren Redaktion als die Blutrechtsinschrift. Geht dort die Aidesis voran, so hier der Prozess mit der Prorrhesis. Dabei geht der sorgfältige Aufbau des Personenkreises der Inschrift verloren (s. o.). F 5 b nimmt offensichtlich darauf Rücksicht, dass die Aidesis keinen Vergleich mehr darstellt, sondern einen einseitigen Gnadenakt, der erst nach der Verurteilung und Flucht des Täters erfolgt (F 6).
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F 6** Demosth. or. 23,72 f.: τί οὖν ὁ νόμος κελεύει; τὸν ἁλόντ’ ἑπ’ ἀκουσίῳ φόνῳ ἐν τισιν εἰρημένοις χρόνοις ἀπελθεῖν τακτὴν ὁδὸν καὶ φεύγειν, ἕως ἂν αἰδέσηταί τις τῶν ἐν γένει τοῦ πεπονθότος. τηνικαῦτα δ’ ἥκειν δέδωκεν ἔστιν ὃν τρόπον, οὐχ ὃν ἄν τύχῃ, ἀλλὰ καὶ θῦσαι καὶ καθαρθῆναι καὶ ἄλλ’ ἄττα διείρηκεν, ἃ χρὴ ποιεῖν, ὀρθῶς, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, πάντα ταῦτα λέγων ὁ νόμος. App. crit. ὁ νόμος om. A αἰδέσηταί τις app. Frankfurtana, marg. Lambini, corrector Weimaranus: αἰδέσηταί τινα codd., Harpokr. s. v.: αἰδεσθῇ παρὰ Blass διείρηκεν codd.: διῄρηκεν Dobree.
Übersetzung: Was bestimmt nun das Gesetz? Wer wegen unvorsätzlicher Tötung verurteilt worden ist, soll innerhalb einer bestimmten Zeit auf einem festgelegten Weg außer Landes gehen und dort bleiben, bis irgendeiner aus der Familie des Getöteten sich mit ihm versöhnt. Dann aber erlaubt ihm das Gesetz zurückzukehren, aber nicht auf beliebige Weise, sondern es schreibt ihm vor zu opfern, sich zu reinigen und alles andere Erforderliche zu tun. All das führt das Gesetz an, ihr Athener, wie es sich gehört. Echtheit: Die Echtheit von F 6 hängt an der Frage, ob es zur Zeit Drakons und Solons schon die Befleckung des Täters, das Miasma, gegeben hat. Man hat das mit einem doppelten argumentum ex silentio bestritten: Sowohl bei Homer als auch in der Blutrechtsinschrift wird das Miasma nicht erwähnt (z. B. MacDowell 1963, 1–5 und 141–150, Gagarin 1981, 164–167). Allerdings ist die Inschrift so lückenhaft erhalten, dass jeglicher Schluss aus einer Nichterwähnung der Aussagekraft entbehrt. Und was Homer angeht, so hat Parker 1983, 66–70 und 130–143 zumindest gezeigt, dass das Bild nicht so eindeutig ist. Glücklicherweise gibt es in der Frage ein authentisches Zeugnis: Im Blutgericht am Prytaneion, das schon aus der Zeit vor Solon stammt (s. F 70), werden der unbekannte Täter, das Tier, das den Tod verursacht hat, und der leblose Gegenstand einzig und allein deshalb abgeurteilt, um aus Attika entfernt zu werden (s. F 21 a). Andere Gründe, als auf diese Weise das Land vor einem Miasma zu bewahren, lassen sich für dieses seltsame Verfahren nicht denken. Erklärung: Als Parallele zur zeitlichen Befristung s. Philochoros in: FGrHist 328 F 30: Der Ostrakisierte hat in 10 bzw. 5 Tagen das Land zu verlassen. – Zur Aidesis s. F 5. – Die Reinigung vom Miasma erfolgt in der Regel durch eine Waschung mit Wasser. Zu allen Einzelheiten und anderen Mitteln s. Parker 1983, 224–234, zum Opfer 209 f. [F 7] Schol. Hom. Il. 2,665: Ἑλληνικόν ἐστι τό μὴ φόνῳ φόνον λύειν, φυγαδεύειν δὲ τὸν ἅπαντα χρόνον· ὅθεν Σόλων ἔτη πέντε ὥρισεν.
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Übersetzung: Hellenischer Brauch ist es, nicht Tötung durch Tötung zu vergelten, sondern (den Täter) für immer des Landes zu verweisen. Weswegen (?) Solon fünf Jahre festsetzte. Echtheit: Das ohnehin dubiose F 7 ist als falsch zu streichen. (s. Heitsch 1984, 5 ff.). Die „Verjährungsfrist“ von fünf Jahren ist wohl eine unzulässige Verallgemeinerung aus F 108. F 8** Anecd. Bekker Ι 82,17 (Antiatt.): ἀνυποδήματος· ἐν τοῖς Ἀθηναίων νόμοις καὶ τοῖς Ἀρεοπαγιτικοῖς. Übersetzung: anhypodematos (= barfuß). (Dieses Wort findet sich) in den Gesetzen der Athener, und zwar denen beim Areopag. Echtheit: Glosse aus dem Blutrecht. Erklärung: Als Kontext käme am ehesten die Diomosia in Frage, bei der man stehend auf den Eingeweiden von rituell ordnungsgemäß geschlachteten Opfertieren unter Verfluchung seiner selbst, seiner Familie und seines Hauses den Überführungs- und ggf. den Reinigungseid leistet (Demosth. or. 23,68). Laut IG I3 104 stand die Neuaufzeichnung des Blutrechts von 409/8 vor der Königsstoa. Doch nach Lys. 1,30 und der Einlage bei Demosth. or. 23,22 gab es auch auf dem Areopag eine Stele mit dem Blutrecht, und zwar dem gesamten Blutrecht, wie sich daraus ergibt, dass Lysias aus dieser Stele ein Gesetz zitiert, das das Blutrecht am Palladion betrifft. Was es mit dieser Stele auf sich hat, lässt sich nicht sagen. [F 9**] Harpokr. 179,27: ὑποφόνια· τὰ ἐπὶ φόνῳ διδόμενα χρήματα τοῖς οἰκείοις τοῦ φονευθέντος, ἵνα μὴ ἐπεξίωσιν … Θεόφραστος νόμων ἕκτῳ καὶ δεκάτῳ. App. crit. ὑπεξίωσι C.
Übersetzung: hypophonia: (So nennt man das) Geld, das man wegen einer Bluttat den Verwandten des Getöteten gibt, damit sie nicht klagen … Theophrast im 16. Buch der Gesetze. Textbestand: In der Lücke bringt Harpokrates (Y 13) zwei Belege aus Deinarch. frg. X,5 u. XIX,13.
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Echtheit und Erklärung: Bei F 9 handelt es sich um ein Bestechungsgeld, mit dem ein Vergleich und ein Fallenlassen der Klage erkauft wurden. Ein Beispiel für eine solche Zahlung findet sich bei Demosth. or. 58,29. Mit einem Wergeld (ἄποινα s. F 11 u. 12), das bis zum Erlass von F 16 für die Aidesis gezahlt wurde und das man im 4. Jh. schon gar nicht mehr kannte (s. Demosth. or. 23,33), hat es nichts zu tun. Wie die Belege zeigen, gehört F 9 ins 4. Jh. und nicht in die Zeit Drakons und Solons. Es ist daher zu streichen. F 10** Poll. 9,6l: κἂν τοῖς Δράκοντος νόμοις ἔστιν ἀποτίνειν εἰκοσάβοιον. App. crit. δεκάβοιον F.
Übersetzung: Und in den Gesetzen Drakons heißt es: Soll zahlen den Wert von zwanzig Rindern. Echtheit: Gesichert durch den schon zur Zeit Solons obsoleten Geldwert. Erklärung: Während Solon schon in Drachmen rechnet, rechnet Drakon noch wie Homer in Rindern. Zur Höhe des Satzes vgl. die folgenden Werte bei Homer: 300 bzw. 100 Rinder als Kaufpreis für Lykaon (Il. 21,79); 100 für eine goldene Rüstung (Il. 6,236); 20 Kaufpreis für Eurykleia (Od. 1,430); 12 Wert eines Dreifußes (Il. 23,705); 9 für eine bronzene Rüstung (Il. 6,236); 4 Wert einer (unfreien) Frau (Il. 23,705); 1 Wert eines Kessels (Il. 23,885). Vgl. dagegen folgende Werte bei Solon: 100 Drachmen Strafe für Pflichtversäumnis des Archons (F 65); 100 Drachmen Strafe für Entführung (F 26); 20 Drachmen Strafe für Kuppelei (F 30); 5 Drachmen Strafe für Beleidigung (F 32). Setzt man nun mit F 92 ein Rind mit fünf Drachmen an, so ergeben die zwanzig Rinder mit hundert Drachmen einen so hohen Wert, dass es sich dabei nur um ein oder gar das Wergeld handeln kann. Vgl. dazu Heitsch 1984, 12. F 11 (83) Phot. 437,20: ποινᾶν καί ἀποινᾶν· τὸ λυτροῦν· Σόλων. App. crit. ποίναν codd. ἄποιναν codd. λύτρον codd.
Übersetzung: poinan und apoinan (bedeuten) gegen Lösegeld freigeben: Solon.
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F 12 (83) Anecd. Bekker I 428,9 (Synag.), Suda α 3716: ἄποινα· λύτρα, ἃ δίδωσί τις ὑπὲρ φόνου ἢ σώματος· οὕτως Σόλων ἐν νόμοις. Übersetzung: apoina (bedeutet) ein Lösegeld, das man für eine Tötung oder Körperverletzung zahlt: So Solon in den Gesetzen. Echtheit: Glossen aus den Axones. Erklärung: ποίνη bedeutet inhaltlich Buße. Der Täter büßt für seine Tat entweder mit dem eigenen Leben oder durch Zahlung eines Lösegelds, auch ἄποινα oder τιμή genannt. Demzufolge bedeuten – und die Belege bestätigen das – νήποινος (F 19) und ἄτιμος (F 21) bußlos. Zu ἀποινᾶν s. F 16. Belege: Hom. Il. 3,290; 5,266; 9,633 und 636; 13,659; 14,483; 16,398; 17,207; 18,498; 21,28 (ποίνη); Hom. Il. 1,13; 1,95; 1,111; 2,230; 6,46 und 49; 9,120; 10,380; 11,106 und 134; 19,138; 22,349; 24,137 und 139 sowie 276 (ἄποινα); Hom. Il. 1,159; 3,286 und 288 sowie 459; 5,552; 17,92; Od. 14,70 und 117; 22,57 (τιμή); Hom. Od. 1,160 und 377 sowie 380; 2,142 und 145; 14,377 und 417; 18,280 (νήποινος) und im selben Kontext Od. 16,432 (ἄτιμος). Literatur: Berneker, RE XXI. 1 (1951), 1213–1215, Cantarella 1976, 23 ff. (behandelt die ποίνη nur in ihrer Funktion als Wergeld), Velissaropoulos, 1990 (1991), 93 f. (behandelt nur νηποινεί), Thür, DNP 9 (2000), 1193. F 13** Lex. ap. Demosth. or. 23,82: ἐάν τις βιαίῳ θανάτῳ ἀποθάνῃ, ὑπὲρ τούτου τοῖς προσήκουσιν εἶναι τὰς ἀνδροληψίας, ἕως ἂν ἢ δίκας τοῦ φόνου ὑπόσχωσιν ἢ τοὺς ἀποκτείναντας ἐκδῶσι. τὴν δὲ ἀνδροληψίαν εἶναι μέχρι τριῶν, πλέον δὲ μή. Übersetzung: Wenn jemand eines gewaltsamen Todes stirbt, dann dürfen dessen Verwandte seinetwegen Geiseln nehmen, bis sie (die anderen) entweder Genugtuung für die Tötung leisten oder die Täter herausgeben. Bis zu drei Geiseln darf man nehmen, mehr aber nicht. Erklärung: Das ganze Verständnis des Gesetzes hängt an der Frage nach dem Subjekt der Wörter ὑπόσχωσιν und ἐκδῶσι, das der Gesetzgeber, wie es archaischem Stil entspricht, als selbstverständlich weggelassen hat. Dem Urteil der modernen Forschung nach erlaubte das Gesetz den Verwandten eines Atheners, der auf fremdem Staatsgebiet von einem Bürger dieses Staates getötet worden ist, aus dessen Bürgern drei beliebige Geiseln zu greifen, solange dieser Staat die Täter nicht zur
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gerichtlichen Verantwortung zog oder sie nach Athen auslieferte. Subjekt der beiden Verben ist demnach der Staat, auf dessen Territorium und von dessen Bürgern die Tat verübt worden ist bzw. verübt worden sein soll. Diese Deutung, die von Demosth. or. 23,82 ff. nahegelegt und von den Lexikographen (s. nur Harpokr. A 132) übernommen wird, ist aus folgenden drei Gründen abzulehnen: 1) Sie hatte zur Voraussetzung, dass es keinerlei zwischenstaatliche Rechtsbeziehungen wie Rechtshilfevertrag und Fremdenprozess gab und dass die ἀνδροληψία = Geiselnahme ein Druckmittel war, um die Polis des Mörders zum Handeln zu bewegen. Bei dieser Sachlage fragt man sich, warum das Gesetz die ἀνδροληψία einschränkte. Je mehr Geiseln man in den Händen hatte, desto besser war doch die Verhandlungsposition. 2) Sie setzte prozessuale Möglichkeiten voraus, die dem griechischen Recht fremd waren. Die Blutklage war eine Privatklage. Zu ihrer Erhebung waren also nur die Angehörigen des Getöteten berechtigt. Demnach hätte der Staat, dem der Beschuldigte angehörten, diesen gar nicht vor Gericht ziehen, geschweige denn ohne Urteilsspruch an die Bürger eines fremden Staates ausliefern können. 3) Bei der Eingangsklausel des Gesetzes fehlt der für die bisher vertretene Deutung unbedingt erforderliche Zusatz, dass es sich um einen Mord auf fremdem Territorium handelt. Alle diese Anstöße fallen fort, wenn man dem Gesetz folgenden Sachverhalt zugrundelegt: Der Blutschuldige hat sich dem Zugriff der Angehörigen des Getöteten entzogen. Um nun eine Genugtuung oder die Auslieferung des Täters zu erzwingen, greifen die Verfolgungsberechtigten zu Repressalien gegen die Angehörigen des Täters. Das Gesetz behandelt die Tötung auf athenischem Gebiet, und die Beschränkung der androlepsia ist zu verstehen als ein Bestreben des Gesetzgebers, die Fehde einzuschränken und den Landfrieden zu sichern. Dass dieses Gesetz im 4. Jh., als die einstige Existenz der Blutrache aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden war, nicht mehr verstanden wurde und zu einer Umdeutung geradezu aufforderte, ist allzu natürlich. βιαῖος θάνατος bedeutet soviel wie unnatürlicher Tod. Bei den Festgenommenen handelte es sich um Geiseln, die nach Leistung der Genugtuung seitens der Angehörigen des Täters oder nach dessen Auslieferung wieder freizulassen waren. Wurde – innerhalb einer bestimmten Zeit – der Zweck nicht erreicht, dürfte analog dem Bürgenverfall, bei dem der Bürge die vollen Rechtsfolgen zu tragen hatte, die sonst die verbürgte Person getroffen hätten (And. 1,44), Geiselverfall eingetreten sein. δίκας/δίκην ὑπέχειν bedeutet „Genugtuung leisten“, indem man entweder Sühne leistet (so Hdt. 2,118) oder bestraft wird (so Isokr. or. 20,17) oder sich einem Prozess stellt (so Demosth. or. 23,77). Da es sich bei den Geiseln nicht um den Täter handelte, sondern um dessen Verwandte, konnten sie nicht bestraft werden oder
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sich einem Prozess stellen, sondern nur – in Form eines Wergeldes o. ä. – Sühne leisten. Zur Art der Sühne s. Komm. zu F 9–12. ἀποκτείναντας: singularischer Plural im Sinne von der jeweilige Täter s. Komm. zu F 5. Literatur: Ruschenbusch 2005, 41 ff., Bravo 1977 (1982), 133 ff. (traditionell und fehlerhaft). F 14** Demosth. or. 20,158: ἐν τοίνυν τοῖς περὶ τούτων νόμοις ὁ Δράκων φοβερὸν κατασκευάζων καὶ δεινὸν τό τιν’ αὐτόχειρ’ ἄλλον ἄλλου γίγνεσθαι, καὶ γράφων χέρνιβος εἴργεσθαι τὸν ἀνδροφόνον, σπονδῶν, κρατήρων, ἱερῶν, ἀγορᾶς, πάντα τἆλλα διελθὼν, οἷς μάλιστ’ ἄν τινας ᾤετ’ ἐπισχεῖν τοῦ τοιοῦτόν τι ποιεῖν, ὅμως οὐκ ἀφείλετο τὴν τοῦ δικαίου τάξιν, ἀλλ’ ἔθηκεν, ἐφ’ οἷς ἐξεῖναι ἀποκτιννύναι … App. crit. χέρνιβος S Ργρ YΡ schol.: χερνίβων Sγρ Α χερνίβων F τῶν ἀνδροφόνων Α1 τινα f1 ἀποκτειννύναι SA.
Übersetzung: In den Gesetzen darüber macht Drakon die eigenhändige Tötung eines anderen zu einer abschreckenden und schlimmen Sache. Er bestimmt: Der Blutschuldige soll sich vom Weihwasser fernhalten, von Opferspenden, von Mischkrügen, von Heiligtümern, von der Agora, und zählt alles andere auf, wodurch er am ehesten glaubte, die Menschen von einer derartigen Tat abhalten zu können. Dennoch ließ er der Gerechtigkeit ihren Lauf und bestimmte, unter welchen Umständen man töten dürfe. Erklärung: F 14 ist auf die Prorrhesis zu beziehen, einer öffentlichen Proklamation vor Beginn des Prozesses, mit der der Täter von allen gehegten Stätten ferngehalten wurde. Aus Soph. Oid. T. 236 ff. und Hdt. 3,52 darf man das Verbot hinzufügen, den Täter im Haus aufzunehmen und mit ihm zu sprechen. Ein solches Verbot setzt voraus, dass die Schuld des Beklagten außer jeden Zweifels stand – zum Mischkrug als Opfergefäß s. nur Demosth. or. 19,280. Literatur: Parker 1983, 125, Latte, RE XVI. 1 (1933), 283 f. s. v. Mord. F 15 a* Demosth. or. 23,69: καί τῷ μὲν διώκοντι ὑπάρχει ταῦτα, τῷ δὲ φεύγοντι τὰ μὲν τῆς διωμοσίας ταὐτά, τὸν πρότερον δ’ ἔξεστιν εἰπόντα λόγον μεταστῆναι, καὶ οὔθ’ ὁ διώκων οὔδ’ οἱ δικάζοντες οὔτ’ ἄλλος ἀνθρώπων οὐδεὶς κύριος κωλῦσαι. App. crit. ταὐτά: ταῦτα Α οὔθ’ S: οὔτ’ cet.
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Übersetzung: Und das (alles) gilt für den Kläger, für den Angeklagten ist die Prozedur der Diomosia dieselbe. Wenn er aber das erste Plaidoyer gehalten hat, kann er sich in das Exil begeben, und weder der Kläger noch die Richter noch irgendein anderer Mensch darf ihn daran hindern. F 15 b (80) Lys. 10,15–20: καί μοι ἀνάγνωθι τούτους τοὺς νόμους τοὺς Σόλωνος τοὺς παλαιούς· (16) ΝΟΜΟΣ. «δεδέσθαι δ’ ἐν τῇ ποδοκάκκῃ ἡμέρας πέντε τὸν πόδα, ἐὰν προστιμήσῃ ἡ ἡλιαία.» — ἡ ποδοκάκκη αὕτη ἐστίν, ὦ Θεόμνηστε, ὃ νῦν καλεῖται ἐv ξύλῳ δεδέσθαι (F 23 c). εἰ οὖν ὁ δεθεὶς ἐξελθὼν ἐν ταῖς εὐθύναις τῶν ἕνδεκα κατηγοροίη, ὅτι οὐκ ἐν τῇ ποδοκάκκῃ ἐδέδετο ἀλλ’ ἐν τῷ ξύλῳ, οὐκ ἂν ἠλίθιον αὐτὸν νομίζοιεν; λέγε ἕτερον νόμον. (17) ΝΟΜΟΣ. «ἐπεγγυᾶν δ’ ἐπιορκήσαντα τὸν Ἀπόλλω. δεδιότα δὲ δίκης ἕνεκα δρασκάζειν.» — τοῦτο τὸ ἐπιορκήααντα ὀμόσαντά ἐστι, τό τε δρασκάζειν, ὃ νῦν ἀποδιδράσκειν ὀνομάζομεν (F 15 b). — «ὅστις δὲ ἀπείλλει τῇ θύρᾳ, ἔνδον τοῦ κλέπτου ὄντος.» —τὸ ἀπείλλειν τοῦτο ἀποκλῄειν νομίζεται, καὶ μηδὲν διὰ τοῦτο διαφέρου (F 25). — (18) «τὸ ἀργύριον στάσιμον θεῖναι, ἐφ‘ ὁπόσῳ ἂν βούληται ὁ δανέιζων.» — τὸ στάσιμον τοῦτό ἐστίν, ὦ βέλτιστε, οὐ ζυγῷ ἱστάναι, ἀλλὰ τόκον πράττεσθαι, ὁπόσον ἂν βούληται (F 68). — ἔτι δ’ ἀνάγνωθι, τουτουὶ τοῦ νόμου τὸ τελευταῖον. (19) «ὅσαι δὲ πεφασμένως πωλοῦνται» (F 30 b) καὶ «οἰκῆος †καὶ βλάβης τὴν δούλην εἶναι† ὀφείλειν» (F 34). —πρόσεχε τὸν νοῦν· τὸ μὲν πεφασμένως ἐστὶ φανερῶς, πωλεῖσθαι δὲ βαδίζειν, τὸ δὲ οἰκῆος θεράποντος. (20) πολλὰ δὲ τοιαῦτα καὶ ἄλλα ἐστίν, ὦ ἄνδρες δικασταί.
App. crit. τοῦ παλαιοῦ Reiske ΝΟΜΟΣ: νόμοι ΟX ποδοκάκκῃ Ο, Harpokr., Dem. AFYO: ποδοκάκῃ cet. et Dem.s πέντε Dem. 24, 105: δέκα codd. ἐαν μὴ προστιμήσῃ μηλιαια Χ ἐὰν μὴ προστιμήσῃ ἡ ἠλιαία C αὕτη: αὐτὸ Harpokr. καλεῖται C, Harpokr.: καλεῖ cet. ΝΟΜΟΣ om. Χ spat. relicto ὀμόσαντα Harpokr. s. ν. ἐπιορκήσαντα: ὀμόσαι codd. τὸ δὲ δρασκάζειν C ἀπείλλει Lipsius: ἀπίλλει codd. τοῦτο Markland: τὸ codd. ἀποκλείειν codd. θεῖναι Francken: εῖναι codd. ἔτι δ’ ἀνάγν. Müller: ἐπανάγν. codd. τουτουί Markland: τουτί codd. ὅσαι: ὅσοι codd. πολοῦνται C οἰκῆος καἰ βλάβης τὴν δούλην εἶναι ὀφείλειν codd. οἰκῆος καὶ δούλης τὴν βλάβην εἶναι ὀφείλειν Schott, οἰκῆος βλάβης τὴν διπλῆν εἶναι ὀφείλειν Schelling, οἰκῆος καὶ δούλης διπλῆν (ἀπλῆν) τὴν βλάβην ὀφείλειν Frohberger (Blass) πρόσεχε Müller: προσέχετε codd.
Übersetzung: Und lies mir diese Gesetze vor, die Gesetze Solons, die alten! – Gesetz: „Er soll aber gebunden werden in die podokakke fünf Tage mit dem Fuß, wenn die Heliaia zusätzlich darauf erkennt“ (= F 23 c). – Die podokakke ist das, Theomnestos, was heute heißt: „Er soll in den Holzblock gebunden werden.“ Wenn nun der so Bestrafte die (dafür zuständigen) Elfmänner bei der Rechenschaftsablage beschuldigte, er sei nicht in die podokakke gebunden worden, sondern in den Holzblock, dann würden wir ihn doch wohl für verrückt halten. – Lies ein anderes Gesetz! – Gesetz: „Er soll mit einem Eid (epiorkesanta) bei Apoll aushändigen. Und wenn er fürchtet verurteilt zu werden, soll er außer Landes gehen (draskazein)“ (F
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15 b). – Statt epiorkein sagen wir heute omnynai, apodidraskein statt draskazein. – „Wenn jemand (den Verfolger) mit der Tür aussperrt (apeillei), während der Dieb drinnen ist“ (= F 25). – Statt apeíllein heißt es heute apokleiein, doch in der Sache besteht kein Unterschied. – „Der Darlehnsgeber soll das Geld (Silber) festsetzen (stasimon theinai), auf wie viel er will“ (= F 68). – Stasimon, mein Guter, bedeutet nicht abwiegen, sondern Zins nehmen, soviel man will. – Lies mir noch den Schluss von diesem Gesetz: „Diejenigen, die offen auf den Strich gehen“ (= F 30 b) und „Für den Schaden, den ein Gewaltunterworfener angerichtet hat, ist auch Zahlung des Doppelten erlaubt“ (= F 34). – Pass auf! Statt pephasmenos sagen wir phaneros, badizein statt poleisthai und therapon statt oikeus. – Und nicht nur hier sind früher gebräuchliche Wörter durch andere ersetzt worden, sondern es gibt dafür viele Beispiele, ihr Richter. Echtheit: Die von F 15 a ist gesichert durch F 15 b. Allerdings gibt es die doppelten Plaidoyers erst ab etwa 430 (s. o. 21 f.: Änderungen im Blutrecht unter Ziffer D). F 15 b (dazu F 23 c; F 25; F 30 b; F 34 und F 68): Ab 356 wird in den Reden der Name Solons insgesamt zweiunddreißig Mal erwähnt, einzig zu dem Zweck, die Richter bzw. Hörer zu beeinflussen. Anders bei den drei bzw. vier Erwähnungen aus der Zeit davor. Bei Lysias (30,2 vom Jahre 399) und Andokides (1,94 f. und 111 vom Jahre 400) geht es um die Gesetzesrevisionen der Jahre 410 bzw. 403: Gegenüber dem revidierten Code bedeuten die „Gesetze Solons“ den bis dahin geltenden Code, d. h. die Axones und die bis 410 bzw. 403 erlassenen Gesetze. (Zu den Gesetzesrevisionen und zur Geltungsdauer der Axones s. Ruschenbusch 2005, 11 ff. und 1966/1983, 24 ff.) – Lysias (10,15 vom Jahre 384) zitiert aus dem revidierten Code „alte Gesetze Solons“. Möglich war das nur, weil er aus der Zeit vor den Revisionen die Axones noch als geltenden Code kannte und an ihnen die Glossseninterpretation gelernt haben dürfte (s. F 41 a). Zu Solon bei den Rednern s. Ruschenbusch 1958, 399 ff. Erklärung: F 15 a behandelt die vorsätzliche Tötung (s. Demosth. or. 23,65 ff.). Das erste Plaidoyer findet (in klassischer Zeit) statt, nachdem in der Diomosie die Tatfrage geklärt worden ist (s. Demosth. or. 23,71, weiterhin Antiph. 1,28 u. ö.), aber noch vor der Entscheidung, ob die Tat vorsätzlich verübt worden ist. Damit könnte der Täter, der ja wegen vorsätzlicher Tötung vor dem Gericht auf dem Areopag gestanden hat, vor der Konsequenz einer Verurteilung bewahrt geblieben sein, dass nämlich sein Eigentum den Rechtsschutz verliert. – F 15 b: Der erste Teil des Zitats bereitet Schwierigkeiten, wobei davon ausgegangen wird, dass beide Teile eine Einheit bilden, und nicht wie die durch und verbundenen Stücke F 30 b und F 34 verschiedenen Gesetzen angehören. Als Objekt zu „aushändigen“ ist nur denkbar: „der Blutschuldige“, und es wäre dann folgende Situation erschließbar: Der von den Verwandten des Getöteten festgesetzte Blutschuldige hat zugesichert, außer Landes zu gehen und für diese Zusicherung einen Bürgen gestellt. Daraufhin haben die Verwandten den Festgesetzten dem Bürgen ausgehändigt, und dieser hat dafür gesorgt, dass der Blutschuldige (innerhalb einer bestimmten Frist auf einem bestimmten Weg: s. F 6) das Land verlässt. Der zu leistende Eid dürfte identisch sein
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mit dem Eid, den die Parteien in klassischer Zeit nach dem ersten Plaidoyer für die Wahrheit ihrer Behauptungen ablegten (Anecd. Bekker 239, 23, skeptisch dazu MacDowell 1963, 97 f.). Ausblick: Über den Ablauf der Gesetzesrevisionen ist genug geschrieben worden (s. den Überblick bei Rhodes 1991, 87 ff.). Hingegen gibt es über den Inhalt und Aufbau des Gesetzeswerkes von 403 ff. keine Literatur. Es ist auffällig, wie viel Altes und sogar Obsoletes aus den Axones sich in ihm findet. Sogar Zeitangaben, die nur für die Zeit Drakons und Solons wichtig waren (so F 5 a, b und F 49 a), sind mit übernommen. F 16** Lex ap. Demosth. or. 23,28: τοὺς δ’ ἀνδροφόνους ἐξεῖναι ἀποκτείνειν ἐν τῇ ἡμεδαπῇ καὶ ἀπάγειν, ὡς ἐν τῷ ἄξονι ἀγορεύει, λυμαίνεσθαι δὲ μή, μηδὲ ἀποινᾶν ἢ διπλοῦν ὀφείλειν, ὅσον ἂν καταβλάψῃ· εἰσφέρειν δ’ ἐ τοὺς ἄρχοντας, ὧν ἕκαστοι δικασταί εἰσι, τῷ βουλομένῳ· τὴν δ’ ἡλιαίαν διαγιγνώσκειν. App. crit. δ’ om. Α ἀπαγορεύει Α δ’ ἐ Schelling δὲ codd. δ’ om YΡ1 ἡλιαναγινώσκειν S1, corr. S2 δ’ ἀναγινώσκειν Y.
Übersetzung: Die Blutschuldigen darf man auf athenischem Boden töten und abführen, wie es (das Gesetz) im Axon sagt. Doch ist es verboten, (die Getöteten) zu misshandeln oder (von den Abgeführten) ein Lösegeld zu fordern, oder (der Täter) soll das Doppelte schulden. Wer will, soll (ein solches Vergehen) vor die als Richter zuständigen Archonten bringen. Die Heliaia aber soll erkennen. Textbestand: Die Konjektur ἐν ἄξονι erweist sich durch die Neulesung der Blutrechtsinschrift durch Stroud (s. IG I3 104,56) als verfehlt. Richtig ist hingegen die Konjektur von Schelling εἰσφέρειν ἐ(ς) τούς. Vgl. die Parallele in lex ap. Demosth. or. 43,71: Es wird festgestellt, vor welchen Richter die entsprechende Klage gehört. Einzelerklärung: Das Gesetz ist nachsolonisch. Kommentiert werden daher nur die Teile, die die Zeit Drakons/Solons betreffen. – ἀνδροφόνους: singularischer Plural im Sinne von „der jeweilige Blutschuldige“: s. auch F 5, 13 u. ö. – Es handelt sich nicht nur um die wegen vorsätzlicher Tötung, sondern auch um die wegen unvorsätzlicher Tötung Verurteilten, da nach Ablauf der Entweichensfrist (s. F 6) auch sie auf athenischem Territorium vogelfrei waren. – ἀπάγειν: Zur Zeit Drakons und Solons gab es noch keine Strafen, die aktiv vom Staate vollstreckt wurden, wie z. B. die Todesstrafe, und damit auch keine Strafexekutionsbehörde wie die Elfmänner (s. Ruschenbusch 2005, 77 ff.). Folglich kann ἀπάγειν in den Axones nur die Bedeutung „in die Privathaft abführen“ gehabt haben, um so von den Angehörigen des Festgenommenen die Zahlung eines Lösegelds zu erreichen. Zur
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Privathaft s. F 15 b und Ruschenbusch 2005, 92 f. und 107 f. und für Kreta ICr IV 72 col. 2,20 ff. (Festsetzung des moichos). Mit der allmählichen Beseitigung der Selbsthilfe und der Einführung von Strafen, die seitens des Staates aktiv vollstreckt wurden, bedeutet ἀπάγειν die Abführung zu den Elfmännern zum Vollzug der Todesstrafe (s. Lipsius 1905–1915, 317 ff.). – Das Verbot des ἀποινᾶν, des Lösegeldforderns, zeigt, dass man beim Erlass des Gesetzes die Bedeutung und den Zweck des ἀπάγειν der Axones schon nicht mehr verstanden hat und es als Abführung zum Vollzug der Todesstrafe auffasste. – ἄξονι: s. F 5 a. – λυμαίνεσθαι: Bei der Misshandlung des getöteten Blutschuldigen handelt es sich um einen Akt der Blutrache, s. nur Hom. Il. 24,14 ff. Zur Zeit Herodots gilt die Misshandlung des getöteten Feindes als barbarisch, s. Hdt. 9,79. Zur Rache s. Gehrke 1987, 121 ff. Demosthenes (or. 23,33) versteht, wenn er von „Geißeln“ und „Fesseln“ (eines Lebenden) spricht, diesen Brauch schon nicht mehr. F 17** Lex ap. Demosth. or. 23,44: ἐάν τίς τινα τῶν ἀνδροφόνων τῶν ἐξεληλυθότων, ὧν τὰ χρήματα ἐπίτιμα, πέρα ὅρου ἐλαύνῃ ἢ φέρῃ ἢ ἄγῃ, τὰ ἴσα ὀφείλειν ὅσα περ ἂν ἐν τῇ ἡμεδαπῇ δράσῃ. App. crit. τινα om. SF1YP ὀφείλει SFYP.
Übersetzung: Wenn jemand gegen einen der außer Landes gegangenen Blutschuldigen, deren Eigentum im Rechtsschutz steht, Repressalien verübt, indem er das Vieh wegtreibt, seine Habe wegträgt oder ihn selbst abführt, dann soll er dasselbe schulden, wie wenn er es auf athenischem Boden getan hätte. Erklärung: Das Gesetz schützt denjenigen, der sich wegen einer unvorsätzlichen Tötung im Ausland befindet (F 5 und 6), dort vor Übergriffen, d. h. in erster Linie vor der Rache der Angehörigen des Getöteten. – Bei den wegen unvorsätzlicher Tötung Verurteilten steht das Eigentum im Rechtsschutz. Anders bei dem wegen vorsätzlicher Tötung Verurteilten: Bei diesem ist auch sein Eigentum von der Atimie betroffen (s. F 22 und lex ap. Demosth. or. 21,113). Sie gilt dem Fall, dass der Täter sich der Verfolgung seitens der Angehörigen des Getöteten entzogen hat, möglicherweise durch die Flucht ins Ausland. Durch Repressalien aller Art (s. o. die Übersetzung) übt man Druck auf die Angehörigen des Täters aus, ihn auszuliefern oder ein Wergeld zu zahlen (s. F 11–13) oder schafft sich – falls das nicht hilft – Genugtuung durch den Zugriff auf sein Eigentum. F 18 a IG I³ 104,26–29: Text und Übersetzung s. F 5 a
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F 18 b** Lex ap. Demosth. or. 23,37: ἐὰν δέ τις τὸν ἀνδροφόνον κτείνη ἢ αἴτιος ᾖ φόνου, ἀπεχόμενον ἀγορᾶς ἐφορίας καὶ ἄθλων καὶ ἱερῶν ἀμφικτυονικῶν, ὥσπερ τὸν Ἀθηναῖον κτείναντα ἐν τοῖς αὐτοῖς ἐνέχεσθαι· διαγιγνώσκειν δὲ τοὺς ἐφέτας. App. crit. δὲ1 om. SYP1.
Übersetzung: Wenn jemand den Blutschuldigen (eigenhändig) tötet oder an dessen Tötung schuldig ist, obwohl er sich vom Grenzmarkt und von den Wettkämpfen und Festen der Grenznachbarn ferngehalten hat, so sollen ihn dieselben Folgen treffen, wie wenn er einen Athener getötet hätte. Befinden aber sollen die Epheten. Erklärung: F 18 bildet mit F 17 inhaltlich eine Einheit. Es stellt die Tötung des wegen einer unvorsätzlichen Tötung ins Ausland geflüchteten Blutschuldigen unter Strafe, wenn er sich an die ihm zur Auflage gemachten Bedingungen gehalten hat. – αἴτιος ᾖ φόνου: Gemeint ist die βούλευσις, die Planung bzw. die Tötung ohne eigene körperliche Einwirkung (s. F 5 a, 12). – ἀμφυκτιονικῶν ist hier wohl nicht auf Kultgemeinschaften, sondern auf die Umwohnenden zu beziehen, die Grenznachbarn (Androtion in: FGrHist 324 F 58; vgl. περικτίονες bei Homer und Pindar). – Die Lage des Grenzmarktes und die Art der Spiele und Feste der Grenznachbarn sind unbekannt. – Aus dem Vergleich der Tötung des flüchtigen Blutschuldigen mit der eines Atheners hat man geschlossen, dass der Blutschuldige mit der Flucht das Bürgerrecht verlοr. Doch angesichts dessen, dass dem Flüchtigen, laut F 5 a,13–19, die Rückkehr nach Athen offen stand und er als Mitglied einer Phratrie (s. F 5 a) Bürger geblieben war, ist das unwahrscheinlich: „einen Athener“ in F 18 dürfte nichts anderes bedeuten als „auf athenischem Boden“ in F 17. – Die Epheten entscheiden darüber, ob vorsätzlich, unvorsätzlich oder straflose Tötung vorliegt (s. F 5). Da es sich bei dem Täter in der Regel um den Bluträcher handelt, dürfte der Fall als vorsätzliche Tötung eingestuft worden sein. F 19 a IG I3 104,33–38: Text und Übersetzung s. F 5 a F 19 b** Lex ap. Demosth. or. 23,60: καὶ ἐὰν φέροντα ἢ ἄγοντα βίᾳ ἀδίκως εὐθὺς ἀμυνόμενος κτείνῃ, νηποινεὶ τεθνάναι. Übersetzung: Und wenn (jemand) einen, der mit Gewalt und unrechtmäßig wegträgt oder wegführt, sofort bei der Abwehr tötet, dann soll er (der Getötete) bußlos tot sein.
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Privatdelikte
F 20** Lex ap. Demosth. or. 23,53: ἐάν τις ἀποκτείνῃ ἐν ἄθλοις ἄκων ἢ ἐν ὀδῷ καθελὼν ἢ ἐν πολέμῳ ἀγνοήσας ἢ ἐπὶ δάμαρτι ἢ ἐπὶ μητρὶ ἢ ἐπ’ ἀδελφῇ ἢ ἐπὶ θυγατρὶ ἢ ἐπὶ παλλακῇ, ἣν ἂν ἐπ’ ἐλευθέροις παισὶν ἔχῃ, τούτων ἕνεκα μὴ φεύγειν κτείναντα. App. crit. ἢ ἐπὶ μητρὶ om. S.
Übersetzung: Wenn jemand tötet, unabsichtlich beim Wettkampf oder auf dem Weg (einen Angreifer(?): K. B.) niedermachend oder irrtümlich im Kriege oder wegen der Ehefrau oder wegen der Mutter oder wegen der Schwester oder wegen der Tochter oder wegen der pallake, die er um freier Kinder willen hat, deswegen soll er nicht außer Landes gehen, wenn er getötet hat. F 2I** Demosth. or. 9,43: ἐκεῖνοι (scil. οἱ Ἀθηναῖοι) Ζελείτην τινά, Ἄρθμιον, δοῦλον βασιλέως (ἡ γὰρ Ζέλειά ἐστι τῆς Ἀσίας), ὅτι τῷ δεσπότῃ διακονῶν χρυσίον ἤγαγεν εἰς Πελοπόννησον, οὐκ Ἀθήναζε, ἐχθρὸν αὑτῶν ἀνέγραψαν καὶ τῶν συμμάχων αὐτὸν καὶ γένος καὶ ἀτίμους. τοῦτο δ’ ἐστὶν οὐχ ἣν οὑτωσί τις ἂν φήσειεν ἀτιμίαν· τί γὰρ τῷ Ζελείτῃ, τῶν Ἀθηναίων κοινῶν εἰ μὴ μεθέξειν ἔμελλεν; ἀλλ’ ἐν τοῖς φονικοῖς γέγραπται νόμοις, ὑπὲρ ὧν ἂν μὴ διδῷ [δίκας] φόνου δικάσασθαι, ἀλλ’ ἐναγὲς ᾖ τὸ ἀποκτεῖναι, «καὶ ἄτιμος» φησὶν «τεθνάτω». τοῦτο δὴ λέγει, καθαρὸν τὸν τούτων τιν’ ἀποκτείναντ’ εἶναι.
App. crit. ἀρίθμιον SA ἀτίμους εἶναι FA ἂν οὑτωσί τις FY τί γὰρ τῷ Ζελείτῃ, τῶν Ἀθηναίων κοινῶν εἰ μὴ μεθέξειν ἔμελλεν; ἀλλ’ ἐν τοῖς … S1, Harpokr. s. ν. ἄτιμος: τί γὰρ τῷ Ζελείτῃ τοῦτ’ἔμελεν (ἐμελλεν Y1) εἰ τῶν Ἀθήνησι κοινῶν μὴ μεθέξειν ἔμελλεν; ἀλλ’ οὐ τοῦτο λέγει· ἐν τοῖς … Srec. FAY ἂν μή: ἄν τις μή Srec. δίκας om AY1 Harpokr.AF: δίκην Harpokr.BC. secl. Fuhr δικᾶσθαι S1 ἀλλ’ … ἀποκτεῖναι om S1 Y1 Harpokr. τὸν: τῶν Α1 Y1.
Übersetzung: Arthmios aus Zeleia, ein Untertan des Großkönigs (Zeleia liegt nämlich in Asien) hatte im Dienste seines Herrn Gold auf die Peloponnes gebracht, und nicht nach Athen. Deshalb haben die Athener ihn mitsamt seiner Nachkommenschaft zum Feind von sich und den Bundesgenossen erklärt und zum Geächteten (ἄτιμος). Diese Atimie hat aber nichts mit dem zu tun, was man heutzutage so nennt. Denn was würde es für einen Bürger von Zeleia bedeuten, wenn er das athenische Bürgerrecht verliert. Hingegen steht im Blutrecht geschrieben: „Er soll bußlos (ἄτιμος) tot sein“, wenn man wegen einer Tötung nicht belangt werden kann, sondern unbefleckt (ἐναγής) ist, das heißt, dass derjenige, der jemanden getötet hat, unschuldig (καθαρός) ist.
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Erklärung: F 19–21 behandeln die straflose Tötung. Wenn der Beklagte bei der Diomosie zugibt, er habe getötet, aber nicht rechtswidrig, wird der Fall von den Epheten am Palladion behandelt (Aristot. Ath. pol. 57,3). Diese Fälle sind: 1)
wer einen anderen, der mit einer Schlägerei begonnen hat, in Abwehr mit bloßen Händen tötet (F 19 a, 33 ff.); vgl. Antiph. 4, Plat. leg. 869 C und apol. 2,64 – 2) wer einen anderen in sofortiger Abwehr eines Raubes tötet (F 19 b) – 3 a) wer beim Wettkampf einen anderen unabsichtlich tötet – 3 b) ἐν ὅδῳ καθελών (vielleicht so zu verstehen: wer auf offener Straße einen Angreifer niedermacht: K. B.) – 3 c) wer im Kriege irrtümlich einen Mitbürger tötet – 3 d) wer als Kyrios einen anderen wegen Vergewaltigung (βιαίων) oder Verführung (μοιχεία) der Ehefrau, der (verwitweten) Mutter oder der (unverheirateten) Schwester oder Tochter oder der Nebenfrau, die er um freier Kinder wegen hat, tötet (= F 20). Andere Tatbestände dürften sich angeschlossen haben, so die Tötung des handhaften Diebes (s. F 23) und vielleicht die Tötung eines Tyrannen (s. F 37, das Dekret des Demophantos von 410/09 (And. 1,96) und das Tyrannengesetz von 337/6 (SEG 12,87); vgl. auch F 70. In einen derartigen Zusammenhang gehört die Glosse von F 21. Einzelerklärung: Auffällig sind in F 19 b die unbezeichneten Subjektwechsel bei καί „und“, anreihend statt des später üblichen δέ (s. F 5 a,11 und F 53). – Zu φέρειν ist als Objekt eine bewegliche Sache, zu ἄγειν ein Mensch oder Tier zu ergänzen. – Zur Abgrenzung vom berechtigten Wegtragen und Wegführen ist ἀδίκως „unrechtmäßig“ unbedingt erforderlich. – νηποινεὶ τεθνάναι „bußlos tot sein“: vgl. F 11–12 – F 20: Zu ἄκων s. F 5 a, b. – ἐν ὅδῳ καθελών hat schon Demosthenes in seiner Paraphase (or. 23,54 f.) als unverständlich weggelassen, ebenso Aristot. Ath. pol. 57,3 – δάμαρ „Ehefrau“ (so auch F 48 b) nur in archaischer Zeit und dichterisch im 5. Jh. – wie der Relationssatz zeigt, hat die παλλάκη mit der Konkubine des 4. Jh. (s. Demosth. or. 59,122) nichts zu tun. Es handelte sich bei dieser Institution um eine widerwillig anerkannte Eheform neben der schon bei Homer belegten (Od. 1,275) Engyesis-Ehe (s. F 48), die eventuell mit der Entführungsehe (s. F 26) identisch war. Mit der Engyesis-Ehe hat die Pallake-Ehe die Vorstellung gemeinsam, dass die Ehefrau zur Erzeugung der Nachkommenschaft da ist (Belege bei F 48, vgl. auch Demosth. or. 59,122). Der Unterschied ist der, dass bei der Engyesis-Ehe die Kinder echtbürtig (γνήσιοι gnesioi) sind, bei der Pallake-Ehe nur frei (ἐλεύθεροι). F 48 sucht der Pallakeehe ein Ende zu setzen. – Das Recht zur Tötung wegen Übergriffs gegen die Frauen der Familie ist sowohl bei der Verführung (so AP 57,3) als auch bei der Vergewaltigung gegeben (s. F 28–29). Doch während bei F 19 a, 33 und 37 genau festgelegt ist, dass eine Tötung nur dann straflos bleibt, wenn sie auf der Stelle und in Abwehr erfolgt, fehlt eine derartige Bestimmung beim Sexualdelikt in F 20. – φεύγειν hat noch die ursprüng-
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liche Bedeutung fliehen (s. F 5 a,11) – F 21: Zu ἄτιμον τεθνάναι „bußlos tot sein“ s. F 11–12. F 21 a (neu) Demosth. or. 23,76: ἐὰν λίθος ἢ ξύλον ἢ σίδηρος ἤ τι τοιοῦτον ἐμπεσὸν πατάξῃ, καὶ τὸν μὲν βαλόντ’ ἀγνοῇ τις, αὐτὸ δ’ εἰδῇ καὶ ἔχῃ τὸ τὸν φόνον εἱργασμένον, τούτοις ἐνταῦθα λαγχάνεται. Übersetzung: (Das Gericht am Prytaneion): Wenn ein Stein oder ein Holz oder ein Eisen oder etwas derartiges (jemanden) trifft und man denjenigen, der diesen Gegenstand geworfen hat (bzw. geworfen haben könnte), nicht kennt, aber den Gegenstand, der den Tod verursacht hat, kennt und ihn hat, dann klagt man für diesen Fall dort (d. h. am Prytaneion). F 21 b (neu) Aristot. Ath. pol. 57,4: ὅταν δὲ μὴ εἰδῇ τὸν ποιήσαντα, τῷ δράσαντι λαγχάνει. δικάζει δ’ ὁ βασιλεὺς καὶ οἱ φυλοβασιλεῖς καὶ τὰς τῶν ἀψύχων καὶ τῶν ἄλλων ζῴων. App. crit.: l εἰδῆι Papageorg. Ἀθ. 4, 608 coll. Dem. 23, 76 | lacunam (velut ἐπὶ Πρυτανείωι) post ποιήσαντα stat. Th., post λαγχάνει K.-W.1-2 (cf. Kaibel 242, Wil. I 253 n. 140).
Übersetzung: Wenn man aber den Täter nicht kennt, dann klagt man gegen Unbekannt: Es richten dann der (Archon) Basileus und die Phylenkönige, sowohl über den Gegenstand (der den Tod verursacht hat) als auch im anderen Fall über die Tiere (als Urheber der Tötung). F 21 c (neu) Poll. 8,120: τὸ ἐπὶ Πρυτανείῳ δικάζει, περὶ τῶν ἀποκτεινάντων, κἂν ὦσιν ἀφανεῖς, καὶ περὶ τῶν ἀψύχων τῶν ἐμπεσόντων καὶ ἀποκτεινάντων. προειστήκεσαν δὲ τούτου τοῦ δικαστηρίου φυλοβασιλεῖς, οὓς ἔδει τὸ ἐμπεσὸν ἄψυχον ὑπερορίσαι. Übersetzung: Das Gericht am Prytaneion richtet über unbekannte Blutschuldige und auch über Gegenstände, die getroffen und getötet haben. Den Vorsitz über dieses Gericht hatten die Phylenkönige. Ihre Pflicht war es, den Gegenstand, der getroffen hatte, außer Landes zu bringen.
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F 21 d (neu) Lexicon Patm. ad Demosth. or. 23,76 (Latte/Erbse, Lexica Graeca minora, 149): ἐπὶ Πρυτανείῳ· ἐν τούτῳ τῷ δικαστηρίῳ δικάζονται φόνου, ὅταν ὁ μὲν ἀνῃρημένος δῆλος ᾖ, ζητεῖται δὲ ὁ τὸν φόνον δράσας, καὶ ἀποφέρει τὴν γραφὴν πρὸς τὸν βασιλέα, καὶ ὁ βασιλεὺς διὰ τοῦ κήρυκος κηρύττει καὶ ἀπαγορεύει τόνδε τὸν ἀνελόντα τὸν δεῖνα μὴ ἐπιβαίνειν ἱερῶν καὶ χώρας Ἀττικῆς. Ἐν τῷ αὐτῷ δὲ τούτῳ δικαστηρίῳ κἄν τι ἐμπεσὸν πατάξῃ τινὰ καὶ ἀνέλῃ τῶν ἀψύχων, δικάζεται τούτῳ [γρ. ἴσ. τοῦτο] καὶ ὑπερορίζεται. Übersetzung: Das Gericht am Prytaneion. Bei diesem Gericht klagt man wegen einer Tötung, wenn zwar der Getötete bekannt ist, nicht aber der Täter. Man klagt beim (Archon) Basileus, und dieser verbietet durch den Herold dem unbekannten Täter athenischen Boden zu betreten und Heiligtümer zu besuchen. Und in eben diesem Gericht wird, wenn ein Gegenstand trifft und tötet, auch über ihn gerichtet, und er wird daraufhin außer Landes gebracht. Echtheit: Die Existenz des Prytaneions zur Zeit Drakons bestätigt F 70. Seine Kompetenz gehört in diese Zeit. Sie bietet die notwendige Ergänzung zu der Kompetenz der ephetischen Gerichtshöfe mit ihrer Entscheidung über vorsätzliche, unvorsätzliche und straflose Tötung. Erklärung: Am Prytaneion wurde neben dem unbekannten Täter und dem Tier, das einen Menschen getötet hatte, über den blutschuldigen Gegenstand Gericht gehalten. Konkret kommen dafür folgende Fälle in Frage: 1) Jemand schnitt sich beim Arbeiten mit dem Messer o. ä. die Pulsadern durch und verblutete. 2) Jemand wurde durch einen morschen Baum, einen herabstürzenden Dachbalken oder Felsen getötet. Um die Befleckung (μίασμα) des Landes, die sich durch die Bluttat ergeben hatte, zu beseitigen, wurde das Tier oder der Gegenstand aus dem Lande entfernt und über die Grenze gebracht. Wie man bei dieser Sachlage die Existenz des Miasmagedankens für die drakontische Zeit bestreiten konnte (so Gagarin 1981, 165 f.), bleibt unerfindlich. Die Sonderstellung des Prytaneions in der Besetzung mit dem Basileus und den vier Phylenkönigen erklärt sich wie folgt: Die Epheten hatten in freier Beweiswürdigung (s. F 41–44) über die Frage zu entscheiden, ob die Tat vorsätzlich, unvorsätzlich oder straflos geschehen war. Am Prytaneion geht es nur um die Tat, nicht die Willensrichtung. Deshalb bedarf es nicht der Epheten. F 22** Lex ap. Demosth. or. 23,62: ὃς ἂν ἄρχων ἢ ἰδιώτης αἴτιος ᾖ τὸν θεσμὸν συγχυθῆναι τόνδε ἢ μεταποιήσῃ αὐτόν, ἄτιμον εἶναι καὶ παῖδας [ἀτίμους] καὶ τὰ ἐκείνου. App. crit. τοῦ ante τὸν add. ed. Paris. a. 1570 ἀτίμους secl. Taylor.
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Privatdelikte
Übersetzung: Wer als Beamter oder Privatmann veranlasst, dass dieses Gesetz abrogiert wird, oder es abändert, der soll fried- und rechtlos sein, seine Kinder und sein Eigentum. Erklärung: Mit diesem Gesetz schützte Drakon das Blutrecht vor Abrogierung und Änderungen. Für den Übertretungsfall drohte es die Atimie, d. h. die Friedlosigkeit für den Täter, seine Kinder und sein Eigentum an. – Für die Differenzierung: Archon/Privatmann habe ich keine Erklärung. – Zur Atimie s. F 21, zur Atimie des Eigentums s. F 17. Eigentumsdelikte F 23 a (51) Gell. N. A. 11,18,3: Solo … sua lege in fures non, ut Draco antea, mortis sed dupli poena vindicandum existimavit. App. crit. duplici Q2 Π Χ2.
