Sämtliche veröffentlichte Schriften: Band 9 Vermischte Schriften 9783110621228, 9783110618297


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German Pages 312 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
Denis Fisette: Einführung
Editorische Vorbemerkung
Ad Disputationem Qua Theses
Auguste Comte und die positive Philosophie
Thomas von Aquin. Die Gotteslehre des Thomas von Aquino kritisch dargestellt von Dr. Johannes Delitzsch
Der Atheismus und die Wissenschaft
Ueber die Gründe der Entmuthigung auf philosophischem Gebiete
Herr Horwicz als Recensent. Ein Beitrag zur Orientirung über unsere wissenschaftlichen Culturzustände
Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht
Miklosich über subjektlose Sätze
Ueber die Zukunft der Philosophie
Meine letzten Wünsche für Oesterreich
Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand
Voraussetzungslose Forschung
Thomas von Aquin
Appendix: Die Habilitationsthesen in deutscher Übersetzung
Sachregister
Personenregister
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Sämtliche veröffentlichte Schriften: Band 9 Vermischte Schriften
 9783110621228, 9783110618297

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Franz Brentano Vermischte Schriften

Franz Brentano Sämtliche veröffentlichte Schriften

Vierte Abteilung Vermischte Schriften Herausgegeben von Thomas Binder und Arkadiusz Chrudzimski

Band IX Wissenschaftlicher Beirat Mauro Antonelli, Mailand; Wilhelm Baumgartner, Würzburg; Johannes Brandl, Salzburg; Wolfgang Huemer, Parma; Robin Rollinger, Salzburg; Werner Sauer, Graz

Franz Brentano

Vermischte Schriften Mit einer Einleitung von Denis Fisette Herausgegeben von Thomas Binder und Arkadiusz Chrudzimski

ISBN 978-3-11-061829-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062122-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061889-1 Library of Congress Control Number: 2019944053 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .VII Denis Fisette: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Über die Zukunft der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII Philosophie der Geschichte der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII Rezensionen und Gelegenheitsarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVI

Editorische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVII Ad Disputationem Qua Theses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Auguste Comte und die positive Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Thomas von Aquin. Die Gotteslehre des Thomas von Aquino kritisch dargestellt von Dr. Johannes Delitzsch . . . . . . . . . . . . 29 Der Atheismus und die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Ueber die Gründe der Entmuthigung auf philosophischem Gebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Herr Horwicz als Recensent. Ein Beitrag zur Orientirung über unsere wissenschaftlichen Culturzustände . . . . . . . . . . . . . 77 Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht . . . . . . . . . . . . 87 Miklosich über subjektlose Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ueber die Zukunft der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Meine letzten Wünsche für Oesterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Voraussetzungslose Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Appendix: Die Habilitationsthesen in deutscher Übersetzung 249 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Vorwort des Herausgebers Die vorliegende Ausgabe von Brentanos Vermischten Schriften ist der neunte Band einer neuen Edition der Werke Franz Brentanos. Diese Edition unternimmt es zum ersten Mal, alle Schriften, die von Brentano selbst publiziert wurden, in einer handlichen, zehnbändigen Studienausgabe dem Leser zugänglich zu machen. Dazu gehören neben seinen bahnbrechenden systematischen Werken wie der Psychologie vom empirischen Standpunkte und Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis auch seine wichtigen Studien zu Aristoteles, dem Brentano insgesamt vier Monographien widmete, sowie viele kleinere bedeutende Aufsätze zur Psychologie (und speziell zur Sinnespsychologie), zur Geschichte der Philosophie und zu anderen Themen. So wird im hier vorliegenden neunten Band Brentanos wichtiger Essay „Meine letzten Wünsche für Österreich“ erstmals seit seiner ursprünglichen Publikation 1894 (bzw. 1895) wieder zugänglich gemacht. Die nicht-philosophischen Schriften Brentanos (darunter neben kirchengeschichtlichen und juristisch-politischen Werken auch Abhandlungen zur Schachtheorie, Rätsel und Lyrik) sollen in einem Ergänzungsband publiziert werden, um damit die Persönlichkeit des großen Denkers abzurunden. Auf eine Einschränkung sei hingewiesen: Diese Ausgabe vereint natürlich nur jene Druckschriften, die dem Herausgeber bekannt sind. Es kann nicht mit völliger Gewissheit ausgeschlossen werden, dass Brentano noch weitere Schriften veröffentlicht hat. So sei hier auf eine im Oktober 1876 in der Wiener Neuen Freien Presse von Brentano anonym publizierte Rezension hingewiesen, die dem Herausgeber nur durch einen Zufall bekannt und im dritten Band dieser Reihe erstmals als Werk Brentanos veröffentlicht wurde. Brentano selbst erwähnt in einem Brief an Anton Marty einen Toast, in dem er sich anlässlich des Sylvesterabends 1876 mit der politischen Lage befasste und der in Deutschen Zeitung auch veröffentlicht wurde; bedauerlicherweise war es dem Herausgeber bisher nicht möglich, ein Exemplar der entsprechenden Ausgabe aufzutreiben. Wenig wahrscheinlich ist es allerdings, dass es sich bei solchen „verschollenen“ Werken um bedeutendere philosophische Schriften handeln sollte; dass auch in Zukunft die eine oder andere bisher unbekannte Gedicht- oder Rätselpublikation Brentanos entdeckt werden könnte, ist aber durchaus vorstellbar. Die Druckschriften werden wie folgt auf die zehn geplanten Bände verteilt, wobei die Texte in Sammelbänden chronologisch angeordnet sind:

https://doi.org/10.1515/9783110621228-001

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Vorwort des Herausgebers

1. Band: Psychologie vom empirischen Standpunkte Von der Klassifikation der psychischen Phänomene 2. Band: Schriften zur Sinnespsychologie 3. Band: Schriften zur Ethik und Ästhetik 4. Band: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles 5. Band: Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom ΝΟΥΣ ΠΟΙΗΤΙΚΟΣ 6. Band: Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes 7. Band: Aristoteles und seine Weltanschauung 8. Band: Kleinere Schriften zu Aristoteles 9. Band: Vermischte Schriften 10. Band: Nicht-philosophische Schriften Die Neuausgabe der veröffentlichten Schriften basiert ausschließlich auf den von Brentano selbst besorgten Erstpublikationen. Bei den Texten, die wiederholt publiziert wurden und bei denen die Abänderungen über bloße stilistische Korrekturen hinausgehen, werden alle Varianten vollständig abgedruckt. Da es sich um keine Edition mit kritischem Anspruch handelt, wurde auf textkritische und erläuternde Anmerkungen weitgehend, wenn auch nicht vollständig, verzichtet (dass die Texte dennoch akribisch mit den Originaltexten verglichen wurden, versteht sich von selbst). Genauere editorische Hinweise zu den Texten finden sich in einer separaten, dem Haupttext vorangestellten editorischen Vorbemerkung. Eine besondere Erwähnung verdient die Handhabung der Rechtschreibung. Da Brentanos Texte sowohl vor als auch nach der II. Berliner Orthographischen Konferenz von 1901 publiziert wurden, und da auch in den nachfolgenden Jahrzehnten die Rechtschreibung immer wieder „reformiert“ wurde, schien es wenig sinnvoll, diese auf einem bestimmten Stand zu vereinheitlichen: Die Texte werden also allesamt in der historischen Form abgedruckt, in der sie ursprünglich publiziert wurden. Jedem Band wird eine Einleitung vorangestellt, die den aktuellen Stand der Forschung reflektiert; schließlich sollen ein Sach- und ein Personenregister den thematischen Zugang erleichtern. Die Hauptmotivation für diese Edition liegt sicher darin, dass diese sowohl für die Geschichte der Philosophie als auch für die systematische Forschung so wichtigen Schriften oftmals schon seit Jahren aus dem Buchhandel verschwunden und damit nur noch schwer zugänglich sind. Zum Teil sind sie seit ihrer Erstveröffentlichung nicht mehr verlegt worden (was auf mehrere Texte in diesem Band zutrifft), zum Teil liegen sie aber auch in Ausgaben vor, die weder zeitgemäßen editorischen Standards noch dem aktuellen Stand der

Vorwort des Herausgebers

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philosophischen Forschung entsprechen. Da der Herausgeber der festen Überzeugung ist, dass das Studium der Philosophie Brentanos auch heute nicht nur wichtig, sondern außerordentlich lohnend ist, soll die Lücke mit dieser Ausgabe geschlossen werden. Selbstverständlich können die zehn Bände dieser Edition den Reichtum an Einzelfragen und Lösungsansätzen nicht präsentieren, die Brentanos Philosophieren in mehr als 50 Jahren intensiver Forschertätigkeit geprägt haben – diese Aufgabe muss einer kritischen Edition des äußerst umfangreichen Nachlasses vorbehalten bleiben, die aufgrund der damit verbundenen großen editorischen Herausforderungen bedauerlicherweise noch immer auf sich warten lässt. Bei den vorliegenden von Brentano selbst veröffentlichten Schriften handelt es sich aber dennoch um jene Werke, die seine Bedeutung für die Philosophie zuallererst begründet haben. März 2019

Thomas Binder

Einführung Denis Fisette Die Schriften Brentanos, die in diesem Band abgedruckt sind, bieten eine substantielle Ergänzung mit Informationen zu bestimmten wichtigen Aspekten der Philosophie Brentanos, die in den anderen Schriften, die er während seines Lebens publizierte, insbesondere in der Psychologie vom empirischen Standpunkt, nicht so explizit zum Ausdruck kommen. Das trifft z. B. auf Brentanos Analysen in seinem Vortrag „Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand“ zu, welcher seine einzige Publikation darstellt, in der er die Prinzipien seiner Philosophie der Geschichte und zugleich das Gesetz der vier Phasen in der Philosophiegeschichte ausführlicher darlegt. Sein Aufsatz „Auguste Comte und die positive Philosophie“ wiederum ist die wichtigste Schrift seiner Würzburger Periode, wenn man von der Bedeutung ausgeht, die der junge Brentano dem Forschungsprogramm des französischen Philosophen beilegte, während er selbst intensiv an der Entwicklung seines eigenen philosophischen Programms arbeitete. Den Umriss dieses Programms präsentierte er dann erstmals 1874 in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Wien unter dem Titel „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiet“. Hervorgehoben seien auch noch seine „Letzten Wünsche für Österreich“, in denen er neben einer Abrechnung mit der österreichischen Politik eine Bewertung seines philosophischen Erbes nach zwanzigjähriger Lehrtätigkeit an der Wiener Universität versucht. Dieser Band enthält insgesamt dreizehn Texte, die Brentano zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat: Drei davon fallen in die Würzburger Zeit, zwei in die italienische, die restlichen sind während seiner Lehrtätigkeit in Wien entstanden. Sie können drei weiten Themenbereichen zugeordnet werden. Der erste korrespondiert mit dem Thema der Zukunft der Philosophie und den philosophischen Perspektiven am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Fragen tauchen in Brentanos Werk immer wieder auf und werden in mehreren in diesem Band publizierten Schriften abgehandelt, insbesondere in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Wien im April 1874, wo er unter anderem versucht, die Quellen der Enttäuschung und Entmutigung hinsichtlich des Zustandes der Philosophie zu dieser Zeit aufzuspüren und Optimismus und das Vertrauen in die Zukunft der Philosophie wiederherzustellen. Der zweite Themenbereich besteht in Brentanos Philosophie der Geschichte der Philosophie. Hierher gehört u. a. der Vortrag „Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht“, in

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Denis Fisette

dem er seine geschichtsphilosophischen Prinzipien, die er mit der Theorie der vier Phasen im bereits erwähnten Aufsatz über Comte dargeleg hatte, konkret auf die philosophischen Lehren Plotins anwendet. Die letzte Gruppe der vermischten Schriften Brentanos enthält kleinere Gelegenheitsarbeiten, nämlich die polemisch-apologetische Schrift „Der Atheismus und die Wissenschaft“ von 1873 (sie erschien anonym und kritisierte das in einer Wiener Tageszeitung veröffentlichte Feuilleton eines ungenannten Verfassers, in dem die Inkompatibilität einer sich als wissenschaftlich verstehenden Philosophie mit dem Theismus behauptet wurde), eine kurze Streitschrift über Wissenschaft und Vorurteil aus dem Jahr 1901, und einen 1908 veröffentlichten Aufsatz über Thomas von Aquin. Weiters gehören hierher auch drei Rezensionen: Die erste behandelt ein Buch über Thomas von Aquin von Johannes Delitsch (Delitsch 1870), in der zweiten antwortet Brentano auf eine kritische Besprechung seiner Psychologie durch Adolf Horwicz (Horwicz 1874), während die dritte eine Publikation des Wiener Slavisten Franz Miklosich zum Gegenstand hat, die die schwierige Frage der subjektlosen Sätze behandelt (Miklosich 1883).

Über die Zukunft der Philosophie Am Beginn dieses Themengruppe stehen Brentanos Habilitationsthesen („Ad disputationem qua theses gratiosi philosophorum ordinis consensu et auctoritate pro impetranda venia docendi in alma universitate julio-maximiliana defendet“), also jene fünfundzwanzig Thesen, die Brentano im Sommer 1866 anläßlich seiner Habilitation an der Universität Würzburg präsentierte. Diese Thesen verteidigte Brentano vor einem großen Publikum mit außerordentlichem Erfolg. Carl Stumpf, ebenfalls unter den Zuhörern und später der erste Schüler Brentanos, beschreibt die Disputation folgendermaßen: Die Anzeige von Brentanos Disputation lockte mich und meinen älteren Bruder, dem Turnier beizuwohnen. Brentano hatte nicht weniger als fünfundzwanzig lateinische Thesen über sämtliche Gebiete der Philosophie aufgestellt, über die aber in deutscher Sprache disputiert wurde. Hoffmann und Urlichs opponierten, vielleicht auch noch andere. Die Art, wie Brentano seine Thesen verteidigte und erläuterte, offenbarte eine solche Überlegenheit über die Angreifer, daß ich mir den Besuch seiner Vorlesungen für den Winter vornahm. Hinter jeder dieser Thesen stand, das zeigte sich teils bei der Disputation selbst, teils später in den Vorlesungen, eine gründlich durchdachte Theorie. Besonders freuten wir uns, daß er für die Philosophie keine andere Methode als für die Naturwissenschaft in Anspruch nahm und darauf seine Hoffnungen für

Einführung

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ein Wiedergeburt der Philosophie begründete. Es war eine neue, eine unvergleichlich tiefere und ernstere Auffassung der Philosophie. (Stumpf 1919, 89)

Stumpf bezieht sich hier insbesondere auf die vierte Habilitationsthese, gemäß der die wahre Methode der Philosophie keine andere als die der Naturwissenschaften ist. Die Bedeutung dieser These wird in Brentanos philosophischen Schriften mehrfach bestätigt, etwa in seinem Artikel über die positive Philosophie Comtes, in dem er die Wichtigkeit der Verwendung der induktiven Methode in der Philosophie betont, ebenso wie in „Meine letzten Wünsche für Österreich“, wo er sagt, dass die Methode der Naturwissenschaften „die einzige wahre Methode der Philosophie“ sei (vgl. unten, 233). Auch in seiner Abhandlung „Über die Zukunft der Philosophie“ bezieht sich Brentano wiederholt auf diese These und zitiert einen an ihn gerichteten Brief Stumpfs, in dem dieser ihn daran erinnert, dass es eben diese These gewesen sei, die Anton Marty und ihn selbst davon überzeugt habe, dass die Philosophie eine rigorose Disziplin sei und beide dazu motivierte, philosophische Studien unter seiner Anleitung zu beginnen (vgl. unten, 145). Schließlich sollte auch festgehalten werden, dass die vierte These im Zentrum seiner Philosophie der Geschichte steht, indem sie die beiden Hauptkriterien konstituiert, nach denen Brentano die Zugehörigkeit philosophischer Systeme zu den verschiedenen Phasen der Philosophiegeschichte festlegt. Eine weitere wichtige These, die Brentano in dieser Disputation verteidigte und die in einigen der hier reproduzierten Schriften von besonderem Interesse ist, ist gleich die erste, welche Brentano folgendermaßen formuliert: „Philosophia neget oportet, scientias in speculativas et exactas dividi posse; quod si non recte negaretur, esse eam ipsam jus non esset.“ (3)1 Brentano zielt hier auf Philosophen wie Schelling, denen er die Urheberschaft dieses doppelten Standards der Wissenschaft zuschreibt und ihnen vorwirft, den Ausdruck Wissenschaft zu missbrauchen, den er selbst mit der spekulativen Philosophie verbindet.2 „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“ war Brentanos Antrittsvorlesung an der Universität Wien, gehalten im April 1874. Diese Vorlesung ist von besonderer Bedeutung, da Brentano hier eine Reform der Philosophie vorschlägt und die Hauptlinien eines philosophischen Programms 1

Eine einfache Seitenzahl in runden Klammern bezieht sich auf den Haupttext unten. „Die Philosophie muss protestieren gegen die Einteilung der Wissenschaften in spekulative und exakte; und die Berechtigung dieses Protestes ist das Recht ihrer Existenz selbst.“ (263)

2

Vgl. Brentano (1982), 3. Über die ersten vier Thesen vgl. Sauer (2000).

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Denis Fisette

präsentiert, das er in der kurz darauf publizierten Psychologie vom empirischen Standpunkt systematisch entwickelt. Brentano spricht abermals das Vorurteil an, dass die Philosophie hinsichtlich des wissenschaftlichen Fortschritts eine verzichtbare Disziplin sei und regt statt dessen an, die jungen österreichischen Philosophen zu ermutigen, sich für die Philosophie zu interessieren, indem er sich auf seinen Reformplan beruft, der aus seiner Beschäftigung mit Comtes positiver Philosophie und dem philosophischen Programm des Britischen Empirismus hervorgegangen ist. Er vertritt hier die Auffassung, dass das Zeitalter der Weltanschauungen und der apriorischen Konstruktion großer spekulativer Systeme vorüber sei und dass die Zukunft der Philosophie jenen gehöre, die diese im Geiste der Erfahrungswissenschaften betrieben, also Forschung von unten nach oben und Schritt für Schritt. Brentano beklagt den bedauerlichen wissenschaftlichen Entwicklungsstand der Psychologie im Vergleich zu dem der übrigen Wissenschaften zu dieser Zeit und fragt sich, warum diese weniger schnell voranschreitet als beispielsweise die Physiologie, mit der sie doch eng verbunden ist. Er betrachtet dabei das System der Wissenschaften als eine Hierarchie, an deren einem Ende die Mathematik und am anderen die Psychologie steht, wobei die Klassifikation der Wissenschaften durch die Kriterien der Einfachheit, der Universalität und der einseitigen Abhängigkeit erfolgt, Kriterien, die Brentano direkt von Comte übernimmt. Aus dieser Perspektive gesehen ist die Psychologie die komplexeste aller Wissenschaften und hängt von allen anderen Wissenschaften ab, die ihr vorangehen, nämlich von Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie, mit der sie besonders eng verknüpft ist. Indem Brentano die Psychologie zu dieser Abfolge der Wissenschaften hinzufügt, versucht er zu erklären, warum sie sich zu seiner Zeit noch immer in einem embryonalen Zustand befindet und sich langsamer entwickelt als die Physiologie und die anderen in der Hierarchie über ihr platzierten Wissenschaften, wobei auch die ihr unmittelbar vorangehende Physiologie ihrerseits noch wenig entwickelt sei. Anders als Comte ist Brentano aber davon überzeugt, dass die Krönung der Wissenschaften die Psychologie und nicht die Soziologie ist, da die letztere eine praktische Wissenschaft ist, die wie Ethik und Ästhetik direkt von der Psychologie abhängen. Wie in mehreren anderen Schriften in diesem Band zeigt sich Brentano als Optimist hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Philosophie seiner Zeit, indem er sie, obwohl in einer Übergangszeit befindlich, der ersten, aufsteigenden Phase der Philosophiegeschichte zuordnet. Die Aufgabe einer ausgereiften Psychologie unterscheidet sich nicht von der anderer Wissenschaften und besteht – unter anderem – in der Herleitung allgemeiner Gesetze aus der Beobachtung einzelner Tatsachen.

Einführung

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„Über die Zukunft der Philosophie“ ist der Titel eines Vortrags, den Brentano am 22. März 1892 vor der „Philosophischen Gesellschaft“ an der Universität Wien hielt und der sich mit der Antrittsvorlesung von Adolf Exner als Rektor der Wiener Universität vom 22. Oktober 1891 (Exner 1892) befasste. Exner, ältester Abkömmling der berühmten Wiener Familie Exner3 und Professor an der juridischen Fakultät der Universität Wien, war ebenfalls Mitglied der „Philosophischen Gesellschaft“ und seine Antrittsvorlesung war, wie Brentano in seinem Vortrag erwähnt (vgl. unten, 127), schon einige Monate früher Gegenstand einer Sitzung der „Gesellschaft“ gewesen, an der Brentano nicht hatte teilnehmen können.4 Eine Passage aus seiner Korrespondenz mit Stumpf fasst den Inhalt seines Vortrags mit wenigen Worten zusammen: Gestern Abend musste ich in der philosophischen Gesellschaft wieder einen Vortrag halten. Er währte zwei Stunden, und ich musste die letzte Zeit, da auch meine Kollegien noch im Gange waren, sehr zusammenhalten, um der Aufgabe zu genügen. Ich sprach über die Zukunft der Philosophie mit Rücksicht auf die Inaugurationsrede des diesjährigen Rektors Adolf Exner; es galt erstens seinen Ausspruch, die Herrschaft der Philosophie sei für immer dahin und zweitens seine Behauptung, die naturwissenschaftliche Methode lasse sich nicht auf das Gebiet der Geisteswissenschaften übertragen in eingehender Kritik der Begründung zu widerlegen. Da kam ihr freundlicher Brief mir gerade recht, um ihre Mitteilung über die Weise, wie Sie das Kolleg geschlossen, zu benützen. Der Vortrag machte scheints großen Eindruck und fand lautesten Beifall, trotz des Ansehens, das Adolf Exner genießt.5

Brentano geht hier nochmals auf das Thema der Zukunft der Philosophie ein und stellt zwei Positionen angesichts des Niederganges der idealistischen Systeme zu dieser Zeit gegenüber, nämlich seine eigene optimistische Position und Exners pessimistische Einstellung, die eben die Zukunft der Philosophie und die Möglichkeit, sie durch die Anwendung der in den Naturwissenschaften befürworteten Methoden zu reformieren, in Frage stellt. In der Methodenfrage stellt Brentano eine Beziehung zwischen Exners Position und der von Wilhelm Dilthey 3

Vgl. Karlik / Schmid (1982) und Coen (2007).

4

Bei dieser Gelegenheit antwortete Alois Höfler auf Exners Rede mit der Replik „Über das Verhältnis der politischen zur philosophischen Bildung“. Das Manuskript der Replik befindet sich im Nachlass Höflers, der am Alexius Meinong-Institut der Karl-Franzens-Universität Graz aufbewahrt wird, und trägt die Signatur D.3.5. Zwei weitere aktive Mitglieder der „Philosophischen Gesellschaft“ kommentierten die Diskussion zwischen Brentano und Exner ebenfalls, nämlich Friedrich Jodl (Jodl 1893) und Wilhelm Jerusalem (Jerusalem 1905).

5

Brief von Brentano an Stumpf vom 23. März 1892 (Brentano / Stumpf 2014, 299).

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her und verknüpft sie mit der Kritik, die Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften an ihm geübt hatte.6 Es ist dieser Kontext, in dem Brentano die bekannte Passage aus seiner Korrespondenz mit Stumpf zitiert, in welcher ihn dieser an die Wichtigkeit der vierten These für seine Schüler erinnert. Weiters diskutiert Brentano zwei Argumente Exners, die die erste These (die Herrschaft der Philosophie sei für immer dahin) unterstützen: Das erste Argument beruht auf dem Niedergang des philosophischen Denkens seit der Zeit von Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, während das zweite den Mangel an Anteilnahme und das allgemeine Desinteresse an philosophischen Fragen betont. Brentano versucht im Gegenteil zu zeigen, dass das goldene Zeitalter der Philosophie weder der Zeit der großen idealistischen Systeme angehört noch der der Philosophie Kants, den er noch immer für die „Extravaganzen“ seiner Nachfolger verantwortlich macht. Vielmehr, so argumentiert Brentano, liegt dieses goldene Zeitalter der Philosophie in der unmittelbaren Zukunft und verweist dabei auf die zahlreichen in der „Philosophischen Gesellschaft“ präsentierten Arbeiten als Argumente gegen Exner, die allesamt die Tatsache belegen, dass die Philosophie in Wien in die richtige Richtung fortschreitet (vgl. unten, 132). „Meine letzten Wünsche für Österreich“7 schließlich ist eine Polemik gegen die österreichischen Autoritäten in Sachen Eherecht und zugleich eine Anklage gegen die undankbare und ungerechte Behandlung, die ihm die österreichische Regierung nach dem Verzicht auf seinen Lehrstuhl und seiner Heirat mit Ida von Lieben seit 1880 angedeihen hatte lassen. Erinnern wir uns daran, dass Brentano nicht nur seine akademische Position an der Wiener Universität aufgab, sondern auch die damit verbundene österreichische Staatsbürgerschaft zurücklegte, da die österreichische Rechtsspechungspraxis – im Gegensatz zu den durchaus liberalen Gesetzen – eine Verheiratung ehemaliger Priester praktisch 6

Brentano zitiert gegen Dilthey das Exzerpt einer kritischen Besprechung von Diltheys Buch, die Franz Hillebrand verfasst hatte (vgl. Hillebrand 1884).

7

Brentanos Artikelserie „Meine letzten Wünsche für Österreich“ wurde erstmals in der bekannten liberalen Tageszeitung Neue Freie Presse publiziert (am 2., 5. und 8. Dezember 1894) und erschien im folgenden Jahr als Monographie beim Verlag Cotta in Stuttgart (Brentano 1895). Im Anhang zu diesem Werk ließ Brentano zwei kurze und sehr kontroversielle Artikel zur Eherechtsdiskussion abdrucken: „Dr. Friedrich Maaßen über das Eherecht des ausgetretenen Geistlichen. Replik auf einen Angriff im ,Vaterland‘, Neue Freie Presse, Morgenblatt. Wien, 15. Dezember 1894, 1–3; „Vom Regen in die Traufe. Zweite und letzte Replik auf Angriffe des ,Vaterland‘“, Neue Freie Presse, Abendblatt. Wien, 18. Dezember 1894, 1f. Beide sollen in den nicht-philosophischen Schriften Brentanos (Bd. X dieser Edition) abgedruckt werden.

