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German Pages 461 [462] Year 1988
Nietzsche • KSA 6 Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist • Ecce homo Dionysos-Dithyramben Nietzsche contra Wagner
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden
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Die Geburt der Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV Nachgelassene Schriften 1870-1873 Menschliches, Allzumenschliches I und II Morgenröte Idyllen aus Messina Die fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist • Ecce homo Dionysos-Dithyramben • Nietzsche contra Wagner Nachgelassene Fragmente 1869-1874 Nachgelassene Fragmente 1875-1879 Nachgelassene Fragmente 1880-1882 Nachgelassene Fragmente 1882-1884 Nachgelassene Fragmente 1884-1885 Nachgelassene Fragmente 1885-1887 Nachgelassene Fragmente 1887-1889 Einführung in die KSA Werk- und Siglenverzeichnis Kommentar zu den Bänden 1 - 1 3 Chronik zu Nietzsches Leben Konkordanz Verzeichnis sämtlicher Gedichte Gesamtregister
Friedrich Nietzsche Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist • Ecce homo Dionysos-Dithyramben Nietzsche contra Wagner Kritische Studienausgabe Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari
Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter
Band 6 der ,Kritischen Studienausgabe' (KSA) in 15 Bänden, die erstmals 1980 als Taschenbuchausgabe erschien und für die vorliegende Neuausgabe durchgesehen wurde. Sie enthält sämtliche Werke und unveröffentlichten Texte Friedrich Nietzsches nach den Originaldrucken und -manuskripten auf der Grundlage der .Kritischen Gesamtausgabe', herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erschienen im Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1967ff. Die Bände 14 (Kommentar) und 15 (Chronik und Gesamtregister) wurden eigens für die KSA erstellt. Ubersetzung des Nachworts von Ragni Maria Gschwend. KSA 15 enthält die Konkordanz zur ,Kritischen Gesamtausgabe'.
November 1988 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. K G , München Walter de Gruyter, Berlin/New York © 1967-77 und 1988 (2., durchgesehene Auflage) Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagsbuchhandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner Veit & Comp., Berlin 30 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C.H.Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany ISBN dtv 3-423-02226-4 ISBN WdeG 3-11-011845-9
Inhalt Vorbemerkung Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Nachgelassene Schriften Der Antichrist Ecce homo Dionysos-Dithyramben Nietzsche contra Wagner Nachwort Inhaltsverzeichnis
7 9 55 163 165 255 375 413 447 459
Vorbemerkung Band 6 der Kritischen Studienausgabe enthält folgende, von Nietzsche selbst herausgegebene Werke: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888). Göthen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (1889). Der Band enthält außerdem die nachgelassenen Schriften, die Nietzsche zwischen August 1888 und Anfang Januar 1889 verfaßte. Die Schriften, deren Publikation Nietzsche nachweislich bis zum 2. Januar 1889 beabsichtigte, sind (in der Reihenfolge ihrer Entstehung): Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum; Ecce homo. Wie man wird, was man ist; Dionysos-Dithyramben. Auf die Veröffentlichung der kleinen Schrift Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen verzichtete Nietzsche am 2. Januar 1889; sie erscheint deshalb als letzte in dieser Reihe, und zwar in der Fassung, die er bis dahin genehmigt hatte. Diesem Band entspricht Band VI/j der Kritischen Gesamtausgabe (Berlin 1969). Am Schluß des Bandes werden die Nachworte übersetzt, die Giorgio Colli für die italienische Ausgabe der Werke und nachgelassenen Schriften aus dem Jahre 1888 und der DionysosDithyramben schrieb (erschienen 1970 im Adelphi Verlag, Mailand). Mazzino Montinari
Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.
Vorwort. Ich mache mir eine kleine Erleichterung. Es ist nicht nur die reine Bosheit, wenn ich in dieser Schrift Bizet auf Kosten Wagner's lobe. Ich bringe unter vielen Spässen eine Sache vor, mit der nicht zu spassen ist. Wagnern den Rücken zu kehren war für mich ein Schicksal; irgend Etwas nachher wieder gern zu haben ein Sieg. Niemand war vielleicht gefährlicher mit der Wagnerei verwachsen, Niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, Niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein. Eine lange Geschichte! — Will man ein Wort dafür? — Wenn ich Moralist wäre, wer weiss, wie idi's nennen würde! Vielleicht S e l b s t ü b e r w i n d u n g . — Aber der Philosoph liebt die Moralisten nicht... er liebt audi die schönen Worte nicht... Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, „zeitlos" zu werden. Womit also hat er seinen härtesten Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein d é c a d e n t : nur dass ich das begriff, nur dass ich midi dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen. Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der That das Problem der décadence, — ich habe Gründe dazu gehabt. „Gut und Böse" ist nur eine Spielart jenes Problems. Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht
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man auch die Moral, — man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Werthformeln versteckt: das v e r a r m t e Leben, der Wille zum Ende, die grosse Müdigkeit. Moral v e r n e i n t das L e b e n . . . Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisciplin von Nöthen: — Partei zu nehmen g e g e n alles Kranke an mir, eingeredinet Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne „Menschlichkeit". — Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemässe: und als höchsten Wunsch das Auge Z a r a t h u s t r a ' s , ein Auge, das die ganze Thatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht, — u n t e r sich s i e h t . . . Einem solchen Ziele — welches Opfer wäre ihm nicht gemäss? welche „Selbst-Überwindung"! welche „Selbst-Verleugnung"! Mein grösstes Erlebniss war eine G e n e s u n g . Wagner gehört bloss zu meinen Krankheiten. Nicht dass ich gegen diese Krankheit undankbar sein möchte. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrecht halte, dass Wagner s c h ä d l i c h ist, so will idi nicht weniger aufrecht halten, w e m er trotzdem unentbehrlich ist — dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagner's zu entrathen. E r hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein, — dazu muss er deren bestes Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet die Modernität ihre i n t i m s t e Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den W e r t h des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im Klaren ist. — Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt „ich hasse Wagner, aber ich halte keine andre Musik mehr aus". Ich würde aber auch einen Philosophen verstehn, der erklärte: „Wagner r e s ü m i r t die Modernität. Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer s e i n . . . "
Der Fall Wagner. Turiner Brief vom Mai 1888. ridendo dicere severum
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I. Ich hörte gestern — werden Sie es glauben? — zum zwanzigsten Male B i z e t ' s Meisterstück. Ich harrte wieder mit einer sanften Andacht aus, ich lief wieder nidit davon. Dieser Sieg über meine Ungeduld überrascht midi. Wie ein solches Werk vervollkommnet! Man wird selbst dabei zum „Meisterstück". — Und wirklich schien ich mir jedes Mal, dass ich C a r m e n hörte, mehr Philosoph, ein besserer Philosoph, als ich sonst mir scheine: so langmüthig geworden, so glücklich, so indisch, so s e s s h a f t . . . Fünf Stunden Sitzen: erste Etappe der Heiligkeit! — Darf ich sagen, dass Bizet's Orchesterklang fast der einzige ist, den ich noch aushalte? Jener a n d e r e Orchesterklang, der jetzt obenauf ist, der Wagnerische, brutal, künstlich und „unschuldig" zugleich und damit zu den drei Sinnen der modernen Seele auf Einmal redend, — wie nachtheilig ist mir dieser Wagnerische Orchesterklang! Ich heisse ihn Scirocco. Ein verdriesslicher Schweiss bricht an mir aus. Mit m e i n e m guten Wetter ist es vorbei. Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie s c h w i t z t nicht. „Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen": erster Satz meiner Aesthetik. Diese Musik ist böse, raffinirt, fatalistisch: sie bleibt dabei populär — sie hat das Raffinement einer Rasse, nicht eines Einzelnen. Sie ist reich. Sie ist präcis. Sie
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baut, organisirt, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur „unendlichen Melodie". Hat man je schmerzhaftere tragische Accente auf der Bühne gehört? Und wie werden dieselben erreicht! Ohne Grimasse! Ohne Falschmünzerei! Ohne die L ü g e des grossen Stils! — Endlich: diese Musik nimmt den Zuhörer als intelligent, selbst als Musiker, — sie ist auch d a m i t das Gegenstück zu Wagner, der, was immer sonst, jedenfalls das u n h ö f l i c h s t e Genie der Welt war (Wagner nimmt uns gleichsam als ob , er sagt Ein Ding so oft, bis man verzweifelt, — bis man's glaubt). Und nochmals: ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch ein besserer Musikant, ein besserer Z u h ö r e r . Kann man überhaupt noch besser zuhören? — Ich vergrabe meine Ohren noch u n t e r diese Musik, idi höre deren Ursache. Es scheint mir, dass ich ihre Entstehung erlebe — ich zittere vor Gefahren, die irgend ein Wagniss begleiten, idi bin entzückt über Glücksfälle, an denen Bizet unschuldig ist. — Und seltsam! im Grunde denke ich nicht daran, oder w e i s s es nidit, wie sehr ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen mir während dem durch den K o p f . . . Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist f r e i m a c h t ? dem Gedanken Flügel giebt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? — Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die grossen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. — Ich definirte eben das philosophische Pathos. — Und unversehens fallen mir A n t w o r t e n in den Schooss, ein kleiner Hagel von Eis und Weisheit, von g e l ö s t e n Problemen... Wo bin idi? — Bizet macht mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andre Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern B e w e i s dafür, was gut ist. —
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Auch dies Werk erlöst; nicht Wagner allein ist ein „Erlöser". Mit ihm nimmt man Abschied vom f e u c h t e n Norden, von allem Wasserdampf des Wagnerischen Ideals. Schon die Handlung erlöst davon. Sie hat von Mérimée noch die Logik in der Passion, die kürzeste Linie, die h a r t e Notwendigkeit; sie hat vor Allem, was zur heissen Zone gehört, die Tfockenheit der Luft, die l i m p i d e z z a in der Luft, Hier ist in jedem Betracht das Klima verändert. Hier redet eine andre Sinnlichkeit, eine andre Sensibilität, eine andre Heiterkeit. Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutsdien Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängniss über sidi, ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon. Ich beneide Bizet darum, dass er den Muth zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europa's bisher noch keine Spradie hatte, — zu dieser südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität... Wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohlthun! Wir blicken dabei hinaus: sahen wir je das Meer g l ä t t e r ? — Und wie uns der maurisdie Tanz beruhigend zuredet! Wie in seiner lasciven Schwermuth selbst unsre Unersättlichkeit einmal Sattheit lernt! — Endlich die Liebe, die in die N a t u r zurückübersetzte Liebe! N i c h t die Liebe einer „höheren Jungfrau"! Keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als F a t a l i t ä t , cynisch, unschuldig, grausam — und eben darin N a t u r ! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der T o d h a s s der Geschlechter ist! — Ich weiss keinen Fall, wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel würde, wie im letzten Schrei Don José's, mit dem das Werk schliesst: „Ja! I c h habe sie getödtet, i c h — meine angebetete Carmen!" — Eine solche Auffassung der Liebe (die einzige, die des Philosophen würdig ist —) ist selten: sie hebt ein Kunstwerk unter Tausenden heraus. Denn im Durchschnitt machen es die Künstler wie
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alle Welt, sogar schlimmer — sie m i s s v e r s t e h e n die Liebe. Auch Wagner hat sie missverstanden. Sie glauben in ihr selbstlos zu sein, weil sie den Vortheil eines andren Wesens wollen, oft wider ihren eigenen Vortheil. Aber dafür wollen sie jenes andre Wesen b e s i t z e n . . . Sogar Gott macht hier keine Ausnahme. Er ist ferne davon zu denken „was geht dich's an, wenn ich dich liebe?" — er wird schrecklich, wenn man ihn nicht wieder liebt. L'amour — mit diesem Spruch behält man unter Göttern und Menschen Recht — est de tous les sentiments le plus égoïste, et, par conséquent, lorsqu'il est blessé, le moins généreux. (B. Constant.) 3Sie sehen bereits, wie sehr mich diese Musik v e r b e s s e r t ? — Il faut méditerraniser la musique: ich habe Gründe zu dieser Formel (Jenseits von Gut und Böse, S. 220). Die Rückkehr zur Natur, Gesundheit, Heiterkeit, Jugend, T u g e n d ! — Und doch war ich Einer der corruptesten Wagnerianer . . . Ich war im Stande, Wagnern ernst zu nehmen... Ah dieser alte Zauberer! was hat er uns Alles vorgemacht! Das Erste, was seine Kunst uns anbietet, ist ein Vergrösserungsglas: man sieht hinein, man traut seinen Augen nicht — Alles wird gross, s e l b s t W a g n e r w i r d g r o s s . . . Was für eine kluge Klapperschlange! Das ganze Leben hat sie uns von „Hingebung", von „Treue", von „Reinheit" vorgeklappert, mit einem Lobe auf die Keuschheit zog sie sich aus der v e r d e r b t e n Welt zurück! — Und wir haben's ihr geglaubt... — Aber Sie hören mich nicht? Sie ziehen selbst das P r o b l e m Wagner's dem Bizet's vor? Audi idi unterschätze es nidit, es hat seinen Zauber. Das Problem der Erlösung ist selbst ein ehrwürdiges Problem. Wagner hat über Nidits so tief wie über die Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgend wer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein — dies ist s e i n Problem. — Und wie reich
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er sein Leitmotiv variirt! Welche seltenen, welche tiefsinnigen Ausweichungen! Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, dass die Unschuld mit Vorliebe interessante Sünder erlöst? (der Fall im Tannhäuser) Oder dass selbst der ewige Jude erlöst wird, s e s s h a f t wird, wenn er sich verheirathet? (der Fall im Fliegenden Holländer) Oder dass alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen Jünglingen erlöst zu werden? (der Fall Kundry) Oder dass schöne Mädchen am liebsten durch einen Ritter erlöst werden, der Wagnerianer ist? (der Fall in den Meistersingern) Oder dass auch verheirathete Frauen gerne durch einen Ritter erlöst werden? (der Fall Isoldens) Oder dass „der alte Gott", nachdem er sich moralisch in jedem Betracht compromittirt hat, endlich durch einen Freigeist und Immoralisten erlöst wird? (der Fall im „Ring") Bewundern Sie in Sonderheit diesen letzten Tiefsinn! Verstehn Sie ihn? Ich — hüte mich, ihn zu vers t e h n . . . Dass man noch andre Lehren aus den genannten Werken ziehn kann, möchte ich eher beweisen als bestreiten. Dass man durch ein Wagnerisches Ballet zur Verzweiflung gebracht werden kann — u n d zur Tugend! (nochmals der Fall Tannhäusers) Dass es von den schlimmsten Folgen sein kann, wenn man nicht zur rechten Zeit zu Bett geht (nochmals der Fall Lohengrins). Dass man nie zu genau wissen soll, mit wem man sich eigentlich verheirathet (zum dritten Mal der Fall Lohengrins) — Tristan und Isolde verherrlichen den vollkommnen Ehegatten, der, in einem gewissen Falle, nur Eine Frage hat: „aber warum habt ihr mir das nicht eher gesagt? Nichts einfacher als das!" Antwort: „Das kann ich dir nicht sagen; und was du frägst, das kannst du nie erfahren." Der Lohengrin enthält eine feierliche In-Acht-Erklärung des Forschens und Fragens. Wagner vertritt damit den christlichen Begriff „du sollst und musst g 1 a u b e n". Es ist ein Verbrechen am Hödisten, am Heiligsten, wissenschaftlich zu s e i n . . . Der flie-