Übersetzung: Solon hielt es für richtig, mit seinem Gesetz die Diebe nicht, wie Drakon vorher, mit dem Tode zu bestrafen, sondern mit dem Doppelten (des Streitgegenstandes). F 23 b (51) Poll. 8,22: ((τὰ μέντοι προστιμήματα)) Σόλων ἐπαίτια καλεῖ.
App. crit. ἐπάτεια II. Adn. ἐπαίτια = Streitgegenstand. Fehldeutung veranlasst durch folgendes προστιμᾶν, cf. F 23 d.
Übersetzung: Die Zusatzstrafen aber nennt Solon epaitia. F 23 c (51) (= F 15 b) Lys. 10,16: … νόμους τοὺς Σόλωνος τοὺς παλαιούς … «δεδέσθαι δ’ ἐν τῇ ποδοκάκκῃ ἡμέρας πέντε τὸν πόδα, ἐὰν προστιμήσῃ ἡ ἡλιαία.» ἡ ποδοκάκκη αὕτη ἐστίν, ὃ νῦν καλεῖται ἐν τῷ ξύλῳ δεδέσθαι. App. crit. τοῦ παλαιοῦ Reiske ποδοκάκκη Ο, Harpokr., Dem.AFYO: ποδοκάκη cet. et Dem.S πέν τε Dem. (= F 24 d): δέκα codd. ἐὰν μὴ προστιμήσῃ XC μηλιαια Χ αὕτη: αὐτὸ Harpokr. καλεῖται C, Harpokr.: καλεῖ cet.
Übersetzung: … die Gesetze Solons, die alten …: „Er (der Täter) soll aber gebunden werden in den Block mit dem Fuß fünf Tage, wenn die Heliaia zusätzlich darauf erkennt“. (Es folgt die Erklärung des Wortes podokakke.)
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F 23 d* (50) Lex ap. Demosth. 24,105: ὅτι ἄν τις ἀπολέσῃ, ἐὰν μὲν ἀπολάβῃ, τὴν διπλασίαν καταδικάζειν, ἐὰν δὲ μή, τὴν διπλασίαν πρὸς τοῖς ἐπαιτίοις. δεδέσθαι δ’ ἐν τῇ ποδοκάκκῃ τὸν πόδα πένθ’ ἡμέρας καὶ νύκτας ἴσας, ἐὰν προστιμήσῃ ἡ ἡλιαία. Προστιμᾶσθαι δὲ τὸν βουλόμενον, ὅταν περὶ τοῦ τιμήματος ᾖ.
App. crit. ἀπολάβῃ Bodleianus ap. Taylor.: αὐτὸ λάβῃ codd. διπλασίαν2 Heraldus: δεκαπλασίαν codd. ποδοκάκκῃ AFYO, Harpokr., Lys.O: ποδοκάκῃ S, Lys.XC. Adn. Die Benennung des Gesetzes als solonisch durch Dem. 24,103; 106 (v. F 111–114) ist nur zufällig zutreffend.
Übersetzung: Wenn jemandem eine Sache abhanden gekommen ist, und er hat (sie) wiederbekommen, dann soll er (der Richter) (denjenigen, der die Sache unrechtmäßig besessen hat) zum Zweifachen (des Wertes) verurteilen; hat er sie aber nicht wiederbekommen, dann zum Zweifachen und dazu zur Rückgabe des Streitgegenstandes (epaitia). Er (der Täter) soll aber gebunden werden in den Block mit dem Fuß fünf Tage und ebensoviele Nächte, wenn die Heliaia zusätzlich darauf erkennt. Den Antrag darauf soll stellen, wer will, wenn es um die Feststellung des Wertes (der Sache) geht. F 24 (51) Poll. 8,34: Σόλων μέντοι τὸ κλέμμα κλέπος ἐν τοῖς νόμοις ὠνόμασεν. Übersetzung: Solon aber nannte in den Gesetzen das Diebesgut klepos. F 25 (52) (= F 15 b) Lys. 10,17: … νόμους τοὺς Σόλωνος τοὺς παλαιούς … «ὅστις δὲ ἀπείλλει τῇ θύρᾳ ἔνδον τοῦ κλέπτου ὄντος». τὸ ἀπείλλειν τοῦτο ἀποκλῄειν νομίζεται. App. crit. τοῦ παλαιοῦ Reiske ἀπείλλει(ν) Lipsius: ἀπίλλει(ν) codd. τοῦτο Markland: τὸ codd. ἀποκλείειν codd.
Übersetzung: … die Gesetze Solons, die alten …: „Wenn jemand (den Verfolger) mit der Tür aussperrt, während der Dieb drinnen ist“. (Es folgt die Erklärung des Wortes apeillein durch apokleiein.) Echtheit: F 23 b und 24 sind Glossen aus einer Axonesausgabe. – F 23 c und F 25: Zum Kontext und zur Echtheit: s. F 15 b. – F 23 d ist durch die Glosse von F 23 c und die Glosse sowie das Zitat von F 23 c als solonisch gesichert. – F 23 a wird, was Solon angeht, von F 23 c und d bestätigt.
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Privatdelikte
Textbestand: F 23 d: Das vor πρὸς τοῖς ἐπαιτίοις stehende einheitlich überlieferte δεκαπλασίαν ist aufgrund von F 23 a (duplum), Aristot. probl. 952 A (duplum) und besonders Demosth. or. 24,114 und 115, wo zweimal das duplum in Verbindung mit der Zusatzstrafe steht, seit Heraldus allgemein in διπλασίαν verbessert worden. In den Text von F 23 d ist δεκαπλασίαν wohl aus Demosth. or. 24,112 und 127 gekommen. Dort ist auch von κλοπή die Rede, aber im Zusammenhang mit dem Rechtsverfahren, wo die von einem Exmagistrat begangene Unterschlagung (= κλοπή) mit dem Zehnfachen bestraft wird (s. Aristot. Ath. pol. 54,2). Der Diebstahl durch Fundaneignung bei Plat. leg. 914 B hat außer Betracht zu bleiben: Die Strafe des Zehnfachen gilt einem Sakraldelikt (s. Klingenberg 1988 (1990), 102). Der normale Diebstahl wird bei Plat. leg. 857 A mit dem duplum bestraft. Erklärung: Abgesehen von Sondertatbeständen wie dem Diebstahl im Gymnasium und in den Häfen oder der Unterschlagung durch einen Beamten (κλοπή) unterscheidet das athenische Recht zwischen dem handhaften Diebstahl und dem nichthandhaften Diebstahl, dem Fall, dass jemandem etwas abhanden gekommen ist (F 23 d). Beim handhaften Diebstahl wird im 4. Jh. noch unterschieden zwischen einem Diebstahl, der am Tag, und einem Diebstahl, der in der Nacht verübt worden ist: Den nächtlichen Dieb kann man bei der Verfolgung töten oder verwunden oder zu den Elfmännern abführen. Den am Tage ergriffenen Dieb führt man, wenn die gestohlene Sache über fünfzig Drachmen wert ist, zu den Elfmännern ab. Wenn der Gegriffene keinen Widerspruch einlegt, wird an ihm in beiden Fällen auf der Stelle die Todesstrafe vollstreckt. Bestreitet der Ergriffene die Tat, so bringen die Elfmänner den Fall vor das Volksgericht. (Demosth. or. 24,113; Aristot. Ath. pol. 52,1). Das Handhaftverfahren hat im Laufe der Zeit zumindest zwei Änderungen erfahren: 1) An die Stelle der freien Verfügungsgewalt über Leib und Leben des auf frischer Tat betroffenen Diebes, wie sie im Falle des nächtlichen Diebes noch im 4. Jh. bestand, tritt irgendwann in der Zeit nach Solon die Todesstrafe mit staatlichem Vollzug. 2) Irgendwann ist dann beim Dieb, der am Tage ergriffen worden war, die Todesstrafe auf den Fall beschränkt worden, dass das gestohlene Gut mindestens fünfzig Drachmen wert war. – Die Unterscheidung zwischen Drakon und Solon in F 23 a ist völlig falsch: Gegenüber dem handhaften Dieb gab es auch zur Zeit Solons noch das Tötungsrecht. F 23 d behandelt den nichthandhaften Diebstahl und hat die δίκη εἰς ἐμφανῶν κατάστασιν zur Voraussetzung, ein Verfahren, das sich aus Aristot. Ath. pol. 56,6; Plat. leg. 914 C und 915 C (= P 1 und 2) und Bekker A. G. 246,4 (= B) wie folgt erschließen lässt: Wenn jemand, dem eine Sache (Tier, Sklave oder Gegenstand) abhanden gekommen ist, diese bei jemand anderem findet (B), so beansprucht er diese unter Handanlegung als sein Eigentum (P 2). Räumt der Besitzer ein, die Sache gefunden zu haben und gibt sie, da nach griechischer Vorstellung Fund kein Eigentum begründet (Klingenberg 1988 (1990), 101 ff.), dem Eigentümer zurück
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(F 23 d), dürfte er aus der Haftung entlassen worden sein, und der Fall war erledigt. Ebenso ist es, wenn der Besitzer die Sache gekauft und den Verkäufer als Gewähren genannt hat (ἀνάγειν εἰς τὸν πρατῆρα). Beharrte jedoch der Besitzer oder der Gewähre darauf, selbst Eigentümer der Sache zu sein, dann lud ihn der Eigentümer zur Vorweisung der Sache (εἰς ἐμφανῶν κατάστασιν) vor den Archon (Aristot. Ath. pol., P 1 und B). Dort bekräftigte er sein Eigentum durch einen Eid oder Zeugen. Erfolgte kein Gegenbeweis, so gab der Archon dem Eigentümer den Zugriff auf die strittige Sache frei (ἐπιδικάζειν) (P 1). Kompliziert wurde es erst, wenn Beweis gegen Beweis stand. Dann blieb nur der Prozess mit der δίκη κλοπῆς nach F 23 d. Den engen Zusammenhang der δίκη εἰς ἐμφανῶν κατάστασιν mit der δίκη κλοπῆς in F 23 d (bei beiden handelt es sich um eine abhanden gekommene Sache) hat zuerst Kaser 1944, besonders 148 ff. gesehen, doch ohne eine Erklärung dafür zu haben. Dass es für einen und denselben Tatbestand zwei verschiedene Klagen gab, erweist Aristot. Ath. pol. 56,6 als Trugschluss. Dort ist zwar die Rede von fünf δίκαι, doch handelt es sich nicht um Klagen, sondern um Anträge auf amtliche Zuweisung, nämlich: 1) den Antrag auf Zuspruch einer Erbschaft oder Erbtochter (dazu erhellend H. J. Wolff 1961, 65), 2) den Antrag auf Wahl von Teilern für eine Erbauseinandersetzung, 3) den Antrag (so schon Beauchet 1897 (I), 183) auf Bestellung einer Vormundschaft mit dem Sonderfall, 4) dass der Antragsteller beantragt, selbst zum Vormund bestellt zu werden und schließlich 5) dem Antrag auf Vorweisung einer abhanden gekommenen Sache. In allen diesen Fällen wurde nur der Archon tätig, nicht aber das Gericht. Weiterhin zur δίκη εἰς ἐμφανῶν κατάστασιν Harrison 1968, 207 ff. Einzelerklärung: F 23 b: ἐπαίτια ist nicht die Zusatzstrafe, προστίμημα, sondern, wie schon Reiske anhand von F 23 d gesehen hat, der Streitgegenstand. Ursache der Fehldeutung ist das in F 23 d folgende προστιμᾶν. F 23 d: Auffällig ist die lapidare Kürze im Verein mit den unbestimmten Subjektwechseln. Beachtenswert ist auch die Genauigkeit, die aus der Formulierung „fünf Tage und ebensoviele Nächte“ spricht. Die sog. Unklarheit der solonischen Gesetze (s. AP 9,2 und Plut. Sol. 18,4) ist ein Missverständnis des 4. Jh., das sich aus der Rechtsentwicklung ergeben hat (s. Ruschenbusch 2005, 17 ff., besonders 20 ff.) – Vorausgegangen ist das Vorverfahren, die δίκη εἰς ἐμφανῶν κατάστασιν. – ἐὰν μέν ἀπολάβῃ: Schon aus Beweisgründen ist der Streitgegenstand (ἐπαίτια) beim Prozess präsent, beigebracht entweder vom Kläger, der ihn vom bisherigen Besitzer vor dem Gewährenzug erhalten hat, oder vom Beklagten, der ein originäres Eigentumsrecht behauptet und ihn deshalb nicht herausgegeben hat. – Zu καταδικάζειν = verurteilen s. F 5 a. – Heliaia: Über die Gerichtsorganisation der archaischen Zeit ist mangels zuverlässiger Quellen so gut wie nichts bekannt. Dis-
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kutiert werden zwei Lösungen: a) Die Heliaia ist ursprünglich mit der Volksversammlung identisch und erst später zu einem Gerichtshof geworden. b) Die Heliaia ist, wie auch noch im 5. Jh., ein Volksgerichtshof, eine Körperschaft von unbekannter Größe, möglicherweise mit Richtern in einem Alter von mindestes 30 Jahren (vgl. den Richtereid ap. Demosth. or. 24,149). Im 4. Jh. ist Heliaia nur noch ein Toponym. – Für die Lösung a) könnte sprechen, dass woanders die Volksversammlung (doch auch jede andere Versammlung, so z. B. von Phratrien) Heliaia o. ä. hieß. Unter der Voraussetzung, dass auch die Theten Zugang zur Volksversammlung hatten, wäre unter Berücksichtigung aller Umstände mit 4000 bis 6000 Teilnehmer zu rechnen, etwas viel für eine Körperschaft, bei der die Stimmen gezählt wurden (s. F 45). Eine weitere Konsequenz wäre es, dass zu dem Zeitpunkt, als die Heliaia von einer Volksversammlung zu einem Gerichtshof wurde, man die Bezeichnung Heliaia für den Gerichtshof beibehielt und für die Volksversammlung den Ausdruck Ekklesia prägte. Das Ganze ist wenig wahrscheinlich, so dass alles für die Lösung b) spricht. Nun zur Funktion der Heliaia: Voraussetzung des Prozesses ist es, dass Beweis gegen Beweis steht, dass also das formale Beweisverfahren zur Feststellung der Schuldfrage, die Antomosia, ergebnislos geblieben ist. Um überhaupt noch zu einer Entscheidung zu kommen, bedarf es also der freien Beweiswürdigung durch die Heliaia. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man auch auf folgendem Wege: Abgesehen von der Urteilsverkündung durch den gerichtsleitenden Magistrat, zerfällt die Verhandlung in drei Abschnitte, erstens die Abstimmung der Heliaia über die Schuldfrage, zweitens die Abstimmung über die Höhe des Streitwertes, die sich aus den jeweiligen Angaben des Kläger und Beklagten ergab, und drittens – fakultativ – die Abstimmung über einen möglichen Antrag aus den Reihen der Richter über die Verhängung einer Zusatzstrafe. Die Stellung dieses Antrages war nun eine Ermessensfrage. Er ergibt sich aus einer Würdigung des Frage- und Antwortspiels der Parteien (s. lex ap. Demosth. or. 46,10 und zu F 1–22) und ihrer Beweise. Übrigens fand Solon die freie Beweiswürdigung schon im drakontischen Blutrecht vor (s. F 1–22, besonders F 19 und F 20). Nun zum Tätigungsfeld der Heliaia: Grundsätzlich wurde sie tätig: 1) in allen Prozessen, bei denen die Antomosia, das formale Beweisverfahren, ergebnislos geblieben war, 2) in allen Prozessen, in denen eine Schätzung des Streitgegenstandes stattfand, auch wenn die Schuldfrage schon in der Antomosia geklärt war, 3) in allen Prozessen über Erbschaft, Erbtochter und Vormundschaft und 4) in allen Prozessen, die durch eine der – in solonischer Zeit relativ wenigen – sogenannten Popularklagen (s. dazu F. 40) in Gang gesetzt wurden. Demnach erledigten sich nur – vergleichsweise – wenige Fälle schon in der Antomosia vor dem gerichtsleitenden Magistrat. F 24 und 25 gehören in den Rahmen der Spurfolge, der Verfolgung des flüchtigen Diebes. Plat. leg. 954 A, der auch hier dem Recht Athens folgt (s. Aristoph. Nub. 498 f. mit Schol., Isai. 6,42 und F 25), bestimmt darüber: „Wer das Haus eines anderen auf ein gestohlenes Gut hin durchsuchen will, soll das tun, nackend oder mit einem kurzen Hemd bekleidet und ohne Gurt. Zuvor soll er … schwören, er erwarte, auf jeden Fall das gestohlene Gut im Hause zu finden. Darauf soll ihm der andere das Haus zur Durchsuchung freigeben … Verweigert der andere die Durch-
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suchung, so gehe der Abgewiesene (ἀπειργόμενον) unter Angabe des Wertes der Sache vor Gericht …“ F 24: κλέπος ist Hapax legomenon. Es entstammt wohl Bestimmungen über das Handhaftverfahren. F 25 behandelt die Begünstigung. Zu ἀπείλλειν = ἀπείργειν (Platon) vgl. F 36. Literatur: Das Material bei Lipsius 1905–1915, 399 ff., 438 ff. und 585 ff. Die neuere Literatur zum Diebstahl ist wenig zufriedenstellend. Thür 1999 (2003), 92 ff. ist nicht widerspruchsfrei und missversteht Demosth. or. 24,115. Ein Rückschritt gegenüber dem Erreichten ist Cohen (1983). – Zum handhaften Diebstahl ist noch immer lesenswert Weiß 1921/22, 1 ff., besonders 15 ff. Harris 1993 (1994), 169 ff. ist auf das 4. Jh. fixiert und merkt nicht, dass das Handhaftverfahren eine Entwicklung durchgemacht hat, u. a. darin, dass infolge schleichender Änderungen im Beweisrecht eine handhafte Tat schon bei Offenkundigkeit gegeben war. – Zur Funktion der Heliaia s. Ruschenbusch 2005, 63 ff. und 118–123. Rhodes 1981, 160 ff. ist ein Nachklang überholter Vorstellungen. Sittlichkeitsdelikte F 26 (47) (= T 8) Plut. Sol. 23,l: ἐὰν δ’ ἁρπάσῃ τις ἐλευθέραν γυναῖκα καὶ βιάσηται, ζημίαν ἑκατὸν δραχμὰς ἔταξε. App. crit. ἐλευθέραν: ἀλλοτρίαν Smg«.
Übersetzung: (Solon) setzte als Strafe 100 Drachmen fest, wenn jemand eine freie Frau (mit deren Willen in die Ehe) entführte und mit ihr geschlechtlich verkehrte. F 27 (26) Hesych β 466: βινεῖν· παρὰ Σόλωνι τὸ ((βίᾳ)) μίγνυσθαι· ((τὸ δὲ κατὰ νόμον)) ὀπύειν. Adn. ὀπύειν = heiraten. Zur Fehldeutung s. F 52a, b. – βίᾳ Fehldeutung aus F 52 a, b.
Übersetzung: binein nennt Solon den Geschlechtsverkehr ((aufgrund einer Vergewaltigung)), ((den rechtmäßigen Beischlaf)) nennt er opýein.“ Echtheit: Die Ablösungssumme von 100 Drachmen in F 26 entspricht der solonischen Zeit. Die Strafsätze des 5. und 4. Jh. betragen 500 (selten), 1000 und 10000 Drachmen (s. Ruschenbusch 1966/1983, 37 Anm. 98). F 27 ist Glossem aus den Axones.
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Textbestand und Erklärung: Während F 28 und – seit Solon auch – F 20 das handhafte Sexualdelikt regeln, behandelt F 26 nach herrschender Meinung (Lipsius 1905–1915, 637 ff.; Harrison 1968, 34 f.; Thür, DNP 2 (1997), Sp. 616) den Tatbestand der nichthandhaften Vergewaltigung. Doch gegen diese Auffassung sprechen folgende Überlegungen: Das Gesetz ist nicht wörtlich erhalten, und es ist davon auszugehen, dass der originale Text statt βιάζεσθαι das als „vergewaltigen“ interpretierte βινεῖν geboten hat. Doch βινεῖν bedeutet entgegen der Deutung des Hesych gar nicht „vergewaltigen“, sondern – völlig neutral und sogar auch auf den Ehepartner bezogen – „geschlechtlich verkehren“ (s. nur Aristoph. Lys. 934; 954 f.; Eccl. 228 und 528). Weiterhin umfasst ἁρπάζειν nicht nur die Entführung gegen den Willen der Entführten, also den Raub, sondern auch die Entführung mit dem Willen der Entführten (s. nur Aischyl. Ag. 534; Hdt. 1,2 ff.). Demnach könnte F 26 in der originalen Fassung den Sinn gehabt haben: „wenn jemand eine freie Frau (mit deren Willen) entführt und mit ihr geschlechtlich verkehrt …“ und bezöge sich dann überhaupt nicht auf eine Vergewaltigung, sondern auf eine Entführung, und zwar zur Ehe. Eine Vergewaltigung wird normalerweise am Ort des Überfalls verübt. Da jedoch F 26 stets ein ἁρπάζειν voraussetzt, würde der Normalfall einer Vergewaltigung von F 26 gar nicht erfasst. Es spricht also allein schon das ἁρπάζειν dagegen, dass F 26 die Vergewaltigung zum Inhalt hat. Demnach behandelt F 26 in der Tat die Entführung zur Ehe. Für eine solche Deutung spricht auch noch, dass F 48 b die Existenz „nichtförmlicher Ehen“, wie sie die Entführungsehe und der Pellikat um freier Kinder willen (s. F 20) darstellen, voraussetzt und dass die Entführungsehe in Griechenland nicht ohne Beispiel war. Die Existenz der Entführungsehe ist bei den Germanen, Römern und Griechen hinreichend bezeugt. Hier die Beispiele: Cod. Theod. 9,24,1 und Cod. Iust. 9,13,1 (Rom); Lex Burg. (MGH 8/2,1) XII, 4 (Germanen); Plut. Lyk. 15,4 (Griechen) und als Beispiel Hdt. 6,65,2 (Sparta). Natürlich war es nicht die Entführung, sondern die durch Heimführung und Beilager offenkundig vollzogene Geschlechts- und Lebensgemeinschaft, die den Tatbestand der Ehe begründete. Allerdings ist die Entführungsehe wegen der Störung des Landfriedens und auch wegen der mangelnden Abgrenzung der Entführung vom Raub stets auf Widerstand gestoßen, und so auch in Athen. Indem Solon für die Entführung die verhältnismäßig hohe Ablösungssumme von 100 Drachmen festsetzte und mit F 48 den Kindern aus einer solchen Verbindung die Ebenbürtigkeit absprach, hatte er der Entführungsehe die Existenzgrundlage entzogen. – Die Ablösungssumme ging wohl an den Kläger, d. h. den Kyrios der Entführten. Literatur: Erdmann 1934, 197 ff.; Köstler 1944, 206 ff.; 1947, 43 ff.; für Rom: Evans-Grubbs 1989, 59 ff.; für die Germanen: Köstler 1943, 92 ff.; HRG I, Sp. 815 f. (Mikat), 944 f. (Lieberwirth), 1210 ff. (Erler-Kaufmann).
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F 28 a (46) (= T 8) Plut. Sol. 23,1: … μοιχὸν … ἀνελεῖν τῷ λαβόντι δέδωκεν. Übersetzung: Wenn jemand bei einer Verführung einer Frau (vom Ehemann, Sohn, Bruder oder Vater der betreffenden Frau) gestellt wurde, dann konnte er getötet werden. F 28 b Dig. 48,5,24: Ulpianus libro primo de adulteriis. quod ait lex «in filia adulterum deprehenderit», non otiosum videtur. voluit enim ita demum hanc potestatem patri competere, si in ipsa turpitudine filiam de adulterio deprehendat. Labeo quoque ita probat et Pomponius scripsit in ipsis rebus Veneris deprehensum occidi. et hoc est, quod Solo ((et Draco)) dicunt ἐν ἔργῳ. Adn. An die Bedingung, daß der Täter ἐν ἔργῳ angetroffen sein muß, scheint das Recht zur Tötung erst durch Solon geknüpft worden zu sein. Die Bestimmungen Drakons (F 20) führen keine Beschränkungen an.
Übersetzung: Ulpian im ersten Buch über unerlaubten Geschlechtsverkehr: Wenn das Gesetz sagt: „wenn er bei der Tochter den Verführer ertappt“, dann dürfte das nicht überflüssig sein. Es will nämlich, dass dem Vater dieses Recht (sc. zu töten) dann zukomme, wenn er die Tochter beim unerlaubten Geschlechtsverkehr ertappt. Auch Labeo meint das so, und Pomponius schreibt, dass (nur) derjenige, der beim (unerlaubten) Geschlechtsverkehr auf frischer Tat gestellt worden sei, getötet werden könne. Und das ist es, was bei Solon (und Drakon) „bei der Tat“ heißt. F 28 c (46) Lucian Eun. 10: καὶ μοιχὸς ἐάλω ποτέ, ὡς ὁ ἄξων φησίν, ἄρθρα ἐν ἄρθροις ἔχων. Übersetzung: Und es wurde einmal ein Verführer ertappt „Glied in Glied“, wie es der Axon vorschreibt. F 29 a* (47) Demosth. or. 59,67: νόμον …, ὃς οὐκ ἐᾷ ἐπὶ ταύτῃσι μοιχὸν λαβεῖν, ὁπόσαι ἂν ἐπ’ ἐργαστηρίου καθῶνται ἢ πωλῶνται ἀποπεφασμένως …
App. crit. ταύτῃσι Blass: ταύτης Sr., Harpokr.: ταύταις vulg. λαβεῖν: ἑλεῖν D sed λαβεῖν Dγρ post καθῶνται ἢ add. ἐν τῇ ἀγορᾷ codd., Harpokr. s. ν. πωλῶσι, del. Francke πωλῶνται Heral-
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dus: πωλοῦνται Harpokr. s. v. ἀποπεφασμένως: πωλῶσι τι codd., Harpocrat. s. v. πωλῶσι ἀποπεφασμένως codd., Harpokr. s. v.: πεφασμένως Lys., Plut.
Übersetzung: Ein Gesetz …, das die Festnahme als Verführer bei solchen Frauen ausschließt, die auf dem Bordell sitzen oder offen auf den Strich gehen. F 29 b (48) = F 30 b (= F 15 b) Lys. 10,19: νόμους τοὺς Σόλωνος τούς παλαιούς … «ὅσαι δὲ πεφασμένως πωλοῦνται». … τὸ μὲν πεφασμένως ἐστὶ φανερῶς, πωλεῖσθαι δὲ βαδίζειν. App. crit. τοῦ παλαιοῦ Reiske ὅσοι codd. πολοῦνται C.
Übersetzung: … die Gesetze Solons, die alten …: „Diejenigen, die offen auf den Strich gehen“. (Es folgt die Erklärung von πεφασμένως durch φανερῶς und von πωλεῖσθαι durch βαδίζειν, dazu vgl. auch F 30.) Echtheit: Gesichert durch die Glossen in F 28 b, c und 29. Erklärung: Den in F 20 ungeteilten Tatbestand der Verführung, μοιχεία (moicheía), und Vergewaltigung, βιαίων, spaltet Solon in zwei Tatbestände auf. Für die Verführung legt er fest, dass das Tötungsrecht nur dann gegeben sei, wenn der Kyrios den Täter auf frischer Tat gestellt hatte (F 28 b, c), und auch nur dann, wenn der Täter keinen Einspruch erhoben hatte (Lys. 1,25 und 29), etwa derart, dass die betreffende Frau eine Prostituierte sei (F 29). Bei der Vergewaltigung blieb es ebenfalls beim Tötungsrecht nach F 20 (s. auch Lys. 1,32), und zwar ebenfalls nur, wenn der Täter auf frischer Tat gestellt war (s. Plat. leg 874 C). Einen Unterschied gab es bei der nichthandhaften Tat, wenn z. B. der Kyrios von der geschehenen Tat im nachhinein Kenntnis bekam. Im Falle der Vergewaltigung blieb ihm nur der Gang vor das Gericht. Der Verurteilte wurde dann dem Zugriff des Klägers preisgegeben, allerdings mit der Bestimmung, dass der Verurteilte das Doppelte des festgestellten Schadens als Ablösungssumme zu zahlen habe (Lys. 1,32), wovon die Hälfte der Gemeinde zu zahlen war (Demosth. or. 21,44). Anders bei der Verführung. Dem Kyrios blieb nichts anderes übrig, als den Täter festzusetzen und seine Verwandten zur Auslösung aufzufordern. Möglicherweise kam es darüber zu einem Gerichtsverfahren wegen ungerechtfertigter Festsetzung als Verführer (darüber Ruschenbusch 2005, 107 f., 102 und 92 f.). Einzelerklärung: In F 28 a ist μοιχεία nicht der Ehebruch, sondern die Verführung von Ehefrau, verwitweter Mutter, unverheirateter Schwester oder Tochter, wie aus dem Kommentar zu F 20 durch Aristot. Ath. pol. 57, 3 und F 31 a hervorgeht. – F 28 b: Über den Weg der solonischen Gesetze in das römische Recht (vgl. noch F 60, F 72 und F 76) s. Ruschenbusch 1963, 250 ff. – An die Bedingung, dass der Täter auf frischer Tat angetroffen sein musste, ist das Tötungsrecht erst durch Solon
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geknüpft worden. Die Bestimmungen Drakons in F 20 kennen keine Beschränkung. – ἐν ἔργῳ ist Zitat, während F 28 c ἄρθρα ἐν ἄρθροις: „Glied in Glied“ Konkretisierung des Zitats ist. F 29 a: Auffällig ist der alte Dat. Plur. ταύτῃσι. – Zur Herkunft der Prostituierten s. F 30 a/31 a. – Zum Bordell und zur Straßenprostitution umfassend Herter, JbAC 3, 1960, 77 ff., bes. 87; zu Herter 87 weiterführend Graham 1998, 22 ff. – Zur Festsetzung eines μοῖχος in einem Bordell s. die Klage Hipponax, frg. 67 D³. Literatur: Lipsius 1905–1915, 429 ff. und 632 ff., Harrison 1968, 32 ff.; die letzte ausführliche Behandlung des vieldiskutierten Themas Schmitz 1997, 45 ff. (mit aller Literatur). – Zur solonischen Herkunft der δίκη βιαίων s. F 32. F 30 a (47) (= Τ 8) Plut. Sol. 23,1: κἂν προαγωγεύῃ, δραχμὰς εἴκοσι (scil. ἔταξε), πλὴν ὅσαι πεφασμένως πωλοῦνται, λέγων τάς ἑταίρας· αὗται γὰρ ἐμφανῶς φοιτῶσι πρὸς τοὺς διδόντας. App. crit. πεφασμένω U λέγων Reiske: λέγω δὲ codd.
Übersetzung: Und für den Fall, dass jemand (einen freien Knaben oder eine freie Frau) verkuppelt, bestimmt er (eine Strafe von) zwanzig Drachmen, es sei denn, es handelt sich um Frauen, die offen auf den Strich gehen, d. h. um Hetairen; denn diese gehen offen zu ihren Freiern. F 30 b: Zu Text und Übersetzung s. F 29 b (= F 15 b). F 31 a (27) (= T 8) Plut. Sol. 23,2: ἔτι δ’ οὔτε θυγατέρας πωλεῖν οὖτ’ ἀδελφὰς δίδωσι, πλὴν ἂν μὴ λάβῃ παρθένον ἀνδρὶ συγγεγενημένην. Übersetzung: Weiterhin verbietet er, Töchter und Schwestern (zur Prostitution) zu verkaufen (= vermieten). Eine Ausnahme macht er jedoch, wenn eine noch unverheiratete (Tochter oder Schwester) beim Verkehr mit einem Manne angetroffen worden ist. F 31 b (27) Plut. Sol. 13,4: ἅπας μὲν γὰρ ὁ δῆμος ἦν ὑπόχρεως τῶν πλουσίων· ἢ γὰρ ἐγεώργουν ἐκείνοις ἕκτα τῶν γιγνομένων τελοῦντες, ἑκτημόριοι προσαγορευόμενοι καὶ θῆτες, ἢ χρέα λαμβάνοντες ἐπὶ τοῖς σώμασιν, ἀγώγιμοι τοῖς
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δανείζουσιν ἦσαν οἱ μὲν αὐτοῦ δουλεύσοντες, οἱ δ’ ἐπὶ τὴν ξένην πιπρασκόμενοι (cf. Solonis frg. 24,13 u. 9 D3). πολλοὶ δὲ καὶ παῖδας ἰδίους ἠναγκάζοντο πωλεῖν (οὐδεὶς γὰρ νόμος ἐκώλυε) καὶ τὴν πόλιν φεύγειν διὰ τὴν χαλεπότητα τῶν δανειστῶν (cf. Solonis frg. 24,10 D3). App. crit. ἑκτήμοροι Coraes ἐπὶ τῇ ξένῃ Y. Adn. πολλοὶ … πωλεῖν Verallgemeinerung auf Grund von F 31 a.
Übersetzung: Das ganze Volk war den Reichen verschuldet. Entweder bestellten (die Schuldner) ihre Ländereien und mussten als sogenannte Hektemoroi oder Theten ein Sechstel des Ertrages abliefern oder sie waren, weil sie Geld auf den Leib geliehen hatten, dem Zugriff der Gläubiger ausgesetzt, mit dem Erfolg, dass die einen in Attika versklavt und die anderen in die Fremde verkauft waren. Viele waren sogar gezwungen, die eigenen Kinder zu verkaufen (denn kein Gesetz verbot das) und vor der Härte der Gläubiger außer Landes zu gehen. Echtheit: In F 30 a ist sie gesichert durch die niedrige Ablösungssumme von 20 Drachmen und die Glosse F 30 b. – F 30 b: s. zu F 15 b. – F 31 a: s. zu F 31 b. – F 31 b: Der ganze Bericht (vgl. Aristot. Ath. pol. 2,2) beruht auf authentischem Material, einer recht getreuen Paraphrase von Solon frg. 30,9–14, vgl. auch frg. 3,23 ff. G.-P., und einer weniger guten Interpretation der Gesetze F 67, F 69 und F 31 a. Ausblick: Das Gesetz über Kuppelei mit dem Anfang: „wenn jemand einen freien Knaben oder eine freie Frau verkuppelt“ ist im Laufe der Zeit abgeändert worden. An die Stelle der Ablösungssumme von 20 Drachmen ist nach Aischin. 1,164 die Todesstrafe getreten. Weiterhin sind die Bestimmungen über das Verkuppeln freier Knaben völlig neu gefasst worden (s. Aischin. 1,13). Erklärung: Kuppelei ist die Vermietung von freien Knaben und Frauen zum Geschlechtsverkehr. Doch während die Vermietung von Prostituierten (und Strichjungen) durch den Bordellbetreiber nicht interessiert (s. F 30 a), wird der Fall zur Straftat, wenn freie Personen der eigenen Familie zur Prostitution feilgeboten werden, wenn also Vater, Bruder, Onkel, Vormund oder sonst ein Kyrios der Täter ist (Aischin. 1,13). Und weil das Opfer nicht rechtsfähig ist, war die Klage wegen Kuppelei von Solon als sogenannte Popularklage ausgestaltet worden (Aischin. 1,184 und 1,13); zum Grundgedanken der Popularklage s. F 40. – Die 20 Drachmen dürften logischerweise an den Staat gefallen sein. Einzelerklärung: In F 30 handelt es sich bei den Prostituierten, wenigstens zum Teil, um freie Frauen (s. F 31). – F 31: πωλεῖν, und sein Gegenstück ὠνεῖσθαι, bedeutet ursprünglich nicht nur verkaufen (kaufen), sondern auch vermieten/verpachten (mieten/pachten). Erhalten hat sich die altertümliche Bedeutung bei den Poletai, die die Bergwerkskonzessionen und die Steuerpacht nicht verkauften, sondern verpachteten (Aristot. Ath. pol. 47,2; vgl. And. 1,133 f. und Aischin. 1,119). Konsequenterweise ist in der Neufassung des Gesetzes über die Vermietung von Knaben der neuere Ausdruck μισθοῦν = vermieten verwendet. Denn es handelt
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sich nicht um das Verkaufen von Kindern, sondern um das Feilhalten als Prostituierte und Strichjungen. – Die Vermietung von Kindern und Schwestern zum Geschlechtsverkehr verweist auf die extreme Notlage der Kleinbauern. Verbalinjurien F 32 a (54) Plut. Sol. 2l,l: ἐπαινεῖται δὲ τοῦ Σόλωνος καὶ ὁ κωλύων νόμος τὸν τεθνηκότα κακῶς ἀγορεύειν. καὶ γὰρ ὅσιον τοὺς μεθεστῶτας ἱεροὺς νομίζειν, καὶ δίκαιον ἀπέχεσθαι τῶν οὐχ ὑπαρχόντων, καὶ πολιτικὸν ἀφαιρεῖν τῆς ἔχθρας τὸ ἀίδιον. ζῶντα δὲ κακῶς λέγειν ἐκώλυσε πρὸς ἱεροῖς καὶ δικαστηρίοις καὶ ἀρχείοις καὶ θεωρίας οὔσης ἀγώνων, ἢ τρεῖς δραχμὰς τῷ ἰδιώτῃ, δύο δ’ἄλλας ἀποτίνειν εἰς τὸ δημόσιον ἔταξε. App. crit. τὸν τεθνηκότα Y: τοὺς τεθνηκότας S τὸ ἴδιον U1. Adn. Zum Wortlaut der Strafklausel cf. F 33 b, F 36, F 56.
Übersetzung: Beifall findet auch das Gesetz Solons, das es verbietet, dem Toten Übles nachzureden. Denn es ist fromm, die Toten zu achten, gerecht, von Abwesenden abzulassen, und der Gemeinschaft dienlich, der Feindschaft ein Ende zu setzen (= F 33 a). Einem Lebenden Übles nachzureden, verbot er an Heiligtümern, Gerichten, Amtshäusern und bei Festspielen. Für den Übertretungsfall setzte er eine Zahlung von drei Drachmen an den Geschädigten fest und von zwei weiteren an den Staat. F 32 b* Lys. 10,6–12: ἴσως τοίνυν, ὦ ἄνδρες δικασταί, περὶ τούτων μὲν οὐδὲν ἀπολογήσεται, ἐρεῖ δὲ πρὸς ὑμᾶς, ἅπερ ἐτόλμα λέγειν καὶ πρὸς τῷ διαιτητῇ, ὡς οὐκ ἔστι τῶν ἀπορρήτων, ἐάν τις είπῃ «τὸν πατέρα ἀπεκτονέναι»· τὸν γὰρ νόμον οὐ ταῦτ’ ἀπαγορεύειν, ἀλλ’ «ἀνδροφόνον» οὐκ ἐᾶν λέγειν. (7) ἐγὼ δὲ οἶμαι ὑμᾶς, ὦ ἄνδρες δικασταί, οὐ περὶ τῶν ὀνομάτων διαφέρεσθαι ἀλλὰ τῆς τούτων διανοίας … (8) οὐ γὰρ δήπου, ὦ Θεόμνηστε, εἰ μέν τίς σε εἴποι «πατραλοίαν ἢ μητραλοίαν» ἠξίους ἂν αὐτὸν ὀφλεῖν σοι δίκην, εἰ δέ τις εἴποι «ὡς τὴν τεκοῦσαν ἢ τὸν φύσαντα ἔτυπτες», ᾤου ἂν αὐτὸν ἀζήμιον δεῖν εἶναι, ὡς οὐδὲν τῶν ἀπορρήτων εἰρηκότα. (9) ἡδέως δ’ ἄν σου πυθοίμην …, εἴ τίς σε εἴποι «ῥῖψαι τὴν ἀσπίδα», ἐν δὲ τῷ νόμῳ εἴρηται «ἐάν τις φάσκῃ ἀποβεβληκέναι, ὑπόδικον εἶναι», οὐκ ἂν ἐδικάζου αὐτῷ, ἀλλ’ ἐξήρκει ἄν σοι ἐρριφέναι τὴν ἀσπίδα λέγοντι οὐδέν σοι μέλειν; οὐδὲ γὰρ τὸ αὐτό ἐστι ῥῖψαι καὶ ἀποβεβληκέναι … (12) καὶ αὐτὸς μὲν Λυσιθέῳ κακηγορίας ἐδικάσω εἰπόντι σε ἐρριφέναι τὴν ἀσπίδα. καίτοι περὶ μὲν τοῦ ῥῖψαι οὐδὲν τῷ νόμῳ εἴρηται, ἐὰν δέ τις εἴπῃ ἀποβεβληκέναι τὴν ἀσπίδα, πεντακοσίας δραχμὰς ὀφείλειν κελεύει.
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App. crit. τῷ διαιτητῇ Müller: τὸν διαιτητὴν codd. Frohberger τίς σε εἴπῃ codd. δ’ ἂν Frohberger: γὰρ ἂν codd. εἴρηται Dobree: εἴρητο codd. μέλειν Stephanus: μέλλει Χ: μέλει C ἐστι: εἶναι Cobet Λυσιθέῳ Frohberger: Θέωνι codd. εἱπόντι σε Taylor: ειπε τις σε Χ: ὅτι σε εἶπεν C Markland. Adn. Zur Zeit des Lysias betrug der Geldsatz das Hundertfache vom solonischen. Vgl. F 32 a mit F 33 b.
Übersetzung: Vielleicht, ihr Richter, lässt er sich bei der Verteidigung gar nicht darauf ein, sondern wird zu euch sagen, was er auch schon beim Schiedsrichter zu sagen wagte, dass der Vorwurf, „den Vater getötet zu haben“, gar nicht unter das Gesetz über die üble Nachrede (ἀπόρρητα) falle, da dieses Gesetz lediglich den Gebrauch des Wortes „Blutschuldiger“ (ἀνδρόφονος) verbiete. Ich hingegen glaube, dass man sich nicht um Wörter streiten soll, sondern um ihren Inhalt … Natürlich würdest du, Theomnestos, Genugtuung fordern, wenn jemand dich Vaterprügler oder Mutterprügler (πατραλοίας bzw. ματραλοίας) nennt, wenn er aber sagt, dass du „diejenige, die dich geboren, oder denjenigen, der dich gezeugt hat, geschlagen hast“, dann müsste er nach deiner Meinung natürlich straflos bleiben, da er ja nicht gegen das Gesetz über die üble Nachrede verstoßen hat. Gern möchte ich von dir auch wissen …, wenn jemand dir vorwirft, „den Schild weggeschmissen (ῥῖψαι) zu haben“, dann würdest du doch wohl nicht gegen ihn prozessieren, da es ja im Gesetz heißt: „wenn jemand einem vorwirft, den Schild weggeworfen (ἀποβεβληκέναι) zu haben, dann macht er sich strafbar“. Da er jedoch nur vom ‚Wegschmeißen’ gesprochen hat, geht dich die Sache nicht an, und so unternimmst du nichts. Denn „wegschmeißen“ und „wegwerfen“ ist ja auch nicht dasselbe … Selbst aber hast du (kürzlich) mit diesem Gesetz gegen Lysitheos geklagt, weil er dir vorgeworfen hatte, „den Schild weggeschmissen zu haben“. Und doch ist im Gesetz von „wegschmeißen“ nicht die Rede, sondern es heißt: „wenn jemand einem vorwirft, den Schild weggeworfen zu haben, soll er fünfhundert Drachmen schuldig sein“. Echtheit: ist bezeugt durch den niedrigen Strafsatz im Vergleich zu dem des 4. Jh. Die Ablösungssumme beträgt bei einem Lebenden bei einem Verstorbenen
zur Zeit Solons 5 Dr. = 3+2 (5 Dr. = 3+2)
und im 4. Jh.: 500 Dr. (300+200) 500 Dr. = 300+200.
Einzelerklärung: F 32 ἀγορεύειν = öffentlich reden (s. nur Aristoph. Ach. 45 und Demosth. or. 18,170). – Welche Festspiele gemeint sind, ist unbekannt. – Ein zwischen dem Kläger und der Öffentlichkeit geteilter Strafanspruch findet sich unseres Wissens nur bei vier Klagen: Außer bei den als solonisch bezeugten Klagen κακηγορίας = üble Nachrede (F 32) und wegen Hinderung des gerichtlich festgestellten Zugriffsrecht auf Sachen = ἐξουλῆς (F 32) bei der Klage wegen widerrechtlicher Hinderung des Zugriffs auf die Person = ἀφαιρέσεως εἰς ἐλευθερίαν (Demosth. or. 58,21) – dazu Ruschenbusch 2005, 90 ff. – und wegen Gewalttat = βιαίων (Demosth. or. 21,44). Beide Klagen sind mit Sicherheit solonisch: Die Klage ἀφαιρέσεως ist das zwingend erforderliche Gegenstück zur Klage ἐξουλῆς;
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die Gewalttat im doppelten Sinne von Raub und Vergewaltigung – leider nur im Falle der handhaften Tat – findet in F 19 und F 28/29 Berücksichtigung; eine Regelung des Falles der nichthandhaften Tat ist vorauszusetzen. Die Strafklausel hat – nach Demosth. or. 21,44 und 58,21 – wie bei F 36 gelautet. Trotz des öffentlichen Strafanspruchs sind alle vier Klagen Privatstrafklagen und keine sogenannten Popularklagen (s. zu F 40). Der Grund für den Strafanspruch der Öffentlichkeit ist bei den Klagen κακηγορίας, ἐξουλῆς und ἀφαιρέσεως evident: Durch die Verletzung der Hegung bestimmter Stätten bzw. durch Nichtachtung des Gerichtsurteils ist das öffentliche Interesse durch das Verhalten des Beklagten verletzt. Bei der Klage βιαίων dürfte der Grund in der Schwere der Straftat zu suchen sein. – F 32 b: In lex ap. Demosth. or. 24, 105 = F [111] heißt es: „wenn einer arrestiert ist wegen Misshandlung der Eltern oder Verweigerung des Kriegsdienstes oder nach der Ankündigung, sich von den gehegten Stätten fernzuhalten, dorthin geht, wohin er nicht darf …“. Demnach ist ἀνδρόφονος nicht der verurteilte Täter, sondern der einer Bluttat Beschuldigte, der durch die Prorrhesis (s. F 5 und 14) von allen gehegten Stätten ausgeschlossen ist = εἴργεσθαι τῶν νομίμων (Ant. 6,34–36). Πατρα-/μητραλοίας und ῥίψασπις (s. Aristoph. Nub. 353) sind nicht konkret zu verstehen, sondern sind Sammelbegriffe für die Tatbestände κακώσεως γονέων mit a) Misshandlung, b) Nichtgewährung von Unterhalt und c) Nichtvollzug des Totenkults sowie Wehrvergehen mit a) Feigheit vor dem Feinde (Flucht und Schildwegwerfen) und b) Entziehung vom Kriegsdienst (s. F 74 a und Lipsius 1905–1915, 343 f. bzw. 452 ff.). Übrigens hat es außer den F 32 b genannten ἀπόρρητα keine weiteren gegeben (Nachweise s. unter Literatur). Erklärung: Das deutsche Strafgesetzbuch bedroht mit Strafe die Tatbestände Beleidigung (StGB § 185), üble Nachrede (§ 186) und Verleumdung (§ 187). Bei der Beleidigung nach § 185 handelt es sich in der Regel – von Sonderfällen wie unsittlichem Berühren oder Eierwerfen abgesehen – um Beschimpfungen wie „Du Idiot“, „Du Arschloch“. Diese werden normalerweise entweder nicht beachtet oder mit einer Entschuldigung außergerichtlich beigelegt, während es bei den anderen zwei Tatbeständen im Allgemeinen zum Prozess kommt. Die moderne Forschung (s. nur Lipsius 1905–1915, 646 ff. und jetzt noch MacDowell 1978, 128 und Wallace 1993 (1994), 115 ff.) bestimmt als Beleidigung entweder den an gehegten Stätten vorgebrachten Vorwurf jeglichen Inhalts oder die Schmähung durch ein ἀπόρρητον ohne Ansehung des Ortes. Wenn sie also zwei verschiedene Tatbestände der Beleidigung annimmt, dann, weil F 32 b lediglich berichtet, dass der Gebrauch von ἀπόρρητα, und F 32 a, dass die κακηγορία an gehegten Stätten strafbar sei. Auffällig ist, dass es der kasuistischen Auflistung im Gesetz nach nur relativ wenige, und zwar, wie schon oben gesagt, nur die von F 32 b genannten drei Tatbestände gab, die zur Erhebung einer Klage κακηγορίας berechtigten. Demnach hat es in Athen keine Klage wegen Verletzung des guten Rufes, d. h. zum Schutz der Ehre gegeben. Anders als in der Moderne blieb die Beleidigung im Sinne einer bloßen Beschimpfung – mit Ausnahme der Beschimpfung eines Magistrats (Lys. 9,6) – vom Gesetz her straflos. Bestraft wurde nur die κακηγορία. Sogar vor Gerichten
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und damit auch in Amtshäusern, Heiligtümern und bei Festspielen war die Beleidigung nicht strafbar, wie die Tatsache beweist, dass vor Gericht Beschimpfungen wie „bestechlicher Kerl“, „auf frischer Tat ertappter Dieb“, „Verräter“, „Biest“, „verfluchter Betrüger“, „verächtlicher Skythe“ durchaus üblich waren (vgl. nur Deinarch. 1 (gegen Demosthenes), 10; 15; 28; 41; 71 und 92). Damit aber stellt sich die Frage, welche Vorwürfe es denn waren, deren Gebrauch vor Gericht und den anderen gehegten Stätten unter Strafe gestellt war, und hier zeigt sich, dass die einzigen strafbaren Vorwürfe, die das athenische Recht überhaupt kannte, die sogenannten ἀπόρρητα waren. So ist es nach Isokr. 20,3 und Lys. 10,2; 12; 23 f.; 31 der Gebrauch dieser Vorwürfe, die zu einer Klage κακηγορίας berechtigten, und so klagt der Sprecher von Lys. 10 gegen Themnestos, weil dieser ihm vor Gericht mit einem ἀπόρρητον Mord am eigenen Vater vorgeworfen habe, und so sagt Demosth. or. 18,123, die Vorfahren hätten die Gerichte nicht deshalb geschaffen, damit man sich an ihnen gegenseitig der ἀπόρρητα beschuldigt. Das Gesetz über κακηγορία ist uns in seinen Grundzügen bekannt. Es lautet etwa: „Wenn jemand gegen einen unwahre Vorwürfe (Demosth. or. 23,50) erhebt in Heiligtümern, Gerichten, Amtshäusern und während Festspielen (F 32 a), indem er ihn Blutschuldigen nennt, Vater- oder Mutterprügler oder dass er den Schild weggeworfen habe (F 32 b), schuldet er fünf Drachmen, zwei der Gemeinde, die drei anderen dem betreffenden Privatmann“ (F 32 a, b; 33; Lys. 10,2; Isokr. 20,3; vgl. F 36). War jemand einer Blutschuld bezichtigt, so forderten ihn die Angehörigen des Getöteten mit der Prorrhesis auf, sich als blutbefleckt bis zum Prozess des Besuchs gehegter Stätten zu enthalten. Im Fall der Übertretung des Verbots machte er sich des Bannbruchs schuldig. Was ihn dann in archaischer Zeit erwartete, lassen zwei spätere Gesetze ahnen. Es heißt bei Demosth. or. 59,66: „Man soll mit ihm vor Gericht nach Belieben verfahren, jedoch ohne den Dolch zu gebrauchen“, und in lex ap. Demosth. or. 59,87: „Wenn sie (gegen das Verbot) ein Heiligtum betritt, so soll sie bußlos = νηπονεί alles Beliebige erleiden, (mit der Einschränkung) doch ohne Tod“. In Weiterbildung dieser drakontischen Regelung schuf Solon eine Art gemilderter Atimie, die Strafe des Ausschlusses von gehegten Stätten, und zwar für die zwei Tatbestände Misshandlung der Eltern und Wehrvergehen. Wenn nun nur die an gehegter Stätte öffentlich geäußerten ἀπόρρητα im Falle ihrer Unwahrheit unter Strafe gestellt wurden, dann, weil damit der Vorwurf des Bannbruchs und eine Gefährdung von Leib und Leben des Geschmähten verbunden war. Nicht anders als in Athen ist es im frühen Rom: Die Injurienklage der Zwölftafeln (VIII 1–4) handelt nur de famosis carminibus, membris ruptis et ossibus fractis (Paul. sent. 5, 4,6). Die bloße Beschimpfung blieb also straflos, und das, wenn nicht rechtlich, so doch auf jeden Fall faktisch, auch noch am Ende der Republik. Auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit galt die Beschimpfung als Bagatelle. Zum Straftatbestand ist sie erst 1871 mit dem StGB geworden. Übrigens wurde, jedenfalls nach F 33 b zu urteilen, die Klage abgewiesen, wenn der Kläger mit den Schmähungen begonnen hatte.
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Literatur: Zu F 32 a, b vgl. Ruschenbusch 2005, 86 f., zum Ausschluss von gehegten Stätten 82 und 84 f. Zur Scheidung von Beschimpfung (λοιδορία) und κακηγορία s. Lipsius 1905–1915, 649. F 33 a (54) (= F 32 a) Plut. Sol. 2l,l: ὁ κωλύων νόμος τὸν τεθνηκότα κακῶς ἀγορεύειν … App. crit. τὸν τεθνηκότα Y: τοὺς τεθνηκότας S.
Übersetzung: … das Gesetz Solons, das es verbietet, dem Toten Übles nachzureden. F 33 b* Lex. Cantabr. 671,7: κακηγορίας δίκη· ἐάν τις κακῶς εἴπῃ τινὰ τῶν κατοιχομένων κἂν ὑπὸ τῶν ἐκείνου παίδων ἀκούσῃ κακῶς, πεντακοσίας καταδικασθεὶς ὦφλε, τῷ δημοσίῳ , τριακοσίας δὲ τῷ ἰδιώτῃ. Ὑπερείδης δὲ ἐν τῷ κατὰ Δωροθέου (frg. 100 Je.) χιλίας μὲν ζημιοῦσθαι, τοὺς κατοιχομένους, φησί, πεντακοσίας δέ, τοὺς ζῶντας.