Einführung

XVII

unmöglich machte. In Übereinstimmung mit der Universität und dem Ministerium entschied Brentano sich wenig später dazu, eine temporäre Herabstufung zum Privatdozenten zu akzeptieren in der Hoffnung, der Minister würde ihn bald rehabilitieren und ihm die Rückkehr auf seinen Lehrstuhl ermöglichen. Trotz vieler falscher Versprechungen mehrerer Minister und trotz der wiederholten Empfehlung seiner Kollegen an der philosophischen Fakultät blieb Brentano für die restlichen vierzehn Jahre in Wien jedoch Privatdozent. Man kann daher mit gutem Recht von Undankbarkeit sprechen, denn trotz seines prekären Status und der Feindseligkeit der Schüler Johann Friedrich Herbarts war es ihm gegen jede Wahrscheinlichkeit gelungen, in Österreich – wie er es selbst bezeichnete – „die Keime echter Philosophie“ zu pflanzen (vgl. unten, 219). Der abschließende dritte Artikel erinnert uns auch daran, dass es Brentanos lange gehegter Wunsch gewesen war, in Wien ein psychologisches Institut zu gründen, und beschreibt die vielen Anläufe, die er zu diesem Zweck bei den österreichischen Autoritäten unternommen hatte. Im Anhang zu seiner Abhandlung „Über die Zukunft der Philosophie“ weist Brentano darauf hin, dass er schon 1874, in seinem allerersten Jahr in Wien, diesen Vorschlag erstmals gemacht habe, und dass zwanzig Jahre später noch immer keinerlei Anstrengungen des Ministeriums in diese Richtung erkennbar waren. Brentano beklagt die Zustände in Wien und vergleicht sie mit anderen Universitäten in Österreich und Deutschland, die bereits über solche Einrichtungen verfügten, wie beispielsweise seine Schüler Alexius Meinong in Graz und Stumpf in Berlin, aber ebenso Wilhelm Wundt in Leipzig, Georg Elias Müller in Göttingen und Theodor Lipps in München. Wie wichtig diese Frage für ihn war, lässt sich auch an der zentralen Rolle ablesen, die das Studium der psychischen Phänomene in seiner Philosophie einnimmt. Denn es waren schließlich die Resultate seiner psychologischen Forschungen, die ihn in die Lage versetzen, philosophische Disziplinen wie Logik, Ethik und Ästhetik zu reformieren, die „losgetrennt von der Psychologie, wie ein vom Stamme losgetrennter Zweig verdorren müßten“ (vgl. unten, 207f.). Brentano weist auch auf die Ergebnisse seiner jüngsten Forschungen auf dem Gebiet der Psychologie hin, die er in seinen Wiener Vorlesungen über deskriptive Psychologie in den späten Achtzigerjahren präsentiert hatte, und betont die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer (bzw. physiologischer) Psychologie. Die erstere, die er auch Psychognosie nennt, hat die Aufgabe, die psychischen Phänomene zu beschreiben und zu analysieren, während die letztere sich mit der kausalen Erklärung dieser Phänomene befasst. Ohne ein psychologisches Laboratorium wären, so argumentiert Brentano, gewisse essentielle Forschungen nicht nur auf dem Gebiet der physiologischen Psychologie, sondern auch auf dem der

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deskriptiven Psychologie zum Scheitern verurteilt. Auch sei man so, wie sich beispielsweise an der Psychologie Herbarts zeige, der jede Erfahrungsgrundlage fehle, der Gefahr zahlreicher Irrtümer ausgesetzt. Obwohl Brentano keine Details über die konkrete Ausgestaltung dieses Instituts nennt, betont er einmal mehr die Notwendigkeit, die Forschung dort auf der Grundlage der naturwissenschaftlichen Methode zu betreiben, was ihren wissenschaftlichen Charakter garantiere; dabei bezieht er sich einmal mehr auf „Über die Zukunft der Philosophie“, wo er darauf hingewiesen hatte, dass diese Methode, die während der aufsteigenden Phasen der Philosophiegeschichte immer die dominierende war, in Wien noch nicht ernsthaft genug befolgt werde. Abschließend deutet Brentano an, dass es ein befremdlicher Vorschlag des Ministeriums gewesen war, der ihn schlussendlich veranlasste, Wien und Österreich im Jahr 1895 zu verlassen. Im Juni 1894 hatte das Ministerium beschlossen, Franz Hillebrand, einen früheren Schüler von Brentano in Wien und von Marty in Prag, ebendort auch Assistent des berühmten Physiologen Ewald Hering, zum Extraordinarius zu machen. Unter der Voraussetzung, dass man einen Privatdozenten nicht über einen Professor stellen könne, sollte Hillebrand die Leitung des psychologischen Laboratoriums übernehmen; Brentano wurde hingegen angeboten – „zum Schaden noch den Spott hinzufügend“ –, dass er neben Hillebrand fungieren könne, als Assistent seines eigenen Schülers. Brentano reagierte daraufhin entrüstet und gab dem Minister eine unmissverständliche Antwort: Sagen Sie dem Herrn Minister, daß ich den mir gewordenen Antrag schlechterdings unannehmbar finde. Was Se. Excellenz mir anbieten zu dürfen glaubt, steht zu dem, was ich nach dem Urteile vielleicht jedes Billigdenkenden zu beanspruchen hätte, in einem solchen Missverhältnisse, daß es scheinen könnte, als wolle man zu dem Schaden, den man mir angetan, auch noch den Spott hinzufügen (223).

Philosophie der Geschichte der Philosophie Die Theorie der vier Phasen in der Philosophiegeschichte, auf der Brentanos Geschichtsphilosophie beruht, ermöglicht es uns, unter anderem zu verstehen, wie sich Brentanos Optimismus hinsichtlich der Zukunft der Philosophie rechtfertigt. „Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand“ ist ein weiterer Vortrag Brentanos, den er zunächst am 28. November 1894 unter dem Titel „Optimismus und Pessimismus“ vor der „Litterarischen Gesellschaft in Wien“ hielt und im folgenden Jahr unter dem erstgenannten Titel publizierte.

Einführung

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In dieser Abhandlung arbeitet Brentano die Prinzipien seiner Geschichtsphilosophie aus, die auf der Theorie der vier Phasen in der Geschichte der Philosophie aufbaut, weshalb sie eine zentrale Rolle einnimmt, wenn wir von der Bedeutung ausgehen, die diese Theorie für die meisten der in diesem Band veröffentlichten Schriften besitzt. Der Ursprung dieser Theorie geht auf die frühen 1860er Jahre und seine Überlegung zu den großen spekulativen Systemen zurück, wie Stumpf in seinen „Erinnerungen“ bestätigt: Diese Idee war Brentano, wie er mir später sagte, zuerst während der Rekonvaleszenz von einer schweren Erkrankung (Ostern 1860) aufgegangen, nachdem er, an der Philosophie fast irre geworden, lange Zeit darüber nachgedacht hatte, was es eigentlich mit den so hohe Ansprüche stellenden und zeitweilig so allgemein bewunderten, dann wieder gänzlich verworfenen Systemen der spekulativen Philosophie auf sich habe. Da sei ihm die Analogie im Verlaufe der philosophischen Bewegung innerhalb jeder der drei Hauptperioden (die er natürlich nicht als unbedingt gültig für alle Zukunft ansah) als ein erleuchtender und rettender Gedanke gekommen. (Stumpf 1919, 89f.)

Dieser Gedanke wird bereits in der frühen Schrift „Geschichte der kirchlichen Wissenschaften“ klar ausgesprochen, welche 1867 als Beitrag zum zweiten Band von Johann Adam Möhlers Kirchengeschichte (Brentano 1867) veröffentlicht wurde, in der Brentano seine Vier-Phasen-Theorie der Philosophiegeschichte auf das Mittelalter anwendet.8 Auch in seiner 1869 publizierten Abhandlung über Auguste Comte befasst er sich mit diesem Thema, indem er dort seine Geschichtsphilosophie mit Comtes Gesetz der drei Stadien vergleicht. Brentanos Theorie der vier Phasen9 beruht auf der Annahme, dass die Regelmäßigkeiten, welche im Ablauf der Geschichte der Philosophie beobachtet werden können, einem Gesetz10 gehorchen, das verlangt, dass jede der drei großen Perioden in der Philosophiegeschichte vier unterscheidbare Phasen 8

Vgl. Gilson (1939).

9

In Twardowski (1999) bietet Kazimierz Twardowski, ein weiterer bedeutender Schüler Brentanos, eine Übersichtsdarstellung von Brentanos Theorie. Vgl. auch Schmidkunz (1896).

10

Brentano spricht von einem „constanten historischen Gesetz“ (in seinem Aufsatz über Comte und die positive Philosophie; vgl. unten, 29) und von „festen Gesetzen“ (im Vortrag über Plotin; vgl. unten, 107), nach denen der graduelle Niedergang der Philosophie sich vollzieht. Der Ausdruck „Gesetz“ taucht auch in seinen Vorlesungen über das Dasein Gottes auf, ebenso wie 1894 in seiner Abhandlung über die vier Phasen, wo er eine gewisse Regelmäßigkeit im Ablauf der Geschichte der Philosophie feststellt und daraus schließt, dass diese Regelmäßigkeit das Vorhandensein von historischen Gesetzen erweist (vgl. unten, 194).

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durchschreitet. Die erste Phase ist aufsteigend und wird charakterisiert durch die grundlegenden Elemente, die in jeder der drei großen Perioden der Philosophie gefunden werden können, etwa bei Anaxagoras und den Ionischen Naturphilosophen, bei Platon und Aristoteles in der Antike, bei Albert dem Großen und Thomas von Aquin im Mittelalter, und bei René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und John Locke in der neuzeitlichen Philosophie. Zwei Kriterien sind es, die Brentano bei seiner Klassifikation anleiten: Das erste ist die induktive Methode der empirischen Wissenschaften, welche, wie wir oben gesehen haben, von seiner vierten Habilitationsthese vorgeschrieben wird. Das zweite Kriterium bevorzugt Philosophen, die die Priorität der theoretischen Vernunft über die praktische anerkennen, oder wie Brentano auch sagt, philosophische Lehren, die weitaus mehr durch theoretische als durch praktische Interessen geleitet werden. Philosophen, die beide Kriterien erfüllen, gehören zu einer aufsteigenden Phase, während andere, die den beiden Kriterien nicht vollständig entsprechen, zu einer der drei absteigenden Phasen der Philosophiegeschichte gehören. Die erste Phase des Niedergangs ist in der Antike durch die Epikureer und die Stoiker verkörpert, im Mittelalter durch Johannes Duns Scotus und den Scotismus, und in der Neuzeit durch die französische und durch die deutsche Aufklärung, wobei die erstere (ihr hervorragendster Repräsentant ist Voltaire) „als eine Verflachung der Lockeschen, diese als eine Verflachung der Leibnizschen Philosophie“ betrachtet werden kann (vgl. unten, 200). Die zweite Phase des Niedergangs ist durch den Skeptizismus charakterisiert und seine hauptsächlichen Vertreter sind der Pyrrhonismus, Wilhelm von Ockham, David Hume und Kant (durch seine Lehre vom unerkennbaren Ding an sich). Der Mystizismus schließlich fällt mit der Phase der extremen Degeneration der Philosophie zusammen und ist charakterisiert durch die Erfindung von völlig unnatürlichen Erkenntnisweisen und von „mystischen Steigerungen des intellektuellen Lebens“: die Phantasie siegt über die Fakten. Seine hauptsächlichen Verteidiger in der Antike sind Plotin (vgl. unten, 216) und der Neuplatonismus; Meister Eckhart, Raimundus Lullus und der Lullismus, sowie Nikolas Cusanus im Mittelalter; und in der Neuzeit schießlich sind es die drei herausragenden Kunsthandwerker des Deutschen Idealismus, nämlich Johann Gottlieb Fichte, Schelling und Hegel. Im Licht dieser Theorie der vier Phasen lässt sich die Frage nach der Zukunft der Philosophie in folgender Weise neu formulieren: Was wird auf die dritte absteigende Phase folgen, die den tiefsten Punkt des Niedergangs der modernen Philosophie markiert? Schon in seiner Würzburg Zeit gibt Brentano einige Antworten darauf, insbesondere in seinem Aufsatz über Comte, wo er behauptet, dass seine Zeit reif sei für „eine positive Behandlung der Philosophie“:

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Unseren Tagen bleibt es vorbehalten, zu einer positiven Behandlung der Philosophie sich zurückzuwenden. Der Ruf danach hat sich laut erhoben, und man hat, teils unter Anknüpfung an die Höhepunkte der Vergangenheit, teils unter Benützung der Fortschritte der Naturwissenschaft, bereits da und dort mit einem schönen Anfange begonnen (30).

Es trifft natürlich zu, dass Brentano kein Positivist im strikten Sinn ist, vor allem wegen seiner metaphysischen Positionen, aber auch wegen seiner harschen Kritik an verschiedenen Versionen des Positivismus, wie sie etwa von Comte, Ernst Mach, Gustav Robert Kirchhoff und John Stuart Mill vertreten wurden.11 Nichtsdestoweniger enthält diese Passage eine klare Diagnose des Zustands der deutschen Philosophie zu dieser Zeit und formuliert die Erfordernis einer durchgreifenden Reform derselben, die Brentano hier als eine Rückkehr zum positiven Geist konzipiert, der den englischen Positivismus und Comtes positive Philosophie charakterisiert. In einigen anderen Schriften entwickelte Brentano weitere Aspekte seiner Philosophie der Geschichte, insbesondere in seinem Vortrag „Zur Methode der historischen Forschung auf philosophischem Gebiet“ (Brentano 1987a), den er im April 1888 anlässlich der Gründung der Wiener „Philosophischen Gesellschaft“ gehalten hatte; er schlägt dort verschiedene methodische Optionen für die historische Forschung und im speziellen für die Interpretation philosophischer Texte vor. Dabei verteidigt Brentano die These, dass nur ein Philosoph über die nötigen Ressourcen verfügt, um die Geschichte seiner Disziplin angemessen behandeln zu können.12 Brentano unterscheidet mehrere 11

In Brentanos Nachlass finden sich auch einige zu verschiedenen Zeiten seines Lebens verfasste Manuskripte, in denen er sich wesentlich kritischer zu Comte äußert, etwa in seiner 1893/94 in Wien gehaltenen Vorlesung „Zeitbewegende philosophische Fragen“. Er vergleicht dort vier Versionen des Positivismus, nämlich den von Comte mit dem Kirchhoffs, bzw. den von Mach mit dem Mills, wobei er zu dem Schluss kommt, dass sich die Letzteren insofern als überlegen zeigen als sie sich eher auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Entwicklungen befinden und dass sie die Psychologie in ihrem Forschungsprogramm berücksichtigen. Noch während seiner Zeit in Italien interessierte sich Brentano sehr für den Positivismus, vgl. etwa Brentano (1988) und Chisholm / Corrado (1982).

12

Vgl. F. Brentano, „Thomas von Aquin“, wobei es sich um eine Gelegenheitsarbeit handelt, die Brentano im März 1908, am Todestag des Aquinaten (Thomas starb am 7. März 1274), geschrieben und einen Monat später in der Neuen Freien Presse veröffentlicht hatte. Brentano argumentiert dort, dass es die eigentliche Absicht von Thomas gewesen sei, die Schriften des Aristoteles zu verstehen, wozu ihn aber nicht philologisch-kritisches Talent, sondern philosophische Kongenialität befähigt hätten (vgl. unten, XXXf. und 253).

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unterschiedliche Wege der Interpretation philosophischer Texte, wobei der wichtigste darin besteht, eine Doktrin mit denen der Vorgänger und Nachfolger zu vergleichen, was vom Interpreten verlangt, „dem Gedanken des Autors philosophierend entgegen[zu]kommen“ (vgl. unten, 88). Genau darin besteht die Methode, die Brentano selbst bei der Interpretation des Aristoteles in seinen späteren Schriften anwendet,13 was eine Bemerkung ganz am Ende von Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes belegt, wo er schreibt: Man muß möglichst dem Geist zu gleichen suchen, dessen unvollkommen ausgesprochene Gedanken man begreifen will. Mit anderem Worte, man muß das Verständnis anbahnen, indem man, ehe man als Historiker abschließt, zunächst selbst philosophierend dem Philosophen entgegenkommt. (Brentano 1911, 165)14

„Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht“ ist der Titel eines Vortrags über den Philosophen Plotin, den Brentano 1876 vor dem „Leseverein der Deutschen Studenten Wiens“ hielt und in dem er seinen philosophischen Standpunkt jenem der Mitglieder des Vereins gegenüberstellt, die mit den Ideen Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers sympathisierten.15 Wie er es zuvor schon in seinem Vortrag über Schelling in Bezug auf den Deutschen Idealismus getan hatte,16 fragt sich Brentano diesmal, wie eine Philosophie wie die Plotins, „die nicht den Namen einer Philosophie verdient“, in der Lage war, ihre Zeit zu prägen, eine Zeit, die „den haltlosesten Träumen mit bewundernder Verehrung lauschen konnte“ (94f.). Das ist das Rätsel, das Brentano sich in seinem Vortrag zu lösen vornimmt. Zunächst bietet er eine ausführliche Biographie Plotins, die sich auf dessen Schüler Porphyrios beruft (Plotins Leben), und versucht dann, Plotin in der Geschichte der antiken Philosophie zu verorten. Bei diesem Vorhaben verwendet er wiederum die Theorie der vier Phasen und behauptet, dass das, was auf Schelling und den Deutschen Idealismus in der neuzeitlichen Philosophie zuträfe, sich auch auf Plotin und die Antike anwenden ließe, nämlich, dass Plotin der fortgeschrittensten 13

Vgl. Fréchette (2017), xxivf.

14

Brentano fasst dort seine Methode der Interpretation folgendermaßen zusammen: „Es besteht dies darin, daß man dem Gedanken des Autors philosophierend entgegenkommt. Das vorzüglich ist der Grund, weshalb nur ein Philosoph ein geeigneter Historiker der Philosophie sein kann. Wie es ja auch wohl kein anderer als ein Mathematiker unternehmen wird, eine Geschichte der Mathematik, kein anderer als ein Chemiker eine Geschichte der Chemie zu schreiben“ (Brentano 1911, 88f.).

15

Vgl. McGrath (1974), 73.

16

Vgl. Brentano (1929).

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Phase des Niedergangs zuzurechnen sei; er verwende weder die richtige Methode noch verfolge er theoretische Interessen und seine Philosophie verliere daher „den Charakter strenger wissenschaftlicher Forschung“ (107), den sie beispielsweise bei seinen Vorgängern Platon und Aristoteles gehabt habe. Die Lehre, die Brentano aus dieser Geschichte und der Tatsache zieht, dass eine Philosophie wie die Plotins, die für ihn ohne jeden wissenschaftlichen Wert ist, ihre Zeit dominieren kann, besteht genau darin, dass diese Philosophie „nur die großartigste Gestalt [war], in welcher das damalige Streben Ausdruck gewann“ (108) – genauso, wie es das Gesetz der vier Phasen für die Geschichte der Philosophie verlangt. „Auguste Comte und die positive Philosophie“ ist die wichtigste Schrift Brentanos aus seiner Würzburger Zeit, misst man sie an der Bedeutung, die der junge Brentano den Forschungen des französischen Philosophen zuschreibt. Ganz in diesem Sinne sagt Brentano in dieser 1869 in der katholischen Zeitschrift Chilianeum publizierten Abhandlung über Comte, dass „kein anderer Philosoph der neuesten Zeit […] in so hohem Maße unsere Beachtung verdiente“, da er „unstreitig einer der hervorragendsten Denker [war], deren unser Jahrhundert sich rühmen kann“ (7). Im selben Jahr hatte Brentano in Würzburg eine Serie von öffentlichen Vorträgen über Comte gehalten,17 und man weiß, dass die veröffentlichte Abhandlung als Auftakt zu einer Abfolge von insgesamt acht Artikeln gedacht war, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Comtes positiver Philosophie befassen sollten. Obwohl Brentano seinen Plan nicht realisierte, sind neben einer Inhaltsübersicht dieses ambitionierten Projektes auch die Entwürfe der anderen Artikel erhalten geblieben, die Brentano über die Philosophie Comtes zu schreiben beabsichtigte.18 Drei dieser Abhandlungen waren Comtes soziologischen Lehren gewidmet und jeweils eine weitere der Ethik und der Religion. Der Grund für den Abbruch dieses Projektes lag allerdings nicht am mangelnden Interesse an Comtes Philosophie, da Brentano in seiner Wiener Zeit dieser weiterhin große Bedeutung bescheinigte;19 vielmehr 17

Vgl. Brentano (1987b).

18

Die Inhaltsübersicht ist abgedruckt in Werle (1989), 37.

19

Eine Passage aus seiner anonym puplizierten Besprechung des Buches seines Schwagers Théophile Funck-Brentano La civilisation et ses lois, morale sociale bestätigt, dass die Hochschätzung Brentanos für den französischen Philosophen zumindest bis 1876 intakt blieb. Brentano geht sogar so weit, Comte mit Descartes und Leibniz zu vergleichen, die, wie wir gesehen haben, zu einer aufsteigenden Phase der Philosophiegeschichte gehören: „Das Volk, welches in Descartes der modernen Speculation den ersten Anstoß gegeben, schien lange Zeit wie durch eine Frühgeburt erschöpft.

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ist er in den Schwierigkeiten zu suchen, denen Brentano beim Studium von Comtes philosophischen Lehren begegnete, insbesondere bei den Fragen der Religion und des Theismus im Allgemeinen, d. h. bei der Problematik der Kompatibilität des Theimus mit einer als Wissenschaft aufgefassten Philosophie. Diese Vermutung wird von Brentano selbst in einem Brief an Mill vom 15. Februar 187120 bestätigt, wo er diesem gesteht, dass die „Unreife seiner neuen Anschauungen“ zur Aufgabe des Projekts geführt habe. Es sind eben jene neuen Ideen, auf denen das philosophische Programm aufbaut, das er zwei Jahre später bei seiner Antrittsvorlesung an der Universität Wien präsentieren sollte, und die er in seinem kurz darauf erschienen Hauptwerk Psychologie vom empirischen Standpunkt im Detail ausarbeitet. Es herrscht Übereinstimmung darin, dass es Mills Schrift Auguste Comte and Positivism war, die Brentanos Aufmerksamkeit auf Comtes Philosophie lenkte, was er auch in dem oben erwähnten Brief an Mill bestätigt. In diesem Brief anerkennt Brentano seine Verpflichtung Mills wissenschaftlichem Werk gegenüber und dankt ihm dafür, dass er ihn auf Comte und mehrere englische Philosophen hingewiesen und so die Hoffnung für die Philosophie neu in ihm erweckt habe. In der veröffentlichten Abhandlung untersucht Brentano einige Aspekte von Comtes positiver Philosophie, wobei er sich hauptsächlich auf die erste Vorlesung seines Cours de philosophie positive bezieht. Der Begriff des Phänomens, Die Niederlande, England, Deutschland führten in Spinoza, Locke, Leibnitz und ihren Nachfolgern die Philosophie zu weiterer Entwicklung; Frankreich sah müßig zu oder spielte nur mit den Ideen, die es dem Auslande entlehnte, mannichfach combinirte und mit rednerischem Schmucke umkleidete. Aber unmöglich konnte eine begabte Nation, die in allen anderen Fragen für Europa den Ton anzugeben liebt, sich auf dem höchsten Gebiete für immer mit einer so bescheidenen Rolle begnügen. Und so ist in der That in neuester Zeit in A. Comte ein Denker aufgetreten, dem weder der begeisterte Eifer für die erhabensten Fragen, noch auch die scharfsinnige Kraft zur Verkettung der Ideen fehlte, welche den wahrhaft großen Philosophen über die Masse niedriger Geister emporheben. Mill scheut sich nicht, ihn Descartes und Leibnitz an die Seite zu stellen, ja er nennt ihn diesen überlegen, „wenn nicht“, sagt er, „innerlich, zum mindesten darum, weil es ihm vergönnt war, über eine gleiche geistige Kraft in einer vorgeschritteneren Cultur-Epoche zu verfügen.“ Brentano (2011), 3. 20

Das Manuskript dieses unveröffentlichten Briefes Brentanos an Mill befindet sich unter der Signatur BrL 1490 im Nachlass Brentanos an der Houghton Library der Harvard University (Cambridge, MA); das Faksimile des Briefes ist online über das Franz Brentano-Archiv Graz zugänglich. Die beiden anderen erhaltenen Briefe Brentanos an Mill (14. November 1872 bzw. 19. Januar 1873) sind abgedruckt in Valentine (2017), wobei die Transkription und Edition der Briefe von Wilhelm Baumgartner stammt.

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so wie Comte ihn verwendet, ist für Brentano besonders wichtig im Hinblick auf die zentrale Rolle, die er in seiner eigenen Psychologie einnimmt, wo er sowohl den Gegenstand der Psychologie als auch den der Naturwissenschaften bezeichnet. Brentano argumentiert, dass sich die Vorliebe des Positivismus für die Phänomene als Gegenstand der Wissenschaften aus der Ablehnung erklärt, die Comte und andere Positivisten traditionellen Erklärungsmodellen angedeihen lassen, welche auf obskure Eigenschaften und verborgene Ursachen zurückgreifen. Unser Wissen beschränkt sich auf Beziehungen zwischen Dinge, genauer auf die Beziehungen der zeitlichen Sukzession und der Analogie, welche die Phänomene miteinander verbinden, und die Hauptaufaufgabe der Wissenschaft besteht wesentlich darin, die allgemeinen Gesetze zu formulieren, die diese Beziehungen beherrschen. Brentano betont insbesondere die Bedeutung von Comtes Gesetz der drei Stadien, dem die Entwicklung des menschlichen Geistes und die Geschichte im allgemeinen folgt, wobei er feststellt, dass dieses, mit gewissen auf seiner Theorie der vier Phasen beruhenden Modifikationen, aufrecht erhalten werden könne. Allerdings kritisiert Brentano den linearen Charakter von Comtes Geschichtsphilosophie und wirft ihm vor, die Phasen des Niedergangs in der Geschichte der Philosophie zu ignorieren, „der zeitweise die Fortschritte mancher Wissenschaften unterbricht“ (29). Wir sahen, dass Brentanos Theorie einen mehr zyklischen Charakter besitzt, indem sie sich gleichermaßen auf die drei großen Traditionen in der Philosophiegeschichte anwenden lässt. So durchschreitet die alte Philosophie ebenso wie die mittelalterliche notwendigerweise ein – um mit Comte zu sprechen – theologisches und ein metaphysisches Stadium, bevor sie das positive Stadium erreicht, dessen Höhepunkt in der Antike die Philosophie des Aristoteles und im Mittelalter die des Thomas markiert. Deshalb kann beispielsweise Aristoteles, obwohl er von gewissen metaphysischen Auffassungen etwa in seiner Konzeption der Seele noch nicht frei ist, als ein positiver Forscher im Sinne Comtes betrachtet werden.21 Das Gebiet, auf dem Comte einen bleibenden Einfluss auf Brentano ausübt, ist seine Klassifikation der Wissenschaften. Comtes Klassifikation beruht auf dem Grad der Allgemeinheit, Einfachheit und logischen Abhängigkeit der Phänomene, welcher, wie wir oben sahen, das Objekt der Untersuchung einer Wissenschaft konstituiert. Brentanos hauptsächliche Kritik ganz am Ende seiner Abhandlung besteht darin, dass Comte die Legitimtät zweier zentraler philosophischer Disziplinen nicht anerkennt, nämlich die der Metaphysik und der Psychologie: 21

Vgl. Münch (1989) und Fisette (2014).

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[Comte hat] die psychologischen und die im gewöhnlichen Sinne metaphysischen Forschungen, wie er sie überhaupt nicht zu ihrem vollen Rechte kommen läßt, auch in der Geschichte nicht genug beachtet. Vielleicht ist dieser Zweig des Wissens aber um so mehr geeignet, zu zeigen, wie sich überall seine Lehre von den drei Entwicklungsphasen bewahrheitet findet, wenn man sie nur in der richtigen Weise auf die Geschichte einer Wissenschaft anwendet. (30)

Und in der Tat, die meisten der konstruktiven Elemente in seinem Artikel über Comte sind Teil von Brentanos Programm einer Psychologie als Wissenschaft, das er in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt weiterentwickelt und das den Forschungen während seiner Wiener Zeit zugrunde liegt.