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gende Holländer predigt die erhabne Lehre, dass das Weib auch den Unstätesten festmacht, Wagnerisch geredet, „erlöst". Hier gestatten wir uns eine Frage. Gesetzt nämlich, dies wäre wahr, wäre es damit auch schon wünsdienswerth? — Was wird aus dem „ewigen Juden", den ein Weib anbetet und f e s t m a c h t ? Er hört bloss auf, ewig zu sein; er verheirathet sich, er geht uns Nichts mehr an. — In's Wirkliche übersetzt: die Gefahr der Künstler, der Genie's — und das sind ja die „ewigen Juden" — liegt im Weibe: die a n b e t e n d e n Weiber sind ihr Verderb. Fast Keiner hat Charakter genug, um nicht verdorben — „erlöst" zu werden, wenn er sich als Gott behandelt fühlt: — er c o n d e s c e n d i r t alsbald zum Weibe. — Der Mann ist feige vor allem Ewig-Weiblidien: das wissen die Weiblein. — In vielen Fällen der weiblichen Liebe, und vielleicht gerade in den berühmtesten, ist Liebe nur ein feinerer P a r a s i t i s m u s , ein Sich-Einnisten in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch — adi! wie sehr immer auf „des Wirthes" Unkosten! Man kennt das Schicksal Goethe's im moralinsauren altjungfernhaften Deutschland. Er war den Deutschen immer anstössig, er hat ehrliche Bewunderer nur unter Jüdinnen gehabt. Schiller, der „edle" Schiller, der ihnen mit grossen Worten um die Ohren schlug, — d e r war nach ihrem Herzen. Was warfen sie Goethen vor? Den „Berg der Venus"; und dass er venetianische Epigramme gedichtet habe. Schon Klopstock hielt ihm eine Sittenpredigt; es gab eine Zeit, wo Herder, wenn er von Goethe sprach, mit Vorliebe das Wort „Priap" gebrauchte. Selbst der Wilhelm Meister galt nur als Symptom des Niedergangs, als moralisches „Auf-den-Hund-Kommen". Die „Menagerie von zahmem Vieh", die „Nichtswürdigkeit" des Helden darin erzürnte zum Beispiel Niebuhrn: der endlich in eine Klage ausbricht, welche B i t e r o l f hätte absingen können: „Nidits macht leicht einen schmerzlicheren Eindruck, als wenn ein grosser Geist sich seiner Flügel beraubt und seine Virtuosität in etwas
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weit Geringerem sucht, i n d e m er d e m H ö h e r e n e n t s a g t " . . . Vor Allem aber war die höhere Jungfrau empört: alle kleinen Höfe, alle Art „Wartburg" in Deutschland bekreuzte sidi vor Goethe, vor dem „unsauberen Geist" in Goethe. — D i e s e Geschichte hat Wagner in Musik gesetzt. Er e r l ö s t Goethe, das versteht sich von selbst; aber so, dass er, mit Klugheit, zugleich die Partei der höheren Jungfrau nimmt. Goethe wird gerettet: — ein Gebet rettet ihn, eine höhere Jungfrau zieht ihn hinan... — Was Goethe über Wagner gedacht haben würde? — Goethe hat sich einmal die Frage vorgelegt, was die Gefahr sei, die über allen Romantikern schwebe: das Romantiker-Verhängniss. Seine Antwort ist: „am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken." Kürzer: P a r s i f a l Der Philosoph macht dazu noch einen Epilog. H e i l i g k e i t — das Letzte vielleicht, was Volk und Weib von höheren Werthen noch zu Gesicht bekommt, der Horizont des Ideals für Alles, was von Natur myops ist. Unter Philosophen aber, wie jeder Horizont, ein blosses Nichtverständniss, eine Art Thorschluss vor dem, wo i h r e Welt erst b e g i n n t — i h r e Gefahr, i h r Ideal, i h r e Wünschbarkeit... Höflicher gesagt: la philosophie ne suffît pas au grand nombre. Il lui faut la sainteté. — 4— Ich erzähle noch die Geschichte des „Rings". Sie gehört hierher. Audi sie ist eine Erlösungsgeschichte: nur dass dies Mal Wagner es ist, der erlöst wird. — Wagner hat, sein halbes Leben lang, an die R e v o l u t i o n geglaubt, wie nur irgend ein Franzose an sie geglaubt hat. Er suchte nach ihr in der Runenschrift des Mythus, er glaubte in S i e g f r i e d den typischen Revolutionär zu finden. — „Woher stammt alles Unheil in der Welt?" fragte sich Wagner. Von „alten Verträgen": antwortete er, gleich allen Revolutions-Ideologen. Auf deutsch: von Sitten,
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Gesetzen, Moralen, Institutionen, von Alledem, worauf die alte Welt, die alte Gesellschaft ruht. „Wie schafft man das Unheil aus der Welt? Wie schafft man die alte Gesellschaft ab?" Nur dadurch, dass man den „Verträgen" (dem Herkommen, der Moral) den Krieg erklärt. D a s t h u t S i e g f r i e d . Er beginnt früh damit, sehr früh: seine Entstehung ist bereits eine Kriegserklärung an die Moral — er kommt aus Ehebruch, aus Blutschande zur W e l t . . . N i c h t die Sage, sondern Wagner ist der Erfinder dieses radikalen Zugs; an diesem Punkte hat er die Sage c o r r i g i r t . . . Siegfried fährt fort, wie er begonnen hat: er folgt nur dem ersten Impulse, er wirft alles Ueberlieferte, alle Ehrfurcht, alle F u r c h t über den Haufen. Was ihm missfällt, sticht er nieder. Er rennt alten Gottheiten unehrerbietig wider den Leib. Seine Hauptunternehmung aber geht dahin, d a s W e i b z u e m a n c i p i r e n — „Brünnhilde zu erlösen"... Siegfried u n d Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe; der Aufgang des goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral — d a s U e b e l i s t abges c h a f f t . . . Wagner's Schiff lief lange Zeit lustig auf d i e s e r Bahn. Kein Zweifel, Wagner suchte auf ihr s e i n höchstes Ziel. — Was geschah? Ein Unglück. Das Schiff fuhr auf ein Riff; Wagner sass fest. Das Riff war die Schopenhauerische Philosophie; Wagner sass auf einer c o n t r ä r e n Weltansicht fest. Was hatte er in Musik gesetzt? Den Optimismus. Wagner schämte sich. Noch dazu einen Optimismus, für den Schopenhauer ein böses Beiwort geschaffen hatte — den r u c h l o s e n Optimismus. Er schämte sich noch einmal. Er besann sich lange, seine Lage schien verzweifelt... Endlich dämmerte ihm ein Ausweg: das Riff, an dem er scheiterte, wie? wenn er es als Z i e l , als Hinterabsicht, als eigentlichen Sinn seiner Reise interpretirte? H i e r zu scheitern — das war auch ein Ziel. Bene navigavi, cum naufragium f e c i . . . Und er übersetzte den „Ring" in's Schopenhauerische. Alles läuft schief, Alles geht zu Grunde, die neue Welt ist so schlimm, wie die alte: — das N i c h t s , die
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indische Circe w i n k t . . . Brünnhilde, die nach der altern Absicht sich mit einem Liede zu Ehren der freien Liebe zu verabschieden hatte, die Welt auf eine socialistische Utopie vertröstend, mit der „Alles gut wird", bekommt jetzt etwas Anderes zu thun. Sie muss erst Schopenhauer studiren; sie muss das vierte Buch der „Welt als Wille und Vorstellung" in Verse bringen. W a g n e r w a r e r l ö s t . . . Allen Ernstes, dies w a r eine Erlösung. Die Wohlthat, die Wagner Schopenhauern verdankt, ist unermesslich. Erst der P h i l o s o p h d e r d é c a d e n c e gab dem Künstler der décadence s i c h s e l b s t
5Dem K ü n s t l e r d e r d é c a d e n c e — da steht das Wort. Und damit beginnt mein Ernst. Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt — und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, — e r h a t d i e M u s i k k r a n k g e m a c h t — Ein typischer décadent, der sich nothwendig in seinem verderbten Geschmack fühlt, der mit ihm einen höheren Geschmack in Anspruch nimmt, der seine Verderbniss als Gesetz, als Fortschritt, als Erfüllung in Geltung zu bringen weiss. Und man wehrt sich nicht. Seine Verführungskraft steigt in's Ungeheure, es qualmt um ihn von Weihrauch, das Missverständniss über ihn heisst sich „Evangelium" — er hat durchaus nicht bloss die A r m e n d e s G e i s t e s zu sich überredet! Ich habe Lust, ein wenig die Fenster aufzumachen. Luft! Mehr Luft! Dass man sich in Deutschland über Wagner betrügt, befremdet mich nicht. Das Gegentheil würde mich befremden. Die Deutschen haben sich einen Wagner zuredit gemacht, den sie verehren können: sie waren noch nie Psydiologen, sie sind damit
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dankbar, dass sie missverstehn. Aber dass man sich auch in Paris über Wagner betrügt! wo man beinahe nichts Andres mehr ist als Psycholog. Und in Sankt-Petersburg! wo man Dinge nodi erräth, die selbst in Paris nicht errathen werden. Wie verwandt muss Wagner der gesammten europäischen décadence sein, dass er von ihr nicht als décadent empfunden wird! Er gehört zu ihr: er ist ihr Protagonist, ihr grösster N a m e . . . Man ehrt sich, wenn man i h n in die Wolken hebt. — Denn dass man nicht gegen ihn sich wehrt, das ist selbst schon ein Zeichen von décadence. Der Instinkt ist geschwächt. Was man zu scheuen hätte, das zieht an. Man setzt an die Lippen, was noch schneller in den Abgrund treibt. — Will man ein Beispiel? Aber man hat nur das régime zu beobachten, das sich Anämische oder Gichtisdie oder Diabetiker selbst verordnen. Definition des Vegetariers: ein Wesen, das eine corroborirende Diät nöthig hat. Das Schädliche als schädlich empfinden, sich etwas Schädliches verbieten k ö n n e n ist ein Zeichen noch von Jugend, von Lebenskraft. Den Erschöpften l o c k t das Schädliche: den Vegetarier das Gemüse. Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein: nur muss man gesund genug für dies Stimulans sein! — Wagner vermehrt die Erschöpfung: d e s h a l b zieht er die Schwachen und Erschöpften an. Oh über das Klapperschlangen-Glück des alten Meisters, da er gerade immer „die Kindlein " zu sich kommen sah! — Ich stelle diesen Gesichtspunkt voran: Wagner's Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt — lauter Hysteriker-Probleme —, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nadi immer schärfern Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (— eine Kranken-Galerie! —): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. W a g n e r e s t u n e n é v r o s e . Nidits ist vielleicht heute besser bekannt, Nichts jedenfalls bes-
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ser studirt als der Proteus-Charakter der Degenerescenz, der hier sich als Kunst und Künstler verpuppt. Unsre Aerzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall, zum Mindesten einen sehr vollständigen. Gerade, weil Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der m o d e r n e K ü n s t l e r par excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischeste Art gemischt, was heute alle Welt am nöthigsten hat, — die drei grossen Stimulantia der Erschöpften, das B r u t a l e , das K ü n s t l i c h e und das U n s c h u l d i g e (Idiotische). Wagner ist ein grosser Verderb für die Musik. Er hat in ihr das Mittel errathen, müde Nerven zu reizen, — er hat die Musik damit krank gemacht. Seine Erfindungsgabe ist keine kleine in der Kunst, die Erschöpftesten wieder aufzustacheln, die Halbtodten in's Leben zu rufen. Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um. Der E r f o l g Wagner's — sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen — hat die ganze ehrgeizige Musiker-Welt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht nur die ehrgeizige, auch die k l u g e . . . Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsre grossen Theater leben von Wagner.
6. — Ich gestatte mir wieder eine Erheiterung. Idi setze den Fall, dass der E r f o l g Wagner's leibhaft würde, Gestalt annähme, dass er, verkleidet zum menschenfreundlichen Musikgelehrten, sich unter junge Künstler mischte. Wie meinen Sie wohl, dass er sich da verlautbarte? — Meine Freunde, würde er sagen, reden wir fünf Worte unter uns. Es ist leichter, schlechte Musik zu machen als gute. Wie? wenn es ausserdem audi noch vortheilhafter wäre? wirkungsvoller, überredender, begeisternder, zuverlässiger? w a g n e -
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r i s c h e r ? . . . Pulchrum est paucorum hominum. Schlimm genug! Wir verstehn Latein, wir verstehn vielleicht auch unsern Vortheil. Das Sdiöne hat seinen Haken: wir wissen das. Wozu also Schönheit? Warum nicht lieber das Grosse, das Erhabne, das Gigantisdie, Das, was die M a s s e n bewegt? — Und nochmals: es ist leichter, gigantisdi zu sein als schön; wir wissen das... Wir kennen die Massen, wir kennen das Theater. Das Beste, was darin sitzt, deutsche Jünglinge, gehörnte Siegfriede und andre Wagnerianer, bedarf des Erhabenen, des Tiefen, des Überwältigenden. So viel vermögen wir noch. Und das Andre, das auch nodi darin sitzt, die Bildungs-Cretins, die kleinen Blasirten, die Ewig-Weiblichen, die Glücklich-Verdauenden, kurz das V o l k — bedarf ebenfalls des Erhabenen, des Tiefen, des Uberwältigenden. Das hat Alles einerlei Logik. „Wer uns umwirft, der ist stark; wer uns erhebt, der ist göttlich; wer uns ahnen macht, der ist tief." — Entsdiliessen wir uns, meine Herrn Musiker: wir wollen sie umwerfen, wir wollen sie erheben, wir wollen sie ahnen machen. So viel vermögen wir noch. Was das Ahnen-machen betrifft: so nimmt hier unser Begriff „Stil" seinen Ausgangspunkt. Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als ein Gedanke! Sondern der Zustand v o r dem Gedanken, das Gedräng der noch nidit geborenen Gedanken, das Versprechen zukünftiger Gedanken, die Welt, wie sie war, bevor Gott sie schuf, — eine Recrudescenz des C h a o s . . . Das Chaos macht ahnen... In der Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melodie. Was, zuzweit, das Umwerfen angeht, so gehört dies zum Theil schon in die Physiologie. Studiren wir vor Allem die Instrumente. Einige von ihnen überreden selbst nodi die Eingeweide (— sie ö f f n e n die Thore, mit Händel zu reden), andre bezaubern das Rückenmark. Die Farbe des Klangs entscheidet hier; w a s erklingt, ist beinahe gleichgültig. Raffiniren
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wir in d i e s e m Punkte! Wozu uns sonst verschwenden? Seien wir im Klang charakteristisch bis zur Narrheit! Man rechnet es unserm Geiste zu, wenn wir mit Klängen viel zu rathen geben! Agajiren wir die Nerven, schlagen wir sie todt, handhaben wir Blitz und Donner, — das wirft u m . . . Vor Allem aber wirft die L e i d e n s c h a f t um. — Verstehen wir uns über die Leidenschaft. Nichts ist wohlfeiler als die Leidenschaft! Man kann aller Tugenden des Contrapunktes entrathen, man braucht Nichts gelernt zu haben, — die Leidenschaft kann man immer! Die Schönheit ist schwierig: hüten wir uns vor der Schönheit!... Und gar die M e l o d i e ! Verleumden wir, meine Freunde, verleumden wir, wenn anders es uns ernst ist mit dem Ideale, verleumden wir die Melodie! Nichts ist gefährlidier als eine schöne Melodie! Nichts verdirbt sicherer den Geschmack! Wir sind verloren, meine Freunde, wenn man wieder schöne Melodien liebt!... G r u n d s a t z : die Melodie ist unmoralisch. B e w e i s : Palestrina. N u t z a n w e n d u n g : Parsifal. Der Mangel an Melodie heiligt selbst... Und dies ist die Definition der Leidenschaft. Leidenschaft — oder die Gymnastik des Hässlichen auf dem Seile der Enharmonik. — Wagen wir es, meine Freunde, hässlich zu sein! Wagner hat es gewagt! Wälzen wir unverzagt den Schlamm der widrigsten Harmonien vor uns her! Schonen wir unsre Hände nicht! Erst damit werden wir n a t ü r l i c h . . . Einen letzten Rath! Vielleicht fasst er Alles in Eins. — S e i e n w i r I d e a l i s t e n ! — Dies ist, wenn nicht das Klügste, so doch das Weiseste, was wir thun können. Um die Menschen zu erheben, muss man selbst erhaben sein. Wandeln wir über Wolken, haranguiren wir das Unendliche, stellen wir die grossen Symbole um uns herum! Sursum! Bumbum! — es giebt keinen besseren Rath. Der „gehobene Busen" sei unser Argument, das „schöne Gefühl" unser Fürsprecher. Die Tugend behält Recht noch gegen den Contrapunkt. „Wer uns verbessert,
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wie sollte der nicht selbst gut sein?" so hat die Menschheit immer geschlossen. Verbessern wir also die Menschheit! — damit wird man gut (damit wird man selbst „Klassiker": — Schiller wurde „Klassiker"). Das Haschen nach niederem Sinnesreiz, nach der sogenannten Schönheit hat den Italiäner entnervt: bleiben wir deutsch! Selbst Mozart's Verhältniss zur Musik — Wagner hat es u n s zum Trost gesagt! — war im Grunde frivol . . . Lassen wir niemals zu, dass die Musik „zur Erholung diene"; dass sie „erheitere"; dass sie „Vergnügen mache". M a c h e n w i r n i e V e r g n ü g e n ! — wir sind verloren, wenn man von der Kunst wieder hedonistisch d e n k t . . . Das ist schlechtes achtzehntes J a h r h u n d e r t . . . Nichts dagegen dürfte räthlicher sein, bei Seite gesagt, als eine Dosis — M u c k e r thum, sit venia verbo. Das giebt Würde. — Und wählen wir die Stunde, wo es sich schickt, schwarz zu blicken, öffentlich zu seufzen, christlich zu seufzen, das grosse christliche Mitleiden zur Sdiau zu stellen. „Der Mensch ist verderbt: wer erlöst ihn? w a s e r l ö s t i h n ? " — Antworten wir nicht. Seien wir vorsichtig. Bekämpfen wir unsern Ehrgeiz, welcher Religionen stiften möchte. Aber Niemand darf zweifeln, dass w i r ihn erlösen, dass u n s r e Musik allein e r l ö s t . . . (Wagner's Aufsatz „Religion und Kunst".)