App. crit. Lipsius τριακοσίας Hermann: τριάκοντα cod. Sauppe. Adn. Zum Wortlaut der Strafklausel cf. F 32a, F 36, F 56. Der oben angeführte Geldsatz des 4. Jhs. beträgt das Hundertfache vom solonischen. Vgl. F 32 a. Zum Gesetz vgl. F 118.
Übersetzung: Klage wegen übler Nachrede: Wenn jemand einem Verstorbenen Übles nachredet, dann soll er, auch wenn ihm Gleiches von dessen Söhnen widerfahren ist, zu 500 Drachmen verurteilt werden, 200 an die Öffentlichkeit und 300 an den Geschädigten. Hypereides aber sagt in der Rede gegen Dorotheos, man sei mit 1000 Drachmen bestraft worden im Falle eines Toten und mit 500 im Falle eines Lebenden. Echtheit: Zur Strafklausel (und damit zur Echtheit) s. zur Echtheit von F 32 a, b. Einzelerklärung: Dem Strafanspruch der Öffentlichkeit nach zu urteilen (s. Einzelerklärung zu F 32 a), ist anzunehmen, dass nur die Schmähung an gehegten Stätten bestraft wurde. – Im Unterschied zur normalen Regelung, wonach derjenige, der mit dem Streit begonnen hatte, die Konsequenzen dessen zu tragen hatte, wurde hier der Beklagte auch dann bestraft, wenn der Kläger den Streit provoziert hatte: s. F 19 und Lipsius 1905–1915, 645 zur Klage αἰκείας. – Die abweichende Angabe in Hyp. frg. 100 muss angesichts der Exaktheit der Strafklausel falsch sein. Da der gesamte Wortlaut und der Kontext unbekannt sind, lässt sie sich nicht erklären. – Weitere Belege F [118 a–c], die u. a. zeigen, dass die Informationen von F 33 b nicht aus den Rednern stammen, sondern aus einem Gesetzestext.
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Erklärung: Da in Athen, wie bei F 32 gezeigt worden ist, die Vorstellung vom Schutz des guten Rufs, vom Schutz der Ehre völlig fremd war, und da eine Schmähung durch eines der in F 32 genannten ἀπόρρητα nicht „geschadet“ hätte, muss es sich bei der Schmähung des Verstorbenen um etwas Besonderes gehandelt haben, vielleicht um eine Verwünschung, Verfluchung, vergleichbar dem malum carmen der Zwölftafeln (VIII 1, dazu DNP 8 (2000), Sp. 1090). Mangels Information non liquet. Literatur : Lipsius 1905–1915, 646 ff., dessen Grundpositionen unrichtig sind (s. zu F 32). Schadensklagen F 34 a Lys 10,19: Text und Übersetzung s. F 15 b F 34 b (neu) Ammon. (ed. Nickau) Nr. 345 s. v. οἴκευς: Παρὰ δὲ Σόλωνι ἐν τοῖς ἄξοσιν οἰκεὺς κέκληται ὁ οἰκότριψ.
App. crit.: σόλωνι Μπ: αόλονι Ald BC: στήλωνι η || 6 ἄζωσιν β: ἄξοσιν edd. inde a Steph. recte | οἰκεὺς β: οἰκέτης coni. Va., sed cf. Solon. ap. Lys. or. 10, 19 — 20.
Übersetzung: Bei Solon in den Axones heißt der im Haus geborene Sklave oikeus. F 35 (56) Plut. Sol. 24,3: ἔγραψε δὲ καὶ βλάβης τετραπόδων νόμον, ἐν ᾧ καὶ κύνα δάκνοντα παραδοῦναι κελεύει κλοιῷ τριπήχει δεδεμένον.
App. crit. δάκνοντα S: δακόντα Y et s. s. S. Adn. Annähernd wörtlich; vgl. Xen. Hell. 2,4,41 ὥσπερ τοὺς δάκνοντας κύνας κλοιῷ δήσαντες παραδιδόασιν οὕτω …
Übersetzung: Es gab auch ein Gesetz über Tierschaden, in dem er festlegt, dass man den Hund, der gebissen hat, ausliefern soll, gebunden an einer drei Ellen (= 1,46 m) langen Fessel. Echtheit: Wie alle Gesetzeszitate bei Lys. 10,15 ff. (s. F 15) stammt auch F 34 a aus den Axones. Als neuer Beleg tritt jetzt F 34 b mit einer Glosse hinzu. Zur Herkunft des von Plut. z. T. wörtlich zitierten F 35 aus den Axones s. Adn. zu F 35 und Ruschenbusch 1966/1983, 46 f.
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Erklärung: Bei Hyp. 5,22 (= F [119] heißt es: „Für die Schäden, die die Sklaven anrichten, und die Unrechtstaten (lies mit Jensen ἀ[δικήμ]ατα) soll der Herr des Sklaven aufkommen.“ Der Herr haftete also für Schäden und Unrechtstaten der Gewaltunterworfenen. Bei Plat. leg. 936 C–E heißt es: „Richtet ein Sklave oder eine Sklavin an fremdem Gut Schaden an, so soll der Herr … den Schaden ersetzen oder den Sklaven an den Geschädigten ausliefern. Und wenn ein Zugtier, Pferd, Hund oder ein anderes Haustier beim Nachbarn Schaden anrichtet, so soll man den Schaden wie vorstehend regeln.“ Demnach bilden beide Regelungen ein Ganzes, so dass F 34 und F 35 zusammengehören. Weiterhin heißt es bei Platon (879 A): „Wenn ein Sklave einen Freien im Affekt verwundet, soll der Herr den Sklaven dem Verwundeten auf Gnade und Ungnade ausliefern; anderenfalls begleiche er selbst den Schaden.“ Demnach steht bei Platon, der in aller Regel athenischem Recht folgt (s. Ruschenbusch 2001, 7 f.), der Herr vor der Alternative, entweder den Sklaven an den Geschädigten auszuliefern oder selbst für den Schaden aufzukommen. In Syll.³ 3, 736,77 heißt es: „Es soll der Herr den Sklaven (oikétes) dem Geschädigten zur Abarbeitung (des Schadens) ausliefern, anderenfalls zahle er das Doppelte.“ Dieselbe Regelung hat schon Lipsius 1905–1915, 660 f. für Athen postuliert, und jetzt liegt dafür in F 34 a ein Beleg vor. Es heißt dort: „Für den Schaden, den ein Gewaltunterworfener anrichtet, ist auch Zahlung des Doppelten erlaubt.“ Textkritik: F 34: Da der Schaden im athenischen Recht in der Regel mit der Zahlung des Doppelten wiedergutzumachen war (Belege bei Lipsius 1905–1915, 654 A. 66), hat man δούλην zu διπλῆν verbessert (s. App. crit.). Aber noch eine Korrektur ist nötig, um einen befriedigenden Text herzustellen: das καί gehört, statt vor, hinter βλάβης. Die Konjektur οἰκῆος καὶ δούλης verbindet Unpassendes miteinander und würde ein noch fehlendes Akkusativobjekt erfordern (s. App. crit.). Einzelerklärung: βλάβη umfasst Schädigungen aller Art, z. B. auch Verletzung durch den Biss eines Hundes. Daneben war die Schädigung in einer Reihe von Gesetzen geregelt (Mummenthey 1971, 1 ff.). – οἰκεύς ist der Gewaltunterworfene (s. LSJ s. v.). – F 35 spricht nur von der Auslieferung, nicht von der Alternative des Schadenersatzes. Ausblick: Zu vergleichen ist die römische noxae deditio (erste Orientierung in DNP 8 (2000), Sp. 1037 und 1038 f.). Literatur: Lipsius 1905–1915, 652 ff.; Mummenthey 1971.
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Hinderung des gerichtlich festgestellten Zugriffsrecht auf Sachen F 36 a (53) Schol. Gen. Hom. Il. 21,282: (ἐρχθέντ’ ἐν μεγάλῳ) Κράτης «εἰλθέντ’ ἐν μεγάλῳ»· εἴλλειν γάρ φησιν εἶναι τὸ εἴργειν, ὥστε τὴν τῆς κωλύσεως δίκην ἐξουλῆς καλεῖσθαι· καὶ παρατίθεται Σόλωνος ἐν ε ἄξονι « ἐξουλῆς· ἐάν τις ἐξείλλῃ, ὧν ἄν τις δίκην νικήσῃ, ὁπόσου ἂν ἄξιον ᾗ, εἰς δημόσιον ὀφείλειν καὶ τῷ ἰδιώτῃ ἑκατέρῳ ἴσον.»
App. crit. εἴλλειν Lipsius: ἰαλειν cod. ἐννεάξονι cod. ἐάν τις – ὁπόσου post δίκην ἐξουλῆς habet cod. ἐξείλλῃ, ὧν ἄν τις: εξηλματωναντὶ cod. δικην νικήσῃ: δικανικης ᾖ cod. ὀφείλειν: ὀφλανῆ cod. ἑκατέρῳ ἴσον: ἑκάτερος cod.
Übersetzung: (erchthent’ en megaloi = eingeschlossen im großen) Krates: eilthent’ en megaloi. Denn eillein ist nach ihm dasselbe wie eirgein, weshalb man auch die Klage wegen Behinderung (des Zugriffsrechts) exoules nannte. Und als Beleg führt er ein Gesetz Solons aus dem 5. Axon an: „exoules: wenn jemand (einen) am Zugriff auf das hindert, was er vor Gericht erstritten hat, dann soll er dessen Wert dem Staate schulden und dem Geschädigten, jedem gleich.“ F 36 b (53) P. Ox. II 221 (Schol. Hom. Il.) col. 14,11 (ad 21,282 ἐχθέντ’ ἐν μεγάλῳ): Κράτης [δὲ «εἰλθέ]ντα», ἵν’ ᾖ ἐρχθέντα· καὶ τὴν [ἐξουλῆς] δίκην ἐντεῦθεν· ἐπιτίθη[σι δὲ καὶ Σ]όλωνος ἐκ ε ἄξονος « ἐξου[λῆς· ἐάν τι]ς ἐξείλλῃ, ᾧν ἄν δίκην [νικήσῃ, ὁπόσ]ου ἂν ἄκιον ᾖ, εἰς δημόσι[ον ὀφείλε]ιν καὶ τῷ ἰδιώτῃ, ἑκατέρῳ [ἴσον». Lemma] App. crit. ἐπιτίθησι Ru. ἐκτίθησι P ἐξείλλῃ: ἐξειιλλπι P cf. F 36a ὁπόσου cf. F 36a: ὅσ]ου P ὀφείλειν Ru. ὀφε]ῖν P.
Der Gestzestext ist mit dem von F 36 a identisch. Echtheit: F 36 stammt aus den Axones. Einzelerklärung: Zu Krates, der über eine kommentierte Ausgabe der Axones verfügt hat, wohl die des Asklepiades (von Myrlea) s. T. 2 und 3 sowie Ruschenbusch 1966/1983, 50 Anm. 135. – εἴλλειν mit seinen Komposita ἀπ-/ἐξ- ist laut F 15 b schon um 400 v. Chr. erklärungsbedürftig. Es findet sich noch bei Demosth. or. 37,35 im Bergbaugesetz: „wenn jemand einen an der Arbeit hindert“. – ἐξουλῆς ist Titel wie in F 70 ἀτίμων. – Wie in der archaischen Gesetzessprache üblich, fehlt bei ἐξείλλει, da es selbstverständlich ist, das personale Objekt τινα; vgl. F 20 und F 25. – Soweit ein Gegenstand nicht, wie in Gortyn (I Cret. IV 75), gesetzlich vom Zugriff ausgenommen ist, ist Gegenstand des Zugriffs jede bewegliche oder unbe-
Hinderung des gerichtlich festgestellten Zugriffsrecht auf Sachen
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wegliche Sache, die dem Kläger im vorhergehenden Prozess zugesprochen worden ist wie z. B. eine Erbschaft nach F 50 b oder eine gestohlene Sache nach F 23 d oder eine Ablösungssumme (vulgo Geldstrafe) oder Geld aus einem Darlehen. – Die Ablösungssumme beträgt das Doppelte vom Wert der dem Kläger im vorhergehenden Prozess zugesprochenen Sache, geteilt zwischen dem Kläger und dem Staat (s. Harpokr. E 72), wobei der Anspruch des Klägers auf die im vorhergehenden Prozess zugesprochene Sache unverändert weiterbesteht. – Zum geteilten Strafanspruch s. zu F 32. – Zum ergänzten ἴσον s. Demosth. or. 21,44 und 58,21. Erklärung: In der Regel lautete im Prozess das Urteil (δίκη) auf Zahlung einer Geldstrafe. Aber, wie allein schon die Formel: πρᾶξιν εἶναι καθάπερ ἐκ δίκης (Demosth. or. 35,12; IG II² 1241) lehrt, ging in Wirklichkeit das Urteil auf die πρᾶξις, d. h. auf den Zugriff, wobei die sogenannte Geldstrafe nur eine Ablösungssumme war, mit der der Zugriff abgewendet wurde. Bei allen Klagen richtete sich zur Zeit Solons (und auch noch nachher) der Zugriff auf die Person der Beklagten. Und wenn jemand den Zugriff durch die Befreiung des Ergriffenen hinderte, so stand dem am Zugriff gehinderten Kläger die Klage ἀφαιρέσως εἰς ἐλευθερίαν zur Verfügung (s. F 32). Um die Probleme zu lösen, die sich aus der allgemeinen Verschuldung der Kleinbauern ergaben (s. F 70), hat Solon folgende Regelung getroffen: Anders als bei allen anderen Klagen, bei denen die Ablösungssumme in der Regel das Doppelte betrug, ging die Klage gegen den in Zahlungsverzug geratenen Darlehensschuldner nur auf die Rückerstattung, also das Simplum, und anders als bei allen anderen Klagen, die den Zugriff auf die Person vorsahen, war bei dieser Klage der Zugriff auf das Eigentum des Darlehensschuldners beschränkt (s. F 69). Wenn nun der zur Rückerstattung verurteilte Darlehensschuldner dem Zugriff auf sein Eigentum Widerstand entgegensetzte, dann konnte der Gläubiger die Klage ἐξουλῆς anstellen. Ausblick: Im 4. Jh. ist der Zugriff auf die Person verschwunden. Vielleicht deshalb, weil man schon früh den weniger problematischen Zugriff auf das Eigentum vorzog. Die Behinderung der πρᾶξις wird nur noch mit der Klage ἐξουλῆς verfolgt, während die Klage ἀφαιρέσεως εἰς ἐλευθερίαν sinnentleert ist (s. Ruschenbusch 2005, 90 ff.). Literatur: Rabel 1915, 340 ff., die weitere Diskussion (Lipsius 1916, 1 ff.; Rabel, 1917, 296 ff. und Lipsius 1918, 36 ff.) bringt keine weiteren Fortschritte. Harrison 1968, 217 ff.
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Straftaten gegenüber der Gemeinde
STRAFTATEN GEGENÜBER DER GEMEINDE Hochverrat F 37 a** (76) Aristot. Ath. Pol. 16,10: ἦσαν δὲ καὶ τοῖς Ἀθηναίοις οἱ περὶ τῶν τυράννων νόμοι ((πρᾷοι)) κατ’ ἐκείνους τοὺς καιροὺς (scil. Pisistrati) οἵ τε ἄλλοι καὶ δὴ καὶ ὁ μάλιστα καθήκων πρὸς τῆς τυραννίδος . νόμος γὰρ αὐτοῖς ἦν ὅδε· «θέσμια τάδε Ἀθηναίων καὶ πάτρια · ἐάν τινες τνραννεῖν ἐπανιστῶνται [ἐπὶ τυραννίδι] ἢ συγκαθιστῇ τὴν τυραννίδα, ἄτιμον εἶναι καὶ αὐτὸν καὶ γένος».
App. crit. Wilamowitz-Kaibel κ(αὶ) πάτρια leg. Blass et Wilcken :/κ´ = ἐστὶ καὶ Kenyon: κατὰ τὰ π. Wilamowitz-Kaibel ἐπὶ τυραννίδι transpos. Heichelheim συγκαθιστῶσι Papageorgios. Αdn. ((πρᾷοι)) Missverständnis, wie auch wohl in F 38; ἄτιμος nicht „bürgerlich zurückgesetzt“, sondern „geächtet, friedlos“; vgl. F 21, weiterhin F 22, F 93.
Übersetzung: Zu jenen Zeiten (scil. des Peisistratos) waren die Gesetze der Athener über die Tyrannen milde, besonders das über die Errichtung einer Tyrannis. Denn es galt folgendes Gesetz: „Das ist althergebrachte Satzung der Athener (über die Tyrannis): Wenn irgendwelche darangehen, eine Tyrannis zu errichten oder (jemand) eine Tyrannis mitaufrichtet, soll er friedlos (atimos) sein, er selbst und seine Nachkommenschaft.“ F 37 b (75) Aristot. Ath. pol. 8,4: τοὺς ἐπὶ καταλύσει τοῦ δήμου συνισταμένους ἔκρινεν (scil. ἡ ἐν Ἀρείῳ πάγῳ βουλή) Σόλωνος θέντ[ος] νόμον εἰσα[γγ]ελ[ία]ς περὶ αὐτῶν. ὀρῶν δὲ τήν (sequitur F 38a) … App. crit. εἰσαγγελ[ίας leg. Wessely.
Übersetzung: (Der Rat auf dem Areopag) richtete über diejenigen, die sich verschworen hatten, die Demokratie zu beseitigen, nachdem Solon ein Eisangelie-Gesetz darüber erlassen hatte. F 37 c Plut. Public. 25,4 : τὸ δὲ μισοτύραννον ἐν τῷ Ποπλικόλᾳ σφοδρότερον· εἰ γάρ τις ἐπιχειροίη τυραννεῖν, ὁ μὲν (scil. Solo) ἁλόντι τὴν δίκην ἐπιτίθησιν, ὁ δὲ (scil. Publicola) καὶ πρὸ τῆς κρίσεως ἀνελεῖν δίδωσι.
[Entziehung vom Kriegsdienst]
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Übersetzung: Der Hass auf den Tyrannen ist bei Publicola stärker. Denn wenn jemand darangeht, eine Tyrannis zu errichten, dann sieht Solon einen Prozess vor, während Publicola die Tötung auch vor einem Prozess erlaubt. Echtheit: F 37 a wird von F 70 vorausgesetzt, in dem der Areopag als Gericht über die Errichtung einer Tyrannis erwähnt wird. Es ist vorsolonisch und danach in die Axones übernommen worden. Dort hat es Aristoteles (oder einer seiner Vorgänger) gelesen. Erklärung: F 37 b: Der εἰσαγγετικὸς νόμος als Klagenkatalog, zu dem noch die Ausführungsbestimmungen gehören, wurde frühestens bei der Gesetzesrevision von 403 ff. (Bonner/Smith 1930, 302) oder spätestens Mitte des 4. Jh. (Lipsius 1905–1915, 192 ff.) formuliert. Insofern ist der Gebrauch des Wortes in F 37 b anachronistisch. Die Atimie von F 37 a trat jedoch (nicht immer?) ipso facto ein, sondern wurde aufgrund eines Prozesses verhängt (s. F 37 c und F 70). Dieser musste durch eine Anzeige (eines beliebigen Bürgers) eingeleitet werden. Diese Anzeige hieß ursprünglich Eisangelia und später in der Zeit nach Solon, als sie nicht mehr mündlich, sondern schriftlich eingereicht wurde, Graphe und wurde dann in der Folge zur Popularklage ausgestaltet (s. Ruschenbusch 2005, 104 –110, vgl. 116). F 37 a: An dem Text ist viel herumgebessert worden (s. Rhodes 1981, 222 f.), meistens ohne Überzeugungskraft. Das Einzige, was man vermisst, sind am Ende die Worte καὶ τὰ ἐκείνου hinter γένος. – Die Worte ἐάν τινες τυραννεῖν ἐπανίστωνται ἢ συγκαθίστῃ τὴν τυραννίδα finden sich fast wörtlich im Dekret des Demophantos von 410/09 (s. And. 1,97). – Der Wechsel vom Plural zum Singular (und umgekehrt) ist in der archaischen Sprache durchaus üblich. Ebenso die Auslassung von τις: vgl. F 76 a. – γένος = Nachkommenschaft: vgl. F 22. – Dass die Atimie der archaischen Zeit durchaus noch ihre volle Stärke hatte, zeigen F 70 und F 21 (s. Ruschenbusch 2005, 81 ff.). Sie war noch nicht „milde“, wie im 4. Jh. – F 37 c: Im Dekret des Demophantos und im Tyrannengesetz SEG XII 87 von 337/36 wurde der Täter auch schon ipso facto der Selbsthilfe ausgeliefert. Literatur: Rhodes 1981, 220 ff. [Entziehung vom Kriegsdienst] [F 38 a (78)] Aristot. Ath. Pol. 8,5: … περὶ αὐτῶν (F 37a). ((ὁρῶν δὲ τὴν μὲν πόλιν πολλάκις στασιάζουσαν τῶν δὲ πολιτῶν ἐνίους διὰ τὴν ῥαθυμίαν [ἀγα]πῶντας τὸ αὐτόματον, νόμον ἔθηκεν πρὸς αὐτοὺς ἶδιον·)) ὃς ἂν στασιαζούσης τῆς πόλεως μ[ὴ] θῆται τὰ ὅπλα μηδὲ μεθ’ ἑτέρων, ((ἄτιμον εἶναι καὶ τῆς πόλεως μὴ μετέχειν)). App. crit. πολλακιστας Ρ ἀγαπῶντας Wilamowitz-Kaibel: περιορῶντας Bury.
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Straftaten gegenüber der Gemeinde
[F 38 b (78)] Gell. N. A. 2,12,1: in legibus Solonis illis antiquissimis, quae Athenis axibus ligneis incisae sunt quasque latas ab eo Athenienses, ut sempiternae manerent, poenis et religionibus sanxerunt (F 93 b) legem esse Aristoteles (Ath. Pol. 8,5 = F 38 a) refert scriptam ad hanc sententiam: si ob discordiam dissensionemque seditio atque discessio populi fiet et ob eam causam irritatis animis utrimque arma capientur pugnabiturque, tum qui in eo tempore in eoque casu civilis discordiae non alterutrae parti sese adiunxerit sed solitarius separatusque a communi malo civitatis secesserit, is domo patria fortunisque omnibus careto exsul extorrisque esto. App. crit. eo1 om PVeR esse: autem P: auctor Otho fiet S: fieret ω iratis R1 alterutra parte ω ad. alterutram partem Gr. corr. Carrio.
[F 38 c (78)] Cic. Att. 10,1,2: ego vero Solonis … legem neglegam, qui capite sanxit, si quis in seditione non alteriusutrius partis fuisset. [F 38 d (78)] Plut. Sol. 20,1: τῶν δ’ἄλλων αὐτοῦ νόμων ἴδιος μὲν μάλιστα καὶ παράδοξος ὁ κελεύων ἄτιμον εἶναι τὸν ἐν στάσει μηδετέρας μερίδος γενόμενον. App. crit. ὁ ἴδιος S.
[F 38 e (78)] Plut. mor. 550 c (de sera num. vind.): παραλογώτατον δὲ τὸ τοῦ Σόλωνος, ἄτιμον εἶναι τὸν ἐν στάσει πόλεως μηδετέρα μερίδι προσθέμενον μηδὲ συστασιάσαντα. [F 38 f (78)] Plut. mor. 823 F (reip. ger. praec.): τί παθὼν ἐκεῖνος ὁ ἀνὴρ ἔγραψεν ἄτιμον εἶναι τὸν ἐν στάσει πόλεως μηδετέροις προσθέμενον. [F 38 g] Diog. Laert. 1,58: καὶ πρῶτος τὴν συναγωγὴν τῶν ἐννέα ἀρχόντων ἐποίησεν εἰς τὸ συνδειπνεῖν, ὡς Ἀπολλόδωρός φησιν ἐν δευτέρῳ Περὶ νομοθετῶν.
[Entziehung vom Kriegsdienst]
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ἀλλὰ καὶ τῆς στάσεως γενομένης οὔτε μετὰ τῶν ἐξ ἄστεως οὔτε μετὰ τῶν πεδιέων ἀλλ’ οὐδὲ μετὰ τῶν παράλων ἐτάχθη. App. crit. συνδειπνεῖν Lipsius coll. Hyp. frg. 139 (Bl.) : συνειπεῖν codd. Adn. Unvollständiges Exzerpt: Vor ἀλλὰ καὶ stand F 38. Somit wurde gesagt, dass Solon sich nicht an seine Gesetze gehalten habe.
[F38 a – g] Adn. Altertümliche Bedeutung von στασιάζειν (= sich in einem Kriege gegen einen äußeren Feind befinden; vgl. στάσις ἔμφυλος bei Sol. frg. 3,19 D3 und Demokrit FVS 68 B 249) und also das ganze Gesetz von Aristoteles missverstanden und falsch paraphrasiert? Zum Missverständnis der solonischen Atimie durch Aristoteles vgl. F 37 mit F 21. Gesetz in der von Aristoteles gegebenen Form unmöglich und auch unvereinbar mit der Ansicht Solons über den Bürgerkrieg; vgl. Sol. frg. 3,32–39; 19–23; 24,20–25; 5,5–6 D3.
Neu: [F 38 h (= Martina Nr. 355)] Alex. Aphrod. in Aristot. Top. II 2,109b 13 (Comm. Aristot. Gr. II 2 p. 139,33): ὁμοίος καὶ τὸ ‚στάσεως οὐ μετέχει‘ διττόν· ἢ γὰρ ὅτι οὐ χρὴ vοσούσῃ τῇ πατρίδι συννοσεῖν, καθὼς ἠξίου Σόλων· πολιτικοῦ γὰρ τὸ μὴ ἀπάγειν αὑτὸν τῆς κοινῆς συμφορᾶς καὶ οὕτως ἂν καταπαῦσαί τι τῆς στάσεως ἴσως, εἰ φαίνοιτο συνάγων καὶ ἐν τοῖς αὐτοῖς ὤν· ἢ πάλιν ὄτι κατάρχειν οὐ χρὴ τῆς στάσεως καὶ ἡγεμόνα γίνεσθαι. [F 38 i (= Martina Nr. 356)] Niceph. Greg Hist. Byz. IX 7 (I p. 427,6 Schop.) (Corp. Script. Hist. Byz. XXV 1): Εἰ δὲ καὶ ἡμεῖς τῷ γηραιῷ κατὰ τὸ εἰκὸς προσκείμενοι βασιλεῖ ῥοθίοις τισὶν ἐνετύχομεν τοῦ χειμῶνος ἐκείνου, καινὸν οὐδέν. οὔτε γὰρ δίκαιον ἧν, ἡμᾶς μηδεμιᾷ προσκεῖσθαι μερίδι, τοῦ Σόλωνος τοῦτο προτρέποντος· καὶ πρός γε τῶν εἰκότων αὗ, τοῦ ποιμένος παταχθέντος δεινὰ παθεῖν κατὰ τὸ ἀνάλογον ἄπαν τὸ ποίμνιον.
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Straftaten gegenüber der Gemeinde
[F 38 j (= Martina Nr. 357)] Cantacuz. Histor. IV 13 (III p. 87 Schop.) (Corp. Script. Hist. Byz. II 3): καὶ τῶν Λυκούργου νόμων πάντων ἀμελήσαντες, ἑvὸς μόνου τῶν Σόλωνος ἐξέχονται τοῦ Ἀθηναίου ἀκριβῶς, ὃς ἀτίμους ποιεῖ τῶν πολιτῶν τοὺς ἐν στάσει μηδεμιᾷ μερίδι προσκειμένους. [F 38 k (= Plut. mor. 965 E)] ΣΩΚΛ. Εἶεν, ὧ ἄνδρες νέοι, γέγονέ τις ὑμῖν ὁμολογία περὶ τάξεως; ΦΑΙΔΙΜΟΣ. Γέγονεν, ὧ Σόκλαρε, πολλὴν παρασχοῦσα φιλονεικίαν· εἶτα κατ’ Εὐριπίδην ‘ὁ τῆς τύχης παῖς κλῆρος ἐπὶ τούτῳ ταγείς’ τὰ χερσαῖα προεισάγει δίκαια τῶν ἐνάλων.
App. crit.: 8 γέγονε δὲ τις? 12 Nauck. p. 678, qui verba ἐπὶ τούτῳ ταγεὶς aliena ab Euripide putat 13 προεισάγειν δικαιοῖ (hoc cum R) Huttenus.
Alle Stücke sind ohne eigenständigen Wert und werden deshalb nicht übersetzt. Echtheit: Aristoteles führt das Gesetz wörtlich an. Da jedoch die Strafklausel nicht der Terminologie athenischer Gesetze entspricht, sondern der Umgangssprache des 5. und 4. Jh., ist F 38 nicht authentisch und daher zu streichen. Ich bedaure, das 1966/1983 nicht klarer gesehen zu haben: Neben der althergebrachten Atimie, der Friedlosigkeit, gab es als „bürgerliche Zurücksetzung“ 1) schon seit Solon den Ausschluss von bestimmten gehegten Stätten, die in den betreffenden Gesetzen genau aufgezählt wurden, und 2) schon im 5. Jh. das Verbot der Ausübung bestimmter namentlich genannter politischer Rechte, wobei die Gesetzessprache in beiden Fällen nicht von Atimie sprach (Belege: Ruschenbusch 2005, 81 ff.); nachlesen hätte man das schon bei And. 1,73–76 können. Die Erfindung von F 38 gehört in das Jahr 403, in die Überlieferung ist sie erst durch den im Jahre 357 von Isokrates entwickelten und von Kleidemos, Theopomp und Androtion fortgeführten Solonroman eingegangen (s. die Anekdoten in Aristot. Ath. pol. 14,2 und F 38 g mit Adn. in Ruschenbusch 1966/1983). Literatur: Allein lesenswert Bleicken 1986, 9 ff. Zum Solonroman s. Ruschenbusch 2005, 217–223.
Einschränkung der erlaubten Eigenmacht
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PROZESSRECHTLICHES Einschränkung der erlaubten Eigenmacht F 39 Liban. decl. 19,7 (6,269,11 Förster): παρελθὼν γὰρ ἀναγνώσομαι μὲν τοὺς νόμους τοὺς Σόλωνος, οἳ τὸν Ἀθηναῖον Ἀθήνησι κρίνουσιν, οὐκ ἄκριτον ἐγχειρίζουσιν ἀνομίᾳ τυράννων. App. crit. τοὺς² Förster: τοῦ codd. Adn. Vgl. F 37 c.
Übersetzung: Vortretend werde ich euch die Gesetze Solons vorlesen, die den Athener in Athen aburteilen und nicht ohne Urteil aushändigen, nach Art der Tyrannen. Echtheit: Libanios hat seine Weisheit in ihrer polemischen Zuspitzung nicht aus einem Axoneskommentar. Trotzdem ist seine Information zuverlässig. Erklärung: Wer vor Solon sein Recht durchsetzen wollte, war, wenn man vom Blutrecht absieht, auf die Selbsthilfe angewiesen. Solon band, wie vor ihm schon Drakon im Falle von Bluttaten, die Selbsthilfe zur Durchsetzung eines Anspruchs an ein vorgängiges Urteil des Gerichts (sog. Gerichtszwang). Popularklage F 40 a Aristot. Ath. pol. 9,1: δοκεῖ δὲ τῆς Σόλωνος πολιτείας τρία ταῦτ’ εἶναι τὰ δημοτικώτατα· πρῶτον μὲν καὶ μέγιστον τὸ μὴ δανείζειν ἐπὶ τοῖς σώμασιν (F 69a), ἔπειτα δὲ τὸ ἐξεῖναι τῷ βουλομένῳ τιμωρ[εῖ]ν ὑπὲρ τῶν ἀδικουμένων, τρίτον δὲ μάλιστά φασιν ἰσχυκέναι τὸ πλῆθος, ἡ εἰς τὸ δικαστή[ριον] ἔφε[σι]ς. App. crit. ταῦτ’: πάντων Kaibel Wilamowitz-Kaibel.
Übersetzung: Von der Ordnung Solons haben wohl folgende Regelungen den Demos am meisten begünstigt, als erstes und wichtigstes das Verbot, auf den Leib ein Darlehen zu geben (= F 69 a), dann für jeden, der will, das Recht, zugunsten eines Geschädigten ein Strafverfahren in Gang zu setzen, und drittens, wodurch die Masse am meisten Macht gewonnen haben soll, die Übertragung der Rechtsprechung an das Volksgericht.
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Prozessrechtliches
F 40 b Plut. Sol. 18,6: ἔτι μέντοι μᾶλλον οἰόμενος δεῖν ἐπαρκεῖν τῇ τῶν πολλῶν ἀσθενείᾳ, παντὶ λαβεῖν δίκην ὑπὲρ τοῦ κακῶς πεπονθότος ἔδωκε· ((καὶ γὰρ καί πληγέντος ἑτέρου καὶ βιασθέντος ἢ βλαβέντος, ἐξῆν τῷ δυναμένω καὶ βουλομένῳ γράφεσθαι τὸν ἀδικοῦντα καὶ διώκειν)) … τούτῳ δὲ τῷ νόμῳ συμφωνοῦντα λόγον αὐτοῦ διαμνημονεύουσιν· ἐρωτηθεὶς γάρ, ὡς ἔοικεν, ἥτις οἰκεῖται κάλλιστα τῶν πόλεων, «ἐκείνην,» εἶπεν «ἐν ᾗ τῶν ἀδικουμένων οὐχ ἧττον οἱ μὴ ἀδικούμενοι προβάλλονται καὶ κολάζουσι τοὺς ἀδικοῦντας».
App. crit. λαβεῖν: λαχεῖν Salmasius καὶ γὰρ καὶ S: καὶ γὰρ Y βλαβέντος καὶ βιασθέντος Y ἐκείνη Y εἰπεῖν S.
Übersetzung: Doch in der Überzeugung, er müsse der Ohnmacht der Masse noch mehr abhelfen, stellte er es jedem frei, zugunsten eines Geschädigten ein Strafverfahren in Gang zu setzen. Denn wenn irgendein anderer geschlagen worden war oder Gewalt erlitten hatte oder geschädigt worden war, dann stand es demjenigen, der wollte und konnte, frei, den Unrechtstäter anzuklagen und zur Verantwortung zu ziehen … Und man überliefert einen Ausspruch von ihm, der sich dem Sinn nach mit diesem Gesetz deckt. Wohl auf die Frage, in welcher Stadt es am besten bestellt sei, sagte er nämlich: „in jener, in der diejenigen, denen kein Unrecht geschehen ist, genau so gegen die Unrechttäter vorgehen wie diejenigen, die ein Unrecht erlitten haben“. Echtheit: Bis zum Jahr 356/55 galt Solon nur als Gesetzgeber und Dichter. Doch dann wurde er als Politiker entdeckt. Es begann eine lebhafte Debatte über sein Wirken und seine Bedeutung für die Geschichte Athens. Abgesehen von Isokrates, der mit seinem Phantasiegemälde im Areopagitikos den Anfang gemacht hatte, waren an der Debatte die Atthidographen Kleidemos (355), Androtion (343) und der Geschichtsschreiber Theopomp beteiligt (s. Ruschenbusch 2005, 218 ff.). Im Verlauf der Auseinandersetzung griff man auch auf die Axones zurück. Man entdeckte, dass Solon das Volksgericht und die Popularklage geschaffen und den Zugriff auf die Person des Darlehensschuldners abgeschafft hatte (F 69). Man brachte sogar wörtliche Zitate aus den Gesetzen (F 79). Die Aussagen von F 40 a, b über die sogenannte Popularklage sind aus der Sicht und vom Stande des 4. Jh. völlig richtig. Doch die Ursprünge sehen anders aus. Erklärung: Die sogenannte Popularklage war ursprünglich nur eine Anzeige eines beliebigen Bürgers an den Magistrat (Eisangelia). Solon wollte in den Fällen, in denen der Verletzte rechtlich oder faktisch nicht imstande war, selbst sein Recht durchzusetzen, eine Verfolgung des Unrechtstäters ermöglichen, und zwar ausschließlich im Interesse der Verletzten. Vorbild war dabei die sogenannte Popularklage des öffentlichen Strafrechts. Bei Unterschlagung oder Hochverrat gibt es kein verletztes Individuum. Und da der Staat faktisch nicht in der Lage war, solche
Beweisrecht
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Unrechtstaten selbst gerichtlich zu verfolgen, war er auf eine Anzeige jedes beliebigen Bürgers angewiesen (Belege in Ruschenbusch 2005, 100–106 und 116). Beweisrecht F 41 a (58) Galen (gloss. Hippocr. prooem.) XIX p. 66 (Kühn): νομίζω δέ σοι τὰ ὑπὸ Ἀριστοφάνους ἀρκέσειν τὰ ἐκ τῶν Δαιταλέων (frg. 222 Κ) ὧδέ πως ἔχοντα· «πρὸς ταῦτα σὺ λέξον Ὁμηρείους γλώττας, τί καλοῦσι κόρυμβα (Il. 9,241).» προβάλλει γὰρ ἐν ἐκείνῳ τῷ δράματι ὁ ἐκ τοῦ δήμου τῶν Δαιταλέων πρεσβύτης τῷ ἀκολάστῳ υἱεῖ πρῶτον μὲν τὰ κόρυμβα τί ποτ’ ἐστὶν ἐξηγήσασθαι, μετὰ δἐ τοῦτο· «τί καλοῦσιν ἀμενηνὰ κάρηνα (Od. 10,521).» κἀκεῖνος μέντοι ἀντιπροβάλλει τῶν ἐν τοῖς Σόλωνος ἄξοσιν γλωττῶν εἰς δίκας διαφερούσας ὡδί πως· «ὁ μὲν οὖν σός, ἐμὸς δ’οὗτος ἀδελφὸς φρασάτω, τί καλοῦσιν ἰδυίους;» εἶτ’ ἐφεξῆς προβάλλει, τί ποτέ ἐστι τὸ «ὀπυίειν (F 52 c)». ἐξ ὧν δῆλον, ὡς ἡ γλῶττα παλαιόν ἐστιν ὄνομα τῆς συνηθείας ἐκπεπτωκός.
App. crit. ταῦτα σὺ: ταύτας Poll. 2,109 σὺ λέξον: σοὶ λέξον Galen Ald.: σὺ λέξων Junt. Ὁμηρείους Dindorf: ὅμηρε Mosq., Ald., Basil.: Ὁμήρου Poll.: Ὁμήρου ἐμοὶ Bergk γλώττας, τί Seidler: γλώττά τι καὶ Mosq.: γλῶτταστικὰ Ald.: γλώττῃ τινί Basil. καλοῦσι Gal.: καλεῖται Poll. κόρυμβα Poll.: κόρυβα Gal., Mosq. καλοῦσιν: καλοῦσ‘ Seidler ἐμὸς: ἐμοὶ D ἰδυίους Seidler: ἰδουσι τε vel potius ἰδουσ (nam ιτε. ἐφεξής scriptum est pro εἶτα ἐφεξῆς, Seidler) τὸ ὀπυίειν (τοὐπύειν) Dindorf (Dobree): τὸ εὖποιεῖν Gal.: ἀποινᾶν Bergk.
Übersetzung: Ich glaube, dir könnte wohl eine Partie aus den Daitales des Aristophanes gefallen. Sie lautet etwa wie folgt: „Und jetzt sage du die aus dem Gebrauch gekommenen Ausdrücke aus dem Homer! Was heißt korymba?“ (Il. 9,241). Der alte Mann aus dem Demos der Daitales gibt in diesem Drama seinem verkommenen Sohn auf, zu erklären, was die korymba sind. Und weiter: „Was heißt: amenena karena?“ Doch der Sohn geht gar nicht darauf ein und fragt seinerseits nach Wörtern aus der Rechtssprache der Axones des Solon, die auch außer Gebrauch gekommen sind, etwa so: „Dein Sohn, mein Bruder hier, soll erklären, was idyious bedeutet.“ Dann fragt er weiter, was denn opyiein (F 52) ist. Aus all dem wird deutlich, dass eine Glosse ein außer Gebrauch gekommenes Wort ist.
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Prozessrechtliches
F 41 b (58) Phot. 102,1: ἰδύους· τοὺς μάρτυρας· οὕτως Σόλων. Übersetzung: idyous bedeutet die Zeugen: so Solon. F 41 c (58) Eustathios 1158,19 (ad Hom. Il. 18,501): ὅτι δὲ ἰδύους καὶ Δράκων καὶ Σόλων τοὺς μάρτυράς φησιν, Αἴλιος Διονύσιος (frg. ι 4 Er.) ἱστορεῖ. Übersetzung: Dass auch Drakon und Solon die Zeugen idγous nennen, berichtet Aelius Dionysios. F 42 (58) Bekker A. G. I 242,19 (lex. rhet.): δοξασταί (Ant. 5,94)· ((κριταί εἰσιν οἱ διαγιγνώσκοντες, πότερος εὐορκεῖ τῶν κρινομένων·)) κελεύει γὰρ Σόλων τὸν ἐγκαλούμενον, ἐπειδὰν μήτε συμβόλαια ἔχῃ μήτε μάρτυρας, ὀμνύναι καὶ τὸν εὐθύνoντα δὲ ὁμοίως. Αdn. Falsche Deutung einer Glosse mit Hilfe eines solonischen Gesetzes.
Übersetzung: doxastai (Ant. 5,94) sind Richter, die entscheiden, welche der beiden Parteien richtig geschworen hat. Denn Solon schreibt dem Beklagten vor, zu schwören, wenn er weder eine schriftliche Abmachung noch Zeugen hat, und dem Kläger ebenfalls. F 43 (81) Hesych α 907: ἀγχιστίνδην ὀμνύων· ((ἐγγὺς τῶν βωμῶν.)) παρὰ Σόλωνι.
App. crit. ἀγχιστίδην cod., Wilamowitz : ἀγχιστάδην Latte. Adn. Beschuldigungseid der ἀγχιστεῖς bei der Diomosia (vgl. Dem. 47,72 u. Antiph. 5,11ff). Missverstanden durch vorausgehendes bzw. folgendes παρὰ τῷ βωμῷ ο. ä.
Übersetzung: anchistinden omnyon (der Verwandtschaft nach schwörend), nahe den Altären. Bei Solon. F44 a (62) Hesych τ 1298: τρεῖς θεοί· παρὰ Σόλωνι ἐν τοῖς ἄξοσιν ὅρκῳ τέτακται· ἔνιοι κατὰ τὸ Ὁμηρικόν (Il. 15,36).
Beweisrecht
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Übersetzung: treis theoi (drei Götter): ist bei Solon für den Eid festgesetzt. Doch manche führen das auf Homer zurück. F 44 b (74) Poll. 8,142: τρεῖς θεοὺς ὀμνύναι κελεύει Σόλων, ἱκέσιον, καθάρσιον, ἐξακεστῆρα. App. crit. ὀμνύειν II ἐξακεστήριον II Β.
Übersetzung: Bei drei Göttern zu schwören ordnet Solon an, bei der Schutzgottheit, bei der Reinigungsgottheit und bei der Sühnegottheit. Echtheit: F 41 a–c, F 43 und F 44 a, b sind Glossen aus den Axones. F 42 stammt auch aus den Axones, denn das dort beschriebene Verfahren gehört in die Zeit Solons. Erklärung: Es wird unterschieden zwischen formalem Beweisrecht und freier Beweiswürdigung. Bei der freien Beweiswürdigung, dem διαγιγνώσκειν, bildet sich der Richter aufgrund der Aussagen der Parteien ein Urteil über den Fall und entscheidet dann. Beim formalen Beweisrecht, dem δικάζειν, ist der Richter an die Beweise gebunden. Die Beweismittel sind der Überführungs- bzw. Reinigungseid, die Eideshelfer, die Schreimannen, die Geschäftszeugen und der Augenschein. Erkennbar wird das formale Beweisverfahren der Zeit Drakons in der Diomosia, und zur Zeit Solons in der Antomosia. Mit einem Überführungseid schwört der Kläger, dass der Beschuldigte getötet hat, ἔκτεινεν: s. And. 5,16; Lys. 10,11. Seine mitklagenden Verwandten (s. F 5 a) beschwören als Eideshelfer, auf denselben Opfern stehend (s. F 8), mit demselben Eid wie der Kläger ebenfalls die Schuld des Beschuldigten: Ant. 5,12, ebenso 15, Isokr. 18,53. Mit der Diomosia ist die Tatfrage entschieden. Die übrigen Zeugnisse passen in den Befund vom formalen Beweisrecht: 1) Bei F 43 handelt es sich um den Beschuldigungseid der Verwandten des Getöteten, ἀγχιστεῖς, bei der Diomosia. 2) idyous = die Wissenden (F 41 a–c) bezeugen als Solemnitätszeugen einseitige Rechtsakte wie z. B. die Errichtung eines Testaments (F 49) oder zweiseitige Verträge. 3) F 42 deutet eine Glosse des Antiphon mit Hilfe eines solonischen Gesetzes. Es ordnet an, dass im Falle des Fehlens von Verträgen und Zeugen entweder die eine oder die andere Partei zum Eid zugelassen ist. 4) F 44 nennt die Schwurgötter entweder für den Eid bei der Diomosia oder die sonstigen Eide, die zu leisten waren. Wichtig sind noch zwei Zeugnisse, die wohl unter die Soloniana gehören: Lex ap. Demosth. or. 46,8 legt fest, dass man die Aussage eines Verstorbenen bezeugen
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Prozessrechtliches
könne und auch die Zeugenaussage dessen, der sich im Ausland befindet oder wegen Krankheit unfähig ist, dem Prozess beizuwohnen. Lex ap. Demosth. or. 46,10 ordnet an, dass im Prozess die Parteien die Fragen der Gegenpartei beantworten, aber nicht deren Aussage bezeugen müssen. Richterliche Abstimmung? F 45 (45) Schol. Gen. Hom. Il. 21,260: τοῦ μέν τε: οὐχ ὑφ Ὁμήρου αἱ ψηφῖδες πεποίηνται, ἀλλ’ ἔστιν ἡ λέξις Ἀττική· οὕτως γὰρ καὶ ἐν τοῖς ἄξοσιν. App. crit. τοῦ μέντοι cod.
Übersetzung: Nicht von Homer stammt der Ausdruck psephides (Steine), sondern aus Attika. Und so findet er sich auch in den Axones. Echtheit: Glosse aus den Axones. Erklärung: Bevor psephos an die Stelle von psephis trat, waren schon die Ausdrücke ψηφίζεσθαι, abstimmen, und damit beschließen und ψήφισμα, Volksbeschluss durch Abstimmung, geprägt. Bei den psephides der Axones handelt es sich also um Steine, die für die Abstimmung entweder der 51 Epheten (s. F 5 a) oder der Heliaia (s. F 23 d) oder des Areopags (s. F 70) oder der Volksversammlung (sofern diese nicht durch “Handmehr“ entschieden wurde) gebraucht wurden. Die Erwähnung der Stimmsteine dürfte aus drakontischer Zeit stammen, sich auf die Epheten oder den Areopag bezogen und den Fall geregelt haben, dass nicht mit ungerader Zahl abgestimmt und damit kein klares Ergebnis erzielt worden war. Diese Regelung dürfte dann analog auf die anderen Körperschaften übertragen worden sein. Ein solcher Fall ist bei Aischyl. Eum. 709–753 geschildert. Literatur mit Ausblick: Lipsius 1905–1915, 920 ff.; Harrison 1971, 164 ff. Zahlungsfrist bei Strafen und Bußen F 46 (81) Hesych. τ 1437: τριταία· παρὰ Σόλωνι μὴ πλείω εἶναι τριταίας τὴν + κτίστην +.
App. crit. κρίσιν Musurus, κτίστην ex numeralibus corruptum esse et ad glossam τ 1438 pertinere suspicatus est Schmidt.