Rezensionen und Gelegenheitsarbeiten „Der Atheismus und die Wissenschaft“ (Brentano 1873) wurde ursprünglich anonym in dem katholischen Journal Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland veröffentlicht. Brentano verfasste diesen Text nach einer turbulenten Phase in seinem Leben, nämlich nach seiner Glaubenskrise, die um 1869 mit seiner kritischen Reflexion der von Pius IX. betriebenen Dogmatisierung der päpstlichen Infallibilität begann und 1873 in der Niederlegung des Priesteramtes und der kurz darauf erfolgten Resignation von seiner Position als Professor der Universität Würzburg resultierte. In dem schon erwähnten Brief an Mill vom Februar 1872 vergleicht Brentano sich mit Comte, dem von seinen Kritikern ebenfalls der Vorwurf des Atheismus entgegengehalten worden war, und vermutet, dass diese Anschuldigungen höchstwahrscheinlich durch die Tatsache ermuntert wurden, dass Mill und andere Anhänger der „Schule der exakten Wissenschaften“ in seinen Würzburger Vorlesungen einen prominenten Platz einnahmen, insbesondere in den schon erwähnten Vorträgen über Comte.22 Brentano versucht, sich in „Der Atheismus und die Wissenschaft“ gegen solche Angriffe zu verteidigen, indem er ein Feuilleton, das in der Wiener Tageszeitung Die Tages-Presse publiziert worden war, kritisch diskutiert; den Namen des Autors und weitere Informationen zu dieser Veröffentlichung bleibt Brentano freilich schuldig. Brentano unternimmt es, die These zu widerlegen, dass nur eine 22

Es sei hier in Erinnerung gerufen, dass der junge Brentano in der Abhandlung über Comte seine katholischen Leser von der Durchführbarkeit einer positiven Philosophie im Sinne Comtes zu überzeugen versucht, indem er zugleich zeigt, dass sie keine Gefahr für den Theismus darstellt. Das erklärt vielleicht auch seine konziliante Einstellung zu Comtes Positivismus sogar dort, wo dieser Positionen vertritt, die sich, wie beispielsweise im Falle von Religion, Metaphysik und Psychologie, signifikant von seinen eigenen unterscheiden.

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materialistische Konzeption der Welt wissenschaftlich sein kann und dass die Hypothese von Gott als Schöpfer dieser Welt, auf der Brentanos Theismus aufbaut, schlicht absurd sei. Mit anderen Worten, der Autor stellt die Kompatibilität des Theismus mit einem philosophischen Programm wie Brentanos Philosophie als Wissenschaft in Frage. Sein Hauptargument gegen die Hypothese der Vereinbarkeit besteht darin, dass sie nichts anderes sei als eine Spielart des Anthropomorphismus, insofern sie Produkt unseres eigenen Denkens ist. Brentano hält dem ungenannten Verfasser entgegen, dass man aus dem Anthropomorphismus oder der Überlegung, dass unsere Vorstellungen Gott niemals repräsentieren können, nicht auf die Nichtexistenz Gottes schließen könne. Worum es hier gehe, betreffe nur unsere Unfähigkeit zu wissen, was etwas in sich selbst ist, weshalb es sich um eine erkenntnistheoretische und nicht um eine ontologische Hypothese handle. Nach Brentanos Ansicht kann also von der Unmöglichkeit zu wissen, was ein Ding seinem Wesen nach ist, nicht auf seine Nichtexistenz geschlossen werden. Genau darin besteht die These von der Relativität des Wissens, welche zu dieser Zeit von Comte und der englischen Schule vertreten wurde und der Brentano in dieser Schrift große Bedeutung beimisst. Brentano wirft seinem Gegner vor, diese These und ihre Auswirkungen auf den Theismus nicht verstanden zu haben und weist darauf hin, dass auch Comte der Vereinbarkeit des Theismus mit der These der Relativität des Wissens beipflichte: Er erkläre daher auch keineswegs die Überzeugung von der Nichtexistenz eines schöpferischen Gottes für die allein vernünftige Weltanschauung. Er behaupte nur, daß die bisherigen theistischen Versuche theils unzulänglich, theils mit Widersprüchen behaftet seien (42).

Eine andere Behauptung seines Gegners, die Brentano in seiner Polemik zu widerlegen versucht, betrifft die Unverträglichkeit des Theismus mit der Evolutionstheorie Charles Darwins. Brentano tadelt ihn dafür, die Bedeutung dieser Unvereinbarkeit nicht dargelegt und die Frage unbeantwortet gelassen zu haben, ob der Prozess der Evolution einen Anfang und ein Ende habe. In diesem Zusammenhang beruft er sich auf das Gesetz der Wechselwirkung der Naturkräfte und auf die darauf bezüglichen Werke von Hermann von Helmholtz und Adolf Fick. Wir wissen auch, dass Brentano die Arbeiten Ficks in einem Vortrag diskutiert, den er 1869 unter dem Titel „Die Gesetze der Wechselwirkung der Naturkräfte und ihre Bedeutung für die Metaphysik“ an der Universität Würzburg gehalten hatte.23 Dieser Vortrag reflektiert über den Platz 23

Dieser Vortrag wurde erst kürzlich von Guillaume Fréchette transkribiert und ediert (vgl. Brentano 2016). 1879 hat Brentano diesen Vortrag in Wien nochmals gehalten (vgl. Brentano / Stumpf 2014, 193f.).

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der Metaphysik im Kontext der zeitgenössischen Naturwissenschaften, was Brentano mit dem Versuch verbindet, einen kosmologischen Beweis für die Existenz Gottes (und somit für die Wahrheit des Theismus) zu konstruieren, der auf dem Gesetz der Entropie beruht. Darüber hinaus diskutiert Brentano weitere Behauptungen seines Gegners wie die, dass der Theismus eine Bedrohung für die Moral und eine Gefahr für den wissenschaftlichen Fortschritt darstelle, und dass allein die atheistische und materialistische Konzeption der Welt monistisch sei, während die theistische Weltanschauung einer Art Dualismus anhänge. Auf diesen letzteren Einwand antwortet Brentano, dass in Wahrheit nur der Theismus monistisch sei, da „nur er die Gesammtheit der Erscheinungen aus einer einheitlichen letzten Ursache ableitet“ (50). „Herr Horwicz als Rezensent. Ein Beitrag zur Orientierung über unsere wissenschaftlichen Kulturzustände“ ist eine kurze Replik auf eine kritische Besprechung seiner Psychologie durch den Philosophen und Psychologen Adolf Horwicz, in der dieser Brentano vorwirft, seine Lehren misszuverstehen (vgl. Horwicz 1874). Brentano wirft nun seinerseits Horwicz ein Missverständnis vor, denn dieser hatte ihn beschuldigt, dass er die Konzeption eines unbewussten Bewusstseins verteidige, während Brentano einen großen Teil des zweiten Buches seiner Psychologie dazu benutzt, genau das Gegenteil zu bewiesen. Horwicz hatte auch Brentanos Bemerkungen in § 5, Kapitel III des ersten Buches der Psychologie zurückgewiesen, wo ihn Brentano dafür tadelt, die Dienste, die die Physiologie sowohl in methodologischer als auch erkenntnistheoretischer Hinsicht für die Psychologie leisten könne, zu überzubewerten. Diese Kritik ist auch auf andere Philosophen und Naturwissenschaftler übertragbar, namentlich auf Helmholtz und Wundt, denen Brentano in einem Anhang zu „Über die Zukunft der Philosophie“ vorwirft, ein hysteron proteron zu begehen. Dieser Einwand ist klar formuliert in jener bekannten Passage, in der Brentano die Arbeit eines Philosophen des Geistes mit dem Führen eines Skalpells vergleicht: Eine weitere Verkehrtheit, die damit zusammenhängt, ist das Hysteron-Proteron, welches man begeht, indem man die Genesis psychischer Erscheinungen begreifen will, ohne sie an und für sich noch ordentlich betrachtet und beschrieben zu haben; es ist dies, wie wenn einer die Physiologie ohne anatomische Vorstudien betreiben zu können glaubte. Trotzdem pflegen gerade Naturforscher häufig in diesen Fehler zu fallen, weil bei der Analyse psychischer Erscheinungen in ihre Elemente weniger als bei der genetischen Psychologie mit dem Seziermesser gearbeitet werden kann (181).

Weiters argumentiert Brentano, dass die Analyse und Beschreibung der psychischen Phänomene gegenüber ihrer Erklärung durch die Physiologie methodo-

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logische Priorität besitzt und dass die einzige mögliche Zugangsweise zu diesen Phänomenen, die sich den Philosophen eröffnet, die innere Wahrnehmung ist, wobei die Gegenstände der Untersuchung, die intentionalen Phänomene, die Psychologie von den anderen Wissenschaften abheben, die sich mit den physischen Phänomenen befassen. Immerhin gesteht Brentano Horwicz zu, dass er nicht in denselben Fehler verfalle wie Comte und das Selbstbewusstsein als Erkenntnisquelle schlicht und einfach zurückweise, kritisiert ihn aber andererseits dafür, dieses als „wissenschaftliche Selbstbeobachtung“ zu konzipieren, was Brentano mit Comte in seiner Psychologie kategorisch ausschließt. „Miklosich über subjektlose Sätze“24 ist die Besprechung der zweiten Auflage eines Buches des bedeutenden slowenischen Slawisten und Philologen Franz v. Miklosich, der in Österreich Karriere machte und Brentanos Kollege an der philosophischen Fakultät der Universität Wien war. Brentano argumentiert hier, dass Miklosichs Auffassung von Sätzen wie „es regnet“ seine eigene Konzeption der Logik bzw. seine Reform der Logik bestätigt, die in der Hauptsache auf der Reduktion von kategorischen auf existeziale Urteile aufbaut. In diesem Zusammenhang erwähnt Brentano die Positionen Herbarts, Sigwarts, Heymann Steinthals und Friedrich Adolf Trendelenburgs hinsichtlich der Natur des Urteils und stellt die Behauptung auf, dass die subjektlosen Sätze ein unlösbares Problem für die traditionelle Urteilstheorie darstellen, die das Urteil als Synthese eines Subjekts und eines Prädikats auffasst. Urteilen dieser Form scheint jedes Subjekt zu fehlen und ihre Bedeutung daher eher in der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung von Tatsachen zu liegen. Miklosich legt in Brentanos Augen überzeugend dar, dass die Konzeption eines sogenannten Subjekts im Falle dieser Urteilsform eine Verlockung darstellt, insofern sie nicht in Ausdrücken einer Verbindung oder Synthese eines Subjekts und eines Prädikats aufgefasst werden darf, sondern eben, wie Miklosisch meint, als subjektlose Sätze. Brentano stimmt dieser von Miklosich vorgeschlagenen Lösung zu, da sie seine eigene Konzeption der Logik untermauert. Die existentiale Reduktion der Urteile, wie Brentano sie in seiner Psychologie 24

Die Rezension war ursprünglich in der Wiener Zeitung veröffentlicht worden (Nr. 261/62 vom 13. und 14. November 1883). Einige Jahre später wurde sie als Beilage zu Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (Brentano 1889, 109–122) nochmals abgedruckt. In den Fußnoten zum Ursprung geht Brentano auf die zahlreichen Kritiken an Miklosichs Werk ein, insbesondere auf die, die sein Schüler Anton Marty in einer Reihe von Abhandlungen „Über subjektlose Sätze und das Verhältnis der Grammatik zur Logik“ (ursprünglich veröffentlicht in Marty 1884/1885) geäußert hatte sowie auf die harsche Kritik von Christoph Sigwart in Sigwart (1888).

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vertritt, findet daher in Miklosichs Werk über die Impersonalia eine weitere Bestätigung: Die Anwendbarkeit der subjectlosen Form dürfte vielmehr streng genommen eine unbegrenzte sein, indem, wie ich schon in meiner Psychologie nachgewiesen zu haben glaube, jedes Urteil, möge es in kategorischer oder hypothetischer oder disjunktiver Form ausgesprochen werden, sich ohne die geringste Änderung des Sinnes auch in die Form eines subjektlosen oder, wie ich mich ausdrückte, eines Existentialsatzes kleiden läßt. So ist der Satz: irgend ein Mensch ist krank, synonym mit: es giebt einen kranken Menschen; und der Satz: alle Menschen sind sterblich, synonym mit: es giebt nicht einen unsterblichen Menschen, u. dgl. (120).

Brentano weicht allerdings in einigen weniger bedeutenden Punkten von Miklosich ab, insbesondere was die Bedeutung und den Geltungsbereich der impersonalen Form auf dem Gebiet der Logik betrifft. Brentano argumentiert, dass alle impersonalen Urteile existentiale Urteile sind und dass, wenn wir die These von der Reduzierbarkeit aller Urteile auf existentiale Urteile, d. h. auf die einfache Form von Anerkennung und Zurückweisung der Existenz eines Objekts, akzeptieren, wir auch akzeptieren müssen, dass subjektlose Sätze sowohl in der Logik als auch in der gewöhnlichen Sprache uneingeschränkt verwendet werden können. Zwei Schriften dieser Abteilung befassen sich mit Thomas von Aquin, dessen Kommentare zu Aristoteles eine wesentliche Quelle der Inspiration für Brentano darstellen. Die eine ist ein Essay, den er 1908 am 7. März, dem Todestag des Aquinaten (Thomas starb am 7. März 1274), verfasst hatte, und in der Tageszeitung Neue Freie Presse publizierte. Brentano beginnt mit einer kurzen Biographie, anhand derer er feststellt, dass die Vermischung von Rassen, wie wir sie bei großen Philosophen wie Thomas von Aquin (die deutsche und die italienische, wie bei Brentano selbst), Leibniz und Albert dem Großen finden, „eine der Entwicklung großer Talente günstige Bedingung“ darstelle (vgl. unten, 249). Daran anschließend stellt er sich dann die Frage, ob Albert und Thomas in ihren Aristoteles-Kommentaren versuchten, über den Stagiriten hinauszugehen oder ob ihre wahre Absicht schlicht darin bestand, die bestmögliche Interpretation seiner philosophischen Schriften zu geben. Brentano schlägt die folgende Antwort vor: Nein, die beiden großen mittelalterlichen Kommentatoren des Aristoteles strebten wirklich nur nach seinem Verständnis; [...] Und sie sind auch nicht bei diesem Streben auf glückliche oder unglückliche Abwege geraten, sondern

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haben vielmehr ihre Aufgabe so vollkommen gelöst, daß heute noch kein anderer Kommentar, weder unter jenen, welche wir aus der antiken Zeit, noch denen, welche wir von modernen, mit mancherlei philologischen Kunstmitteln ausgestatteten Erklärern besitzen, besser oder nur gleich gut wie sie in die schwierigsten Lehren des Aristoteles einzuführen vermag. (253)

Brentano untersucht daraufhin die Methoden, die den beiden großen mittelalterlichen Philosophen für diese Aufgabe der Interpretation der oben erwähnten philosophischen Texte zur Verfügung standen, und vertritt die These, dass, obwohl die eigentliche Absicht von Thomas darin bestand, die Schriften des Aristoteles zu verstehen, er dies nur als der herausragende Philosoph, der er selbst war, erfolgreich zu leisten imstande war. Andererseits aber bediente er sich einer Methode, welche, wo es sich um karge, oft knappe, oft fragmentarische, im einzelnen mehrdeutige Aeußerungen handelt, wie sie uns in den aristotelischen Werken vorliegen, allein von Erfolg gekrönt sein kann. Thomas hat immer das Ganze der aristotelischen Lehre vor Augen, in der ja sein eigenes Denken lebt und webt, und sucht die Teile aus dem Ganzen zu begreifen. Er beachtet von jedem die eigentümliche Funktion und führt sie zu ihren Folgerungen: er weiß es wie Cuvier, aus dem Befund eines einzelnen Organes ein anderes hinzugehöriges vorzuahnen. Dies verlangt freilich mehr als ein philologisch-kritisches Talent; es bedarf dazu einer philosophischen Kongenialität. (253)

Im zweiten Teil des Essays (vgl. unten, 254f.) befasst sich Brentano mit einer Serie von Verboten, denen die von den Arabern überlieferten Schriften des Aristoteles seit dem Dekret von 1210 ausgesetzt waren, das deren Studium untersagte und kommentiert Thomas’ Reaktion darauf. Brentano betont, dass es gerade die Anstrengungen von Thomas und Albert waren, die der damals einsetzenden philosophischen Reformbewegung zum Durchbruch verhalfen. Am Ende seines Essays erinnert Brentano daran, dass im Jahre 1277 Etienne Tempier, damals Bischof von Paris, am Todestag des Aquinaten zwanzig seiner Thesen als häretisch verdammte und allen mit der Exkommunikation drohte, welche es wagten, sie zu verteidigen. Der zweite Text zu Thomas ist eine kurze Rezension eines Buches von Johannes Delitzsch über dessen Gotteslehre. Brentano steht sowohl dem ersten Teil des Buches, in dem der Autor die Theologie des Aquinaten darlegt, als auch dem zweiten Teil, in dem er sie kritisch analysiert, ablehnend gegenüber. Es wird daher nicht ganz klar, warum er abgesehen von seiner Zustimmung zu den Ehrentiteln, mit denen Delitzsch den Doctor Angelicus glorifiziert, in diesem Werk einen signifikanten Beitrag zur Wiederbelebung der Philosophie des Thomas und der Scholastik sehen konnte, wie er es am Beginn seiner Rezension tut.

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Der abschließende in Briefform gehaltene Text „Über voraussetzungslose Forschung“ artikuliert Brentanos Position im sogenannten „Fall Spahn“. Im Jahr 1901 entschied der preußische Kulturminister Friedrich Althoff, an der Universität Straßburg einen zweiten Lehrstuhl für Geschichte einzurichten und diesen mit dem Katholiken Martin Spahn zu besetzen. Die Absicht dahinter war eine politische: Es ging darum, eine Fakultät für katholische Theologie zu schaffen, die nicht vom Klerus, sondern von der Politik des Deutschen Reiches kontrolliert wurde. Um sich in dieser Angelegenheit die Kooperation des Vatikans zu sichern, hatte Althoff im Geist des Kompromisses die Initiative ergriffen und einige Katholiken auf Lehrstühle der Universität berufen, darunter auch Spahn. Diese Vorgangsweise wurde von vielen Universitätslehrern als Gefährdung des Prinzips der „voraussetzungslosen Forschung“ im Sinne von vorurteilsfreier Forschung kritisiert und führte in den meisten deutschen Zeitungen zu einer lebhaften Debatte über diese Problematik und ihre politische Dimension. Die Verteidiger des Prinzips der Vorurteilsfreiheit wurden vor allem von dem Historiker Theodor Mommsen und von Brentanos Bruder, dem Ökonomen Lujo Brentano repräseniert. Die Hauptfigur auf der anderen Seite dieser Auseinandersetzung war Georg von Hertling, Brentanos Cousin und zukünftiger deutscher Reichskanzler, der Althoffs Position zu rechtfertigen versuchte – an diesen ist Brentanos Brief gerichtet.*

Literaturverzeichnis Brentano, Franz (1867): „Geschichte der kirchlichen Wissenschaften.“ In: J. A. Möhler, Kirchengeschichte. Bd. II. Hg. v. P. B. Gams. Regensburg: G. J. Manz, 526–584. Brentano, Franz (1873): „Der Atheismus und die Wissenschaft“. Historischpolitische Blätter für das katholische Deutschland, Bd. 72, 853–872 u. 916– 929. Brentano, Franz (1895): Meine letzten Wünsche für Österreich. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Brentano, Franz (1911): Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes, Leipzig: Veit (1911). *

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Binder.

Einführung

XXXIII

Brentano, Franz (1929): „Über Schellings Philosophie“. In: F. Brentano, Über die Zukunft der Philosophie. Mit Anm. hg. v. O. Kraus. Leipzig: Meiner, 101–132. Brentano, Franz (1982): Deskriptive Psychologie. Hg. v. R. M. Chisholm u. W. Baumgartner. Hamburg: Meiner. Brentano, Franz (1987a): „Zur Methode der historischen Forschung auf philosophischem Gebiet“. In: F. Brentano, Geschichte der Philosophie der Neuzeit. Hg. v. K. Hedwig. Hamburg: Meiner, 81–94. Brentano, Franz (1987b): „Auguste Comte und die positive Philosophie“. In: F. Brentano, Geschichte der Philosophie der Neuzeit. Hg. v. K. Hedwig. Hamburg: Meiner, 246–294. Brentano, Franz (1988): Über Ernst Machs „Erkenntnis und Irrtum“. Hg. v. R. M. Chisholm u. J. Ch. Marek, Amsterdam: Rodopi 1988. Brentano, Franz (2011): „Der neueste philosophische Versuch in Frankreich“. In: F. Brentano, Sämtliche veröffentlichte Schriften. Bd. 3: Schriften zur Ethik und Ästhetik. Hg. v. Th. Binder u. A. Chrudzimski. Frankfurt et al.: ontos. Brentano, Franz / Stumpf, Carl (2014): Franz Brentano-Carl Stumpf: Briefwechsel 1867–1917. Hg. v. M. Kaiser-el-Safti unter Mitarbeit v. Th. Binder. Frankfurt: Peter Lang. Brentano, Franz (2016): „Die Gesetze der Wechselwirkung der Naturkräfte und ihre Bedeutung für die Metaphysik.“ In: G. Fréchette (ed.), Metaphysics, Natural Sciences, and Psychology. Dettelbach: Röll, 27–56. (= Brentano Studien XIV) Chisholm, Roderick M. / Corrado, Michael (eds.) (1982): „The BrentanoVailati Correspondence“. Topoi, Vol. 1, 3–30. Coen, Deborah R. (2007): Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism, and Private Life. Chicago: University of Chicago Press. Delitsch, Johannes (1870): Die Gotteslehre des Thomas von Aquin. Leipzig: Dörffling und Francke. Exner, Adolf (1892): Über politische Bildung. Rede gehalten bei der Übernahme der Rektorswürde an der Wiener Universität. Leipzig: Duncker & Humblot. Fisette, Denis (2014): „Franz Brentano et le positivisme d’Auguste Comte“. Cahiers philosophiques de Strasbourg, Bd. 35, 85–128. Fréchette, Guillaume (2017): „Einführung“. In: F. Brentano, Aristoteles und seine Weltanschauung. Sämtliche veröffentlichte Schriften, Bd. VII. Hg. v. Th. Binder u. A. Chrudzimski. Berlin/Boston: De Gruyter (2017), xi–xl. Gilson, Étienne (1939): „Franz Brentano’s Interpretation of Mediaeval Philosophy“. Mediaeval Studies, Bd. 1, 1–10

XXXIV

Denis Fisette

Hillebrand, Franz (1884): „Über einen neuen Versuch zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Wilhelm Diltey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der geschichte. I. Bd. Leipzig, Duncker u. Humlot 1883.“ Zeitschrift für das privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 11. Bd., Nr. 3, 632–641. Horwicz, Adolf (1874): „Das Verhältniss der Psychologie zur Physiologie. Kritik und Antikritik.“ Philosophische Monatshefte, X. Bd., Nr. 6, 261–274. Jerusalem, Wilhelm (1905): „Über die Zukunft der Philosophie“. In: W. Jerusalem, Gedanken und Denker. Gesammelte Aufsätze. Wien: Braumüller, 13–25. Jodl, Friedrich (1893): „Über das Wesen des Naturrechts und seine Bedeutung für die Gegenwart“. Juristische Vierteljahrsschrift, Bd. 25, Heft 1. Wiederabgedruckt in: F. Jodl, Vom Lebenswege. Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Zweiter Band. Hg. v. W. Börner. Stuttgart / Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger (1917), 66–86. Karlik, Berta / Schmid, Erich (1982): Franz Serafin Exner und sein Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Physik in Österreich. Wien: Verlag der Akademie der Wissenschaften. Marty, Anton (1884/85): „Über subjektlose Sätze und das Verhältnis der Grammatik zur Logik und Psychologie“. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 8 (1884), 56–94, 161–192, 292–340; Bd. 18 (1894), 320–356, 421–471; Bd. 19 (1895), 19–87, 263–334. McGrath, William J. (1974): Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven: Yale University Press. Miklosich, Franz (1883): Subjektlose Sätze. 2. Aufl. Wien: Braumüller. Münch, Dieter (1989): „Brentano und Comte“. Grazer philosophische Studien, Bd. 35, 33–54. Sauer, Werner (2000): „Erneuerung der Philosophia Perennis: Über die ersten vier Habilitationsthesen Brentanos.“ Grazer philosophische Studien, Bd. 58/59, 119–149. Schmidkunz, Hans (1896): „Ein Gesetz der Philosophiegeschichte“. Westermanns illustrierte Deutsche Monatshefte, Bd. 79, 225–229. Siegwart, Christoph (1888): Die Impersonalien, eine logische Untersuchung. Freiburg: J. C. B. Mohr. Stumpf, Carl (1919): „Erinnerungen an Franz Brentano.“ In: O. Kraus (Hg.), Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. Mit Beiträgen von Carl Stumpf und Edmund Husserl. München: C. H. Beck, 87–149. Twardowski, Kazimierz (1999): „Franz Brentano and the History of Philosophy.“ In: K. Twardowski, On Actions, Products and Other Topics of Philosophy. Ed. by J. L. Brandl u. J. Woleński. Amsterdam: Rodopi, 243–253.

Einführung

XXXV

Valentine, Elizabeth (2017): „British sources in Brentano’s Psychology from an Empirical Standpoint (1874), with special reference to John Stuart Mill. With an appendix: two unpublished letters of Franz Brentano to J. St. Mill.“ In: W. Baumgartner / K. Hedwig, Der frühe Brentano. Dettelbach: Röll, 291–328. (= Brentano Studien XV/1) Werle, Josef M. (1989): Franz Brentano und die Zukunft der Philosophie. Studien zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssystematik im 19. Jahrhundert. Amsterdam / Atlanta: Rodopi.