7Genug! Genug! Man wird, fürchte ich, zu deutlich nur unter 25 meinen heitern Strichen die sinistre Wirklichkeit wiedererkannt haben — das Bild eines Verfalls der Kunst, eines Verfalls auch der Künstler. Der letztere, ein Charakter-Verfall, käme vielleicht mit dieser Formel zu einem vorläufigen Ausdruck: der Musiker wird jetzt zum Schauspieler, seine Kunst entwickelt 3° sich immer mehr als ein Talent zu l ü g e n . Ich werde eine Gelegenheit haben (in einem Capitel meines Hauptwerks, das den Titel führt „Zur Physiologie der Kunst"), des Näheren zu zeigen, wie diese Gesammtverwandlung der Kunst in's Schau-
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spielerische eben so bestimmt ein Ausdruck physiologischer Degenerescenz (genauer, eine Form des Hysterismus) ist, wie jede einzelne Verderbniss und Gebrechlichkeit der durch Wagner inaugurirten Kunst: zum Beispiel die Unruhe ihrer Optik, die dazu nöthigt, in jedem Augenblick die Stellung vor ihr zu wechseln. Man versteht Nichts von Wagner, so lange man in ihm nur ein Naturspiel, eine Willkür und Laune, eine Zufälligkeit sieht. Er war kein „lückenhaftes", kein „verunglücktes", kein „contradiktorisches" Genie, wie man wohl gesagt hat. Wagner war etwas V o l l k o m m n e s , ein typischer décadent, bei dem jeder „freie Wille" fehlt, jeder Zug Nothwendigkeit hat. Wenn irgend Etwas interessant ist an Wagner, so ist es die Logik, mit der ein physiologischer Missstand als Praktik und Prozedur, als Neuerung in den Principien, als Krisis des Geschmacks Schluss für Schluss, Schritt für Schritt madit. Idi halte midi dies Mal nur bei der Frage des S t i l s auf. — Womit kennzeichnet sich jede l i t t e r a r i s c h e décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, „Freiheit des Individuums", moralisch geredet, — zu einer politischen Theorie erweitert „ g l e i c h e Rechte für Alle". Das Leben, die g l e i c h e Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest a r m an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung o d e r Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, geredinet, künstlich, ein Artefakt. — Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tönen, sondern von Gebärden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-
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Semiotik. Will man ihn bewundern, so sehe man ihn hier an der Arbeit: wie er hier trennt, wie er kleine Einheiten gewinnt, wie er diese belebt, heraustreibt, sichtbar macht. Aber daran erschöpft sich seine Kraft: der Rest taugt Nichts. Wie armselig, wie verlegen, wie laienhaft ist seine Art zu „entwickeln", sein Versuch, Das, was nicht auseinander gewachsen ist, wenigstens durcheinander zu stecken! Seine Manieren dabei erinnern an die auch sonst für Wagner's Stil heranziehbaren frères de Goncourt: man hat eine Art Erbarmen mit soviel Nothstand. Dass Wagner seine Unfähigkeit zum organischen Gestalten in ein Princip verkleidet hat, dass er einen „dramatischen Stil" statuirt, wo wir bloss sein Unvermögen zum Stil überhaupt statuiren, entspricht einer kühnen Gewohnheit, die Wagnern durch's ganze Leben begleitet hat: er setzt ein Princip an, wo ihm ein Vermögen fehlt (— sehr verschieden hierin, anbei gesagt, vom alten Kant, der eine a n d r e Kühnheit liebte: nämlich überall, wo ihm ein Princip fehlte, ein „Vermögen" dafür im Menschen anzusetzen...). Nochmals gesagt: bewunderungswürdig, liebenswürdig ist Wagner nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdiditung des Details, — man hat alles Recht auf seiner Seite, ihn hier als einen Meister ersten Ranges zu proklamiren, als unsern grössten M i n i a t u r i s t e n der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt. Sein Reidithum an Farben, an Halbschatten, an Heimlichkeiten absterbenden Lichts verwöhnt dergestalt, dass Einem hinterdrein fast alle andern Musiker zu robust vorkommen. — Will man mir glauben, so hat man den höchsten Begriff Wagner nicht aus dem zu entnehmen, was heute von ihm gefällt. Das ist zur Überredung von Massen erfunden, davor springt Unsereins wie vor einem allzufrechen Affresco zurück. Was geht u n s die agaçante Brutalität der Tannhäuser-Ouvertüre an? Oder der Circus Walküre? Alles, was von Wagner's Musik auch abseits vom Theater populär geworden ist, ist zweifelhaften Geschmacks und verdirbt den Geschmack. Der
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Tannhäuser-Marsch scheint mir der Biedermännerei verdächtig; die Ouvertüre zum fliegenden Holländer ist ein Lärm um Nichts; das Lohengrin-Vorspiel gab das erste, nur zu verfängliche, nur zu gut gerathene Beispiel dafür, wie man auch mit Musik hypnotisirt (— ich mag alle Musik nicht, deren Ehrgeiz nicht weiter geht als die Nerven zu überreden). Aber vom Magnétiseur und Affresco-Maler Wagner abgesehn giebt es noch einen Wagner, der kleine Kostbarkeiten bei Seite legt: unsern grössten Melancholiker der Musik, voll von Blicken, Zärtlichkeiten und Trostworten, die ihm Keiner vorweggenommen hat, den Meister in Tönen eines schwermüthigen und schläfrigen Glücks... Ein Lexikon der intimsten Worte Wagner's, lauter kurze Sachen von fünf bis fünfzehn Takten, lauter Musik, die N i e m a n d k e n n t . . . Wagner hatte die Tugend der décadents, das Mitleiden
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— „Sehr gut! Aber wie k a n n man seinen Geschmack an diesen décadent verlieren, wenn man nicht zufällig ein Musiker, wenn man nicht zufällig selbst ein décadent ist?" — Umgekehrt! Wie kann man's n i c h t ! Versuchen Sie's doch! — Sie wissen nicht, wer Wagner ist: ein ganz grosser Sdiauspieler! Giebt es überhaupt eine tiefere, eine s c h w e r e r e Wirkung im Theater? Sehen Sie doch diese Jünglinge — erstarrt, blass, athemlos! Das sind Wagnerianer: das versteht Nichts von Musik, — und trotzdem wird Wagner über sie H e r r . . . Wagner's Kunst drückt mit hundert Atmosphären: bücken Sie sich nur, man kann nicht anders... Der Sdiauspieler Wagner ist ein Tyrann, sein Pathos wirft jeden Geschmack, jeden Widerstand über den Haufen. — Wer hat diese Überzeugungskraft der Gebärde, wer sieht so bestimmt, so zu allererst die Gebärde! Dies AthemAnhalten des Wagnerischen Pathos, dies Nicht-mehr-loslassenWollen eines extremen Gefühls, diese Schrecken einflössende
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L ä n g e in Zuständen, wo der Augenblick schon erwürgen will! War Wagner überhaupt ein Musiker? Jedenfalls war er etwas Anderes m e h r : nämlich ein unvergleichlicher Histrio, der grösste Mime, das erstaunlichste Theater-Genie, das die Deutschen gehabt haben, unser S c e n i k e r par excellence. Er gehört wo andershin als in die Geschichte der Musik: mit deren grossen Echten soll man ihn nicht verwechseln. Wagner u n d Beethoven — das ist eine Blasphemie — und zuletzt ein Unredit selbst gegen W a g n e r . . . Er war auch als Musiker nur Das, was er überhaupt war: er w u r d e Musiker, er w u r d e Dichter, weil der Tyrann in ihm, sein Schauspieler-Genie ihn dazu zwang. Man erräth Nichts von Wagner, so lange man nicht seinen dominirenden Instinkt errieth. Wagner war n i c h t Musiker von Instinkt. Dies bewies er damit, dass er alle Gesetzlichkeit und, bestimmter geredet, allen Stil in der Musik preisgab, um aus ihr zu machen, was er nöthig hatte, eine Theater-Rhetorik, ein Mittel des Ausdrucks, der Gebärden-Verstärkung, der Suggestion, des Psychologisdi-Pittoresken. Wagner dürfte uns hier als Erfinder und Neuerer ersten Ranges gelten — e r h a t d a s S p r a c h v e r m ö g e n d e r M u s i k i n ' s U n e r m e s s l i c h e v e r m e h r t — : er ist der Victor Hugo der Musik als Sprache. Immer vorausgesetzt, das's man zuerst gelten lässt, Musik d ü r f e unter Umständen nicht Musik, sondern Sprache, sondern Werkzeug, sondern ancilla dramaturgica sein. Wagner's Musik, n i c h t vom TheaterGesthmacke, einem sehr toleranten Geschmacke, in Schutz genommen, ist einfach schlechte Musik, die schlechteste überhaupt, die vielleicht gemacht worden ist. Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zählen kann, wird er „dramatisch", wird er „Wagnerisch" . . . Wagner hat beinahe entdeckt, welche Magie selbst noch mit einer aufgelösten und gleichsam e l e m e n t a r i s c h gemachten Musik ausgeübt werden kann. Sein Bewusstsein davon geht
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bis in's Unheimliche, wie sein Instinkt, die höhere Gesetzlichkeit, den S t i l gar nicht nöthig zu haben. Das Elementarische g e n ü g t — Klang, Bewegung, Farbe, kurz die Sinnlichkeit der Musik. Wagner rechnet nie als Musiker, von irgend einem Musiker-Gewissen aus: er will die Wirkung, er will Nichts als die Wirkung. Und er kennt das, worauf er zu wirken hat! — Er hat darin die Unbedenklichkeit, die Schiller hatte, die jeder Theatermensch hat, er hat auch dessen Verachtung der Welt, die er sich zu Füssen legt!... Man ist Schauspieler damit, dass man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. Der Satz ist von Talma formulirt: er enthält die ganze Psychologie des Schauspielers, er enthält — zweifeln wir nicht daran! — auch dessen Moral. Wagner's Musik ist niemals wahr, — Aber m a n h ä l t s i e d a f ü r : und so ist es in Ordnung. — So lang man noch kindlich ist und Wagnerianer dazu, hält man Wagner selbst für reich, selbst für einen Ausbund von Verschwender, selbst für einen Grossgrundbesitzer im Reich des Klangs. Man bewundert an ihm, was junge Franzosen an Victor Hugo bewundern, die „königliche Freigebigkeit". Später bewundert man den Einen wie den Andern aus umgekehrten Gründen: als Meister und Muster der Oekonomie, als k l u g e Gastgeber. Niemand kommt ihnen darin gleich, mit besdieidenem Aufwand eine fürstliche Tafel zu repräsentiren. — Der Wagnerianer, mit seinem gläubigen Magen, wird sogar satt bei der Kost, die ihm sein Meister vorzaubert. Wir Anderen, die wir in Büchern wie in Musik vor Allem S u b s t a n z verlangen und denen mit bloss „repräsentirten" Tafeln kaum gedient ist, sind viel schlimmer dran. Auf deutsch: Wagner giebt uns nicht genug zu beissen. Sein recitativo — wenig Fleisch, schon mehr Knochen und sehr viel Brühe — ist von mir „alla genovese" getauft: womit ich durchaus den Genuesen nicht geschmeichelt haben will, wohl aber dem ä l t e r e n recitativo,
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dem recitativo secco. Was gar das Wagnerische „Leitmotiv" betrifft, so fehlt mir dafür alles kulinarische Verständniss. Idi würde es, wenn man mich drängt, vielleicht als idealen Zahnstocher gelten lassen, als Gelegenheit, R e s t e von Speisen los zu werden. Bleiben die „Arien" Wagner's — Und nun sage idi kein Wort mehr.
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Auch im Entwerfen der Handlung ist Wagner vor Allem Schauspieler. Was zuerst ihm aufgeht, ist eine Scene von unbedingt sichrer Wirkung, eine wirkliche Actio*) mit einem hautrelief der Gebärde, eine Scene, die u m w i r f t — diese denkt er in die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere. Der ganze Rest folgt daraus, einer technischen Ökonomik gemäss, die keine Gründe hat, subtil zu sein. Es ist n i c h t das Publikum Corneille's, das Wagner zu schonen hat: blosses neunzehntes Jahrhundert. Wagner würde über „das Eine, was noth thut" ungefähr urtheilen, wie jeder andre Schauspieler heute urtheilt: eine Reihe starker Scenen, eine stärker als die andre — und, dazwischen, viel k l u g e Stupidität. Er sucht sich selbst zuerst die Wirkung seines Werkes zu garantiren, er beginnt mit dem dritten Akte, er b e w e i s t sich sein Werk mit dessen letzter Wirkung. Mit einem solchen Theaterverstande als Führer ist s) A n m e r k u n g . Es ist ein wahres Unglück für die Aesthetik gewesen, dass man das Wort Drama immer mit „Handlung" übersetzt hat. Nicht Wagner allein irrt hierin; alle Welt ist nodi im Irrthum; die Philologen sogar, die es besser wissen sollten. Das antike Drama hatte grosse P a t h o s s c e n e n im Auge — es schloss gerade die Handlung aus (verlegte sie v o r den Anfang oder h i n t e r die Scene). Das Wort Drama ist dorischer Herkunft: und nach dorischem Sprachgebraudi bedeutet es „Ereigniss," „Geschichte," beide Worte in hieratischem Sinne. Das älteste Drama stellte die Ortslegende dar, die „heilige Geschichte," auf der die Gründung des Cultus ruhte ( — also kein Thun, sondern ein Geschehen: ögäv heisst im Dorisdien gar nicht „thun").
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man nidit in Gefahr, unversehens ein Drama zu schaffen. Das Drama verlangt die h a r t e Logik: aber was lag Wagnern überhaupt an der Logik! Nochmals gesagt: es ist n i c h t das Publikum Corneille's, das er zu sdionen hatte: blosse Deutsche! Man weiss, bei welchem technischen Problem der Dramatiker alle seine Kraft ansetzt und oft Blut schwitzt: dem Knoten N o t h w e n d i g k e i t zu geben und ebenso der Lösung, so dass beide nur auf eine einzige Art möglich sind, beide den Eindruck der Freiheit machen (Princip des kleinsten Aufwandes von Kraft). Nun, dabei schwitzt Wagner am wenigsten Blut; gewiss ist, dass er für Knoten und Lösung den kleinsten Aufwand von Kraft macht. Man nehme irgend einen „Knoten" Wagner's unter das Mikroskop — man wird dabei zu lachen haben, das verspreche ich. Nichts erheiternder als der Knoten des Tristan, es müsste denn der Knoten der Meistersinger sein. Wagner ist k e i n Dramatiker, man lasse sich Nichts vormachen. Er liebte das Wort „Drama": das ist Alles — er hat immer die schönen Worte geliebt. Das Wort „Drama" in seinen Schriften ist trotzdem bloss ein Missverständniss ( — u n d eine Klugheit: Wagner that immer vornehm gegen das Wort „Oper" — ) ; ungefähr wie das Wort „Geist" im neuen Testament bloss ein Missverständniss ist. — Er war schon nicht Psychologe genug zum Drama; er wich instinktiv der psychologischen Motivirung aus — womit? damit, dass er immer die Idiosynkrasie an deren Stelle rückte... Sehr modern, nicht wahr? sehr Pariserisch! sehr decadent!... Die K n o t e n , anbei gesagt, die thatsächlich Wagner mit Hülfe dramatischer Erfindungen zu lösen weiss, sind ganz andrer Art. Ich gebe ein Beispiel. Nehmen wir den Fall, dass Wagner eine Weiberstimme nöthig hat. Ein ganzer Akt o h n e Weiberstimme — das geht nicht! Aber die „Heldinnen" sind im Augenblick alle nicht frei. Was thut Wagner? Er emancipirt das älteste Weib der Welt, die Erda: „herauf, alte Grossmutter! Sie müssen singen!" Erda singt. Wagner's Absicht ist erreicht. Sofort schafft er die alte Dame wieder ab. „Wozu
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kamen Sie eigentlich? Ziehn Sie ab! Schlafen Sie gefälligst weiter!" — In summa: eine Scene voller mythologischer Schauder, bei der der Wagnerianer a h n t . . . — „Aber der G e h a l t der Wagnerischen Texte! ihr mythischer Gehalt, ihr ewiger Gehalt!" — Frage: wie prüft man diesen Gehalt, diesen ewigen Gehalt? — Der Chemiker antwortet: man übersetzt Wagnern in's Reale, in's Moderne, — seien wir noch grausamer! in's Bürgerliche! Was wird dabei aus Wagner? — Unter uns, ich habe es versucht. Nichts unterhaltender, Nichts für Spaziergänge mehr zu empfehlen als sich Wagnern in v e r j ü n g t e n Proportionen zu erzählen: zum Beispiel Parsifal als Candidaten der Theologie, mit Gymnasialbildung (— letztere als unentbehrlich zur r e i n e n T h o r h e i t ) . Welche Überraschungen man dabei erlebt! Würden Sie es glauben, dass die Wagnerischen Heroinen sammt und sonders, sobald man nur erst den heroischen Balg abgestreift hat, zum Verwechseln Madame Bovary ähnlich sehn! — wie man umgekehrt auch begreift, dass es Flaubert f r e i s t a n d , seine Heldin in's Skandinavische oder Karthagische zu übersetzen und sie dann, mythologisirt, Wagnern als Textbuch anzubieten. Ja, in's Grosse gerechnet, scheint Wagner sich für keine andern Probleme interessirt zu haben, als die, welche heute die kleinen Pariser décadents interessiren. Immer fünf Schritte weit vom Hospital! Lauter ganz moderne, lauter ganz g r o s s s t ä d t i s c h e Probleme! zweifeln Sie nicht d a r a n ! . . . Haben Sie bemerkt (es gehört in diese Ideen-Association), dass die Wagnerischen Heldinnen keine Kinder bekommen? — Sie k ö n n e n ' s n i c h t . . . Die Verzweiflung, mit der Wagner das Problem angegriffen hat, Siegfried überhaupt geboren werden zu lassen, verräth, w i e modern er in diesem Punkte fühlte. — Siegfried „emancipirt das Weib" — doch ohne Hoffnung auf Nachkommenschaft. — Eine Thatsache endlich, die uns fassungslos lässt: Pärsifal ist der Vater Lohengrin's! Wie hat er das ge-
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macht? — Muss man sich hier daran erinnern, dass „die Keuschheit W u n d e r t h u t " ? . . . Wagnerus dixit princeps in castitate auctoritas.
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Anbei noch ein Wort über die Schriften Wagner's: sie sind, unter Anderem, eine Schule der K l u g h e i t . Das System von Prozeduren, das Wagner handhabt, ist auf hundert andre Fälle anzuwenden, — wer Ohren hat, der höre. Vielleicht habe ich einen Anspruch auf öffentliche Erkenntlichkeit, wenn ich den x drei werthvollsten Prozeduren einen präcisen Ausdruck gebe. Alles, was Wagner n i c h t kann, ist verwerflich. Wagner könnte noch Vieles: aber er will es nicht, — aus Rigorosität im Princip. Alles, was Wagner k a n n , wird ihm Niemand nachmachen, ij hat ihm Keiner vorgemacht, s o l l ihm Keiner nachmachen... Wagner ist göttlich . . . Diese drei Sätze sind die Quintessenz von Wagner's Litteratur; der Rest ist — „Litteratur." — Nidit jede Musik hat bisher Litteratur nöthig gehabt: 20 man thut gut, hier nach dem zureichenden Grund zu suchen. Ist es, dass Wagner's Musik zu schwer verständlich ist? Oder fürchtete er das Umgekehrte, dass man sie zu leicht versteht, — dass man sie n i c h t s c h w e r g e n u g versteht? — Thatsädilich hat er sein ganzes Leben Einen Satz wiederholt: dass seine Mu*$ sik nicht nur Musik bedeute! Sondern mehr! Sondern unendlich viel m e h r ! . . . „ N i c h t n u r Musik" — so redet kein Musiker. Nochmals gesagt, Wagner konnte nicht aus dem Ganzen schaffen, er hatte gar keine Wahl, er musste Stückwerk machen, „Motive", Gebärden, Formeln, Verdopplungen und Verhundert3° fachungen, er blieb Rhetor als Musiker — er m u s s t e grundsätzlich deshalb das „es bedeutet" in den Vordergrund bringen.