Erb- und Erbtochterrecht
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Übersetzung: tritaia (der dritte Tag). Bei Solon soll die Zahlung (der Ablösungssumme) nicht länger dauern als bis zum dritten Tag (beziehungsweise nicht länger dauern als drei Tage). Echtheit: Glosse aus den Axones. Erklärung: Wenn ein Schuldner seiner vertraglich oder gesetzlich festgelegten Verpflichtung, hier der Zahlung, nicht nachkommt, wird er ὑπερήμερος (überfällig) und verfällt damit dem Zugriff entweder auf seine Person oder – später – sein Eigentum. Die gesetzlich bestimmte Frist für die Zahlung der Strafsumme ist unbekannt, dürfte aber nur wenige Tage betragen haben. – Bei F 46 handelt sich um eine Frist von drei Tagen, innerhalb derer ein Vorgang zu geschehen habe, doch dieser Vorgang ist durch eine handschriftliche Korruptel unklar. Die paläographisch einfachste Heilung wäre die Korrektur κτίστην zu ἔκτισιν (= Ablösung). Somit wäre dem Verurteilten eine Frist von drei Tagen zur Begleichung der Ablösungssumme gegeben worden. Literatur: Lipsius 1905–1915, 949 f., Harrison 1971, 185–190. FAMILIENRECHT Erb- und Erbtochterrecht F 47 a (neu): Aristot. Ath. pol. 9,2: … διὰ τὸ μὴ γεγράφθ[αι το]ὺς νόμους ἁπλῶς μηδὲ σαφῶς, ἀλλ ὥσπερ ὁ τῶν κλήρων καὶ ἐπικλήρων, ἀνάγκη [πο]λλὰς ἀμφισβητήσεις γίγνεσθαι … Übersetzung: … weil die Gesetze nicht deutlich und klar abgefasst waren, sondern wie das Erb- und Erbtochterrecht, ergaben sich zwangsläufig viele Streitigkeiten … Echtheit: Als Beispiel für die Unklarheit der solonischen Gesetze nennt Aristoteles das noch zu seiner Zeit geltende Erb- und Erbtochtergesetz. Da Aristoteles zu den Axones einen Kommentar geschrieben hat (s. T 1) und somit die solonischen Gesetze gut kannte, ist gesichert, dass das Erb- und Erbtochtergesetz des 4. Jh. von Solon stammt. Eine gesicherte Ausnahme bildet lediglich [F 126]. Erklärung: Zur Undeutlichkeit der Gesetze s. noch F 49 d. Ausblicke: Soweit wir sehen, ist das Erb- und Erbtochterrecht des 4. Jh. und damit auch der solonischen Zeit umfangreich gewesen. Hier ein Überblick:
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Familienrecht
1) Dass nur der Sohn erbt, aber nicht die Tochter (die Tochter nur als ἐπίκληρος = Erbtochter, wenn kein Sohn vorhanden war), ist zwar mehrfach in den Gesetzen impliziert (F 49 a, F 50 b, F 53), scheint aber als etwas Selbstverständliches gesetzlich nicht fixiert worden zu sein. 2) Ebenfalls scheint es als etwas Selbstverständliches nicht gesetzlich fixiert worden zu sein, dass der leibliche Sohn und auch der inter vivos Adoptierte die Erbschaft durch reine Besitzergreifung antritt, während der Intestaterbe und der testamentarisch Adoptierte den Zuspruch des Archon, ἐπιδικάζεσθαι, einholen müssen: s. F 49 a. 3) Dass die Söhne zu gleichen Teilen erben, ist gesetzlich festgelegt (Isai. 6,25: τοῦ νόμου κελεύοντος ἅπαντας τοὺς γνησίους ἰσμοίρους εἶναι τῶν πατρῴων = „aufgrund der gesetzlichen Bestimmung, dass alle ehelichen Söhne gleichen Anteil am väterlichen Gut haben“: K. B.) und gilt, wie der Parallelfall bei den übrigen Intestaterben zeigt (s. F 50 b), auch schon für die solonische Zeit (s. auch F 49 a). 4) Dass ein Adoptivsohn erbrechtlich einem leiblichen Sohn gleichgestellt ist, wird nirgends ausdrücklich festgestellt, sondern lässt sich nur einem Spezialgesetz entnehmen, das den Erbfall regelt, wenn jemandem, der mangels eines leiblichen Sohnes jemanden als Sohn adoptiert hatte, doch noch ein Sohn geboren worden war: vgl. Isai. 6,63 … τὸν (δεῖνα) υἱὸν ποιησάμενος κατέλιπεν, ᾧ ὁμοίως ὁ νόμος τὴν κληρονμίαν ἀποδίδωσι καὶ τοῖς ἐξ αὐτοῦ γενόμενος; καὶ (nämlich) διαρρήδην ἐν τῷ νόμῳ γέγραπται, ἐὰν ποιησαμένῳ παῖδες (sic!) ἐπιγένωνται, τὸ μέρος ἑκάτερον (sic!) ἔχειν τῆς οὐσίας καὶ κληρονομεῖν ὁμοίως ἀμφοτέρους (sic!) = „Wie kann jemand nun kinderlos sein, der jemanden als adoptierten Sohn hinterlassen hat, dem das Gesetz ebenso das Erbrecht gibt wie seinen leiblichen Kindern? Ausdrücklich ist nämlich im Gesetz geschrieben: Wenn dem Adoptierenden Kinder nachgeboren werden, soll jeder seinen Teil an dem Erbgut haben und beide in gleicher Weise erben“ (K. B.). Bemerkenswert ist die Inkonzinnität des Numerus im griechischen Text: παῖδες: ἑκάτερον/ἀμφοτέρους, der Wechsel vom Plural zum Singular und umgekehrt, wie er sich ähnlich in F 49 a: ὅσοι …, ἐθελῃ findet. Die Sorge für einen Eventualfall teilt das Gesetz mit Nr. 8 und 10 (s. u.). 5) In engstem Zusammenhang mit Nr. 3 (und 4) steht das Gesetz über den Zwang zur Erbteilung: Harpokr. 52,4 ὁπότε … οἱ μὲν βούλοιντο διανέμεσθαι … οἱ δὲ μή, ἐδικάζοντο οἱ βουλόμενοι τοῖς μὴ βουλομένοις προσκαλούμενοι εἰς δατητῶν αἵρεσιν = „Wenn sie teilen wollen …, wenn aber nicht, erhalten diejenigen, die wollen, eine richterliche Entscheidung der Art, dass sie diejenigen, die nicht wollen, zur Wahl von Teilern aufrufen“ (K. B). Zu vergleichen ist Aristot. Ath. pol. 56,6 δίκαι λαγχάνονται πρὸς αὐτὸν (den Archon) … εἰς δατητῶν αἵρεσιν = „Rechtliche Entscheidungen werden ihm (dem Archonten) zugewiesen … zur Wahl von Teilern“ (K. B.), und das Gesetz von Gortyn I Cr IV 72 col. V 28 … αἰ δέ κ οἰ ἐπιβάλλοντες οἰ μὲν λείοντι δατέθθαι τὰ κρέμματα οἰ δὲ μὲ … = „… wenn aber von den Erben die einen wollen, dass das Vermögen geteilt wird, die anderen aber nicht …“ (K. B.). Der Name der
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Klage εἰς δατητῶν αἵρεσιν = „zur Wahl von Teilern“ führt in die archaische Zeit. Zum Verb δατέομει heißt es bei L&S: „Ep. and Ion., also Cret. … and Arc. …; rare in Trag., never in correct Attic Prose exc. Lys. Fr. 7 S.“ Für δατατής gibt es nur noch einen zweiten Beleg bei Aischyl. Sept. 943 f., und zwar wie der Zusatz χρημάτων = “Teiler von Gütern“ (K. B.) beweist, mit bewusstem Bezug auf das obige Gesetz. Die Kernstücke des Erbrechts, das Testamentsgesetz (F 49 a) und das Gesetz über die Intestaterbfolge (F 50 b), sind als solonisch gesichert. Während das Testamentgesetz (F 49 a) bestimmt, dass jemand nur dann testieren dürfe, wenn keine leiblichen Söhne vorhanden sind, regelt das Gesetz lex ap. Demosth. or. 46,24 den Eventualfall, dass ein (sterbender) Vater für den Fall, dass seine noch unmündigen Söhne vor ihrer Mündigkeit sterben sollten, testamentarisch einen Erben bestimmt: ὅ τι ἂν γνησίων ὄντων υἱέων ὁ πατὴρ διαθῆται, ἐὰν ἀποθάνωσιν οἱ υἱεῖς πρὶν ἐπὶ δίετες ἡβᾶν, τὴν τοῦ πατρὸς διαθήκην κυρίαν εἶναι = „Was immer der Vater beim Vorhandensein leiblicher Söhne testamentarisch verfügt: wenn die Söhne sterben, bevor sie zur Mündigkeit gelangen, soll die testamentarische Verfügung des Vaters gültig sein“ (K. B.). – Dieses Gesetz ist auf jeden Fall archaisch, wie die Formel ἡβᾶν als Bezeichnung für die Mündigkeit beweist (s. Komm. zu F 53). Die Sorge für einen Eventualfall teilt es mit Nr. 4 (s. o.) und 9 (s. u.). Dass die übrigen Intestaterben zu gleichen Teilen erben, wird nirgends ausdrücklich festgestellt, sondern ergibt sich implizit aus F 50 b (s. Komm.) und aus der Bestimmung, dass die Söhne zu gleichen Teilen erben (s. oben Nr. 3). Der ganze Bereich der Adoption ist praktisch ungeregelt geblieben. Ausnahmen bilden lediglich Nr. 4 (s. o.) mit der Regelung des Eventualfalles, dass nach einer Adoption noch leibliche Söhne geboren werden, das Testamentsgesetz F 49 a, das bestimmt, dass nur derjenige testieren dürfe, der nicht adoptiert worden ist, und das solonische Gesetz über die Lösung eines Adoptivverhältnisses F 58, das dem Eventualfall gilt, dass der leibliche Vater eines Adoptivsohnes ohne Nachkommen stirbt und der Adoptierte deshalb in seine natürliche Familie zurückkehren will (s. Komm. zu F 58). Bei einer Frau interessiert erbrechtlich nur die Mitgift, προίξ, und der Unterhalt, σῖτος, der ihr als Witwe zu gewähren ist. Während der Unterhalt durch F 54 geregelt ist (s. Komm.), scheinen alle die Mitgift betreffenden Probleme, darunter auch die vermögensrechtlichen Folgen einer Scheidung, in einem Sondergesetz behandelt worden zu sein, dem „Gesetz über die Mitgift“ (ὁ περὶ τῆς προικὸς νόμος: Demosth. or. 40,19; zum Inhalt s. Demosth. or. 59,52; 27,15 und 17; Isai. 3, 36), das nicht zum Erbrecht gehört. Der Fall, dass eine (bisher kinderlose) Frau im Hause des verstorbenen Mannes bleibt, da sie von ihm ein Kind erwartet, scheint nur in der Amtsanweisung für den Archon berücksichtigt worden zu sein, s. lex ap. Demosth. 43,75: ὁ ἄρχων ἐπιμελείσθω τῶν ὀρφανῶν καὶ τῶν ἐπικλήρων καὶ τῶν οἴκων τῶν ἐξερημουμένων καὶ τῶν γυναικῶν, ὅσαι μένουσιν ἐν τοῖς οἴκοις τῶν ἀνδρῶν τῶν τεθνηκότων φάσκουσαι κύειν = „Der Archon soll sich kümmern um die Waisen, die Erbtöchter, die erbenlosen Häuser und um die Frauen,
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die in den Häusern ihrer verstorbenen Ehemänner bleiben mit der Erklärung, schwanger zu sein“ (K. B.). Ziehen wir Bilanz: Abgesehen von rein prozessualen Bestimmungen wie lex ap. Dem. 46,22 und lex ap. Dem. 43,16, bestand das ganze Erbrecht Athens aus acht Gesetzen. Von diesen sind vier für Solon bezeugt (Nr. 6 = F 49 a und F 50 b, Nr. 9 = F 58 a, b und Nr. 10 = F 54), eins ist für die solonische Zeit vorauszusetzen (Nr. 3), zwei sind durch den Sprachgebrauch (Nr. 5 und 8) und eins durch die Konstruktion (Nr. 4) als archaisch ausgewiesen. Demnach dürfte, wie es auch Aristot. Ath. pol. 9,2 (= F 47 a) nahe legt, das ganze Erbrecht von Solon stammen. Das Vormundschaftsrecht scheint überhaupt keine materiell-rechtlichen Bestimmungen gekannt zu haben (zum angeblichen Gesetz über die Verpachtung von Mündelvermögen s. Harrison 1968, 105 f., A. 5), sondern nur prozessuale, so über die δίκη εἰς ἐπιτροπῆς κατάστασιν und εἰς ἐπιτροπῆς διαδικασίαν, die – wie die Bestimmungen über die Fürsorgepflicht des Archon für den Unterhalt des Mündels – in der Amtsanweisung für den Archon (s. o.) behandelt worden sind (s. Aristot. Ath. pol. 56,6 f.). Die δίκη ἐπιτροπῆς mit dem Zitat bei Demosth. or. 38,17 gehört nicht zum Vormundschaftsrecht, da diese Klage erst nach Erreichung der Mündigkeit gegen den bisherigen Vormund angestrengt werden konnte. Das ganze Erbtochterrecht Athens scheint aus fünf bzw. sechs Gesetzen bestanden zu haben, von denen F 52 a, F 51 a und F 53 sowie das in Isai. 3,64 erwähnte Gesetz und dazu das nur bedingt dem Erbtochterrecht zuzurechnende F 48 b als solonisch gesichert sind, während [F 126 a–c] erst in die Zeit nach Solon gehört. Literatur: Lipsius 1905–1915, 537 ff. (Erbrecht), 508 ff. (Adoption), 520 ff. (Vormundschaft); Harrison 1968, 122 ff. (Erbrecht), 82 ff. (Adoption), 97 ff. (Vormundschaft), beide mit weiterer Literatur. Verbot der Ehe unter Vollgeschwistern F 47 b Philo, de spec. leg. 3,22: ὁ μὲν οὖν Ἀθηναῖος Σόλων ὁμοπατρίους ἐφεὶς ἄγεσθαι τὰς ὁμομητρίους ἐκώλυσεν.
App. crit. Ἀθηναίων νομοθέτης Arm. ὁμοπατρίους — ἄγεσθαι om. Arm. ἐφεὶς F: ὲφιείς cet. τὰς: τοὺς Α. Adn. ὁμόπατριοι = Halbgeschwister, ὁμομήτριοι = Vollgeschwister, vgl. Xen. anab. 3,1,17 mit 1,10,1 und 1,1,1.
Übersetzung: Der Athener Solon erlaubte es, die Halbschwester väterlicherseits zu heiraten, doch die Ehe mit der Vollschwester verbot er. Erklärung: Unter ὁμοπάτριος und ὁμομήτριος hat man an dieser Stelle stets die Halbschwester väterlicherseits bzw. mütterlicherseits verstanden, und daraus gefol-
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gert, in Athen sei die Ehe mit der Halbschwester vom Vater her erlaubt, die Ehe mit der Halbschwester von der Mutter her aber verboten gewesen. Das ist falsch, wie folgende Belege zeigen: 1) Nach F 48 b ist zur Engyesis, d. h. zur ordnungsgemäßen Verheiratung, der Bruder vom Vater her berechtigt, der nach F 50 b der nächste Erbe des Verstorbenen ist. Ob es sich dabei um den leiblichen Bruder oder den Halbbruder handelt, ist irrelevant, homopatrios deckt beides ab. – Die Schwester des Astyphilos bei Isai. 9,29 ist die leibliche Schwester, und so steht es auch im Stemma bei PA Nr. 8669 und Davies 1971, Nr. 7252. 2) Laut Xen. an. 1,1,1 hatten Dareios und Parysatis zwei Söhne, Artaxerxes und Kyros. Wenn es dann in 3,1,17 heißt, dass Artaxerxes den Leichnam des Kyros, seines Bruders von der Mutter her, geschändet habe, dann wird mit homometrios betont, dass Kyros der leibliche Bruder des Artaxerxes ist. – Der mythische Makareus hat seine leibliche Schwester zur Frau (Apollod. 1,50). Wenn sie bei Aristoph. Nub. 1371 f. als Schwester von der Mutter her bezeichnet wird, dann wird mit homometrios betont, dass sie die leibliche Schwester ist (s. Schol. z. d. St.). – Euxitheos hat vier Brüder von der Mutter her (Demosth. or. 57,28). Die ganze Argumentation der Rede erfordert es, dass es sich bei ihnen um leibliche Brüder des Euxitheos handelt., und so steht es denn auch im Stemma bei A. Schäfer 1858 (IV), 257 ff. und bei PA und Davies 1971, Nr. 3126. 3) Ganz korrekt bezeichnet man leibliche Geschwister als „vom gleichen Vater her stammend und der gleichen Mutter“, so bei Isai. 7,5; Lys. 32,4; Demosth. or. 25,79; 43, 22 u. ö.; 45,84; 57,39 und Aristoph. Ach. 789 f. und den Halbbruder bzw. die Halbschwester als „vom Vater her stammend, aber nicht von der Mutter her“, so bei Demosth. or. 48,10 (u. ö.); 57,20; Hdt. 1,92,3; Plut. Them. 32,1. 4) Nur in ganz eindeutigen Fällen kann die Formel „vom Vater/von der Mutter her“ den Halbbruder bzw. die Halbschwester bezeichnen, so bei Hdt. 6,38,1; Ant. 1,1; Isai. 9,1; 11,8 und Plat. Prot. 315 A. Da homopatrios sowohl die leibliche Schwester als auch die Halbschwester vom Vater her bezeichnet, musste der Erlaubnis der Ehe mit der Schwester vom Vater her hinzugefügt werden, dass die Ehe mit der Schwester von der Mutter her verboten sei. Erst beide Bestimmungen zusammen ergeben das eindeutige Verbot der Ehe unter leiblichen Geschwistern. Philon selbst scheint das nicht durchschaut zu haben. Ein Beispiel für die Ehe zwischen Halbgeschwistern bietet Demosth. or. 57,20. Implizit mit dem Verbot der Ehe zwischen leiblichen Geschwistern gibt das Gesetz die Ehe zwischen Halbgeschwistern vom Vater her frei. Die Ehe zwischen Halbgeschwistern von der Mutter her dürfte gesetzlich nicht geregelt gewesen sein. Beide Teile gehörten verschiedenen Familien an und waren daher rechtlich nicht verwandt.
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Echtheit: Obwohl in den vier Büchern De specialibus legibus mehr als genug Gelegenheit zum Verweis auf andere Rechtsordnungen gegeben war, vergleicht Philon nur an dieser Stelle jüdisches Recht mit fremdem, außer dem Recht Athens noch mit dem von Sparta. Daher lässt sich bei der umfassenden Bildung Philons nur vermuten, woher er sein Wissen hat: Die Tatsache, dass er nicht nur die solonische Regelung erwähnt, sondern auch eine analoge spartanische, macht es wahrscheinlich, dass die Notiz letztlich nicht aus der Lektüre der attischen Redner stammt, sondern aus einer der gängigen Schriften Über die Gesetze, z. B. Theophrasts, oder Über die Gesetzgeber und somit authentisch ist. Literatur: Beauchet 1897 (I), 166; Lipsius 1905–1915, 476; Erdmann 1934, 183; Becker 1968, 62 ff.; Harrison 1968, 22; Karabélias 1985 (1989), 233 ff., besonders 241 ff. Definition der paides gnesioi; zugleich Gesetz über die Engyesis F 48 a (17) Poll. 3,33 Ἰσαῖος (frg. XXVI Th.): δὲ καὶ ((ἐπικληρῖτιν)) ὧσπερ καὶ Σόλων.
App. crit. Ἰσαῖος δὲ: οἱ δὲ 11c περικληρῖτις Α. Adn. Nominativ ἐπικληρῖτις entstanden aus falscher Lesung von abgekürztem ἐπίκληρ(ός) τις (F 48 b).
Übersetzung: Isaios sagt (frg. XXVI Th.) epikleritis [statt epikleros = Erbtochter] wie auch Solon. Laut Pollux hat sowohl Isaios als auch Solon statt des Wortes epikleros die Nebenform epikleritis gebraucht. Als Fundstelle für Isaios nennt Harpokr. 79,12 s. v. ἐπίδικος und dazu 133,3 s. v. νοθεῖα die Rede „Gegen Lysibios wegen der Erbtochter“, die in vier Fragmenten erhalten ist (XXVI Th.). Dort heißt es: ὁ δὲ Ἰσαῖος ἐν τῷ πρὸς Λυσίβιον τὴν ἐπίκληρον ἐπικληρῖτιν κέκληκεν = „Isaios nennt in der Rede gegen Lysibios die Erbtochter epikleritis“(K. B.), wobei einige Mss. (so O und N) mit Akut akzentuieren. Eine Überprüfung des Wortgebrauchs ergibt, dass Isaios stets, darunter bemerkenswerterweise auch in der Rede gegen Lysibios (s. frg. 25), die Form epikleros hat, und zwar immerhin dreizehnmal: 3,46 (2x); 3,48; 3,74; 6,46 (2x); 6,57; 8,40; 10,4; 10,21; frg. 6 und 25. Wenn also Isaios in der Rede gegen Lysibios neben epikleros auch epikleritis gebraucht haben soll, dann möchte man vermuten, dass er mit dieser Nebenform ein solonisches Gesetz zitiert hat, womit allerdings Isaios als selbständiger Zeuge für den Gebrauch des Wortes wegfiele. Doch auch hier ergeben sich Schwierigkeiten. Denn wenn in den solonischen Gesetzen über die Erbtochter das Wort epikleritis gestanden hätte, so müsste man in Anbetracht der Tatsache, dass das ganze Erbtochterrecht des 4. Jh. mit einer Ausnahme von Solon stammt (s. Komm. zu F 47 a), auch im 4. Jh. noch epikleritis ge-
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sagt haben. Doch die Gesetzestexte lex ap. Demosth. or. 43,54 (s. F 126 a–c); lex ap. Demosth. or. 43,16; lex ap. Demosth. or. 43,75; lex ap. Demosth. or. 46,22; Aristoph. Vesp. 583; Av. 1653; And. 1,121; Lys. 15,3; 24,14; 26,12; Demosth. or. 14,16; 35,48; 37, 32 (2x); 37,45 (2x); 43,20; 43,55; 43,56; 46,19 (2x); 46,22 (2x); 46,23; 53,29; 57,41; Hypereid. frg. 192 f.; Plat. leg 630 E und Aristot. Ath. pol. 9,2; 42,5; 43,4; 56,6; 56,7; 58, 3 und pol. 1270 a 27 u. ö. haben – genau so wie Isaios – allesamt die Form epikleros, nie epikleritis. Ebenso Plutarch, der in seinem Bericht über das solonische Erbtochterrecht das Wort epikleros fünfmal anführt. Da aber Plutarch nicht selten den originalen Wortlaut der solonischen Gesetze wiedergibt (s. F 30 a; F 32 a; F 35; F 49 b; F 57 c; F 60 b; F 63 und F 74 b), dabei bezeichnenderweise auch im Bericht über das Erbtochterrecht: s. F 52 a mit dem originalen ὀπύεσθαι, und für ihn das Erbtochterrecht eine tote Institution war, erwartet man geradezu, bei ihm das Wort epikleritis zu finden, wenn es bei Solon stand. Aber nichts von dem. Wenn nun von den überhaupt nur fünf Gesetzen der Axones, in denen die Erbtochter erwähnt war (s. Komm. zu F 47 a), F 48 b und F 53 die Form epikleros haben, dann muss es sich bei dem singulären epikleritis um ein ‚ghostword’ handeln, entstanden aus einem Missverständnis. Klären lässt sich dieses Missverständnis sehr einfach, wenn wir noch einmal die Rede gegen Lysibios betrachten. Die Fragmente lauten: 1) ἡγούμεθα γὰρ ἐκείνῃ μὲν τὸν ἐγγυτάτω γένους δεῖν συνοικεῖν … = „wir meinen nämlich, dass sie mit dem Nächstverwandten aus der Familie verheiratet sein müsse …“ (K. B.). 2) τοιᾶυτα μέντοι οὗτοι ἐπὶ τῷ τεθνεῶτι σκενοποιοῦντες … = „αllerdings haben diese solches dem Toten unterschoben …“ (K. B.). 3) νοθεῖα (= τὰ τοῖς νόθοις ἐκ τῶν πατρῴων διδόμενα οὕτω καλεῖται, ἦν δὲ μέχρι χιλίων δραχμῶν) = „notheia (= was den illegitimen Kindern aus dem väterlichen Vermögen gegegeben wird, heißt so, und zwar bis zu 1000 Drachmen)“ (K. B.). 4) ἐπικληρῖτις (epikleritis). Der Sprecher der Rede gegen Lysibios beansprucht also die Hand der Tochter des Erblassers aufgrund des Ertochterrechts, und das heißt aufgrund des Gesetzes über die Intestaterbfolge. Lysibios hingegen gründet seinen Anspruch auf ein Testament des Erblassers, in dem u. a. von einem Legat für ein uneheliches Kind die Rede war. Demnach hat Lysibios der Tochter des Erblassers den Status einer Erbtochter mit dem Hinweis bestritten, sie sei laut Testament unehelich. Von diesem Testament behauptet nun der Sprecher, es sei gefälscht. Doch um das zu beweisen, musste er erstens das Gesetz verlesen lassen, das bestimmte, welche Kinder als ehelich zu gelten haben, und dann durch Zeugen bestätigen lassen, dass die Tochter des Erblassers diesen Bestimmungen entsprach. Das entsprechende Gesetz ist in F 48 b erhalten. Es enthält die Wendung ἐπίκληρός τις, die – besonders in der Abkürzung – sehr leicht zu ἐπικληρίτις verlesen werden konnte. Zu der Doppelbezeugung Isaios/Solon s. Komm. zu F 5 c–d.
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F 48 b* (16) Lex ap. Demosth. or. 46,18: ἣν ἂν ἐγγυήσῃ ἐπὶ δικαίοις δάμαρτα εἶναι ἢ πατὴρ ἢ ἀδελφὸς ὁμοπάτωρ ἢ πάππος ὁ πρὸς πατρός, ἐκ ταύτης εἶναι παῖδας γνησίους. ἐὰν δὲ μηδεὶς ᾖ τούτων, ἐὰν μὲν ἐπίκληρός τις ᾖ, τὸν κύριον ἔχειν, ἐὰν δὲ μὴ ᾖ, ὅτῳ ἂν ἐπιτρέψῃ, τοῦτον κύριον εἶναι. App. crit. ἐὰν δὲ μὴ [ᾖ] Turr.
Übersetzung: Echtbürtige Kinder sollen aus der Frau hervorgehen, die der Vater oder der leibliche Bruder oder der Großvater väterlicherseits ordnungsgemäß verheiratet hat. Wenn aber niemand von diesen vorhanden ist, soll, wenn eine Erbtochter da ist, sie der Kyrios zur Frau haben, wenn sie aber keine Erbtochter ist, soll derjenige, dem (das Gesetz) es aufträgt, befugt sein, (sie zu heiraten). Einzelerklärung: Bei Platon (leg. 774 E) heißt es: ἐγγυὴν δὲ εἶναι κυρίαν πατρὸς μὲν πρῶτον, δευτέραν πάππου, τρίτην δὲ ἀδελφῶν ὁμοπατρίων· ἐὰν δὲ μηδὲ εἷς ᾗ τούτων, τὴν πρὸς μητρὸς μετὰ τοῦτο εἷναι κυρίαν ὡσαύτως· ἐὰν δ ἄρα τύχη τις ἀήθης συμβαίνῃ, τοὺς ἐγγύτατα γένους ἀεὶ κυρίους εἶναι μετὰ τῶν ἐπιτρόπων = „Gültig soll an erster Stelle die Verheiratung durch den Vater sein, an zweiter durch den Großvater und an dritter durch die vom selben Vater abstammenden Söhne; ist aber von diesen keiner vorhanden, so soll die von (den Verwandten) mütterlicher Seite vorgenommene Verheiratung in derselben Reihenfolge gültig sein; sollte jedoch ein außergewöhnlicher Fall eintreten, dann sollen die nächsten Verwandten mit den Vormündern dazu berechtigt sein“ (K. B.). Wenn auch Platon F 48 B für seine Zwecke abgeändert hat, so zeigt er uns doch, wie es zu interpretieren ist. Im ersten Satz legt der Gesetzgeber fest, dass diejenigen Kinder als echtbürtig gelten, die einer Frau entstammen, die von einem bestimmten Personenkreis ordnungsgemäß verheiratet worden ist. In assoziativer Gedankenverknüpfung regelt der zweite Satz den Fall, dass dieser Personenkreis nicht mehr vorhanden ist, und bestimmt, dass die Verheiratung der Frau dann von dem vollzogen werden solle, der nach dem Gesetz über die Intestaterbfolge (F 50 b) dazu bevollmächtigt ist. Vorher war aber noch zu berücksichtigen, dass eine unverheiratete oder verwitwete Frau in aller Regel Erbtochter wurde, nämlich dann, wenn kein Brudersohn bzw. kein eigener Sohn vorhanden war. Für diesen Normalfall schaltete der Gesetzgeber in den zweiten Satz die Bestimmung ein, dass der Kyrios sie zur Frau haben solle. Ungesagt bleibt dabei, dass selbstverständlich auch in den beiden Fällen des zweiten Satzes die Kinder echtbürtig sind. Zusammen mit der Frage, welche Kinder echtbürtig sind, behandelt also das Gesetz in assoziativer Gedankenführung die weiteren Fragen: 1) wer die Frau verheiratet, und 2) was mit der Erbtochter geschieht. Implizit gibt das Gesetz eine Definition der rechtmäßigen Ehe: Ehe ist nur diejenige Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, die auf einer ordnungsgemäßen Verheiratung der Frau durch einen bestimmten Personenkreis beruht.
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ἣν ἂν ἐγγυήσῃ ἐπὶ δικαίοις δάμαρτα εἶναι: Mögen vielleicht auch Heimführung und Beilager eine Rolle gespielt haben, so ist doch die ἐγγύη – nur Isai. 3,53 hat ἐγγύησις –, die Übergabe der Braut, die als Rechtsakt die Ehe begründet. Der finale Infinitiv δάμαρτα εἶναι (= Ehefrau zu sein) ist unentbehrlich, da ἐγγυᾶν ohne Zusatz nicht nur die Aushändigung der Braut, sondern auch die Übergabe eines Festgesetzten bzw. eines Schuldners an den Bürgen bedeuten kann. Die adverbiale Bestimmung ἐπὶ δικαίοις gehört zu δάμαρτα εἶναι (so Isai. 3,4) und bezieht sich auf den Zweck der Ehe, der in der Formel deutlich wird, die die Übergabe begleitet: vgl. Men. Pk. 1013 f.: ταύτην γνησίων παίδων ἐπ ἀρότῳ σοι δίδωμι = „Diese übergebe ich dir zur Erzeugung echtbürtiger Kinder“ (Κ. Β.); Men. Dysk. 842 f.: ἐγγύῳ παίδων ἐπ ἀρότῳ γνσίων τὴν θυγάτηρ ἤδη = Ich übergebe dir sogleich die Tochter zur Erzeugung echtbürtiger Kinder“ (K. B.); Lukian. Tim. 17: παραλαβὼν ἐπ ἀρότῳ παίδων γνησίων = „empfangend zur Erzeugung echtbürtiger Kinder“ (K. B.). Wenn Hyp. 5,16 ἐπὶ δικαίοις zu ἐγγυήσῃ zieht, dann wegen eines rhetorischen Tricks. – Zur Engye als Akt der Eheschliessung (also nicht der Verlobung) und zur Ehe als Institution zum Zweck der Erzeugung von Nachkommen s. H. J. Wolff 1961, 155 ff., besonders 170 ff. Äußerst wichtig für die rechtliche Bedeutung der Engye ist die Wolffsche Lösung des Problems, wieso zwei so verschiedene Dinge wie die Eheschliessung und die Bürgschaft mit ein und demselben Wort ἐγγύη bzw. ἐγγυᾶν benannt werden. Im Aktiv wird ἐγγυᾶν (und die Komposita κατ- und διεγγυᾶν) für den Vater gebraucht, wenn er seine Tochter in die Ehe gibt, und für den Gläubiger, wenn er für einen Schuldner (ex delicto oder ex contractu) einen Bürgen annimmt. Das Medium bezeichnet sowohl das Handeln des Bräutigams bei der Eheschliessung als auch die Übernahme einer Bürgschaft seitens eines Dritten. Im Passiv stehen die Braut und die Person, für die gebürgt wird. Eine Erklärung für diese auffällige Gemeinsamkeit findet Wolff einmal in der Etymologie im Verein mit der Verwendung von ἐγγυᾶν, wonach das Aktiv „einhändigen“, das Medium reflexiv-kausativ „sich einhändigen lassen“ und das Passiv „eingehändigt werden“ bedeutet, und zum anderen in der Rechtsvergleichung: Im germanischen Recht wird ein Bürgschaftsverhältnis ursprünglich durch die Übergabe des Schuldners begründet. Aber das trifft nicht nur für das germanische Recht zu, sondern auch für das griechische: 1) Im Zusammenhang mit dem Arginusenprozess werden im Rahmen der Probole (des Verfahrens vor der Volksversammlung) die Hauptagitatoren bis zur Gerichtsverhandlung von den Gestellungsbürgen in Haft genommen: s. Xen. Hell. 1, 7,35: ἐδέθησαν ὑπὸ τῶν ἐγγυησαμένων = „Sie wurden von denen in Fesseln gelegt, die sich für sie verbürgt hatten“ (K. B.). Voraussetzung dessen ist jedoch die Auslieferung, die Übergabe der Beschuldigten an die Bürgen. 2) Bei der δίκη ἀφαιρέσεως εἰς ἐλευθερίαν und der γραφὴ ἀδίκως εἱρχθῆναι ὡς μοιχόν wird die festgesetzte Person vor dem für die Klage zuständigen Archon den Bürgen ausgehändigt. Wie im vorhergehenden Beispiel haben die Bürgen die alleinige Aufgabe, die ihnen überstellte Person für die Gerichtsverhandlung verfügbar zu halten und sie nach dem Urteilsspruch noch im Gerichtshof dem Prozessgegner wieder auszuliefern, wenn er den Prozeß gewinnt (παραδοῦναι αὐτὸν … τοὺς ἐγγυτὰς τῷ ἑλόντι: Demosth. or. 59, 66; s. auch Ruschenbusch 2005, 92 f. und 108). Demnach ist das gemeinsame Element bei der Eheschliessung
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und der Bürgschaftsbegründung der Übergabeakt, und damit deckt sich bei der Eheschliessung die ἐγγύη völlig mit der ἔκδοσις (vgl. schon Erdmann 1934, 232 ff.). Hiergegen stellen die Ausführungen von Harrison 1968, 3 ff. einen Rückschritt dar. Zwar werden die Überlegungen Wolffs zitiert, aber überhaupt nicht gedanklich verarbeitet. Weiterhin wird als Gegeninstanz ein Fall angeführt, der aber auch in jeder Weise ein Ausnahmefall ist: Einmal handelt es sich dabei um eine testamentarische Engye, also um eine Engye, die erst nach dem Tode des Testators vollzogen werden soll, zum anderen ist im Augenblick der Testamentserrichtung die Frau noch mit dem Testator verheiratet und seine Tochter erst fünf Jahre alt (Demosth. or. 28,15 f. und 29,43). Beide Ehen wurden im Übrigen nicht geschlossen (Schäfer 1885 (I²), 270 f.). – κύριον ἔχειν/εἶναι: Eine Frau steht immer in der Obhut eines sogenannten Kyrios. Je nach den Umständen ist dies der Vater, der Bruder, der Großvater, der Ehemann, der Sohn oder sonst ein gesetzlich oder testamentarisch bestimmter „Vormund“. Aufgabe des Kyrios ist es u. a., die unverheiratete oder verwitwete Frau zu verheiraten oder, wenn sie eine Erbtochter ist, zur Frau zu nehmen. κύριος kann aber auch Adjektiv sein und hat dann in Verbindung mit einem Infinitiv die Bedeutung „befugt“. Man vergleiche nur lex ap. Demosth. or. 43,75, wo es vom Archon heißt: κύριος ἔστω ἐπιβάλλειν. Ob in den Schlussworten des Gesetzes κύριος Substantiv oder Adjektiv ist, lässt sich nicht entscheiden. In der Sache läuft beides auf dasselbe hinaus. Wichtig ist, dass hier der Kyriat nicht allgemein genannt wird, sondern nur in einer Hinsicht, nämlich wer als Kyrios die Engye vorzunehmen habe, wenn die Frau ohne Vater, Bruder oder Großvater väterlicherseits ist. Zum Kyriat im Allgemeinen s. zuletzt H. J. Wolff 1968, 627 ff. ὅτῳ ἂν ἐπιτρέψῃ: Dieser Satz ohne Subjekt und Objekt gilt als schwer verständlich (s. nur Harrison 1968, 20). Als Objekt kommt nur in Frage entweder „sie“, d. h. die unverheiratete Frau, oder „es“, d. h. κύριον εἶναι, so dass die Stelle zu übersetzen ist mit „wem (das betreffende Subjekt) die Frau in die Munt gibt“ bzw. „“wem (das betreffende Subjekt) es aufträgt, (Kyrios zu sein)“. Auch hier laufen beide Übersetzungen der Sache nach auf dasselbe hinaus. – Eine Übersetzung von ἐπιτρέψῃ mit dem Perfekt (Futur II), so Lipsius 1905–1915, 536, Α. 77, Gernet 1918, 193, Α. 2 und 1957, 191 (= Demοsth. or. 46,18), Harrison, a. a. O. und Karabélias 1974 73, 82, scheitert einmal daran, dass der Gesetzgeber sich die Situation derart vorstellt, dass der letzte Kyrios aus dem im ersten Satz genannten Personenkreis stirbt und die Frau einem anderen „Vormund“ zugewiesen werden muß, also noch nicht zugewiesen ist. Zum anderen scheitert eine solche Übersetzung am Subjekt. Als Subjekt wurde vorgeschlagen „der Vater“ (Gernet, Harrison, Karabélias), wobei dieser stellvertretend auch für den Bruder oder Großvater stehen soll, bzw. „der letztverstorbene Kyrios“ (Lipsius). Die Übersetzung lautet dann mit den nötigen interpretatorischen Zusätzen: „wem der Vater die Frau bei seinem Tode testamentarisch anvertraut hat“. Doch gegen diese Deutung ist, abgesehen vom Perfekt, zweierlei einzuwenden: 1) der zweite Satz des Gesetzes hat zwei Glieder mit dem für beide Glieder gemeinsamen Bedingungssatz ἐὰν δὲ μηδεὶς ᾖ τούτων. Da nun der Gesetzgeber im ersten Glied (ἐὰν μὲν ἐπίκληρός τις ᾖ, τὸν κύριον ἔχειν) davon ausgeht, dass der letztverstorbene Kyrios testamentarisch nicht über
Definition der paides gnesioi; zugleich Gesetz über die Engyesis
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die betreffende Frau verfügt hat, da ihr ja sonst das Schicksal einer Erbtochter erspart geblieben wäre, gilt das auch für den gemeinsamen Bedingungssatz und damit auch für das zweite Glied des Satzes (ἐὰν δὲ μὴ ᾖ κτλ). 2) Wenn wir nun trotzdem dem Satz ὅτῳ ἂν ἐπιτρέψῃ eine testamentarische Regelung unterstellen, dann bleibt der Fall, dass der letztverstorbene Kyrios kein Testament gemacht hat, unberücksichtigt. Somit scheidet „der Vater“ als mögliches Subjekt aus. Als Subjekt wurde auch „der Archon“ vorgeschlagen (Beauchet 1897 (II), 341 ff.). Doch dagegen spricht Folgendes: Die in Frage stehende Frau ist keine Erbtochter. Folglich ist von Seiten eines Bruders her ein Sohn vorhanden. Dieser wird aber mit dem Tode des Letzten aus dem im ersten Satz genannten Personenkreis rein auf dem Wege der Embateusis, also automatisch und ohne Zutun des Archon, Erbe des Verstorbenen und damit auch der Kyrios seiner Tante (s. zu F 47 a). Gleiches gilt, wenn die betreffende Frau Witwe ist und einen Sohn hat. Bei dieser Sachlage empfiehlt es sich, eine Ellipse des Wortes ὁ θεσμός anzunehmen, parallel zu F 16, wo der Klausel ὡς ἐν τῷ ἄξονι eine Ellipse von ὁ θεσμός anzusetzen ist. Ausblicke: In der älteren Literatur bis hin zu Lipsius 1905–1915, 471, A. 9 ist F 48 b maßgebend gewesen für die Definition der Erbtochter. Demnach ist eine sohnlose Frau, die weder Vater noch Bruder noch Großvater väterlichseits hat, eine Erbtochter, es sei denn, sie hat einen Neffen seitens eines bereits verstorbenen Bruders. Dieser Definition hat Gernet 1921, 337 ff. widersprochen: Die Existenz bzw. Nichtexistenz eines Großvaters sei irrelevant für den Status einer Erbtochter. Harrison 1968, 136 und Karabélias 1974, 69 haben sich dem angeschlossen. Allerdings hat Gernet den zweiten Satz des Gesetzes, der für seinen Widerspruch bestimmend war, völlig missverstanden. Trotz einer Korrektur (vgl. Gernet 1918, 193 mit 1957, 191) hat er sich schließlich von seinem Aufsatz über den Epiklerat distanziert und ihn nicht in die Sammlung seiner Aufsätze „Droit et société dans la Grèce ancienne“ vom Jahre 1955 aufgenommen. Wie eine Überprüfung anhand der beiden Bibliographien zum griechischen Recht (Calhoun 1927 und Berneker 1968) zeigt, hat Gernet nur das ausgelassen, was unhaltbar geworden war. Die frühere Definition der Erbtochter hat nach wie vor Bestand. Als Eigentümlichkeit der Engye-Ehe gilt, dass die Frau in die Munt des Ehemanns kommt, aber dennoch rechtlich Mitglied ihrer eigenen Familie bleibt. Während eine Witwe ohne Kinder auf jeden Fall in die Munt ihres Vaters oder Bruders zurückkehrt, kann eine Witwe, die einen Sohn hat, wählen, ob sie in der Munt ihres Sohnes bleiben oder in ihre väterliche Familie zurückkehren will (s. Wolff 1961, 161 ff., 173, 185 ff.). Genau diesen Zustand finden wir aber auch schon bei Homer: Entweder ist es Telemachos, der die vermeintlich verwitwete Penelope verheiratet, oder es ist ihr Vater, nachdem sie in dessen Munt zurückgekehrt ist (vgl. nur Od 2, 223 mit 1,275; s. auch Erdmann 1934, 45). Zweck des Gesetzes: Das Gesetz bestimmt als echtbürtig diejenigen Kinder, die mit der Zweckbestimmung der Erzeugung von Nachkommen durch Übergabe der Braut an den Bräutigam seitens des Kyrios der Braut geschlossen worden ist. Alle anderen Kinder gelten als unechtbürtig, als νόθοι, und zwar nicht nur die Kinder,
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die entweder vorehelich oder neben einer bestehenden Ehe infolge eines Seitensprungs gezeugt worden sind, sondern auch Kinder, die anderen ehelichen Verbindungen entstammen. Zwei solcher ehelichen Verbindungen sind aus den solonischen Gesetzen bekannt, einmal die Entführungsehe (s. F 26 mit Komm.) und zweitens die beim Fehlen von Kindern aus der rechtmäßigen Ehe mit einer Nebenfrau (παλλακή) zum Zweck der Zeugung eines Erben eingegangene Verbindung, der sog. Pallikat um freier Kinder willen (F 20). Indem nun Solon mit F 48 b den Kindern aus einer Entführungsehe und aus dem Pallikat um freier Kinder willen die Echtbürtigkeit und mit F 50 a, b die Fähigkeit, Erbe zu sein, absprach und obendrein noch die Entführung unter Strafe stellte (F 26), nahm er beiden Eheformen ihre Existenzgrundlage. Fortan gehörten sie der Vergangenheit an. Echtheit: F 48 b ist durch die Glosse ἐπικλη(ός) τις (F 48 a) als solonisch gesichert. Zudem setzt die Erwähnung von παῖδες γνήσιοι und νόθοι in F 49, F 50, F 57 und F 58 eine Definition von παῖδες γνήσιοι, wie sie F 48 b bringt, voraus. Weitere Indizien für die Herkunft aus den Axones ist die Ellipse des Subjekts bei ἐπιτρέψῃ (vgl. F 16 und 23), der assoziative Stil (s. o.) und der Sprachgebrauch: δάμαρ, das sich auch noch in F 20 findet, wird von Aischylos 5mal, von Sophokles 11mal, von Euripides 102mal, von Eupolis 1mal gebraucht und ist dann aus dem Sprachgebrauch verschwunden. In der Prosa erscheint es nur bei Lys. 1,30 und Demosth. or. 23,50, und zwar nur als Zitat aus F 20. Literatur: Wolff 1961, 155 ff.; ders. 1968, 620 ff.; Harrison 1968, 3 ff. (mit weiterer Literatur), 109 ff., 132 ff.; Erdmann 1934, 225 ff.; Lipsius 1905–1915, 469 ff. (mit weiterer Literatur). Erbrecht F 49 a* (20) Lex. ap. Demosth. or. 46,14: ὅσοι μὴ ἐπεποίηντο, ὥστε μήτε ἀπειπεῖν μήτ’ ἐπιδικάσασθαι ὅτε Σόλων εἰσῄει τὴν ἀρχήν, τὰ ἑαυτοῦ διαθέσθαι, ὅπως ἂν ἐθέλῃ, ἂν μὴ παῖδες ὤσι γνήσιοι ἄρρενες, ἂν μὴ μανιῶν ἢ γήρως ἢ φαρμάκων ἢ νόσου ἕνεκα ἢ γυναικὶ πειθόμενος ὑπὸ τούτων του παρανοῶν ἢ ὑπ’ ἀνάγκης ἢ ὑπὸ δεσμοῦ καταληφθείς. App. crit. γηρῶν Kaibel ἕνεκα Rennie: ἕνεκεν codd. του παρανοῶν Wesseling: τοῦ παρανόμων codd.
Übersetzung: Diejenigen, die nicht adoptiert waren und folglich weder (als inter vivos Adoptierte) sich (von ihrem Vater) losgesagt noch (als testamentarisch Adoptierte) Antrag (beim Archon) auf Zuerteilung der Erbschaft gestellt hatten, als Solon sein Amt als Archon antrat, kann (sic!) (für den Fall des Todes) über sein Hab und Gut verfügen, wie er will, wenn keine leiblichen Söhne vorhanden sind, es sei denn, er ist wegen Wahnsinns oder Alters oder Zaubertränke oder Krankheit oder,
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weil er seiner Frau hörig ist, unzurechnungsfähig, oder er steht unter Zwang oder liegt in Fesseln. F 49 b (20) Plut. Sol. 21,3 : εὐδοκίμησε δὲ καὶ τῷ περὶ διαθηκῶν νόμῳ· ((πρότερον γὰρ οὐκ ἐξῆν, ἀλλ’ ἐν τῷ γένει τοῦ τεθνηκότος ἔδει τὰ χρήματα καὶ τὸν οἶκον καταμένειν·)) ὁ δ’ ᾧ βούλεταί τις ἐπιτρέψας, εἰ μὴ παῖδες εἶεν αὐτῷ, δοῦναι τὰ αὑτοῦ, φιλίαν τε συγγενείας ἐτίμησε μᾶλλον καὶ χάριν ἀνάγκης· καὶ τὰ χρήματα κτήματα τῶν ἐχόντων ἐποίησεν. οὐ μὲν ἀνέδην γε πάλιν οὐδ’ ἁπλῶς τὰς δόσεις ἐφῆκεν, ἀλλ’ εἰ μὴ νόσων οὕνεκεν ἢ φαρμάκων ἢ δεσμῶν ἢ ἀνάγκῃ κατασχεθεὶς ἢ γυναικὶ πειθόμενος. App. crit. δὲ1 om. U καὶ1 S: κἀν Y et s. s. S οὐδ’ om. S ἕνεκεν Y. Adn. (( )) Fehlschluss aus dem Gesetz auf vorsolonischen Zustand: Das Gesetz bezweckt nicht Einführung des Testaments, sondern Regelung strittiger Fragen, die sich aus bereits üblicher Testamentserrichtung ergeben haben.
Übersetzung: Berühmt wurde er auch durch sein Testamentgesetz. Denn vorher gab es (für den Fall des Todes) keine freie Verfügungsgewalt, sondern es mussten Hab und Gut im ‚Genos‘ des Verstorbenen bleiben. Solon aber stellte es beim Fehlen von Söhnen jedem frei, sein Hab und Gut zu geben, wem er wolle, und stellt so die Freundschaft über die Bande der Verwandtschaft und die Zuneigung über den Zwang. War man vorher nur Nutznießer gewesen, so war man fortan Eigentümer. Doch gab er die Schenkung nicht vollends und ohne weiteres frei, sondern untersagte sie für den Fall von Krankheit, Zaubertränken oder Fesselung oder wenn jemand unter Zwang steht oder einer Frau hörig ist. F 49 c Plut. mor. 265 E (ait. Rom.): Σόλων γράψας τὰς δόσεις κυρίας εἶναι τῶν τελευτώντων, πλὴν εἰ μή τις ἀνάγκῃ συνεχόμενος ἢ γυναικὶ πειθόμενος … Übersetzung: Solon ordnete an, dass die Schenkung eines Sterbenden rechtens sei, es sei denn, jemand steht unter Zwang oder ist einer Frau hörig. F 49 d (21) Aristot. Ath. pol. 35,2: τῶν Σόλωνος θεσμῶν ὄσοι διαμφισβητήσεις εἶχον καὶ τὸ κῦρος, ὃ ἦν ἐν τοῖς δικασταῖς, κατέλυσαν (scil. οἱ τριάκοντα), ὡς ἐπανορθοῦντες καὶ ποιοῦντες ἀναμφισβήτητον τὴν πολιτείαν, οἷον περὶ τοῦ δοῦναι τὰ ἑαυτοῦ, ᾧ ἂν ἐθέλῃ, κύριον ποιήσαντες καθάπαξ· τὰς δὲ προσούσας δυσκολίας «ἐὰν μὴ μανιῶν ἢ γήρως ἢ γυναικὶ πειθόμενος» ἀφεῖλον, ὅπως μὴ ᾖ τοῖς συκοφάνταις ἔφοδος.
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App. crit. οἷον L2 οιων L1 περὶ Wilamowitz-Kaibel καθάπαξ L2 καθαπαν L1 δυσκολίας L2 δυσνολίας L1 γηρων L πιθόμενος L.
Übersetzung: In ihrem Streben nach Besserung der bestehenden Ordnung und nach Klarheit des Rechts hoben die Dreißig alle Gesetze Solons auf, die Anlass zu Streitigkeiten und damit zu Prozessen geben konnten, und beseitigten auf diese Weise den Zustand, dass das Volksgericht die letzte Entscheidung im Staate hatte. So z. B. erklärten sie es auf jeden Fall als rechtskräftig, wenn jemand sein Gut gab, wem er will, indem sie die im Gesetz vorgesehenen Einschränkungen: „es sei denn (wegen) Wahnsinns oder Alters oder weil er einer Frau hörig ist“ aufhoben, um den Sykophanten jede Wirkungsmöglichkeit zu nehmen. Echtheit: ist gesichert durch die Fristenklausel: „als Solon sein Amt als Archon antrat“. Textbestand: Bei Isai. 3,68 heißt es: ὁ γὰρ νόμος διαρρήδην λέγει ἐξεῖναι διαθέσθαι ὅπως ἂν ἐθέλῃ τις τὰ ἑαυτοῦ, ἐὰν μὴ παῖδας γνησίους καταλίπῃ ἄρρενας· ἐὰν δὲ θηλείας καταλίπῃ, σὺν ταύταις = „Denn das Gesetz sagt ausdrücklich, dass jemand sein Hab und Gut hinterlassen darf, wem er will, wenn er keine echtbürtigen männlichen Kinder hinterlässt; wenn er aber weibliche hinterlässt, zusammen mit diesen“ (K. B.). Vgl. auch Isai. 10,13. Da für den Fall, dass eine unverheiratete Tochter vorhanden war, bei der Verfügung über Hab und Gut auch über sie verfügt werden musste (s. F 50 b und F 52 a), hat Isaios sachlich recht. Doch anders als Isaios behauptet, fehlt in der uns erhaltenen Fassung des Gesetzes die besagte Klausel. Hingegen findet sie sich wortwörtlich am Anfang des Gesetzes über die Intestaterbfolge (F 50 b). Des Rätsels Lösung ist ganz einfach, wenn man den Text bei Isaios weiterliest. Dort heißt es: οὐκοῦν μετὰ τῶν θυγατέρων ἔστι δοῦναι καὶ διαθέσθαι τὰ αὑτοῦ· ἄνευ δὲ γνησίων θυγατέρων οὐχ οἷόν τε οὔτε ποιήσασθαι οὔτε δοῦναι οὐδενὶ οὐδὲν τῶν ἑαυτοῦ. Οὐκοῦν εἰ μὲν ἄνευ τῆς γνησίας θυγατρὸς τὸν Ἔνδιον Πύρρος ἐποιεῖτο ὑιὸν αὑτῶ, ἄκυρος ἅν ἦν αὐτοῦ ἡ ποίησις κατὰ τὸν νόμον = „Mit den Töchtern kann man also sein Hab und Gut testamentarisch vergeben: ohne die echtbürtigen Töchter aber kann man weder (jemanden) adoptieren noch irgendeinem sein Hab und Gut geben. Wenn also Pyrrhos ohne seine echtbürtige Tochter Endios an Sohnes Statt angenommen hat, so ist diese Annahme an Sohnes Statt ungültig nach dem Gesetz“ (Κ. Β.). – Der Redner will also nachweisen, dass eine testamentarische Adoption des Endios durch Pyrrhos bei Nichtberücksichtigung der Tochter ungültig gewesen wäre. Da aber in dem Gesetz, aufgrund dessen die Adoption erfolgt ist, eine entsprechende Klausel fehlt, hätte er eigentlich den Beweis mit Hilfe des Gesetzes über die Erbtochter (F 52 a) und – als Analogiebeweis – mit Hilfe des Gesetzes über die Intestaterbfolge (F 50 b) führen müssen. Doch ein solch umständliches Verfahren verbot sich von selbst angesichts der Tatsache, dass die Redezeit durch die Wasseruhr begrenzt war. Hinzu kommt, dass die Darlegungen in Erbschaftsprozessen für das Fassungsvermögen der Richter ohnehin schon kompliziert genug waren, so dass es prozesstaktisch unklug gewesen wäre, noch einen komplizierten
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Beweisgang anzustellen. Viel einfacher war es, die für die Argumentation erforderliche Klausel: ἐὰν … παῖδας καταλίπῃ θηλείας = „wenn er … weibliche Kinder hinterlässt“ (Κ. Β.) dem Gesetz über die Intestaterbfolge zu entnehmen und ungeniert als Teil des Testamentsgesetzes auszugeben. Gegenüber Isaios ist, wie schon die Antike bemerkte, stets Misstrauen angebracht (s. Westermann 1845, 262). Einzelerklärung: τὰ ἑαυτοῦ διαθέσθαι, ὅπως ἂν ἐθέλῃ. Während die einen F 49 a als Testamentsgesetz betrachten, vertreten andere die Ansicht, Solon habe mit ihm die adoptio inter vivos geregelt. Eine Entscheidung in dieser Frage erlauben folgende zwei Zeugnisse, die bei der ganzen Diskussion unbeachtet geblieben sind: 1) Bei Platon, der in leg. 922 Α – 923 C das Gesetz einer längeren Kritik unterzieht, ist das διαθέσθαι τὰ ἑαυτοῦ eine beim nahenden Tode (μέλλων τελευτᾶν 3x, βίου τέλος) im Hinblick auf den Todesfall vollzogene Handlung. Das Gleiche gilt für Isaios, wenn er 2,14 schreibt: ἐν διαθήκαις γράψας μέλλων ἀποθνῄσκειν = „testamentarisch verfügend beim Nahen des Todes“ (K. B.) oder 7,1: εἴ τις τελευτήσειν μέλλων διέθετο = „wenn einer im Begriff zu sterben verfügt hat“ (K. B.) oder 7,30: πάντες γὰρ οἱ τελευτήσειν μέλλοντες πρόνοιαν ποιοῦνται, ὅπως μὴ ἐξερημῶσι τοὺς σφετέρους αὐτῶν οἴκους = „denn alle, die im Begriff sind zu sterben, treffen Vorsorge, dass ihre Häuser nicht aussterben“ (K. B.) oder 1,10: ποιεῖται τὰς διαθήκας … δεδιὼς μὴ τελευτήσειεν = „er macht sein Testament … in der Furcht zu sterben“ (K. B.:). Der Betreffende war krank, wurde aber wieder gesund, ἐσώθη. Ebenso heißt es in Demosth. or. 28,14 f.: ταῦτα διέθετο … ὁ γὰρ πατὴρ … ὡς ᾔσθετο τὴν νόσον οὐκ ἀποφευξάμος … = „dies verfügte er …; denn der Vater merkte, dass er der Seuche nicht entgehen würde …“ (K. B.) oder „sterbend verfügte er“ (Demosth. or. 41,6). Und dass es sich bei dieser diatheke um das Testament handelt, nicht etwa um eine in der letzten Sekunde vollzogene adoptio inter vivos, zeigen mit aller Deutlichkeit die beiden folgenden Belege: Demosth. or. 46,28· διαθήκης οὐδεὶς πώποτε ἀντίγραφα ἐποιήσατο … τούτου γὰρ ἕνεκα (κατσεσημασμένας) καταλείπουσι οἱ διατιθέμενοι, ἵνα μηδεὶς εἰδῇ ἃ διατίθενται = „Von einer diatheke hat niemand jemals Abschriften angefertigt … Deswegen nämlich hinterlässt man sie versiegelt, damit niemand sehen kann, was sie verfügen“ (Κ. Β.); Isai. 4,13· τῶν διατιθεμένων οἱ πολλοὶ οὐδὲ λέγουσι τοῖς παραγιγνομένοις ὅ τι διατίθενται, ἀλλ αὐτοῦ μόνου τοῦ καταλιπεῖν διαθήκας μάρτυρας παρίστανται = „Von den Testierenden sagen die meisten den Anwesenden nicht, was sie verfügen, sondern bringen sie allein dafür, dass sie diathekai hinterlassen, als Zeugen bei“ (Κ. Β.). 2) Ein Gesetz lautet: Lex ap. Demosth. or. 46,24: ὅ τι ἂν γνησίων ὄντων υἱέων ὁ πατὴρ διθῆται, ἐὰν ἀποθάνωσι οἱ υἱεῖς πρὶν ἐπὶ δίετες ἡβᾶν, τὴν τοῦ πατρὸς διαθήκην κυρίαν εἶναι =„Was immer der Vater bei Vorhandensein echtbürtiger Söhne verfügt hat, so soll, wenn die Söhne gestorben sind, bevor sie volljährig sind, die diatheke des Vaters gültig sein“ (K. B.). Wenn man nun
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den Ausdruck διατίθεσθαι (= verfügen) auf die adoptio inter vivos bezieht, dann ergeben sich folgende Schwierigkeiten: a) Zur Adoption greift man nur beim Fehlen leiblicher Söhne. Dieses Gesetz aber würde eine Adoption vorsehen, obwohl leibliche Söhne vorhanden sind. b) Dieses Gesetz würde trotz Vorhandenseins leiblicher Söhne eine Adoption erlauben, während F 49 a dies ausdrücklich verbietet. c) Ein Adoptierter gibt mit der Adoption jede Bindung an die natürliche Familie auf und damit auch das Recht auf Erbschaft aus dieser Familie. Ist nun eine Adoption denkbar, die nur dann ihre Rechtskraft behält, wenn die leiblichen Söhne vor ihrem Mündigwerden sterben, anderenfall aber ungültig wird und das, obwohl der Adoptierte unter Umständen schon jahrelang in der Familie des Adoptivvaters gelebt hat und gar nicht mehr in seine natürliche Familie zurückkehren kann? Die Widersprüche und Schwierigkeiten, die sich hier auftun, sind jedoch behoben, wenn man διατίθεσθαι auf die Testamenterrichtung bezieht. Das Gesetz behandelt dann den einfachen Fall, dass der sterbende Vater für den Fall, dass seine noch unmündigen leiblichen Söhne vor ihrem Mündigwerden sterben sollten, testamentarisch die Nachfolge regelt. Aus zwei unverdächtigen Zeugnissen ergibt sich ganz eindeutig, dass – zumindest im 4. Jh. – διατίθεσθαι τὰ ἐαυτοῦ auf die Testamentserrichtung zu beziehen ist und demzufolge διαθήκη das Testament und nicht etwa die adoptio inter vivos bezeichnet. Man hatte aber nun beobachtet, dass bei den Advokaten ποίησις (Adoption) und διαθήκη auswechselbare Ausdrücke sind, und diese Beobachtung war der einzige Anhaltspunkt für die Annahme, bei Solon sei mit διατίθεσθαι τὰ ἐαυτοῦ die adoptio inter vivos gemeint. Man hatte aber nicht bemerkt, dass es sich bei dieser Gleichsetzung um einen Advokatentrick handelt. Dem athenischen Recht fehlte ein Gesetz, wer unter welchen Bedingungen zur adoptio inter vivos berechtigt sei. Dagegen enthält es ein Testamentsgesetz mit der Bestimmung, wer unter welchen Bedingungen testieren durfte. Da nun die adoptio inter vivos und die Testamentserrichtung dem gleichen Zweck dienen, nämlich der Sicherung des Fortbestehens der Familie durch die Einsetzung eines Nachfolgers in die familien- und sakralrechtliche Stellung, bereitet das Fehlen eines Gesetzes über die Adoption keine großen Schwierigkeiten. Will man nicht, wie es Ps.-Demosthenes einmal macht, aus dem Gesetz über die Lösung eines Adoptivverhältnisses (F 58) und dem Testamentsgesetz den Analogiebeweis führen (Demosth. or. 44,63–68), so gibt man, wie es Isaios tut, das Testamentsgesetz einfach als das Gesetz über die adoptio inter vivos aus (Isai. 2,13 f.). Ein weiterer Grund für die Gleichsetzung von ποίησις und διαθήκη ist, dass derjenige, der testamentarisch zum Erben bestellt wird, nicht selten auch testamentarisch adoptiert wird, d. h. nachträglich in die Phratrie des verstorbenen Erblassers aufgenommen wird. Doch diese testamentarische Adoption ist nicht etwa, wie man geglaubt hat, konstitutiver Bestandteil des Testaments (Warum sollte auch der Erb-
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lasser den aus dem Kreis von mehreren Brüdern bzw. Neffen brüderlichseits zum Erben bestellten Bruder bzw. Neffen auch noch testamentarisch adoptieren, wo dieser doch ohnehin in derselben Phratrie war? Zudem wird ja auch, von einigen sehr durchsichtigen Ausnahmefällen abgesehen, der Intestaterbe nicht adoptiert), sondern betrifft in aller Regel nur Erben aus dem Kreis der entfernteren Verwandten, besonders von weiblicher Seite her, um ihren Anspruch aus dem Testament gegenüber dem Intestaterben zu stützen. Bei alledem sind ποίησις und διαθήκη zwei völlig verschiedene Dinge und werden deshalb auch – trotz aller Tricks – terminologisch scharf geschieden. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist Isai. 2,13 f., wo zwar διτίθεσθαι als inter vivos adoptare verwendet wird, im Folgenden aber διαθήκη als Testament der adoptio inter vivos gegenübersteht. Aufschlussreich sind auch die schon oben angeführten Stellen Isai. 4, 13 und Demosth. or. 46,28, wonach die διαθήκη einen einseitigen Rechtsakt darstellt, dessen Inhalt bis zum Tode des διαθέμενος unbekannt bleibt. Der Wortgebrauch des 4. Jh. wäre also geklärt. Es bleibt aber die Frage, was denn Solon mit der Formel διτίθεσθαι τὰ ἑαυτοῦ gemeint hat. 1) Angenommen (aber für diese Annahme gibt es außer der missbräuchlichen Verwendung dieser Formel durch Isaios keinen einzigen Hinweis), Solon habe mit διτίθεσθαι τὰ ἑαυτοῦ wirklich die adoptio inter vivos gemeint, so ergibt sich, dass sich in der Zeit von Solon bis zum 4. Jh. die Bedeutung der Formel von adoptare inter vivos zu testieren verschoben haben müsste. Eine solche Bedeutungsverschiebung wäre nun an und für sich nichts Besonderes, zumal wenn sich das Testament aus der adoptio inter vivos entwickelt haben und dann an ihre Stelle getreten sein sollte. Aber die Tatsache, dass im 4. Jh. die adoptio inter vivos noch völlig gleichberechtigt neben dem Testament stand und adoptio inter vivos und Testament terminologisch ganz scharf geschieden wurden, steht der Annahme eines Bedeutungswandels entgegen. Demnach kann mit diatitesthai ta heautou in solonischer Zeit nicht die adoptio inter vivos gemeint sein. 2) Es ist – was man nicht immer beachtet hat – im Gesetzestext nicht nur von διατίθεσθαι die Rede, sondern von διατίθεσθαι τὰ ἑαυτοῦ, womit rein sprachlich nicht eine personelle Regelung, sondern eine Verfügung über das Hab und Gut bezeichnet wird. 3) Aus den Anfangsworten des Gesetzes: ὅσοι μὴ ἐπεποίηντο … ὅτε Σόλων εἰῄει τὴν ἀρχήν = „die nicht adoptiert waren …, als Solon das Archontat antrat“ (Κ. Β.) geht eindeutig hervor, dass Solon die Adoption bereits vorgefunden hat, und zwar als ein Mittel zur Sicherung des Fortbestandes der Familie durch die Einsetzung eines Nachfolgers. 4) Die Willensklausel: ἂν μὴ μανιῶν ἢ γήρως ἢ φαρμάκων ἢ νόσου ἕνεκα … ἢ ὑπ ἀνάγκης ἢ ὑπὸ δεσμοῦ καταληφθείς = „Es sei denn wegen Wahnsinns oder Alters oder Zaubertränke oder Krankheit … oder unter Zwang oder in Fesseln (seiner Willensfreiheit beraubt)“ (Κ. Β.) deutet darauf hin, dass das Verfügungsrecht über das Hab und Gut von Solon für den Fall si subito morte urguebatur oder imminente periculo gedacht war.