Editorische Vorbemerkung Dem vorliegenden Band kommt dadurch besondere Bedeutung zu, dass einige der darin enthaltenen Texte seit ihrem ursprünglichen Erscheinen das erste Mal einen Wiederabdruck erfahren, und zwar die Rezension des ThomasBuches von Johannes Delitzsch, die beiden Schriften „Der Atheismus und die Wissenschaft“ und „Herr Horwicz als Rezensent“, und vor allem Brentanos in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvolle Abrechnung mit den „Wiener Zuständen“: Meine letzten Wünsche für Österreich. Auch dieser Band folgt der Richtlinie, dass die hier abgedruckten Texte ausschließlich den von Brentano selbst veröffentlichten Wortlaut wiedergeben. Das war insofern unproblematisch, als Brentanos Schriften meist keine weiteren Auflagen erfahren haben.1 In diesem Band sind allerdings auch zwei Schriften enthalten, die eine Zweitauflage durch Brentano selbst erfahren haben, nämlich die Rezension zu Miklosichs Subjektlose Sätze und Meine letzten Wünsche für Österreich. Die Erstfassung der Miklosich-Rezension erschien 1883 in der Wiener Zeitung und wurde 1889 als Beilage zum Ursprung sittlicher Erkenntnis nochmals abgedruckt. Die beiden Fassungen sind weitgehend identisch: Brentano hat in der Fassung von 1889 lediglich eine „nachträgliche Bemerkung“ hinzugefügt (vgl. unten 121f.) und den letzten Absatz mit einer persönlichen Anmerkung zu der aus seiner Sicht verfrühten Emeritierung Miklosichs gestrichen. Die vorliegende Edition verzichtet daher darauf, beide Fassungen abzudrucken, und gibt wegen der moderneren Orthographie der Fassung von 1889 den Vorzug, wobei die von Brentano gestrichene Anmerkung in eine Fußnote des Herausgebers wandert (vgl. unten 122). Meine letzten Wünsche für Österreich wurde zuerst im Dezember 1894 in der Wiener Tageszeitung Neue Freie Presse abgedruckt und erschien dann einige Monate später, angereichert mit einem Vorwort und einem Anhang mit einigen Diskussionsbeiträgen zur eherechtlichen Frage, als selbständige Broschüre. Auch in diesem Fall wird hier die 1

In den bisher veröffentlichten Bänden dieser Edition finden sich einige Ausnahmen, etwa in Band I Von der Klassifikation der psychischen Phänome (eine ergänzte Neuveröffentlichung einiger Abschnitte der Psychologie vom empirischen Standpunkt) und in Band II die Vorträge „Zur Lehre von der Empfindung“ und „Von der psychologischen Analyse der Tonqualitäten in ihre ersten Elemente“ (die in überarbeiteter Form in die Untersuchungen zur Sinnespsychologie aufgenommen wurden): In allen drei Fällen wurde sowohl die Erst- als auch die Zweitauflage zur Gänze abgedruckt. Im Falle des im Band III enthaltenen Vorworts zu Alexander Herzens mehrfach neu aufgelegter Schrift Wissenschaft und Sittlichkeit wurde dies unterlassen, da der Text in allen Neuauflagen unverändert blieb.

https://doi.org/10.1515/9783110621228-002

XXXVIII

Editorische Vorbemerkung

zweite Fassung abgedruckt, da neben einigen wenigen Fußnoten vor allem das Vorwort von Interesse ist; auf den Anhang wurde verzichtet.2 Abgesehen von der moderneren Orthographie der Ausgabe von 1895 und der Beseitigung von „gewissen Druckfehlern und stilistischen Unebenheiten“ (vgl. unten, 187) sind die beiden Fassungen, wie schon Brentano selbst feststellt, identisch. Lediglich an drei Stellen gibt es Abweichungen, die über das bloß Stilistische hinausgehen, weshalb sie in Herausgeberfußnoten (189, 205) explizit angeführt werden. Die Anordnung der Texte erfolgt wie schon in den bisherigen Bänden chronologisch, was in zwei Fällen nicht ganz ohne Komplikation erfolgte: Der Vortrag über die Vier Phasen der Philosophie wurde zwar schon vor dem Erscheinen der Letzten Wünsche für Österreich Anfang Dezember 1894 in der Neuen Freien Presse gehalten, aber erst danach im Januar 1895 als Broschüre veröffentlicht; die Letzten Wünsche wiederum wurden als Broschüre erst nach den Vier Phasen publiziert. Da aber nicht der Zeitpunkt der Textentstehung, sondern der der Erstpublikation den Ausschlag gibt, sind die Letzten Wünsche hier vor den Vier Phasen abgedruckt. Eine gewisse Sonderstellung in diesem Band nimmt die Schrift „Der Atheismus und die Wissenschaft“ ein, da sie anonym in den Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland veröffentlicht wurde. Es ist vielleicht nicht uninteressant, kurz auf den Hintergrund ihrer Entstehung einzugehen. Im September 1873 war in der Wiener Tageszeitung Die Tages-Presse ein Feuilleton erschienen, das ebenfalls den Titel „Der Atheismus und die Wissenschaft“ trug und dessen Verfasser ebenso die Anonymität wählte.3 Gegenstand des Feuilletons war der Nachweis, dass die Religionen und insbesondere auch die christliche Lehre nicht nur mit der modernen Wissenschaft unverträglich sind, sondern dass sie auch moralisch höchst üble Folgen nach sich ziehen. Maximilian von Gagern, ein Freund der Familie Brentano und ein hochrangiger Beamter der k. k. Ministerialbürokratie, der Brentano in seinen Wiener Berufungsangelegenheiten tatkräftig unterstützte, schickte ihm dieses Feuilleton mit der Bitte um Stellungnahme zu. Der Hintergrund für Gagerns Anliegen war natürlich der, dass Brentano dadurch die Gelegenheit erhalten sollte, eventuelle allerhöchste Zweifel an seiner religiösen Zuverlässigkeit zu zerstreuen. 2

Die beiden Beiträge Brentanos zur eherechtlichen Diskussion („Dr. Friedrich Maaßen über das Eherecht des ausgetretenen Geistlichen“, „Vom Regen in die Traufe“) sollen in Band X dieser Reihe mit Brentanos anderen nicht-philosophischen Schriften abgedruckt werden.

3

Das Feuilleton erschien in zwei Folgen am 11. und 13. September 1873 im Morgenblatt der Tages-Presse (Nr. 250 bzw. 252 des V. Jahrgangs) und war mit einem schlichten „X“ unterzeichnet. Die Tages-Presse erschien von 1869 bis 1878 in Wien.

Editorische Vorbenerkung

XXXIX

Wie die Lektüre des Textes zeigt, nutzte Brentano diese Gelegenheit weidlich, indem er sämtliche Argumente seines anonymen Gegenspielers in großer Ausführlichkeit zerpflückte. Ob die Schrift (die nicht unbedingt zu Brentanos Meisterwerken zählt) ihren Zweck auch erfüllte, ist nicht überliefert. Ein weiterer Punkt, auf den hier kurz einzugehen ist, betrifft die Herkunft und die Qualität der als Anhang abgedruckten deutschen Übersetzung der Habilitationsthesen Brentanos. Oskar Kraus hat diese Übersetzung erstmals 1929 in der von ihm bei Meiner herausgegebenen Sammlung Brentanoscher Texte Über die Zukunft der Philosophie veröffentlicht,4 wo sie parallel zum lateinischen Text abgedruckt ist. Zu ihrer Herkunft schreibt Kraus in den Anmerkungen: „Die deutsche Übersetzung der Thesen rührt von Brentano her; ich habe sie im wesentlichen unverändert gelassen.“5 Leider gibt es keine Möglichkeit mehr, diese Behauptung von Kraus zu überprüfen, da das Originalmanuskript dieser Übersetzung verloren gegangen ist.6 Die Formulierung von Kraus, er habe sie „im wesentlichen“ unverändert gelassen, sollte den Leser allerdings zu einer gewissen Vorsicht motivieren, da sie impliziert, dass er sie eben doch verändert hat. So reizt etwa die Übersetzung von „neget“ mit „protestieren“ den Bedeutungsspielraum von „negare“ hinsichtlich des damit verbundenen Nachdrucks so ziemlich aus. Und dass die Übersetzung der dritten These, dass die bewiesenen Sätze der Theologie für die Philosophie „stellae rectrices“ seien, die „Leitsterne“ abschwächend in bloße „Fingerzeige“ verwandelt, lässt einen gewissen tendenziösen Charakter nicht verkennen.7 Schließlich ging es Kraus nicht zuletzt darum zu zeigen, dass der von ihm verehrte philosophische 4

Franz Brentano: Über die Zukunft der Philosophie nebst den Vorträgen Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiet, Über Schellings System sowie den 25 Habilitationsthesen. Mit Anmerkungen herausgegeben von O. Kraus. Hamburg: Felix Meiner (1929), 139–141.

5

a.a.O., 167.

6

Dass ein solches existiert hat, läßt sich dem Verzeichnis der nachgelassenen philosophischen Werkmanuskripte Brentanos von Franziska Mayer-Hillebrand entnehmen, die in der Abteilung Varia unter der Signatur V 10 die „Übersetzung der Habilitationsthesen“ anführt (vgl. F. Mayer-Hillebrand: Verzeichnis der Manuskripte Franz Brentanos. Katalogisiert im Herbst 1951. Unveröffentlichtes Typoskript). Dass die Übersetzung erst nach 1951 verloren gegangen ist, also zu einer Zeit, als der Nachlass Brentanos anders als in der Zeit davor keinen besonderen Gefahren mehr ausgesetzt war, mutet höchst seltsam an.

7

Auf den problematischen Charakter der Krausschen Übersetzung hat erstmals Werner Sauer hingewiesen (vgl. Sauer: „Erneuerung der philosophia perennis: Über die ersten vier Habilitationsthesen Brentanons.“ Grazer Philosophische Studien 58/59, 119–149); dort findet sich auch eine alternative Übersetzung der ersten vier Thesen.

XL

Editorische Vorbemerkung

Revolutionär schon 1866 in nuce vorhanden war. Ganz in diesem Sinne schreibt er: „[…] fern von allem Autoritätsglauben zeigen [die Thesen] vielmehr schon deutlich den ungestümen Freiheitsdrang des priesterlichen Philosophen.“8 In der Regel werden keine Versuche gemacht, im Text Brentanos die Schreibung von Namen und Begriffen zu vereinheitlichen oder zu normalisieren (im Gegensatz zum Personenregister, wo die heute gebräuchliche Schreibeweise der Namen angeführt wird, etwa „Leibniz“ für „Leibnitz“ oder „Haeckel“ für „Häckel“). Eine gewisse Vereinheitlichung wird nur dort durchgeführt, wo Brentano innerhalb eines Textes inkonsistent verfährt, etwa wenn er in der Antwort auf Horwicz Buch- und Zeitschriftentitel einmal in Anführungszeichen setzt, ein andermal nicht, oder wenn er Friedrich Carl von Savignys Werk Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft dreimal in unterschiedlicher Form zitiert. Darüberhinaus hat der Herausgeber Sperrungen von Personennamen entfernt und sonstige Sperrungen des Originaltextes kursiv gesetzt. Brentanos seitenbezogene Fußnotennumerierung wurde in eine auf den jeweiligen Text bezogene durchgehende Numerierung umgewandelt; in Die vier Phasen der Philosophie ersetzen, wie in dieser Edition üblich, Fußnoten die Endnoten des Erstdrucks. Mit „*“ gekennzeichnete Fußnoten sind Fußnoten des Herausgebers. An einer Stelle des Textes liegt ein offensichtlicher Irrtum vor: Auf S. 45, Z. 11 v. u. wurde nach „wenn er“ das überzählige „sich“ gestrichen. Thomas Binder

Bibliographische Angaben zu den jeweiligen Erstdrucken 1.

2.

3.

8

Ad disputationem qua theses gratiosi philosophorum ordinis consensu et auctoritate pro impetranda venia docendi in alma universitate julio-maximiliana defendet … Aschaffenburg: J. W. Schipner (1866). „Auguste Comte und die positive Philosophie“. Chilianeum. Blätter für katholische Philosophie, Kunst und Leben. Neue Folge, Bd. 2, Nr. 2 (1869), 15–37. „Thomas von Aquin. Die Gotteslehre des Thomas von Aquin kritisch dargestellt von Dr. Johannes Delitzsch. Leipzig, Dörffling und Franke 1870.“ Theologisches Literaturblatt, Nr. 12 (1870), 459–463. Brentano, a.a.O., 166.

Editorische Vorbenerkung 4. 5.

6.

7.

8.

9.

10.

11. 12. 13.

XLI

„Der Atheismus und die Wissenschaft.“ Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Bd. 72 (1873), 852–872; 917–929 (Schluss). Über die Gründe der Entmuthigung auf philosophischen Gebiete. Ein Vortrag gehalten beim Antritte der philosophischen Professur an der k. k. Hochschule zu Wien am 22. April 1874. Wien: Wilhelm Braumüller (1874). „Herr Horwicz als Recensent. Ein Beitrag zur Orientirung über unsere wissenschaftlichen Culturzustände.“ Philosophische Monatshefte, Bd. 11 (1875), 180–187. Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht. Vortrag gehalten zum Besten des Lesevereins der deutschen Studenten Wiens. Wien / Pest / Leipzig: Hartleben (1876). „Miklosich über subjectlose Sätze.“ Wiener Zeitung, Nr. 261 (13. November 1883), 3–5; Nr. 262 (14. November 1883), 3–5 (Schluss). „Miklosisch über subjektlose Sätze.“ In: Franz Brentano: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Leipzig: Duncker & Humblot (1889), 109–122. Ueber die Zukunft der Philosophie. Mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede von Adolf Exner „Ueber politische Bildung“ als Rector der Wiener Universität. Wien: Alfred Hölder (1893). „Meine letzten Wünsche für Österreich.“ Neue Freie Presse, Morgenblatt, Nr. 10876 (2. Dezember 1894), 2–3; Morgenblatt, Nr. 10879 (5. Dezember 1894), 2–3; Morgenblatt, Nr. 10882 (8. Dezember 1894), 2–3 (Schluss). Meine letzten Wünsche für Oesterreich. Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung (1895). Die Vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand. Stuttgart: Verlag der Cotta’schen Buchhandlung (1895). „Voraussetzungslose Forschung.“ Münchner Neueste Nachrichten, Vorabend-Blatt, 54. Jg., Nr. 578 (13. Dezember 1901), 1–2. „Thomas von Aquin. (Geschrieben im März, am Todestage Thomas’ von Aquin.)“ Neue Freie Presse, Morgenblatt, Nr. 15683 (18. April 1908), 1–5.

AD DISPUTATIONEM QUA

THESES GRATIOSI PHILOSOPHORUM ORDINIS CONSENSU ET AUCTORITATE PRO IMPETRANDA VENIA DOCENDI IN

ALMA UNIVERSITATE JULIO-MAXIMILIANA DEFENDET ET AD PRAELECTIONEM INAUGURALEM PUBLICAM AB AMPLISSIMO PHILOSOPHORUM ORDINE WIRCEBURGENSI PROPOSITAM ATQUE PRIDIE IDUS JULIAS MDCCCLXVI INDE AB HORA X PROMERIDIANA IN AULA ACADEMICA HABENDAM OMNI QUA PAR EST HUMANITATE INVITAT FRANCISCUS BRENTANO DOCTOR PHILOSOPHIAE MARIENBERGENSIS.

1867

https://doi.org/10.1515/9783110621228-003

Theses 1. 2.

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

10. 11. 12. 13. 14.

15. 16.

17. 18.

Philosophia neget oportet, scientias in speculativas et exactas dividi posse; quod si non recte negaretur, esse eam ipsam jus non esset. Philosophia et eos, qui eam principia sua a Theologia sumere volunt, et eos rejicere debet, qui, nisi sit supernaturalis revelatio, eam omnem operam perdere contendunt. Nihilominus verum est, sententias Theologia probatas eas esse, quae philosophis quasi stellae rectrices sint. Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est. Rerum multitudo pantheismum, unitas atheismum refutat. Errat Kantius, cum dicit, argumento physico-theologico non creatricem intelligentiam effici, licet ordinans efficiatur. Errat idem et in eo, quod dicit, si Deum creatorem esse probatum sit, inde infinitam ejus perfectionem non sequi. Est neque infinitus numerus aut omnino mundorum multitudo, nec mundus infinitae extensionis est. Fieri non potest, ut sit vacuum spatium, quale id esse philosophi et antiquiores et recentiores, qui atomorum doctrinam sequuntur docent, non tam propterea quod vacui spatii nomen contradictionem habeat, quam quod per vacuum spatium nihil effici possit. Zenonis paralogismi, vel ut accuratius dicam, eorum tres priores eo fallunt, quod continuum tanquam magnitudinem discretam tractant. Qui brutorum animalium animam immortalem esse dicit, idem dicat necesse est, esse bestias multis atque adeo innumerabilibus animis praeditas. Sunt tot imaginandi quot sentiendi facultates, et imaginationis species in sensibus ipsis insunt. Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu, nisi intellectus ipse. Sunt qui homini praeter sensus omnem cognoscendi facultatem denegent; alii ei plures, quae sensuum fines supergrediantur, cognoscendi facultates tribuunt; utrique errant. Νοῦς ποιητικός Aristotelis non cognoscens sed efficiens vis est. Falsum est, ut in genere differentia non sit, ita in differentia genus esse non licere; omnis potius differentia specifica genus continet, et ultima differentia toti definitioni par est. Accidentia, si verbi vim urgeas, definitionem excludunt; definire substantiam prorsus non possumus. Non plene, quod loquimur, cogitamus; et ne ii quidem, qui acerrime cogitant, quantumvis accurate argumententur, id facere consuerunt.

4

Vermischte Schriften

19. Adeo non, id quod Herbarto videbatur, oratio nobis commercio tantum est, in cogitando autem impedimento fit, ut etiam singulorum cogitationem egregie adjuvet. 20. Judicium disjunctivum est compositum judicium condicionale; quare syllogismus disjunctivus non propria forma, sed nihil nisi imperfecta syllogismi condicionalis enuntiatio est. 21. Sunt conclusiones ex una enuntiatione praemissa natae. 22. Falsum est, hominem natura sic sui amantem esse, ut nullius rei quam sui ipsius amantior esse possit. 23. Considerationibus metaphysicis multi, sicut Spinoza, arbitrii libertatis opinionem, quam vix effugeris, refellere conati sunt; at contra considerationes metaphysicae hanc opinionem confirmant. 24. Boni et pulchri notiones sic inter se differunt, ut bonum id quod expetendum pulchrum autem, cujus apprehensio expetenda sit dicamus. 25. Praecipue ac peculiariter hominum animos tragoediae primum eo delectant, quod interiorem hominis decorem et majoris cujusdam potentiae divinae numen introspiciendi potestatem faciunt; deinde autem eos motus delectant, qui in eorum, qui spectant, animis cum dolore excitati duplicem tamen voluptatem praebent, tum quod generosi ac sublimes sunt, tum, quod dolor, qui intus haeret, in eis effunditur et levatur.

Auguste Comte und die positive Philosophie Erster Artikel Einleitung. Natur der positiven Wissenschaft 1869

https://doi.org/10.1515/9783110621228-005

Unter den Lesern des Chilianeums sind vielleicht viele, die hier zum ersten Male den Namen des Mannes lesen, für dessen Philosophie ich ihre Aufmerksamkeit etwas in Anspruch nehmen möchte; und diejenigen unter ihnen, welche von ihm bereits wissen, werden sich vielleicht noch mehr als andere darüber wundern, einer Darstellung seiner Lehre in dieser Zeitschrift zu begegnen. Denn der Name „positive Philosophie“ besagt hier etwas ganz Anderes, als was bei der Vieldeutigkeit des Wortes von Manchem vermuthet werden könnte. Nicht eine christliche Philosophie wollte Comte geben. Dem Glauben schon in den Knabenjahren entfremdet, und ohne es gerade leugnen zu wollen, nicht einmal vom Dasein eines Gottes überzeugt, schloß er grundsätzlich gerade jene Fragen vom Gebiete wissenschaftlicher Forschung aus, welche den Kern jeder sogenannten christlichen Philosophie bilden müssen. Aber dennoch ist vielleicht kein anderer Philosoph der neuesten Zeit, der in so hohem Maße unsere Beachtung verdiente, als gerade Comte. Einmal ist schon das Ringen eines mächtigen Geistes ein Theilnahme erregendes Schauspiel; und Comte war unstreitig einer der hervorragendsten Denker, deren unser Jahrhundert sich rühmen kann. Die kurze Skizze seiner Leistungen, auf die wir uns hier beschränken müssen, wird, wie ich hoffe, dieses Wort genugsam bewähren. Dann, wenn die Bedeutung des Mannes allein nicht genügte, so doch gewiß die Bedeutung der Bewegung, die sein Impuls nicht bloß in Frankreich, sondern fast mehr noch in England auf dem Gebiete der philosophischen Forschung hervorgerufen hat. Wir in Deutschland haben bisher weniger seinen Einfluß erfahren, und seine directe Einwirkung zum mindesten ist nicht sehr merklich. Lange Zeit gewohnt, uns als die ausschließlich philosophische Nation zu betrachten, schenkten wir dem Auslande nur geringe Aufmerksamkeit; und da endlich die Mißerfolge unserer gerühmtesten Denker unleugbar zu Tage traten, und unsere Blicke sich lernbegieriger nach Außen kehrten, fanden wir in dem, was Frankreich ehrte, nichts, was unser Bedürfnis nach ächter Wissenschaft befriedigte. Comte’s großes Werk, obwohl seit Ende der zwanziger Jahre erscheinend, war bei den eigenen Landsleuten unbekannt. Die Royer-Collard’s, Cousin’s, Jouffroy’s standen allein in Ansehen, und was sollte uns ein Eklekticismus, der großentheils nur die bei uns verklingenden Gedanken in volltönenderen Phrasen wiederholte? Jetzt ist in Frankreich die Sachlage eine andere geworden. Der Positivismus Comte’s, der während seines Lebens nur im kleinen Kreise seiner unmittelbaren Schüler bekannt geworden war, macht jetzt alle Welt von sich reden, und, während er die einen als Anhänger gewinnt, zwingt er auch die Anderen, wenigstens als Gegner ihn eingehend zu berücksichtigen und durch den Eifer der Abwehr selbst seine Bedeutung anzuerkennen. Aber für das, was in Frankreich philosophirt wird, haben wir

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Vermischte Schriften

in Deutschland jetzt kein Auge. Und doch scheint es umso mehr an der Zeit, uns über Comte und über den Charakter seiner positiven Philosophie zu unterrichten, als wir mittelbar, von England her, mannichfache Einflüsse von ihr erfahren haben, ohne nur ihren eigentlichen Ursprung zu kennen. Ich fand davon wiederholt die deutlichsten Spuren, und dies bei Schriftstellern, die es selbst am wenigsten ahnten. So glaube ich, ist der Anspruch auf Theilnahme, den ich für Comte in diesen Blättern mache, genugsam gerechtfertigt. Und um so mehr wird er begründet erscheinen, wenn wir, wie ich nicht zweifle, finden werden, daß sich viel von Comte lernen läßt, sowohl da, wo er in der Wahrheit, als da, wo er im Irrthum ist. Comte hat klare Blicke getan in die Mißstände unserer Philosophie und in die Uebel unserer Zeit überhaupt; er hat ihre Thorheiten und Bedürfnisse oft besser als viele Andere erkannt; und, man muß es ihm bezeugen, er hatte Eifer zu helfen, wenn auch leider einen im wesentlichen nicht recht erleuchteten Eifer. So kommt es, daß, was auf den ersten Blick unmöglich scheint, ein Forscher, der von einem Gott in der Philosophie nichts wissen will, von der katholischen Kirche eine wunderbar hohe Anschauung hat und wiederholt in ihren Einrichtungen das Heil sucht, ohne es in ihr selbst zu suchen. Freilich kann er dann das Heil nicht finden und muß in thörichten Phantasiegebilden enden. Comte’s Irrtümer sind groß, aber sie sind Zeugen großer Wahrheiten. Das Mißlingen seines Versuches ist vollständig, aber es ist in seiner Weise der gelungenste Beweis für die Göttlichkeit der Kirche. Eine doppelte Lebensaufgabe hatte Comte sich gestellt, die Gründung einer positiven Philosophie und die Gründung einer positiven Sociologie; zwei große Unternehmen und, wie er selbst wenigstens glaubte, untrennbar mit einander geeinigt. Die Wiederherstellung geordneter gesellschaftlicher Zustände war es, auf die zuerst sein ganzes Sinnen und Denken sich richtete, und über die schon der Knabe, der in den Stürmen des ersten Kaiserreiches aufwuchs,1 mit dem Ernste eines Mannes nachdachte. Seine ersten Jugendschriften geben davon Zeugnis.2 Aber in ihnen spricht sich, wie manche andere seiner späteren 1

Er war geboren am 19. Januar 1798.

2

Sie sind, so weit er sie nicht später selbst, als verfehlt und der Aufbewahrung unwürdig, vernichtet hat, in chronologischer Ordnung folgende: 1. Séparation générale entre les opinions et les désirs (Juli 1819). 2. Sommaire appréciation de l’ensemble du passé moderne (1820). 3. Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société (April 1822; die wichtigste unter diesen kleineren Schriften). 4. Considerations philosophiques sur les sciences et les savants (1825). 5. Considerations sur le pouvoir spirituel (1826). 6. Examen du traité de Broussais sur l’irritation et la folie (August 1828).

Auguste Comte und die positive Philosophie

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Ideen, auch namentlich bereits die Ueberzeugung aus, daß eine Erneuerung der Gesellschaft nur auf der breiten und festen Grundlage einer allgemeinen Wissenschaft möglich sei. So keimte in ihm der Gedanke zu dem großen Werke, das er in dem Cours de Philosophie positive ausgeführt hat. Wenden wir uns zunächst zu diesem merkwürdigen Buche, für welches der Plan dem achtundzwanzigjährigen jungen Manne schon im April des Jahres 1826 feststand, während die Ausführung, durch Krankheit aufgehalten und durch äußere Hindernisse mehrfach verzögert, in die Jahre 1829–1842 fällt. Dann erst werden wir auch Comte’s spätere Arbeiten, die einen in mancher Beziehung sehr verschiedenen Charakter tragen, in gleicher Weise berücksichtigen. Vor Allem, was versteht Comte unter positiver Philosophie? – Daß „positiv“ nicht „christlich“ bedeute, wurde bereits bemerkt; was aber das Wort eigentlich besage, ist dadurch nicht klar geworden. Ja, auch was Comte Philosophie nennt, muß er uns erklären; faßt doch bekanntlich jeder andere Philosoph den Begriff in anderer Weise. Also nochmals, was heißt das, positive Philosophie? Schon in der Vorrede zum ersten Bande seines großen Werkes finden wir eine kurze Antwort auf unsere Frage. Das Wort Philosophie, sagt Comte, gebrauche ich in dem Sinne, den es bei den Alten und namentlich bei Aristoteles hatte; es bezeichnet mir das allgemeine System der menschlichen Gedanken. Indem ich aber das Wort positiv beifüge, will ich andeuten, daß ich zu jener Weise des Philosophirens mich bekenne, die als das Ziel der Forschung, auf welchem Gebiete des Denkens es auch immer sei, nichts als die Verknüpfung der beobachteten Thatsachen betrachtet. Ohne Zweifel ist in diesen Worten, soweit es ihre Kürze erlaubt, die Eigenthümlichkeit der Philosophie Comte’s scharf gezeichnet und deutlich ausgesprochen; doch wird nur der sie recht verstehen können, der das Ganze seines Werkes bereits durchmessen hat. Comte selbst ist weit entfernt, dies zu verkennen, und wir finden ihn darum in seiner ersten Vorlesung bemüht, den Charakter seiner Philosophie mehr in’s Licht zu setzen. Um die wahre Natur und die eigenthümliche Weise der positiven Philosophie entsprechend zu erklären, sagt er, ist es nöthig, zuvor auf den gesammten Entwickelungsgang des menschlichen Wissens einen Blick zu werfen. Hier glaube ich ein großes und grundlegendes Gesetz, dem die Menschheit mit unabänderlicher Nothwendigkeit unterworfen ist, entdeckt zu haben; und dieses besteht darin, daß sie auf jedem der hauptsächlichen Gebiete des Denkens der Reihe nach drei Phasen durchschreitet, zuerst die theologische oder fictive, dann die metaphysische oder abstracte, endlich die wissenschaftliche oder positive Phase. Mit anderen Worten, dem menschlichen Geiste ist es natürlich, auf jedem Gebiete der Forschung nach einander drei Methoden anzuwenden,

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deren Charakter wesentlich verschieden, ja sogar schlechterdings entgegengesetzt ist; zuvörderst die theologische, danach die metaphysische und schließlich die positive Methode. Daher gibt es drei Arten von Philosophieen oder von allgemeinen, das Ganze der Phänomene umfassenden Systemen, die einander gegenseitig ausschließen; die erste der nothwendige Ausgangspunkt des menschlichen Verstandes, die letzte der feste und bleibende Zustand, bei dem er endet, die zweite bloß bestimmt, zwischen beiden als Uebergang zu dienen. In der theologischen Phase betrachtet der menschliche Geist, in seinen Forschungen vornehmlich auf die innere Natur der Dinge, auf die wirkenden und Endursachen, kurz auf die absoluten Erkenntnisse gerichtet, jeden ihm auffallenden Vorgang als die Wirkung der unmittelbaren und fortwährenden Thätigkeit einer größeren oder kleineren Zahl von freien, vernünftigen Wesen, deren willkürliches Eingreifen alle scheinbaren Anomalien des Universums erklärt. Die metaphysische Phase ist im Grunde eine bloße durchgängige Modification der ersten. In ihr treten an die Stelle jener persönlichen Wesen abstracte Kräfte, d. h. Abstractionen, die man zu wirklichen, besonderen Entitäten macht, und die, den verschiedenen Dingen in der Welt innewohnend, durch sich selbst alle beobachteten Erscheinungen erzeugen sollen. In der Angabe der jedem der Phänomene entsprechenden Entität besteht dann seine Erklärung. In der positiven Phase endlich erkennt der menschliche Geist die Unmöglichkeit, zu absoluten Erkenntnissen zu gelangen, er entsagt der Forschung nach dem Ursprung und Ziele der Welt und der Erkenntniß der inneren Ursachen der Erscheinungen, um sich mit den vereinten Mitteln von Vernunft und Beobachtung ausschließlich auf die Entdeckung ihrer festen Gesetze d. i. ihrer unveränderlichen Verhältnisse von Aufeinanderfolge und Aehnlichkeit zu verlegen. Die Erklärung der Thatsachen, auf ihre wirkliche Bedeutung zurückgeführt, ist von da an nichts mehr als die Herstellung der Verbindungen zwischen den verschiedenen besonderen Phänomenen und einigen allgemeinenThatsachen, deren Zahl der Fortschritt der Wissenschaft immer mehr zu verringern strebt. Die drei Phasen der Entwickelung, die Comte hier unterscheidet, und die Ordnung ihrer Aufeinanderfolge sind einer der Gedanken, die, mit jener diesem Denker eigenthümlichen, consequenten Energie nach allen Seiten durchgeführt, das Ganze seiner Lehre durchsäuern. Insbesondere ruht auch seine sociale Dynamik, von der wir später hören werden, und die nach dem Urtheile vieler die merkwürdigste unter allen seinen Leistungen ist, vollständig auf dieser Grundlage. Wir können daher nicht umhin, noch einen Augenblick bei diesen Sätzen zu verweilen, um zu sehen, wodurch Comte sie begründet glaubt.