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„Die Musik ist immer nur ein Mittel": das war seine Theorie, das war vor Allem die einzige ihm überhaupt mögliche P r a x i s. Aber so denkt kein Musiker. — Wagner hatte Litteratur nöthig, um alle Welt zu überreden, seine Musik ernst zu nehmen, tief zu nehmen, „weil sie Unendliches b e d e u t e " ; er war zeitlebens der Commentator der „Idee". — Was bedeutet Elsa? Aber kein Zweifel: Elsa ist „der unbewusste G e i s t d e s V o l k s " (— „mit dieser Erkenntniss wurde ich nothwendig zum vollkommnen Revolutionär" —). Erinnern wir uns, dass Wagner in der Zeit, wo Hegel und Sdielling die Geister verführten, jung war; dass er errieth, dass er mit Händen griff, was allein der Deutsche ernst nimmt — „die Idee", will sagen Etwas, das dunkel, ungewiss, ahnungsvoll ist; dass Klarheit unter Deutschen ein Einwand, Logik eine Widerlegung ist. Schopenhauer hat, mit Härte, die Epoche Hegel's und Schelling's der Unredlichkeit geziehn — mit Härte, auch mit Unrecht: er selbst, der alte pessimistische Falschmünzer, hat es in Nichts „redlicher" getrieben als seine berühmteren Zeitgenossen. Lassen wir die Moral aus dem Spiele: Hegel ist ein G e s c h m a c k . . . Und nidit nur ein deutscher, sondern ein europäischer Geschmack! — Ein Geschmack, den Wagner begriff! — dem er sich gewachsen fühlte! den er verewigt hat! — Er machte bloss die Nutzanwendung auf die Musik — er erfand sich einen Stil, der „Unendliches bedeutet," — er wurde der E r b e H e g e l ' s . . . Die Musik als „Idee" Und wie man Wagnern verstand! — Dieselbe Art Mensch, die für Hegel geschwärmt, schwärmt heute für Wagner; in seiner Schule s c h r e i b t man sogar Hegelisch! — Vor Allen verstand ihn der deutsche Jüngling. Die zwei Worte „unendlich" und „Bedeutung" genügten bereits: ihm wurde dabei auf eine unvergleichliche Weise wohl. Es ist n i c h t die Musik, mit der Wagner sich die Jünglinge erobert hat, es ist die „Idee": — es ist das Räthselreiche seiner Kunst, ihr Versteckspielen unter hundert Symbolen, ihre Polychromie des Ideals, was diese Jüng-
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linge zu Wagner führt und lockt; es ist Wagner's Genie der Wolkenbildung, sein Greifen, Schweifen und Streifen durch die Lüfte, sein Überall und Nirgendswo, genau Dasselbe, womit sie seiner Zeit Hegel verführt und verlockt hat! — Inmitten von Wagner's Vielheit, Fülle und Willkür sind sie wie bei sich selbst gerechtfertigt — „erlöst" —. Sie hören mit Zittern, wie in seiner Kunst die g r o s s e n S y m b o l e aus vernebelter Ferne mit sanftem Donner laut werden; sie sind nicht ungehalten, wenn es zeitweilig grau, grässlidi und kalt in ihr zugeht. Sind sie doch sammt und sonders, gleich Wagnern selbst, v e r w a n d t mit dem schlechten Wetter, dem deutschen Wetter! Wotan ist ihr Gott: aber Wotan ist der Gott des schlechten Wetters... Sie haben Recht, diese deutschen Jünglinge, so wie sie nun einmal sind: wie k ö n n t e n sie vermissen, was wir Anderen, was w i r H a l k y o n i e r bei Wagnern vermissen — la gaya scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmuth; die grosse Logik; den Tanz der Sterne; die übermüthige Geistigkeit; die Lichtschauder des Südens; das g l a t t e Meer — Vollkommenheit . . . ii. — Idi habe erklärt, wohin Wagner gehört — n i c h t in die Geschichte der Musik. Was bedeutet er trotzdem in deren Geschichte? D i e H e r a u f k u n f t d e s S c h a u s p i e l e r s i n d e r M u s i k : ein capitales Ereigniss, das zu denken, das vielleicht auch zu fürchten giebt. In Formel: „Wagner und Liszt." — Noch nie wurde die Rechtschaffenheit der Musiker, ihre „Echtheit" gleich gefährlich auf die Probe gestellt. Man greift es mit Händen: Der grosse Erfolg, der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf Seite der Echten, — man muss Schauspieler sein, ihn zu haben! — Victor Hugo und Richard Wagner — sie bedeuten Ein und Dasselbe: dass in Niedergangs-Culturen, dass überall, wo den Massen die Entscheidung in die Hände fällt, die Echtheit überflüssig, nachtheilig, zurücksetzend wird. Nur
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der Schauspieler weckt noch die g r o s s e Begeisterung. — Damit kommt für den Schauspieler das g o l d e n e Z e i t a l t e r herauf — für ihn und für Alles, was seiner Art verwandt ist. Wagner marschirt mit Trommeln und Pfeifen an der Spitze aller Künstler des Vortrags, der Darstellung, des Virtuosenthums; er hat zuerst die Kapellmeister, die Maschinisten und Theatersänger überzeugt. Nicht zu vergessen die Orchestermusiker: — er „erlöste" diese von der Langenweile... Die Bewegung, die Wagner schuf, greift selbst in das Gebiet der Erkenntniss über: ganze zugehörige Wissenschaften tauchen langsam aus jahrhundertealter Scholastik empor. Ich hebe, um ein Beispiel zu geben, mit Auszeichnung die Verdienste R i e m a n n ' s um die Rhythmik hervor, des Ersten, der den Hauptbegriff der Interpunktion auch für die Musik geltend gemacht hat (leider vermittelst eines hässlichen Wortes: er nennt's „Phrasirung"). — Dies Alles sind, ich sage es mit Dankbarkeit, die Besten unter den Verehrern Wagner's, die Aditungswürdigsten — sie haben einfach Recht, Wagnern zu verehren. Der gleiche Instinkt verbindet sie mit einander, sie sehen in ihm ihren höchsten Typus, sie fühlen sich zur Macht, zur Grossmacht selbst umgewandelt, seit er sie mit seiner eignen Gluth entzündet hat. Hier nämlich, wenn irgendwo, ist der Einfluss Wagner's wirklich w o h l t h ä t i g gewesen. Noch nie ist in dieser Sphäre so viel gedacht, gewollt, gearbeitet worden. Wagner hat allen diesen Künstlern ein neues Gewissen eingegeben: was sie jetzt von sich fordern, von sich e r l a n g e n , das haben sie nie vor Wagner von sich gefordert — sie waren früher zu bescheiden dazu. Es herrscht ein andrer Geist am Theater, seit Wagner's Geist daselbst herrscht: man verlangt das Schwerste, man tadelt hart, man lobt selten, — das Gute, das Ausgezeichnete gilt als Regel. Geschmack thut nicht mehr Noth; nicht einmal Stimme. Man singt Wagner nur mit ruinirter Stimme: das wirkt „dramatisch". Selbst Begabung ist ausgeschlossen. Das espressivo um jeden Preis, wie es das Wagnerische Ideal, das decadence-Ideal verlangt, verträgt sich
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schlecht mit Begabung. Dazu gehört bloss T u g e n d — will sagen Dressur, Automatismus, „Selbstverleugnung." Weder Geschmack, noch Stimme, nodi Begabung: die Bühne Wagner's hat nur Eins nöthig — G e r m a n e n ! . . . Definition des GerJ manen: Gehorsam und lange Beine... Es ist voll tiefer Bedeutung, dass die Heraufkunft Wagner's zeitlich mit der Heraufkunft des „Reichs" zusammenfällt: beide Thatsachen beweisen Ein und Dasselbe — Gehorsam und lange Beine. — Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Die Wagnerischen io Kapellmeister in Sonderheit sind eines Zeitalters würdig, das die Nachwelt einmal mit scheuer Ehrfurcht d a s k l a s s i s c h e Z e i t a l t e r d e s K r i e g s nennen wird. Wagner verstand zu commandiren; er war auch damit der grosse Lehrer. Er commandirte als der unerbittliche Wille zu sich, als die lebenslängliche i j Zucht an sich: Wagner, der vielleicht das grösste Beispiel der Selbstvergewaltigung abgiebt, das die Geschichte der Künste hat (— selbst Alfieri, sonst sein Nächstverwandter, ist noch überboten. Anmerkung eines Turiners).
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Mit dieser Einsidit, dass unsre Schauspieler verehrungswürdiger als je sind, ist ihre Gefährlichkeit nicht als geringer begriffen . . . Aber wer zweifelt noch daran, was ich will, — was die d r e i F o r d e r u n g e n sind, zu denen mir diesmal mein Ingrimm, meine Sorge, meine Liebe zur Kunst den Mund 2 5 geöffnet hat? Dass das T h e a t e r nicht H e r r über die K ü n ste wird. Dass der Schauspieler nicht zum V e r f ü h rer der Echten wird. 3° D a s s d i e M u s i k n i c h t zu e i n e r K u n s t zu l ü gen w i r d . FRIEDRICH N I E T Z S C H E .
Nachschrift. — Der Ernst der letzten Worte erlaubt mir, an dieser Stelle noch einige Sätze aus einer ungedruckten Abhandlung mitzutheilen, welche zum Mindesten über meinen Ernst in dieser í Sache keinen Zweifel lassen. Jene Abhandlung ist betitelt: W a s W a g n e r uns kostet. Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer. Ein dunkles Gefühl hierüber ist auch heute noch vorhanden. Auch der Erfolg Wagner's, sein S i e g , riss dies Gefühl nicht in der Wurzel 10 aus. Aber ehemals war es stark, war es furchtbar, war es wie ein düsterer Hass — fast drei Viertheile von Wagner's Leben hindurch. Jener Widerstand, den er bei uns Deutschen fand, kann nicht hodi genug geschätzt und zu Ehren gebracht werden. Man wehrte sich gegen ihn wie gegen eine Krankheit, — i j n i c h t mit Gründen — man widerlegt keine Krankheit —, sondern mit Hemmung, Misstrauen, Verdrossenheit, Ekel, mit einem finsteren Ernste, als ob in ihm eine grosse Gefahr herumschliche. Die Herren Aesthetiker haben sich blossgestellt, als sie, aus drei Schulen der deutschen Philosophie heraus, Wagner's Principien mit „wenn" und „denn" einen absurden Krieg machten — was lag ihm an Principien, selbst den eigenen! — Die Deutschen selbst haben genug Vernunft im Instinkt gehabt, um hier sich jedes „wenn" und „denn" zu verbieten. Ein Instinkt ist geschwächt, wenn er sich rationalisirt: denn damit, d a s s
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er sich rationalisirt, schwächt er sich. Wenn es Anzeichen dafür giebt, dass, trotz dem Gesammt-Charakter der europäischen décadence, noch ein Grad Gesundheit, noch eine Instinkt-Witterung für Schädliches und Gefahrdrohendes im deutschen Wesen wohnt, so möchte ich unter ihnen am wenigsten diesen d u m p f e n Widerstand gegen Wagner unterschätzt wissen. Er macht uns Ehre, er erlaubt selbst zu hoffen: so viel Gesundheit hätte Frankreich nicht mehr aufzuwenden. Die Deutschen, die V e r z ö g e r e r par excellence in der Geschichte, sind heute das zurückgebliebenste Culturvolk Europa's: dies hat seinen Vortheil, — eben damit sind sie relativ das j ü n g s t e . Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer. Die Deutschen haben eine Art Furcht vor ihm vor ganz Kurzem erst verlernt, — die Lust, i h n l o s z u s e i n , kam ihnen bei jeder Gelegenheit.*) — Erinnert man sich eines curiosen Umstandes noch, bei dem, ganz zuletzt, ganz unerwartet, jenes alte Gefühl wieder zum Vorschein kam? Es geschah beim Begräbnisse Wagner's, dass der erste deutsche Wagner-Verein, der Münchener, an seinem Grabe einen Kranz niederlegte, dessen I n s c h r i f t sofort berühmt wurde. „Erlösung dem Erlöser!" — lautete sie. Jedermann bewunderte die hohe Inspiration, die diese Inschrift diktirt hatte, Jedermann einen Geschmack, auf den die Anhänger Wagner's ein Vorrecht haben; Viele aber auch (es war selt*) A n m e r k u n g . — War Wagner überhaupt ein Deutscher? Man hat einige Gründe, so zu fragen. Es ist schwer, in ihm irgend einen deutschen Zug ausfindig zu machen. E r hat, als der grosse Lerner, der er war, viel Deutsches nachmachen gelernt — das ist Alles. Sein Wesen selbst w i d e r s p r i c h t dem, was bisher als deutsch empfunden wurde: nicht zu reden vom deutschen Musiker! — Sein Vater war ein Schauspieler Namens Geyer. Ein Geyer ist beinahe schon ein A d l e r . . . Das, was bisher als „Leben Wagner's" in Umlauf gebracht ist, ist fable convenue, wenn nicht Schlimmeres. Ich bekenne mein Misstrauen gegen jeden Punkt, der bloss durch Wagner selbst bezeugt ist. Er hatte nicht Stolz genug zu irgend einer Wahrheit über sich, Niemand war weniger stolz; er blieb, ganz wie Victor Hugo, auch im Biographischen sich treu, — er blieb Schauspieler.
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sam genug!) machten an ihr dieselbe kleine Correctur: „Erlösung v o m Erlöser!" — Man athmete auf. — Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer. Messen wir sie an ihrer Wirkung auf die Cultur. Wen hat eigentlich seine Bewegung in den Vordergrund gebracht? Was hat sie immer mehr in's Grosse gezüchtet? — Vor Allem die Anmaassung des Laien, des Kunst-Idioten. Das organisirt jetzt Vereine, das will seinen „Geschmack" durchsetzen, das möchte selbst in rebus musicis et musicantibus den Richter machen. Zuzweit: eine immer grössere Gleichgültigkeit gegen jede strenge, vornehme, gewissenhafte Schulung im Dienste der Kunst; an ihre Stelle gerückt den Glauben an das Genie, auf deutsch: den frechen Dilettantismus (— die Formel dafür steht in den Meistersingern). Zudritt und zusdilimmst: d i e T h e a t r o k r a t i e —, den Aberwitz eines Glaubens an den V o r r a n g des Theaters, an ein Recht auf H e r r s c h a f t des Theaters über die Künste, über die K u n s t . . . Aber man soll es den Wagnerianern hundert Mal in's Gesicht sagen, w a s das Theater ist: immer nur ein U n t e r h a l b der Kunst, immer nur etwas Zweites, etwas Vergröbertes, etwas für die Massen Zurechtgebogenes, Zurechtgelogenes! Daran hat auch Wagner Nichts verändert: Bayreuth ist grosse Oper — und nicht einmal g u t e O p e r . . . Das Theater ist eine Form der Demolatrie in Sachen des Geschmacks, das Theater ist ein Massen-Aufstand, ein Plebiscit g e g e n den guten Geschmack... D i e s e b e n b e w e i s t d e r F a l l W a g n e r : er gewann die Menge, — er verdarb den Geschmack, er verdarb selbst für die Oper unsren Geschmack! — Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer. Was macht sie aus dem Geist? b e f r e i t W a g n e r d e n G e i s t ? — Ihm eignet jede Zweideutigkeit, jeder Doppelsinn, Alles überhaupt, was die Ungewissen überredet, ohne ihnen zum Bewusstsein zu bringen, w o f ü r sie überredet sind. Damit ist Wagner ein Verführer grossen Stils. Es giebt nichts Müdes, nichts Abgelebtes, nichts Lebensgefährliches und Weltverleumderisches in Din-
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gen des Geistes, das von seiner Kunst nicht heimlich in Schutz genommen würde — es ist der schwärzeste Obskurantismus, den er in die Lichthüllen des Ideals verbirgt. Er schmeichelt jedem nihilistischen ( — buddhistischen) Instinkte und verkleidet ihn in Musik, er schmeichelt jeder Christlichkeit, jeder religiösen Ausdrucksform der decadence. Man mache seine Ohren auf: Alles, was je auf dem Boden des v e r a r m t e n Lebens aufgewachsen ist, die ganze Falschmünzerei der Transscendenz und des Jenseits, hat in Wagner's Kunst ihren sublimsten Fürsprecher — n i c h t in Formeln: Wagner ist zu klug für Formeln — sondern in einer Überredung der Sinnlichkeit, die ihrerseits wieder den Geist mürbe und müde macht. Die Musik als C i r c e . . . Sein letztes Werk ist hierin sein grösstes Meisterstück. Der Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten, als der G e n i e s t r e i c h der Verführung... Ich bewundere dies Werk, ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon v e r s t e h e i c h e s . . . Wagner war nie besser inspirirt als am Ende. Das Raffinement im Bündniss von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, dass es über Wagner's frühere Kunst gleichsam Schatten legt: — sie erscheint zu hell, zu gesund. Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als E i n w a n d beinahe?... So weit sind wir schon r e i n e T h o r e n . . . Niemals gab es einen grösseren Meister in dumpfen hieratischen Wohlgerüchen, — nie lebte ein gleicher Kenner alles k l e i n e n Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen, aller Femininismen aus dem Idiotikon des Glücks! — Trinkt nur, meine Freunde, die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er u n s damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen Seele mit Zaubermädchen-Tönen zu Willen redet! — Es gab nie einen solchen T o d h a s s auf die Erkenntniss! — Man muss
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Cyniker sein, um hier nidit verführt zu werden, man muss beissen können, um hier nidit anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Cyniker warnt dich — cave canem... Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer. Ich beobachte die Jünglinge, die lange seiner Infektion ausgesetzt waren. Die nächste, relativ unschuldige Wirkung ist die des Geschmacks. Wagner wirkt wie ein fortgesetzter Gebrauch von Alkohol. Er stumpft ab, er verschleimt den Magen. Spezifische Wirkung: Entartung des rhythmischen Gefühls. Der Wagnerianer nennt zuletzt rhythmisch, was ich selbst, mit einem griechischen Sprüchwort, »den Sumpf bewegen" nenne. Schon viel gefährlicher ist die Verderbniss der Begriffe. Der Jüngling wird zum Mondkalb, — zum „Idealisten". Er ist über die Wissenschaft hinaus; darin steht er auf der Höhe des Meisters. Dagegen macht er den Philosophen; er schreibt Bayreuther Blätter; er löst alle Probleme im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Meisters. Am unheimlichsten freilich bleibt die Verderbniss der Nerven. Man gehe Nachts durch eine grössere Stadt: überall hört man, dass mit feierlicher Wuth Instrumente genothzüchtigt werden — ein wildes Geheul mischt sich dazwischen. Was geht da vor? — Die Jünglinge beten Wagner a n . . . Bayreuth reimt sich auf Kaltwasserheilanstalt. — Typisches Telegramm aus Bayreuth: b e r e i t s b e r e u t . — Wagner ist schlimm für die Jünglinge; er ist verhängnissvoll für das Weib. Was ist, ärztlich gefragt, eine Wagnerianer in? — Es scheint mir, dass ein Arzt jungen Frauen nicht ernst genug diese GewissensAlternative stellen könnte: Eins o d e r das Andere. — Aber sie haben bereits gewählt. Man kann nicht zween Herren dienen, wenn der Eine Wagner heisst. Wagner hat das Weib erlöst; das Weib hat ihm dafür Bayreuth gebaut. Ganz Opfer, ganz Hingebung: man hat Nichts, was man ihm nicht geben würde. Das Weib verarmt sich zu Gunsten des Meisters, es wird rührend, es steht nackt vor ihm. — Die Wagnerianerin — die anmuthigste Zweideutigkeit, die es heute giebt: sie v e r k ö r p e r t die
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Sache Wagner's, — in ihrem Zeichen s i e g t seine Sache... Ah, dieser alte Räuber! Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst nodi unsre Frauen und schleppt sie in seine H ö h l e . . . Ah, dieser alte Minotaurus! Was er uns schon gekostet hat! Alljähri lidi führt man ihm Züge der schönsten Mädchen und Jünglinge in sein Labyrinth, damit er sie verschlinge, — alljährlich intonirt ganz Europa „auf nadi Kreta! auf nach Kreta!" . . .