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Aus dem Vorhergehenden ergibt sich zwangsläufig, dass Solon mit seinem Gesetz nicht das Recht zur adoptio inter vivos, sondern das Recht zu einer letztwilligen Verfügung von Todes wegen bestätigt hat. Bei dieser letztwilligen Verfügung handelt es sich nun nicht um die donatio mortis causa und auch nicht um eine Regelung der Rechtsnachfolge in einzelne Nachlassgegenstände, sondern um die Regelung der Universalsukzession. Das geht eindeutig aus dem Gesetz über die Intestaterbfolge (F 50 b) hervor, das sich übrigens auf den Axones direkt an F 49 a angeschlossen haben dürfte. Dort heißt es: ὅστις ἂν μὴ διαθέμενος ἀποθάνῃ ἐὰν μὲν παῖδας καταλίπῃ θηλείας, σὺν ταύτῃσι· ἐὰν δὲ μή, τούσδε κυρίους εἶναι τῶν χρημάτων = „Wenn jemand ohne testamentarische Verfügung stirbt, soll sein Hab und Gut, wenn er weibliche Kinder hinterlässt, bei diesen bleiben; wenn aber nicht, sollen folgende Personen Eigentümer seines Hab und Gutes sein“(K. B.). Über die Form der Testamentserrichtung kann nur soviel gesagt werden, dass sie nicht – wie z. B. das römische Testament calatis comitiis – öffentlich vollzogen wurde. Die Willensklausel deutet vielmehr darauf hin, dass es sich bei der Testamentserrichtung um einen einseitigen Rechtsakt handelte, entweder derart, dass man seinen Letzten Willen vor Zeugen mündlich erklärte oder ihn schriftlich niederlegte. Ein Gesetz dient der Lösung eines bestimmten Problems und stellt also den Abschluss einer bestimmten Entwicklung dar. Und so ist es auch mit dem Testamentsgesetz. Die knappe Formulierung διαθέσθαι τὰ ἑαυτοῦ, deren Deutung so viel Schwierigkeit bereitet hat, muss in ihrer Bedeutung den Bürgern beim Erlass des Gesetzes bereits vertraut gewesen sein. Weiterhin zeigt die Willensklausel, dass zum Zeitpunkt der Gesetzgebung bereits erhebliche Erfahrungen mit dem Testament vorlagen. Nur waren die bisherigen Testamentserrichtungen ein neuralgischer Punkt im Leben der damaligen Gesellschaft. Die nächsten Angehörigen des A fühlten sich betrogen, wenn der Adoptivsohn des A mit seinem Tode einen Angehörigen seiner natürlichen Familie zum Erben bestellte oder wenn auf den Einfluss einer Frau, der der Erblasser hörig war, ein Angehöriger ihrer Familie als Erbe eingesetzt wurde oder wenn unter dem Druck der Personalexekution (s. u.) unter Zurücksetzung der eigenen Söhne der Gläubiger zum Erben bestellt wurde. Denn in allen diesen Fällen wurde ja der Familie und sogar den eigenen Söhnen die Erbschaft eines Bauernhofes entzogen. Dieser Situation ist nun Solon mit dem Erlass des Testamentgesetzes begegnet. Er hat nicht, wie es bei Plutarch steht (F 49 b), das Testament geschaffen (eine absurde Vorstellung), sondern nur die Probleme, die sich damit ergaben, zu lösen versucht, indem er zwar das Recht zur Errichtung eines Testaments bestätigte, es aber an die Bedingung knüpfte, dass erstens Adoptivsöhne nicht testieren dürfen, zweitens eine Testamentserrichtung nur statthaft sei beim Fehlen leiblicher Söhne und drittens die Testamenterrichtung freien Willens erfolgen müsse. Mit einer irgendwie gearteten Politik der Emanzipation des Einzelnen aus dem genos und einem Kampf gegen die Geschlechterherrschaft hat diese Maßnahme Solons überhaupt nichts zu tun, zumal sich die angebliche Geschlechtervorherrschaft als ein Phantom erwiesen hat.
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Ὅσοι μὴ ἐπεποίηντο ὥστε μήτε ἀπειπεῖν μήτ ἐπιδικάσασθαι ὅτε Σόλων εἰσῄει τὴν ἀρχήν (F 49 a): Die ὥστε-Klausel gilt praktisch als unverständlich (s. Lipsius 1905–1915, 510, Anm. 41, Harrison 1968, 86, Anm. 2), aber vermutlich nur, weil man von einer ungenauen Voraussetzung ausging, nämlich dass es vor Solon kein Testament gegeben habe (s. F. 49 b). Denn ohne diese Voraussetzung lässt sich die Klausel sehr einfach erklären. Beginnen wir mit der Grammatik. Wie die Fristenklausel ὅτε Σόλων εἰσῄει τὴν ἀρχήν beweist, drückt der ὥστε-Satz eine tatsächliche Folge aus. Es ist also so zu übersetzen: „Diejenigen, die nicht adoptiert waren und folglich (= so dass) weder … noch … hatten, als Solon sein Amt als Archon antrat.“ Doch da der ὥστε-Satz von einem negativen Satz abhängt, nimmt auch sein Inhalt an der Nichtwirklichkeit teil, und somit steht in ihm nicht, wie sonst bei der tatsächlichen Folge, das verbum finitum, sondern der Infinitiv (Kühner-Gerth II 2, 506, Anm. 8). Nun zum Inhalt: Wenn man einmal von der postumen Adoption absieht, die ohne den Willen des Erblassers erfolgt, gibt es im athenischen Recht zwei Arten von Adoptionen, a) die adoptio inter vivos und b) die testamentarische Adoption. Der wesentliche rechtliche Unterschied zwischen den beiden Arten ist, dass der inter vivos Adoptierte beim Tod des Adoptivvaters die Erbschaft durch formlose Besitzergreifung (Embateusis) antritt, während der testamentarisch Adoptierte – wie der potentielle Intestaterbe – Antrag beim Archon auf Zuerteilung der Erbschaft stellen muß (ἐπιδικάζεσθαι). Mit dieser Feststellung ist aber auch schon der zweite Teil des hoste-Satzes geklärt. Es ist also zu übersetzen: „Diejenigen, die nicht adoptiert waren und folglich weder … noch (als testamentarisch Adoptierte) Antrag (beim Archon) auf Zuerteilung der Erbschaft gestellt hatten.“ Was jetzt noch fehlt und durch ἀπειπεῖν ausgedrückt worden sein muß, ist die Erwähnung des inter vivos Adoptierten. ἀπειπεῖν wird allgemein mit „verzichten“ übersetzt. Das mag sachlich sogar richtig sein, ist aber viel zu abstrakt gedacht. Familienrechtlich geht ἀπειπεῖν auf die Lösung des Vater-Sohn-Verhältnisses und ist am ehesten zu übersetzen mit „sich lossagen von“, so z. B. bei Hdt. 1,59 (παῖδα) … ἀπείπασθαι; lex Gort. I Cr IV 72 col. XI, 10 f (ἀνπαυτὸν) … ἀπείπασθαι; Plat. leg. 928 D τὸν υἱὸν ὑπὸ κήρυκος ἐναντίον ἁπάντων ἀπειπεῖν bei der Lösung des Verhältnisses durch den Vater; Eur. Alc. 737 ἀπειπεῖν … κηρύκων ὕπο … πατρῴων ἑστίαν von der Lösung des Verhältnisses durch den Sohn. Eine solche Lösung des bisherigen Vater-Sohn-Verhältnisses war nun grundsätzlich erforderlich für die Begründung eines Adoptivverhältnisses, sowohl bei der adoptio inter vivos als auch bei der testamentarischen Adoption, so dass das ἀπειπεῖν der ὥστε-Klausel, rein rechtlich gesehen, auf beide Arten von Adoptierten zu beziehen ist. Doch faktisch gibt es einen Unterschied insofern, als bei der adoptio inter vivos allein schon die Lösung des bisherigen Vater-Sohn-Verhältnisses, also das ἀπειπεῖν den Weg für die Adoption freigibt, während bei der testamentarischen Adoption erst die Zuerkennung der Erbschaft durch den Archon, das ἐπιδικάζειν also, den entscheidenden Akt für die Begründung des Adoptivverhältnisses darstellt. Denn ohne eine Zuerkennung der Erbschaft ist eine Adoption sinnlos. Somit aber geht das ἀπειπεῖν der ὥστε-Klausel faktisch auf den inter vivos Adoptierten. Die Übersetzung lautet daher. „Diejenigen, die nicht adoptiert waren und folglich weder (als inter vivos Adoptierte) sich (von ihrem leiblichen Vater) losgesagt noch (als testa-
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mentarisch Adoptierte) Antrag (beim Archon) auf Zuerteilung der Erbschaft gestellt hatten, als Solon sein Amt als Archon antrat …“ In der bisher unbekannten Glosse Phot. ed. Theodoridis A 2316: ἀπειπεῖν … σημαίνει δὲ καὶ τὸ ἀποκηρῦξαι παῖδα. Καὶ δῆλον τοῦτο ἐκ τοῦ νόμου Σόλωνος τοῦ λέγοντος „μήτ ἀπειπεῖν †μήτε πείθεσθα醓, τουτέστιν μήτε ἀποκηρῦξαι μήτ’ ἄλλον ἐπ’ αὐτοῖς θεῖναι = „Lossagen … bedeutet auch, dass ein Kind öffentlich entsagt. Und zwar wird das klar aus dem Gesetz Solons, in dem er sagt „weder sich lossagen noch sich unterordnen, d. h. weder öffentlich entsagen noch einen anderen zu ihnen stellen (?)“ (K. B.) ist der Text des solonischen Gesetzes verderbt und die Erklärung infolgedessen falsch. παῖδες … γνήσιοι: zur Definition s. F 48 b. γυναικὶ πειθόμενος, nicht δάμαρτι: s. F 48 b und F 20, also einer Frau, nicht seiner Frau hörig. ὑπὸ δεσμοῦ καταληφθείς: Da die solonische Zeit keinerlei Strafe kannte, die seitens staatlicher Organe aktiv vollstreckt wurde, wie die Todesstrafe, die Gefängnishaft und die Einziehung des Vermögens, bleibt hier nur die Deutung auf den Zugriff auf die Person, die sog. Personalexekution. Ausblicke gibt F 49 a mit der Klausel ὅσοι μὴ ἐπεποίηντο ὥστε μήτε ἀπειπεῖν μήτ ἐπιδικάσασθαι ὅτε Σόλων εἰῄει τὴν ἀρχήν auf die Adoption (s. dazu F 58), auf die Epidikasia (s. dazu F 50 b) und auf den Zeitpunkt der Gesetzgebung, mit der Klausel ὑπὸ δεσμοῦ καταληφθείς auf den Zugriff auf die Person und als Ganzes über das Bodenrecht. Literatur ist verzeichnet bei Lipsius 1905–1915, 539, Anm. 5 und Harrison 1968, 149 und 123. Hinzuzufügen ist: Bruck 1909; ders.1926, 271, Anm.3; Maschke 1926, 190 ff; Becker, 1932, 266, Anm.4 und 264, Anm. 2. F 49 b–d Einzelerklärung: Plutarch und Aristoteles lehnen sich eng an den Wortlaut des Gesetzes (F 49 a) an. Doch wenn sie das originale διαθέσθαι durch δοῦναι ersetzen, so ist das, wie Wyse 1904, 325 ff. zeigt, sachlich bedeutungslos und nur durch „grammatical limitations“ von διατίθεσθαι zu erklären: „The verb does not readily admit a dative expressing the person in whose favour the dispositions are made … The gap is filled by the substitution of διδόναι.” Die Behauptung Plutarchs, dass vor Solon Hab und Gut im genos des Verstorbenen hätten bleiben müssen, ist schon im Komm. zu F 49 a widerlegt worden. Zudem hat das genos rechtlich nie eine Rolle gespielt. Weder das drakontische Blutrecht (s. F 50 a, b) noch das solonische Gesetz über die Intestaterbfolge (F 50 b) berücksichtigen es. Zur angeblichen Rolle des genos s. jetzt Bourriot 1976, weiterhin – zur Entstehung des Gedankens – Humphreys 1982, 35 ff. Zur Gesetzeskritik des 5. und 4. Jh., wie sie in F 49 d deutlich wird, und zur Gesetzesrevision der Dreißig s. Ruschenbusch 2005, 17 ff. und 11 ff.
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F 50 a (18) Aristoph. Av. 1660 ff.: ἐρῶ δὲ δὴ καὶ τὸν Σόλωνός σοι νόμον· | νόθῳ δὲ μὴ εἶναι ἀγχιστείαν παίδων ὄντων | γνησίων. ἐὰν δὲ παῖδες μὴ ὦσι γνήσιοι, τοῖς | ἐγγυτάτω γένους μετεῖναι τῶν χρημάτων. Übersetzung: Ich will dir also das Gesetz Solons zitieren: “Für einen unehelichen Sohn bestehen keine verwandtschaftlichen Beziehungen (zum Vater), wenn leibliche Kinder vorhanden sind. Sind also keine leiblichen Kinder vorhanden, dann … sollen die nächstverwandten Familienangehörigen erben.“ F 50 b* (23) Lex ap. Demosth. or. 43,51: ὅστις ἂν μὴ διαθέμενος (cf. F 49a) ἀποθάνῃ ἐὰν μὲν παῖδας καταλίπῃ θηλείας, σὺν ταύτῃσιν, ἐὰν δὲ μή, τούσδε κυρίους εἶναι τῶν χρημάτων· ἐὰν μὲν ἀδελφοὶ ὦσι ὁμοπάτορες· καὶ ἐὰν παῖδες ἐξ ἀδελφῶν γνήσιοι, τὴν τοῦ πατρὸς μοῖραν λαγχάνειν· ἐὰν δὲ μὴ ἀδελφοὶ ὦσιν ἢ ἀδελφῶν παῖδες, ἐξ αὐτῶν κατὰ ταὐτὰ λαγχάνειν· κρατεῖν δὲ τοὺς ἄρρενας καὶ τοὺς ἐκ τῶν ἀρρένων, ἐὰν ἐκ τῶν αὐτῶν ὦσι, καὶ ἐὰν γένει ἀπωτέρω. ἐὰν δὲ μὴ ὦσι πρὸς πατρὸς μέχρι ἀνεψιῶν παίδων, τοὺς πρὸς μητρὸς τοῦ ἀνδρὸς κατὰ ταὐτα κυρίους εἶναι. ἐὰν δὲ μηδετέρωθεν ᾖ ἐντός τούτων, τὸν πρὸς πατρὸς ἐγγυτάτω κύριον εἶναι. νόθῳ δὲ μηδὲ vόθῃ μὴ εἶναι ἀγχιστείαν μήθ’ ἱερῶν μήθ’ ὁσίων ((ἀπ’ Εὐκλείδου ἄρχοντος.))
App. crit. καταλείπῃ Α ταύτῃσιν r: ταύτῃσι Α σὺν ταύτῃσιν in dubium vocaverunt Buermann, Wachholtz; lacunam ante vel post σὺν ταύτῃσιν statuerunt Drerup, Ledl, Lipsius, Thalheim; sed vide testimon. μὲν Reiske: δὲ codd. del. Dobree Ru., vide testimon. et adn. ): καὶ ἐὰν παῖδες ἐξ ἀδελφῶν γνήσιοι – καὶ ἐὰν γένει ἀπωτέρω – τὸν πρὸς πατρὸς ἐγγυτάτω – ἐὰν δὲ μὴ ὦσι πρὸς πατρὸς – ἐὰν δὲ μηδετέρωθεν ᾖ ἐντὸς τούτων . Von der Norm weicht auch ab: νόθῳ δὲ μηδὲ νόθῃ μὴ εἶναι ἀγχιστείαν …, da das kopulative μηδέ sich in der attischen Prosa nur nach vorangegangenem negativen Glied findet (Kühner-Gerth II 2, 293). Echtheit: F 50 b ist zwar durch Demosth. or. 43,78 (= [F 120]) als solonisch bezeugt, doch dieses Zeugnis ist wertlos (s. Ruschenbusch 1966/1983, 53–56). Trotzdem ist die Herkunft von F 50 b aus den Axones auf sechsfache Weise gesichert: 1) Die Axones hatten ein Testamentsgesetz (F 49 a). Wo es aber ein Testamentsgesetz gibt, muss es auch ein Gesetz über die Intestaterbfolge geben. 2) Das Gesetz über Intestaterbfolge (F 50 b) bildet mit dem Testamentsgesetz (F 49 a) insofern eine Einheit, als es assoziativ dieses Gesetz weiterführt. 3) F 48 b und F 52 a reden vom Kyrios der Erbtochter und vom „Nächstverwandten“. Wer aber dieser ist, bestimmt sich nach F 50 b. 4) Der Schlusssatz, nach dem uneheliche Kinder kein Erbrecht haben, ist durch Aristophanes als solonisch bezeugt (Komm. F 50 a). Bestätigt wird das durch F 48 b, mit dem festgelegt wird, welche Kinder als ehelich zu gelten haben, und durch das Testamentsgesetz (F 49 a) und durch das Gesetz über die Lösung ei-
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nes Adoptivverhältnisses (F 58 a, b), die beide nur eheliche Söhne als zur Familie gehörig anerkennen. 5) Aristoteles, der als erster die Axones kommentiert hat (T 1), nennt als Beispiel für die Unklarheit der solonischen Gesetze, das noch im 4. Jh. gültige Erb- und Erbtochterrecht (F 47 a mit Komm.). Die wichtigsten Gesetze des Erbrechts sind also das Testamentsgesetz (F 49 a) und das Gesetz über die Intestaterbfolge (F 50 b). 6) Stilistisch gehört F 50 b auf jeden Fall in die archaische Zeit. Literatur: Lipsius 1905–1915, 552 ff.; Paoli 1936, 77 ff.; Harrison 1968, 140. Vgl. auch Wyse 1904, 534 ff., 562 ff. und 679 ff. F 51 a (25) (= F 52 a) Plut. Sol. 20,4: τρὶς ἑκάστου μηνὸς ἐντυγχάνειν πάντως τῇ ἐπικλήρῳ τὸν λαβόντα. Übersetzung: Wer die Erbtochter nimmt, soll auf jeden Fall dreimal im Monat mit ihr verkehren. F 51 b Plut. mor. 769 Α (amat.): τόν τε Σόλωνα μαρτυρεῖ γεγονέναι τῶν γαμικῶν ἐμπειρότατον νομοθέτην, κελεύσαντα μὴ ἔλαττον ἢ τρὶς κατὰ μῆνα τῇ ((γαμετῇ)) πλησιάζειν. Adn. γαμετῇ verallgemeinernd statt ἐπικλήρῳ, vgl. F 51 a.
Übersetzung: Dass Solon ein Gesetzgeber war, der sehr gut um die Ehe Bescheid wusste, geht daraus hervor, dass er anordnet, man solle nicht weniger als dreimal im Monat ((mit seiner Frau)) verkehren. F 52 a (26) Plut. Sol. 20,2: ἄτοπος δὲ δοκεῖ καὶ γελοῖος ὁ (scil. νόμος) τῇ ἐπικλήρῳ διδούς, ἂν ὁ κρατῶν καὶ κύριος γεγονὼς κατὰ τὸν νόμον αὐτὸς μὴ δύνατος ᾖ πλησιάζειν, ὑπὸ τῶν ἔγγιστα τοῦ ἀνδρὸς ὀπύεσθαι. ((καὶ τοῦτο δ’ ὀρθῶς ἔχειν τινές φασι πρὸς τοὺς μὴ δυναμένους συνεῖναι, χρημάτων δ’ ἕνεκα λαμβάνοντας ἐπικλήρους καὶ τῷ νόμῳ καταβιαζομένους τὴν φύσιν. ὁρῶντες γὰρ, ᾧ βούλεται, τὴν ἐπίκληρον συνοῦσαν, ἢ προήσονται τὸν γάμον, ἢ μετ’ αἰσχύνης καθέξουσι, φιλοπλουτίας καὶ ὕβρεως δίκην διδόντες. εὖ δ’ ἔχει καὶ τὸ μὴ πᾶσιν, ἀλλὰ τῶν συγγενῶν τοῦ ἀνδρὸς ᾧ βούλεται διαλέγεσθαι τὴν ἐπίκληρον, ὅπως οἰκεῖον ᾖ καὶ μετέχον τοῦ γένους τὸ τικτό-
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μενον.)) εἰς τοῦτο δὲ συντελεῖ καὶ τὸ τὴν νύμφην τῷ νυμφίῳ συγκαθείργνυσθαι μήλου κυδωνίου [συν]κατατραγοῦσαν (F 127 a), καὶ τὸ τρὶς ἑκάστου μηνὸς ἐντυγχάνειν πάντως τῇ ἐπικλήρῳ τὸν λαβόντα (F 51 a). καὶ γὰρ εἰ μὴ γένοιντο παῖδες, ἀλλὰ τιμή τις ἀνδρός αὕτη πρὸς σώφρονα γυναῖκα καὶ φιλοφροσύνη, πολλὰ τῶν συλλεγομένων ἑκάστοτε δυσχερῶν ἀφαιροῦσα καὶ ταῖς διαφοραῖς οὐκ ἐῶσα παντάπασιν ἀποστραφῆναι. τῶν δ’ ἄλλων γάμων ἀφεῖλε τὰς φερνάς. ἱμάτια τρία καὶ σκεύη μικροῦ τιμήματος ἄξια κελεύσας, ἕτερον δὲ μηδέν, ἐπιφέρεσθαι τὴν γαμουμένην (F 7I a). App. crit. αὐτὸς: αὐτῆς S συνεῖναι Anon.: συνιέναι codd. [συγ]ματατραγοῦσαν Coraes, coll. F 127 b — c γίγνοιντο Y τιμήματος S: νομίσματος SmgY. Adn. ὀπύειν = heiraten; Fehldeutung als συνεῖναι, διαλέγεθαι (so auch in F 52 b) veranlasst durch μὴ δύνατος ᾖ πλησιάζειν.
Übersetzung: Komisch und lächerlich scheint das Gesetz zu sein, das es der Erbtochter freistellt, sich von den nächsten Verwandten ihres Mannes beschlafen zu lassen, wenn dieser, vom Gesetz zum Ehemann bestimmt, selbst nicht fähig ist, mit ihr zu verkehren. Doch einige meinen, dass das ganz in der Ordnung sei im Hinblick auf diejenigen, die impotent sind, aber um des Hab und Gutes willen eine Erbtochter heiraten und so mit Hilfe des Gesetzes die Natur vergewaltigen. Denn wenn sie merken, dass die Erbtochter verkehrt, mit wem sie will, werden sie entweder die Ehe lösen oder sie nur mit Schimpf und Schande behaupten können und so für ihre frevelhafte Liebe zum Reichtum büßen. Gut aber ist es, dass die Erbtochter nicht mit jedem Βeliebigen verkehren kann, sondern nur mit irgendeinem aus der Verwandtschaft des Mannes, damit das Kind, das aus dieser Verbindung hervorgeht, zur Familie gehört. Demselben Zweck dient es auch, dass die Braut mit dem Bräutigam eingeschlossen wird, nachdem sie einen kydonischen Apfel (= Quitte) gegessen hat (= F 127 a), und dass derjenige, der die Erbtochter nimmt, auf jeden Fall dreimal im Monat mit ihr verkehren muss (= F 51 a). Denn das bedeutet, auch wenn dabei keine Kinder entstehen, verdiente Anerkennung und liebevolle Behandlung der Frau durch den Mann, die viele der sonst üblichen Schwierigkeiten aus der Welt schafft und eine Entfremdung durch Streit gar nicht erst aufkommen lässt. – Bei den anderen Ehen begrenzte er die Höhe der Aussteuer, indem er festsetzte, dass die Braut nur drei Kleider und Hausgerät von geringem Wert einbringen solle, sonst aber nichts (= F 71 a). F 52 b (26) = F 27 Hesych β 466: βινεῖν· παρὰ Σόλωνι τὸ βίᾳ μίγνυσθαι· ((τὸ δὲ κατὰ νόμον)) ὀπύειν. Adn. ὀπύειν = heiraten. Zur Fehldeutung s. F 52 a.
Übersetzung: binein ((nennt)) Solon ((die Vergewaltigung, den rechtmäßigen Beischlaf nennt er)) opyein.
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F 52 c (= F 41a) Galen (gloss. Hippocr. prooem.) XIX p. 66 (Kühn) = Aristoph. frg. 222 K: κακεῖνος … τῶν ἐν τοῖς Σόλωνος ἄξοσιν γλωττῶν εἰς δίκας διαφέρούσας … προβάλλει, τί ποτέ ἐστι τὸ «ὀπυίειν». App. crit. τὸ ὀπυίειν (τοὐπύειν) Dindorf (Dobree): τὸ εὖ ποιεῖν Galen: ἀποινᾶν Bergk.
Übersetzung: Doch jener … fragt seinerseits nach Wörtern aus der Rechtssprache der Axones des Solon, die außer Gebrauch gekommen sind …, fragt er weiter, was denn opyiein sei. Zum Kontext s. F 41 a. Erklärung: Bei der Epikleros, der Erbtochter, beginnen die Schwierigkeiten schon mit der Definition. Auf jeden Fall wird eine unverheiratete bzw. verwitwete Frau, die weder Vater noch Großvater, Bruder oder Neffen väterlicherseits hat, mit dem Tode des letzten aus dieser Gruppe, zur Erbtochter (s. Komm. F 48 b). Ob das Gleiche für eine verheiratete Frau mit Sohn oder Tochter oder ohne Kinder gilt, mag im Augenblick offen bleiben. Auf ihre Hand hat der Nächstverwandte, in aller Regel ihr Onkel väterlicherseits, Anspruch (F 52 a). Wer der Nächstverwandte im konkreten Fall ist, ergibt sich aus dem Gesetz über die Intestaterbfolge (F 50 b). Ob der Nächstverwandte die Erbtochter selbst zur Frau nehmen muss oder ob er sie einem anderen aus seiner Verwandtschaft überlassen kann, mag im Augenblick offen bleiben und soll später erörtert werden. Der Mann der Erbtochter hat mindestens dreimal im Monat mit ihr zu verkehren (F 51 a). Entspringt aus dieser Verbindung ein Sohn, so wird dieser mit dem Tage der Volljährigkeit Herr über das Erbe seines Großvaters mit der Pflicht, seiner Mutter den Unterhalt zu gewähren (F 53). Ist jedoch der Nächstverwandte, der dem Gesetz nach auf die Hand der Erbtochter Anspruch hat, nicht imstande, mit ihr zu verkehren, und zwar in aller Regel, weil er noch nicht geschlechtsreif oder impotent ist, dann darf sich die Erbtochter mit einem Mann ihrer Wahl verheiraten, allerdings muss er aus der nächsten Verwandtschaft stammen. Soweit die gesicherten Grundlagen des Erbtochterrechts. Doch nun zu den Problemen: In F 48 b heißt es: ἐὰν μὲν ἐπίκληρος ᾖ, τὸν κύριον ἔχειν. Demnach muss – und das ist auch herrschende Lehre – der Nächstverwandte die Erbtochter zur Frau nehmen. Was aber, wenn dieser bereits verheiratet ist und dann auch noch kleine Kinder hat? Die Antwort lautet: Er hat sich von seiner Frau zu trennen, unbekümmert um deren Schicksal und unbekümmert um die Gefühle seiner angeheirateten Verwandten. Νόμος πάντων βασιλεύς = “Das Gesetz ist aller König“ (K. B.). Doch es ist Skepsis geboten. Denn immerhin sind nicht nur die gefühlsmäßigen, sondern auch die rechtlichen Bindungen zwischen der Familie des Mannes und der Familie der Frau so eng, dass die angeheirateten Verwandten nicht nur sich an der
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Verfolgung einer Bluttat zu beteiligen haben (F 5 a), sondern sogar erbberechtigt sind, wenn von Seiten des Mannes keine Verwandten bis hin zu den Vetterskindern vorhanden sind, und zwar noch vor den entfernteren Verwandten des Mannes (F 50 b). Eine Gesellschaft aber, die auch noch die angeheirateten Verwandten zur Familie rechnet, würde wohl den Gedanken, dass ein Mann sich wegen einer Erbtochter von seiner Frau trennen müsse, ziemlich absonderlich finden und auf Abhilfe sinnen. Mag es auch in solonischer Zeit allgemein geboten gewesen sein, dass der Nächstverwandte die Erbtochter zu heiraten habe, so gab es doch für den Fall, dass der Nächstverwandte entweder impotent oder noch nicht geschlechtsreif war, eine Ausnahme: Ein anderer aus der engeren Verwandtschaft bekam die Erbtochter. Eine gleiche Ausnahme ist aber zu postulieren für den Fall, dass der Nächstverwandte bereits verheiratet war und sich nicht von seiner Frau trennen wollte. Der einfachste Ausweg war dann, dass der nächstverwandte, aber verheiratete Onkel keinen Anspruch auf die Erbtochter erhob und seinen noch ledigen Sohn aufforderte, sich die Erbtochter zusprechen zu lassen. Gerade das aber war im 4. Jh. die Praxis, und zwar als legal angesehene Praxis. Es heißt bei Isai. 10,5: ἡ μήτηρ … ἐπίκληρος ἐγένετο. … Ἀριστομένης … ἀμελήσας ἢ αὐτὸς αὐτὴν ἔχειν ἢ τῷ ὑεῖ (Apollodor) … ἐπιδικάσαθαι … = „Die Mutter wurde Erbtochter. … Aristomenes, der versäumte, sie entweder selbst (zur Frau) zu nehmen oder seinem Sohn zusprechen zu lassen …“ (K. B.) und in § 12: Ἀριστομένει γε οὐδὲ Ἀπολλοδώρῳ, οἷς προσήκε τῆς … μητρὸς ἐπιδικάσασθαι … = „weder dem Aristomenes noch dem (Sohn) Apollodor, denen es oblag, sich die Mutter (als Ehefrau) zusprechen zu lassen …“ (K. B.). Reden sind natürlich prozesstaktisch bestimmt, aber die Äußerung, dass Aristοmenes, der Onkel väterlichseits, den Zuspruch der Erbtochter nicht nur für sich, sondern auch für seinen Sohn Apollodor hätte beantragen können, ist für den Prozess irrelevant und zeigt, dass der Nächstverwandte auch zugunsten seines Sohnes auf die Hand der Erbtochter verzichten konnte. Lex ap. Demosth. or. 43,54 (= Testim. [ F 126 a – c]) lautet: τῶν ἐπικλήρων ὅσαι θητικὸν τελοῦσι, ἐὰν μὴ βούληται ἔχειν ὁ ἐγγυτάτω γένους, ἐκδιδότω ἐπιδοὺς ὁ μὲν πεντακοσιομέδιμνος πεντακοςίας δραχμάς, ὁ δὲ ἱππεὺς τριακοςίας, ὁ δὲ ζευγίτης ἑκατὸν πεντήκοντα πρὸς οἶς αὐτῆς … ἐὰν δὲ μὴ ἔχῃ ὁ ἐγγυτάτω γένους ἢ μὴ ἐκδῶ, ὁ ἄρχων ἐπαναγκαζέτω ἢ αὐὸν ἔχειν ἢ ἐκδοῦναι. ἐὰν δὲ μὴ ἐπαναγκάσῃ ὁ ἄρχων, ὀφειλέτω χιλίας δραχμάς … = „Was die Erbtöchter aus der Thetenklasse anbelangt: wenn der nächste Verwandte sie nicht haben will, dann soll der Fünfhundertscheffler sie verheiraten mit Zugabe von 500 Drachmen, der Ritter mit 300, der Zeugit mit 150 zusammen mit dem, was ihr gehört … Wenn aber der nächste Verwandte sie nicht nimmt oder sie nicht verheiratet, soll der Archon ihn zwingen, entweder sie selber zu nehmen oder sie zu verheiraten. Wenn aber der Archon ihn nicht zwingt, soll er 1.000 Drachmen Strafe zahlen …“ (K. B.). Aristophanes Byz. und Diodor, die beide keinen Zugang zu den echten solonischen Gesetzen hatten (s. Ruschenbusch 1966/1983, 39–52), bezeichnen dieses Gesetz als solonisch [F 126 a, b]. Doch wenn die Geldsätze von 500, 300, 150 und 1000 Drachmen für die solonische Zeit jedes erdenkliche Maß überschreiten, so könnte man sich noch damit beruhigen, dass in der Zeit nach Solon die Geldsätze
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den veränderten Verhältnissen angepasst worden sind, so wie es in der Tat mit den Geldsätzen von F 32 a, b geschehen ist. Gewichtiger ist, dass die Schatzungsklassen in der Zeit nach Solon durch die wirtschaftliche Entwicklung ein ganz anderes Gesicht bekommen haben. Das Bild der Thetenklasse in diesem Gesetz passt nur in das 5. Jh. Das zitierte Gesetz sagt in aller Eindeutigkeit, dass der Nächstverwandte die Alternative hatte, entweder die Erbtochter selber zu nehmen oder sie zu verheiraten. Das bedeutet aber, dass der Nächstverwandte, sofern verheiratet, überhaupt nicht gezwungen war, um einer Erbtochter willen sich von seiner Frau zu trennen und damit die Verbindung zu den Verwandten der Frau zu lösen. Die Schwierigkeit ist nur, dass das Gesetz nicht von der Erbtochter allgemein, sondern nur von der Erbtochter aus der 4. Schatzungsklasse, der sogenannten Thessa (s. [F 126 a]), spricht. Demgemäß glaubt man heute allgemein, die Wahlfreiheit des Nächstverwandten habe nur bei dieser bestanden, nicht aber bei der Erbtochter aus der 1. bis 3. Schatzungsklasse. Denn bei diesen habe der Nächstverwandte die Pflicht gehabt, die Erbtochter zur Frau zu nehmen. Man scheint aber dabei nicht bedacht zu haben, dass das Gesetz in dieser Interpretation eine Diskriminierung der Erbtochter aus der 4. Schatzungsklasse bedeutet in dem Sinne, dass eine Thessa nicht gut genug ist für einen Pentakosiomedimnos. Welche Volksversammlung hätte einem solchen Gesetz zugestimmt? Viel einfacher ist dagegen folgende Erklärung: Der Nächstverwandte hatte primär die Pflicht, die Erbtochter zu heiraten. Doch wenn dem Hindernisse entgegenstanden, wie z. B. das Fehlen der Geschlechtsreife oder eine bereits bestehende Ehe, so konnte sie vom Archon auf dem Weg der Epidikasie einem anderen aus der nächsten Verwandtschaft zur Frau gegeben werden. Problematisch war nun der Fall einer Erbtochter aus der vierten Schatzungsklasse. Sie brachte kaum etwas in die Ehe ein. Gehörte der Nächstverwandte der ersten bis dritten Schatzungsklasse an, war verheiratet und ließ sich wegen der Erbtochter scheiden, so verlor er mit seiner Frau auch deren Mitgift, die unter Umständen beträchtlich sein konnte. War er unverheiratet und nahm die Erbtochter zur Frau, so verlor er damit die Aussicht auf eine Mitgift. In einer solchen Situation wird man mehr und mehr von der Alternative Gebrauch gemacht haben, diese Erbtochter mit einem anderen zu verheiraten, auch außerhalb der engeren Verwandtschaft, selbst dann, wenn man unverheiratet war. Diesem Missbrauch begegnete das Gesetz, indem es bestimmte, dass eine Verheiratung dieser Erbtochter mit einem anderen nur möglich sei bei Zahlung einer Mitgift in Höhe des jährlichen Mindesteinkommens der jeweiligen Schatzungsklasse des Nächstverwandten, also einer sehr hohen Summe. Mancher dürfte sich besonnen haben. Beachtenswert ist auch, dass das Gesetz als Nächstverwandten der Thessa keinen Angehörigen der 4. Schatzungsklasse vorsieht; insofern völlig verständlich, als er kaum eine Mitgift geben konnte. Aber er muss – und das ist allgemeine Ansicht – das gleiche Recht gehabt haben wie die Angehörigen der drei anderen Schatzungsklassen, entweder die Erbtochter selbst zu nehmen oder, falls er verheiratet war und sich nicht von seiner Frau trennen wollte, mit einem anderen zu verheiraten. Alles andere wäre eine Diskriminierung gewesen.
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Nun zum Problem einer Tochter, die beim Tod des Vaters bzw. Bruders, Großvaters oder Neffen väterlicherseits bereits verheiratet ist. Hier gilt die Ansicht, dass sie mit einem Sohn nicht, mit einer Tochter möglicherweise und bei Kinderlosigkeit bestimmt Erbtochter wird. Der Nächstverwandte habe Anspruch auf ihre Hand und somit müsse sie sich auf dessen Forderung von ihrem Mann trennen. Doch betrachten wir einmal die Gesetze. Über die Erbtochter der vierten Schatzungsklasse heißt es (Testim. [F 126 a–c]): τὸν ἐγγυτάτα ἀεὶ ἐκδιδόναι ἢ αὐτὸν ἔχειν = „Der Nächstverwandte soll (sie) vergeben oder selbst (zur Frau) haben“ (K. B.). Demnach betrachtet der Gesetzgeber die Erbtochter auf jeden Fall als unverheiratet. Das Gesetz über die Intestaterbfolge (s. oben F 50 b) beginnt wie folgt: „Wenn jemand ohne letztwillige Verfügung stirbt und Töchter hinterlässt, dann (geht die Erbschaft) mit diesen.“ Platon, der in den Gesetzen das Erb- und Erbtochterrecht bis in den Wortlaut hinein dem athenischen Recht nachgestaltet hat, liefert dazu folgenden Kommentar (leg. 524 D–E): θηλείας δὲ ἂν καταλίπῃ τις ἀπροσδοκήτῳ τύχῃ χρησάμενος, συγγνώμην τῷ τιθέντι τὸν νόμον ἐχέτω, ἐὰν τῶν τριῶν αὐτοῦ πρὸς τὰ δύο ἐπισκοπῶν τὴν ἔκδοσιν τῶν θυγατέρων ποιῆται, πρὸς δὲ τὴν τοῦ γένους ἀγχιστείαν καὶ τὴν τοῦ κλήρου σωτηρίαν, τὸ δὲ τρίτον, ὅπερ ἂν πατὴρ διασκέψαιτο, … τὸν ἐπιτήδειον αὑτῷ μὲν υἱόν, νύμφιον δ εἶναι τῇ θυγατρί, τοῦτο δὲ παραλείπῃ διὰ τὴν ἀδύνατον σκέψιν. νόμος τοίνυν εἰς δύναμιν ὅδε περὶ τῶν τοιούτων κείσθω· ἐὰν ὁ μὴ διαθέμενος θυγατέρας λίπῃ, τοῦ ἀποθανόντος ἀδελφὸς … ἐχέτω τὴν θυγατέρα καὶ τὸν κλῆρον τοῦ τελευτήσαντος = „Hinterlässt aber einer, von einem unerwarteten Schicksal dahingerafft, weibliche Nachkommen, dann sehe er es dem Gesetzgeber nach, wenn dieser über die Verheiratung der Töchter mit Berücksichtigung zweier Umstände unter dreien verfügt, nach der Nähe der Verwandtschaft und nach der Erhaltung des Familienbesitzes, den dritten (Umstand) aber, den wohl der Vater berücksichtigen würde …, den ihm als Sohn und seiner Tochter als Bräutigam Zusagenden, wenn er diesen wegen der Unmöglichkeit solcher Berücksichtigung unbeachtet lässt. Darum bestehe darüber folgendes, auf das Mögliche sich beschränkende Gesetz: Hat jemand kein Testament gemacht und hinterlässt Töchter, so soll der Bruder des Verstorbenen die Tochter und das Erbe des Verstorbenen haben“ (K. B.). Und an anderer Stelle (923 E) heißt es: ἐὰν δὲ ἄρρενας μὲν μὴ λείπῃ, θηλείας δὲ ὁ διατιθέμενος, ἄνδρα μὲν τῶν θυγατέρων ᾗτινι ἂν ἐθέλῃ, υἱὸν δὲ αὑτῷ καταλειπέτω γράψας κληρονομεῖν = „Wenn aber (jemand) keine männlichen, wohl aber weibliche Nachkommen hinterlässt, so hinterlasse er von den Töchtern, welcher er will, einen Ehemann, sich selbst aber einen Sohn, indem er ihn zu seinem Erben einsetzt“ (K. B.). Bei Platon findet sich dasselbe Bild wie im Gesetz über die Thessa: Die Erbtochter ist unverheiratet. Die Klausel θηλείας ἂν καταλίπῃ (Plat.) bzw. ἐὰν παῖδας καταλίπῃ θηλείας (F 50 b) lautet also sinngemäß: „Wenn er unverheiratete Töchter hinterlässt, dann geht die Erbschaft mit diesen“. ὀπύειν (F 52 a–c) findet sich bei Homer (Il. 8,304; 13,379; 13,429; 16,178; 18, 383; Od. 2,207; 4,798; 6,63; 15,21), bei Hesiod (theog. 819; scut. 356), bei Pindar (I. 4 (3),59) und im Recht von Gortyn (I Cr. IV 72 col. 3,17 ff. und pass.). Im Attischen findet es sich nur in den Axones (F 52 a–c) und – im Rückgriff darauf – bei
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Aristophanes (Dait. frg. 222 K vom Jahre 427 und Ach. 255 vom Jahre 425) und schließlich bei Aristoteles (eth. Nic. 1148 b 32), wieder als Folge der Beschäftigung mit den Axones (s. T 1). Schon im 5. Jh. war das Wort nicht nur ungebräuchlich, sondern sogar erklärungsbedürftig. Im Jahre 427 wusste ein normaler Athener nicht mehr, was es bedeutet (F 52 c). βινεῖν – ὀπύειν, beides Glossen aus den Axones, werden erklärt als „vergewaltigen“ und „als erlaubten Geschlechtsverkehr ausüben“ (F 52 b). Beide Erklärungen sind falsch. βινεῖν bezeichnet völlig neutral den Geschlechtsverkehr (s. nur Aristoph. Lys. 954; Ekkl. 228, 525), sogar unter Eheleuten (s. Aristoph. Lys. 934). Die Fehldeutung auf die Vergewaltigung dürfte sich aus F 26 ergeben haben (s. Komm.). ὀπύειν heißt in der archaischen Zeit stets „heiraten“. Hier beruht die Fehldeutung auf den Geschlechtsverkehr mit Sicherheit auf F 52 a: ἂν ὁ κρατῶν … αὐτὸς μὴ δύνατος ῇ πλησιάζειν, ὑπὸ τῶν ἔγγιστα τοῦ ἀνδρὸς ὀπύεσθαι (τὴν ἐπίκληρον scil.). Diese Fehldeutung erscheint m. E. schon bei Aristophanes (Ach. 255), ebenso bei Aristoteles (a. a. O.) und setzt sich dann über DidymosPlutarch (s. F 52 a und Ruschenbusch 1966/1983, 46 ff.), Lukian, Moeris bis zu Hesych (F 50 b) fort (Belege bei LSJ s. v.). Echtheit: Die Authentizität von F 52 a mit dem obsoleten ὀπύειν ist doppelt gesichert, einmal durch die Axonesglossen F 52 c und b und zweitens durch Aristoteles, der als Beispiel für die Unklarheit der solonischen Gesetze das Erb- und Erbtochterrecht nennt (Komm. F 47 a); zu Aristoteles als dem ersten Kommentator der Axones s. T 1 und Ruschenbusch 1966/1983, 46 f. F 51 hängt inhaltlich so eng mit F 52 a zusammen, dass auch hier die Authentizität gesichert ist. Literatur: Lipsius 1905–1915, 543 ff.; Harrison 1968, 132 ff.; Karabélias 1974. Stets wichtig ist auch Wyse 1904 passim. Mit äußerster Vorsicht zu benutzen ist Gernet, 1921, 337 ff. (s. dazu Komm. 48 b). F 53* (26) Lex ap. Demosth. or. 46,20: καὶ ἐὰν ἐξ ἐπικλήρου τις γένηται καὶ ἅμα ἡβήσῃ ἐπὶ δίετες, κρατεῖν τῶν χρημάτων, τὸν δὲ σῖτον μετρεῖν τῇ μητρί. App. crit. χρημάτων Blass Testimon. F 54.