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Unmittelbare Beobachtung und Reflexion auf die menschliche Natur bieten nach Comte beide für sein Grundgesetz der Entwickelung die schlagendsten Beweise. Vor Allem liegt für jeden, der eine tiefergehende Kenntnis der allgemeinen Geschichte der Wissenschaften hat, in dieser selbst eine vollkommene Bestätigung. Denn nicht eine unter allen, die jetzt ins positive Stadium getreten sind, ist zu nennen, die nicht jeder, wenn er in die Vergangenheit blickt, wesentlich aus metaphysischen Abstractionen bestehend und, wenn er noch weiter zurückgeht, gänzlich beherrscht von theologischen Ideen findet. Wir werden leider, sagt Comte, in den verschiedenen Theilen unseres Curses mehr als einmal Gelegenheit haben zu sehen, wie die am meisten entwickelten Wissenschaften noch heute sehr merkliche Spuren jener primitiven Zustände an sich tragen. Die Betrachtung der Geschichte der Wissenschaft ist aber nicht die einzige Weise, in welcher sich unser Gesetz durch unmittelbare Beobachtung bewährt. Vielmehr ist, was wir täglich bei der Entwickelung des menschlichen Verstandes vor Augen haben, eine nicht minder deutliche Bestätigung desselben. Denn, da der Ausgangspunkt bei der Bildung des Einzelnen und bei der Erziehung des Geschlechtes nothwendig derselbe ist, so müssen nach den verschiedenen Hauptphasen der ersten auch die Grundepochen der zweiten sich bestimmen. Wohlan denn! Blicke jeder auf seine eigene Geschichte! In Bezug auf seine wichtigsten Begriffe war er Theolog in seiner Kindheit, in seiner Jugend Metaphysiker, und positiver Denker erst im Alter männlicher Reife. Jeder, der auf der Höhe seines Jahrhunderts steht, wird dies leicht bewahrheitet finden. Was sich aber so in unmittelbarer Weise beobachten läßt, das ergibt sich mit gleicher Klarheit auch dem Nachdenken als eine Forderung der menschlichen Natur. Der Mensch besitzt eine ursprüngliche Neigung, die eigene innere Beschaffenheit auf die ganze Außenwelt zu übertragen. Das Kind hält nicht bloß die tickende Uhr für belebt, es erzürnt sich auch über den „bösen“ Tisch, an dem es sich gestoßen. Für jedes Wirken setzt es eine Analogie seines Willens als wirkendes Princip voraus. So dachte denn auch das ganze menschliche Geschlecht die äußere Welt nach Analogie der inneren. Fanden die Menschen in sich den Willen als das Princip, welches eingreifend die Glieder des Leibes bewegte, so glaubten sie ohne Weiteres, jede von ihnen unabhängige Veränderung auf einen ähnlichen Ursprung zurückführen zu müssen. Ein allgemeiner Fetischismus, der Hylozoismus, war darum nothwendig die erste Weise der Naturerklärung; also der Anfang der Philosophie eine Art Theologie. Die folgende Betrachtung mag dies noch deutlicher machen. In jeder Epoche der Forschung ist eine Theorie Bedürfnis, um die Thatsachen zu verbinden.

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Auch schon beim ersten Beginn war eine solche unentbehrlich. Wohl bestand damals die augenscheinliche Unmöglichkeit, sich Theorien nach der Beobachtung zu bilden, auf der doch alle wahre Erkenntnis ruht. Aber die erste Zeit konnte und durfte nicht so denken; denn wie zu einer positiven Theorie Beobachtung, so ist zur Hingabe an die Beobachtung eine Theorie nötig. Ohne unmittelbare Anknüpfung der Phänomene an gewisse Grundanschauungen wäre es uns unmöglich, die vereinzelten Beobachtungen zu verbinden, und folglich daraus Frucht zu ziehen. Nicht einmal im Gedächtnis könnten wir sie bewahren, und in den meisten Fällen würden die Thatsachen uns ganz entgehen. Damit dies nicht geschehe, muß ein leitender Gedanke unserm Blick eine bestimmte Richtung geben und unsere Aufmerksamkeit schärfen. So sah sich der Mensch in den Anfängen seiner geistigen Entwickelung in einer Art von Circulus vitiosus gefangen, und aus ihm war kein Entkommen außer auf dem glücklicherweise durch die Natur gegebenen Auswege der theologischen Ideen. Diese wurden das Band seiner Beobachtung und gaben seinem Streben Richtung und Kraft. Die theologische Philosophie stimmte aber auch zugleich zur eigenthümlichen Natur der Untersuchungen, die allein ursprünglich den menschlichen Geist anzuziehen vermochten. Auf die unnahbarsten Wahrheiten, auf die innere Natur der Dinge, auf den Ursprung und das Ziel alles dessen, was uns erscheint, gingen damals die Fragen; die wahrhaft lösbaren Probleme wurden alle fast als unwürdig eines ernsten Nachdenkens betrachtet. Dieser Contrast zwischen der Größe des Muthes und der Kleinheit der Kraft mag im ersten Augenblicke auffallen; aber dennoch war er natürlich, konnte ja die Erfahrung allein das Maß der Kräfte kennen lehren. Und man kann die Täuschung, welcher die ersten Menschen sich in dieser Beziehung hingaben, wohl eine glückliche nennen; denn ohne eine solche übertriebene Vorstellung, die das Unmögliche als möglich erscheinen ließ, würden sie niemals auch nur zu der erreichbaren Entwickelung gelangt sein. Wie aber würde man damals die positive Philosophie aufgenommen haben, die als das Höchste die Entdeckung der Gesetze der Phänomene anstrebt und deren erste Eigenthümlichkeit es ist, alle jene erhabenen Geheimnisse als unerforschlich anzusehen? Sie konnte in dem, was sie verhieß, in keiner Weise sich mit ihrer Nebenbuhlerin messen; sie bot nichts, während die theologische Philosophie alles bot, und was sie selbst etwa noch Dürftiges versprach, das konnte sie nicht der Gegenwart, sondern nur einer fernen Zukunft verheißen. Für die Zukunft arbeiten! das wäre ihre Losung gewesen; arbeiten und Andere ärndten lassen! Dies führt uns vom theoretischen zum praktischen Gesichtspunkte über, von dem aus sich mit derselben Klarheit zeigen wird, daß keine andere

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Anschauung außer einer theologischen dem ursprünglichen Menschen angemessen sein konnte. Niemals hätte nämlich der Mensch den natürlichen Widerwillen gegen die Last einer ungewohnten Arbeit überwunden, ja niemals wäre er aus seiner ersten Theilnahmslosigkeit herausgetreten, wenn nicht angezogen von der Hoffnung auf eine unumschränkte Herrschaft über die Welt, und ermuthigt durch die bleibende Möglichkeit eines unwiderstehlichen Beistandes. Im Schimmer seiner theologischen Anschauungen die Welt betrachtend, konnte er wohl hoffen, das Ganze der Natur werde seinen Wünschen sich fügen, nicht zwar von seiner eigenen Kraft gebändigt, aber beherrscht von jenen idealen Gewalten, denen er eine unbeschränkte Macht beilegte. Es galt nur, ihre Liebe zu gewinnen und sich so der Hilfe ihres willkürlichen Eingriffes zu versichern. Jetzt stehen wir freilich jenem alten Standpunkte fern und Mancher mag deshalb an der Macht und Nothwendigkeit solcher Betrachtungen in jenen ersten Zeiten zweifeln. Aber man denke, wo unsere Wissenschaft wäre ohne die Chimären der Astrologie und die Träume der Alchymie; eine Bemerkung, die schon längst der große Kepler für die Astronomie, für die Chemie in neuerer Zeit Berthollet gemacht hat. Man sieht also, sowohl als Methode als auch als provisorische Doktrin war die theologische Philosophie ursprünglich gefordert. Nur sie konnte den Anfang machen, als allein in spontaner Weise entstehend, und zugleich als allein fähig, jener ersten Zeit ein hinreichendes Interesse einzuflößen. Wie aber die theologische Betrachtungsweise als Ausgangspunkt, so zeigen sich die metaphysischen Lehren als Uebergang nothwendig. Unser Verstand geht immer nur Schritt für Schritt. Unmöglich konnte er plötzlich und unvermittelt den theologischen mit dem positiven Standpunkte vertauschen. Theologie und Positivismus sind so unverträglich, daß intermediäre Ideen nöthig waren, Theorien von einem Bastard-Charakter, und dadurch selbst zur Bewerkstelligung des Ueberganges geeignet. Dieses ist die natürliche Bestimmung der metaphysischen Ideen, sie haben sonst keinen wirklichen Werth und Nutzen. Indem die Metaphysik bei der Erforschung der Phänomene der leitenden Thätigkeit eines übernatürlichen Wesens eine entsprechende und untrennbare Entität substituirte, die anfänglich nur wie ein Ausfluß von ihr, dann unabhängig betrachtet wurde, gewöhnte sich der Mensch allmählich daran, nur auf die Thatsachen selbst zu sehen, indem die Begriffe dieser metaphysischen Agentien mehr und mehr verfeinert und verflüchtigt wurden, bis sie zuletzt in den Augen aller Männer von gesundem Urteile nichts mehr als die abstracten Namen der Phänomene waren. – Was ist es, wodurch ein Körper den andern anzieht? – Seine Anziehungskraft! – Und was macht, daß das Opium einschläfert? – Seine Einschläferungskraft!

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wie Moliere wenigstens karikirend seinen Arzt sagen läßt. Das blödeste Auge mußte nunmehr erkennen, daß hier keine Ursache, sondern nur, in naiver Wiederholung, das zu erklärende Phänomen selbst für sich selbst als Erklärung angegeben wurde. Wenn man erfinden wollte, sagt Comte, so wäre es nicht möglich, eine andere Art des Uebergangs von geradezu übernatürlichen zu rein natürlichen Betrachtungen, von der Herrschaft der Theologie zu der des positiven Geistes auch nur zu fingiren. Nach diesem kurzen Blicke auf das Gesetz der Entwickelung der menschlichen Forschung ist es nunmehr leicht, die eigenthümliche Natur der positiven Wissenschaft zu bestimmen. Wir sehen aus dem Gesagten, daß ihr Grundcharakter darin besteht, alle Phänomene als unveränderlichen natürlichen Gesetzen unterworfen zu betrachten. Die genaue Auffindung derselben und ihre Zurückführung auf eine möglichst geringe Zahl sind dem positiven Denker das Ziel aller seiner Anstrengungen. Als gänzlich unfruchtbar und sinnlos erscheint ihm dagegen die Forschung nach dem, was man Ursachen nennt, seien es wirkende oder Endursachen. Jeder, meint Comte, der ein nur einigermaßen gründliches Studium den beobachtenden Wissenschaften gewidmet hat, versteht, was hier gesagt wurde, ohne Schwierigkeit und wird mit seiner Zustimmung nicht zögern. Denn jeder in der That weiß, daß wir dort bei unseren positiven Erklärungen, und wären es auch die vollkommensten, niemals den Anspruch machen, die erzeugenden Ursachen der Phänomene darzulegen, sondern daß wir nur darauf ausgehen, mit Genauigkeit die Umstände ihres Entstehens zu analysiren und die einen mit den andern durch regelmäßige Beziehungen von Aufeinanderfolge und Aehnlichkeit zu verknüpfen. Doch wir wollen den Gedanken zum Ueberflusse noch an einem Beispiele klar machen, und es soll uns auch als solches ein Fall von Naturerklärung dienen, dem die Wissenschaft keinen zweiten von gleicher Vollkommenheit an die Seite zu stellen hat; wir meinen die Erklärung der allgemeinen Phänomene des Universums durch das von Newton festgestellte Gravitationsgesetz. Dieses Gesetz zeigt uns von der einen Seite die unermeßliche Mannichfaltigkeit astronomischer Thatsachen als eine einzige, unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, nämlich als die Thatsache, daß die Körper zueinander streben im direkten Verhältnisse ihrer Massen und im umgekehrten Verhältnisse der Quadrate ihrer Entfernungen. Es stellt uns von der andern Seite diese allgemeine Thatsache dar als die einfache Erweiterung eines Phänomens, mit dem wir wie mit keinem anderen vertraut sind, nämlich der Schwere der Körper auf der Erdoberfläche. Aber bestimmt es vielleicht auch das Geringste darüber, was diese Anziehung und was diese Schwere in sich selbst seien? Zeigt es uns die Ursache, warum die Körper einander anziehen?

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– Keineswegs! Vielmehr betrachtet jeder Physiker diese Fragen als solche, die unlöslich und nicht mehr zum Gebiete der positiven Forschung gehörig seien. Er überläßt sie mit Recht der Einbildungskraft der Theologen oder der Subtilität der Metaphysiker. Das also ist die Wissenschaft; danach und in dieser Weise forscht sie, wenn sie forscht, wie sie forschen soll. – Halten wir, ehe uns Comte weiter führt, um uns innerhalb dieser positiven Wissenschaft die Stellung der positiven Philosophie zu zeigen, ein wenig inne, und werfen wir einen prüfenden Blick auf die bisherigen Erörterungen zurück, sowohl auf das, was uns darin als die richtige wissenschaftliche Denkweise empfohlen wurde, als auch auf die geschichtliche Folge der drei Phasen. Wohl Mancher, der hier zum ersten Male die Bestimmungen Comte’s über das Wesen und den Geist der positiven Betrachtungsweise hörte, mag sich darüber verwundert und selbst zu sich selbst gesprochen haben: wie? was ist mir das für eine Lehre, in der alles Irrthum und Verkehrtheit ist? Haben wir hier etwas Anderes als den alten, absurden und längst widerlegten Skepticismus Hume’s, der auch bei Kant nur allzusehr maßgebend wurde? – Und in der That, der Vorwurf scheint nicht unberechtigt; der wiederholte Ausdruck Phänomen ist ja für sich allein schon solchen Verdacht zu erregen geeignet. Indem Comte erklärt, „die positive Phase entsage der Erkenntniß der innern Ursachen der Phänomene“, glauben wir einen Schüler Kant’s zu hören; und wenn er dann freilich selbst einmal gelegentlich bemerkt, daß er mit dem Studium Kant’s wie mit dem der späteren deutschen Denker sich nicht befaßt habe3), so beweist dies nichts gegen einen wenigstens mittelbaren Zusammenhang beider Philosophen. Sollte aber auch gar keine historische Verbindung zwischen ihnen bestehen, die Uebereinstimmung ihrer Lehre wäre dann vielleicht auffallender, aber nicht minder sicher; denn nur phänomenale, nicht reale Wahrheit scheint auch nach den klaren Worten Comte’s das für uns allein Erreichbare zu sein. Ferner, werden wir nicht deutlich an Hume erinnert, wenn wir behaupten hören, daß keine Erkenntniß der Ursachen uns möglich sei? Was wir wahrnähmen, sagte dieser erklärte Skeptiker, – und es war dies der vorzügliche Hebel, mit dem er die Wissenschaft aus den Angeln hob –, seien nur Verhältnisse zeitlicher Succession, die wir unberechtigt in Verhältnisse der Causalität verwandelten. Ganz ähnlich schien auch Comte zu sprechen. Und hier hat der Zusammenhang nicht jene Schwierigkeit; denn nicht bloß leugnet Comte nicht, Hume zu kennen, sondern er ehrt ihn sogar vor den meisten anderen Philosophen. 3

Cours d. Ph. VI. p. 34, Anm.

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Aber dennoch würden wir in beiden Fällen Comte in einer argen Weise mißdeuten, wenn wir seine Worte in eigentlich skeptischem Sinne nähmen. Vor allem, was den Ausdruck Phänomen betrifft, so ist er bei unserem Philosophen nicht wie bei Kant zu verstehen. Wir würden irren, wenn wir unter Comte’s phenomène ein Kantisches φαινόμενον uns denken wollten, eine Erscheinung, hinter der in unnahbarem Verstecke das νοούμενον, das Ding an sich, verborgen wäre. Schon das mag hiefür als Zeichen dienen, daß Comte mit Phänomen häufig geradezu den Ausdruck Thatsache als gleichbedeutend setzt, wie z. B. da er sagte: „die Erklärung der Thatsachen (faits) sei für den positiven Denker nichts als die Herstellung der Verbindung zwischen den verschiedenen besonderen Phänomenen (phenomènes) und einigen allgemeinen Thatsachen (faits)“. Comte ist keineswegs mit Kant der Meinung, daß wir in keiner Weise zu einer realen Erkenntniß gelangen könnten. Die Existenz von Dingen, und zwar von einer Vielheit von Dingen – denn daß irgend etwas außer den Phänomenen existire, hält auch Kant der Consequenz zum Trotz aufrecht –, ist ihm unzweifelhaft. Auch daß den Dingen Größe und Gestalt, Ort, Zeit und Bewegung, und manchen von ihnen Denken und Empfindung zukomme, ist er weit entfernt zu bestreiten. Es ist allerdings richtig, daß er uns die absolute Erkenntniß in Bezug auf die Mehrzahl dieser Bestimmungen im Speciellen abspricht. Aber hierin liegt kein skeptischer Irrthum, sondern im Gegentheil eine leicht zu bestätigende Wahrheit. Denn in der That, wer wüßte nicht, daß jede Zeit, wenn sie gegenwärtig ist, sich in gleicher Weise uns darstellt, und daß dasselbe im analogen Falle von jeder örtlichen Bestimmtheit gilt? Und wer möchte leugnen, daß wir die absolute Ruhe oder Bewegung eines Körpers zu erkennen nicht imstande sind, namentlich nachdem die Astronomie uns die Erde selbst bis in ihr Innerstes erschüttert hat? – Nein, nein! Comte verdient hier keinen Tadel; in diesem Punkte müssen wir alle zu den Skeptikern stehen. Und was Anderes also bleibt, das uns von ihnen unterscheiden könnte, wenn nicht die Behauptung der Erkennbarkeit der wahren Verhältnisse der Dinge? – Die absolute Größe eines Körpers ist nicht bestimmbar, die relative können wir mit Genauigkeit messen und berechnen; die absolute Zeit eines Ereignisses ist uns unbekannt, das Früher und Später können wir vielleicht bis auf Stunde und Minute angeben. Das also ist, was uns von den Skeptikern trennt, und es entfernt uns von ihnen weit und auf tausend Meilen. Denn man muß nicht glauben, daß in jenen Beziehungen der Dinge nur etwas Geringfügiges von uns erkannt werde, da vielmehr gerade sie das überwiegend Wichtige sind. Es darf uns gleichgiltig sein, ob die ganze Geschichte hunderte, ja tausende und Millionen Jahre früher oder später spielt, ob das ganze Weltsystem in seinem

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Schwerpunkte ruht oder in gleichmäßiger, geradlinig-fortschreitender Bewegung ist, ob die Gesammtheit der Körper und jeder von ihnen im einzelnen nach jeder Richtung die doppelte oder die halbe Ausdehnung hat und höher oder tiefer, weiter rechts oder weiter links liegt im Raume, – dies und vieles Aehnliche ist für uns von keiner Bedeutung: die relativen örtlichen und zeitlichen Bestimmtheiten, die Unterschiede des Beisammen und Auseinander, des Zugleich und Früher und Später, die relative Ruhe oder Bewegung, die Verhältnisse der Größen und Dimensionen sind für uns von einem ganz anderen Belange. Auf ihrer Erkenntniß allein beruhen Mechanik und Kunst, und Theorie und praktisches Leben. Comte hat also hier an den Skepticismus kein allzugroßes Zugeständniß gemacht, er hat nicht das Interesse der Wissenschaft geopfert; er ist nicht skeptischer als wir selbst, nicht skeptischer als jeder ächte Philosoph sein muß. Wie steht es aber mit jener anderen Behauptung, ich meine mit dem, was Comte von der Ursache und ihrer Unerkennbarkeit lehrte? Tritt er nicht hiedurch in die Fußstapfen von Hume und verfällt der Skepsis? Bei näherer Betrachtung müssen wir auch dies verneinen. Vor allem hat Comte nicht wie Hume die Existenz von Ursachen geleugnet. Im Gegentheile, die ganze Art, wie er bisher sprach, und wie er später sprechen wird, zeigt klar, daß er in keiner Weise an ihrem Vorhandensein zweifelt. Nur wir, das war seine Behauptung, sind nicht sie zu erkennen fähig. Aber auch dieses ist zweideutig und wird nicht in jedem Sinne von Comte gelehrt. Vor allem haben wir ja eben bemerkt, daß Comte die Ursachen nicht leugne. Er hält nicht weniger als andere daran fest, daß nichts, was geschehe, der wirkenden Ursache entbehre. In irgend etwas, in irgend einem Dinge liegt auch nach ihm jedesmal das wirkende Princip. Hiemit ist aber offenbar schon eine, wenn auch nur ganz allgemeine, Erkenntniß der wirkenden Ursache zugegeben. Mag uns die besondere Beschaffenheit der Ursache verborgen sein, dem allgemeinsten Begriffe nach haben wir mit Sicherheit erfaßt, was sie ist, sie gehört zu den Dingen. Aber auch die Möglichkeit der Erkenntniß, daß in diesem oder jenem Dinge der Grund eines Geschehens liege, will Comte uns scheints nicht absprechen, wenn er die Erforschung der Ursachen als etwas Erfolgloses verwirft. Unmöglich könnte er sonst mit der Zuversicht, mit welcher er es thut, das Zeugniß der ganzen Naturwissenschaft und jedes einzelnen ihrer Zweige anrufen; unmöglich könnte er sagen, daß, was er allgemein ausspreche, im ganzen Bereiche der exakten Forschung jeder Einzelne auf seinem Gebiete bekenne. Denn allerdings würden unsere Naturforscher, in solcher Weise zur Erklärung aufgefordert,

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wohl einmüthig zusammenstimmen; nicht jedoch, um seinem Skepticismus gemeinsamen Beifall zu geben, sondern um gemeinsam ihm zu widersprechen. Noch deutlicher aber wird seine wahre Ansicht, wenn er dann als erläuterndes Beispiel die Gravitation der Körper anführt, für die schon Newton durch Feststellung des Gesetzes die vollkommenste naturwissenschaftliche Erklärung gegeben habe, für die aber dennoch weder dieser große Forscher noch ein anderer nach ihm die wirkende Ursache zu kennen sich einbilde. Was die Attraction sei, worin sie ihren Grund habe, das, sagt Comte, sind Fragen, auf welche eine Antwort schlechterdings unmöglich ist. Denn das heißt doch wohl nicht antworten, wenn man sagt, die Anziehung sei die allgemeine Schwere, dann aber, gefragt, was die Schwere sei, diese umgekehrt wieder als die Anziehung der Erde bestimmt? – Offenbar will Comte es hier nicht für unerkennbar erklären, daß in den einander anziehenden Körpern und ihrer dermaligen gegenseitigen Stellung der Grund ihres Strebens zueinander liege; so wenig, als er wird leugnen wollen, daß, wenn ein bewegter Körper an einen ruhenden stößt und dieser hiedurch in Bewegung kommt, der andere aber nach dem mechanischen Gesetze der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung eine Verlangsamung, unter Umständen auch eine Ablenkung erfährt oder zum Stillstande gebracht wird, – diese Erscheinung in den betreffenden Körpern und ihren vorhergehenden Zuständen wahrhaft ihre Ursache haben. Vielmehr ist, was er sagen will, etwas ganz Anderes und etwas, was keineswegs verwerflich ist. Was also ist sein Gedanke? worin besteht die Schranke, die er hier für unsere Erkenntniß unübersteiglich glaubt? Comte leugnet, daß wir von den Körpern und ihren Eigenschaften, in welchen wir die Ursache jener Bewegungen zu suchen haben, eine so vollkommene Erkenntniß zu erlangen vermögen, daß wir einsehen, warum sie in dieser Weise sich wirksam zeigen und zeigen müssen; so etwa, wie wir aus den Begriffen zweier Zahlen, z. B. der Zahl 4 und der Zahl 2 erkennen, warum die eine genau das Doppelte der anderen ist und sein muß. Hier bleibt kein Wie und Weßhalb zu beantworten übrig. Der Grund ihres Größenverhältnisses liegt uns deutlich in den Begriffen selbst vor. Wir verwundern uns nicht darüber, daß das Gesetz gleichmäßig und in allen Fällen sich bewährt; wir bedürfen nicht der Erfahrung und einer langen Reihe von Inductionen, um uns von seiner Allgemeingiltigkeit zu überzeugen; es leuchtet uns vielmehr a priori aus den Begriffen selber ein. Anders in dem Falle der Attraction. Mögen wir hier erkennen, daß die Ursache gewisser Erscheinungen in gewissen Körpern liege, so haben wir doch nur a posteriori dieses Wissen erlangt; wir sind nicht so in’s Innere gedrungen, und haben das, was Ursache ist, so in seinem Wesen erfaßt, daß wir, unabhängig von der Erfahrung, aus den Begriffen selbst die Erscheinung der Anziehung als Folge hätten