Zweite Nachschrift. — Mein Brief, scheint es, ist einem Missverständnisse ausgesetzt. Auf gewissen Gesiditern zeigen sich die Falten der Dankbarkeit; ich höre selbst ein bescheidenes Frohlocken. Ich zöge vor, hier wie in vielen Dingen, verstanden zu werden. — Seitdem aber in den Weinbergen des deutschen Geistes ein neues Thier haust, der Reichswurm, die berühmte R h i n o x e r a , wird kein Wort von mir mehr verstanden. Die Kreuzzeitung selbst bezeugt es mir, nicht zu reden vom litterarischen Centralblatt. — Ich habe den Deutschen die tiefsten Bücher gegeben, die sie überhaupt besitzen — Grund genug, dass die Deutschen kein Wort davon verstehn... Wenn ich in d i e s e r Schrift Wagnern den Krieg mache — und, nebenbei, einem deutschen „Geschmack" —, wenn ich für den Bayreuther Cretinismus harte Worte habe, so möchte ich am allerwenigsten irgend welchen a n d r e n Musikern damit ein Fest machen. A n d r e Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht. Es steht schlimm überhaupt. Der Verfall ist allgemein. Die Krankheit liegt in der Tiefe. Wenn Wagner der Name bleibt für den R u i n d e r M u s i k , wie Bernini für den Ruin der Skulptur, so ist er doch nicht dessen Ursache. Er hat nur dessen tempo beschleunigt, — freilich in einer Weise, dass man mit Entsetzen vor diesem fast plötzlichen Abwärts, Abgrundwärts steht. Er hatte die Naivetät der decadence: dies war seine Überlegenheit. Er glaubte an sie,
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er blieb vor keiner Logik der decadence stehn. Die Andern z ö g e r n — das unterscheidet sie. Sonst N i c h t s ! . . . Das Gemeinsame zwischen Wagner und „den Andern" — ich zähle es auf: der Niedergang der organisirenden Kraft; der Missbraudi überlieferter Mittel, ohne das r e c h t f e r t i g e n d e Vermögen, das zum-Zweck; die Falschmünzerei in der Nachbildung grosser Formen, für die heute Niemand stark, stolz, selbstgewiss, g e s u n d genug ist; die Überlebendigkeit im Kleinsten; der A f fekt um jeden Preis; das Raffinement als Ausdruck des v e r a r m t e n Lebens; immer mehr Nerven an Stelle des Fleisches. — Ich kenne nur Einen Musiker, der heute nodi im Stande ist, eine Ouvertüre aus g a n z e m H o l z e zu schnitzen: und Niemand kennt i h n . . . Was heute berühmt ist, macht, im Vergleich mit Wagner, nicht „bessere" Musik, sondern nur unentschiedenere, sondern nur gleichgültigere: — gleichgültigere, weil das Halbe damit abgethan ist, d a s s d a s G a n z e d a i s t . Aber Wagner war ganz; aber Wagner war die ganze Verderbniss; aber Wagner war der Muth, der Wille, die U b e r z e u g u n g in der Verderbniss — was liegt nodi an Johannes B r a h m s ! . . . Sein Glück war ein deutsches Missverständniss: man nahm ihn als Antagonisten Wagner's, — man b r a u c h t e einen Antagonisten! — Das macht keine n o t h w e n d i g e Musik, das macht vor Allem zu viel Musik! — Wenn man nicht reich ist, soll man stolz genug sein zur A r m u t h ! . . . Die Sympathie, die Brahms unleugbar hier und da einflösst, ganz abgesehen von jenem Partei-Interesse, Partei-Missverständnisse, war mir lange ein Räthsel: bis ich endlich, durch einen Zufall beinahe, dahinter kam, dass er auf einen bestimmten Typus von Menschen wirkt. Er hat die Melancholie des Unvermögens; er schafft n i c h t aus der Fülle, er d u r s t e t nadi der Fülle. Rechnet man ab, was er nadimadit, was er grossen alten oder exotisch-modernen Stilformen entlehnt — er ist Meister in der Copie — , so bleibt als sein Eigenstes die S e h n s u c h t . . . Das errathen die Sehnsüchtigen, die Unbefriedigten aller Art. Er ist zu wenig Person,
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zu wenig Mittelpunkt... Das verstehen die „Unpersönlichen", die Peripherischen, — sie lieben ihn dafür. In Sonderheit ist er der Musiker einer Art unbefriedigter Frauen. Fünfzig Schritt weiter: und man hat die Wagnerianerin — ganz wie man fünfzig Schritt über Brahms hinaus Wagner findet —, die Wagnerianerin, einen ausgeprägteren, interessanteren, vor Allem a n m u t h i g e r e n Typus. Brahms ist rührend, so lange er heimlich schwärmt oder über sich trauert — darin ist er „modern" —; er wird kalt, er geht uns Nidits mehr an, sobald er die Klassiker b e e r b t . . . Man nennt Brahms gern den Erben Beethoven's: ich kenne keinen vorsichtigeren Euphemismus. — Alles, was heute in der Musik auf „grossen Stil" Anspruch macht, ist damit e n t w e d e r falsch gegen uns o d e r falsdi gegen sich. Diese Alternative ist nachdenklich genug: sie schliesst nämlich eine Casuistik über den Werth der zwei Fälle in sich ein. „Falsch gegen u n s " : dagegen protestirt der Instinkt der Meisten — sie wollen nicht betrogen werden —; ich selbst freilich würde diesen Typus immer noch dem anderen („falsch gegen s i c h " ) vorziehn. Dies ist m e i n Geschmack. — Fasslicher, für die „Armen im Geiste" ausgedrückt: Brahms — o d e r Wagner... Brahms ist k e i n Schauspieler. — Man kann einen guten Theil der a n d r e n Musiker in den Begriff Brahms subsumiren. — Ich sage kein Wort von den klugen Affen Wagner's, zum Beispiel von Goldmark: mit der „Königin von Saba" gehört man in die Menagerie, — man kann sich sehen lassen. — Was heute gut gemacht, meisterhaft gemacht werden kann, ist nur das Kleine. Hier allein ist noch Rechtschaffenheit möglich. — Nichts kann aber die Musik i n der Hauptsache v o n der Hauptsache kuriren, von der Fatalität, Ausdruck des physiologischen Widerspruchs zu sein, — m o d e r n zu sein. Der beste Unterricht, die gewissenhafteste Schulung, die grundsätzliche Intimität, ja selbst Isolation in der Gesellschaft der alten Meister — das bleibt Alles nur palliativisch, strenger geredet, i l l u s o r i s c h , weil man die Voraussetzung dazu
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nidit mehr im Leibe hat: sei dies nun die starke Rasse eines Händel, sei es die überströmende Animalität eines Rossini. — Nicht Jeder hat das R e c h t zu jedem Lehrer: das gilt von ganzen Zeitaltern. — An sich ist die Möglichkeit nicht aus$ geschlossen, dass es noch R e s t e stärkerer Geschlechter, typisch unzeitgemässer Menschen irgendwo in Europa giebt: von da aus wäre eine v e r s p ä t e t e Schönheit und Vollkommenheit auch für die Musik noch zu erhoffen. Was wir, besten Falls, noch erleben können, sind Ausnahmen. Von der R e g e l , io dass die Verderbniss obenauf, dass die Verderbniss fatalistisch ist, rettet die Musik kein Gott. —
Epilog. — Entziehen wir uns zuletzt, um aufzuathmen, für einen Augenblick der engen Welt, zu der jede Frage nach dem Werth von P e r s o n e n den Geist verurtheilt. Ein Philosoph hat das Bedürfniss, sich die Hände zu waschen, nachdem er sich so lange mit dem „Fall Wagner" befasst hat. — Ich gebe meinen Begriff des M o d e r n e n . — Jede Zeit hat in ihrem Maass von Kraft ein Maass auch dafür, welche Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind. Entweder hat sie die Tugenden des a u f s t e i g e n d e n Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugenden des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben, — dann bedarf sie auch der NiedergangsTugenden, dann hasst sie Alles, was aus der Fülle, was aus dem Uberreichthum an Kräften allein sich rechtfertigt. Die Aesthetik ist unablöslidi an diese biologischen Voraussetzungen gebunden: es giebt eine decadence-Aesthetik, es giebt eine k l a s s i s c h e Aesthetik, — ein „Schönes an sich" ist ein Hirngespinst, wie der ganze Idealismus. — In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werthe ist kein grösserer Gegensatz aufzufinden, als der einer H e r r e n - M o r a l und der Moral der c h r i s t l i c h e n Werthbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen (— die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche die Romane Dostoiewsky's schildern), die Herren-Moral („römisch", „heid-
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nisch", „klassisch", „Renaissance") umgekehrt als die Zeichensprache der Wohlgerathenheit, des a u f s t e i g e n d e n Lebens, des Willens zur Macht als Princips des Lebens. Die HerrenMoral b e j a h t ebenso instinktiv, wie die christliche v e r n e i n t („Gott", Jenseits", „Entselbstung" lauter Negationen). Die erstere giebt aus ihrer Fülle an die Dinge ab — sie verklärt, sie verschönt, sie v e r n ü n f t i g t die Welt —, die letztere verarmt, verblasst, verhässlicht den Werth der Dinge, sie v e r n e i n t die Welt. „Welt" ein christliches Schimpfwort. — Diese Gegensatzformen in der Optik der Werthe sind b e i d e nothwendig: es sind Arten zu sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christenthum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Dass man den Pessimismus wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt des gelehrten Idiotenthums. Die Begriffe „wahr" und „unwahr" haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn. — Wogegen man sich allein zu wehren hat, das ist die Falschheit, die Instinkt-Doppelzüngigkeit, welche diese Gegensätze nicht als Gegensätze empfinden w i l l : wie es zum Beispiel Wagner's Wille war, der in solchen Falschheiten keine kleine Meisterschaft hatte. Nach der Herren-Moral, der v o r n e h m e n Moral hinschielen (— die isländische Sage ist beinahe deren wichtigste Urkunde —) und dabei die Gegenlehre, die vom „Evangelium der Niedrigen", vom B e d ü r f n i s s der Erlösung, im Munde führen!... Ich bewundere, anbei gesagt, die Bescheidenheit der Christen, die nach Bayreuth gehn. Ich selbst würde gewisse Worte nicht aus dem Munde eines Wagner aushalten. Es giebt Begriffe, die n i c h t nadi Bayreuth gehören... Wie? ein Christenthum, zurechtgemacht für Wagnerianerinnen, vielleicht v o n Wagnerianerinnen — denn Wagner war in alten Tagen durchaus feminini generis —? Nochmals gesagt, die Christen von heute sind mir zu bescheiden... Wenn Wagner ein Christ war, nun dann war vielleicht Liszt ein Kirchenvater! — Das Bedürfniss nach E r l ö s u n g , der Inbegriff aller christ-
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liehen Bedürfnisse hat mit solchen Hanswursten Nichts zu thun: es ist die ehrlichste Ausdrucksform der décadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ will von sich l o s k o m m e n . Le moi est toujours h a ï s s a b l e . — Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphirenden Ja-sagen zu s i c h , — sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung des Lebens, sie braucht gleichfalls sublime Symbole und Praktiken, aber nur „weil ihr das Herz zu voll" ist. Die ganze s c h ö n e , die ganze g r o s s e Kunst gehört hierher: beider Wesen ist Dankbarkeit. Andrerseits kann man von ihr nicht einen Instinkt-Widerwillen g e g e n die décadents, einen Hohn, ein Grauen selbst vor deren Symbolik abredinen: dergleichen ist beinahe ihr Beweis. Der vornehme Römer empfand das Christenthum als f o e d a superstitio: ich erinnere daran, wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe das Kreuz empfand. Man sucht umsonst nach werthvolleren, nach n o t h w e n d i g e r e n Gegensätzen.. .*) — Aber eine solche Falschheit, wie die der Bayreuther, ist heute keine Ausnahme. Wir kennen alle den unästhetischen Begriff des christlichen Junkers. Diese U n s c h u l d zwischen Gegensätzen, dies „gute Gewissen" in der Lüge ist vielmehr m o d e r n par excellence, man definirt beinahe damit die Modernität. Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen W i d e r s p r u c h d e r W e r t h e dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in Einem Athem Ja und Nein. Was Wunder, dass gerade in unsern Zeiten die Falschheit selber Fleisch und sogar Ge*) A n m e r k u n g . Über den Gegensatz „ v o r n e h m e Moral" und „christliche Moral" unterrichtete zuerst meine „ G e n e a l o g i e der M o r a l " : es giebt vielleidit keine entscheidendere Wendung in der Geschichte der religiösen und moralischen Erkenntniss. Dies Budi, mein Prüfstein für Das, was zu mir gehört, hat das Glück, nur den höchstgesinnten und strengsten Geistern zugänglich zu sein: dem R e s t e fehlen die Ohren dafür. Man muss seine Leidenschaft in Dingen haben, wo sie heute Niemand hat...
Epilog
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nie wurde? dass W a g n e r „unter uns wohnte"? Nicht ohne Grund nannte ich Wagner den Cagliostro der Modernität... Aber wir Alle haben, wider Wissen, wider Willen, Werthe, Worte, Formeln, Moralen e n t g e g e n g e s e t z t e r Abkunft i im Leibe, — wir sind, physiologisch betrachtet, f a l s c h . . . Eine D i a g n o s t i k d e r m o d e r n e n S e e l e — womit begönne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese InstinktWidersprüchlidikeit, mit der Herauslösung ihrer GegensatzWerthe, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem l e h r r e i c h !o s t e n Fall. — Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein G l ü c k s f a l l , — diese Schrift ist, man hört es, von der Dankbarkeit inspirirt...
Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.
Vorwort. Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von Kunststück: und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit? Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. — Eine U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e , dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt — ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder „Fall" ein Glücksfall. Vor Allem der K r i e g . Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen Herkunft ich der gelehrten Neugierde vorenthalte, war seit langem mein Wahlspruch: increscunt animi, virescit volnere virtus. Eine andere Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist G ö t z e n a u s h o r c h e n . . . Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist m e i n „böser Blick" für diese Welt, das ist auch mein „böses O h r " . . . Hier einmal mit dem H a m m e r Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden
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redet — weldies Entzücken für Einen, der Ohren nodi hinter den Ohren hat, — für midi alten Psydiologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, l a u t w e r d e n muss . . . Auch diese Schrift — der Titel verräth es — ist vor Allem eine Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müssiggang eines Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden neue Götzen ausgehorcht? . . . Diese kleine Schrift ist eine g r o s s e K r i e g s e r k l ä r u n g ; und was das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern e w i g e Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, — es giebt überhaupt keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen . . . Audi keine hohleren . . . Das hindert nicht, dass sie die g e g 1 a u b t e s t e n sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze . . . T u r i n , am 30. September 1888, am Tage, da das erste Buch der U m w e r t h u n g a l l e r G e r t h e zu Ende kam.
FRIEDRICH NIETZSCHE.
Sprüche und Pfeile. i. Müssiggang ist aller Psydiologie Anfang. Wie? wäre Psychologie ein — Laster? 2. Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich w e i s s . . .
3Um allein zu leben, muss man ein Thier oder ein Gott sein — sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall: man muss Beides sein — Philosoph . . .
4„Alle Wahrheit ist einfach." — Ist das nicht zwiefach eine Lüge? — JIch will, ein für alle Mal, Vieles n i c h t wissen. — Die Weisheit zieht auch der Erkenntniss Grenzen.
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Götzen-Dämmerung
6.
Man erholt sidi in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur, von seiner Geistigkeit...
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7Wie? ist der Mensdi nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen? —
8.
A u s d e r K r i e g s s c h u l e d e s L e b e n s . — Was midi nidit umbringt, macht midi stärker.
Hilf dir selber: dann hilft dir noch Jedermann. Princip der Nächstenliebe. 10. Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! i j dass man sie nicht hinterdrein im Stiche lässt! — Der Gewissensbiss ist unanständig. ir. Kann ein E s e l tragisch sein? — Dass man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?... io Der Fall des Philosophen.
12.
Hat man sein w a r u m ? des Lebens, so verträgt man sich
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fast mit jedem w i e ? — Der Mensch strebt n i c h t nach Glück; nur der Engländer thut das.
13Der Mann hat das Weib geschaffen — woraus doch? Aus einer Rippe seines Gottes, — seines „Ideals" . . .
14. Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du suchst Anhänger? — Suche N u l l e n ! —
15Posthume Menschen — ich zum Beispiel — werden schlechter verstanden als zeitgemässe, aber besser g e h ö r t . Strenger: wir werden nie verstanden — und d a h e r unsre Autorität... 16. U n t e r F r a u e n . — „Die Wahrheit? Oh Sie kennen die Wahrheit nicht! Ist sie nicht ein Attentat auf alle unsre pudeurs ?" —
Das ist ein Künstler, wie ich Künstler liebe, bescheiden in seinen Bedürfnissen: er will eigentlich nur Zweierlei, sein Brod und seine Kunst, — panem et C i r c e n . . .
18. Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der
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legt wenigstens einen S i n n noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des „Glaubens").
Wie? ihr wähltet die Tugend und den gehobenen Busen und seht zugleich scheel nach den Vortheilen der Unbedenklichen? — Aber mit der Tugend v e r z i c h t e t man auf „Vortheile" . . . (einem Antisemiten an die Hausthür.)
20.
Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde begeht: zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand bemerkt und d a s s es Jemand bemerkt...
21. Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Sdieintugenden haben darf, wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt oder steht — oder davon kommt. . .
22. „Böse Menschen haben keine Lieder." — Wie kommt es, dass die Russen Lieder haben?
„Deutscher Geist": seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto. 24.
Damit, dass man nach den Anfängen sucht, wird man Krebs.
Sprüdie und Pfeile 18—30
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Der Historiker sieht rückwärts; endlich g l a u b t er audi rückwärts.
25Zufriedenheit sdiützt selbst vor Erkältung. Hat je sich ein Weib, das sich gut bekleidet wusste, erkältet? — Ich setze den Fall, das es kaum bekleidet war. z6. Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.
Man hält das Weib für tief — warum? weil man nie bei ihm auf den Grund kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach. 28. Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine männlichen Tugenden hat, so läuft es selbst davon.
29»Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beissen? welche guten Zähne hatte es? — Und heute? woran fehlt es?" — Frage eines Zahnarztes. 30. Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten
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Übereilung thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine zweite — und nunmehr thut man zu wenig . . .
Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: D e m u t h . — 32. Es giebt einen Hass auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren Ehrbegriff; es giebt einen ebensolchen Hass aus Feigheit, insofern die Lüge, durch ein göttliches Gebot, v e r b o t e n ist. Zu feige, um zu lügen . . .
33-
Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. — Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.
34-
On ne peut penser et ecrire qu'assis (G. Flaubert). — Damit habe ich dich, Nihilist! Das Sitzfleisch ist gerade die S ü n d e wider den heiligen Geist. Nur die e r g a n g e n e n Gedanken haben Werth.
35' Es giebt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in Unruhe gerathen: wir sehen unsren eignen Schatten vor uns
Sprüche und Pfeile 30—41
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auf und niederschwanken. Der Psychologe muss von s i c h absehn, um überhaupt zu sehn. 36.
Ob wir Immoralisten der Tugend S c h a d e n thun? — Eben so wenig, als die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral: m a n m u s s d i e M o r a l a n s c h i e s s e n .
37-
Du läufst v o r a n ? — Thust du das als Hirt? oder als Ausnahme? Ein dritter Fall wäre der Entlaufene . . . E r s t e Gewissensfrage. 38.
Bist du echt? oder nur ein Schauspieler? Ein Vertreter? oder das Vertretene selbst? — Zuletzt bist du gar bloss ein nachgemachter Schauspieler . . . Z w e i t e Gewissensfrage.
39-
Der E n t t ä u s c h t e s p r i c h t . — Ich suchte nach grossen Menschen, ich fand immer nur die A f f e n ihres Ideals.
40.
Bist du Einer, der zusieht? oder der Hand anlegt? — oder der wegsieht, bei Seite geht? . . . D r i t t e Gewissensfrage.
41.
Willst du mitgehn? oder vorangehn? oder für dich gehn? .
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Götzen-Dämmerung
Man muss wissen, w a s man will und d a s s man will. V i e r t e Gewissensfrage.
4 2 .
Das waren Stufen für midi, ich bin über sie hinaufgestiegen, $ — dazu musste ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen . . .
43-
Was liegt daran, dass i c h Recht behalte! Ich h a b e zu viel Recht. — Und wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt. 44.
Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Z i e l . . .
Das Problem des Sokrates. i. Uber das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleidi geurtheilt: e s t a u g t n i c h t s . . . Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben Klang gehört, — einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates sagte, als er starb: „leben — das heisst lange krank sein: ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig." Selbst Sokrates hatte es satt. — Was b e w e i s t das? Worauf w e i s t das? — Ehemals hätte man gesagt (— oh man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!): „Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein! Der consensus sapientium beweist die Wahrheit." — Werden wir heute nodi so reden? d ü r f e n wir das? „Hier muss jedenfalls Etwas k r a n k sein" — geben w i r zur Antwort: diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sidi erst aus der Nähe ansehn! Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest? spät? wackelig? décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den ein kleiner Gerudi von Aas begeistert?...
2.
Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen N i e d e r g a n g s - T y p e n sind, zuerst gerade in einem Falle
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aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch („Geburt der Tragödie" 1872). Jener consensus sapientium — das begriff ich immer besser — beweist am wenigsten, dass sie Recht mit dem hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, dass sie selbst, diese Weisesten, irgend worin p h y s i o l o g i s c h übereinstimmten, um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn, — stehn zu m ü s s e n . Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, — an sich sind solche Urtheile Dummheiten. Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, d a s s d e r W e r t h d e s L e b e n s n i c h t a b g e s c h ä t z t w e r d e n k a n n . Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Riditer; von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. — Von Seiten eines Philosophen im W e r t h des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit. — Wie? und alle diese grossen Weisen — sie wären nicht nur décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen? — Aber ich komme auf das Problem des Sokrates zurück.
3. Sokrates gehörte, seiner Herkunft nadi, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war. Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt 30 ein Grieche? Die Hässlichkeit ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung g e h e m m t e n Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als n i e d e r g e h e n d e Entwicklung.