Übersetzung: Und wenn jemand von der Erbtochter geboren worden ist und zwei Jahre mannbar ist, dann soll er sofort Herr über das Hab und Gut sein und seiner Mutter das Getreide zumessen. Erklärung: Zur Definition der Epikleros s. Komm. F 48 b und F 51/2. – ἐπὶ διετὲς ἡβᾶν nach Didymos (bei Harpokr. 79,3 s. v.) mit 16 Jahren, da für ihn – vielleicht nach Solon frg 19 D³ – die Reife mit 14 erreicht ist, nach anderen (bei Harpokr. a. a. O., Bekker AG 255,15 und Et. M. 359,17) mit 18, allerdings nur aufgrund einer
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Familienrecht
Stelle aus Hypereides (frg. 192), wonach der Übergang des Erbes an den Sohn aus einer Erbtochterehe erst mit der Einschreibung in die Bürgerliste, also mit 18 erfolgt (s. Aristot. AP 42,1 und 5). Was für das 4. Jh. gilt, dürfte aber auch schon für die Zeit Solons gelten. Mündigkeit ist ein wichtiger Lebensabschnitt. Sie bedeutet Wehrfähigkeit, Zutritt zur Volksversammlung, Geschäftsfähigkeit und die Möglichkeit zu klagen und beklagt zu werden. Es ist kaum glaubhaft, dass sich in der Zeit von Solon bis auf das 4. Jh. am Mündigkeitsalter etwas geändert hat. – Die Formel ἐπὶ διετὲς ἡβᾶν findet sich nur zweimal, in F 53 (und daraus zitiert bei Isai. 8,31; 10,12; frg. 25 und Hyp. frg. 192) und in der lex ap. Demosth. or. 46,24 (Text im Komm. F 47 a und F 49 a) und dazu in Delphi als Bezeichnung für den Volljährigen (Aischin. 3,122). Die Formel gehört in die vorkleisthenische Zeit. Denn seit Kleisthenes war das entscheidende Distinktiv für die Volljährigkeit die Dokimasie durch die Buleuten und die Einschreibung in die Bürgerliste (s. Aristot. Ath. pol. 42,1 und 5; Hyp. frg. 192; Aischin. 1,103; Demosth. or. 30,15 und 17; 19,230 und Lys. 21,1). Die Formel ἐπὶ διετὲς ἡβᾶν ist obsolet geworden, es sei denn, man zitiert F 53. – ἅμα (= sofort) ist Adverb, nicht Konjunktion (so LSJ), doch während ἅμα beim Partizip durchaus gebräuchlich ist, scheint es als Adverb beim Verbum finitum eines Nebensatzes zur Bezeichnung der Gleichzeitigkeit mit der Handlung des Hauptsatzes sich nur hier und bei Plat. leg. 928 C, auch Hdt. 4,150,3, allerdings mit καί, zu finden. Das Normale wäre die Parataxe mit ἅμα … καὶ/δέ … – κρατεῖν τῶν χρημάτων. Zur Bedeutung von χρήματα s. Komm. F 50 b. – τὸν δὲ σῖτον μετρεῖν τῇ μητρί: Dafür, dass das Zumessen des Getreides noch konkret gemeint ist und nicht metaphorisch im Sinne von Unterhalt gewähren, s. Komm. F 54. Zur Frage, ob etwa die Mutter als alleinstehend und im Hause des Sohnes wohnend gedacht wird, und zur Problematik der Begründung der Unterhaltspflicht s. Komm. F 51/2. Textbestand: Es heißt bei Demosth. or. 46,19 f.: τῆς τοίνυν ἐπικλήρου σκοπεῖτε τίνας κελεύουσιν οἱ νόμοι κυρίους εἶναι. Λέγε τὸν νόμον = „Bedenkt nun, wen das Gesetz zu Vormündern der Erbtochter bestimmt. Lies das Gesetz vor“ (K. B.). Es folgt die Verlesung von F 53. Weiter heißt es: οὐκοῦν ὁ μὲν νόμος κελεύει τοὺς παῖδας ἡβήσαντας κυρίους τῆς μητρὸς εἶναι, τὸν δὲ σῖτον μετρεῖν τῇ μητρί = „Also bestimmt das Gesetz, dass die erwachsenen Söhne Vormünder der Mutter sind und der Mutter das Getreide (zu ihrem Unterhalt) zumessen“ (K. B.). Und bei Hyp. frg. 192 heißt es: ἐπεὶ δὲ ἐνεγράφην ἐγὼ καὶ ὁ νόμος ἀπέδωκε τὴν κομιδὴν τῶν καταλειφθέντων τῇ μητρί, ὃς κελεύει κυρίους εἶναι τῆς ἐπικλήρου καὶ τῆς οὐσίας ἁπάσης τοὺς παῖδας, ἐπειδὰν ἐπὶ διετὲς ἡβήσωσι = „Als ich [in die Bürgerliste] eingetragen worden war und das Gesetz, das bestimmt, dass die Kinder Gewalt über die Erbtochter und ihren gesamten Besitz ausüben, sobald sie volljährig geworden sind, mir die Verfügung über das gegeben hatte, was meiner Mutter hinterlassen worden war“ (K. B.). Aufgrund dieser Stellen hat Blass hinter χρημάτων eine Lücke angesetzt und die Worte καὶ κύριον εἶναι τῆς μητρός eingesetzt. Der Einwand von Lipsius 1905–1915, 536 ff., dass bei Demosthenes der Mann der Erbtochter bereits verstorben war und bei Hypereides verstorben sein könnte und deshalb der Sohn Kyrios seiner Mutter war, hilft nicht weiter,
Erbrecht
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da der Sohn auch schon zu Lebzeiten des Ehemannes seiner Mutter deren Kyrios war, allerdings neben dem Ehemann, der ebenfalls deren Kyrios war. Damit aber stellt sich nicht mehr die Frage, ob das Zeugnis des Demosthenes und Hypereides sachlich richtig oder falsch ist, sondern nur noch, ob eine derartige Klausel in F 53 stand. Und hier scheint es, dass nach Isai. 8,31 und frg. 25 nur von κρατεῖν τῶν χρημάτων die Rede war, aber nicht vom κύριον εἶναι τῆς μητρός. Echtheit: Das Gesetz ist zwar anonym überliefert, doch ist die Herkunft aus den Axones gesichert a) durch F 54, wonach ein Gesetz des 1. oder 10. (bzw. 9.) Axon bestimmte, dass den Frauen sitos zu gewähren sei, wobei es sich nur um F 53 handeln kann (s. Komm. 54), b) durch F 47 a, wonach das Erbtochterrecht von Solon stammt, und c) durch die Formel ἐπὶ διετὲς ἡβᾶν und τὸν σῖτον μετρεῖν, die in die archaische Zeit weisen, und durch den absonderlichen Gebrauch von ἅμα, der der klassischen Zeit fremd ist. Ausblicke: In F 53 heißt es: ἐὰν … καὶ ἅμα ἡβήσῃ ἐπὶ διετές, κρατεῖν κτλ. Der gleiche eigenartige Gebrauch von ἅμα beim verb. fin. des Nebensatzes und dazu noch in der Verbindung mit ἡβᾶν findet sich bei Plat. leg. 928 C. Dort heißt es: ἅμα δ ἂν (= ἐάν) ἡβήσῃ τις τῶν ὀρφανῶν, ἐὰν ἡγῆται κακῶς ἐπιτροπευθῆναι, μέχρι πέντ’ ἐτῶν ἐξηκούσης τῆς ἐπιτροπῆς ἔστω δίκην λαχεῖν ἐπιτροπίας = „Sobald von den Waisen einer zur Volljährigkeit gelangt ist, sei es ihm, wenn er glaubt, dass die Vormundschaft schlecht geführt wurde, binnen fünf Jahren nach Ablauf der Vormundschaft gestattet, wegen der Vormundschaft Klage zu erheben“ (K. B.). Dass Platon sich auch mit dieser Bestimmung an das Recht Athens angelehnt hat, zeigt die fünfjährige Ausschlussfrist, die auch für Athen gilt (s. Demosth. or. 38,17). Und dass das athenische Gesetz auf Solon zurückgehen könnte, darauf lässt nicht nur der eigenartige Gebrauch des ἅμα und das obsolete Wort ἡβᾶν (natürlich mit dem Zusatz ἐπὶ διετές) schließen, sondern auch die Tatsache, dass im 1. oder 10. (bzw. 9.) Axon die Vormundschaft (wohl mitsamt der δίκη ἐπιτροπῆς) behandelt worden war (s. Komm. F 54). Literatur: Zum Doppel-Kyriat s. Wolff 1961, 161 ff. und – mit schärferer Akzentuierung – Karabélias 1974, 182 ff. Zu Wolff, 162 Anm. 24 noch eine kleine Richtigstellung. Zu der Frage, ob ein Vater seine Tochter gegen ihren Willen von ihrem Mann trennen konnte, ist Menander Pap. Didot I eindeutig: Er kann es ebenso, wie der Nächstverwandte einer verheirateten, aber kinderlosen Erbtochter. – Die Frau ist niemals rechts- und geschäftsfähig. Anders der Mann. Mit der Volljährigkeit ist er sui iuris. Und das erklärt auch den Fall Demosth. or. 41,3: Polyeuktos hat Töchter, aber keinen Sohn. Er adoptiert deshalb Leokrates und gibt ihm eine seiner Töchter zur Frau. Als es aber zwischen ihm und Leokrates zu einem Zerwürfnis kommt, „nimmt er ihm die Frau weg“ und verheiratet sie anderweitig. Wolff meint, dass dieser Fall nicht beweiskräftig sei, da Polyeuktos als Kyrios seines Adoptivsohnes gehandelt haben könnte und nicht als Kyrios seiner Tochter. Wolff hat dabei nicht bedacht, dass Leokrates sui iuris ist und dass somit Polyeuktos die Auflösung der Ehe nur als Kyrios seiner Tochter betrieben haben kann. Doch Wolff sagt ja
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Familienrecht
selbst: „Jedenfalls würde ein etwaiges Recht athenischer Väter, die Ehen ihrer Töchter nach Belieben zu lösen, durchaus in das allgemeine Eherecht hineinpassen.“ Bestimmungen über die Gewährung von Unterhalt F 54 (26) Harpokr. 166,24 Sud. σ 502 Phot. 514,6: σῖτος καλεῖται ἡ διδομένη πρόσοδος εἰς τροφὴν ταῖς γυναιξὶν ἢ τοῖς ὀρφανοῖς, ὡς ἐξ ἄλλων μαθεῖν ἐστι καὶ ἐκ τῶν τοῦ Σόλωνος πρώτου καὶ τοῦ ἄξονος καὶ ἐκ τῆς ’Αριστοτέλους ’Αθηναίων πολιτείας (56,7).
App. crit. καλεῖται σῖτος Harpokr.D καὶ ἡ διδομένη Harpokr.D, Sud. ἐξ ἀλλων om. Sud., Phot. ἐστι μαθεῖν Sud., Phot. τῶν om. Harpokr. πρώτου καὶ τοῦ < e. g. γ̅ > ἄξονος Ru. πρώτου κατὰ τοῦ ἆξονος cod. Harpokr. ap. Gronov. ((πρώτου καὶ δεκάτου ci. Valesius): πρωην τοῦ ἄξονος Sud. (ζητεῖ πρωην Sud.M) πρώτου ἄξονος Harpokr. ed. Bekker, Phot. ἐκ τῶν: ἐν τῷ Sud.G ἄξονος: ἄξονι Sud.G ἄξονον Harpokr. AB. Adn. Zusammenfassung aus mehreren Gesetzen; s. F 53.
(Die von Maussacus benutzten Harpokr. Mss. O und N haben τοῦ Σόλωνος πρώτου κατὰ τοῦ ἄξονος. Das unsinnige κατὰ τοῦ hat Valesius zu καὶ δεκάτου verbessert. Zu erwägen wäre auch καὶ ἐνάτου [von Ruschenbusch vorgezogen].) Übersetzung: sitos (= Getreide) nennt man die Unterhaltsleistung für Frauen und Waisen, wie u. a. zu ersehen ist aus den Bestimmungen des ersten und zehnten (bzw. neunten) Axon und aus der Athenaion Politeia des Aristoteles (56,7). Echtheit: Durch τοῦ Σόλωνος πρώτου καὶ δεκάτου ἄξονος ist die Herkunft aus den Axones gesichert (s. T 5–10 zur Numerierung der Axones). Erklärung: sitos ist in solonischer Zeit noch ganz konkret die Naturalleistung; vgl. F 53 τὸν σῖτον μετρεῖν = das Getreide zumessen. Im 4. Jh. ist an die Stelle der Naturalleistung die Geldzahlung getreten (s. u.), was den Glossographen Timachidas dazu verleitete, sitos als Zins zu deuten (Harpokr. 166,27). Unterhalt schuldet a) der Vormund dem Mündel und dazu (s. Bekker AG 238,7) seiner Mutter, b) der Sohn aus einer Erbtochterehe seiner Mutter (s. F 53), c) der Sohn seinen Eltern (hier uninteressant: s. F 55–57) und d) der Mann seiner geschiedenen Frau bis zur Rückerstattung der Mitgift. Der letzte Fall gehört nachweislich in die Zeit nach Solon. Es heißt bei Demosth. or. 59,52: λαχόντος δὲ τοῦ Στεφάνου αὐτῷ δίκην σίτου … κατὰ τὸν νόμον, ὅς κελεύει, ἐὰν ἀποπέμπῃ τὴν γυναῖκα, ἀποδιδόναι τὴν προῖκα, ἐὰν δὲ μή, ἐπ’ ἐννέα ὀβόλοις τοκοφορεῖν = „Als Stephanos gegen ihn einen Unterhaltsprozess nach dem Gesetz führte, das bestimmt, die Mitgift zurückzugeben, wenn er sich von seiner Frau scheidet, anderenfalls sie für neun Obolen zu unter-
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halten“ (K. B.), bei Demosth. or. 27,17: ὁ μὲν νόμος κελεύει τὴν προῖκ’ ὀφείλειν ἐπ’ ἐννέ’ ὀβόλοις = Das Gesetz bestimmt, die Mitgift schuldig zu bleiben für neun Obolen [Unterhalt]“ (K. B.) und 29,33 σῖτον τῇ μητρὶ δώσειν … ὡς ἔχοντα τὴν προῖκα = „der Mutter Unterhalt zu gewähren … als Besitzer ihrer Mitgift“ (K. B.). Hier ist zwar noch von sitos und von der δίκη σίτου die Rede, aber das Gesetz legt den Unterhalt nicht mehr in Naturalien fest, sondern in Geld. Demnach haben wir in den Axones nur mit zwei Fällen einer Regelung der Unterhaltspflicht zu rechnen, der des Sohnes aus einer Erbtochterehe gegenüber seiner Mutter (s. F 53) und der des Vormundes gegenüber dem Mündel und dessen Mutter. Ausblicke: Die Regelung der Unterhaltspflicht des Vormundes gegenüber dem Mündel macht es wahrscheinlich, dass Solon auch andere Aspekte der Vormundschaft geregelt hat, so z. B. die Frage, wer Vormund zu sein hat, falls darüber nicht testamentarisch verfügt worden ist. Ebenso könnte die δίκη ἐπιτροπῆς, die Klage gegen den ehemaligen Vormund wegen Vorenthaltung (d. h. Unterschlagung) des väterlichen Vermögens, von Solon stammen: s. dazu Komm. F 53. Literatur: Zur Vormundschaft Lipsius 1905–1915, 520 ff.; Harrison 1968, 97 f.; D. Becker 1968, 30 ff. F 55 a Aristoph. av. 1353: ἀλλ’ ἔστιν ἡμῖν τοῖσι ὄρνισιν νόμος | παλαιὸς ἐν τοῖς τῶν πελαργῶν κύρβεσιν· | ἐπὴν ὁ πατὴρ ὁ πελαργὸς ἐκπετησίμους | πάντας ποιήσῃ τοὺς πελαργιδέας τρέφων, | δεῖ τοὺς νεοττοὺς τὸν πατέρα πάλιν τρέφειν. App. crit. τοῖσι: τοῖς AM ὄρνισιν: ὄρνισι Φ νόμος: νόμοις V1 τοῖς: ταῖς RA Schol. RVAld. κύρβεσιν: κύρμασιν V1 πελαργιδέας Sobolewski: πελαργιδεῖς codd. δεῖ: δεῖν Reiske. Adn. Parodie des solon. Gesetzes.
Übersetzung: Wir Vögel haben von alten Zeiten her ein Gesetz in den Kyrbeis der Störche: Wenn der Storchenvater alle Jungstörche ernährt und damit flügge gemacht hat, dann sollen die Jungen den Vater ihrerseits ernähren. F 55 b (33) Liban. or. 11,14 (5,517,11 Förster): μὴ τοίνυν μηδὲ τὴν ἐμὴν ταυτηνὶ λειτουργίαν διαβαλλέτω τις, ἣ μάχεται μὲν οὐδενὶ τῶν γεγραμμένων νόμων, ὁμολογεῖ δὲ πολλοῖς τε καὶ καλῶς ἔχειν δοκοῦσι, οὓς ὁ Σόλων τοῖς γονεῦσι βοηθοῦντας τέθεικε φόβῳ τῆς τιμωρίας καὶ τοὺς οὐ φύσει χρηστοὺς ἀναγκάζων, ἃ δεῖ τοῖς γεγεννηκόσι φέρειν. App. crit. ἃ δεῖ Β1 ἃ δὴ Β2.
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Übersetzung: Und keiner soll meine Leistung hier herabsetzen. Sie widerspricht nicht nur keinem der geschriebenen Gesetze, sondern stimmt sogar mit vielen für gut befundenen Gesetzen Solons überein, die er zum Schutz der Eltern erlassen hat, indem er durch die Androhung einer Strafe auch diejenigen, die nicht von Natur aus gut veranlagt sind, zwingt, den Eltern das Nötige zu geben. F 55 c (33) Ael. nat. 9,1: ὁ λέων ἤδη προήκων τὴν ἡλικίαν καί γήρᾳ βαρὺς γεγενημένος θηρᾶν μὲν ἥκιστός ἐστι ἀσμένως δὲ ἀναπαύεται ἐν ταῖς ὑπάντροις ἢ λοχμώδεσι καταδρομαῖς καὶ τῶν θηρίων οὐδὲ τοῖς ἀσθενεστάτοις ἐπιθαρρεῖ, τόν τε αὑτοῦ χρόνον ὑφορώμενος καὶ τὸ τοῦ σώματος ἐννοῶν ἀσθενές. οἱ δὲ ἐξ αὐτοῦ γεγενημένοι θαρρῦντες τῇ τῆς ἡλικίας ἀκμῇ καὶ τῇ ῥώμῃ τῇ συμφυεῖ προίασιν μὲν ἐπὶ θήραν, ἐπάγονται δὲ καὶ τὸν ἤδη γέροντα ὠθοῦντες αὐτόν· εἶτα ἐπὶ μέσης τῆς ὁδοῦ, ἧς ἐλθεῖν δεῖ, καταλιπόντες ἔχονται τῆς ἄγρας αὐτοὶ καὶ τυχόντες τοσούτων, ὅσα ἀποχρήσει καὶ αὐτοῖς καὶ τῷ γεγεννηκότι σφᾶς, βρυχησάμενοι γενναῖόν τε καὶ διάτορον καλοῦσιν ὡς δαιτυμόνα ἐστιάτορες ἐπὶ θοίνην οἱ νέοι τὸν γεγηρακότα, τὸν πατέρα οἱ παῖδες … καὶ Σόλων μὲν τοῖς λέουσιν οὐ κελεύει ταῦτα νομοτεθῶν τρέφειν τοὺς πατέρας ἐπάναγκες, διδάσκει δὲ ἡ φύσις, ᾗ νόμων ἀνθρωπικῶν οὐδὲν μελεῖ. App. crit. γεγεννημένοι Schneider γεγεννηκότι Schneider: γεγενηκοτι codd. καλοῦσιν Hercher: καλοῦσιν τόν πατέρα codd. [νομοθετῶν … ἐπάναγκες] Hercher.
Übersetzung: Alt und matt geworden, ist der Löwe nicht mehr imstande, auf die Jagd zu gehen, sondern liegt gern in einer Höhle oder in dichtem Buschwerk. Seines Alters und seiner Schwäche schmerzlich bewusst, wagt er sich nicht einmal mehr an die schwächsten Tiere heran. Doch seine Nachkommen gehen voller Vertrauen auf ihre Jugendkraft auf die Jagd. Dabei nehmen sie aber auch ihren alten Vater mit, indem sie ihn voranstoßen. Haben sie dann ihren Weg halb zurückgelegt, lassen sie ihn allein zurück, während sie sich selbst auf die Jagd machen. Wenn sie nun für sich selbst und für den Vater genug erbeutet haben, stoßen sie einen durchdringenden Schrei aus und rufen wie Gastgeber die Jungen den Alten, den Vater die Kinder zum Mahl. … und das befiehlt den Löwen nicht etwa Solon, der gesetzlich bestimmt hat, dass man den Vater ernähren muss, sondern das lehrt sie die Natur, die von menschlichen Gesetzen keine Notiz nimmt. F 56 (32) Plut. Sol. 22,1: ὁρῶν δὲ τὸ μὲν ἄστυ πιμπλάμενον ἀνθρώπων ἀεὶ συρρεόντων πανταχόθεν ἐπ’ ἀδείας εἰς τὴν ’Αττικὴν, τὰ δὲ πλεῖστα τῆς χώρας ἀγεννῆ καὶ φαῦλα, τοὺς δὲ χρωμένους τῇ θαλάττῃ μηδὲν εἰωθότας εἰσάγειν τοῖς μηδὲν ἔχουσιν ἀντιδοῦναι, πρὸς τὰς τέχνας ἔτρεψε τοὺς πολίτας·
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καὶ νόμον ἔγραψεν υἱῷ τρέφειν πατέρα μὴ διδαξάμενον τέχνην ἐπάναγκες μὴ εἶναι. App. crit. τὸν πατέρα Y.
Übersetzung: Er sah, dass sich die Stadt mit Menschen anfüllte, die um der Sicherheit willen unaufhörlich von überall her nach Attika strömten. Doch da ein Großteil des Landes unfruchtbar war und Kauffahrer bei Leuten, die nichts zu bieten haben, in aller Regel nichts einführen, verwies er seine Mitbürger auf das Handwerk und erließ ein Gesetz, wonach der Sohn den Vater nicht ernähren muss, wenn er ihm kein Handwerk beigebracht hat. F 57 (33) Plut. Sol. 22,4: ἐκεῖνο δ’ ἤδη σφοδρότερον, τὸ μηδὲ τοῖς ἐξ ἑταίρας γενομένοις ἐπάναγκες εἶναι τοὺς πατέρας τρέφειν, ὡς Ἡρακλείδης ἱστόρηκεν ὁ Ποντικός (frg. 146 We.). Übersetzung: Noch schärfer ist das Gesetz, dass Kinder, die von einer Hetäre stammen, den Vater nicht ernähren müssen. Gewährsmann dafür ist Herakleides Pontikos. Erklärung und Wortlaut: F 55–57 regeln die Unterhaltspflicht des Sohnes gegenüber dem Vater. In allen drei Fällen ist diese Pflicht an eine Bedingung geknüpft, in F 57, dass der Sohn nicht mit einer „Hetäre“ gezeugt worden ist, in F 56, dass der Vater den Sohn eine „Techne“ gelehrt hat, und in F 55, dass der Vater seinerseits seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Sohn erfüllt hat. Sowohl bei Plut. (F 56 und 57) als auch bei Aelian (F 55 c) heißt es: ἐπάναγκες (μὴ) εἶναι τὸν πατέρα τρέφειν. Dass in dieser Formulierung der originale Wortlaut vorliegt, beweist das Gesetz bei Aischin. 1,13: διαρρήδην … λέγει ὁ νόμος, ἐάν τινα ἐκμισθώσῃ ἑταιρεῖν πατήρ …, μὴ ἐπάναγκες εἶναι τῷ παιδὶ ἡβήσαντι τρέφειν τὸν πατέρα … = „Ausdrücklich … sagt das Gesetz, wenn ein Vater einen (Sohn) zur Prostitution vermietet …, soll der erwachsene Sohn nicht verpflichtet sein, den Vater zu unterhalten“ (K. B.). F 57 mutet seltsam an: Kinder aus einer Verbindung mit einer „Hetäre“ sind unehelich. Nun ordnet aber schon das Gesetz über die Intestaterbfolge (F 50 b) an, dass uneheliche Kinder keinerlei Erbanspruch und demgemäß keine verwandtschaftlichen Beziehungen zum Vater haben. Man fragt sich daher, ob nicht F 57 mit der Bestimmung, dass ein Sohn aus einer Verbindung mit einer „Hetäre“ dem Vater gegenüber nicht unterhaltspflichtig sei, etwas Überflüssiges anordnet. Weiterhin fällt auf, dass hier nur die Söhne aus einer Verbindung mit einer „Hetäre“ genannt werden, nicht aber die anderen unehelichen Söhne, so z. B. die aus einer Verbindung mit einer Sklavin. Schließlich ist für die solonische Zeit der Euphemismus „Hetäre“, der zum ersten Mal bei Hdt. 2,134 f. belegt ist, anachronistisch. Wenn das Gesetz solonisch ist, dann muss es für „Hetäre“ einen anderen äquivalenten Aus-
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druck gehabt haben, den dann Plutarch oder seine Vorlage in das Griechisch seiner Zeit umgesetzt hat. In Frage kommt entweder ὅσαι ἂν ἐπ ἐργαστηρίῳ καθῶνται ἢ πεφασμένως πωλῶνται als Bezeichnung für die Prostituierte (F 29/30) oder aber παλλακή. Mit dem ersten Ausdruck sind die oben genannten Anstöße nicht beseitigt, wohl aber mit dem zweiten. Das drakontische Gesetz F 20 b erwähnt eine „Pallake, die man um freier Kinder willen hat“, und stellt sie rechtlich der Ehefrau, der Mutter, der Schwester und der Tochter gleich. Im Unterschied zu den Sklavinnen bzw. den anderen Sklavinnen rechnet die Pallake, mag sie nun frei oder unfrei sein, zu den Frauen der Familie. Diesem Pälikat, bei dem es sich um eine rechtlich anerkannte eheliche Verbindung mit dem alleinigen Zweck, freie Kinder zu zeugen, handelt, hat Solon ein Ende gesetzt. Er tat das einmal indirekt, indem er bestimmte, dass als leibliche Kinder nur Kinder gelten sollten, die einer auf dem Wege der Engyesis geschlossenen Ehe entstammen (F 48 b), und nur solchen Kindern einen Erbanspruch zuerkannte (F 49 a, 50 b). Um aber Unklarheiten zu vermeiden, bedurfte es noch eines ausdrücklichen Verbots des Pälikats um freier Kinder willen mit dem notwendigen Zusatz, dass der Vater gegenüber dem Sohn aus einer solchen Verbindung keinen Anspruch auf Unterhalt habe. Diese Bedingungen erfüllt F 57. F 56: Die Testimonia lauten: 1) Plat. Krit. 50 D: τοῖς νόμοις … μέμφῃ τι ὡς οὐ καλῶς ἔχουσιν … τοῖς περὶ τὴν τοῦ γενομένου τροφὴν μαὶ παιδείαν …; οὐ καλῶς προσέταττον … παραγγέλλοντες τῷ πατρὶ … σε ἐν μουσικῇ καὶ γυμναστιῇ παιδεύειν; = „Tadelst du etwa die Gesetze …, dass sie sie nicht gut und schön sind … die über Unterhalt und Bildung eines Sohnes …? Ist ihre Anordnung nicht gut und schön, dass sie den Vater auffordern, … dich in Musik und Gymnastik bilden zu lassen?“ (K. B.), 2) Alexis comoed. ap. Vitr. VI praef. 3: Athenienses ait oportere ideo laudari quod omnium Graecorum leges cogunt parentes a liberis, Atheniensium non omnes nisi eos qui liberos artibus erudissent = „Er [Alexis] sagt, man müsse die Athener deswegen loben, weil die Gesetze aller [übrigen] Griechen dazu zwingen, dass Eltern von ihren Kindern unterhalten werden, die der Athener, nicht alle, sondern nur diejenigen, die sie in ‚Künsten’ haben ausbilden lassen“ (K. B.) und 3) Gal. protrept. I 15 (Kühn): ἐπαινέσῃ δ’ ἄν τις τὸν Ἀθήνησι νομοθέτην, ὃς τὸν μὴ διδάξαντα τέχνην ἐκώλυσε πρὸς τοῦ παιδὸς τρέφεσθαι = „Loben mag einer den Gesetzgeber in Athen, der verbot, dass jemand, der seinen Sohn nicht eine ‚Techne’ hat lernen lassen, von diesem Unterhalt empfängt“ (K. B.). Während Platon von einer musischen und gymnastischen Erziehung spricht, also von einer „Bildung“, spricht Plutarch von einer praktischen Ausbildung, von einer „Lehre“. Diese Divergenz in der Auslegung des Gesetzes spricht dafür, dass der originale Text des Gesetzes die Worte διδάσκειν τέχνην enthalten hat. Nur das Wort τέχνη konnte Anlass zu derart verschiedenen Deutungen geben (vgl. τέχνη ὑφαντική und τέχνη ῥητορική = Weberhandwerk und Rhetorik). Eine musische und gymnastische Erziehung ist ein Luxus, den sich nur eine dünne Oberschicht für ihre Söhne leisten konnte. Die große Masse der athenischen Bürger hat dafür kaum Zeit, die Neigung und Fähigkeit, geschweige denn das Geld gehabt. Doch eine praktische Ausbildung, sei es nun im Handwerk oder in der
Bestimmungen über die Gewährung von Unterhalt
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Landwirtschaft, war für jeden eine Lebensnotwendigkeit. Da nicht anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber ein Gesetz erlassen hat, das ein Großteil der athenischen Bürger nicht erfüllen konnte, verdient die Deutung Plutarchs den Vorzug. Das Gesetz befiehlt also dem Vater, den Sohn praktisch auszubilden bzw. ausbilden zu lassen. Kommt er dem nicht nach, ist der Sohn der Verpflichtung ledig, dem Vater im Alter Unterhalt zu gewähren. Über den Zusammenhang von F 56 mit F 55 s. unten. F 55: Die Vögel des Aristophanes sind u. a. eine Parodie auf athenische Verhältnisse. So wie die Athener ihre Gesetzessäulen, die Axones-Kyrbeis (s. Ruschenbusch 1966/1983, 23 ff.) haben, so haben auch die Vögel ihre Kyrbeis. Und so wie die athenischen Gesetze eine Unterhaltspflicht des Sohnes gegenüber dem Vater vorsehen, so tun es auch die Gesetze der Vögel. Eine Vorstellung von der Form des Gesetzes gewinnen wir aus F 56, F 57 und dem oben zitierten Gesetz bei Aischin. 1,13. Dort war es ein Gebot oder Verbot, bei dessen Nichtbefolgung eine Unterhaltspflicht des Sohnes gegenüber dem Vater erlosch. Das Gleiche ist auch hier der Fall, da auch hier die Verpflichtung des Sohnes an die Bedingung geknüpft ist, dass der Vater seinerseits seine Pflichten gegenüber dem Sohn erfüllt hat. Demnach hat das Gesetz wie folgt gelautet: „Wenn der Vater gegenüber dem Sohn seine Pflichten nicht erfüllt hat, muss der Sohn, wenn er erwachsen ist, den Vater nicht ernähren.“ Eine der Pflichten des Vaters nennt F 55 a: Der Vater muss den Sohn ernähren. Eine weitere eng damit zusammenhängende Pflicht können wir der reziproken Pflicht des Sohnes gegenüber dem Vater entnehmen: Der Vater hat dem Sohn Obdach zu geben, οἴκησιν παρέχειν (Belege s. u.). Eine dritte Pflicht ergibt sich daraus, dass bei Aristophanes davon die Rede ist, dass der Storchenvater die Jungen „flügge“ macht. Zum „flügge machen“ gehört aber nicht nur, dass der Vater den Jungen Obdach und Nahrung gewährt, sondern auch, dass er sie das Fliegen lehrt oder – auf die Menschen übertragen – dass er sie praktisch unterweist, τέχνην διδάσκει. Somit sind F 56 und F 55 Teile eines einzigen Gesetzes. In die gleiche Richtung weist die enge Verbindung von τροφή und παιδεία, von Unterhalt und Erziehung bei Platon (s. o.). Ausblicke: Das Gesetz F 55/56 regelt die Pflichten des Vaters gegenüber dem Sohn und bestimmt, dass der Vater bei Nichterfüllung keinen Anspruch auf Unterhalt seitens des Sohnes habe. Implizit damit sind aber auch schon die Verpflichtungen des Sohnes genannt. Denn wenn der Vater seine Pflichten erfüllt hat, ist der Sohn seinerseits zu Gegenleistungen verpflichtet. Diese Gegenleistungen sind Gewährung von Obdach und Nahrung und Vollziehung des Totenkults (s. u.). Aber damit nicht genug. Es war noch der umgekehrte Fall zu regeln, dass nämlich der Sohn seine Verpflichtungen gegenüber dem Vater nicht erfüllt, und das geschah in dem Gesetz über die κακώσις γονέων. Der Inhalt dieses Gesetzes lässt sich dank der zahlreichen Bezeugungen relativ leicht rekonstruieren. Er lautet: „Wer Vater oder Mutter schlägt oder nicht ernährt oder ihnen kein Obdach gewährt oder sie nicht begräbt oder nicht den gebührenden Totenkult vollzieht, dem ist es verboten, die Agora, die öffentlichen Heiligtümer, das Gericht und die Amtsgebäude zu betreten und an Festzügen teilzunehmen.“ Zu den Tatbeständen s. nur [F 104]; F 32 b; F 74; Demosth. or. 24,105; zur Strafklausel s. Ruschenbusch 2005, 17 f. und 22 f.
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Familienrecht
Echtheit: F 57 ist, wie sich oben ergeben hat, das notwendige Gegenstück zu dem solonischen F 48 b. F 56 bildet mit F 55 ein Ganzes. F 55/56 und das Gesetz über die κακώσις γονέων ergänzen sich gegenseitig. Da nun das Gesetz über die κακώσις γονέων als solonisch gesichert ist (s. Komm. F 32; weiterhin F 74 a und – für die Strafklausel – Ruschenbusch 2005, 22 f.), hat auch sein Gegenstück F 55/56 als solonisch zu gelten. Zudem wird F 55 a als Gesetz aus den Kyrbeis zitiert, allerdings der Vögel. Da aber die Axones-Kyrbeis zur Zeit des Aristophanes bis zum Jahre 403 der geltende Gesetzescode Athens waren (s. Ruschenbusch 1966/1983, 32–36) und Aristophanes sich für sie nicht nur als Rechtsquelle (s. F 50 a; ebenfalls aus den „Vögeln“), sondern auch als Literaturdenkmal interessiert hat (s. F 41 a), darf man annehmen, dass Aristophanes F 55 a den Kyrbeis-Axones entnommen hat und dann auf die Polis der Vögel übertragen hat. Adoption F 58 a (22) Harpokr. 140,30: ὅτι οἱ ποιητοὶ παῖδες ἐπανελθεῖν εἰς τὸν πατρῷον οἶκον οὐκ ἤσαν κύριοι, εἰ μὴ παῖδας γνησίους καταλίποιεν ἐν τῷ οἴκῳ τοῦ ποιησαμένου, Ἀντιφῶν ἐπιτροπικῷ Καλλιστράτου (frg. 15 Βl.) καὶ Σόλων ἐν κ̅α̅ νόμων. App. crit. ποιηταὶ C κατέλιπον ΒC Sauppe pro νόμων temptavi ἀξόνων; certe subaudiendum est.
Übersetzung: Adoptivsöhne dürfen nur dann wieder in ihre natürliche Familie zurückkehren, wenn sie im Haus des Adoptivvaters leibliche Söhne hinterlassen. So Antiphon in der Rede gegen Kallistratos wegen einer Vormundschaft und so Solon im 21. (Axon) der Gesetze. F 58 b* (22) Demosth. or. 44,64: ὁ νομοθέτης ἀπεῖπεν τῷ ποιητῷ αὐτῳ ὄντι ποιητὸν υἱὸν μὴ ποιεῖσθαι, τίνα τρόπον διορίσας περὶ τούτων; ὅταν εἶπε «υἱὸν γνήσιον ἐγκαταλιπόντα ἐπανιέναι», δήλοῖ δήπου φανερῶς, ὅτι οὐ δεῖ ποιεῖσθαι. App. crit. εἰσποιητῷ Α [ποιητὸν] Reiske ἐγκαταλρίποντα S.
Übersetzung: Wie aus der Bestimmung, „zurückkehren (in die natürliche Familie) darf man nur dann, wenn man einen leiblichen Sohn (im Haus des Adoptivvaters) hinterlässt“, mit aller Deutlichkeit hervorgeht, verbietet es der Gesetzgeber einem Adoptierten, seinerseits einen Sohn zu adoptieren. Echtheit: Durch Σόλων ἐν κ̅ α̅ (τῶν N O) νόμων ist die Herkunft aus den Axones gesichert.
Adoption
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Textbestand: Während die Axones fortlaufend durchnumeriert waren (s. T 5 – 10 und F 5 a), waren die Gesetze eines jeden Axon gesondert numeriert (s. T 7: 8. Gesetz des 13. Axon). Folglich dürfte ἐν κ̅α̅ (τῶν) νόμων eine Korruptel aus ἐν κ̅α̅ τῶν ἀξόνων bzw. ἐν κ̅ bzw. ἐν β̄ ἀξόνων sein oder – weniger wahrscheinlich – aus ἐν κ̅α̅ (τῶν) νόμων . In dem wörtlichen Zitat F 58 b: υἱὸν γνήσιον ἐγκαταλιπόντα ἐπανιέναι wird υἱὸν γνήσιον gegen παῖδας γνησίους (F 58 a) bestätigt durch Isai. 6,44; 10,11 und sieben Belege aus Demosth. or. 44, ἐγκαταλιπόντα gegen καταλιπ(όντα) (F 58 a) durch Isai. 10,11 und elf Belege aus Demosth. or. 44 und ἐπανιέναι durch Isai. 6,44; 10,11; 10,26 und neun Belege aus Demosth. or. 44. Der Zusatz (ἐγκαταλιπόντα) ἐν τῷ οἴκῳ τοῦ ποιησαμένου (F 58 a) findet sich – mit Nennung des Namens statt τοῦ ποιησαμένου – bei Isai. 10,11 und – leicht variiert – bei Demosth. or. 44,21 und 22, ist aber nicht authentisch, wie Demosth. or. 44,46; 64 (bis) und 68 beweisen. Der Zusatz (ἐπανιέναι) εἰς τὸν πατρῷον οἶκον (F 58 a) findet sich noch bei Isai. 10,11; 26; Demosth. or. 44,33; 47; 61 und – leicht variiert – 23. Er dürfte dem Gesetz entstammen, doch nicht, wie Demosth. or. 44,46; 64 (bis) und 68 zeigen, dem Hauptsatz, sondern einem vorhergehenden Nebensatz, der wie folgt gelautet haben könnte: ὅστις ἂν ποιητὸς ὢν ἐπανιέναι ἐθέλῃ εἰς τὸν πατρῷον οἶκον, υἱὸν γνήσιον κτλ. Erklärung: In heutiger Zeit adoptiert man in aller Regel unmündige Kinder, wobei das Hauptmotiv der Wunsch nach einem Kind im Kindesalter ist. Anders im alten Griechenland. Zur Adoption greift man nur beim Fehlen leiblicher Söhne, d. h. in aller Regel erst mit 50/60 Jahren, wenn die letzte Hoffnung auf die Geburt eines Sohnes endgültig geschwunden ist und wenn man jemanden braucht, der einem im Alter den täglichen Lebensunterhalt sichert (s. F 55–57 und Isai. 2,10), eine evtl. vorhandene Tochter heiratet und für den Vollzug des Totenkultes sorgt (s. F 74 a und Isai. 2,10). Das bedeutet, dass der zu Adoptierende in aller Regel mindestens 25 bis 30 Jahre alt ist. F 58 behandelt nun den Fall, dass ein Adoptierter wieder in seine natürliche Familie zurückkehren will, und zwar in aller Regel, um das Erbe seines verstorbenen leiblichen Vaters anzutreten, und bestimmt, dass er dazu einen leiblichen Sohn im Hause des Adoptivvaters zurücklassen müsse. Wenn das „Zurücklassen“ konkret gemeint ist, dann musste der Sohn volljährig, d. h. mindestens 16 Jahre (s. Komm. F 54) und sein Vater – bei einem Heiratsalter von 30 – mindestens 46 und der Adoptivvater mindestens 76 Jahre alt und nach menschlichem Ermessen schon tot sein. Das aber würde es erklären, weshalb derjenige, der in seine natürliche Familie zurückkehren will, einen Sohn zurücklassen muß: Der Oikos des verstorbenen Adoptivvaters soll nicht aussterben (s. nur Isai. 7,30 f; 1,43; Demosth. or. 43,11 f.; 72 f.; 83 f; 44,2 und 43). Einen Parallelfall dazu bietet die lex Locrorum Hypocnemiorum de colonia Naupactum mittenda Meiggs/Lewis 20 = SIG³ 47,6 ff. Dort wird bestimmt, dass ein Kolonist aus Naupaktos nur dann nach Lokroi zurückehren kann, wenn er einen erwachsenen Sohn oder Bruder in seinem Haus in Naupaktos zurücklässt. Der
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Familienrecht
Grund für die Rückkehr dürfte auch hier die Verpflichtung gewesen sein, das Erbe des leiblichen Vaters anzutreten. Dass derjenige, der im Hause zurückzulassen ist, ein leiblicher Sohn sein muß, erklärt sich aus F 49 b, wonach der Adoptierte kein freies Verfügungsrecht über den Kleros hatte. Literatur: Lipsius 1905–1915, 508 ff., bes. 518, Harrison 1968, 82 ff., bes. 94. Unbestimmbar F 59 Poll. 6,156: οἱ γὰρ ὁμογάλακτες ἴδιον τῶν Ἀττικῶν, τὸ δ’ ὁμοερκὴς σκληρόν, εἰ καὶ παρὰ Σόλωνι. App. crit. τὸ δέ: καὶ 11.
Übersetzung: Das Wort homogalaktes (= Milchbrüder) findet sich nur im attischen Dialekt, das Wort homoherkes (= im gleichen Haus) sollte man besser nicht gebrauchen, auch wenn es sich bei Solon findet. Echtheit: Glosse, dem Kontext nach (homogalaktes, s. Philochoros in: FgrHist 328 F 35) aus den Gesetzen Solons, nicht aus den Gedichten. Erklärung: Zu beziehen auf den Haushalt oder einen Kultverband. – Auch wenn sich F 59 inhaltlich nicht näher einordnen lässt, ist es wertvoll. Bezeugt es doch, dass die Axones seit Asklepiades, Didymos und Seleukos (T 1–3) auf Glossen hin exzerpiert worden sind, zusammen mit anderen Belegen die Existenz des Textes der Axones für die Glosso- und Lexikographie. F 59 a (neu) Anecd. Oxon. III p. 195,27 (Cramer): Σόλων ὁ νομοθέτης ἐν τοῖς ἄξοσι … ὁμαίμονας … p. 193 τοῦ δὲ ὁμαίμου ἢ καὶ ὁμαίμονος, ἀπό τε τῶν βίβλων Ἀριστοφάνους τοῦ γραμματικοῦ (frg. 7 N.) καὶ Σόλωνος τοῦ νομοθέτου καὶ τῶν ἄλλων σοφῶν ποιήσομαί σοι τὰς μαρτυρίας. Übersetzung: Solon der Gesetzgeber (sagt) in den Axones … homaimonas (= Leute gleichen Bluts) … für das Wort homaimos und homaimon (= jemand gleichen Blutes) werde ich die Belege bringen aus den Büchern des Aristophanes, des Grammatikers, aus Solon, dem Gesetzgeber, und aus den anderen Weisen.
Grenzabstand und Überhang
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NACHBARRECHT Grenzabstand und Überhang F 60 a (54) Dig. 10,1,13: Gaius libro quarto ad legem XII tabularum. sciendum est in actione finium regundorum illud observandum esse, quod ad exemplum quodammodo eius legis scriptum est, quam Athenis Solonem dicitur tulisse; nam illic ita est: ἐάν τις αἱμασιὰν παρ’ ἀλλοτρίῳ χωρίῳ ὀφρύγην, τὸν ὅρον μὴ παραβαίνειν· ἐὰν τειχίον, πόδα ἀπολείπειν, ἐὰν δὲ οἴκημα, δύο πόδας, ἐὰν δὲ τάφρον ἢ βόθυνον ὀρύττῃ, ὅσον τὸ βάθος ᾖ, τοσοῦτον ἀπολείπειν· ἐὰν δὲ φρέαρ, ὀργυάν· ἐλάαν δὲ καὶ συκῆν ἐννέα πόδας ἀπὸ τοῦ ἀλλοτρίου φυτεύειν, τὰ δὲ ἄλλα δένδρη πέντε πόδας. App. crit. ὀφρύγην Paoli secutus Ρ. Hal 1 Ζ 84 (ἐάν τις ὀφρύγην παρὰ ἀλλότριον χωρίον οἰκοδομῇ) ὀρύγῃ F. G. ὀρύττῃ libri ἀπολιπεῖν FG. τάφρον Leunclav (vide F 60b): τάφον FG. βόθυνον Ρ. Hal. (in lac.): βόθρον FG Mommsen ὀργυάν ἐλάαν δένδρη Ρ. Hal.: ὀργυιάν ἐλαίαν δένδρα FG.
Übersetzung: Gaius im 4. Buch zum Zwölftafelgesetz. Bei der actio finium regundorum (= Klage auf Grenzregulierung) muß man wissen, dass zu beachten ist, was in etwa nach dem Muster des Gesetzes geschrieben steht, das Solon in Athen gegeben haben soll. Denn dort heißt es: „Wenn jemand an einem fremden Grundstück eine Einfriedung aus Dornsträuchern oder Steinen baut, soll er die Grenze nicht überschreiten; wenn eine Mauer, dann soll er einen Fuß (ca. 30 cm) wegbleiben, wenn ein Haus, dann zwei Fuß. Wenn er aber einen Graben oder eine Grube gräbt, dann soll er so weit wegbleiben, wie die Tiefe beträgt; wenn aber einen Brunnen, dann einen Klafter (= 6 Fuß). Einen Öl- oder Feigenbaum soll man neun Fuß vom fremden Grundstück pflanzen, die anderen Bäume fünf Fuß.“ F 60 b (55) Plut. Sol. 23,7: ὥρισε δὲ καὶ φυτειῶν μέτρα μαλ’ ἐμπείρως, τοὺς μὲν ἄλλο τι φυτεύοντας ἐν ἀγρῷ πέντε πόδας ἀπέχειν τοῦ γείτονος κελεύσας, τοὺς δὲ συκῆν ἢ ἐλαίαν ἐννέα … βόθρους δὲ καὶ τάφρους τὸν βουλόμενον ἐκέλευσεν ὀρύσσειν, ὅσον ἐμβάλλει βάθος ἀφιστάμενον μῆκος τἀλλοτρίου· καὶ μελισσῶν (F 62) … App. crit. μαλ’: μᾶλλον U ἐκέλευσεν Y: ἐκέλευεν S.
Übersetzung: Die Abstände der Pflanzungen bestimmte er sehr sachverständig, und zwar ordnete er an, dass jemand beim Setzen von anderen Pflanzen auf seinem Acker vom Nachbarn fünf Fuß, bei Feigen- und Ölbäumen neun Fuß Abstand halten solle … Gruben und Gräben auszuheben erlaubte er nach Belieben, und zwar so tief, wie der Abstand vom Nachbarn betrug, und Bienenstöcke (s. F 62) …
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Nachbarrecht
F 60 c (55) Bekker A. G. I,85,1 (Antiatt.): βόθυνον οὔ φασι δεῖν λέγειν. ἀλλὰ Σόλων ἔφη ἐν τοῖς νόμοις (F 60 a). Übersetzung: (Die Attizisten sagen,) das Wort bothynon (Grube) solle man nicht gebrauchen. Aber Solon verwendet es in den Gesetzen (s. F 60 a). F 61 (55) Hesych. π 3643: προπτόρθια· ἐν τοῖς ἄξοσιν ἡ λέξις φέρεται. Übersetzung: proptorthia (= vorstehender Ast). Dieses Wort findet sich in den Axones. F 62 (55) Plut. Sol. 23,7 : … τἀλλοτρίου (F 60 b). καὶ μελισσῶν σμήνη καθιστάμενον, ἀπέχειν τῶν ὑφ’ ἑτέρου πρότερον ἱδρυμένων πόδας τριακόσιους. Übersetzung: Und wenn man einen Bienenstock aufstellt, so soll man 300 Fuß (ca. 90 m) wegleiben von denen, die ein anderer vorher aufgestellt hat. F 63 (55) Plut. Sol. 23,6: νόμον ἔγραψεν, ὅπου μέν ἐστι δημόσιον φρέαρ ἐντὸς ἱππικοῦ, χρῆσθαι τούτῳ · (τὸ δ’ ἱππικὸν διάστημα τεσσάρων ἦν σταδίων·) ὅπου δὲ πλεῖον ἀπέχει, ζητεῖν ὕδωρ ἴδιον· ἐὰν δ’ ὀρύξαντες ὀργυιῶν δέκα βάθος παρ’ ἑαυτοῖς μὴ εὕρωσι, τότε λαμβάνειν παρὰ τοῦ γείτονος, ἑξάχουν ὑδρίαν δὶς ἑκάστης ἡμέρας πληροῦντας. App. crit. ἀπεῖχε Y.
Übersetzung: Er gab folgendes Gesetz : Wo ein öffentlicher Brunnen ist in einer Entfernung von einem Pferdelauf, soll man diesen gebrauchen – ein Pferdelauf ist eine Strecke von vier Stadien (= 740 m) –, wo er weiter weg ist, soll man eigenes Wasser suchen. Wenn sie aber zehn Klafter (= 18 m) tief gegraben haben und bei sich kein Wasser finden, dann sollen sie es beim Nachbarn holen, zweimal am Tag einen Krug mit sechs Güssen füllend (= 2x19,5 l).
Grenzabstand und Überhang
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F 64 a Paroem. Gr. I 388 App. I 58: ((βολίτου δίκην· πρὸς τοὺς ἀξίους καὶ ἐπὶ μικροῖς τιμωρίαν ὑπέχειν·)) ἐν γὰρ τοῖς Σόλωνος ἄξοσιν ὁ νόμος καὶ τοὺς βόλιτον ὑφελομένους κολάζει. App. crit. Σόλωνος om. V.
Übersetzung: Mistbuße. Ein Sprichwort, gemünzt auf diejenige, die eben wegen Geringfügigkeiten eine Strafe erleiden müssen. Denn in den Axones Solons bestraft das Gesetz auch diejenigen, die (auf fremdem Grundstück) sich widerrechtlich Mist (= Kot) angeeignet haben. Echtheit: F 60 a stammt (letztlich) aus einem Vergleich der Ausgabe der Gesetze der Axones des Asklepiades von Myrlea (T 1) mit dem Zwölftafelgesetz durch Servius Sulpicius Rufus aus der Zeit 55–52 v. Chr. (s. Ruschenbusch 1963, 250 ff. Damit ist die Echtheit gesichert. – F 60 c ist Glosse aus F 60 a. – F 60 b, 62 und 63 bilden einen einheitlichen Komplex, das Nachbarrecht. Die Echtheit ergibt sich aus Folgendem: Die Überlieferung über die solonischen Gesetze ist gespalten. Die hellenistische Biographie begnügte sich, da ihr die Gesetze der Axones fehlten, mit Surrogaten aus Geschichtsschreibung und Gerichtsreden des 4. Jh. (s. Ruschenbusch 1966/1983, 42 ff.). Erst mit der Wiederentdeckung der Axones in der ersten Hällfte des 1. Jh. v. Chr. setzt die authentische Überlieferung ein. Da nun in den Gerichtsreden (und dann bei den aus ihnen schöpfenden Lexika) das Nachbarrecht geradezu inexistent ist, stammen die von Plutarch c. 23 angeführten F 60 b, 62 und 63 aus der authentischen Überlieferung, vermittelt durch den Axoneskommentar des Didymos (T 2). Daher auch die wörtliche Übereinstimmung von F 60 b mit F 60 a (zu Plut. s. Ruschenbusch 1966/1983, 46 f.) Erklärung: Wie schon gesagt, spielt das Nachbarrecht in den Gerichtsreden und Lexika überhaupt keine Rolle, so dass man dessen Existenz im Gesetzbuch Athens überhaupt nur hätte vermuten können. Es ist daher ein doppelt glücklicher Zufall, dass bei Platon in den Gesetzen das ganze Nachbarrecht erhalten ist (leg. 843 B – 845 E) und dass dieses – wie die ganze Gesetzgebung – dem Vorbild Athens folgt (s. Ruschenbusch 2001, 7 f.). Es hat zum Inhalt: §1 §2 §3 §4 §5 §6 § 7/8 §9 § 10 § 11
Verrücken des Grenzsteins Bebauen/Abackern eines fremden Grundstücks widerrechtliches Abweiden Aneignung fremder Bienenschwärme Schädigung des Nachbarn durch Feldfeuer Grenzabstände Recht zur Wasserentnahme Regenwasserschaden Brunnenverunreinigung Wegerecht beim Einbringen der Ernte.
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Wirtschaftliche Probleme
Von diesen entspricht § 6 F 60 a; § 8 F 63 und – nicht gerade direkt – § 4 F 62 sowie § 11 F 64; F 61 dürfte den Bestimmungen von § 6 zuzuordnen sein. F 60 a hat den Zweck, den Nachbarn vor Belästigungen gleich welcher Art (Grundwasserentzug, Schatten usw.) zu schützen. – F 61 dürfte den Überhang geregelt haben, den Fall, dass ein Ast von einem Baum des Nachbargrundstücks auf das eigene herüberragt. Zu regeln war u. a., wem eventuell vorhandene Früchte gehörten. – F 62: Honig war ein sehr teures Nahrungsmittel. Das Gesetz sichert den Bienen den Lebensraum. F 63 zeigt, dass man auch auf wasserarmen, also siedlungsfeindlichen Böden siedelte, und zwar in der Form von Einzelhöfen. Grund ist die herrschende Übervölkerung (s. Ruschenbusch 1991, 375 ff.). – F 64: In der gesamten präindustriellen Welt herrschte bis zur Entdeckung des Kunstdüngers durch Justus von Liebig im Jahre 1840 Mangel an Dünger. Gedüngt wurden in aller Regel nur die Bäume, während das Getreide, immerhin das Hauptnahrungsmittel, überhaupt keinen Dünger bekam, so dass Erträge beim drei- bis vierfachen Korn lagen und in jedem fünften Jahr die Ernte ausfiel (s. Ruschenbusch 1983, 187 ff.). Zum Vergleich: Heute liegen die Erträge über dem Dreissigfachen. F 64 gilt nicht dem Diebstahl von Dung überhaupt. Dafür hätte das Diebstahlgesetz F 23 d ausgereicht. Zu denken ist daher an das Recht am Dünger im Rahmen des Wegerechts oder der Viehtrift. Literatur: Klingenberg 1976. WIRTSCHAFTLICHE PROBLEME Sicherung der Ernährung durch ein Ausfuhrverbot für alle Nahrungsmittel F 65 (31) Plut. Sol. 24,1: τῶν δὲ γιγνομένων διάθεσιν πρὸς ξένους ἐλαίου μόνον ἔδωκεν, ἀλλὰ δ’ ἐξάγειν ἐκώλυσε· καὶ κατὰ τῶν ἐξαγόντων ἀρὰς τὸν ἄρχοντα ποιεῖσθαι προσέταξεν, ἢ τίνειν αὐτὸν ἑκατὸν δραχμὰς εἰς τὸ δημόσιον· καὶ πρῶτος ἄξων ἐστὶν ὁ τοῦτον περιέχων τὸν νόμον. App. crit. ἐκτίνειν Y et ἐκ s. s. S.
Übersetzung: Bei landwirtschaftlichen Produkten erlaubte er nur die Ausfuhr von Öl, anderes auszuführen verbot er. Und er bestimmte, dass der Archon über diejenigen, die (gegen das Verbot) etwas ausführten, einen Fluch sprechen oder selbst 100 Drachmen in die Staatskasse zahlen sollte. Und dieses Gesetz enthält der erste Axon. Echtheit: Gesetz aus dem 1. Axon.