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voraussagen können. Auch jetzt, nachdem wir, gestützt auf eine gewissenhafte Induction, dies zu thun vermögen, bleibt uns darum noch immer die innere Weise des ursächlichen Princips verborgen. Wenn wir sagen: die Erde strebt der Sonne zu, weil sie schwer ist, – und: die Sonne zieht die Erde durch ihre Schwerkraft an, so geben wir hierin keine Enthüllung einer verborgenen Eigenschaft, welche als wirkendes Princip die Anziehung erklärte (bleibt ja doch die Weise der Verursachung und überhaupt der ganze Vorgang so dunkel wie zuvor), vielmehr liegt darin nur die Zurückführung des speciellen Falles auf ein generelles Gesetz, die Herstellung der Verbindung eines besondern Phänomens mit einer allgemeineren Thatsache. Die Sonne zieht die Erde an, weil sie alle Körper anzieht, wie dies auch jeder andere Körper gegenüber jedem anderen thut. Wir sehen also, in welchem Sinne wir hier die Ursache erkennen, und in welchem sie uns verborgen bleibt, wir erkennen, daß irgend ein Ding als Ursache thätig ist, wir erkennen auch, daß in diesem und jenem Dinge die Ursache liegt, ohne aber das Wie und Warum eigentlich zu verstehen und zu ergründen. Dieses nun ist der Sinn, in welchem Comte allgemein leugnet, daß die Erkenntniß der Ursachen uns zugänglich sei; in diesem Sinne ruft er und ruft mit Recht jede exacte Wissenschaft als Zeugin auf, und auch wir und überhaupt jeder, der ihn und sich selbst nicht mißversteht, wird ihm unbedenklich beistimmen. Allein wenn wir in solcher Weise seinem Gedanken hier vollen Beifall spenden, so verdient doch die Weise seines Ausdruckes kaum das gleiche Lob. Seine Redeweise ist zweideutig und ungewöhnlich. Dem Gedanken nach mit Vielen einig, tritt er dem Worte nach mit ihnen in Gegensatz. Und es scheint zwar eine solche Abweichung unbedeutend, – denn in der Tat, das Wort ist nicht die Wissenschaft und kein Theil der Wissenschaft, – aber in solchen Neuerungen liegt immer die Gefahr, daß die Zweideutigkeit und besonders die entgegenstehende Gewohnheit eines anderen Verständnisses theils Andere, theils sogar uns selber täusche und in Fehlschlüsse verwickele. Auch an Comte sollte sich dies und in der traurigsten Weise bewähren. Wir hörten, wie Comte die Forschung nach den ersten Ursachen als etwas dem positiven Geiste Fremdes von sich wies. Wir müssen fragen, in welchem Sinne? Will er nur sagen, es sei uns unmöglich, das, was die erste Ursache ist, in seiner Ursächlichkeit zu begreifen und einen Einblick in sein Wesen zu gewinnen, der alle seine Wirkungen uns a priori erkennen lasse, dann ohne Zweifel müssen wir ihm beistimmen, seine Zurückweisung ist vollkommen berechtigt, indem sie nichts als eine nothwendige Consequenz der von ihm aufgestellten und von uns rückhaltlos anerkannten Principien ist. Aber unvermerkt

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verkehrt sich ihm der Begriff in den eignen Händen. Comte will offenbar viel mehr sagen; denn unmöglich würde er sonst, wie er es doch wirklich thut, von vorn herein die positive Forschung zu jeder Speculation, die in einem göttlichen Verstande den Ursprung der Welt erblickt, in unversöhnlichen Gegensatz bringen. Wer sagt, ein vernünftiges Wesen sei das Princip der Welt und ihrer Ordnung, hat dadurch keineswegs behauptet, daß er in Bezug auf das Entstehen der Welt jene Einsicht erlangt habe, die unserem Verstande sogar bei näher liegenden Wirkungen versagt ist. Wer kann sich anmaßen zu sagen, daß er Gottes Natur und den freien Schöpfungsact im eigentlichen Sinne verstehe und begreife, da es vielmehr offenbar ist, daß sich unsere Erkenntniß hier in nichts Anderem als in negativen Umschreibungen und Analogieen bewegt? Aber daß es einen Gott gebe, und daß dieser frei die Welt hervorgebracht habe, das sind Wahrheiten, die vielleicht trotzdem und mit aller Strenge zu erweisen sind. Das Eine und das Andere sind etwas durchaus Verschiedenes. Betrachten wir, damit uns die Sache recht deutlich werde, einmal uns selbst und den Einfluß, den wir durch unser vernünftiges Wollen auf unseren eignen Körper üben. Daß mein Wille die Ursache von den Bewegungen der Hand sei, mit der ich jetzt die Feder führe, zieht wohl kein Vernünftiger in Zweifel. Wie er es aber thue, das weiß weder ein Anderer, noch weiß ich es selbst zu sagen. Auch ich nehme es a posteriori wahr, daß auf mein Wollen die entsprechende Bewegung folgt, und dies mit einer Regelmäßigkeit, die den causalen Zusammenhang erkennen läßt. In die höchst wunderbare Weise der Verursachung blicke ich aber nicht ein, sie ist mir ein unerforschliches Räthsel und würde auch ein solches bleiben, wenn wir physiologisch das Centralorgan des sensitiven Lebens, welches zunächst den Einfluß erfährt, gefunden hätten. Wir sehen also, der Umstand, daß wir hier erkennen, daß ein vernünftiges Princip die Ursache einer gewissen Wirkung ist, ändert nichts daran, daß die Weise der Ursächlichkeit uns unbegreiflich bleibt. Der allgemeine Schleier, der uns über jeder Verursachung liegt, wird auch hier nicht gehoben. Aehnliches wird demnach auch in dem Falle gelten, wenn ein vernünftiges Wesen als erstes wirkendes Princip, als die erste und ausschließliche und vollkommene, das ist als die schöpferische Ursache der Entstehung der Welt erwiesen würde. Aus diesem Grunde wenigstens kann also die positive Philosophie sich nicht von vorn herein gegen jede theologische Forschung erklären, obwohl ich fürchte, daß Comte, durch die Zweideutigkeit der eigenen Terminologie getäuscht, sich durch ihn vorzüglich hat bestimmen lassen. Aber vielleicht ist das gegen die Exactheit des positiven Stadiums und verträgt sich bloß mit dem kindlichen primitiven Standpunkte unseres Denkens, daß hier etwas uns

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Aeußeres in gewisser Weise in Analogie zu uns selbst und unserem Innern erklärt wird? – Nicht doch! ist ja doch nicht jede Analogie verwerflich, zumal für einen Forscher, der auf die Induction so großes Gewicht legt, wie Comte es thut, und warum sollte da gerade allein die Analogie zu unseren eigenen inneren Acten niemals und nirgendwo berechtigt sein? In der That käme man dann nothwendig zu jenem thörichten Zweifel, den, zur Verwunderung der Welt, einzelne Philosophen in betreff der Empfindungen, Affecte und willkürlichen Bewegungen der Thiere aussprachen. Wenn ein Hund, auf den Schwanz getreten, heult, so scheint dies diesen Sonderlingen im Wesentlichen nichts Anderes, als wenn die Locomotive pfeift auf den Druck einer Klappe. Descartes hatte sich dahin verrirrt. Aber Comte ist so weit entfernt, ihn hier wegen seiner exacten Forschung und positiven Anschauungsweise zu preisen, daß er sie irgendwo geradezu „la mémorable aberration de Descartes“ nennt. Ich brauche für ihn also nicht mehr beizufügen, daß er dann consequent auch an dem Denken und Wollen seiner Mitmenschen zweifeln müßte. Wenn nun auch dieser Umstand die positive Philosophie nicht von vorn herein berechtigt, über jeden Versuch eines Beweises des Daseins Gottes den Stab zu brechen, so ist überhaupt nicht mehr einzusehen, welcher andere Grund dazu berechtigen könnte, wenn nicht etwa der, daß die Annahme eines göttlichen Wesens unvereinbar mit der Erforschung der Naturgesetze wäre, welche die positive Philosophie beobachtend zu ermitteln strebt. Dies wäre der Fall, wenn, wie allerdings Gegner des Theismus behauptet haben, fortwährende, willkürliche, alle Ordnung und Regelmäßigkeit aufhebende Eingriffe die nothwendige Folge der Existenz eines göttlichen Wesens wären. Aber dies ist keineswegs richtig. Allerdings sind, in alter Zeit wenigstens, solche Fehler gemacht worden. Aber welcher, ich frage, welcher unter den großen theistischen Denkern, sei es im Alterthum ein Aristoteles, sei es ein Descartes, Locke, Leibniz in der neueren Zeit, hat dies für nothwendig gehalten? Sie glaubten eben die Gottheit nicht bloß frei und mächtig, sondern auch weise denken zu müssen. Und auch das Christenthum, wenn es die Möglichkeit und Wirklichkeit einzelner Wunder behauptet, ist weit davon entfernt, es für möglich und mit der Weisheit Gottes verträglich zu halten, daß er durch fortwährende und willkürlich-regellose Eingriffe die ganze natürliche Ordnung der Dinge aufhebe und unkenntlich mache. Es sieht in der natürlichen Ordnung wie im Wunder eine Offenbarung Gottes, was in einem solchen Falle weder die eine noch das andere sein würde; die natürliche Ordnung nicht, denn sie wäre zerstört; das Wunder nicht, denn es fehlte das Maß, woran man es messen und als Abweichung bestimmen könnte.

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Comte selbst ist auch nicht so thöricht, aus einem solchen Grunde die Annahme einer göttlichen Macht als mit der Wissenschaft unvereinbar anzusehen. In einem späteren Werke, seinem Système de politique positive, tritt dies namentlich deutlich hervor. Daß ein Gott sei, gilt ihm zwar auch hier für nicht erkennbar. Aber, weit entfernt ihn zu leugnen, zögert er nicht, sein Dasein sogar für das Wahrscheinlichere zu erklären, indem dann die Ordnung der Welt uns besser begreiflich werde, als unter der Annahme eines planlosen, blinden Mechanismus. Ja, obwohl er sich weigert, Gott, als etwas nicht wissenschaftlich Erweisbares, zur Basis seiner Moral und Politik zu machen, so argumentirt er doch da, wo er die ersten Principien des Handelns bespricht, nicht ohne Rücksicht auf ihn, indem er zeigt, wie auch unter der Annahme einer göttlichen Providenz, wer der von ihm gegebenen Richtschnur des Handelns folge, am vernünftigsten handle, indem er vor Andern ihres Wohlgefallens sicher sein könne. Doch davon später. Genug, daß wir gesehen haben, wie der Glaube an einen Gott nicht unverträglich mit der Erforschung der Naturgesetze ist, und wie darum Comte selbst nicht das Dasein Gottes, sondern nur seine Erkennbarkeit leugnet. Nun bleibt nur noch eine einzige Weise übrig, in welcher der Theismus ein Feind der positiven Naturerforschung werden könnte. Auch dann nämlich würde er das Ende und der Tod aller wissenschaftlichen Untersuchungen sein, wenn Einer mit der Entdeckung, daß Alles von Gott herrühre, sich aller Erforschung der secundären Ursachen und ihrer Gesetze entbunden glaubte, indem er mit Ueberspringung aller secundären wirkenden Principien immer sogleich auf Gott als den ersten und vollkommenen Erklärungsgrund hinüberwiese. – Warum beschreiben die Planeten diese Bahn? – Antwort: weil Gott es so will! – Warum gehen Sonne, Mond und Sterne täglich auf und unter? – Weil Gott es so will. – Diese Antworten allerdings sind im strengsten Sinne richtig; aber dennoch ist es klar, daß eine Beschränkung auf sie die Aufhebung der ganzen Astronomie sein würde, und Aehnliches würde bei ähnlichem Verfahren in Betreff der andern Wissenschaften die Folge sein. Auch hier gilt, daß manchmal von Theisten solche Fehler gemacht worden sind und noch gemacht werden. Man hat, um sich davon zu überzeugen, nur an die gewöhnliche theologische Politik mit ihrem unklaren und ultrirten „von Gottes Gnaden“ zu denken. Man nimmt manchmal gar zu unmittelbar vom Tische des Herrn die Krone. Aber auch auf andern Wissensgebieten finden wir solche Verirrungen. Oder war es vielleicht ein anderer Fehler, wenn man in den Büchern der Naturwissenschaft aus einer minder vorgeschrittenen Zeit auf die Frage, warum die Weiden so gut an feuchten Plätzen wachsen, die Antwort findet: um die Ufer der Flüsse gegen Wegschwemmung schützen zu können? Angenommen auch, es sei gegen eine solche Teleologie nichts einzu-

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wenden, so ist dies doch offenbar ein allzugroßer Sprung über die ganze Reihe mechanischer Zwischenursachen hinweg bis hin zum zweckthätigen Verstande Gottes und der organischen Zusammenordnung aller Dinge im Weltganzen. Aber der Theismus involvirt nicht nothwendig solche Ungereimtheiten. Wenn wir wissen, daß unser Wille die Hand bewegt, wird dadurch die physiologische Forschung müßig, welche die vermittelnden Glieder zu entdecken strebt? So also auch nicht die Frage nach den geschöpflichen Ursachen allgemeinerer Phänomene. Der größte Theist des Altertums, Aristoteles, nach welchem Himmel und Erde von der Kraft des einen göttlichen Verstandes getragen werden,4 stellt nichtsdestoweniger die Regel auf, daß man, nach den Ursachen einer Erscheinung gefragt, ihre nächsten Principien angeben müsse, die nächste Materie, das nächste wirkende Princip und so in Betreff der übrigen.5 Fassen wir das Gesagte kurz zusammen! Wir sehen, daß die positive Betrachtungs- und Forschungsweise nicht von vorn herein sich gegen den Theismus abzuschließen berechtigt ist; weder darum, weil sie die Erkenntnis der Ursachen überhaupt für unmöglich hält – denn dies thut sie nicht in jedem Sinne, sondern nur insofern, als sie keine solche Einsicht in das Wesen der Ursache zu erlangen hofft, daß ihr daraus die Wirkung selbst begreiflich würde –; noch darum, weil sich die Annahme eines göttlichen Verstandes auf die Analogie mit dem eigenen Wirken stützt; noch endlich darum, weil die theistische Anschauung die Entdeckung der Naturgesetze unmöglich macht, sei es, weil sie die Ordnung der Natur selbst aufhebt, sei es, weil sie ihre Erforschung als unnütz verwirft, indem sie in Gott den Erklärungsgrund von allem gefunden habe. Wie also kann allein von einer theologischen Speculation gesprochen werden, welche im Gegensatze zur positiven steht? – Nur so, daß man darunter ein Verfahren versteht, welches vorschnell und ohne exakte Begründung den Vorgängen in der äußeren Natur Analoga unserer Seelenthätigkeiten, unseres Denkens, Empfindens und Wollens als Principien unterlegt, oder auch, mit Vernachlässigung der nächsten Ursachen, mit einem Hinweise auf den Willen und die Macht einer Gottheit alles gethan zu haben glaubt. Und in der That, es ist klar, daß dieses, und namentlich das Erstere, im Wesentlichen nichts Anderes ist als das, was uns Comte selbst im Anfange als theologische Betrachtungsweise schilderte. Er nannte sie darum nicht bloß die theologische, sondern auch die fictive Erklärungsweise; ein Name, der in vieler Hinsicht passender ist und, um ganz deutlich zu werden, nur näher als die Personen fingirende zu 4

Metaph. XII, 7.

5

Metaph. VIII, 4.

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bestimmen wäre.6 Wir bleiben Comte getreuer als er selbst, wenn wir an dem so gefaßten Begriffe festhalten. Wie der Namen theologisch, so ist auch der Namen metaphysisch in einem anderen als dem gewöhnlichen Sinne gebraucht. Es bedarf dies aber, weil es durch Comte’s eigene Bestimmung genugsam deutlich ist, kaum einer besonderen Bemerkung. Würde er nämlich darunter die erste Philosophie des Aristoteles, die Wissenschaft vom Seienden im Allgemeinen verstehen, so würde er sie, angenommen sogar sie sei mit der positiven Forschungsweise unvereinbar, doch nicht mit der Theologie in Gegensatz gebracht haben, da sie bei Aristoteles unterschiedslos gerade auch mit diesem Namen bezeichnet wird. Comte selbst ist aber auch weit entfernt, diese Metaphysik verdammen zu wollen. Wohl muß der Irrthum, der ihm alle theologische Speculation von vorn herein verwerflich erscheinen läßt, der Metaphysik großen Eintrag thun; die Forschung nach den ersten Gründen der Dinge wird ihr verschlossen. Aber andere Fragen bleiben offen, die ebenfalls auf solches, was allen Dingen gemeinsam ist, gerichtet sind. Und so hat sogar Comte selbst in einem schon oben genannten späteren Werke, dem Système de politique positive, eine erste Philosophie aufgestellt, welche die allgemeinsten, auf allen Gebieten der Erscheinungen gleichmäßig geltenden Gesetze umfassen und beim Studium den besonderen Wissenschaften vorangehen soll.7 Dieses also ist nicht die Metaphysik im Sinne Comtes. Wir würden, wie wir seinen Ausdruck „theologisch“ lieber mit „personenfingirend“ vertauschen möchten, hier die Bezeichnung entitätenfingirende Erklärungsweise der von ihm gewählten vorziehen. Wenn man einerseits auf die Weise achtet, wie Comte die metaphysische Speculation charakterisirte und andererseits an die Rolle denkt, welche besonders in der ausgearteten Scholastik die den concreten Dingen inwohnenden Entitates, Realitates oder Formalitates spielten, so wird man nicht leugnen, daß dieser 6

Auch Stuart Mill bemerkt in seiner Monographie über A. Comte und den Positivismus: „Statt von theologischer Naturerklärung zu sprechen, würde ich lieber personelle oder volitionelle sagen.“

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Dafür, daß Comte mit den Ausdrücken Theologie und Metaphysik etwas Anderes als das Hergebrachte bezeichnet, möchte Einer vielleicht auch noch anführen, daß er sie und die positive Speculation drei Methoden nennt. Allein mir scheint dieses selbst ungenau gesprochen. Sind doch die theologischen und metaphysischen Anschauungen vielmehr Theorien, auf welche dieselbe Methode, deren sich auch die Naturwissenschaft bedient, geführt hat. Wer auf die Anfänge der Forschung in der ionischen Naturphilosophie achtet, wird dieß deutlich wahrnehmen. Sie bediente sich bereits der Beobachtung und Induction, wenn auch in sehr unvollkommener Weise. Aber noch Bacon war ja in ihrer Handhabung kein Meister. Man vgl. auch Comte’s eigene, im unmittelbar Folgenden (S. 20) mitgetheilte Bemerkungen.

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Ausdruck, wenn auch der Form nach vielleicht minder gefällig, der Sache nach vollkommen bezeichnend ist. Uebrigens werden wir, da ja nach den gegebenen Erklärungen jede Gefahr des Mißverständnisses beseitigt ist, der von Comte selbst gewählten Ausdrücke theologisch und metaphysisch in dem von ihm bestimmten Sinne uns bedienen. Wenn man sich nun aber, wie wir es eben gethan, den Begriff, den Comte mit Metaphysik, und den, welchen er wenigstens ursprünglich mit Theologie verbindet, klar macht, so daß die sonst übliche Weise des Gebrauches dieser Namen nicht mehr stört und verwirrt, so kann man nicht leugnen, daß die drei Phasen, welche er unterscheidet, und ihre Aufeinanderfolge im allgemeinen viel Wahres enthalten. Doch bedarf es auch hier einiger Beschränkungen im einzelnen, die wir nicht gegen Comte, sondern mit Comte und in seinem Sinne machen müssen. Comte lehrt nicht, daß jede einzelne wissenschaftliche Frage der Reihe nach in theologischem, metaphysischem und positivem Sinne beantwortet worden sei, daß jedes einzelne Phänomen eine solche dreifache Erklärung gefunden habe; nur von dem Ganzen unseres Wissens und jedem seiner Hauptzweige behauptet er, daß ihre Entwickelung die drei Phasen durchschreite. So z. B. wurde nach ihm die Physik zwar lange Zeit metaphysisch und in einer noch früheren Periode theologisch behandelt, aber nicht in Bezug auf alle zu ihr gehörigen Phänomene. Die einfachsten und gemeinsten physikalischen Thatsachen wurden immer als wesentlich natürlichen Gesetzen unterworfen angesehen, statt der Willkür übernatürlicher Agentien zugeschrieben zu werden. Adam Smith, sagt Comte, bemerkt z. B. mit Recht, daß man zu keiner Zeit und an keinem Orte einen Gott für die Schwere gefunden habe. Dasselbe gilt für alle anderen, ja für die complizirtesten Wissenschaften bezüglich aller Phänomene, die genugsam elementar und gewöhnlich waren, um die vollkommene Unveränderlichkeit ihrer wirklichen Beziehungen von selbst auch den am wenigsten vorbereiteten Beobachter erkennen zu lassen. Deutlich ist dies z. B. auf dem moralischen und socialen Gebiete. Der spontan gefundene Anfang von Naturgesetzen, welche den individuellen oder socialen Akten eigen sind, hat ja, auf alle äußeren Phänomene übertragen, das wahre Grundprinzip der theologischen Speculation bestimmt. Wir sehen also hier Comte von jeder thörichten Ueberspannung seines Gesetzes fern. Doch von einer Seite wenigstens scheint sich ein Einwand, und kein geringfügiger, auch gegen die so gefaßte Allgemeinheit der drei Stadien zu erheben. Der gesammte große Wissenszweig der Mathematik scheint nicht bloß in Bezug auf einzelne Zahlen und Figuren und ihre Eigenthümlichkeiten, sondern durchaus und in seinem Ganzen niemals weder einen metaphysischen noch

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theologischen Charakter getragen zu haben. Denn sicher wohl hat, wie Mill hier mit Recht bemerkt, niemals ein Mathematiker geglaubt, daß der Wille eines Gottes die Parallellinien hindere, sich zu vereinigen oder mache, daß zwei plus zwei als Summe vier ergebe, und gewiß hat nie einer betend zu einem Gotte gefleht, daß er das Quadrat der Hypotenuse gleich den Quadraten der beiden Katheden mache. Und so durchaus bei verwickelteren Sätzen. Auch ist es einleuchtend, warum die Mathematik eine solche Ausnahme bildet. War ja doch in ihr überhaupt kein Anlaß zur Annahme einer wirkenden Ursache vorhanden, weil es sich hier eigentlich um nichts anderes als um Größenverhältnisse handelt, die offenbar mit den Größen selbst gegeben sind. So ist es denn auffallend, namentlich bei einem Mathematiker (denn Comte lehrte lange Zeit in diesem Fache an der polytechnischen Schule zu Paris), daß er die Geschichte dieser ganzen Wissenschaft unbeachtet gelassen zu haben scheint. Allein das Räthsel löst sich leicht und einfach. Comte war weit entfernt, etwas, was so sehr in die Augen springt, zu übersehen. Wenn er trotzdem ausnahmslos und für alle Wissenschaften, also auch für die Mathematik, ein theologisches Stadium behauptete, so konnte er dies nur thun, insofern er das Gebiet der rationellen Mechanik, wie dies ja auch von Anderen häufig geschieht, noch zur mathematischen Wissenschaft rechnete. Ob er dies mit Recht gethan oder nicht, wollen wir hier nicht untersuchen. Das aber ist leicht zu ersehen, daß dann die Geschichte der Mathematik nicht mehr jene Ausnahme bildet, die sie sonst zeigen würde, indem ja auch der von uns angegebene Grund der Ausnahme weggefallen ist. Vor der Entdeckung der drei Grundgesetze der Mechanik, des Gesetzes der Trägheit, des Gesetzes der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung und des sogenannten Gesetzes der Zusammensetzung der Kräfte fanden ohne Zweifel eine Menge der betreffenden Erscheinungen, zu denen ja auch die in dauernder Kraft sich erhaltenden Bewegungen der Gestirne gehören, lange Zeit eine theologische Erklärung. Auch ein metaphysisches Stadium hat die rationelle Mechanik durchschritten, und Comte weiß noch gar manche Spuren desselben selbst in der Art, wie sie heutigen Tages behandelt wird, zu finden, ja sogar in den beiden anderen Zweigen der Mathematik, in der Arithmetik und Geometrie, will er in einer gewissen Weise solche bemerkt haben. Sie zeigen sich in der Annahme von allerlei imaginären Entitäten, die man zwar nicht als wirkende Kräfte – denn, wie gesagt, um ein Wirken kann es sich hier nicht handeln –, aber doch als etwas Wirkliches denkt, was innerlich die Größen constituire. Dahin gehört, um nur eines zu nennen, das Unendlichkleine, das, obwohl eine reine Fiction, ja sogar eine Absurdität, von der Differentialrechnung als in unendlicher Zahl den endlichen Größen inwohnend angenommen wird.

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So also und bei solcher Beschränkung hat das Gesetz Comte’s für die gesammte Wissenschaft Giltigkeit. Doch noch ein Anderes müssen wir, wenn wir die Geschichte einer Wissenschaft unter dem Gesichtspunkte der drei Phasen betrachten wollen, wohl im Auge behalten. Comte hat nur auf die aufsteigende Linie der Entwickelung, nicht auf den Verfall, der zeitweise die Fortschritte mancher Wissenschaften unterbricht, Rücksicht genommen. Er schaut über ihn hinweg, indem er die Wissenschaft erst dort weiter verfolgt, wo sie den verlorenen Faden wieder aufgreift. Wer dieses beachtet, dem werden sofort die Bedenken schwinden, die sonst besonders die Geschichte der Philosophie im gewöhnlichen Sinne8 nothwendig erregen müßte. Ihr Anfang bei den Griechen ist wohl ein kindlich theologischer. Thales erklärt den Magnet für beseelt, weil er das Eisen anziehe. Er ist Hylozoist. Die ganze Welt ist ihm voll von Göttern. Anaximander, Anaximenes, Heraklit haben dieselbe Lehre, mag auch statt des Wassers des Thales der Reihe nach das Unbegränzte, die Luft und das Feuer als das lebendige Wesen der Dinge bezeichnet werden. Empedokles kommt vom Hylozoismus zu einer Art Polytheismus von Freundschaft und Streit, die er wie einen guten und bösen Gott einander bekämpfen und in ihrem Kampfe alle Erscheinungen der Welt erklären läßt. Anaxagoras, der zuerst Monotheist genannt werden könnte, ruft in einer im Comte’schen Sinne theologischen Weise, wo ihm ein mechanischer Erklärungsgrund mangelt, seinen νοῦς unmittelbar als deus ex machina zu Hilfe, und so geht es fort bis hinauf zu Aristoteles, der, obgleich Theist, nicht im verkehrten Sinne ein theologischer Denker, wohl aber (das kann auch sein größter Bewunderer nicht leugnen) in vielen seiner Lehren, wie in der von Potenz und Act, von Substanz und Accidens u. s. w., noch nicht von aller metaphysischen Auffassung frei ist. Doch seinem Grundcharakter nach ist er bereits ein positiver Forscher. Bis zu ihm also besteht eine Ordnung, ähnlich wie Comte sie allgemein bestimmt. Man sollte nun eine Reinigung und vollkommenere Entwickelung des positiven Geistes erwarten. Aber die griechische Philosophie wird in den Verfall des griechischen Lebens überhaupt hineingezogen, und nun sehen wir die Stoa, die philosophisch bedeutendste Schule ihrer Zeit zum Hylozoismus Heraklits zurückkehren, und dann den Neuplatonismus das phantastischste theosophische System aufstellen, als sollte erst jetzt die erste 8

Bei ihr nämlich ist ein solcher Verfall wiederholt und in höherem Maße als bei anderen Wissenschaften eingetreten. Auch er zeigt ein constantes historisches Gesetz, das sich psychologisch begründen läßt. Vgl. meinen in der Kirchengeschichte von Johann Adam Möhler II (Regensburg 1867) veröffentlichten Aufsatz über die Geschichte der kirchlichen Wissenschaften im Mittelalter, wo ich S. 539 f., wenn auch in äußerster Kürze, dieses Gesetz ausgesprochen habe.