Das Problem des Sokrates 2—5
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Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo. Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein typischer Verbrecher? — Zum Mindesten widerspräche dem $ jenes berühmte Physiognomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig klang. Ein Ausländer, der sidi auf Gesichter verstand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in's Gesidit, er s e i ein monstrum, — er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich. Und Sokrates antwortete bloss: „Sie kennen mich, mein Herr!" —
4-
Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet audi die Superfötation des Logischen und jene R h a c h i t i k e r i$ B o s h e i t , die ihn auszeichnet. Vergessen wir auch jene GehörsHallucinationen nicht, die, als „Dämonion des Sokrates", in's Religiöse interpretirt worden sind. Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist zugleich versteckt, hintergedanklich, unterirdisch. — Ich suche zu begreifen, aus welcher Idiosynkrasie 20 jene sokratische Gleidisetzung von Vernunft = Tugend = Glück stammt: jene bizarrste Gleichsetzung, die es giebt und die in Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat.
5-
Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten 2f der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit ein v o r n e h m e r Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. 3° Auch misstraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe.
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Honnette Dinge tragen, wie honnette Menschen, ihre Gründe nidit so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sidi erst beweisen lassen muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man nicht „begriini det", sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. — Sokrates war der Hanswurst, der sich e r n s t n e h m e n m a c h t e : was geschah da eigentlich? — 6.
10
Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwisdien als ein Dialektiker-Effekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur N o t h w e h r sein, in den Häni 5 den Soldier, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu e r z w i n g e n haben: eher macht man keinen Gebraudi von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch? —
7— Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von Pöbel-Ressentiment? geniesst er als Unterdrückter seine eigne Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus? r ä c h t er sich an den Vornehmen, die er fascinirt? — Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm »j den Tyrannen machen; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker d e p o t e n z i r t den Intellekt seines Gegners. — Wie? ist Dialektik nur eine Form der R a c h e bei Sokrates?
2°
Das Problem des Sokrates 7—9
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8. Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte: es bleibt um so mehr zu erklären, da s s er fascinirte. — Dass er eine neue Art A g o n entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die vornehmen Kreise Athen's war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte, — er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein grosser E r o t i k e r.
9-
Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah h i n t e r seine vornehmen Athener; er begriff, dass s e i n Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. — Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn n ö t h i g hatte, — sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung . . . Überall waren die Instinkte in Anardiie; überall war man fünf Schritt weit vom Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. „Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen G e g e n t y r a n n e n erfinden, der stärker ist" . . . Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt. „Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr." W i e wurde Sokrates über s i c h Herr? — Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich g e g e n einander wendeten. Er fascinirte als dieser extreme Fall — seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus: er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch
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stärker als Antwort, als Lösung, als Ansdiein der K u r dieses Falls. — 10. Wenn man nöthig hat, aus der V e r n u n f t einen Tyrannen zu machen, wie Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen als R e t t e r i n , es stand weder Sokrates, noch seinen „Kranken" frei, vernünftig zu sein, — es war de rigueur, es war ihr l e t z t e s Mittel. Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage: man war in Gefahr, man hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder — a b s u r d v e r n ü n f t i g zu sein . . . Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss: man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein T a g e s l i c h t in Permanenz herstellen — das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, an's Unbewusste führt h i n a b . . . Ii. Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig, noch den Irrthum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die „Vernünftigkeit um jeden Preis" lag? — Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence — sie v e r ä n d e r n deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg.
Das Problem des Sokrates 9—12
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Sokrates war ein Missverständniss; d i e g a n z e B e s s e r u n g s - M o r a l , auch die c h r i s t l i c h e , war ein M i s s v e r s t ä n d n i s s . . . Das grellste Tageslidit, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit — und durchaus kein Rückweg zur „Tugend", zur „Gesundheit", zum Glück . . . Die Instinkte bekämpfen m ü s s e n — das ist die Formel für décadence: so lange das Leben a u f s t e i g t , ist Glück gleidi Instinkt. —
I2— Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller SelbstÜberlister? Sagte er sich das zuletzt, in der W e i s h e i t seines Muthes zum Tode? . . . Sokrates w o l l t e sterben: — nicht Athen, e r gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher . . . „Sokrates ist kein Arzt, sprach er leise zu sich: der Tod allein ist hier A r z t . . . Sokrates selbst war nur lange krank . . . "
Die „Vernunft" in der Philosophie, i. Sie fragen midi, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? . . . Zum Beispiel ihr Mangel an historisdiem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie glauben einer Sache eine E h r e anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni, — wenn sie aus ihr eine Mumie madien. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begrifis-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, — sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, — Widerlegungen sogar. Was ist, w i r d nicht; was wird, i s t nicht... Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an's Seiende. Da sie aber dessen nidit habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man's ihnen vorenthält. „Es muss ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrüger?" — »Wir haben ihn. schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, d i e a u c h s o n s t so u n m o r a l i s c h s i n d , sie betrügen uns über die w a h r e Welt. Moral: loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, — Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral:
Die „Vernunft" in der Philosophie 1—3
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Neinsagen zu Allem, was den Sinnen Glauben sdienkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist Alles „Volk". Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen! — Und weg vor Allem mit dem L e i b e , dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sidi als wirklidi zu gebärden!" . . .
2.
Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen H e r a k 1 i t ' s bei Seite. Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, — sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss m a c h e n , das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglidikeit, der Substanz, der D a u e r . . . Die „Vernunft" ist die Ursadie, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht . . . Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinbare" Welt ist die einzige: die „wahre Welt" ist nur h i n z u g e l o g e n . . .
3— Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu
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Götzen-Dämmerung
constatiren, die selbst das Spektroskop nidit constatirt. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist i Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. O d e r Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, io welchen Werth überhaupt eine solche Zeidien-Convention, wie die Logik ist, hat. —
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3°
4Die a n d r e Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich: sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt — leider! denn es sollte gar nidit kommen! — die „höchsten Begriffe", das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang a l s Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere d a r f nidit aus dem Niederen wadisen, d a r f überhaupt nicht gewachsen sein . . . Moral: Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne — das Alles kann nicht geworden sein, m u s s folglich causa sui sein. Das Alles aber kann audi nicht einander ungleidi, kann nidit mit sich im Widerspruch sein Damit haben sie ihren stupenden Begriff „Gott" Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum... Dass die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen! — Und sie hat theuer dafür gezahlt!...
Die „Vernunft" in der Philosophie 3—5
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5— Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art w i r (— ich sage höflicher Weise wir ...) das Problem des Irrthums und derSdieinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, n e c e s s i t i r t zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, d a s s hier der Irrthum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns: bei ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre S p r a c h e zum beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsdi: der V e r n u n f t , zum Bewusstsein bringen. D a s sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an's „Ich", an's Ich als Sein, an's Ich als Substanz und p r o j i c i r t den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge — es s c h a f f t erst damit den Begriff „Ding" . . . Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, u n t e r g e s c h o b e n ; aus der Conception „Ich" folgt erst, als abgeleitet, der Begriff „Sein" . . . Am Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das w i r k t , — dass Wille ein V e r m ö g e n i s t . . . Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort i s t . . . " Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die S i c h e r h e i t , die subjektive G e w i s s h e i t in der Handhabung der Vernunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein: sie schlössen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten, — die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. W o h e r a l s o s t a m m e n s i e ? —
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Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleidien Fehlgriff gemadit: „wir müssen schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein ( — statt i n e i n e r s e h r v i e l n i e d e r e n : was die Wahrheit gewesen wäre!), wir müssen göttlich f gewesen sein, d e n n wir haben die Vernunft!" . . . In der That, Nichts hat bisher eine naivere Oberredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen! — Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der io Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein A t o m erfand . . . Die „Vernunft" in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben...
6. 15
Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus. E r s t e r S a t z . Die Gründe, darauf hin „diese" Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Reali20 tat, — eine a n d r e Art Realität ist absolut unnachweisbar. Z w e i t e r S a t z . Die Kennzeichen, welche man dem „wahren Sein" der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des NichtSeins, des N i c h t s , — man hat die „wahre Welt" aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare 25 Welt in der That, insofern sie bloss eine m o r a l i s c h o p t i s c h e Täuschung ist. D r i t t e r S a t z . Von einer „andren" Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in 3° uns mächtig ist: im letzteren Falle r ä c h e n wir uns am Leben mit def Phantasmagorie eines „anderen", eines „besseren" Lebens.
Die „Vernunft" in der Philosophie 5—6
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V i e r t e r S a t z . Die Welt scheiden in eine „wahre" und eine „scheinbare", sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines h i n t e r l i s t i g e n Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, — ein Symptom n i e d e r 5 g e h e n d e n Lebens . . . Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn „der Schein" bedeutet hier die Realität n o c h e i n m a l , nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur . . . Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, — er sagt gerade J a zu allem Fragwürdiio gen und Furchtbaren selbst, er ist d i o n y s i s c h . . .
W i e die „wahre W e l t " endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums.
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15
20
1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, — er lebt in ihr, e r i s t s i e . (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes „ich, Plato, b i n die Wahrheit".) 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften („für den Sünder, der Busse thut"). (Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, — s i e w i r d W e i b , sie wird christlich . . . ) 3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) 4. Die wahre Welt — unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch u n b e k a n n t . Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? . . . (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)
Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde
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j. Die „wahre Welt" — eine Idee, die zu Nidits mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, — eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, f o l g l i c h eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! i (Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröthe Plato's; Teufelslärm aller freien Geister.) 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? . . . Aber nein! m i t d e r io w a h r e n Welt h a b e n wir auch die s c h e i n b a r e abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)
Moral als Widernatur. i. Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloss verhängnissvoll sind, wo sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehen — und eine spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheirathen, sich „vergeistigen". Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der Passion, der Passion selbst den Krieg: man verschwor sidi zu deren Vernichtung, — alle alten Moral-Unthiere sind einmüthig darüber „il faut tuer les passions." Die berühmteste Formel dafür steht im neuen Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus nicht a u s d e r H ö h e betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt „wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus": zum Glück handelt kein Christ nach dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden v e r n i c h t e n , bloss um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, erscheint uns heute selbst bloss als eine akute Form der Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte ni$
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23Plato geht weiter. Er sagt mit einer Unsdiuld, zu der man Grieche sein muss und nicht „Christ", dass es gar keine platonische Philosophie geben würde, wenn es nicht so schöne Jünglinge in Athen gäbe: deren Anblick sei es erst, was die Seele des Philosophen in einen erotischen Taumel versetze und ihr keine Ruhe lasse, bis sie den Samen aller hohen Dinge in ein so schönes Erdreich hinabgesenkt habe. Auch ein wunderlicher Heiliger! — man traut seinen Ohren nicht, gesetzt selbst, dass man Plato traut. Zum Mindesten erräth man, dass in Athen a n d e r s philosophirt wurde, vor Allem öffentlich. Nichts ist weniger griechisch als die Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nadi Art des Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu definiren, als eine Fortbildung und Verinnerlichung der alten agonalen Gymnastik und deren V o r a u s s e t z u n g e n . . . Was wuchs zuletzt aus dieser philosophischen Erotik Plato's heraus? Eine neue Kunstform des griechischen Agon, die Dialektik. — Ich erinnere noch, g e g e n Schopenhauer und zu Ehren Plato's, daran, dass auch die ganze höhere Cultur und Litteratur des k l a s s i s c h e n Frankreichs auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses aufgewachsen ist. Man darf überall bei ihr die Galanterie, die Sinne, den Geschlechts-Wettbewerb, das „Weib" suchen, — man wird nie umsonst suchen . . .
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L ' a r t p o u r 1 ' a r t . — Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen die m o r a l i s i r e n d e Tendenz in der Kunst, gegen ihre UnteroMnung unter die Moral. L'art pour l'art heisst: „der Teufel hole die Moral!" — Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die Ubergewalt des Vorurtheils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschen-Verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nidit, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l'art pour l'art — ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst — ist. „Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck!" — so redet die blosse Leidenschaft. Ein Psydiolog fragt dagegen: was thut alle Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nidit aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen s t ä r k t oder s c h w ä c h t sie gewisse Werthschätzungen . . . Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler k a n n . . . ? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das L e b e n ? auf eine W ü n s c h b a r k e i t v o n L e b e n ? — Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l'art pour l'art verstehn? — Eine Frage bleibt zurück: die Kunst bringt auch vieles Hässliche, Harte, Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung, — scheint sie nicht damit vom Leben zu entleiden? — Und in der That, es gab Philosophen, die ihr diesen Sinn liehn: „loskommen vom Willen" lehrte Schopenhauer als Gesammt-Absicht der Kunst, „zur Resignation stimmen" verehrte er als die grosse Nützlichkeit der Tragödie. — Aber dies — ich gab es schon zu verstehn — ist Pessimisten-Optik und „böser Blick" — : man muss an die Künstler selbst appelliren. W a s t h e i l t d e r t r a g i s c h e K ü n s t l e r v o n s i c h m i t ? Ist es nicht gerade der Zustand o h n e Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt? — Dieser Zustand selbst ist
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eine hohe Wünschbarkeit; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten Ehren. Er theilt ihn mit, er m u s s ihn mittheilen, vorausgesetzt, dass er ein Künstler ist, ein Genie der Mittheilung. Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt — dieser s i e g r e i c h e Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der h e r o i s c h e Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, — ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit. —
MMit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen Haus halten, das ist liberal, das ist aber bloss liberal. Man erkennt die Herzen, die der v o r n e h m e n Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlossenen Läden: ihre besten Räume halten sie leer. Warum doch? — Weil sie Gäste erwarten, mit denen man n i c h t „fürlieb nimmt" . . .
26. Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. Unsre eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht gesdiwätzig. Sie könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das macht, es fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung. Die Sprache, sdieint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache v u 1 g a r i s i r t sich bereits der Sprechende. — Aus einer Moral für Taubstumme und andere Philosophen.
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27„DiesBildniss ist bezaubernd schön!"... DasLitteratur-Weib, unbefriedigt, aufgeregt, öde in Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter Neugierde jederzeit auf den Imperativ hin$ hordiend, der aus den Tiefen seiner Organisation „aut liberi aut libri" flüstert: das Litteratur-Weib, gebildet genug, die Stimme der Natur zu verstehn, selbst wenn sie Latein redet und andrerseits eitel und Gans genug, um im Geheimen auch noch französisch mit sich zu sprechen „je me verrai, je me lirai, je m'extasierai io et je dirai: Possible, que j'aie eu tant d'esprit?" . . .
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Die „Unpersönlichen" kommen zu Wort. — „Nichts fällt uns leichter, als weise, geduldig, überlegen zu sein. Wir triefen vom Oel der Nachsicht und des Mitgefühls, wir sind auf eine absurde I f Weise gerecht, wir verzeihen Alles. Eben darum sollten wir uns etwas strenger halten; eben darum sollten wir uns, von Zeit zu Zeit, einen kleinen Affekt, ein kleines Laster von Affect z ü c h t e n. Es mag uns sauer angehn; und unter uns lachen wir vielleicht über den Aspekt, den wir damit geben. Aber was hilft es! Wir ¿o haben keine andre Art mehr übrig von Selbstüberwindung: dies ist u n s r e Asketik, u n s e r Büsserthum" . . . P e r s ö n l i c h w e r d e n — die Tugend des „Unpersönlichen" . . .
A u s e i n e r D o c t o r - P r o m o t i o n . — „Was ist die i$ Aufgabe alles höheren Sdiulwesens?" — Aus dem Menschen eine Maschine zu machen. — „Was ist das Mittel dazu?" — Er muss lernen, sich langweilen. — „Wie erreicht man das?" — Durdi den Begriff der Pflicht. — „Wer ist sein Vorbild dafür?" — Der Philolog: der lehrt o c h s e n . — „Wer ist der vollkommene 3° Mensch?" — Der Staats-Beamte. — „Welche Philosophie giebt
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die höchste Formel für den Staats-Beamten?" — Die Kant's: der Staats-Beamte als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staats-Beamten als Erscheinung. — 30. D a s R e c h t a u f D u m m h e i t . — Der ermüdete und langsam athmende Arbeiter, der gutmüthig blidst, der die Dinge gehen lässt, wie sie gehn: diese typische Figur, der man jetzt, im Zeitalter der Arbeit ( u n d des „Reichs"! —) in allen Klassen der Gesellschaft begegnet, nimmt heute gerade die K u n s t für sich in Anspruch, eingerechnet das Buch, vor Allem das Journal, — um wie viel mehr die schöne Natur, I t a l i e n . . . Der Mensch des Abends, mit den „entschlafenen wilden Trieben", von denen Faust redet, bedarf der Sommerfrische, des Seebads, der Gletsdier, Bayreuth's . . . In solchen Zeitaltern hat die Kunst ein Redit auf r e i n e T h o r h e i t , — als eine Art Ferien für Geist, Witz und Gemüth. Das verstand Wagner. Die r e i n e T h o r h e i t stellt wieder her . . .
N o c h e i n P r o b l e m d e r D i ä t . — Die Mittel, mit denen Julius Cäsar sich gegen Kränklichkeiten und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, beständige Strapazen — das sind, in's Grosse gerechnet, die Erhaltungs- und Schutz-Maassregeln überhaupt gegen die extreme Verletzlichkeit jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst. —
D e r I m m o r a l i s t r e d e t . — Einem Philosophen geht Nidits m e h r wider den Geschmack als der Mensch, s o f e r n
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e r w ü n s c h t . . . Sieht er den Menschen nur in seinem Thun, sieht er dieses tapferste, listigste, ausdauerndste Thier verirrt selbst in labyrinthische Nothlagen, wie bewunderungswürdig erscheint ihm der Mensch! Er spricht ihm noch zu . . . Aber der Philosoph verachtet den wünschenden Mensdien, auch den „wünschbaren" Menschen — und überhaupt alle Wünsdibarkeiten, alle I d e a l e des Mensdien. Wenn ein Philosoph Nihilist sein könnte, so würde er es sein, weil er das Nichts hinter allen Idealen des Menschen findet. Oder noch nicht einmal das Nichts, — sondern nur das Nichtswürdige, das Absurde, das Kranke, das Feige, das Müde, alle Art Hefen aus dem a u s g e t r u n k e n e n Becher seines Lebens . . . Der Mensdi, der als Realität so verehrungswürdig ist, wie kommt es, dass er keine Achtung verdient, sofern er wünscht? Muss er es büssen, so tüditig als Realität zu sein? Muss er sein Thun, die Kopf- und Willensanspannung in allem Thun, mit einem Gliederstrecken im Imaginären und Absurden ausgleichen? — Die Gesdiichte seiner Wünschbarkeiten war bisher die partie honteuse des Menschen: man soll sich hüten, zu lange in ihr zu lesen. Was den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität, — sie wird ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr werth ist der wirkliche Mensch, verglichen mit irgend einem bloss gewünschten, erträumten, erstunkenen und erlogenen Mensdien? mit irgend einem i d e a l e n Menschen?... Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den Geschmack.
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N a t u r w e r t h d e s E g o i s m u s . — Die Selbstsudit ist so viel werth, als Der physiologisch werth ist, der sie hat: sie kann sehr viel werth sein, sie kann nichtswürdig und veräditlidi 30 sein. Jeder Einzelne darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür,
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was seine Selbstsucht werth ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth ausserordentlich, — und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt w e i t e r thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines Optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das „Individuum", wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrthum: er ist nichts für sich, kein Atom, kein „Ring der Kette", nichts bloss Vererbtes von Ehedem, — er ist die ganze Eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch . . . Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (— Krankheiten sind, in's Grosse gerechnet, bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, n i c h t dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu, und die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als möglich w e g n i m m t . Er ist bloss noch deren Parasit . . .