Beschränkung des Grunderwerbs auf ein bestimmtes Maß
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Erklärung: In der präindustriellen Welt deckte die Bevölkerung ihren Nahrungsbedarf zu 90 % mit Getreide. Beim Mangel an Dünger lagen die Durchschnittserträge beim 3- bis 4 fachen Korn, von denen noch ein Drittel als Saatgut für das nächste Jahr zurückgelegt werden musste. Bei diesen dürftigen Durchschnittserträgen waren alle fünf bis acht Jahre Nahrungsmangel, ja zuweilen Hungerkatastrophen die Regel. Verschärft wurde die Lage durch das Erbrecht. Überall, wo die Söhne zu gleichen Teilen erbten, war Klein- und Kleinstbauerntum das Normale mit 2 ha als Grenze für das Existenzminium. Getreide wurde jährlich angebaut. An Brache war nicht zu denken. Alles, was das Land hervorbrachte, wurde im Haushalt verbraucht (Subsistenzwirtschaft!). Dieselbe Situation in der Antike. Columella bemerkt, dass in Italien das Getreide kaum das vierfache Korn erreicht. Das wird bestätigt durch die Erträge der Überschussgebiete. Am Aetna mit seinem nährstoffreichen Boden erntete man das Achtfache, und wenn die Ernte gut ausgefallen war, das Zehnfache. Im Niltal, das durch die Nilschwelle mineralisch gedüngt wird, bringt der Boden acht- bis zehnfachen Ertrag. Anders sieht die Lage in Athen für den Großgrundbesitz mit ca. 30 ha aus. Hier hätte es sparsame Überschüsse gegeben. Doch wie es aussieht, war der Großgrundbesitz vom Getreide- zum Ölanbau übergegangen, allein schon wegen des Exports von Salböl (s. F 73). Zur wirtschaftlichen Lage s. Ruschenbusch 1983, 171 ff. Angesichts dieser Situation verbietet F 65 den Export sämtlicher Nahrungsmittel mit Ausnahme des Olivenöls und ordnet strenge Sanktionen an und droht dem Archon für den Versäumnisfall der Durchführung die schwere Strafe von 100 Drachmen an, das ist der Preis von 100 Schafen (s. F 92). Zu den Strafen der solonischen Zeit s. Ruschenbusch 2005, 77 ff. Beschränkung des Grunderwerbs auf ein bestimmtes Maß F 66 (30) Aristot. pol. 1266 b 14: διότι μὲν οὖν ἔχει τινὰ δύναμιν εἰς τὴν πολιτικὴν κοινωνίαν ἡ τῆς οὐσίας ὁμαλότης, καὶ τῶν πάλαι τινὲς φαίνονται διεγνωκότες, οἷον καὶ Σόλων ἐνομοθέτησεν καὶ παρ’ ἄλλοις ἐστὶ νόμος, ὃς κωλύει κτᾶσθαι γὴν, ὁπόσην ἂν βούληταί τις. App. crit. ὁπόσην Ηa π3: οπόστην Ρ23 π3: ὅσην Ms P1.
Übersetzung: Dass die Gleichheit im Besitz von Einfluß auf die Innenpolitik ist, haben offensichtlich schon früh einige Gesetzgeber erkannt.: Denn es gibt z. B. sowohl bei Solon als auch bei anderen Gestzgebern ein Gesetz, das es verbietet, beliebig viel Land zu erwerben.
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Wirtschaftliche Probleme
Echtheit: F 66 dürfte aus der kommentierten Ausgabe der solonischen Gesetze stammen (T 1). Weiterhin gehört F 66 in einen ganz engen Zusammenhang mit der Seisachthie (F 67–70). Erklärung: s. F 67. Ausblick: Die Frage, ob das Gesetz im 4. Jh. noch gültig war und ob es beachtet wurde, lässt sich nicht beantworten; da es im 5. und 4. Jh. in Attika kaum Grundbesitz über 30 ha gegeben hat (s. Lys. 19,29 und Plat. Alc. I 213 E), hat es keine Latifundien gegeben. Zur Spitzengruppe, den Pentakosiomedimnoi, gehörte man schon bei 26,25 ha (s. F 77/78). Zur Seisachthie F 67 (32) Poll. 7,151: ἐπίμορτος δὲ γῆ παρὰ Σόλωνι ἡ ἐπὶ μέρει γεωργουμένη καὶ μόρτη τὸ μέρος τὸ ἀπὸ τῶν γεωργῶν. App. crit. ἐπιμοργός ΙΙ lacuna 12 fere litt, capax πίμορτος Α μοργή ΙΙ.
Übersetzung: epimortos heißt bei Solon das Land, das gegen die Abgabe eines Teils (des Ertrags) bestellt wird und morte heißt der Teil, den diejenigen, die das Land bestellen, abliefern. Echtheit: Glossen (aus den Axones). Erklärung: Nach frg. 30,5 ff. bestand die ganze Seisachthie 1) aus der „Befreiung des Grund und Bodens“ durch die Aufhebung der Horoi und 2) aus der Befreiung derjenigen, die dem Zugriff auf ihre Person verfallen waren. Von den sog. Hektemoroi, also denen, die ein Sechstel ihres Ertrages abliefern mussten, spricht Solon in frg. 30 nicht. Da die Hektemoroi nicht zu denen gehörten, die der Personalexekution verfallen waren, muß die Aufhebung ihrer Verpflichtung mit der Aufhebung der Horoi geschehen sein. Beide Glossen dürften aus dem Gesetz darüber entstammen. Die Agrarkrise infolge der Überbevölkerung hatte schon lange, nach frg. 30,10–12 zu urteilen, mehrere Jahrzehnte gedauert. Bei der Masse der zahlungsunfähig gewordenen Schuldner dürfte sich der Zugriff auf die Person des Schuldners (s. F 69/70) mit der Zeit für den Gläubiger als Irrweg herausgestellt haben. Was wollte der Gläubiger machen, wenn sich der Schuldner dem Zugriff durch Flucht ins Ausland entzog (frg. 30,10 f.)? – Sklaven zur Arbeit auf dem eigenen Hof (frg. 30,13 ff.) wurden in Attika relativ wenige gebraucht: Aufgrund der herrschenden Realteilung (s. zu F 50 b) gab es nur 7 % der Höfe, die mehr als 7 ha Land hatten, und erst ab dieser Größe konnte und musste man eine zusätzliche Arbeitskraft haben. Erschwert wurde diese Situation noch, wenn der Grundbesitz – wie üblich –
Zur Seisachthie
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stark parzelliert war, die einzelnen Parzellen sich in verschiedenen Gebieten Attikas befanden und zudem noch so klein waren, dass Eigenbewirtschaftung so unrentabel war, dass man zur Verpachtung griff. Es blieb dann nichts anderes übrig, als den versklavten Schuldner in das Ausland zu verkaufen (frg. 3,23 ff und 30,8 f.). Der Gläubiger musste also versuchen, statt der Person des Schuldners sein Land in die Hand zu bekommen. Land wird erworben durch Kauf, durch Erbschaft oder wenn der Darlehensnehmer sein Darlehen auf dem Wege einer πρᾶσις ἐπὶ λύσει (eines befristeten Verkaufs des Grundstücks oder auch nur eines Teils davon ohne Wechsel des Besitzes an den Gläubiger mit dem Rückkaufsrecht bei rechtzeitiger Tilgung) aufgenommen und wegen Zahlungsverzugs sein Rückkaufrecht verloren hatte. Verkaufen wollte der in Not geratene Kleinbauer in aller Regel nicht, da er durch den Verkauf seiner Existenzgrundlage beraubt gewesen wäre – manchmal dürfte es dem Gläubiger gelungen sein, den versklavten Schuldner zu bewegen, ihn gegen die Freilassung testamentarisch als Erben einzusetzen (s. zu F 49 a). – Bei der Unmöglichkeit, das Darlehen termingerecht zu tilgen, dürfte sich die prasis epi lysei schon bald für die meisten Kleinbauern als Danaergeschenk erwiesen haben. Trotzdem dürfte auf diese Weise manches Grundstück in die Hände der Gläubiger gelangt sein. Denn nur so lässt sich das Verbot des Landerwerbs über ein bestimmtes Maß hinaus (F 66) erklären, und nur so wird die Forderung nach einer allgemeinen Neuverteilung des Landes (ἀναδασμὸς γῆς: frg. 29/29 b ff.) verständlich. In dieser Situation fand sich ein Ausweg, der die Interessen von Schuldner und Gläubiger wenigstens einigermaßen befriedigte. Zur Ablösung des Zugriffs auf seine Person verpflichtete sich der Schuldner bei Zahlungsverzug von seinem Grundstück oder auch nur einen Teil davon – je nach Höhe des Darlehens – dem Gläubiger als sogenannte hektemoros ein Sechstel seines Ertrags, das sind 16,66 % Zins, abzuliefern. Zum Zeichen dessen, dass das Grundstück mit der Zinszahlung belastet war, wurde auf ihm ein ὅρος aufgestellt, der mit einer Beschriftung die Belastung des Grundstücks kundmachte. Nun zum Testimonium von F 69 a–c (Text s. u.): An Überlieferung aus solonischer Zeit gab es in klassischer Zeit nur die Gedichte und die Gesetze Solons. Demnach ist alles, was bei Aristot. Ath. pol. 2,2 und 4,5 und bei Plut. Sol. 13,4 steht, reine Interpretation. Aristoteles fasst die Abgabe der hektemoroi völlig verständlich, aber falsch als Pacht auf. Folglich muß ihr Land in die Hände des Gläubigers übergegangen sein, und da es offensichtlich viele hektemoroi gab (frg. 30,5–12), konnte Aristoteles aus seiner (falschen) Prämisse schließen, dass alles Land nur wenigen gehört habe. Im übrigen ist das Zeugnis bei Plutarch genauer als das des Aristoteles. Plutarch unterscheidet völlig richtig hektemoroi und Schuldner, die dem Zugriff auf ihre Person ausgesetzt waren. Bei Aristoteles sind beide Gruppen miteinander vermengt worden. Literatur: Eine gute Diskussion bei Rhodes 1981, 90–97, 125–128 und 175 f. Allerdings vertraut Rhodes zu sehr den Aussagen des Aristoteles. Zum Bodenrecht im archaischen Athen s. Ruschenbusch 2005, 131 ff.
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Wirtschaftliche Probleme
Zinsfuß F 68 (30) (= F 15b) Lys. 10,18: τοὺς νόμους τοὺς Σόλωνος τοὺς παλαιούς … «τὸ ἀργύριον στάσιμον θεῖναι, ἐφ’ ὁπόσῳ ἂν βούληται ὁ δανείζων». τὸ στάσιμον τοῦτό ἐστιν … οὐ ζύγῳ ἱστάναι, ἀλλὰ τόκον πράττεσθαι, ὅποσον ἂν βούληται. App. cri. τοῦ Σόλωνος Reiske θεῖναι Francken: εῖναι codd.
Übersetzung: … die Gesetze Solons, die alten … „Der Darlehensgeber soll das Geld (Silber) festsetzen, auf wieviel er will. Komm.: Zum Kontext und zur Echtheit s. F 15 b. Verbot des Zugriffs auf die Person des Darlehensschuldners bei Zahlungsverzug F 69 a (30) (= F 40 a) Aristot. Ath. pol. 9,1: δοκεῖ δὲ τῆς Σόλωνος πολιτείας τρία ταῦτ’ εἶναι τὰ δημοτικώτατα· πρῶτον μὲν καὶ μέγιστον τὸ μὴ δανείζειν ἐπὶ τοῖς σώμασιν … App. crit. ταῦτ’: πάντων Kaibel.
Übersetzung: Von der Ordnung Solons scheinen folgende drei Regelungen den Demos am meisten begünstigt zu haben, als erstes und wichtigstes das Verbot, auf den Leib ein Darlehen zu geben. F 69 b (30) Aristot. Ath. pol. 6,1: κύριος δὲ γενόμενος τῶν πραγμάτων Σόλων τόν τε δῆμον ἠλευθέρωσε καὶ ἐν τῷ π[α]ρόντι καὶ εἰς τὸ μέλλον, κωλύσας δ[ανε]ίζειν ἐπὶ τοῖς σώμασιν καὶ νόμους ἔθηκε καὶ χρεῶν ἀπ[ο]κοπὰς ἐποίησε, καὶ τῶν ἰδίων καὶ τῶν δ[η]μοσίων … App. crit. [[καὶ νόμους ἔθηκε]] Wilamowitz-Kaibel.
Übersetzung: Im Besitz aller Vollmachten befreite Solon den Demos für die Gegenwart und die Zukunft durch das Verbot, auf den Leib ein Darlehen zu geben; weiterhin gab er Gesetze und verkündete einen Erlaß aller Schulden, sowohl der privaten als auch der öffentlichen …
Verbot des Zugriffs auf die Person des Darlehensschuldners bei Zahlungsverzug
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F 69 c (30) Plut. Sol. 15,2: γράψας τὰ μὲν ὑπάρχοντα τῶν χρεῶν ἀνεῖσθαι, πρὸς δὲ τὸ λοιπὸν ἐπὶ τοῖς σώμασι μηδένα δανείζειν. App. crit. ἀνίεσθαι (εἰ supra ίε scr.) S.
Übersetzung: Er ordnete die Aufhebung aller Schulden an und setzte fest, dass in Zukunft niemand mehr ein Darlehn auf den Leib geben dürfe. Testimon. zu F 69 a–c: Weitere Parallelen bei Diod. 1,79,4 und Plut. mor. 828 F sowie die folgenden Testimonien aus Aristoteles’ Verfassung von Athen und der Solonbiographie Plutarchs: Aristot. Ath. pol. 2,2: Es waren die Armen den Reichen versklavt, sie selbst, ihre Kinder und ihre Frauen. Man nannte sie pelatai (= Tagelöhner) und hektemoroi (= Sechstler). Denn gegen diese Pachtsumme bearbeiteten sie die Äcker der Reichen (denn alles Land war in den Händen der Reichen), und wenn sie mit der Pacht in Verzug gerieten, konnte man auf sie und ihre Kinder zugreifen. Und für alle waren die Darlehen auf den Leib bis Solon. Aristot. Ath. pol. 4,5: Wie schon gesagt, waren die Darlehen auf den Leib und gehörte das Land den Wenigen. Plut. Sol. 13,4: Denn der ganze Demos war den Reichen verschuldet. Denn entweder bestellten sie die Felder gegen die Abgabe von einem Sechstel des Ertrages unter dem Namen hektemoroi und Theten oder sie nahmen Darlehen auf den Leib und waren damit dem Zugriff der Darlehensgeber ausgesetzt. Echtheit: Bezeugt durch Sol. Frg. 30,8 ff. und 3,23 ff. L–P. Erklärung: Von der homerischen bis in die hellenistische Zeit war das Prozessziel des Klägers „nicht die Verurteilung des Beklagten zu einer Leistung, sondern die Zulassung zur Praxis, das ist zu einem in der Regel durch … eine Geldsumme ablösbaren vollstreckungsweisen Zugriff“ (H. J. Wolff 1961, 35), ursprünglich auf die Person und dann nur noch auf das Eigentum. Der Zugriff auf die Person des Darlehensschuldners ergibt sich daraus, dass der Schuldner wegen Eigentumsentzugs ipso facto atimos wird. Da also der Schuldner ohnehin dem Zugriff des Gläubigers ausgesetzt war, kann von einer Selbstverpfändung, wie es Aristoteles und – ihm folgend – alle Späteren auffassen, keine Rede sein, geschweige denn, dass Kinder und Frauen des Schuldners davon betroffen waren (zur Entstehung dieses Missverständnisses s. F 31). Solon hat mit F 69 den Zugriff auf die Person beseitigt, und zwar nur beim Darlehensschuldner. Das ergibt sich u. a. aus der im 4. Jh. veralteten Terminologie der Klagen. Während alle anderen Privatstrafklagen δίκαι κατά τινος (díkai katá tinos) sind, Klagen, die ursprünglich das Zugriffsrecht auf die Person des Beklagten zum Ziel haben, ist die Schuldklage δίκη χρέως oder ἀργυρίου und daneben die Klage auf Rückerstattung der darlehensähnlichen Mitgift δίκη προίκος eine δίκη πρός τινα, eine Klage, die nur den Zugriff auf das Eigentum des Beklagten freigibt. Beachtenswert ist auch, dass der Zahlungsverzug nicht
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Wirtschaftliche Probleme
mehr „bestraft“ wird: Im Unterschied zu allen anderen Klagen, bei denen die Ablösungssumme das Doppelte beträgt, geht die δίκη χρέως oder ἀργυρίου und daneben die δίκη προίκος nur auf die Rückgabe, also das Simplum. Hingegen ist die gegen den früheren Vormund gerichtete Klage auf Rückgabe des treuhänderisch verwalteten Mündelvermögens, also auf das Simplum, eine δίκη κατά τινος mit dem Ziel des Zugriffs auf die Person. Literatur: Ruschenbusch 2005, 89 ff. (Zugriff auf die Person), 124 ff. und 234 f. (δίκη κατά τινος und πρός τινα). Zum Testimonium zu F 69 a–c s. F 67. Amnestie zugunsten der dem Zugriff verfallenen Darlehensschuldner F 70 (78) (= T 7) Plut. Sol. 19,4: ὁ δὲ τρισκαιδέκατος ἄξων τοῦ Σόλωνος τὸν ὄγδοον ἔχει τῶν νόμων οὕτως αὐτοῖς ὀνόμασι γεγραμμένον «ἀτίμων· ὅσοι ἄτιμοι ἦσαν πρὶν ἢ Σόλωνα ἄρξαι, ἐπιτίμους εἶναι, πλὴν ὅσοι ἐξ Ἀρείου πάγου ἢ ὅσοι ἐκ τῶν ἐφετῶν ἢ ἐκ πρυτανείου καταδικασθέντες ὑπὸ τῶν βασιλέων ἐπὶ φόνῳ ἢ σφαγαῖσιν ἢ ἐπὶ τυραννίδι ἔφευγον ὅτε ὁ θεσμὸς ἐφάνη ὅδε.»
App. crit. φθόνω S ἔφευγον Sintenis: ἐφυγον Y διέφυγον S ὁ om. Y. Testimon. Sol. frg. 24, 8 D3 πολλοὺς δ’ Ἀθήνας πατρίδ’ ἐς θεόκτιτον | ἀνήγαγον πραθέντας, ἄλλον ἐκδίκως, | ἄλλον δικαίως· τοὺς δ’ ἀναγκαίης ὑπὸ | χρειοῦς φυγόντας γλῶσσαν οὐκέτ’ Ἀττικὴν | ἱέντας, ὡς ἂν πολλαχῇ πλανωμένους· | τοὺς δ’ ἐνθάδ’ αὐτοῦ δουλίην ἀεικέα | ἔχοντας ἤθη δεσπότων τρομευμένους | ἐλευθέρους ἔθηκα.
Übersetzung: Das achte Gesetz des dreizehnten Axon Solons lautet wörtlich. „Von den Atimoi (= den Leuten, die fried- und rechtlos waren). Diejenigen, die atimoi waren, bevor Solon sein Amt als Archon antrat, sollen wieder im Rechtsschutz stehen, außer diejenigen, die vom Areopag, oder diejenigen, die von den Epheten oder vom Prytaneion, verurteilt von den Königen, wegen Tötung oder Blutvergießens oder wegen Errichtung (oder Beteilung an) einer Tyrannis landflüchtig waren, als dieses Gesetz erlassen wurde. Testimonium: Sol. Frg. 30,8 ff. L-P: Viele habe ich nach Athen ins gottgegründete Vaterland zurückgeführt, verkauft mal zu Unrecht, mal zu Recht; weiterhin andere, die unter dem Druck der Schulden landflüchtig geworden waren. Sie sprachen schon nicht mehr Attisch, da sie wohl viel in der Fremde herumgeirrt waren. Wieder andere, die hier in schlimmer Knechtschaft lebten und vor den Launen ihrer Herren zitterten, habe ich frei gemacht. Echtheit: Das 8. Gesetz des 13. Axon, aus einem Axoneskommentar.
Einschränkung der Brautgabe
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Erklärung: Infolge der Übervölkerung und der Realteilung mit all ihren Auswirkungen war ein Teil der Kleinbauern, und das sind gut 80 % der bäuerlichen Bevölkerung, verschuldet. Bis zum Erlass von F 69 war der in Verzug geratene Schuldner mit seiner Person dem Zugriff des Gläubigers ausgesetzt. Voraussetzung dafür war, dass dem säumigen Schuldner ipso facto der Rechtsschutz entzogen war, dass er also – wie im 4. Jh. noch in wenigen Fällen der Staatsschuldner – atimos war. Als solche atimoi nennent Solon frg. 30,8 Schuldner, die ins Ausland verkauft waren, Schuldner, die sich dem drohenden Zugriff auf ihre Person durch die Flucht ins Ausland entzogen hatten, und Schuldner, die infolge des Zugriffs auf ihre Person als Sklaven in Attika arbeiteten. F 70 gibt den Schuldnern den Rechtsschutz zurück und beseitigt mit F 69 den Zugriff auf die Person des Schuldners. Die Amnestie, die in erster Linie dem Schicksal des säumig gewordnen Schuldners abhelfen sollte, ist natürlich auch anderen atimoi zugute gekommen, aber das dürfte eine vergleichsweise kleine Minderheit gewesen sein. – Die Frage der horoi und der hektemoroi war in einem anderen Gesetz geregelt, von dem uns in F 67 zwei Glossen erhalten sind. Einzelerklärung: Das erste Worte (ἀτίμων) ist eine Art Überschrift wie in F 36 (exoules), auf den Axones möglicherweise farbig herausgehoben. – Zur Atimie s. F. 21. – Die Fristenklausel geht auf das Jahr des Archontats 594 v. Chr. – Zu den Epheten, zum Plural βασιλεῖς und zu δικάζειν s. F 5 a. – Zum Prytaneion s. F 21 a. – σφάγη ist die Körperverletzung mit der Absicht zu töten. τραῦμα (s. lex ap. Demosth. or. 23,22) ist dafür erst seit dem 5. Jh. gebräuchlich. – Zur Zuordnung: Epheten und Prytaneion = Tötung und Körperverletzung, Areopag = Tyrannis s. F 2. – καταδικασθέντες ὑπὸ τῶν βασιλέων ist nur auf Tötung und Körperverletzung zu beziehen, nicht auf den Umsturz. Es ist bemerkenswert, dass Solon die Atimie für Tötung und Körperverletzung nur dann als rechtens betrachtete, wenn der Täter ordnungsgemäß verurteilt war, ein Zeichen dafür, wie schwer es seinerzeit gefallen war, den Gerichtszwang, d. h. die Bindung der Selbsthilfe an einen Richterspruch, durchzusetzen. Literatur: s. F 69. AUFWANDSGESETZE U. Ä. Einschränkung der Brautgabe F 71 a (29) (= F 52 a) Plut. Sol. 20,6: τῶν δ’ ἄλλων γάμων ἀφεῖλε τὰς φερνάς, ἱμάτια τρία καὶ σκεύη μικροῦ τιμήματος ἄξία κελεύσας, ἕτερον δὲ μηδέν, ἐπιφέρεσθαι τὴν γαμουμένην. App. crit. τιμήματος S: νομίσματος SmgY.
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Aufwandsgesetze u. ä.
Übersetzung: Bei den anderen Ehen begrenzte er die Höhe der Aussteuer, indem er festsetzte, dass die Braut nur drei Kleider und Hausgerät von geringem Wert mitbringen solle, sonst aber nichts. F 71 b (29) Poll. 1,246: Σόλων δὲ καὶ τὰς νύμφας ἰούσας ἐπὶ τὸν γάμον ἐκέλευσε φρύγετρον φέρειν σημεῖον ἀλφιτουργίας. App. crit. αὐτουργίας II.
Übersetzung: Solon bestimmte, dass die Braut auf dem Hochzeitszug ein Gerät zum Rösten der Gerste tragen solle als Zeichen dafür, dass sie sich darauf versteht. Zum Kontext s. F 52 a. Einschränkung des Aufwands beim Begräbnis F 72 a (36) Cic. de leg. 2,63: nam et Athenis iam ille mos a Cecrope, ut aiunt, permansit corpus terra humandi, quod quom proximi fecerant obductaque terra erat, frugibus obserebatur, ut sinus et gremium quasi matris mortuo tribueretur, solum autem frugibus expiatum ut vivis redderetur. sequebantur epulae, quas inibant propinqui coronati, apud quos de mortui laude quom si quid veri erat praedicatum — nam mentiri nefas habebatur — iusta confecta erant. (64) postea quam, ut scribit Phalereus (frg. 135 We. FGr Hist 228 F 9), sumptuosa fieri funera et lamentabilia coepissent, Solonis lege sublata sunt. — quam legem eisdem prope verbis nostri X viri in decimam tabulam coniecerunt. nam de tribus reciniis et pleraque illa Solonis sunt. de lamentis vero expressa verbis sunt «mulieres genas ne radunto neve lessum funeris ergo habento ». — de sepulcris autem nihil est apud Solonem amplius quam ne quis ea deleat neve alienum inferat, poenaque est, si quis bustum — nam id puto appellari τύμβον — aut monimentum, inquit, aut columnam violaverit, iacerit, fregerit. sed post aliquanto (a. 490/80) propter has amplitudines sepulcrorum, quas in Ceramico videmus, lege sanctum est, ne quis sepulcrum faceret operiosius quam quod decem homines effecerint triduo, (65) neque id opere tectorio exornari nec hermas hos, quos vocant, licebat inponi, nec de mortui laude nisi in publicis sepulturis, nec ab alio, nisi qui publice ad eam rem constitutus esset, dici licebat. sublata etiam erat celebritas virorum ac mulierum, quo lamentatio minueretur; auget enim luctum concursus hominum. (66) quocirca Pittacus omnino accedere quemquam vetat in funus aliorum. sed ait rursus idem Demetrius increbruisse eam funerum sepulcrorumque magnificentiam, quae nunc fere Romae est. quam consuetudinem lege minuit ipse … sumptum minuit non so-
Einschränkung des Aufwands beim Begräbnis
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lum poena, sed etiam tempore: ante lucem enim iussit efferri. sepulcris autem novis finivit modum; nam super terrae tumulum noluit quid statui, nisi columellam tribus cubitis ne altiorem aut mensam aut labellum, et huic procurationi certum magistratum praefecerat.
App. crit. (63) ille mos A2B2Hm: illo mores A1B1H: illud moris Ziegler: Athenis, iam illos mores, a Cecrope Vahlen corpus Stephanus: hoc ius ABH Vahlen: adhuc vel hucusque Ziegler quod Turnebus: quam ABH Vahlen [ut] Huschke inibant Camerarius: inirant B1H: inirent AB2 quos Madvig: quas AB quaq; H siquid Turnebus: niquid AB: uiquid H: quicquid Madvig iusta confecta Manutius: adiusta coniecta Α1H: adiuxta coniecta A2B: ac iusta confecta Vahlen (64) postea A2: poste A1BH Xviri Stephanus: suiri ABH τύμβον aut: tumbona ut ABH iacerit AH: acerit B: vitiaverit Vahlen: laeserit Feldhügel vidimus A1 (65) textorio AH: textario B hermas hos quos Stephanus:hermasosquos A: ermasos quos B: ernam hos quos H auget ‚e codice‘ Ursinus: huc A1H: hunc A2: huic B (66) aliorum Bake: alienum Ziegler idem dett: eidem ABH quicquam Lambinus: quod ABH.
Übersetzung: Denn in Athen soll die Sitte, den Toten zu begraben, seit Kekrops bestanden haben. Wenn nun die nächsten Verwandten das getan hatten und der Tote unter der Erde lag, dann wurde auf das Grab Getreide gesät, dass der Tote gleichsam im Mutterschoß lag, und der Boden, durch das Getreide entsühnt, den Lebenden wieder zur Verfügung stand. Es folgte dann ein Totenmahl, das die Verwandten bekränzt begingen. Und wenn dabei zum Lobe des Toten etwas Wahres – denn die Unwahrheit zu sagen galt als Frevel – gesagt worden war, hatten die Totenfeierlichkeiten ihr Ende. Als man aber, wie Demetrios von Phaleron schreibt, anfing, das Begräbnis aufwendiger zu gestalten und mit Trauerklagen zu begleiten, da schritt Solon dagegen mit einem Gesetz ein. Dieses Gesetz haben dann unsere Decemvirn fast wörtlich in die zehnte Tafel (des XII Tafel-Gesetzes) übernommen. Denn die „Drei Schleier“ und fast alles Weitere stammen von Solon. Doch von der Trauerklage heißt es wortwörtlich übersetzt: „Die Frauen sollen sich nicht die Wangen zerkratzen und keine Totenklage erheben.“ – Über das Grab steht bei Solon nichts weiter, als dass niemand es zerstören solle oder einen Fremden darin begraben, und er stellte es unter Strafe, wenn einer die Grabstätte – denn das dürfte mit dem Wort tymbos gemeint sein – oder das Grabmal oder die Grabstele beschädigt, umstürzt oder zerbricht. – Irgendwann darauf wurde, wegen der riesigen Grabanlagen, die wir im Kerameikos sehen, gesetzlich bestimmt, dass niemand ein Grabmal aufwendiger machen dürfe als wie zehn Mann in drei Tagen zustande bringen. Weiterhin wurde verboten, es mit einem Relief auszuschmücken oder eine sogenannte Stele aufzustellen. Über das Lob des Toten durfte fortan nur noch beim Staatsbegräbnis und auch nur von demjenigen, der staatlicherseits dazu bestimmt worden war, geredet werden. Um die Totenklage zu mindern, wurde auch der Zulauf von Männern und Frauen beseitigt. Der Zulauf von Menschen vergrößert nämlich die Trauer. Deshalb verbot es auch Pittakos überhaupt, am Begräbnis eines Menschen, der nicht zur Familie gehört, teilzunehmen. – Weiterhin sagt Demetrios, es habe sich dann bei Begräbnissen und bei Grabmälern eine solche Pracht entwickelt, wie sie jetzt etwa in Rom herrscht. Diese Gewohnheit schränkte er selbst gesetzlich ein. Er begrenzte den Aufwand nicht nur durch die Androhung einer Strafe, sondern auch
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Aufwandsgesetze u. ä.
dadurch, dass er die zeitliche Möglichkeit dafür beschnitt. Der Leichenzug musste nämlich vor Tagesanbruch stattfinden. Was aber das Grabmal angeht, so setzte er für die Zukunft ein Maß. Denn nichts durfte auf dem Grabhügel aufgestellt werden außer einer Stele von höchstens drei Ellen Höhe, oder einem kleinen Altar oder einem Opferbecken, und die Aufsicht darüber übertrug er einem bestimmten Beamten. F 72 b (36) Cic. de leg. 2,59: iam cetera in XII minuendi sumptus sunt lamentationisque funebris, translata de Solonis fere legibus. «hoc plus» inquit «ne facito: rogum ascea ne polito.» nostis quae secuntur, discebamus enim pueri XII, ut carmen necessarium, quas iam nemo discit. extenuato igitur sumptu tribus reciniis et tunicula1 purpurae et decem tibicinibus tollit etiam lamentationem: «mulieres genas ne radunto neve lessum funeris ergo habento». hoc veteres interpretes Sex. Aelius, L. Acilius non satis se intellegere dixerunt, sed suspicari vestimenti aliquod genus funebris, L. Aelius lessum quasi lugubrem eiulationem, ut vox ipsa significat. quod eo magis iudico verum esse, quia lex Solonis id ipsum vetat. App. crit. lamentationesque ABH funebris Davisius: funeris ABH reciniis A2B2: viciniis A1B1H et tunicula Turnebus: etuimcla B: etuincla AH purpure H funebris: funeris ABH L. Aelius Turnebus: Laelius AB: Laelus H.
Übersetzung: Die weiteren Bestimmungen in den XII Tafeln haben zum Ziel, den Aufwand beim Begräbnis und die Klage einzuschränken, und sind in der Regel den Gesetzen Solons entnommen. „Mehr als das“, sagt das Gesetz, „soll er nicht tun: Das Holz des Scheiterhaufens soll er nicht mit der Axt glätten.“ Ihr kennt den Rest. Als Kinder lernten wir nämlich die XII Tafelgesetze wie eine lebensnotwendige Formel. Doch das ist heute vorbei. Nachdem also das Gesetz den Aufwand auf drei Kleider, ein kleines Unterkleid aus Purpurwolle [richtig wohl eher: drei Schleier und ein Purpurstirnband: K. B.] und zehn Flötenspieler begrenzt hat, verbietet es noch die Totenklage: „Die Frauen sollen sich nicht die Wangen zerkratzen und keine Totenklage (lessum) erheben.“ Die früheren Kommentatoren Sex. Aelius und L. Acilius sagen, sie könnten mit dem Wort lessum nichts Rechtes anfangen, ver1
Die Mehrheit der Hss. überliefert vincla purpurae. Mit leichtem Eingriff in das Überlieferte liest D. Flach, Das Zwölftafelgesetz. Leges XII Tabularum, Texte zur Forschung 83, Darmstadt 2004, 147 mit dem Kommentar auf S. 220 vinclo purpurae und übersetzt: „Nachdem es [das Gesetz] also den Aufwand auf drei Schleier, ein Purpurstirnband und zehn Flötenbläser vermindert hat …“ und verweist auf die Worterklärungen der römischen Sprachwissenschaftler Festus und Nonius zu recinium oder recenium sowie auf das Wandgemälde in Ruvo (Museo Nazionale di Napoli, Inv.-Nr. 9352–9357), das in die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts gehört und einen kultischen Reigentanz trauernder Frauen zeigt. Die tanzenden Frauen tragen wallende Gewänder in verschiedenen Farben und um den Kopf ein purpurnes Stirnband: vgl. A. Maiuri, Les grands siècles de la peinture, Genf 1953, 17 f. und F. T. Bertochi, La pittura funeraria Apula, Neapel 1964. 33–46 [K. B.].
Einschränkung des Aufwands beim Begräbnis
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muteten aber darunter irgendein Trauergewand, während (der Kommentator) L. Aelius lessum als eine Art Totenklage deutet, und zwar von der Etymologie her. Diese Erklärung halte ich deshalb für eher richtig, weil das Gesetz Solons genau das verbietet. F 72 c (36) Plut. Sol. 21,5: ἐπέστησε dὲ καὶ ταῖς ἐξόδοις ((τῶν γυναικῶν)) καὶ τοῖς πένθεσι καὶ ταῖς ἑορταῖς νόμον ἀπείργοντα τὸ ἄτακτον καὶ ἀκόλαστον, ἐξιέναι μὲν ἱματίων τριῶν μὴ πλέον ἔχουσ((αν)) κελεύσας, μηδὲ βρωτὸν ἢ ποτὸν πλείονος ἢ ὀβολοῦ φερομέν((ην)), μηδὲ κάνητα πηχυαίου μείζονα, μηδὲ νύκτωρ πορεύεσθαι πλὴν ἁμάξῃ κομιζομέν((ην)) λύχνου προφαίνοντος. ἀμυχὰς δὲ κοπτομένων καὶ τὸ θρηνεῖν πεποιημένα καὶ τὸ κωκύειν ἄλλον ἐν ταφαῖς ἑτέρων ἀφεῖλεν. ἐναγίζειν δὲ βοῦν οὐκ εἴασεν, οὐδὲ συντιθέναι πλέον ἱματίων τριῶν, οὐδ’ ἐπ’ ἀλλότρια μνήματα βαδίζειν χωρὶς ἐκκομιδῆς. ὧν τὰ πλεῖστα κἀν τοῖς ἡμετέροις νόμοις ἀπηγόρευται· προσκεῖται δὲ τοῖς ἡμετέροις ζημιοῦσθαι τοὺς τὰ τοιαῦτα ποιοῦντας ὑπὸ τῶν γυναικονόμων, ὡς ἀνάνδροις καὶ γυναικώδεσι τοῖς περὶ τὰ πένθη πάθεσι καὶ ἁμαρτήμασιν ἐνεχομένους.
App. crit. ἐχούσας Y βροτὸν U ἢ ὀβολοῦ: ἢ om. S κωκύειν Α: κωλύειν SUM κἀν S: καὶ Y τὰ τοιαῦτα S: ταῦτα Y πένθη S: γένη Y et s. s. S ἐνεχομένοις U1. Adn. „The report is abbreviated and not altogether clear; but ἡμέτεροι certainly does not refer to Plutarch’s native place, but belongs to the report, which Plutarch excerpts“ Jacoby FGrHist 328 F 65 Anm. 4. Quelle vermutlich Demetrios Phal., s. F 72 a. Es handelt sich lediglich um Bestimmungen über die Bestattung (vgl. z. B. IG XII 5,593). Beziehung des Gesetzes auf Frauen veranlaßt durch τῶν γυναικονόμων? Text enthält (infolge Kontamination zweier Quellen?) Dubletten: a) ἐξιέναι μὲν ἱματίων τριῶν μὴ πλέον ἐχ. = οὐδὲ συντιθέναι πλέον ἱματίων τριῶν b) τό κωκύειν ἄλλον ἐν ταφαῖς ἑτέρων ἀφεῖλεν = οὐδ’ ἐπ’ ἀλλότρια μνήματα βαδίζειν χωρὶς ἐκκομιδῆς.
Übersetzung: Gegen Zucht- und Zügellosigkeit der Frauen beim Auszug, bei der Trauer und bei Feierlichkeiten erließ er ein Gesetz. Er bestimmte, dass eine Frau mit höchstens drei Kleidern, mit Speise und Trank im Wert von höchstens einem Obol und mit einer Matte von höchstens einer Elle ausgehen und nicht bei Nacht sich auf den Weg machen solle außer auf einem Wagen und mit einem Licht voraus. Weiterhin verbot er es, sich bei einer Totenfeier das Gesicht zu zerkratzen, Klagelieder anzustimmen und am Grabe eines Menschen, mit dem einen nichts verbindet, zu jammern. Er verbot, als Totenopfer ein Rind darzubringen, dem Toten mehr als drei Kleider mitzugeben und zu fremden Gräbern zu gehen außer beim Begräbnis. Das meiste davon ist auch durch unsere (d. h. des Demetrios von Phaleron s. F 72 a) Gesetze verboten. Doch bei uns kommt hinzu, dass die Männer, die derartiges tun, von den gynaikonomoi bestraft werden als schuldig unmännlicher und weibischer Verfehlung bei der Trauer um einen Toten.
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Aufwandsgesetze u. ä.
Verbot der Parfümherstellung und des Parfümhandels F 73 a (58) Athen. 15,687 A: Σόλων τε ὁ σοφὸς διὰ τῶν νόμων κεκώλυκε τοὺς ἄνδρας μυροπωλεῖν. Übersetzung: Der weise Solon verbot den Männern gesetzlich, aromatisierte Salböle (herzustellen und) zu verkaufen. F 73 b (58) Athen. 13,612 Α: Σόλωνος δὲ τοῦ νομοθέτου οὐδ’ ἐπιτρέποντος ἀνδρὶ τοιαύτης προίστασθαι τέχνης (scil. τῆς μυρεψικῆς). Übersetzung: Der Gesetzgeber Solon ließ es nicht zu, daß ein Mann ein solches Gewerbe (d. h. die Herstellung aromatisierter Salben) betreibe. Echtheit: F 73 dient dem gleichen Zweck wie F 65 aus dem 1. Axon: Die Ernährung des Landes zu sichern (s. u.). Im 5. und 4. Jh. ist das Gesetz entweder aufgehoben gewesen oder unbeachtet geblieben (s. nur Lys. Frg. 1). Erklärung: Ich (E. Ruschenbusch: K. B.) war schon dabei, F 73 zu den Falsa zu stellen, da gab mir einer meiner Studenten, Herr cand. phil. Gude, folgende plausible Erklärung: Salböle bestanden aus Olivenöl, das es zur Zeit Solons in Attika in Überfluss gab (s. F 65), und den Aromaträgern, nach Theophr. De od. pass. gewöhnlich Rosenblüten. Da man in Europa bis etwa 1300 n. Chr. noch kein Destillationsverfahren kannte, mit dessen Hilfe man aus den Blütenblättern der Rose die Aromen vollständig extrahieren konnte, gab man, um die Aromen zu gewinnen, die Blütenblätter in heißes Öl. Da dieses Kontaktverfahren sehr wenig effizient war, bedurfte es zur Herstellung aromatisierter Salböle großer Mengen an Rosen (je nach Verfahren 1000 bis 7000 Blütenblätter auf insgesamt 2,77 kg Öl) mit der Folge, dass die für die Rosen aufgewendete Anbaufläche für die so notwendige Getreideproduktion verlorenging (s. F 65). Das Verbot dient also der Sicherung der Ernährung des Landes, nicht etwa, wie ich annahm, der Einschränkung des Luxus. Die Tatsache, dass laut F 73 ein solches Gewerbe verboten war, könnte den Eindruck erwecken, dass es Frauen erlaubt war. Dass eine solche Deutung falsch ist, ergibt sich daraus, dass erstens nicht etwa der (möglicherweise unmännliche) Gebrauch aromatisierter Salböle verboten war, sondern nur deren Herstellung und Verkauf und dass zweitens nichtaromatisierte Salböle nach wie vor hergestellt und laut F 65 ausgeführt werden konnten.
Zur Paiderastie
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Quellen und Literatur: Den Herstellungsprozess beschreibt Dioscurides, mat. med. 1,43. Vgl. weiterhin Plin. n. h. 13,7–9 und Theophr. de od. pass. Blümner1912, 332 ff., bes. 356 ff. (wenig ergiebig). Zur Destillation s. Braudel 1990 (I), 255 ff. Zur Paiderastie F 74 a Hermias Alex. in Plat. Phaidr. 231 E: ὁ δὲ Σόλων ἐν τοῖς νόμοις καὶ πόσους πήχεις ἀπέχοντα ἀκολουθεῖν δεῖ τὸν ἐραστὴν τῷ ἐρωμένῳ δεδήλωκε καὶ τοῖς ἐλευθέροις τὸ ἐπιτήδευμα τετήρηκε, δοῦλον κωλύσας ἐρᾶν ξηραλοιφεῖν τε, καὶ τὸν ἀστράτευτον καὶ τὸν λιπόντα τὴν τάξιν καὶ τὸν μὴ θρέψαντα τοὺς γονεῖς μηδὲ θάψαντα καὶ τὸν φρούριον προδεδωκότα. App. crit. πηχης BC δεῖ om. ΒΜ τὸν ex τῶν ut. vid. Α κολυσας C τε: δὲ codd. γωνεῖς C.
Übersetzung: Solon bestimmte in seinen Gesetzen, mit wieviel Ellen Abstand der Liebhaber dem Geliebten folgen muß, und er gestattete ein solches Verhältnis nur den Freien, indem er es den Sklaven verbot, zu lieben und sich trocken zu salben, weiterhin aber auch demjenigen, der dem Heeresaufgebot nicht Folge geleistet oder die Schlachtenreihe verlassen oder seinen Eltern keinen Unterhalt gewährt oder sie nicht begraben oder seinen Posten verlassen hatte. F 74 b (56) Plut. Sol. 1,6: ὅτι δὲ πρὸς τοὺς καλοὺς οὐκ ἦν ἐχυρὸς ὁ Σόλων οὐδ’ ἔρωτι θαρραλέος ἀνταναστῆναι «πύκτης ὅπως ἐς χεῖρας» (Soph. Trach. 441), ἔκ τε τῶν ποιημάτων αὐτοῦ λαβεῖν ἐστί (frg. 12 D3), καὶ νόμον ἔγραψε διαγορεύοντα δούλῳ μὴ ξηραλοιφεῖν μηδὲ παιδεραστεῖν, εἰς τὴν τῶν καλῶν μερίδα καὶ σεμνῶν ἐπιτηδευμάτων τιθέμενος τὸ πρᾶγμα. App. crit. δοῦλον Y.
Übersetzung: Dass Solon für schöne Jünglinge eine Schwäche hatte und der Liebe zu ihnen nicht widerstehen konnte „wie ein Boxer den Fäusten des Gegners“, kann man an seinen Gedichten sehen. Und er gab ein Gesetz, das es dem Sklaven verbietet, sich trocken zu salben und Jünglinge zu lieben, womit er die Paiderastie als etwas Schönes und Edles erklärt. F 74 c Plut. mor. 152 D (conv. sept. sap.): σὺ (scil. Solon) … οὔπω γέγραψαι [ὅτι ὅμοιον] οἰκέτας μὴ μεθύειν, ὡς ἔγραψας Ἀθήνησιν οἰκέτας μὴ ἐρᾶν μηδὲ ξηραλοιφεῖν. App. crit. [ὄτι ὅμοιον] Reiske.
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Verfassungsrechtliches, Institutionen
Übersetzung: Du, Solon, hast zwar bestimmt, dass in Athen die Sklaven nicht lieben und nicht trocken salben dürfen, aber nicht, dass die Sklaven sich nicht betrinken dürfen. F 74 d (56) Plut. mor. 751 B (amat.): δούλοις μὲν γὰρ ἐρᾶν ἀρρένων παίδων ἀπεῖπε καὶ ξηραλοιφεῖν. Übersetzung: Er untersagte den Sklaven, Jünglinge zu lieben und sich trocken zu salben. F 74 e* (56) Aischin. 1,138: «δοῦλον» φησὶν ὁ νόμος «μὴ γυμνάζεσθαι μηδὲ ξηραλοιφεῖν ἐν ταῖς παλαίστραις» … (139) · · · «δοῦλον ἐλευθέρου παιδὸς μήτ’ ἐρᾶν μήτ’ ἐπακολουθεῖν ἢ τύπτεσθαι τῇ δημοσίῃ μάστιγι πεντήκοντα πληγάς.» App. crit. μὴ ἐρᾶν AhqW μηδ’ ἐπακολουθεῖν fhBarbW.
Übersetzung: Das Gesetz sagt: “Ein Sklave soll nicht Gymnastik treiben und sich nicht trocken salben in den Palästren.“ … „Ein Sklave soll einen freien Jüngling nicht lieben und auch nicht ihm nachfolgen oder er soll von der staatlichen Peitsche fünfzig Hiebe erhalten.“ VERFASSUNGSRECHTLICHES, INSTITUTIONEN Bürgerrechtsverleihung F 75 (66) Plut. Sol. 24,4: παρέχει δ’ ἀπορίαν καὶ ὁ τῶν δημοποιήτων νόμος, ὅτι γενέσθαι πολίτας οὐ δίδωσι πλὴν τοῖς φεύγουσιν ἀειφυγίᾳ τὴν ἑαυτῶν ἢ πανεστίοις Άθήναζε μετοικιζομένοις ἐπὶ τέχνῃ. τοῦτο δὲ ποιῆσαί φασιν αὐτὸν οὐχ οὕτως ἀπελαύνοντα τοὺς ἄλλους, ὡς κατακαλούμενον Άθήναζε τούτους ἐπὶ βεβαίῳ τῷ μεθέξειν τῆς πολιτείας, καὶ ἅμα πιστοὺς νομίζοντα τοὺς μὲν ἀποβεβληκότας τὴν ἑαυτῶν διὰ τὴν ἀνάγκην, τοὺς δ’ ἀπολελοιπότας διὰ τὴν γνώμην. App. crit. πολίταις Y φησιν Y.
Übersetzung: Schwer zu verstehen ist auch das Gesetz über die Einbürgerung. Es gewährt nämlich die Einbürgerung nur denen, die für immer wegen einer Blutschuld aus ihrem Vaterland fliehen müssen oder mit ihrer ganzen Familie nach
Vereinsautonomie
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Athen übersiedeln, um dort eine Gewerbe zu betreiben. Das aber, meint man, habe er nicht verordnet, um die anderen von der Übersiedlung abzuhalten, sondern um diese in der sicheren Aussicht auf das Bürgerrecht aufzufordern, nach Athen zu kommen. Er glaubte nämlich, dass die einen treue Bürger sein würden, weil sie ihre Heimat notgedrungen verloren hätten, die anderen aber freiwillig. Echtheit: Nach dem Verlust eines Teiles der Bibliothek des Aristoteles, darunter ein Buch über die Axones (T 1), im Jahre 287 waren Hermipp und seine Ausschreiber für die Gesetze Solons auf äußerst fragwürdige Surrogate angewiesen. Mit der Wiederentdeckung der Bibliothek um 100 v. Chr. begann eine neue Phase: Das Buch des Aristoteles wurde abgeschrieben und kommentiert (T 2–4). Aus dem reichen Material schöpft Plutarch (Ruschenbusch 1966/1983, 40 ff.). Erklärung: Für Handwerker, die nach Athen mitsamt ihrer Familie übersiedeln, um dort ein Gewerbe auszuüben, oder für diejenigen, die wegen einer Blutschuld auf immer aus ihrer Polis fliehen müssen, bietet Solon die Einbürgerung in Athen an. Konstitutiv für das Bürgerrecht ist die Zugehörigkeit zu einer Phratrie. Vereinsautonomie F 76 a (77) Dig. 47,22,4: Gaius libro quarto ad legem XII tabularum. sodales sunt, qui eiusdem collegii sunt, quam Graeci ἑταιρείαν vocant. bis autem potestatem facit lex pactionem quam velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant. sed haec lex videtur ex lege Solonis tralata esse. nam illuc ita est: «ἐὰν δὲ δῆμος ἢ φρατόρες ἢ ὀργεῶνες ἢ γεννῆται ἢ σύσσιτοι ἢ ὁμόταφοι ἢ θιασῶται ἢ ἐπὶ λείαν οἰχόμενοι ἢ εἰς ἐμπορίαν ὅτι ἂν τούτων διαθῶνται πρὸς ἀλλήλους, κύριον εἶναι, ἐὰν μὴ ἀπαγορεύσῃ δημόσια γράμματα.»
App. crit. corrupant F tranlata F ὀργεῶνες ἢ γεννῆται Wilamowitz : ἱερῶν ὀργιῶν ἢ ναῦται F: ίερῶν ὀργιῶν μηνύται Bas.: θύται Mommsen τούτων Wilamowitz.
Übersetzung: Gaius im vierten Buch zu dem XII Tafel-Gesetz: Mitglieder sind diejenigen, die derselben Vereinigung angehören. (Die Griechen haben dafür den Ausdruck hetairia.) Diesen aber stellt das Gesetz frei, jede beliebige Abmachung zu treffen, wofern sie dabei nicht gegen die Gesetze verstoßen. Dieses Gesetz dürfte aus den Gesetzen Solons stammen. Denn dort heißt es. „Was eine Gemeinde oder Phratrienmitglieder oder Orgeonen oder Gennetai oder Gastmahlbrüder oder ein Begräbnisverein oder Thiasotai oder Leute, die auf Beute oder Handel ausgehen, untereinander abmachen, das soll rechtens sein, wenn es nicht durch staatliche Verordnung untersagt ist.“
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F 76 b (77) (= Τ 4) Phot. 344,7 Sud. O 511 : Σέλευκος δ’ ἐν τῷ ὑπομνήματι τῶν Σόλωνος ἀξόνων (frg. 35 Mü.) ὀργεῶνάς φησι καλεῖσθαι τοὺς συλλόγους ἔχοντας περί τινας ἥρωας ἢ θεούς. App. crit. τῶν Σόλωνος: τοῦ Σόλωνος Sud.A συλλόγους: συλλόχους Sud.S: συνoλους Phot.
Übersetzung: Seleukos sagt im Kommentar zu den Axones des Solon, dass Orgeonen Vereinigungen sind zum Kult von Heroen und Göttern. Abgabe einer Einkommenserklärung vor dem Areopag zum Zweck der Einteilung in die vier Schatzungsklassen F 77 (= T 8) Plut. Sol. 23,3: εἰς μέν γε τὰ τιμήματα ((τῶν οὐσιῶν)) λογίζεται πρόβατον καὶ δραχμὴν ἀντὶ μεδίμνου. App. crit. οὐσιῶν Wilcken: θυσιῶν codd. Adn. οὐσιῶν Mißverständnis vom römischen Census her?
Übersetzung: Für die Schatzung der Vermögen rechnet er ein Schaf oder (= kai) eine Drachme für einen Medimnos (= Scheffel). F 78 a (79) Hdt. 2,177: νόμον δὲ Αἰγυπτίοισι τόνδε Ἄμασίς ἐστι ὁ καταστήσας, ἀποδεικνύναι ἔτεος ἑκάστου τῷ νομάρχῃ πάντα τινά Αἰγυπτίων, ὄθεν βιοῦται. μὴ δὲ ποιεῦντα ταῦτα μηδὲ ἀποφαίνοντα δικαίην ζόην ἰθύνεσθαι θανάτῳ. Σόλων δὲ ὁ Ἀθηναῖος λαβὼν ἐξ Αἰγύπτου τοῦτον τὸν νόμον Ἀθηναίοισι ἔθετο. τῷ ἐκεῖνοι ἐς αἰεὶ χρέωνται ἐόντι ἀμώμῳ νόμῳ. App. crit. δὲ1 ABCP1: τε P2DRSV Αἰγυπτίων: Αἰγύπτιον RSV βιοῦται: βεβαιοῦταί ABC: βεβίωται Amg ζωὴν RSV τὸν om. C χρέονται Ρ.
Übersetzung: Amasis hat den Ägyptern folgendes Gesetz gegeben: Jeder Ägypter solle jedes Jahr den Nomarchen eine Erklärung darüber abgeben, wovon er lebe. Unterläßt er das oder kann er keinen ordnungsgemäßen Lebensunterhalt nachweisen, soll er mit dem Tode bestraft werden. Dieses Gesetz übernahm der Athener Solon aus Ägypten für die Athener. Diese wenden es noch heute an, da es sich als bewährt erwiesen hat.
Abgabe einer Einkommenserklärung vor dem Areopag
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F 78 b (79) Diod. 1,77,5: προσετέτακτο δὲ καὶ πᾶσι τοῖς Αἰγυπτίοις ἀπογράφεσθαι πρὸς τοὺς ἄρχοντας, ἀπὸ τίνων ἑκαστος πορίζεται τὸν βίoν, καὶ τὸν ἐν τούτοις ψευσάμενον ἢ πόρον ἄδικον ἐπιτελοῦντα θανάτῳ περιπίπτειν ἦν ἀναγκαῖον. λέγεται δὲ τοῦτον τὸν νόμον ὑπὸ Σόλωνος παραβαλόντος εἰς Αἴγυπτον εἰς τὰς Ἀθήνας μετενεχθῆναι. App. crit. ἦν om. D.