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Phase der Entwickelung beginnen. Die Scholastiker des eilften und dreizehnten Jahrhunderts knüpfen wieder an den Höhepunkt der Vergangenheit an. Aber neue Störungen führen von der positiven Forschung zu metaphysischen Subtilitäten und zum Mystizismus zurück. Die Neuzeit nimmt durch Bacon, Descartes, Locke, Leibniz einen Aufschwung, aber zum dritten Male entfremdet ein gänzlicher Verfall die Philosophie in der Art dem positiven Geiste, daß ihre Ausartung im Schelling’schen und Hegel’schen Pantheismus nach unserer Meinung alles überbietet, was die analogen Stadien einer verkommenen Philosophie im Altertum und Mittelalter erzeugt haben. Unseren Tagen bleibt es vorbehalten, zu einer positiven Behandlung der Philosophie sich zurückzuwenden. Der Ruf danach hat sich laut erhoben, und man hat, theils unter Anknüpfung an die Höhepunkte der Vergangenheit, theils unter Benützung der Fortschritte der Naturwissenschaft, bereits da und dort mit einem schönen Anfange begonnen. Diese Betrachtung würde vielleicht nicht ganz die Zustimmung Comte’s finden, der, wir werden noch mehr uns davon zu überzeugen Gelegenheit haben, die psychologischen und die im gewöhnlichen Sinne metaphysischen Forschungen, wie er sie überhaupt nicht zu ihrem vollen Rechte kommen läßt, auch in der Geschichte nicht genug beachtet. Vielleicht ist dieser Zweig des Wissens aber um so mehr geeignet, zu zeigen, wie sich überall seine Lehre von den drei Entwicklungsphasen bewahrheitet findet, wenn man sie nur in der richtigen Weise auf die Geschichte einer Wissenschaft anwendet.

Thomas von Aquin Die Gotteslehre des Thomas von Aquino kritisch dargestellt von Dr. Johannes Delitzsch. Leipzig, Dörffling und Franke. 2 Bl. 116 S. 8. 15 Sgr. 1870

https://doi.org/10.1515/9783110621228-005

„Unsere Modernen lassen dem h. Thomas und andern großen Männern jener Zeit nicht genug Gerechtigkeit widerfahren. In den Ansichten der scholastischen Philosophen und Theologen findet sich viel mehr Gründlichkeit, als man sich einbildet; nur muß man sich ihrer zur rechten Zeit und am rechten Orte bedienen. Ja, ich bin überzeugt, daß ein scharfer und meditativer Geist, der die Gedanken jener Forscher sich klar zu machen und nach geometrischer Methode zu ordnen sich die Mühe gäbe, einen reichen Schatz sehr bedeutender und vollkommen erwiesener Wahrheiten darin finden würde.“1 Diese Worte unseres großen Leibniz hat sein Jahrhundert überhört. Das Interesse an den hervorragenden Denkern des Mittelalters war und blieb erstorben und ist erst in unserer Zeit zu neuem Leben erwacht. Nicht bloß unter den Katholiken, auch in protestantischen Kreisen – die vorliegende Abhandlung ist hiervon ein neues und erfreuliches Zeichen – fängt man jetzt an mit aufmerksamerm Blicke die Werke der Scholastik zu prüfen. Der Hauptzweck, den der Verfasser sich setzt, ist der, „eine möglichst übersichtliche und vollständige Entwicklung der Gotteslehre des Thomas von Aquino zu geben, und zwar vom philosophischen Standpunkte aus“. Zugleich will er, was er darstellt, kritisch beleuchten und historisch aus den Einflüssen älterer Philosopheme begreifen. Er behandelt seinen Stoff in zwei Abschnitten, deren erster „von dem Wesen Gottes an sich“, und deren zweiter „von dem Verhältniß Gottes zur Welt“ handelt. Diese Eintheilung ist ihm von Thomas selbst vorgezeichnet, der nur (in seiner Summa theologica) zwischen diese beiden Theile die von dem Verfasser, als rein theologisch, ausgeschlossene Lehre von der Trinität einschiebt. Betrachten wir kurz beide Abschnitte. Im ersten Theile ist die Darstellung der Thomistischen Lehre im Ganzen eine correcte zu nennen,2 was der Verfasser freilich hauptsächlich dadurch erreicht haben möchte, daß er sie nahezu mit des Thomas eigenen Worten wiedergibt. So ist denn für die Erleichterung des Verständnisses wenig geschehen, und es läßt sich auch nicht mit Sicherheit erkennen, ob der Darsteller selbst seinen Philosophen überall vollkommen verstanden hat. Manchmal wird man geneigt das Gegentheil anzunehmen, wenn man, wo kritisch 1

Briefwechsel zwischen Leibniz, Arnauld und dem Landgrafen E. von HessenRheinfels.

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Als unrichtig fiel mir unter anderm auf, was S. 18 über den Unterschied der Reihen gesagt wird, die nach Thomas anfangslos oder nicht anfangslos sein können. Auf die „Gleichartigkeit“ der Glieder kommt es dabei nicht an. Ebenso ist es unrichtig, wenn es S. 96 heißt, Gott sei nach Thomas „sein eigener Selbstzweck“; die dafür citirte Stelle enthält davon kein Wort.

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eine zuvor richtig dargelegte Lehre beleuchtet wird, den wahren Sinn entstellt findet.3 Als Kritiker macht Delitzsch der Gotteslehre des Thomas vornehmlich einen doppelten Vorwurf. Der erste trifft die Unerkennbarkeit und Unnennbarkeit Gottes, wie Thomas sie lehrt, und zugleich seine Verwerfung einer ursprünglich in uns vorhandenen Gottesidee, der zweite die von ihm mit besonderm Nachdrucke hervorgehobene Einfachheit Gottes. Indem Thomas diese allzusehr urgire, gelange er dahin, Gott als actus purus zu fassen, „eine gar dürftige Anschauung“, die „im göttlichen Leben kein System anerkenne, wodurch dieses ein absolut organisches würde, wodurch die Elemente desselben in und durch einander im tiefsten Einklange stehen und in vollkommenster Harmonie auf und durch einander und zusammen wirken würden“. Ferner komme er auf diesem Wege zur Behauptung der schlechthinnigen Unveränderlichkeit Gottes, einer nach der Meinung des Verfassers argen Verirrung, so zwar, daß „ein solcher abstracter Begriff von Unveränderlichkeit und Ewigkeit, der gar keine Bewegung und Succession in Gott zuläßt“, ihm „eben so schlimm“ erscheint, „als ein Pantheismus, der Gott ganz in die zeitliche Bewegung hineinwirft“. In weiterer Folge identificire dann Thomas die göttlichen Eigenschaften mit dem Wesen Gottes, und namentlich sein Erkennen und sein Wollen mit seinem Sein. Und so sei der Thomistische Gott in keiner Weise ein lebendiger und persönlicher Gott, ein Gott, wie das Christenthum ihn lehre, und zugleich nähere sich Thomas in einer bedenklichen Weise dem Pantheismus, indem er die Weltidee in Gott mit Gott selbst identificire. Wer trägt nun aber die Schuld, daß ein Philosoph wie Thomas, mitten im Christenthum erblühend, in solcher Weise den eigentlichen, christlichen Gottesbegriff verkennt? Die Anklage, die der Verfasser abermals und abermals erhebt, wendet sich gegen den Neuplatonismus, dessen Einflüsse, durch PseudoDionysius und Scotus Erigena vermittelt, alle diese verkehrten Bestimmungen 3

So z. B. S. 28–31, wo etwas als der von Thomas verkannte Wahrheitsgestalt des ontologischen Arguments entwickelt wird, was sich gar nicht darin berührt findet und was gewiß Anselmus selbst nicht als darin enthalten behauptet hätte. Ferner S. 61, wo ein auf der vorhergehenden Seite richtig vorgeführter Schluß des Thomas: Gott sei „das höchste Gut, da er als höchste aller Causalitäten das Gute aller Dinge im eminentesten, keinem andern Dinge mittheilbaren Grade in sich fasse,“ so ausgelegt wird, als sei „nach Thomas die absolute Güte Gottes nichts anderes als seine absolute Causalität.“ „Diese Bestimmung“, heißt es dann weiter, „beschreibt darum Gott nicht nach seinem An-sich, sondern nach seinem Verhältniß zu dem Gewordenen.“ Aehnlich zeigt die Kritik der Ideenlehre (z. B. eine Aeußerung S. 94), daß sie nicht richtig aufgefaßt worden war u. s. f.

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von Unerkennbarkeit, Einfachheit, actus purus, Ewigkeit und Unveränderlichkeit u. s. w. u. s. w. in die Thomistische Lehre gebracht haben sollen. Was sagen nun wir zu allen diesen Behauptungen? Wir können dem Urtheile des Verfassers nicht beistimmen, weder wo er die Lehre von der Unnennbarkeit Gottes, wie wir sie bei Thomas finden, noch wo er die von seiner absoluten Einfachheit tadelt. Beide ergeben sich als nothwendige Folgerungen aus Gottes unendlicher Vollkommenheit. Wir können ihm ferner nicht zugeben, daß die absolute Einfachheit Gottes mit dem Begriffe des Lebens in jenem eminenten Sinne, in welchem es dem unendlich Vollkommenen eigen sein muß, unverträglich sei,4 oder daß die Identificirung der Weltidee mit Gott zum Pantheismus führe, so lange man nur die Weltidee und die Welt, die nach ihr gebildet ist, wie man es ja doch thun muß, auseinanderhält. Wir müssen endlich bestreiten, daß die Lehre des Thomas von der Unnennbarkeit und Einfachheit Gottes in dem einen oder andern Punkte eine specifisch neuplatonische sei, da vielmehr – um von christlichen Denkern ganz abzusehen – beide Bestimmungen, namentlich aber die über die Einfachheit, man kann wohl sagen, allen theistischen Philosophen des Alterthums gemeinsam sind. So lehrt schon Aristoteles in seiner Metaphysik, Gott sei nicht eigentlich das, was wir ihn nennen, und z. B. nicht im eigentlichen, sondern nur in einem höhern, analogen Sinne gut. Und in seinen Büchern von der Seele gibt derselbe Philosoph nicht undeutlich zu erkennen, daß wir nach seiner Ansicht von keinem reinen Geiste während dieses Lebens eine Vorstellung zu gewinnen fähig seien.5 Ja schon Heraklit, bei welchem der Gottesbegriff sich noch nicht von der Materie losgerungen hat, spricht die schönen Worte: „Eines allein ist das Weise, es will genannt werden und will es nicht, Zeus’ Namen.“6 Die Einfachheit des göttlichen Verstandes aber lehrte sogleich der erste unter den Griechen, der den Namen eines Monotheisten verdient, Anaxagoras, und nach ihm Platon, dessen Idee des Guten – und sie ist ja seine Gottheit – ohne jede Mehrheit von Bestimmungen und allein unter allen Ideen vollkommen einfach ist. Und wiederum lehrte dasselbe Aristoteles, dessen Erörterungen über den Verstand, der seinem Wesen nach Energie und reines Denken, Denken des eigenen 4

Freilich, wenn Gott nur unter dem widersprechenden Begriff der causa sui gedacht – die Bemühungen des Verfassers (S. 97 ff.), den Widerspruch wegzudemonstriren, sind eitel – als lebendig gedacht werden könnte, dann wäre in seiner Einfachheit kein Leben.

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Metaph. Λ, 7. p. 1072, a, 35 (vgl. die verwandten Aeußerungen Metaph. A, 2. p. 983, a, 9 u. α, 1. p. 993, b. 9). De Anim. III, 7 fin.

6

Bei Clem. Strom. V, 604, A: ἓν τὸ σοϕὸν μοῦνον, λέγεσϑαι ἐϑέλει ϰαὶ οὐϰ ἐϑέλει, Ζηνὸς οὔνομα.

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Denkens ist, Thomas selbst commentirt hat. Er, der philosophus, war dem großen Scholastiker eine höhere Autorität als der Areopagit und als hundert Erigena. So kann ich denn nur sagen, daß, während die Darstellung des Verfassers mir in diesem ersten Abschnitte im Großen und Ganzen richtig und nur in Einzelheiten verfehlt erscheint, von seiner Kritik das Umgekehrte gilt: einzelne treffende Bemerkungen ausgenommen,7 scheint sie mir weit von der Wahrheit abzuirren. Auch ich bin allerdings der Meinung, daß in der Thomistischen Gotteslehre gar manches zu kritisiren wäre, und daß in ihr mehr als einmal, – sei es durch Kirchenväter, sei es durch Araber vermittelt – sich nachtheilige Einflüsse des Neuplatonismus zeigen; aber mein Tadel gilt fast durchaus einzig und allein der Weise der Begründung, die bald auf eine fehlerhafte Ontologie sich stützt, bald allzu rasch und kühn ihren Bau hinaufführen will, nicht aber dem Inhalte der Lehre. Ist diese ja doch in den seltensten Fällen eine dem Thomas eigenthümliche, während er gewöhnlich nur das in der Kirche von Alters her Ueberlieferte mit gewissenhafter Treue wiederholt. Den zweiten Abschnitt hat der Verfasser wenig ausgeführt. Er meint, weil die Lehre des Thomas vom Verhältniß Gottes zur Welt „zum Theil nur die Consequenz der Lehre von Gottes Wesen“ sei, so könne er sich „in ihrer Darstellung möglichst kurz fassen und auf das Nöthigste beschränken“. In der That betrachtet er hier alles im Lichte der Anschauungen, die er über den allgemeinen Charakter der Thomistischen Gotteslehre in der vorausgegangenen Untersuchung sich gebildet hat. Waren diese irrig, so haben sie jetzt neue Irrthümer zur Folge. Und so kommt denn von den Lehren, die wir hier Thomas zugeschrieben sehen, in Wahrheit keine einzige ihm zu. Es ist eine falsche Beschuldigung, daß Thomas den wahren Schöpfungsbegriff nicht festgehalten habe; die Ausdrücke processio creaturarum und emanatio rerum werden, wenn von ihm gebraucht, auch genugsam von ihm erklärt. Es ist ferner ein ungerechter Vorwurf, daß „Thomas Gott als die allgemeine Form der Dinge bezeichne“.8 Und ebenso ist es unwahr, daß er die Welt als eine Reihe von 7

Dahin gehören z. B. die Bedenken, welche S. 19 f. gegen den dritten und S. 21f. gegen den offenbar ungenügenden vierten Gottesbeweis (1. q. 2. a. 3) erhoben werden.

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Der Verfasser läßt Thomas den Ausspruch thun: „So lange etwas das Sein hat, ist Gott eben darin, daß es das Sein hat, in ihm, und da das Sein das Innerste und Tieffste von allem ist, ist Gott als der Seiende die allgemeine Form der Dinge.“ Aber die Uebersetzungsweise, die er hier anwendet, ist eine höchst merkwürdige, wie Jeder urtheilen wird, wenn er die von Delitsch citirte Stelle des Urtextes damit vergleicht (1. q. 8. a. 1). Die Frage lautet: Utrum Deus sit in omnibus rebus? Thomas antwortet: Oportet quod esse creatum sit proprius effectus eius (sc. Dei) … Hunc autem effectum causat Deus in rebus, non solum quando primo esse incipiunt, sed quamdiu in esse

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der Gottheit emanatistisch abwärts gehender, bloß quantitativ verschiedener Stufen der Vollkommenheit fasse, daß er in einer pantheistischen Weise der Annahme einer Ewigkeit der Welt sich zuneige, wogegen er sich, wie es scheint vergeblich, so klar und ausführlich in seinem Opusculum de aeternitate mundi contra murmurantes vertheidigt hat, und endlich gar, daß er geradezu Gott und Welt als „wesensgleich“ setze und so „am Abgrunde eines vollständigen Akosmismus stehe, nach welchem nur Gott existirt, und alles, was ist, eben darum, weil es ist, mit dem Wesen Gottes identisch ist“. Nein! nein! ich wiederhole es, keine einzige dieser Anklagen ist begründet, und wäre es eine, so wäre Thomas nicht jener „größte Scholastiker“, der „Fürst jenes geistigen Ritterthums“ des Mittelalters, jener christliche Philosoph, welcher „sich einen Namen erworben, der nicht untergehen wird, so lange es noch eine christliche Wissenschaft gibt“, als welchen ihn der Verfasser selbst gleich im Eingange verherrlicht. Alle diese Ehrentitel verdient er in Wahrheit und nach dem Urtheile Aller, die ihn kennen. Aber eben darum ist es klar, daß die Anschauung, welche Delitzsch sich von seiner Lehre gebildet hat, nicht die richtige ist. Wenn wir indessen nach dem Gesagten die Auffassung der Thomistischen Gotteslehre von Seiten des Verfassers nicht als eine gelungene bezeichnen können, so müssen wir es doch anderseits rühmend anerkennen, daß er sie in einer geistreichen Weise durchzuführen versucht hat. Man folgt ihm Schritt für Schritt mit Interesse, selbst wenn man seine Wege bereits als Irrwege erkannt hat. Auch die Darstellung ist eine gefällige. Fort und fort mit Kritik durchwoben, verliert sie dadurch nicht, wie dies nur zu häufig in ähnlichen Fällen sich ereignet, ihre Klarheit und Uebersichtlichkeit. Würzburg

F. Brentano

conservantur; sicut lumen causatur in aere a sole, quamdiu aer illuminatus manet. Quamdiu igitur res habet esse, tamdiu oportet quod Deus adsit ei secundum modum quo esse habet. Esse autem est illud quod est magis intimum cuilibet, et quod profundius omnibus inest, cum sit formale respectu omnium quae in re sunt, ut ex supra dictis patet, quaest. 7, art. 1. Unde oportet quod Deus sit in omnibus rebus, et intime.

Der Atheismus und die Wissenschaft1 1873

1

Der nachfolgende Aufsatz hält sich an eine Publikation, die zunächst, als Zeitungs-Artikel in einem österreichischen Journal, nur einen engern Kreis beherrschte. Da aber in der besagten Publikation und zwar in populärer Weise so ziemlich das ganze Rüstzeug der atheistisch Gebildeten in Anwendung kommt, so hat er doch eine allgemeinere Bedeutung. Der Inhalt derselben ergibt sich aus der nachfolgenden Widerlegung von selbst.

https://doi.org/10.1515/9783110621228-006

Dieß ist der Titel eines Aufsatzes, der vor etlichen Wochen im Feuilleton der Wiener „Tages-Presse“ erschien. Wir staunten als wir ihn lasen. Aber fast mehr noch mußten wir staunen, als Woche um Woche verstrich, ohne daß ein einziges Blatt darauf Rücksicht nahm, sei es um ihn zu widerlegen, sei es um ihm beizupflichten. Es scheint, daß die aufgeklärte Wiener Welt die Ansichten des Verfassers nicht bloß als richtig, sondern auch als eine allbekannte Wahrheit und abgemachte Sache betrachtet. Dieß stimmt vollkommen zu dem siegesbewußten Ton, in welchem der Verfasser spricht. Und sein Reden und der Andern Schweigen sind in hohem Maß charakteristisch für unsere Zustände. Denn für jeden, in dem noch eine Ueberzeugung von höherer Wahrheit lebt, sind die Behauptungen des Verfassers eine Herausforderung, die ihres gleichen sucht. Der Atheismus wird offen als die frohe Botschaft des 19. Jahrhunderts gepredigt. Der Theismus erscheint als eine wissenschaftlich abgethane Sache. Und nicht bloß falsch und unhaltbar soll er seyn, nein, er wird zugleich als ein Feind der edelsten Güter dargestellt. Der Aufsatz ist nicht ohne Geschick geschrieben. Unläugbar gelingt es dem Verfasser sich einen Schein von überlegenem Wissen zu geben. Die neuesten Forschungen der Naturwissenschaft, die Aussprüche großer Denker aller Zeiten, eine reiche Auswahl historischer Thatsachen werden von ihm angeführt, und auch erkenntnißtheoretische Untersuchungen eingeflochten, welche zu zeigen scheinen, daß er in die Philosophie ebenso wie in die Lehren der Geschichte und Naturwissenschaft völlig eingeweiht sei. So steht er da, gehüllt in einen Nimbus von Gelehrsamkeit. Und hinweisend auf eine Legion von Zeugen scheint er seine Dogmen so recht von der unfehlbaren Cathedra moderner Wissenschaft zu verkünden. Und dennoch ist Alles Flitter. Weder Geistestiefe noch gründliche Kenntniß wird eine nähere Prüfung dem Verfasser zuzuerkennen vermögen. Seine Gelehrsamkeit ist nichts als die leichterworbene Belesenheit eines Halbwissers, seine Philosophie nichts als ein Eklekticismus aus verschiedenen und einander widersprechenden Systemen, bei welchem der Haß gegen den Theismus Maßstab der Auswahl gewesen ist, seine pomphaften Sentenzen nichts als leere Phrase. Da keines der Wiener Blätter den Fehdehandschuh aufhebt, so wollen wir es thun. Und indem wir die Mühe nicht scheuen unser Urtheil im Einzelnen zu begründen, hoffen wir, daß der Leser durch dieses Beispiel auch über den Werth zahlreicher ähnlicher Machwerke in unserer Tagesliteratur belehrt seyn werde. Blicken wir zu diesem Zwecke zuerst auf die erkenntnißtheoretischen Bemerkungen, welche der Untersuchung als Einleitung dienen. Der Verfasser weiß, daß es selbst unter den Gegnern des Theismus viele und nicht unangesehene Denker gibt, die mit gleicher, wenn nicht größerer, Verachtung auch

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den Atheismus verwerfen. Jede Entscheidung der Frage über die Existenz eines Gottes weisen sie auf ihrem Standpunkte als etwas von vornherein Unmögliches zurück. Dieß ist, was z. B. Comte und seine Schule gethan haben. Als Gegner des Theismus sind diese Männer dem Verfasser willkommen, und er ist darauf bedacht ihre Bundesgenossenschaft nicht zu verlieren. Er verwahrt sich also dagegen, daß er in seinem Atheismus eine dogmatistische Lehre vertrete. Er wisse, sagt er, recht gut, daß (außerhalb der Mathematik) nur relative Wahrheit erreichbar sei, und daß man hinsichtlich der letzten Ursachen nichts zu erkennen vermöge. Er erkläre daher auch keineswegs die Ueberzeugung von der Nichtexistenz eines schöpferischen Gottes für die allein vernünftige Weltanschauung. Er behaupte nur, daß die bisherigen theistischen Versuche theils unzulänglich, theils mit Widersprüchen behaftet seien. Das alles ist ganz in der Weise, ja zum Theil mit den Worten der Positivisten gesprochen, und nur über Eines scheint man sich wundern zu dürfen, wie nämlich der Verfasser nach allem dem sich noch einen Atheisten nennen möge. Aber was er mit der einen Hand gibt, nimmt er mit der andern. Schon das unmittelbar Folgende hebt das Vorausgegangene wieder auf. Der Verfasser erklärt feierlich, daß er von keiner bescheidenen Selbstbeschränkung der Wissenschaft etwas hören wolle. „Bis auf die fernsten, größten und höchsten Begriffe“ soll sie nach ihm Anwendung finden. „Für das Streben des forschenden Geistes gibt es nichts unnahbar Heiliges mehr.“ „Ich will die Wahrheit schauen“ ist, auch auf den höchsten Gebieten, der Wahlspruch des 19. Jahrhunderts. Und so erklärt er denn auch in den folgenden Spalten, nur die mechanisch materialistische oder, wie er sie auch nennt, monistische Weltanschauung sei wissenschaftlich, die Vorstellung eines Weltenschöpfers dagegen geradezu absurd, der Atheismus allein vernunftgemäß; obwohl er freilich dann und wann auch hier wiederum auf den Standpunkt des bloßen Skeptikers zurücktritt. Wir sehen wohl, das sind zwei unvereinbare Bekenntnisse. Und daß der Verfasser, indem er eklektisch sie miteinander verbindet, ihren Widerspruch nicht bemerkt, beweist nur, daß ihm begegnet, was schon so vielen Eklektikern begegnet ist, daß sie nämlich die Aussprüche, die sie sich eigen machten, in Sinn und Bedeutung gar nicht recht begriffen. Recht offenbar zeigt sich dieser Mangel an Verständnis auch in der Art, wie der Verfasser die philosophischen Termini handhabt. Viele Philosophen, namentlich der englischen Schule, haben ausführlich die Lehre von der Relativität unserer Erkenntniß dargelegt, zu welcher auch der Verfasser sich bekennen will. Hätte er irgend eines dieser Werke gelesen und verstanden, so würde er wissen, daß man, wenn man sagt, nur relative Wahrheit sei erreichbar, etwas ganz Anderes sagt, als was der Verfasser meint, wenn er an dem

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angeführten Orte den Ausdruck dahin erklärt, daß nur eine Annäherung an die Wahrheit durch Fortschreiten von schwereren zu leichteren Irrthümern möglich sei. Und ebenso gebraucht der Verfasser gleich darauf das Wort „a priori“ in einer Weise, die zeigt, wie ihm das wahre Verständniß des flüchtig erhaschten Ausdruckes fehlt. So zeigt sich denn, daß die einleitenden erkenntnißtheoretischen Betrachtungen wenigstens nichts als ein Gewirre halbverstandener Phrasen sind. Doch diese gehören weniger zur Sache, und nur darum schien es mir nicht unwichtig darauf einzugehen, weil es gerade durch sie dem Verfasser am meisten gelingen dürfte, sich in das Ansehen eines Mannes von gründlicher spekulativer Bildung zu setzen. Jetzt aber, nach ihrer näheren Besichtigung, möchte er sich dadurch im Gegentheil von vornherein als unklaren Halbwisser charakterisirt haben. Als solchen zeigen ihn denn auch auf ’s neue die folgenden Untersuchungen über die „Gotteshypothese“. Der Hauptvorwurf, den ihr der Verfasser macht, und durch welchen er sie wie mit einem Schlage vernichten zu können wähnt, ist der des Anthropomorphismus. Alle Theisten thun nach ihm nichts Anderes, als daß sie als weltbeherrschende Principien Wesen fingieren wie sie selbst, was doch offenbar absurd und lächerlich sei. Das habe schon der Gründer der Eleatischen Schule, Xenophanes erkannt: „Den Sterblichen“, sagt er in seinem Lehrgedichte, „scheint es daß die Götter ihre Gestalt, Kleidung und Sprache hätten. Die Neger dienen schwarzen Göttern mit stumpfen Nasen, die Thracier Göttern mit blauen Augen und rothen Haaren. Wenn aber die Ochsen und Löwen Hände hätten, um mit ihnen zu zeichnen und Bilder herzustellen wie die Menschen, so würden sie Gestalten der Götter zeichnen, wie sie selbst sind. Die Pferde würden ihnen die Gestalt von Pferden geben, die Ochsen die von Ochsen.“ So war es aber nicht etwa bloß in der griechischen Zeit. Der Anthropomorphismus blieb der Charakter des Theismus durch die Geschichte. „Jede Nation“, sagt der Verfasser, „hatte ihre eigene Personifikation auf den Altar gesetzt, um sie unter dem Namen irgend einer Gottheit anzubeten“. Und was so die Geschichte in ihrem ganzen Verlauf als wirklich zeigt, das ergibt sich auch von vornherein als nothwendig. Der Theist, lehrt der Verfasser, konnte gar nicht anders als anthropomorphistisch verfahren. „Denn der Mensch hat keine anderen Begriffe als solche, welche aus der Wahrnehmung und Erfahrung genommen sind. Und diese bieten ihm nichts Höheres als ihn selbst. Ferner ist es ein unbestreitbarer Satz, daß das Umfaßte nicht größer seyn kann als das Umfassende. Man kann das Meer nicht in ein Wasserglas füllen. Die Gottidee muß demnach unvermeidlich, sobald sie von uns erfaßt wird, die Dimensionen unseres Hirnes annehmen. Selbst angenommen, es gebe einen Gott, so

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wird dieser immer nur unserer Vorstellung, unserem Begriffsvermögen entsprechen, mit anderen Worten, das Erzeugniß unseres eigenen Denkens seyn.“ Dieses ist das Hauptargument des Verfassers. Und da es recht eigentlich den Kern der ganzen Abhandlung bildet, so dürfen wir es nicht versäumen etwas eingehender dabei zu verweilen. Nicht alles was der Verfasser hier gesagt hat, ist falsch und verwerflich. Vielmehr bin ich geneigt in einem weiteren Umfange ihm zuzustimmen, als er selbst glauben mag. Freilich ohne mich darum im geringsten von dem was die bedeutendsten unter den theistischen Denkern gelehrt haben, zu entfernen. So ist es unläugbar richtig, daß in dem Menschen eine fehlerhafte Neigung besteht, das Göttliche zu anthropomorphisiren. Gleichwie man die Thiere, indem man ihr psychisches Leben nach dem eigenen beurtheilt, sehr häufig über ihre Sphäre emporhob und ihnen Fähigkeiten zuschrieb, die sie nicht haben, so hat man andererseits den weltbeherrschenden Gott, indem man ihn nach sich selbst bemaß, nur allzu oft in’s Niedere herabgezogen und unwürdige Vorstellungen von ihm sich gebildet. Das haben von jeher alle vernünftigen Theisten anerkannt. Nicht bloß die Kirchenväter polemisirten darum gegen den Polytheismus der Heiden, sondern auch unter diesen selbst haben ein Xenophanes, von welchem der Verfasser einige schöne Stellen anführte, und mit ihm viele Andere gegen den Anthropomorphismus geeifert, obwohl sie darum nichts weniger als Atheisten waren. So lehrt z. B. derselbe Xenophanes ein einheitliches göttliches Princip, von welchem er sagt, es sei ganz Sehen, ganz Hören, ganz Denken und beherrsche mühelos mit der Kraft seines Verstandes das Weltall. Nur das also bleibt zu untersuchen, ob auch diese Eiferer gegen den Anthropomorphismus da, wo sie die eigene Gotteslehre entwickelten, selbst wieder unbemerkt in den gleichen Fehler verfallen seien, ob also, wie der Verfasser sagte, aller Theismus ausnahmslos demselben Gebrechen unterliege und, wie er weiter darthun wollte, nothwendig unterliegen müsse. Um dies Letztere zu beweisen, stützte sich der Verfasser auf das Princip, daß unsere Vorstellungen alle aus der Erfahrung stammen. Nicht Jeder vielleicht würde ihm dieß zugeben. Aber wir theilen auch hier seine Ueberzeugung. Nur gilt auch hier wieder, daß wir, indem wir ihm dieß Zugeständniß machen, uns keineswegs von den größten und angesehensten unter den theistischen Denkern trennen. „Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu“, „Nichts ist im Verstande, was nicht früher in einem Sinne war“, sagte Thomas von Aquin wie John Locke; und beide waren entschiedene Theisten, ja der letztere behauptete, die Existenz eines Gottes sei so sicher erweisbar, wie der Satz, daß die Winkelsumme eines Dreiecks gleich zwei Rechten seyn müsse.