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C h r i s t u n d A n a r c h i s t . — Wenn der Anarchist, als Mundstück n i e d e r g e h e n d e r Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen Entrüstung „Recht", „Gerechtigkeit", „gleiche Rechte" verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiss, w a r u m er eigentlich leidet, — w o r a n er arm ist, an Leben . . . Ein Ursachen-Trieb ist in ihm mächtig: Jemand muss schuld daran sein, dass er sich schledit befindet . . . Auch thut ihm die „schöne Entrüstung" selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen, — es giebt einen kleinen Rausch von Macht. Schon die Klage, das Sidi-Beklagen, kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält: eine feinere Dosis R a c h e ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter Umständen selbst seine Schlechtigkeit Denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein u n e r l a u b t e s Vorrecht vor. „Bin ich eine canaille, so solltest du es auch sein": auf diese
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Logik hin macht man Revolution. — Das Sidi-Beklagen taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befinden Andern oder s i c h s e l b e r zumisst — Ersteres thut der Socialist, Letzteres zum Beispiel der Christ —, macht keinen eigentlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch das U n w ü r d i g e daran ist, dass Jemand s c h u l d daran sein soll, dass man leidet — kurz, dass der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines L u s t - Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursadien: der Leidende findet überall Ursachen, seine kleine Radie zu kühlen, — ist er Christ, nochmals gesagt, so findet er sie in s i c h . . . Der Christ und der Anarchist — Beide sind décadents. — Aber auch wenn der Christ die „ W e l t " verurtheilt, verleumdet, beschmutzt, so thut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der socialistische Arbeiter die G e s e l l s c h a f t verurtheilt, verleumdet, besdimutzt: das „jüngste Gericht" selbst ist noch der süsse Trost der Rache — die Revolution, wie sie auch der socialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner gedacht . . . Das „Jenseits" selbst — wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen? . . .
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K r i t i k d e r D é c a d e n c e - M o r a l . — Eine „altruistische" Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht v e r k ü m m e r t —, bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt. Instinktiv das S i c h - Schädliche wählen, G e l o c k t - w e r d e n durch „uninteressirte" Motive giebt beinahe die Formel ab für décadence. „Nicht s e i n e n Nutzen suchen" — das ist bloss das moralische Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Thatsächlichkeit: „ich weiss meinen Nutzen nidit
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mehr zu f i n d e n " . . . Disgregation der Instinkte! — Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird. — Statt naiv zu sagen, „ i c h bin nidits mehr werth", sagt die MoralLüge im Munde des decadent: „Nichts ist etwas werth, — das L e b e n ist nichts werth" . . . Ein solches Urtheil bleibt zuletzt eine grosse Gefahr, es wirkt ansteckend, — auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christenthum), bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulniss gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf Jahrtausende hin d a s Leben . . .
36. M o r a l f ü r Ä r z t e . — Der Kranke ist ein Parasit der Gesellsdiaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das R e c h t zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Veraditung zu sein, — nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis E k e l vor ihrem Patienten . . . Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des a u f s t e i g e n d e n Lebens, das rücksiditsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des e n t a r t e n d e n Lebens verlangt — zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben . . . Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglidi ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rediten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der n o c h d a i s t , der sich verabschiedet,
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insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine S u m m i r u n g des Lebens — Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat! — Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten n a t ü r l i c h e n Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein „unnatürlicher", ein Selbstmord ist. Man geht nie durch Jemand Anderes zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur u n r e c h t e n Zeit, ein FeiglingsTod. Man sollte, aus Liebe zum L e b e n —, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Uberfall Endlich ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler — denn bisweilen ist es ein Fehler — wieder gut machen. Wenn man sich a b s c h a f f t , thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben . . . Die Gesellschaft, was sage ich! das L e b e n selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches „Leben" in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend —, man hat die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem E i n w a n d befreit . . . Der Pessimismus, pur, vert, b e w e i s t s i c h e r s t durch die SelbstWiderlegung der Herrn Pessimisten: man muss einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloss mit „Wille und Vorstellung", wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen —, man muss S c h o p e n h a u e r n z u e r s t v e r n e i n e n . . . Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera
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verfällt: man muss morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen decadent mehr; ich erinnere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in denen die Cholera wüthet, sich in der Gesammt-Ziffer der Sterbefälle nidit von andern Jahrgängen unterscheiden.
37O b w i r m o r a l i s c h e r g e w o r d e n s i n d . — Gegen meinen Begriff „jenseits von Gut und Böse" hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze F e r o c i t ä t der moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral selber gilt —, in's Zeug geworfen: ich hätte artige Gesdiichten davon zu erzählen. Vor Allem gab man mir die „unleugbare Überlegenheit" unsrer Zeit im sittlichen Urtheil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten F o r t s c h r i t t : ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit u n s , durchaus nicht als ein „höherer Mensch", als eine Art U b e r m e n s c h , wie ich es thue, aufzustellen . . . Ein Schweizer Redakteur, vom „Bund", gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem Wagniss auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin zu „verstehn", dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! — Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, o b w i r w i r k l i c h m o r a l i s c h e r g e w o r d e n s i n d . Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen . . . Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese e r r e i c h t e Einmüthigkeit in der Schonung, in der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus.- Aber so denkt jede Zeit, so m u s s sie denken. Gewiss ist, dass wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene
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Wirklichkeit nidit aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletzlichere, aus der sidinothwendigeine r ü c k s i c h t e n r e i c h e Moral erzeugt. Denken wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologisdie Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der „Vermenschlichung" sofort ihren Werth — an sich hat keine Moral Werth —: sie würde uns selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer dick wattirten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen will, den Zeitgenossen Cesare Borgia's eine Komödie zum Todtlachen abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig spasshaft, mit unsren modernen „Tugenden" . . . Die Abnahme der feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte — und das wäre ja unser „Fortschritt" — stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der V i t a l i t ä t dar: es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist Jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und Jeder Krankenwärter. Das heisst dann „Tugend" — : unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man's anders genannt, „Feigheit" vielleicht, „Erbärmlichkeit", „Altweiber-Moral" . . . Unsre Milderung der Sitten — das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine N e u e r u n g — ist eine Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein: dann nämlich darf auch Viel gewagt, Viel herausgefordert, Viel auch v e r g e u d e t werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es G i f t . . . Indifferent zu sein — auch das ist eine Form der Stärke — dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der idi als der Erste gewarnt habe, Das, was man Pimpressionisme morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Uberreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. Jene Be-
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wegung, die mit der M i t l e i d s - M o r a l Schopenhauer's versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen — ein sehr unglücklicher Versuch! — ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die v o r n e h m e n Culturen sehen im Mitleiden, in der „Nächstenliebe", im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. — Die Zeiten sind zu messen nach ihren p o s i t i v e n K r ä f t e n — und dabei ergiebt sich jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance als die letzte g r o s s e Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit — sammelnd, ökonomisch, machinal — als eine s c h w a c h e Zeit . . . Unsre Tugenden sind bedingt, sind h e r a u s g e f o r d e r t durch unsre Schwäche . . . Die „Gleichheit", eine gewisse thatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von „gleichen Rechten" nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben, Das, was ich P a t h o s d e r D i s t a n z nenne, ist jeder s t a r k e n Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, — die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit . . . Alle unsre politischen Theorien u n d Staats-Verfassungen, das „deutsche Reich" durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die V e r f a l l s - G e b i l d e der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als N o r m des sociologischen Werthurteils nimmt. Das n i e d e r g e h e n d e Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden
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Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum I d e a l . . . Unsre Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent, — er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswerthes! . . .
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M e i n B e g r i f f v o n F r e i h e i t . — Der Werth einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt, — was sie uns k o s t e t . Ich gebe ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind: es giebt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen. Man weiss ja, w a s sie zu Wege bringen: sie unterminiren den Willen zur Macht, sie sind die zur Moral erhobene Nivellirung von Berg und Tal, sie machen klein, feige und genüsslieh, — mit ihnen triumphirt jedesmal das Heerdenthier. Liberalismus: auf deutsch H e e r d e n - V e r t h i e r u n g . . . Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch erkämpft werden, ganz andere Wirkungen hervor; sie fördern dann in der That die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg u m liberale Institutionen, der als Krieg die i l l i b e r a l e n Instinkte dauern lässt. Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Dass man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des „Glücks". Der f r e i g e w o r d n e Mensdi, um wie viel mehr der freigewordne G e i s t , tritt mit Füssen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer
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und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist K r i e g e r . — Wonach misst sich die Freiheit, bei Einzelnen, wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, o b e n zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritt weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den „Tyrannen" unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern — sdiönster Typus Julius Caesar — ; dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte. Die Völker, die Etwas werth waren, werth w u r d e n , wurden dies nie unter liberalen Institutionen: die g r o s s e G e f a h r machte Etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre Hülfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen, unsern G e i s t erst kennen lehrt, — die uns z w i n g t , stark zu sein . . . E r s t e r Grundsatz: man muss es nöthig haben, stark zu sein: sonst wird man's nie. — Jene grossen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe: als Etwas, das man hat und n i c h t hat, das man w i l l , das man e r o b e r t . . .
39K r i t i k d e r M o d e r n i t ä t . — Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmüthig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an u n s . Nadidem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil w i r nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jeder Zeit die Niedergangs-Form der organisirenden Kraft: ich habe schon in
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„Menschliches, Allzumenschliches" I, 318 die moderne Demokratie sammt ihren Halbheiten, wie „deutsches Reich", als V e r f a l l s f o r m d e s S t a a t s gekennzeichnet. Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur S o l i d a r i t ä t von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich Etwas wie das imperium Romanum: oder wie Russland, die e i n z i g e Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann, — Russland der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist.. .Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Z u k u n f t wächst: seinem „modernen Geiste" geht vielleicht Nichts so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, — man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man „Freiheit". Was aus Institutionen Institutionen m a c h t , wird verachtet, gehasst, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort „Autorität" auch nur laut wird. So weit geht die décadence im Werth-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: s i e z i e h n i n s t i n k t i v v o r , was auflöst, was das Ende beschleunigt.. . Zeugniss die m o d e r n e E h e . Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft abhanden gekommen: das giebt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe — sie lag in der juristischen Allein Verantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe—sie lag in ihrer principiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Accent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, s i c h G e h ö r z u s c h a f f e n wusste. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der
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wachsenden Indulgenz zu Gunsten der L i e b es-Heirath geradezu die Grundlage der Ehe, Das, was erst aus ihr eine Institution m a c h t , eliminirt. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe n i c h t , 5 wie gesagt, auf die „Liebe", — man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den H e r r s c h a f t s - T r i e b , der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben b r a u c h t , um ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich g u t ij s a g e n kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. — Die moderne Ehe v e r l o r ihren Sinn, — folglich schafft man sie ab. —
40. D i e A r b e i t e r - F r a g e . — Die Dummheit, im Grunde 20 die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache a l l e r Dummheiten ist, liegt darin, dass es eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge f r a g t m a n n i c h t : erster Imperativ des Instinktes. — Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die grosse Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, dass hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies 3° hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Nothwendigkeit gewesen. Was hat man gethan? — Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten, — man hat die Instinkte,
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vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, s i c h s e l b e r möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Nothstand (moralisch ausgedrückt als U n r e c h t —) empfindet? Aber was w i l l man? nodimals gefragt. Will man einen Zweck, muss man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht. —
41. „Freiheit, die ich n i c h t meine . . . " — In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängniss mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich unter einander; ich definirte das M o d e r n e bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, dass unter einem eisernen Drucke wenigstens Eins dieser Instinkt-Systeme p a r a l y s i r t würde, um einem andren zu erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müsste man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe b e s c h n e i d e t : möglich, das heisst g a n z . . . Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel z u s t r e n g w ä r e — dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der d é c a d e n c e : unser moderner Begriff „Freiheit" ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr. —
42. W o G l a u b e n o t h t h u t . — Nichts ist seltner unter Moralisten und Heiligen als RechtsdiafFenheit; vielleidit sagen sie
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das Gegentheil, vielleicht g l a u b e n sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher, wirkungsvoller, überzeugender ist, als die b e w u s s t e Heuchelei, so wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur U n s c h u l d : erster Satz zum Verständniss grosser Heiliger. Auch bei den Philosophen, einer andren Art von Heiligen, bringt es das ganze Handwerk mit sich, dass sie nur gewisse Wahrheiten zulassen: nämlich solche, auf die hin ihr Handwerk die ö f f e n t l i c h e Sanktion hat, — Kantisch geredet, Wahrheiten der p r a k t i s c h e n Vernunft. Sie wissen, was sie beweisen m ü s s e n , darin sind sie praktisch, — sie erkennen sich unter einander daran, dass sie über „die Wahrheiten" übereinstimmen. — „Du sollst nicht lügen" — auf deutsch: h ü t e n S i e s i c h , mein Herr Philosoph, die Wahrheit zu sagen . . .
43D e n C o n s e r v a t i v e n i n ' s O h r g e s a g t . — Was man früher nicht wusste, was man heute weiss, wissen könnte —, eine R ü c k b i l d u n g , eine Umkehr in irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt, — sie w o l l t e n die Menschheit auf ein f r ü h e r e s Maass von Tugend zurückbringen, zurück s c h r a u b e n . Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es giebt auch heute noch Parteien, die als Ziel den K r e b s g a n g aller Dinge träumen. Aber es steht Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man m u s s vorwärts, will sagen S c h r i t t f ü r S c h r i t t w e i t e r i n d e r d e c a d e n c e (— dies m e i n e Definition des modernen „Fortschritts" . . . ) . Man kann diese Entwicklung h e m m e n und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und p l ö t z l i c h e r machen: mehr kann man nidit. —
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M e i n B e g r i f f v o m G e n i e . — Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, — dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das „Genie", die „Thai", das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist", an „öffentlicher Meinung"! — Man nehme den Fall Napoleon's. Das Frankreich der Revolution, und noch mehr das der Vor-Revolution, würde aus sich den entgegengesetzten Typus, als der Napoleon's ist, hervorgebracht haben: es h a t ihn auch hervorgebracht. Und weil Napoleon a n d e r s war, Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich in Dampf und Stücke gieng, wurde er hier Herr, w a r er allein hier Herr. Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. — Dass man hierüber in Frankreich heute s e h r a n d e r s denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), dass dort die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben findet, das „riecht nicht gut", das macht Einem traurige Gedanken. — Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und „grossen Manne" abzufinden: entweder d e m o k r a t i s c h in der Art Buckle's oder r e l i g i ö s in der Art Carlyle's. — Die G e f a h r , die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausser-
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ordentlich; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie — in Werk, in That — ist nothwendig ein Verschwender: d a s s es $ s i c h a u s g i e b t , ist seine Grösse . . . Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das „Aufopferung"; man rühmt seinen „Heroismus" darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine io Hingebung für eine Idee, eine grosse Sadie, ein Vaterland: Alles Missverständnisse... Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht, — mit Fatalität, verhängnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat 15 man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art h ö h e r e r M o r a l . . . Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie m i s s v e r s t e h t ihre Wohlthäter. —
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Der V e r b r e c h e r u n d was ihm verwandt 20 i s t . — Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch. Ihm fehlt die Wildniss, eine gewisse freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform, in der Alles, was Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, z u R e c h t 2j b e s t e h t . Seine T u g e n d e n sind von der Gesellschaft in Bann gethan; seine lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, verwachsen alsbald mit den niederdrückenden Affekten, mit dem Verdacht, der Furcht, der Unehre. Aber dies ist beinahe das R e c e p t zur physiologischen Entartung. Wer Das, was er am besten 30 kann, am liebsten thäte, heimlich thun muss, mit langer Spannung, Vorsicht, Schlauheit, wird anämisch; und weil er immer nur Gefahr, Verfolgung, Verhängniss von seinen Instinkten her
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erntet, verkehrt sich auch sein Gefühl gegen diese Instinkte — er fühlt sie fatalistisdi. Die Gesellschaft ist es, unsre zahme, mittelmässige, verschnittene Gesellschaft, in der ein naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe nothwendig: denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensdi sich stärker erweist als die Gesellschaft: der Corse Napoleon ist der berühmteste Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss Dostoiewsky's von Belang — Dostoiewsky's, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte: er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens, mehr selbst noch als die Entdeckung Stendhal's. Dieser t i e f e Mensch, der zehn Mal Recht hatte, die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere Verbrecher, für die es keinen Rückweg zur Gesellschaft mehr gab, sehr anders empfunden als er selbst erwartete — ungefähr als aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst. Verallgemeinern wir den Fall des Verbrechers: denken wir uns Naturen, denen, aus irgend einem Grunde, die öffentliche Zustimmmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als wohlthätig, als nützlich empfunden werden, — jenes Tschandala-Gefühl, dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig, verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen auf Gedanken und Handlungen; an ihnen wird Jegliches bleicher als an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle Existenzformen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser halben Grabesluft gelebt: der wissenschaftliche Charakter, der Artist, das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der grosse Entdecker . . . So lange der P r i e s t e r als oberster Typus galt, war j e d e werthvolle Art Mensch entwerthet . . . Die Zeit kommt — ich verspreche das — wo er als der n i e d r i g s t e gelten wird, als u n s e r Tschandala, als die verlogenste, als die unanständigste Art
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Mensch... Ich richte die Aufmerksamkeit darauf, wie noch jetzt, unter dem mildesten Regiment der Sitte, das je auf Erden, zum Mindesten in Europa, geherrscht hat, jede Abseitigkeit, jedes lange, allzulange U n t e r h a l b , jede ungewöhnliche, undurch5 sichtige Daseinsform jenem Typus nahe bringt, den der Verbrecher vollendet. Alle Neuerer des Geistes haben eine Zeit das fahle und fatalistische Zeichen des Tschandala auf der Stirn: n i c h t , weil sie so empfunden würden, sondern weil sie selbst die furchtbare Kluft fühlen, die sie von allem Herkömmlichen und in Ehren Stehenden trennt. Fast jedes Genie kennt als eine seiner Entwicklungen die „catilinarisdie Existenz", ein Hass-, Radie- und Aufstands-Gefühl gegen Alles, was schon i s t , was nicht mehr w i r d . . . Catilina — die Präexistenz-Form j e d e s Caesar. —
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H i e r i s t d i e A u s s i c h t f r e i . — Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein Philosoph schweigt; es kann Liebe sein, wenn er sich widerspricht; es ist eine Höflichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt. Man hat nicht ohne Feinheit gesagt: il est 20 indigne des grands coeurs de repandre le trouble, qu'ils ressentent: nur muss man hinzufügen, dass v o r d e m U n w ü r d i g s t e n sich nicht zu fürchten ebenfalls Grösse der Seele sein kann. Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre; ein Erkennender, welcher „liebt", opfert vielleicht seine Menschlichkeit; ein Gott, welcher 25 liebte, ward Jude . . .