Übersetzung: Allen Ägypern war es vorgeschrieben, bei den Archonten zu Protokoll zu geben (apographesthai), womit der Lebensunterhalt bestritten wird. Wer dabei falsche Angaben machte oder keinem ordnungsgemäßen Erwerb nachging, verfiel der Todesstrafe. Dieses Gesetz soll Solon von seiner Reise nach Ägypten nach Athen gebracht haben. F 78 c (78) Plut. Sol. 22,3: Σόλων δὲ τοῖς πράγμασι τοὺς νόμους μᾶλλον ἢ τὰ πράγματα τοῖς νόμοις προσαρμόζων, καὶ τῆς χώρας τὴν φύσιν ὁρῶν γλίσχρως τοῖς γεωργοῦσι διαρκοῦσαν, ἀργὸν δὲ καὶ σχολαστὴν ὄχλον οὐ δυναμένην τρέφειν, ταῖς τέχναις ἀξίωμα περιέθηκε καὶ τὴν ἐξ Ἀρείου πάγου βουλὴν ἔταξεν ἐπισκοπεῖν, ὅθεν ἕκαστος ἔχει τὰ ἐπιτήδεια ((καὶ τοὺς ἀργοὺς κολάζειν (F 148 e))). App. crit. τοῖς γεωργοῦσι γλίσχρως U δὲ S: τε Y et s. s. S σχολὴν U ἀξιώματα S.
Übersetzung: Solon paßte eher die Gesetze den Gegebenheiten an als die Gegebenheiten an die Gesetze. Er sah, dass das Land von der Natur her kaum für die Bauern ausreichte und nicht imstande war, eine faule und müßige Menge zu ernähren. Deshalb verlieh er dem Gewerbe Ansehen und ordnete an, der Rat vom Areopag solle prüfen, wovon jeder lebe (und die Faulen bestrafen [F 148 e]). Echtheit: F 77 ist wegen der hohen Kaufkraft der Drachme als solonisch gesichert, und mit F 77 auch F 78. Textbestand: F 77 wegen der Beziehung auf den Zensus (medimnos als Grundeinheit (s. u.) und timemata als terminus technicus für die Schatzungsklassen) hat Wilcken 1928, 236 ff. die Majuskelkorruptel ΘΥΣΙΩΝ zu ΟΥΣΙΩΝ verbessert und damit den Zusammenhang von F 77 mit dem Zensus wiederhergestellt. In dieser Form wird aus F 77 die Entwicklung des Zensus im 4. Jh. verständlich. Beachtenswert ist, dass Platon, der in den Gesetzen in aller Regel das athenische Recht als Vorlage hat, für den Zensus ebenfalls vier Schatzungsklassen kennt (leg. 744 C), den Zensus ebenfalls jährlich stattfinden lässt und dem Zensus neben dem jährlichen Ertrag ebenfalls das Vermögen (οὐσία) zugrunde legt (955 B).
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Verfassungsrechtliches, Institutionen
Erklärung: In Athen gab es einen Zensus, primär für die Verwendung des Einzelnen im Kriegsdienst (Rhodes 1981, 138) und dann auch für die Besetzung der Ämter: Alle Bürger waren in ursprünglich drei und spätestens in solonischer Zeit in vier Schatzungsklassen eingeteilt, die Pentakosiomedimnoi mit einem Ertrag von mindestens 500 Scheffeln, die Hippeis mit einem Ertrag von mindestens dreihundert, die Zeugiten mit einem Ertrag von mindestens 200 Scheffeln und die Theten mit einem Ertrag von weniger als 200 Scheffeln (= Medimnen): Aristot. Ath. pol. 7. So dienten im Krieg die Hippeis (und dazu die Pentakosiomedimnoi) als Reiter und die Zeugiten als Hopliten, und so stand noch um 330 das Amt des Schatzmeisters (tamias) der Athene nur einem Angehörigen der ersten Klasse offen (Aristot. Ath. pol. 47,1). Dass die Zugehörigkeit zu den einzelnen Klassen nicht etwa erblich war, sondern periodisch immer wieder festgelegt wurde (s. F 78 a), ergibt sich einmal aus der Erwägung, dass man bei der Bedeutung der Schatzungsklassen für den Krieg und die Besetzung der Ämter aktuelle Daten brauchte und nicht etwa solche, die möglicherweise schon lange nicht mehr stimmten, dann auch aus der Inschrift des Anthemion (Aristot. Ath. pol. 7,4), der mit einem Weihgeschenk den Göttern dafür dankt, dass er von der vierten Klasse in die zweite hinaufgestuft worden war, weiterhin aus Aristot. pol. 1308 a 35 ff., der – allerdings verallgemeinernd für Griechenland – von einem jährlich oder alle drei bzw. fünf Jahre abzuhaltenden Zensus spricht, und schließlich aus der Parallele bei Platon (leg. 955 B). Einzelerklärung: F 77: Solon hat also das starre Schema der Schatzungsklassen flexibler gemacht, indem er den Medimnos als dem bisher alleinigen Maß für die Einstufung in die vier Klassen auch das Vermögen (οὐσία) an die Seite stellte. – kai ist nicht nur kopulativ (= und), sondern auch disjunktiv (= oder: s. KühnerGerth II 2, 248), wie übrigens auch noch im Deutschen. Nach F 92 hat ein Schaf (a) den Wert von einer Drachme (b) und demgemäß nach F 77 von einem Medimnos (c), so dass sich die Gleichung a = b = c ergibt. Faßt man hingegen kai als kopulativ auf (a + b = c), so ergibt sich eine perverse Logik, derart, dass ein Medimnos nicht etwa zwei Schafe oder zwei Drachmen wert ist, sondern ein Schaf und eine Drachme. – F 78 bezeugt, dass es zur Zeit Herodots im Gesetzbuch Athens (und das sind die Axones) die Bestimmung gab, dass jeder Bürger jährlich seine Einkünfte zu erklären habe, sonst ist es nahezu wertlos: Erstens dient die Abgabe einer solchen Erklärung der Einstufung in die einzelnen Schatzungsklassen und nicht dem Nachweis einer ordnungsgemäßen Lebensführung, zweitens stammen die Schatzungsklassen schon aus der Zeit vor Solon und drittens gab es zu Zeit Solons noch keine Todesstrafe (s. zu F 1–22). – Ob die Information von F 78 c zutrifft, der Areopag sei für die Prüfung der Einkommenserklärung zuständig gewesen, ist zweifelhaft, da F 78 der Ausgangspunkt für die in der 2. Hälfte des 4. Jh. propagierten gesellschaftlichen Träume von einer cura morum des Areopags und einer Klage ἀργίας war (s. Isokr. 7,20; 37; 44; 46; 48; Phanodemos in: FgrHist 325 F 10 (mit Komm.); vgl. auch Rhodes 1981, 108.
Abgabe einer Einkommenserklärung vor dem Areopag
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Ausblick: Für das weitere Schicksal der Schatzungsklassen ist zu beachten, dass es aus dem 5. und 4. Jh. nur wenige Zeugnisse gibt (so Gomme 1956, ad Thuc. 3,16,1): 1) Aristot. Ath. pol. 26,2 die Zulassung der Zeugiten zum Archontat im Jahre 457/6. 2) Meiggs/Lewis 1969, 49,39–42 Aussendung einer Kolonie nach Brea in der Zeit von 450 bis 430. 3) Thuk. 3,16,1 für das Jahr 428. 4) IG II² 30,12 aus dem Jahre 386/5 betr. die Kleruchie auf Lemnos. 5) Isai. 7,39 aus der Zeit um 355. 6) Aristot. Ath. pol. 41,1 zur Bestellung der Schatzmeister der Göttin um 330. 7) Aus dem Gesetzbuch des 4. Jh. der Buleuteneid (Demosth. or. 24,144) und lex ap. Demosth. or. 43,54. 8) Aristot. Ath. pol. 55,3; Deinarch. 2,17 und Aristot. Ath. pol. 7,2 um 330: Dokimasie der Beamten mit der Frage nach der Zugehörigkeit zu den Schatzungsklassen. Dass die Schatzungsklassen im 4. Jh. bedeutungslos waren (so Busolt/Swoboda 1920–1926³, 837 f., Rhodes, 1981, 145 f.), ist unwahrscheinlich: Es gab im 4. Jh. je einen Katalog der Hopliten und der Reiter (s. nur Lys. 15,5 bzw. Aristot. Ath. pol. 49,2). Was war denn eigentlich die Grundlage für die Einreihung der Bürger in die betreffenden Kataloge, wenn nicht die Schatzungsklassen, deren Existenz ja für das 4. Jh. gut bezeugt ist und deren Zensussätze um 330 – mit einer gleich zu besprechenden Ausnahme – immer noch dieselben Vermögensverhältnisse widerspiegeln wie zur Zeit Solons: Immerhin war ein Bürger mit einem Ertrag von 500 bzw. 300 Medimnen oder einem Besitz von 500 bzw. 300 Schafen noch genauso reich wie zur Zeit Solons. Problematisch war es nur, wenn die Grundlage der Einkommenserklärung nur Geld bildete. Mit einem Vermögen von 500 bzw. 300 Drachmen war man buchstäblich arm. Nach Demosth. or. 42,22 konnte man mit einem Vermögen von 4.500 Drachmen, das ist ein Einkommen von 540 Drachmen (bei zwölfprozentiger Verzinsung), nicht leicht leben. Lag doch der jährliche Lebensunterhalt für eine Familie mit drei kleinen Kindern bei 300 bis 400 Drachmen (Busolt/Swoboda 1920–1926³, 839,1). Ein solcher Minderbemittelter (πένης) war formal ein Pentakosiomedimnos und konnte sich so für das Amt des Schatzmeisters der Athene bewerben (Aristot. Ath. pol. 47,1). Dass er es aber doch nicht tat, dafür sorgte allein schon, dass er für das Vermögen der Göttin verantwortlich war und ggf. für Fehlbestände mit dem Zehnfachen haftete (Aristot. Ath. pol. 54,2). Außerdem hätte er beim Zensus, der auf Selbstdeklaration beruhte, nie das Geldvermögen zugrunde gelegt, denn als Pentakosiomedimnos wäre er ja auf jeden Fall hoplitendienstpflichtig gewesen, sondern stets den Bodenertrag, aufgrund dessen er in die Klasse der Theten gehörte. Die Tatsache, dass um 330 ein Pentakosiomedimnos arm sein konnte, setzt voraus, dass für die Einstufung der Bürger in die vier Schatzungsklassen nicht mehr nur der Bodenertrag maßgebend war, sondern (neben anderem Vermögen) auch das Geld. Um eine konkrete Vorstellung von den Schatzungsklassen zu geben, hier ein
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Verfassungsrechtliches, Institutionen
Modell für die Mindestgröße in ha. Vorausgesetzt wird, dass erstens die gesamte Fläche bestellt wird, und zwar mit Gerste, und dass zweitens Gerste den vierfachen Ertrag bringt mit 6,4 dz/ha (s. Ruschenbusch 1988, 141 ff.). Zur Umrechnung von Medimnen in hl ist bei Gerste mit dem Gewichtsfaktor 0,64 zu multiplizieren. Ein Medimnos von 0,525 hl hat also ein Gewicht von 0,336 dz. Aus all dem folgt: – – –
500 Med. = 168,0 dz : 6,4 = 26,25 ha mindestens 300 Med. = 100,8 dz : 6,4 = 15,75 ha 200 Med. = 67,2 dz : 6,4 = 10,50 ha.
In Gesellschaften, in der die Söhne zu gleichen Teilen erben (Realteilung), ist Klein- und Kleinstbauerntum die Regel und Großgrundbesitz die Ausnahme. Mehr als 10 ha haben rund 4 % aller Bauern (s. Ruschenbusch, 1983, 173 ff.). Neues Material hat diesen Befund nur noch bestätigt. Literatur: In F 77 halten van den Oudenrijn 1952, 19 ff. und Waters 1960, 181 ff. an der Lesart ΘΥΣΙΩΝ fest, jedoch ohne Aristot. Ath. pol. 47,1 (arme Pentakosiomedimnoi) zu berücksichtigen. Rhodes 1981, 142 schließt sich ihnen an und erklärt dann Atistot. Ath. pol. 47,1 wie folgt (S. 551): Die Schatzungsklassen hätten 330 a) nicht mehr der Realität entsprochen (doch dagegen s. o.) und/oder b) es habe keine ausreichende Kontrolle gegeben. Zu b): Der Kandidat hatte sich einer Dokimasie zu unterziehen, in der u. a. nach der Zugehörigkeit zu den Schatzungsklassen gefragt wurde (Aristot. Ath. pol. 55,3 f., Deinarch. 2,17, mit der Erklärung in Aristot. Ath. pol. 7,4). Er musste dann für seine Aussagen Zeugen beibringen und wurde anschließend einem Anklageverfahren unterworfen. Von fehlender Kontrolle kann also überhaupt nicht die Rede sein. Über alle Fragen unterrichtet zuverlässig Rhodes 1981, 136–149. Naukrarie F 79 (71) Aristot. Ath. pol. 8,3: ἦν δ’ ἐπὶ τῶν ναυκραριῶν ἀρχὴ καθεστηκυῖα ναύκραροι, τεταγμένη πρός τε τὰς εἰσφορὰς καὶ τὰς δαπ[άνας] τὰς γιγνομένας· διὸ καὶ ἐν τοῖς νόμοις τοῖς Σόλωνος, οἷς οὐκέτι χρῶνται, πολλαχο[ῦ γέ-] γραπται «τοὺς ναυκράρους εἰσπράττειν» καὶ «ἀναλίσκειν ἐκ τοῦ ναυκραρικοῦ ἀργυρ[ίο]υ». Testimon. Schol. Aristoph. av. 1541 … Ἀνδροτίων (FGrHist 324 F 36) γράφει οὔτως· «τοῖς δὲ ἰοῦσι Πυθῶδε θεωροῖς τοὺς κωλαρέτας διδόναι ἐκ τῶν ναυκραρικῶν ἐφόδιον ἀργύρια, καὶ εἰς ἄλλο ὅτι ἂν δέῃ ἀναλῶσαι».
Bestimmungen über Opfertiere
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Übersetzung: Über den Naukrarien standen als Amt die Naukraren, zuständig für Einnahmen und Ausgaben. Daher steht auch in den Axones oft geschrieben: „Die Naukraren sollen eintreiben“ und „zu bestreiten aus dem naukrarischen Silber“. Zur Übersetzung: die Formulierung ἐν τοῖς νόμοις τοῖς Σόλωνος, οἷς οὐκέτι χρῶνται ist auf den ersten Blick doppeldeutig. Einmal können damit die Axones gemeint sein, die nach einer längeren Gesetzesrevision in den Jahren 403–399 durch einen neuen Code ersetzt wurden. Da aber in den neuen Code nicht wenige solonische Gesetze übernommen worden waren (die allerdings als solonisch nur identifiziert werden konnten, wenn man den neuen Code mit den Axones verglich!), könnte die obige Formulierung sich auch auf Gesetze beziehen, die – da obsolet geworden – nicht in den neuen Coce aufgenommen worden waren. Doch wo sollte man solche Gesetze nachlesen, wenn nicht in den Axones? Aus dieser Überlegung sind mit der obigen Übersetzung die Konsequenzen gezogen worden. F 80 (71) Phot. 288,5: ναυκαρία μὲν ὁποῖόν τι ἡ συμμορία καὶ ὁ δῆμος, ναύκραρος δὲ ὁποῖόν τι ὁ δήμαρχος, Σόλωνος οὕτως ὀνομάσαντος, ὡς καὶ Ἀριστοτέλης φησί (ΑΡ 8, 3; 21, 5)· καὶ ἐν τοῖς νόμοις δὲ «ἄν τις ναυκραρίας ἀμφισβητῇ» καὶ «τοὺς ναυκράρους τοὺς κατὰ τὴν ναυκραρίαν». Übersetzung: Eine Naukrarie ist so etwas wie eine Symmorie oder ein Demos, ein Naukraros eine Art von Demarchos. Die Bezeichnungen stammen von Solon, wie auch Aristoteles sagt (Ath. pol. 8,3 = F 79). Und in den Gesetzen heißt es: „wenn jemand auf eine Naukrarie Anspruch erhebt“ und „die Naukraren in der Naukrarie“. KULTUS Bestimmungen über Opfertiere F 81 (79) (= T 8) Plut. Sol. 23,3: λύκον δὲ τῷ κομίσαντι πέντε δραχμάς (scil. ἔδωκε), λυκιδέα δὲ μίαν, ὧν φησιν ὁ Φαληρεὺς Δημήτριος (frg. 147 We.) τὸ μὴν βοὸς εἶναι, τὸ δὲ προβάτου τιμήν (F 92). ἃς γὰρ ἐν τῷ ἑκκαιδεκάτῳ τῶν ἀξόνων ὁρίζει τιμὰς τῶν ἐκκρίτων ἱερείων, εἰκὸς μὲν εἶναι πολλαπλασίας, ἄλλως δὲ κἀκεῖναι πρὸς τὰς νῦν εὐτελεῖς εἰσιν. App. crit. δραχμὰς ἔδωκε Y λυκιδέα ante ras S, ut vid.: λυκίδα Y et post ras. S ὧν Stephanus: ὡς codd., sed supra lin. S (‘fort, [ὡς] φησὶ δ’ὁ Ziegler) ἐκκρίτων, punctum sub τ et τ in ras. S ἱερείων (εἰ ut vid. ex ε corr.) S τὰς νῦν Stephanus: τὰ νῦν codd.
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Kultus
Übersetzung: Wer einen Wolf brachte, bekam fünf, wer einen Jungwolf, eine Drachme. Jenes entsprach, wie Demetrios von Phaleron sagt, dem Preis für ein Rind, dieses dem für ein Schaf (und zwar im Normalfall). Denn die Preise, die er im 16. Axon für ausgewählte Opfertiere festsetzt, betragen natürlich das Mehrfache, doch auch diese sind gegenüber den heutigen erschwinglich. F 82 (80) Poll. 1,29: Σόλων δὲ τὰ ἄπηρα καὶ ἀφελῆ ὠνόμασε. Übersetzung: Für apera (= unverletzt) sagt Solon auch aphele (= ohne Anstoß). Textänderung: Das einheitlich überlieferte ἔμπηρα (verstümmelt) ist in ἄπηρα zu verbessern. Opferkalender F 83 Steph. Byz. s. v. Ἀγνοῦς: τὸ τοπικὸν Ἀγνουντόθεν, καὶ ἐν τόπῳ Ἀγνοῦντι· ἐν τοῖς ἄξοσιν «ἐπειδὴ Ἀγνοῦντι θυσία ἐστὶ τῷ Λεῷ». εἰς τόπον Ἀγνουντάδε. App. crit. Ἀγνουστόθεν ante W ἀναγνοῦντι RV Λεῷ Μ: λεῷ vulgo ἀγνοαυταδέ R.
Übersetzung: Hagnus (= Demos der Phyle Akamantis). Die Ortsbezeichnungen lauten: vom Ort Hagnountothen und am Ort Hagnounti (in den Axones heißt es: „wenn in Hagnous für Leos das Opfer stattfindet“), nach dem Ort Hagnountade. Textänderung: Mit Rücksicht auf die Übersetzung ist statt τὸ τοπικὸν Ἀγνουτόθεν zu schreiben τὰ τοπικὰ· Ἀγνουτόθεν. F 84 (38) Bekker Α. G. Ι 86,20 (Antiatt.): γενέσια· «οὔσης τε ἑορτῆς δημοτελοῦς Ἀθήναις Βοηδρομιῶνος πέμπτῃ γενέσια καλουμένης», καθότι φησὶ Φιλόχορος (FGrHist. 328 F 168). καὶ Σόλων ἐν τοῖς ἄξοσιν.
App. crit. ἑορτῆς [τῆς] δημοτελοῦς cod., secl. Schaefer Ἀθ. vel Ἀθήνησι Jacoby: Ἀθηναίς Schaefer πέμητῃ Schaefer: πέμπτης cod.
Übersetzung: Genesia (= Totenfest). „Während in Athen am fünften Tage des Monats Boedromion ein staatliches Fest stattfindet, namens Genesia“, wie Philochoros sagt. Auch Solon (hat dieses Wort) in den Axones.
Opferkalender
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F 85 a Theophrast περὶ εὐσεβείας ap. Porph. de abst.: 2,20 διὰ πολλῶν δὲ ὁ Θεόφραστος τῶν παρ’ ἑκάστοις πατρίων ἐπιδείξας, ὅτι τὸ παλαιὸν τῶν θυσιῶν διὰ τῶν καρπῶν ἦν ἔτ’ εἰπὼν πρότερον τῆς πόας λαμβανομένης, καὶ τὰ τῶν σπονδῶν ἐξηγεῖται τοῦτον τὸν τρόπον. τὰ μὲν ἀρχαῖα τῶν ἱερῶν νηφάλια παρὰ πολλοῖς ἦν· (νηφάλια δ’ ἐστὶν τὰ ὑδρόσπονδα·) τὰ δὲ μετὰ ταῦτα μελίσπονδα· τοῦτον γὰρ ἕτοιμον παρὰ μελιττῶν πρῶτον ἐλάβομεν τὸν ὑγρὸν καρπόν· εἶτ’ ἐλαιόσπονδα· τέλος δ’ ἐπὶ πᾶσιν τὰ ὕστερον γεγονότα οἰνόσπονδα. μαρτυρεῖται δὲ ταῦτα οὐ μόνον ὑπὸ τῶν κύρβεων, αἵ τῶν Κρήτηθέν εἰσι Κορυβαντικῶν ἱερῶν οἷον ἀντίγραφα ἄττα πρὸς ἀλήθειαν … App. crit. Nauck τῶν κύρβεων Ruhnken: τῶν ἐν κύρβεων στηλῶν codd. ἄττα vel τινα Ruhnken: τὰ codd.
Übersetzung: An den althergebrachten Bräuchen der Völker zeigt Theophrast mit vielen Belegen, dass man am Anfang Feldfrüchte opferte, wobei er hinzufügt, dass man noch früher Gras genommen habe. Die Entwicklung des Trankopfers stellt sich nach ihm wie folgt dar. In der Vorzeit opferten viele Völker mit Wasser. Danach kam die Honigspende. Denn Honig bekamen wir als erstes flüssiges Erzeugnis von den Bienen bereitet. Dann kam die Ölspende; und ganz am Ende der Entwicklung die Weinspende. Das bezeugen nicht nur die Kyrbeis, die geradezu eine Kopie der Opfer der Korybanten aus Kreta sind. Vgl. Philochoros in: FGrHist 328 F 154 und Krates in: FGrHist 362 F 4. F 85 b Phot. 189,21: κύρβεις … Θεόφραστος δὲ ((ἀπὸ τῶν Κρητικῶν Κορυβάντων·)) τῶν γὰρ Κορυβαντικῶν ἱερῶν οἷον ἀντίγραφα αὐτοὺς εἶναι. Adn. Etymologie nicht Eigentum des Th., sondern nachträglich seinem Bericht entnommen.
Übersetzung: Kyrbeis … (etymologisch hängt es zusammen mit …) Theophrast aber [leitet das Wort ab] von den kretischen Korybanten. Denn nach ihm sind die Kyrbeis geradezu eine Kopie der Opfer der Korybanten. F 85 c Schol. Aristoph. av. 1354 (s. F 55 a): κύρβεις … ἀπὸ τῶν Κορυβάντων· ((ἐκείνων γὰρ εὕρημα)) ὥς φησι Θεόφραστος ἐν τῷ περὶ εὐσεβείας. Adn. ((ἐκείνων γὰρ εὕρημα)) nicht von Th. behauptet, vgl. F 85 a, b.
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Kultus
Übersetzung: Kyrbeis … (etymologisch) von den Korybanten. Denn deren Erfindung sind sie, wie Theophrast in seiner Schrift über die Frömmigkeit sagt. F 86 Lys. 30,17 f.: θαυμάζω δέ, εἰ μὴ ἐνθυμεῖται, ὅταν ἐμὲ φάσκῃ ἀσεβεῖν λέγοντα, ὡς χρὴ θύειν τὰς θυσίας τὰς ἐκ τῶν κύρβεων καὶ τῶν στηλῶν κατὰ τὰς συγγραφάς, ὅτι καὶ τῆς πόλεως κατηγορεῖ· ταῦτα γὰρ ὑμεῖς ἐψηφίσασθε … οἱ τοίνυν πρόγονοι τὰ ἐκ τῶν κύρβεων θύοντες … App. crit. στηλῶν Taylor: εὔπλων Χ: ὅπλων C.
Übersetzung: Wenn er (der Angeklagte) nun sagt, dass ich mit dieser Forderung Gottesfrevel begehe, dann frage ich mich, ob ihr (Richter) nicht merkt, dass er damit euch anklagt. Denn ihr habt doch das Programm beschlossen … Die Vorfahren, die die Opfer darbrachten, die auf den Kyrbeis verzeichnet sind … Erklärung zu F 81 – 86: Im Jahre 410 wurde Nikomachos damit beauftragt, aus den Opferbestimmungen der solonischen Kyrbeis und den später erlassenen einen neuen Opferkalender zu schaffen. Uns sind aus dem 5/4. Jh. eine Reihe solcher Kalender bekannt: Chronologisch angeordnet, nennen sie die Gottheit, die Opfer, die zu erbringen waren, eventuell mit Zusatz (F 82), geben die Kosten an (F 81) und die Kasse, aus der das Geld zu erbringen war. Es wurden nicht nur die innerstädtischen berücksichtigt, sondern auch die außerstädtischen (s. F 83). Speisung im Prytaneion F 87 (73) Plut. Sol. 24,5: ἴδιον δὲ τοῦ Σόλωνος καὶ τὸ περὶ τῆς ἐν δημοσίῳ σιτήσεως, ὅπερ αυτὀς παρασιτεῖν κέκληκε. τὸν γὰρ αὐτὸν οὐκ ἐᾷ σιτεῖσθαι πολλάκις, ἐὰν δ’ ᾧ καθήκει μὴ βούληται, κολάζει, τὸ μὲν ἡγούμενος πλεονεξίαν, τὸ δ’ ὑπεροψίαν τῶν κοινῶν. App. crit. κολάζειν S.
Übersetzung: Eigentümlich ist auch sein Gesetz über die öffentliche Speisung, wofür er selbst den Ausdruck parasitein (= Tischgenosse des Gottes sein) gebraucht. Er lässt es nämlich nicht zu, dass jemand mehrmals an der Speisung teilnimmt, da er (dies) für eine Anmaßung hält; wenn aber derjenige, der dazu verpflichtet ist, an der Speisung nicht teilnehmen will, so lässt er ihn bestrafen, da er das Gastmahl missachtet.
Verschiedenes
155
F 88 (35) Athen. 6,234 E: ἐν δὲ τοῖς κύρβεσι τοῖς περὶ τῶν Δηλιαστῶν οὕτως γέγραπται «καὶ τω κήρυκε ἐκ τοῦ γένους τῶν Κηρύκων τοῦ τῆς μυστηριώτιδος· τούτους δὲ παρασιτεῖν ἐν τῷ Δηλίῳ ἐνιαυτὸν». Übersetzung: In den Kyrbeis der Deliasten heißt es: „… und die zwei Herolde aus dem Geschlecht der Keryken. Diese sollen ein Jahr lang im Delion Tischgenossen des Gottes sein (= parasitein). F 89 (72) Athen. 4,137 Ε: Σόλων δὲ τοῖς ἐν πρυτανείῳ σιτουμένοις μᾶζαν παρέχει κελεύει, ἄρτον δὲ ταῖς ἑορταῖς προσπαρατιθέναι, μιμούμενος τὸν Ὅμηρον (Od. 17, 343; 18,120). App. crit. „fort. ἄρτον δ’ ἐν“ Kaibel.
Übersetzung: Denen, die im Prytaneion öffentlich gespeist werden, lässt Solon Gerstenfladen vorsetzen und an Festtagen zusätzlich Weizenbrot, womit er Homer nachahmt. Verschiedenes F 90 (34) Poll. 5,36: Σόλων δὲ καὶ στοιχάδας τινὰς ἐλάας ἐκάλεσε ταῖς μορίαις ἀντιτιθείς, ἴσως τὰς κατὰ στοῖχον πεφυτευμένας. App. crit. ἐλαίας Β ελασ (in ras.) ας C ἀντιθεὶς Bekker.
Übersetzung: Solon spricht von Ölbäumen als stoichades im Unterschied zu den moriai (= heilige Ölbäume) und meint damit wohl diejenigen, die in der Reihe (= stoichos) gepflanzt werden. F 91 Phot. 64,15 Reitz.: ὀργάδες καλοῦνται πάντα τὰ ἀνειμένα εἰς ὕλην καὶ ἀνημέρωτα καὶ ἀργά, ὡς καὶ Σόλων φησίν. Übersetzung: orgades nennt man alle unkultivierten Ländereien, und so auch Solon.
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Gesetz zum Schutz der Gesetze gegen Abrogierung und Änderung
F 92 (71) (= Τ 8) Plut. Sol. 23,3: λύκον δὲ τῷ κομίσαντι πέντε δραχμάς (scil. ἔδωκε), λυκιδέα δὲ μίαν, ὧν φησιν ὁ Φαληρεὺς Δημήτριος (frg. 147 We.) τὸ μὲν βοὸς εἶναι, τὸ δὲ προβάτου τιμήν. App. crit. δραχμὰς ἔδωκε Y λυκιδέα ante ras. S, ut vid.: Y et postras. S ὧν Stephanus : ὡς codd., sed supra lin. S (fortasse [ὡς] φησὶ δ’ ὁ Ziegler).
Übersetzung: Wer einen Wolf brachte, bekam fünf, wer einen Jungwolf, eine Drachme. Das eine entsprach, wie Demetrios von Phaleron sagt, dem Preis für ein Rind, das andere dem für ein Schaf. Erklärung: s. F 81 und T 8. GESETZ ZUM SCHUTZ DER GESETZE GEGEN ABROGIERUNG UND ÄNDERUNG F 93 a Dio Chrys. 80,6 (2,224 Arn.): καὶ τὴν ἀράν, ἣν Ἀθηναῖοι περὶ τῶν Σόλωνος ἔθεντο νόμων τοῖς ἐπιχειροῦσι καταλύειν, ἀγνοεῖτε κυριωτέραν οὖσαν ἐπὶ τοῖς ἐκείνου νόμοις. πᾶσα γὰρ ἀνάγκη τὸν συγχέοντα τὸν θεσμὸν ἄτιμον ὑπάρχειν, πλὴν παῖδας καὶ γένος οὐκ ἐπέξεισιν, ὡς ἐκεῖ, τῶν ἁμαρτανόντων, ἀλλ’ ἕκαστος αὑτῷ γίγνεται τῆς ἀτυχίας αἴτιος.
App. crit. συγχέοντα Casaubonus: συνέχοντα codd., v. Arnim τὸν θεσμὸν : τὸν δὲ θεσμὸν Μ : τόνδε τὸν θεσμὸν Emperius: τὸ> θεσμὸν ν. Arnim ἄτιμον ὑπάρχειν Emperius : ἀθηναῖον ἐπάρχειν codd. : ἀραῖον ὑπάρχειν ν. Arnim αὑτῷ Reiske: αὐτῶν codd.
Übersetzung: Ihr wisst nicht, dass der Fluch, den die Athener über diejenigen verhängt haben, die die Gesetze Solons aufzuheben versuchen, noch mehr Wirksamkeit hat, wenn es um die Gesetze des Zeus geht. Denn unausweichlich wird jeder, der das Gesetz des Zeus aufhebt, rechtlos (atimos), mit dem Unterschied, dass Zeus die Kinder und Nachkommen derjenigen, die sich vergangen haben, nicht mitbestraft, wie es in Athen der Fall ist, sondern jeder durch sein Verhalten sein eigenes Schicksal bestimmt. F 93 b = F 38 b Gell. 2,12,1: in legibus Solonis illis antiquissimis, quae Athenis axibus ligneis incisae sunt quasque latas ab eo Athenienses, ut sempiternae manerent, poenis et religionibus sanxerunt… App. crit. eo om. PVeR.
Gesetz zum Schutz der Gesetze gegen Abrogierung und Änderung
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Übersetzung: In jenen uralten Gesetzen des Solon, die in Athen auf hölzernen Achsen eingekerbt sind und die, von ihm gegeben, die Athener mit Strafen und religösen Verfluchungen geschützt haben, damit sie ewig (in Geltung) blieben … (K. B.). Echtheit und Erklärung: Ein Gesetz, das das Gesetzeswerk vor Abrogation und Änderungen schützt, so wie es F 22 für das Blutrecht tut, ist für das solonische Recht vorauszusetzen. – Wie die wörtlichen Anklänge beweisen, hatte F 93 in etwa den gleichen Wortlaut wie F 22. – Laut Herodot (1,29,2) hat Solon seine Gesetze für zehn und laut Plutarch (Sol. 25,1) für hundert Jahre vor Eingriffen geschützt. Ich halte beide Angaben für falsch. Sie setzen voraus, dass Solon seine Gesetze a priori für unvollkommen und verbesserungsbedürftig gehalten hat. Und da fragt man sich bei zehn Jahren: so früh schon, und bei hundert: so spät erst. Vorzug verdient demgegenüber F 93 b: ut sempiternae manerent (leges), so wie es bei der Vorlage F 22 der Fall ist. – Zur Atimie s. F 21.
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PA RE
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SIG³
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INDIZES GLOSSEN ODER WÖRTLICH ERHALTENE GESETZE BIETEN F 3 5a* 5b* 5c 5d 8** 9** 10**
11 12 13** 15b 16** 17** 18a** 18b**
19a** 19b** 20** 21** 22** 23b 23c 23d*
24 25 27 28b 28c 29a* 29b 30a
30b 32a 32b* 33b* 34 35 36a 36b
37a** 41a 41b 41c 43 44a 44b 45
46 48a 48b* 49a* 49b 49c 49d 50a
50b 52a 52b 53 54 58b* 59 60a
60b 60c 61 67 68 70 72a 74a
74b 74c 74d 74e* 76a 76b 79 80
82 83 84 87 88 90 91 93a
WÖRTERVERZEICHNIS Berücksichtigt sind von F1–93 alle Stellen, in denen der originale Wortlaut erhalten ist. Wörter, die auf Ergänzung oder Konjektur beruhen, sind durch [ ] gekennzeichnet. ἄγειν ἀγνοεῖν ᾽Αγνοῦς ἀγορά ἀγορεύειν ἀγχιστεία ἀγχιστίνδην ἀδελφός (ή) ἄδικος ᾽Αθηναῖος ἆθλος αἰδεῖσθαι αἱμασία αἱρεῖσθαι αἴτιος ἄκων ἀλλήλων
17** 20** 83 5a* 18b** 16** 50a [43] 5a* 48b* 19a* 18a** 18a** 5a* 60a 5a* 5a* 22** 5a* 22** 76a
19a**
19b*
5b*
18a**
50b* 5b* 50b* 19b** 18b** 18b** 5b*
ἄλλος ἀλλότριος ἅμα ἀμφισβητεῖν ἀμύνεσθαι ᾽Αμφικτυονικός ἄν
20** 37a** 20**
5b* 18a**
18b**
5b*
19a**
ἀνάγκη ἀναλίσκειν ἀνδραφόνος ἀνδροληψία ἀνδροφόνος ἀνεψιός ἀνεψιότης ἀνήρ
60a 60a 53* 80 19a** 18a** 13** 22** 36b 49d 76a 49a* 79 3 13** 3 18a** 5a* 5a* 5d 50b
19b** 18b** 16** 23d* 48b* 50b*
20** 36a 49a* 60a
49b
49c
s. ἀνδροφόνος 16** 18b** 5b* 5b*
17** 32b* 50b* 5c
162 ἀνυποδήματος ἄξιος ἄξων ἀπάγειν ἀπαγορεύειν ἅπας ἀπείλλειν ἀπέχεσθαι ἀπείλλειν ἀπό ἀποβάλλειν ἀποθνῄσκειν
Indizes
ἀφελής
8** 36a 36b 5a* 16** 16** 49a* 76a 5a* 5b* 25 18a** 18b** s. ἀπείλλειν 60a 32b* 13** 50b* s. τεθνάναι 12 11 16** 13** 16** s. κτείνω 60a 23d* 15b 50b* 68 79 70 28c 5a* 5b* 49a* 50b* [19a**] 70 49a* 16** 22** 32b* 21** 22** 70 [93a] 82
βάθος βασιλεύς βία βίαιος βινεῖν βλάβη βόθυνος βούλεσθαι βουλεύειν
60a 5a* 19a** 13** 27 34 [60a] 16** [5a*]
60b 70 19b**
γαμβρός γενέσια γένος γῆ
5a* 84 37a** 67
5b*
ἄποινα ἀποινᾶν ἀποκτείνειν ἀπολείπειν ἀπολλύναι ᾽Απόλλων ἀπωτέρω ἀργύριον Ἄρειος πάγος ἄρθρον ἀριστίνδην ἄρρην ἄρχειν ἀρχή ἄρχων ἀστίς ἄτιμος
60c 23d*
50b*
γῆρας γίγνεσθαι γιγνώσκειν γνήσιος γράμματα γυμνάζειν γυνή δάκνειν δάμαρ δανείζειν δέ 20**
δεδιέναι δεῖν δέκα δένδρον δεσμός Δήλιον δῆμος δημόσιος διαγιγώσκειν 37a**
διατίθεσθαι δίετες δικάζειν δίκαιος δικαστής δίκη διπλάσιος διπλοῦς δοῦλος (η)
68
88
δρᾶν δρασκάζειν δραχμή δύο ἐάν (ἄν)
49a* 53* 5a* 48b* 48b* 76a 74e* 49a* 49d 35 20** 68 5a* 15b 18b** 25 50a 60a 15b 23c 5a* 60a 49a* 88 76a 32a 36b 5a* 18b** 49a* 53* 5a* 48b 16** 13** 36b 23d 16** 34 74d 17** 15b 32a 32a 5a* 17**
49d 5b* 49a*
50b*
49b
49c
48b* 5b* 16** 23c 29b 50b* 88
13** 18a** 23d* 48b* 53*
23d* 5b* 49b 33b* 74e* 16**
36a 76a 18a**
50b*
76a
15b
36a
74a 74e*
74b
60a 5b* 18a**
13** 18b**
163
Indizes
ἑαυτοῦ ἐγγυᾶν ἐγγυτάτω ἐγκαταλείπειν ἐθέλειν εἰκοσάβοιον εἶναι
εἰς εἷς εἰσιέναι εἰσπράττειν εἰσφέρειν ἐκ ἕκαστος ἕκάτερος ἐκδιδόναι ἐκεῖνος ἐλάα ἐλαύνειν ἐλεύθερος ἐμπορία ἐν
ἔνδον ἕνεκα ἐνέχειν ἐνιαυτός ἐννέα ἐντός
19a** 23c 36b 49a* 53* 80 49a* 48b* 50b* 58b* 5a* 49d 10** 5a* 18a** 25 36b 49a* 60a 83 16 76a 5a* 5a* 79 [16**] 48b* 70 16** 36a 13** 22** 60a 17** 20** 76a 5a* 17** 20** 28b 88 25 15b 49b 5a* 88 60a 5a*
19b** 23d* 37a** 49d 60a
20** 36a 48b 50b* 76a
49b
49d
5b*
49a*
5b* 18b** 34 37a** 50a 70
13** 22** 36a 48b* 50b* 76a
36a
36b
5b* 5b*
49a*
50b* 79
53* 88
36b 60b
ἐξείλλειν ἐξεῖναι ἐξέρχεσθαι ἐξίλλειν ἐξούλης ἐπαίτια ἐπαλπλουθεῖν ἐπανέρχεσθαι ἐπανίστασθαι ἐπεγγυᾶν ἐπειδή ἐπί ἐπιδικάζεσθαι ἐπίκληρος ἐπίμορτος ἐπιορκεῖν ἐπίτιμος ἐπιτρέπειν ἐρᾶν ἔργον ἐς εὐθύς ἐφέτης ἐφόριος ἔχειν ἤ
90
74e* 5b* 18a** 23c 28c
16** 18b** 23d* 74e*
20**
49a*
18a**
18b**
60b 5b*
50b*
ἡβᾶν ἡλιαία ἡμεδαπός ἡμέρα θάνατος θεός θέσμιος θεσμός
36a 36b 16** 17** s. ἐξείλλειν 36a 36b 23b 23d 74e* 58b* 37a** 15b 83 20** 37a** 53* 68 76a 49a* [48a] 48b 67 15b 17** 70 48b* 74a 74c 74e* 28b s. εἰς 19a** 19b** 5a* 5b* 18b** 70 18a** 18b** 5a* 20** 5a* 16** 18b** 20** 37a** 49b 50b* 74e* 53* 16** 16** 23c 13** 44a 37a** 5a* 93
48b* 70 53*
74d
18a** 48b*
5b* 17** 19a** 22** 48b* 49c 60a 76a
13** 18a** 19b** 32b* 49a* 49d 70
23c 17** 23d*
23d*
44b 22**
70
164
Indizes
θήλεια θιασώτης θυγάτηρ θύρα θυσία
50b* 76a 20** 25 83
ἰδιώτης
22** 36a 41a 18a** 17** [36b]
ἰδῦος ἱερά ἴσος καθαιρεῖν καὶ
κύριος κύων κωλύειν
20** 5a* 16** 19a** 22** 36a 50b* 88 50b* 16** 23d* 49a* 50b* 88 24 25 35 5a* 53* 5a* 18b** 20** 48b* 35 5a*
λαγχάνειν λαμβάνειν λεία Λεώς λυμαίνεσθαι
50b* 23d* 76a 83 16**
μανία μάστιξ
49a* 74e*
κατά καταβλάπτειν καταδικάζειν καταλαμβάνειν καταλείπειν κῆρυξ (Κ) κλέπος κλέπτης κλοιός κρατεῖν κτείνειν
μέν
32a 36b 41b 18b** 23d*
5b* 18a** 19b** 23d* 36b 53*
41c 50b* [36a]
μηδέ
11 18b** 21** 34 37a** 60a
μηδείς μηδετέρωθεν μήτε μήτηρ μητραλοίας μοῖρα μορία μυστηριῶτις
5a* 48b* 22** 53* 5a* 5a* 20** 49a* 49d 60a 5a* 74e* 5a* 50b* 49a* 20** 32b* 50b* 90 88
ναυκραρία ναυκραρικός ναύκραρος νηποινεί νικᾶν νόθος νόσος νύξ
80 79 79 19a** 36a 50a 49a* 23d*
ξηραλοιφεῖν
74a 74d
74b 74e*
74c
ὅδε
5a* 70 34 60a [60a] 76a [5a*] 59 48b 76a 36a 52a 49a* 91
22**
50b*
33b*
80 70
5b*
50b*
5b* 18a** 19a** 19b** s. ἀποκτ. 50b* 76a 5b*
49d
μεταποιεῖν μετρεῖν μέχρι μή
οἰκεύς οἴκημα οἰκοδομεῖν οἴχεσθαι ὀμνύναι ὁμοερκής ὁμοπάτωρ ὁμόταφος ὁπόσος ὀπύειν ὅπως ὀργάς
5b* 50b*
23d*
13** 13** 23d* 49b 50a 74e* 20**
50b 16** 48b* 49c 50b* 76a 50b*
5b*
48b*
50b* 50b*
53*
80 19b** 36b 50b* 49b
43 50b* 36b 52b
68 [52c]
165
Indizes ὀργεῶνες ὀργυά ὅρκος ὅρος ὀρύττειν ὅς ὅσιος ὅσος ὅστις ὅτε (ὅταν) οὗτος ὀφείλειν ὀφρύγη παῖς
παλαίστρα παλλακή πάππος παρά παραβαίνειν παραδιδόναι παρανοεῖν παρασιτεῖν πατήρ πατραλοίας πάτριος πείθεσθαι πενθερός πέντε πεντήκοντα πέρα περί πεφασμένως
[76a] 60a [5a*] 17** 60a 16** 22** 48b* 50b* 16** 30a 60a 23d* 48b* 23d* 5a* 20** 50b* 16** 36a [60a]
76b 60b
17** 30b 60b 25 50b* 49a* 5b* 48b* 76a 17** 36b
29b 49a* 70 37a** 76a 70 13** 49a* 88 34
5a* 22** 49b 74e* 74e* 20** 48b* 60a 60a 35 49a* 87 5a* 50b* 32b* 37a** 49a* 49d 5a* 23c 60b 5a* 17** 23d* 29a* 30b
5b* 48b* 50b*
20** 49a* 74d
60a 60b 17** 36a
88 5b*
20** 36b
48b*
49b
49c
5b* 23d*
60a
5b*
74e*
29b
30a
πλέων πληγή πλήν ποδοκάκκη ποιεῖσθαι ποινᾶν πόλεμος πούς πρίν προαγορεύειν πρόνοια προπτόρθια πρός προσήκων προστιμᾶν πρότερον πρυτανεῖον πρῶτος πωλεῖσθαι
13** 74e* 70 23c 49a* 11 20** 23c 60b 70 5a* 5a* 65 23d* 76a 13** 23c 5a* 70 5a 29a* 30b
23d*
23d* 5b* 48b*
29b
53*
54
Σόλων στάσιμος στοιχάς συγκαθιστάναι συγχεῖν συκῆ σύν συνδιώκειν σύσσιτος σφαγή
49a* 68 90 37a** 22** 60a 50a 5a* 76a 70
70
τάφρος τεθνάναι
60a 60b 19a** 19b** s. ἀποθνήσκειν 60a 68 23d* 5a* 13** 18b** 20** 36a 36b 48a 48b 60a 80 60a
τοσοῦτος
50b*
23d*
σῖτος
τειχίον τιθέναι τίμημα τις
60a
30a
[93a] 60b 50b* 5b*
21**
18a** 23d* 37a** 49a*
166 τρεῖς
Indizes 32a
τρίπηχυς τριταία τύμβος τύπτειν τυραννεῖν τυραννίς
13** 44b 35 46 72a 74e* 37a** 37a**
υἱός ὑπέρ ὑπέχειν ὑπό ὑποφόνια
5a* 13** 13** 49a* 9**
5b*
φαίνεσθαι φάρμακον
70 49a*
44a
φράτηρ φρέαρ φυτεύειν
17** 5a* 5a* 18b** 5a* 60a 60a
χείρ χρήματα χωρίον
5a* 17** 60a
70
ψηφίς
45
49b
ὡς ὥσπερ ὥστε
16** 18a** 49a*
70 58b
φέρειν φεύγειν φόνος
20** 13** 70 5b*
70 18a** 76a
19a** 50b*
53*
18b**
STELLENVERZEICHNIS (Die von Ruschenbusch benutzten Textausgaben sind durch die in Klammern gesetzten Namen der Herausgeber kenntlich gemacht.) Ael. (Hercher) v. h. nat. Aischin. (Blass)
8,10 9,1
F1c F 55 c
1,138 F 74 e Alex. Aphrod. In Aristot.Top. II 2, 109 b (Comm. Aristot. Gr. II p. 139,33), nach Martina, Solon Nr. 355 [F 38 h] Anecd. Bekker (Antiatt.) I 82,17 F8 I 85,1 F 60 c I 86,20 F 84 (lex. rhet.) I, 242,19 F 42 (Synag.) I 401,18 F5c I 428,9 F 12 Anecd. Oxon. III (Cramer) 195,27 + 193, nach Martina Nr. 563 + 526 F 59 a Aristoph. (Coulon) av. 1160 F 50 a
av. 1353 Schol. ad Aristoph. (Dübner) eq. 1160 av. 1353 Aristot. Ath. pol. (Oppermann) 6,1 7,1 8,3 8,4 8,5 9,1 9,2 16,10 35,2 57,4 pol. (Immisch) 1266 b 14 Athen. (Kaibel) 4,137 E 6, 234 E 13,612 A 15,687 A
F 55 a F 64 b F 55 a F 69 b F1a F 79 F 37 b [ F 38a] F 40 a, 69 a F 47 a F 37 a F 49 d F 21 b F 66 F 89 F 88 F 73 b F 73 a
167
Indizes Cantacuz. Hist. IV 13 (III p. Schop.) (Corp. Script. Hist. Byz. II 3), nach Martina Nr. 357 [ F 38 j] Cedren. Hist. Comp. I p. 145,19 (Corp. Script. Hist. Byz. III 1), nach Martina Nr. 665 F1d Cic. Att. (Purser) 10,1,2 [ F 38 c] de leg. (Ziegler) 2,59 F 72 b 2,63-66 F 72 a Pro Sex. Rosc. Am. (Klotz) 70 F4b Demosth. or. (Fuhr-Sykutris) 9,43 13,82 20,158 23,28 23,37 23,44 23,53 23,60 23,62 23,69 23,72 f. 23,76 24,105 43,51 44,64 46,14 46,18 46,20 59,67 Dig. (Mommsen-Krüger) 10,1,13 47,22,4 48,5,24 Dio Chrys. (v. Arnim II p. 224) 80,6 Diod. (Vogel-Fischer) 1,77,5 Diog. Laert. (Long) 1,58 1,59 Eustathios (Stallbaum) 1958,19 zu Hom. Il. 18,501
F 21 F 13 F 14 F 16 F 18 b F 17 F 20 F 19b F 22 F 15 a F6 F 21 a F 23 d F 50 b F 58 b F 49 a F 48 b F 53 F 29 a F 60 a F 76 a F 28 b F 93 a F 78 b [F 38 g] F4a F 41 c
Galen (gloss. Hippocr. Prooem.) XIX p. 66 (Kühn) F 41 a, 52 c Gell. N. A. (Hosius) 2,12,1 F 93 b 11, 18,3 F 23 a Harpokrat. (Bekker) 140,30
s. v. ὅτι οἱ ποιητοί F 58 a s. v. σῖτος F 54 s. v. ὑποφονία [F 9] Hermias Alex. In Plat. Phaidr (Couvreur) p. 38 (231 E) F 74 a Hdt. (Legrand) 2,177 F 78 a Hesych (Latte) α 907 s. v. ἀγχιστάδην ὀμνύων F 43 β 466 s. v. βινεῖν F 27, 52 b π 3643 s. v. προπτόρθια F 61 τ 1298 s. v. τρεῖς θεοί F44 a τ 1437 s. v. τριταία F 46 IG I³ (Stroud)
104,10-25 104,26-29 104,33-38
F5a F 18 a F 19°
Lex. Cantabr. 671,4 F 33 b Lex. Patm. Ad Demosth. Or. 23,76 (Latte-Erbse, Lexica Greca minora, 149) F 21 d Liban. decl. 19,7 (Förster VI p. 269,11) F 39 or. 11,14 (Förster V p. 517,11) F 55 b Lucian (Sommerbrodt) Eun. 10 F 28 c Lysias (Thalheim, Albini) 10,6-12 F 32 b 10,16 F 23 c 10,17 F 25 10,18 F 68 10,19 F 29 b, 30 b, 34 a 30,17 f. F 86 Niceph. Grg. Hist. Byz. IX 7 (I p. 427,6 Schop.) (Corp. Script. Hist. Byz. XXV 1), nach Martina Nr. 356 [F 38 i] Orosius (Zangemeister CSEL V) hist. 5,16,23
F4c
P. Ox. II 221 col. 14,11 (Schol. Ad Hom. Il. 21,282) F 36 b Paroem. Graec. (Leutsch-Schneidewin) I 388 App. 1,58 F 64 a Philo de spec. Leg. (Cohen-Wendland) 3,22 F 47 b Phot. (Reitzenstein) 64,15 s. v. ὀργάδες F 91
168
Indizes
102,1 s. v. ἰδύους 189,21 s. v. κύρβεις 288,5 s. v. ναυκραρία 344,7 s. v. ὀργεῶνες 437,20 s. v. ποινᾶν καὶ ἀποινᾶν 514,6 s. v. σῖτος Plut. (Ziegler) Public. 25,4 Sol. 1,6 13,4 15,2 17,1 18,6 19,3 19,4 20,1 20,2 20,6 21,1 21,3 21,5 22,1 22,3 22,4 23,1 23,2 23,3 23,6 23,7 24,1 24,3 24,4 24,5 mor. (Paton-Wegehaupt) 152 D (Nachstaedt-Titchener) 265 E
F 41 b F 85 b F 80 F 76 b F 11 F 54 F 37 c F 74 b F 31 b F1b F 40 b F2 F 70 [F 38 d] F 52 a F 51 a F 71 a F 32 a, 33 a F 49 b F 72 c F 56 F 78 c F 57 F 26, 28 a, 30 a F 31 a F 77, 81, 92 F 63 F 60 b F 65 F 35 F 75 F 87 F 74 c F 49 c
(Pohlenz-Sieveking) 550 C (Hubert) 751 B 769 A (Hubert-Pohlenz) 823 F 965 E Pollux (Bethe) 1,29 1,264 3,28 3,33 5,36 6,656 7,151 8,22 8,34 8,120 9,61
[F 38 e] F 74 d F 51 b F 38 f] F 38 k] F 82 F 71 b F5d F 48 a F 90 F 67 F 23 b F 24 F 21 c F 44 b F5d
Schol. Hom. Il. (Dindorf) 2,65 [F 7] Schol. Gen. Hom. Il. (Erbse) 21,260 F 45 22,282 F 36 a Sext. Emp. Pyrrh. hyp. (Mutschmann) 3,211 F 136 Steph. Byz. (Meineke) s. v. ’Aγνοῦς F 83 Suda (Adler) α 3716 s. v. ἄποινα F 12 ο 511 s. v. ὀργεῶνες F 76 b σ 502 s. v. σῖτος F 54 Theophrast περὶ εὐσεβείας apud Porph. de abst. (Nauck) 2,20 F 85 a
1966 legte Eberhard Ruschenbusch in der Historia – Einzelschrift 9 seine Sammlung der Fragmente des solonischen Gesetzeswerks aus dem Jahr 594 v. Chr. in den Originalsprachen vor. Nun folgen, aus dem Nachlass des 2007 verstorbenen Verfassers herausgegeben, die Übersetzung der 93 Fragmente, auf die Ruschenbusch die Rekonstruktion des solonischen Gesetzeswerks gründete, und ein wissenschaftlicher Kommentar, der dieses Gesetzeswerk in all seinen Dimensionen er-
schließt. Dabei zeigt sich Ruschenbuschs einzigartige Kennerschaft, die in gleicher Weise den Überlieferungszustand und den rechts- und sozialgeschichtlichen Gehalt der Texte betrifft. Er setzt sich kritisch mit der älteren Literatur auseinander und macht Ernst mit der Einsicht, dass erst das gesamte soziale und rechtliche Umfeld zusammen mit den Gesetzestexten das Recht Athens in archaischer Zeit ausmacht.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
isbn 978-3-515-10783-9