47D i e S c h ö n h e i t k e i n Z u f a l l . — Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet: sie ist, gleich dem Genie, das Schlussergebniss 30 der accumulirten Arbeit von Geschlechtern. Man muss dem guten
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Geschmacke grosse Opfer gebracht haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben — das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in Beidem —, man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur: man muss sich auch vor sich selber nicht „gehen lassen". — Die guten Dinge sind über die Maassen kostspielig: und immer gilt das Gesetz, dass wer sie h a t , ein Andrer ist, als wer sie e r w i r b t . Alles Gute ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist Anfang . . . In Athen waren zur Zeit Cicero's, der darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei weitem den Frauen an Schönheit überlegen: aber welche Arbeit und Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt! — Man soll sich nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen: eine blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null (— hier liegt das grosse Missverständniss der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist): man muss den L e i b zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht „gehen lassen", genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtern ist bereits Alles v e r i n n e r 1 i c h t. Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der r e c h t e n Stelle beginnt — n i c h t an der „Seele" (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der R e s t folgt daraus . . . Die Griechen bleiben deshalb das e r s t e C u l t u r - E r e i g n i s s der Geschichte — sie wussten, sie t h a t e n , was Noth that; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. —
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F o r t s c h r i t t i n m e i n e m S i n n e . — Auch ich rede von „Rückkehr zur Natur", obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein H i n a u f k o m m e n ist — hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit grossen Aufgaben spielt, spielen d a r f . . . Um es im G l e i c h n i s s zu sagen: Napoleon war ein Stück „Rückkehr zur Natur", so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, nodi mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). — Aber Rousseau — wohin wollte d e r eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und canaille in Einer Person; der die moralische „Würde" nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte „Rückkehr zur Natur" — wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? — Ich hasse Rousseau noch i n der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und canaille. Die blutige farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre „Immoralität", geht midi wenig an: was ich hasse, ist ihre Rousseau'sche M o r a l i t ä t — die sogenannten „Wahrheiten" der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit! . . . Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn sie s c h e i n t von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das E n d e der Gerechtigkeit i s t . . . „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches — d a s wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen." — Dass es um jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zugieng, hat dieser „modernen Idee" par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so dass die Revolution als S c h a u s p i e l auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. — Ich sehe nur Einen,
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der sie empfand, wie sie empfunden werden muss, mit E k e l — Goethe...
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G o e t h e — kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein H i n a u f kommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. — Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (— letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleidien Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sidi mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war T o t a l i t ä t ; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (— in abschreckendster Scholastik durch K a n t gepredigt, den Antipoden Goethe's), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er s c h u f sich . . . Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte J a zu Allem, was ihm hierin verwandt war, — er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die S c h w ä c h e , heisse sie nun
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Laster oder Tugend . . . Ein solcher f r e i g e w o r d n e r Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im G l a u b e n , dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht — e r v e r n e i n t n i c h t m e h r . . . Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des D i o n y s o s getauft. — jo. Man könnte sagen, dass in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert Das alles a u c h erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein An-sidi-heran-kommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Thatsädilichen. Wie kommt es, dass das Gesammt-Ergebniss kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-nodi-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, z u m a c h t z e h n t e n J a h r h u n d e r t z u r ü c k z u g r e i f e n ? (— zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Femininismus im Geschmack, als Socialismus in der Politik.) Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloss ein verstärktes v e r r o h t e s achtzehntes Jahrhundert, das heisst ein d é c a d e n c e - Jahrhundert? So dass Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? — Aber man missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Dass man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehn weiss, d a s g e h ö r t s e l b s t v i e l l e i c h t zur Grösse...
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JI. Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurdit habe: er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfinde, — auch verstehen wir uns über das „Kreuz" . . . Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich d e u t s c h schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiss zuletzt, ob ich audi nur w ü n s c h e , heute gelesen zu werden? — Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nadi, d e r S u b s t a n z n a c h um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein — ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der „Ewigkeit"; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, — was jeder Andre in einem Buche n i c h t sagt... Ich habe der Mensdiheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Z a r a t h u s t r a : ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. —
Was ich den Alten verdanke. i. Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu der ich vielleicht einen neuen Zugang gefunden habe — die alte Welt. Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duldsamen Geschmacks sein mag, ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen J a zu sagen: er sagt überhaupt nicht gern Ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar nichts . . . Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, — es gilt auch von Orten und Landschaften. Im Grunde ist es eine ganz kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem Leben mitzählen; die berühmtesten sind nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit Sallust. Ich habe das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht vergessen, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste Censur geben musste —, ich war mit Einem Schlage fertig. Gedrängt, streng, mit so viel Substanz als möglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit gegen das „schöne Wort", auch das „schöne Gefühl" — daran errieth ich mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach r ö m i s c h e m Stil, nach dem „aere perennius" im Stil bei mir wiedererkennen. — Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen
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Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu w o l l e n . Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen — das Alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, v o r n e h m par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, — eine blosse Gefühls-Gesdiwätzigkeit... 2. Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke; und, um es geradezu herauszusagen, sie k ö n n e n uns nicht sein, was die Römer sind. Man l e r n t nicht von den Griechen — ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um „klassisch" zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je o h n e die Römer gelernt! . . . Man wende mir ja nicht Plato ein. Im Verhältniss zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war stets ausser Stande, in die Bewunderung des A r t i s t e n Plato, die unter Gelehrten herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die raffinirtesten Geschmacksriditer unter den Alten selbst auf meiner Seite. Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein e r s t e r décadent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, — Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. — Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich — er hat bereits den Begriff „gut" als obersten Begriff —, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel" oder, wenn man's lieber hört,
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Idealismus — als irgend ein andres gebraudien mödite. Man hat theuer dafür bezahlt, dass dieser Athener bei den Ägyptern in die Sdiule gieng (— oder bei den Juden in Ägypten? ...) Im grossen Verhängniss des Christenthums ist Plato jene „Ideal" genannte Zweideutigkeit und Fascination, die den edleren Naturen des Alterthums es möglich madite, sich selbst misszuverstehn und die B r ü c k e zu betreten, die zum „Kreuz" führte . . . Und wie viel Plato ist noch im Begriff „Kirche", in Bau, System, Praxis der Kirdie! — Meine Erholung, meine Vorliebe, meine K u r von allem Piatonismus war zu jeder Zeit T h u k y d i d e s . Thukydides und, vielleicht, der principe Macchiavell's sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der R e a l i t ä t zu sehn, — n i c h t in der „Vernunft", noch weniger in der „Moral" . . . Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in's Ideal, die der „klassisch gebildete" Jüngling als Lohn für seine GymnasialDressur in's Leben davonträgt, kurirt Nichts so gründlidi als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlidi ablesen wie seine Worte: es giebt wenige so hintergedankenreidie Denker. In ihm kommt die S o p h i s t e n - C u l t u r , will sagen die R e a l i s t e n - C u l t u r , zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und IdealSchwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philosophie als die d e c a d e n c e des griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der M u t h vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato ist ein Feigling vor der Realität, — f o l g l i c h flüchtet er in's Ideal; Thukydides hat s i c h in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt...
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In den Griechen „schöne Seelen", „goldene Mitten" und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern — vor dieser „hohen Einfalt", einer niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, — ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen E x p l o s i v s t o f f sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sidi dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte es nöthig, stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe —, sie lauerte überall. Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine N o t h , nicht eine „Natur" gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man auch nichts Andres als sich o b e n a u f fühlen, sich obenauf z e i g e n : es sind Mittel, sich selber zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen . . . Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, w a s im Grunde hellenisch s e i ! . . . Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den vornehmen Geschmack (— gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens). Die sokratischen Tugenden wurden gepredigt, w e i l sie den Griechen abhanden gekommen waren: reizbar, furchtsam, unbeständig, Komödianten allesammt, hatten sie ein paar Gründe zu viel, sidi Moral predigen zu lassen. Nicht, dass es Etwas geholfen hätte: aber grosse Worte und Attitüden stehen décadents so g u t . . .
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Ich war der erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen und selbst überströmenden hellenischen Instinkts, jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos trägt: es ist einzig erklärbar aus einem Z u v i e l von Kraft. Wer den Griechen nachgeht, wie jener tiefste Kenner ihrer Cultur, der heute lebt, wie Jakob Burckhardt in Basel, der wusste sofort, dass damit Etwas gethan sei: Burckhardt fügte seiner „Cultur der Griechen" einen eignen Abschnitt über das genannte Phänomen ein. Will man den Gegensatz, so sehe man die beinahe erheiternde Instinkt-Armuth der deutschen Philologen, wenn sie in die Nähe des Dionysischen kommen. Der berühmte Lobeck zumal, der mit der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büdiern ausgetrockneten Wurms in diese Welt geheimnissvoller Zustände hineinkroch und sich überredete, damit wissenschaftlidi zu sein, dass er bis zum Ekel leichtfertig und kindisch war, — Lobeck hat mit allem Aufwände von Gelehrsamkeit zu verstehn gegeben, eigentlich habe es mit allen diesen Curiositäten Nichts auf sidi. In der That möchten die Priester den Theilhabern an solchen Orgien einiges nicht Werthlose mitgetheilt haben, zum Beispiel, dass der Wein zur Lust anrege, dass der Mensch unter Umständen von Früchten lebe, dass die Pflanzen im Frühjahr aufblühn, im Herbst verwelken. Was jenen so befremdlichen Reichthum an Riten, Symbolen und Mythen orgiastischen Ursprungs angeht, von dem die antike Welt ganz wörtlich überwuchert ist, so findet Lobedk an ihm einen Anlass, noch um einen Grad geistreicher zu werden. „Die Griechen, sagt er Aglaophamus I, 672, hatten sie nichts Anderes zu thun, so lachten, sprangen, rasten sie umher, oder, da der Mensdi mitunter auch dazu Lust hat, so sassen sie nieder, weinten und jammerten. A n d e r e kamen dann später hinzu und suditen doch irgend einen Grund für das auffallende Wesen; und so entstanden zur Erklärung jener Gebräuche jene zahllosen Festsagen und Mythen. Auf der andren Seite glaubte man, jenes p o s s i r l i c h e T r e i b e n , welches nun einmal an den Fest-
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tagen stattfand, gehöre auch nothwendig zur Festfeier, und hielt es als einen unentbehrlichen Theil des Gottesdienstes fest." — Das ist verächtliches Geschwätz, man wird einen Lobeck nicht einen Augenblick ernst nehmen. Ganz anders berührt es uns, wenn wir den Begriff „griechisch" prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente finden, aus dem die dionysische Kunst wächst, — mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. F o l g l i c h verstand G o e t h e d i e G r i e c h e n n i c h t . Denn erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die G r u n d t h a t s a c h e des hellenischen Instinkts aus — sein „Wille zum Leben". W a s verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das e w i g e Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das w a h r e Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das g e s c h l e c h t l i c h e Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles Einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der S c h m e r z heilig gesprochen: die „Wehen der Gebärerin" heiligen den Schmerz überhaupt, — alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende b e d i n g t den Schmerz . . . Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, m u s s es auch ewig die „Qual der Gebärerin" geben . . . Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese g r i e c h i s c h e Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, — der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der h e i l i g e
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W e g . . . Erst das Christenthum, mit seinem Ressentiment g e g e n das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlidikeit etwas Unreines gemacht: es warf K o t h auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens . . .
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5Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des t r a g i s c h e n Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten missverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, Etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauer's zu beweisen, dass sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und G e g e n - I n s t a n z z u gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst nodi in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im O p f e r seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend — d a s nannte ich dionysisdi, d a s errieth ich als die Brücke zur Psydiologie des t r a g i s c h e n Dichters. N i c h t um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen — so verstand es Aristoteles — : sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens s e l b s t z u s e i n , — jene Lust, die auch noch die L u s t a m V e r n i c h t e n in sich sdiliesst. . . Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng — die „Geburt der Tragödie" war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich midi wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein K ö n n e n wächst — ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, — ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft , . .
Der Hammer redet. Also
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sprach
Zarathustra.
3,90.
„ W a r u m so h a r t ! — s p r a c h z u m D i a m a n t e n einst die K ü c h e n - K o h l e : sind wir denn nicht N a h - V e r w a n d t e ?" W a r u m so w e i c h ? Oh m e i n e B r ü d e r , a l s o f r a g e ich euch: seid ihr denn nicht — meine Brüder? W a r u m so w e i c h , so w e i c h e n d u n d nachg e b e n d ? W a r u m ist so v i e l L e u g n u n g , V e r l e u g n u n g in e u r e m H e r z e n ? so w e n i g S c h i c k sal in e u r e m B l i c k e ? U n d w o l l t ihr nicht S c h i c k s a l e sein und U n e r b i t t l i c h e : wie könntet ihr einst mit mir — siegen ? Und wenn eure H ä r t e nicht blitzen und schneiden und zerschneiden w i l l : wie könntet ihr einst mit mir — s c h a f f e n ? Alle S c h a f f e n d e n nämlich sind hart. Und S e l i g k e i t m u s s es e u c h d ü n k e n , e u r e H a n d a u f J a h r t a u s e n d e zu d r ü c k e n w i e a u f W a c h s , — — S e l i g k e i t , auf dem W i l l e n v o n J a h r t a u s e n d e n zu s c h r e i b e n w i e auf E r z , — h ä r t e r als E r z , edler als Erz. G a n z hart a l l e i n ist das Edelste. D i e s e n e u e T a f e l , oh m e i n e B r ü d e r , s t e l l e ich über euch: w e r d e t h a r t ! — —
Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum.
Vorwort. Dies Budi gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch Keiner von ihnen. Es mögen die sein, welche meinen Zarathustra verstehn: wie d ü r f t e idi midi mit denen verwechseln, für weldie heute sdion Ohren wachsen? — Erst das Ubermorgen gehört mir. Einige werden posthu geboren. Die Bedingungen, unter denen man mich versteht und dann m i t N o t h w e n d i g k e i t versteht (, —) idi kenne sie nur zu genau. Man muss rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten. Man muss geübt sein, auf Bergen zu leben — das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht u n t e r sidi zu sehn. Man muss gleichgültig geworden sein, man muss nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängniss w i r d . . . Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand heute den Muth hat; der Muth zum V e r b o t e n e n ; die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten. U n d der Wille zur Ökonomie grossen Stils: seine Kraft, seine B e g e i s t e r u n g beisammen behalten . . . Die Ehrfurdit vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen sich . . . Wohlan! Das allein sind meine Leser, meine rechten Leser, meine vorherbestimmten Leser: was liegt am R e s t ? — Der
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Rest ist bloss die Mensdiheit. — Man muss der Mensdiheit überlegen sein durch Kraft, durdi H ö h e der Seele, — durch Verachtung . . . Friedrich Nietzsche.
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— Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, — wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. „Weder zu Lande, noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden": das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes — u n s e r Leben, u n s e r Glück . . . Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn s o n s t ? — Der moderne Mensch etwa? „Ich weiss nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus nodi ein weiss" — seufzt der moderne Mensch . . . An d i e s e r Modernität waren wir krank, — am faulen Frieden, am feigen Compromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen J a und Nein. Diese Toleranz und largeur des Herzens, die Alles „verzeiht", weil sie Alles „begreift", ist Scirocco für uns. Lieber im Eise leben als unter modernen Tugenden und andren Südwinden! . . . Wir waren tapfer genug, wir schonten weder uns, noch Andere: aber wir wussten lange nicht, w o h i n mit unsrer Tapferkeit. Wir wurden düster, man hiess uns Fatalisten. U n s e r Fatum — das w a r die Fülle, die Spannung, die Stauung der Kräfte. Wir dürsteten nach Blitz und Thaten, wir blieben am fernsten vom Glück der Schwächlinge, von der „Ergebung" . . . Ein Gewitter war in unsrer Luft, die Natur, die wir sind, verfinsterte sich — d e n n w i r h a t t e n k e i n e n W e g . Formel unsres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Z i e l . . .
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2. Was ist gut? — Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Mensdien erhöht. Was ist schlecht? — Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? — Das Gefühl davon, dass die Macht w ä c h s t , dass ein Widerstand überwunden wird. Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; n i c h t Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend) Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz u n s r e r Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als irgend ein Laster? — Das Mitleiden der That mit allen Missrathnen und Schwachen — das Christenthum . . .
3Nicht, was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem, das ich hiermit stelle (— der Mensch ist ein E n d e —): sondern welchen Typus Mensch man z ü c h t e n soll, w o l l e n soll, als den höherwerthigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren. Dieser höherwerthigere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als g e w o l l t . Vielmehr ist e r gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe d a s Furchtbare; — und aus der Furdit heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, e r r e i c h t : das Hausthier, das Heerdenthier, das kranke Thier Mensch, — der Christ . . .
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Die Menschheit stellt n i c h t eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der „Fortschritt" ist bloss eine moderne Idee, das S heisst eine falsche Idee. Der Europäer von Heute bleibt, in seinem Werthe tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings n i c h t mit irgend welcher N o t wendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung. In einem andren Sinne giebt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus, mit denen in der That sich ein h ö h e r e r T y p u s darstellt: Etwas, das im Verhältniss zur Gesammt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des grossen Gelingens waren immer möglich und werden viel15 leicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen T r e f f e r darstellen. 5-
Man soll das Christenthum nicht sdimücken und herausput20 zen: es hat einen T o d k r i e g gegen diesen h ö h e r e n Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann gethan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, d e n Bösen herausdestillirt, — der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der „verworfene Mensch". Das Christenthum hat die Partei alles i$ Schwachen, Niedrigen, Missrathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem W i d e r s p r u c h gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistigstärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werthe der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als V e r s u c h u n g e n 3° empfinden lehrte. Das jammervollste Beispiel — die Verderbniss Pascals, der an die Verderbniss seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durdi sein Christenthum verdorben war! —
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6. Es ist ein schmerzliches, ein schauerliches Schauspiel, das mir aufgegangen ist: idi zog den Vorhang weg von der V e r d o r b e n h e i t des Menschen. Dies Wort, in meinem Munde, ist wenigstens gegen Einen Verdacht geschützt: dass es eine moralische Anklage des Menschen enthält. Es ist — ich möchte es nochmals unterstreichen — m o r a l i n f r e i gemeint: und dies bis zu dem Grade, dass jene Verdorbenheit gerade dort von mir am stärksten empfunden wird, wo man bisher am bewusstesten zur „Tugend", zur „Göttlichkeit" aspirirte. Ich verstehe Verdorbenheit, man erräth es bereits, im Sinne von décadence: meine Behauptung ist, dass alle Werthe, in denen jetzt die Menschheit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfasst, d é c a d e n c e W e r t h e sind. Ich nenne ein Thier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es v o r z i e h t , was ihm nachtheilig ist. Eine Geschichte der „höheren Gefühle", der „Ideale der Menschheit" — und es ist möglich, dass ich sie erzählen muss — wäre beinahe auch die Erklärung dafür, w e s h a l b der Mensch so verdorben ist. Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für M a c h t : wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang. Meine Behauptung ist, dass allen obersten Werthen der Menschheit dieser Wille f e h l t , — dass Niedergangs-Werthe, n i h i l i s t i s c h e Werthe unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen.
7Man nennt das Christenthum die Religion des M i t l e i d e n s . — Das Mitleiden steht im Gegensatz zu den tonischen Affekten, welche die Energie des Lebensgefühls erhöhn: es wirkt depressiv. Man verliert Kraft, wenn man mitleide(t). Durch das Mitleiden vermehrt und vervielfältigt sich die Einbusse an Kraft
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noch, die an sich schon das Leiden dem Leben br