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Es handelt sich also hier uns nur noch darum, ob aus diesem Princip mit dem Verfasser gefolgert werden könne, daß jeder theistische Versuch unvermeidlich als Anthropomorphismus enden müsse. Der Verfasser behauptet es. Jene großen Denker waren aber offenbar der entgegengesetzten Meinung. Und ohne Zweifel ist das Recht auf ihrer Seite. Wie es nämlich auch immer wahr und gewiß seyn möge, daß alle unsere Vorstellungen in letztem Grunde aus dem von der Erfahrung gebotenen Material gebildet sind, so ist es doch nicht minder sicher, daß wir in sehr mannigfacher Weise diesen Stoff zu bearbeiten vermögen. Namentlich durch Negation können wir die Begriffe ändern, ja in ihr Gegentheil verwandeln. Dieses Mittels wird der Theist im ausgedehntesten Maße sich bedienen müssen, wenn er nicht den Fehlern des Anthropomorphismus verfallen soll. Er wird darum, indem er den Anspruch aufgibt, Gott, wie er an und für sich ist, in seinem Wesen zu erkennen, sich darauf beschränken müssen, Einiges negativ von ihm auszusagen, wie z. B. daß er nicht ausgedehnt, nicht veränderlich sei. Und wenn er Anderes ihm positiv beilegt, wie etwa Denken, Wollen und Seligkeit, so wird er zugleich berichtigend die Bemerkung beifügen, daß nicht eigentlich diese Bestimmungen, sondern etwas was über sie und über alle unsere Vorstellungen von Vollkommenheit hinausliege und nur in einer uns unbegreiflichen höheren Weise alle uns denkbare Vollkommenheit in sich schließe, der Gottheit zuzuschreiben sei. Alles Andere was er von ihr sagen wird, wird sich nicht auf inneres Seyn und Leben, sondern auf ihr Verhältnis zur Welt beziehen, indem er z. B. lehrt, sie sei die einheitliche letzte Ursache, die unumschränkte Herrin, das Urbild und der Zweck aller endlichen Wesen. Hierin wird allerdings ein unumwundenes Bekenntniß seiner Schwäche liegen. Er wird offen zugestehen müssen, daß er von Gott viel besser, was er nicht sei, als was er sei, zu sagen wisse. Aber demungeachtet wird auch diese äußerst unvollkommene Weise der Erkenntniß Gottes wegen der erhabenen Schönheit des Gegenstandes ihm unvergleichlich werthvoller seyn als die vollkommene Erkenntniß niederer Dinge. Es gilt hier ein Vergleich, den Aristoteles einmal in ähnlichem Falle gebraucht. Der Liebende freut sich mehr, wenn er den Geliebten sieht, sei es auch nur undeutlich und in weiter Ferne, als wenn eine ihm gleichgiltigere Persönlichkeit ihm nah und deutlich vor Augen steht. So also und in diesem Sinne scheint auch nach dem, welcher die Erfahrung als die ausschließliche Quelle aller unserer Vorstellungen behauptet, ein Theismus, der die Fehler des Anthropomorphismus vermeidet, möglich zu bleiben. In der That hat man den bezeichneten Weg wirklich betreten, ja das Gesagte entspricht vollkommen dem was man in jeder höheren theistischen Auffassung

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findet, und insbesondere der Anschauung des Christenthums. Es ist keineswegs richtig, daß auch von dem christlichen Gotte gelte, was der Verfasser von jedem Gotte behauptet hat, daß nämlich in ihm eine Nation nur sich selber personificirt habe. Der Verfasser selbst gibt dem Zeugniß, indem er an derselben Stelle seiner allgemeinen Behauptung eine Beschränkung beifügt, deren Bedeutung und Tragweite ihm seltsamer Weise entgeht. Denn in Wahrheit zerstört er dadurch selbst von Grund aus das Gebäude seines Beweises. Nachdem er nämlich gesagt hat, daß „jede Nation ihre eigene Personifikation auf den Altar gesetzt habe, um sie unter dem Namen irgend einer Gottheit anzubeten“, setzt er bei, „nur daß den menschlichen Eigenschaften, den guten wie den bösen, eine höhere Potenzirung gegeben wurde, die sogar bis in den Gegensatz derselben überspringen konnte, wie man dieses z. B. deutlich beim christlichen Gotte sieht, der allmächtig, ewig, allgegenwärtig u. s. w. genannt wird, entgegen der kraftlichen, zeitlichen und räumlichen Beschränktheit der Menschen“. Was heißt das Anderes als, der christliche Gott, obwohl auch seine Vorstellung nichts enthält, was nicht irgendwie aus Erfahrungselementen gewonnen wäre, wird dennoch keineswegs wie ein Mensch oder ein anderer Erfahrungsgegenstand, vielmehr vielfach als ein Gegensatz zu ihnen gedacht, und ist also durchaus nicht ein anthropomorphistischer Gott. Und so haben wir denn hier wieder einen jener flagranten Widersprüche, deren sich, wie wir auch schon früher gesehen haben, der Verfasser wiederholt in seiner Abhandlung schuldig macht. Aber ist nicht dennoch jede Gotteserkenntniß unmöglich, weil, wie der Verfasser zuletzt noch geltend machte, das Umfaßte nicht größer als das Umfassende seyn kann? Auch hier gilt Aehnliches wie oben. Das Princip selbst, das der Verfasser aufstellt, ist in einem gewissen Sinne offenbar richtig. Und es ist ein Princip, das deßhalb auch die bessern theistischen Denker keineswegs geläugnet haben. Es ist ein Satz der Scholastiker, den der Verfasser, ohne seinen Ursprung zu kennen, eklektisch mit seinem Materialismus verwebte. Freilich aber fehlte ihm auch hier wieder das richtige Verständniß des Gesetzes, auf das er sich berief. So mechanisch, wie er den Ausspruch versteht, wenn er die Folgerung daraus zieht, daß die Gottidee, sobald sie von uns erfaßt werde, die Dimensionen unseres Hirnes annehmen müsse, ist offenbar, wo es sich um ein psychisches Umfassen handelt, der Satz nicht zu nehmen. Würde sich doch sonst die Folgerung ergeben, daß auch das ganze Weltall, oder wenigstens die weiten Himmelsräume, die der Astronom messend in seiner Erkenntniß umspannt, nicht größer als sein Gehirn von ihm gedacht werden könnten. Nur in einem ganz anderen Sinne ist daher jener Ausspruch wahr und von selbst einleuchtend. Für jede endliche Erkenntnißkraft wird es Objekte geben, denen sie

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nicht mehr gewachsen ist, und ihnen gegenüber wird sie sich unfähig zeigen, sei es überhaupt, sei es in vollkommener und adäquater Weise sie zu erfassen. Das ist der wahre Sinn des Satzes, und so haben ihn die Scholastiker, da sie ihn aussprachen, verstanden, und haben die Folgerung daraus gezogen, daß eine adäquate Erkenntniß Gottes, ein eigentliches Begreifen seines Wesens für uns unmöglich seyn müsse. So sei denn Gott, wie auch die Schrift sage, seinem Wesen nach verborgen, unbegreiflich und unnennbar. Auch haben sie damit nichts Anderes ausgesprochen, als was schon frühere Theisten, und namentlich der größte Theist unter den heidnischen Denkern, Aristoteles, ohne darum ihrem Theismus zu entsagen, gelehrt hatten. Sein Schüler Pasikles sagt ganz im Sinne des Meisters: „Der menschliche Verstand gleicht dem Auge einer Nachteule, welches da am wenigsten sieht, wo der Tag am hellsten scheinet.“ Und vor ihm schon hatte, trotz einer noch wenig geläuterten Vorstellung von der Gottheit, Heraklit gesagt: „Eines allein ist das Weise. Es will genannt werden und will es nicht, Zeus’ Name.“ Das also ist die richtige Auffassung des Princips, und das die richtige Folgerung in Betreff unserer Gotteserkenntniß, zu welcher man von ihm aus gelangen kann. Die grobsinnliche Deutung des Verfassers dagegen ist lächerlich und auf einem wunderlichen Mißverständnisse beruhend. Fast noch wunderlicher aber ist der Schluß, den er aus dem so verstandenen Principe gezogen hat. „Selbst angenommen es gebe einen Gott“, sagte er, „so wird dieser immer nur unserer Vorstellung, unserem Begriffsvermögen entsprechen, mit anderen Worten das Erzeugniß unseres eigenen Denkens seyn.“ Wie? Selbst angenommen es gebe einen Gott, so gibt es doch keinen Gott, sondern er bleibt eine bloße Fiktion? Das ist ja sowohl in sich selbst absurd, als auch insbesondere das gerade Gegentheil von dem was der logischen Consequenz nach erwartet werden mußte. Selbst angenommen es gebe einen Gott, hätte der Verfasser schließen sollen, so wird dieser nimmer unserer Vorstellung, unserem Begriffsvermögen vollkommen entsprechen, weil dieses eben ihn so, wie er ist, nicht zu erfassen vermögen wird. Das war der Schluß, den die Logik hier gebot, sehr verschieden, wie wir sehen, von dem, bei welchem der Verfasser anlangt. Aber freilich, er mußte so schließen wie er schloß, wenn er sein vorgestecktes Ziel erreichen wollte. Im anderen Falle wäre er ja nicht zu der Nichtexistenz eines Gottes, die er beweisen will, sondern nur etwa zur Nichterkenntniß desselben, oder vielmehr, genauer gesprochen, zu der Unmöglichkeit geführt worden, daß Gott in adäquater Weise von uns erfaßt werde. Und diese Lehre ist so weit entfernt, dem Theismus überhaupt, und insbesondere auch dem christlichen Theismus zu widerstreiten, daß sie vielmehr unter die Dogmen der Kirche zu zählen ist.

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So viel möge hier genügen, um die Unhaltbarkeit des besprochenen Argumentes und die mannigfachen Fehler, mit welchen es behaftet ist, nachzuweisen. In dem Bisherigen ist der Verfasser offenbar wenig glücklich gewesen, da er ja, weit entfernt seine Gegner zu widerlegen, vielmehr nur mit sich selbst in Widersprüche gerieth. Und dennoch ist der Vorwurf des Anthropomorphismus, wie gesagt, der Hauptschlag, den er gegen den Theismus führt. Was er sonst noch bringt, sind nur vereinzelte, flüchtig hingeworfene Bemerkungen. So empfiehlt er die Entwicklungslehre Darwin’s als die einzig vernünftige Ansicht über den Ursprung der verschiedenen Arten lebender Wesen, und erklärt zugleich, daß sie mit der Annahme eines Schöpfers unvereinbar sei. Warum aber? unterläßt er freilich zu zeigen. Und doch sollte man meinen, es könne höchstens die Folgerung gelten, daß der teleologische Beweis dadurch seine Kraft verliere, da auch auf rein mechanischem Wege von der scheinbaren Zweckmäßigkeit in der Welt Rechenschaft zu geben wäre. Aber nicht einmal dieses ist richtig. Denn abgesehen von der Unsicherheit, die noch immer der Evolutionshypothese anhaftet, und von der nachweisbaren und von sehr bedeutenden Naturforschern wirklich nachgewiesenen Unzulänglichkeit des Kampfes um’s Daseyn als Erklärungsprincips der Entwickelung, würde selbst auf dem Standpunkte eines extremen Darwinianers ein mechanisch nicht zu erklärender Schein von Teleologie in der Natur zurückbleiben. Unter Andern hat Darwin selbst dieß hervorgehoben. Interessant ist aber auch, was die Gegner Darwin’s, wie z. B. der geistreiche Verfasser eines Artikels in der North British Review (1867) und Mivart in seiner Genesis of Species (2. Aufl. 1871) in dieser Hinsicht erörtert haben. Ein anderesmal macht der Verfasser die Bemerkung, man bedürfe keiner Annahme einer übernatürlichen Kraft als erster Ursache aller Entwickelung, wenn man nur diese selbst ohne Anfang und Ende denke. Hiemit scheint er den schon seit Platon und Aristoteles in mannigfachen Gestalten aufgetretenen Beweis aus der Bewegung abweisen zu wollen. Aber er übersieht, daß ihm die Frage zu untersuchen bleibt, ob denn eine anfangs- und endlose Entwickelung in Wahrheit angenommen werden könne. Diese Frage ist wiederholt, und auch in neuerer Zeit wieder untersucht worden. Und das Ergebniß war ein verneinendes. Merkwürdig sind in dieser Beziehung die Folgerungen, welche in unseren Tagen aus dem sogenannten Gesetze der Wechselwirkung der Naturkräfte gezogen wurden. Und ich erlaube mir dem Verfasser, da er ja doch kein Freund dickbändiger Studien ist, zur leichten Kenntnißnahme der betreffenden Forschungen zwei Broschüren zu empfehlen; die eine von Helmholtz „Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte“, zu

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Königsberg 1854, die andere von dem Physiologen A. Fick über den gleichen Gegenstand in noch jüngerer Zeit zu Würzburg erschienen. Wir finden bei dem Verfasser auch noch eine Wendung, die öfter schon von Anderen zu Gunsten des Atheismus gebraucht wurde. Die atheistischmaterialistische Weltanschauung, sagt er, sei Monismus; die theistische Dualismus. Es liegt in dem Menschen ein Drang, die Vielheit der Erscheinungen möglichst einheitlich zu begreifen. Eine Ansicht, welche dieß thut, hat für ihn schon dadurch allein etwas Befriedigenderes, und er ist geneigt ihr vor anderen den Vorzug zu geben. Sehr häufig schon hat dieser Drang nach Einheit auch anderwärts und insbesondere z. B. beim Darwinismus empfehlend gewirkt. Auch bin ich keineswegs geneigt ihm jede Berechtigung abzusprechen. Aber was mir offenbar unberechtigt scheint, ist, wenn man ihn zum Vortheil des Materialismus, dem Theismus entgegen, benützen will. Gerade der Theismus ist es, der am meisten und eigentlich allein den Namen des Monismus verdient, indem nur er die Gesammtheit der Erscheinungen aus einer einheitlichen letzten Ursache ableitet. Der Materialismus dagegen ist vor allen anderen Weltanschauungen ein Pluralismus zu nennen, indem er aus einer Anzahl von Elementen, die theils specifisch gleich, theils der Art nach voneinander verschieden sind und, keinem gemeinsamen Urgrunde entstammend, von Ewigkeit nebeneinander bestehen sollen, die Welt und ihre Phänomene sich bilden läßt. Endlich legt der Verfasser noch auf eine Thatsache großen Nachdruck. Die Erfahrung, sagt er, lehre, daß nicht die denkkräftigeren Köpfe vor anderen zum Theismus neigen. Im Gegentheil zeige es sich, daß die Menschen, je schwächer an Geist, um so religiöser seien. Unläugbar wäre dieß, wenn es sich wirklich allgemein bewährte, eine merkwürdige und wohlzubeachtende Erscheinung. Allein so ganz allgemein gilt die Behauptung nicht, und sogar der Verfasser erkennt an, daß es hier Ausnahmen gebe; nur fügt er bei, daß durch diese die Regel eben nur bestätigt werde. Freilich macht er hier eine sonderbare Anwendung von dem Satze: exeptio firmat regulam. Wenn die Obrigkeit erklärt, sie wolle in einem gewissen Falle eine Ausnahme von einem Gesetze machen, so hebt sie dadurch allerdings die Regel nicht auf, sondern gibt auf ’s neue zu erkennen, daß sie dieselbe nach wie vor aufrecht erhalten wissen wolle. Wenn aber Naturforscher auf Ausnahmen von einem bis dahin angenommenen Gesetze stoßen, wie dieß z. B. der Fall war als man, der Ansicht Newton’s entgegen, fand, daß gewisse Körper, die bei geringer Dichtigkeit das Licht stark brachen, nicht wie die früher untersuchten einen verbrennlichen Bestandtheil enthielten, so werden sie dadurch die

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allgemeine Behauptung, also z. B. die, alle starkbrechenden Körper enthielten einen brennbaren Bestandtheil, nicht für bestätigt, sondern im Gegentheile für widerlegt halten. Welchem der beiden Fälle gleicht nun der unserige? Offenbar ist er dem letzteren, nicht aber dem ersteren analog. Somit ist die Ausrede des Verfassers eine leere Phrase. Und wie erst, wenn man sieht, was für Ausnahmen es sind, welche die Regel bestätigen müßten! Da ist im Alterthum ein Aeschylus und Sophokles, ein Sokrates, Platon und Aristoteles, ein Origenes und Augustinus; da ist im Mittelalter ein Albertus, ein Thomas von Aquin, ein Dante zu nennen; da ist in der neueren Zeit, in England ein Locke und Newton, in Deutschland ein Kepler und Leibnitz, in Frankreich ein Descartes, Pascal und Bossuet – um nur einige aus der großen Schaar geistiger Heroen hervorzuheben, welche mit Entschiedenheit und Wärme dem Theismus angehangen haben. Das sind Ausnahmen die, weit entfernt die Regel zu bestätigen, ihr Gegentheil als Regel darzuthun drohen. Doch, wenn diese Entschuldigung nicht genügt, so hat der Verfasser vielleicht eine andere zur Hand. Wer bürgt dafür, daß solche große Gei-ster und wissenschaftliche Denker, wenn sie sich zum Theismus bekennen, keine Heuchler sind? – Von dem berühmten Agassiz wenigstens, der jetzt die Zierde der amerikanischen Gelehrten bildet, behauptet dieß der Verfasser mit aller Zuversicht. Freilich scheint er keinen anderen Grund dafür zu haben, als seine Ueberzeugung von der Evidenz der erbrachten Argumente. Nur Dummheit, die zu bemitleiden, oder Lüge und Heuchelei, die von Herzens Grund zu hassen und mit allen Mitteln zu verfolgen sei, könne, meint er, ihre Zustimmung versagen. Und läßt er denn sogleich an dem armen Agassiz seine zelotische Wuth aus. Seine Revolutionshypothese wird, nach dem Vorgang von Häckel, zuerst in’s Lächerliche verzerrt und dann als kindlich verhöhnt, obwohl sie Agassiz nicht mit Kindern und Schwachköpfen, sondern im Wesentlichen mit dem eminenten Cuvier gemein hat. Sein Theismus soll ein Buhlen um den Beifall der Gläubigen und eine Spekulation auf eine reiche Dollar-Ernte seyn. Und auch noch andere Schlechtigkeiten sollen dem Manne ankleben, wie er denn namentlich es liebe mit fremden Federn sich zu schmücken; ein Vorwurf, wodurch zu gleicher Zeit die Ehre seines wissenschaftlichen Verdienstes und seines Charakters angetastet wird. Doch seine Wuth gegen diesen „Typus der gläubigen Gelehrten“ hat den Verfasser hier blind gemacht. Agassiz ist so wenig ein Typus der gläubigen Gelehrten, daß er vielmehr eben so weit oder weiter nach der einen, als Darwin nach der andern Seite von der Lehre der Bibel abweicht. Denn wenn dieser Menschen und Affen von denselben Vorfahren herleitet, so leugnet Agassiz seinerseits die Abstammung aller Menschen von demselben

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Paare. Und, wie man auch immer mißbilligend hierüber urtheilen möge, Eines wenigstens geht deutlich daraus hervor, nämlich daß die Uebereinstimmung des amerikanischen Forschers mit der Orthodoxie in gewissen Punkten, sicher nicht auf Rechnung einer unehrlichen Connivenz gesetzt werden könne. Wir haben uns bis jetzt mit den Erörterungen des Verfssers beschäftigt, in welchen er die wissenschaftliche Unhaltbarkeit des Theismus darthun wollte. Gehen wir nun einen Schritt weiter. Nach der vermeinten Widerlegung des Glaubens an die Gottheit sucht der Verfasser auch die Nachtheile und das Verderben zu zeigen, welche aus ihm für die Menschheit entspringen. Hier stößt er nicht bloß noch härter mit der gewöhnlichen Ansicht der Menschen zusammen, sondern tritt auch mit der Ueberzeugung der größten Denker aller Zeiten in den schroffsten Gegensatz. Schon im Alterthum hatte nicht allein Platon, der Göttliche, von dem Hinblick auf die Gottheit die höchste Förderung für den Menschen erwartet. Auch Aristoteles in seinen Büchern vom Staate hält die Religion für so etwas Bedeutendes, daß er, wo er die wichtigsten Punkte aufzählt, für welche in der Gesellschaft Sorge getragen werden müsse, nachdem er schon vier andere genannt hat, also fortfährt: „Fünftens aber, oder vielmehr erstens der Cultus der Gottheit, den man das Priesterthum nennt“. Er glaubt also, die Gottesverehrung sei vor allem Andern eine unentbehrliche Grundlage der Gesellschaft. Locke, der in neuerer Zeit ganz vorzüglich der Toleranz das Wort redete, will doch für eine Classe keine Toleranz zugestehen. Einen Atheisten, meint er, dürfe die Gesellschaft nicht in ihrem Schooße dulden. Und selbst der frivole Voltaire war nicht bloß von der Nützlichkeit, sondern sogar von der völligen Unentbehrlichkeit eines Glaubens an Gott überzeugt. „So nothwendig“, sagte er darum in der ihm eigenen Weise, „sei Gott für die Menschen, daß wenn er nicht existirte, man ihn erfinden müßte“. Der Verfasser ist, wie gesagt, der entgegengesetzten Ansicht. Er hält den Glauben an Gott keineswegs für eine Quelle von Segen, sondern von Unheil und Verderben. Um seine Ueberzeugung im Einzelnen zu begründen, hebt er in erster Stelle die Nachtheile hervor, welche daraus für die Wissenschaft sich ergeben sollen. In der Natur wie im Menschen, sagt er, sehen wir zwei einander bekämpfende Kräfte: „auf der einen Seite das Streben nach Bewegung, nach Fortschritt, auf der anderen Seite die vis inertiae, die physische und geistige Trägheit“. Und nachdem er diese umfassende Thatsache, die freilich den Naturforscher vielleicht mehr noch als den Psychologen in Staunen setzen dürfte, ausgesprochen hat, stellt er die eine dieser Kräfte gleichsam als das gute, die andere als das böse Princip in der Welt dar. Unsere heiligste Pflicht ist es darum

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nach ihm, nicht zu ruhen, sondern zu kämpfen. Die Religion dagegen, meint er, fördere gerade das letztere Princip, also die Kraft der Trägheit. Und insbesondere das Christenthum, indem es von einem künftigen Leben spreche, Geduld und Ergebung empfehle und den, wie es scheint, dem Verfasser äußerst anstößigen Satz aufstelle: „es ist besser Unrecht leiden als Unrecht thun“, soll in dieser Beziehung von den nachtheiligsten Folgen seyn. Wie aber? Sollen wir wirklich von nun an mit dem Christenthum (und zugleich auch mit Platon) brechend sagen: „Es ist besser Unrecht thun als Unrecht leiden?“ – Ich glaube, selbst dem Verfasser würde, wenn man ihn hier ernstlich beim Wort nehmen wollte, zu einem so schnöden Rathe der Muth versagen. Ebenso war es denn auch offenbar ein unbedachter Vorwurf, wenn er behauptete, daß der Hinweis auf die Unsterblichkeit in der christlichen Religion der Trägheit zu Gute komme. Sind es doch nicht die Müssiggänger, welchen von ihr der Himmel versprochen wird. „Nur die Gewalt brauchen“, also die welche „kämpfend“ gerade auch dem Sittengebote des Verfassers nachkommen, „reißen ihn an sich“, und jeder verlorne Augenblick gilt als ein strafwürdiges Vergehen. Hienach ist es auch klar, welcher Art die Geduld und Ergebung sind, welche das Christenthum predigt. Wäre es die Ergebung des Muselmanns, die von ihm gelehrt würde, dann allerdings würde die christliche Religion lähmend auf die Gemüther wirken. Aber diese Art von Ergebung empfiehlt es bekanntlich nicht. Sein Dogma von der Providenz ist kein Fatalismus. Es bleibt also nur die Lehre der Geduld und Ergebung an und für sich und frei von der Beimischung dieses tödtlichen Giftes. So aber ist sie keineswegs etwas, was geeignet scheint die Thätigkeit des Menschen zu lähmen. Das zeigt unter Anderem recht deutlich der Vergleich zwischen den Leistungen der Stoiker und der zahllosen Anhänger des Epikur in derselben Epoche des Alterthums. Die Stoiker mit ihrem: „sustine et abstine“, „ertrage und entsage“, zählten unter sich die rührigsten Männer, die mit Kraft und Selbsthingabe dem Wohle ihrer Mitbürger dienten. Und ihnen verdankt man das Größte und Dauerndste, was die römische Zeit der Nachwelt hinterlassen hat, die Ausbildung des römischen Rechtes. Was haben im Vergleiche damit die Epikuräer aufzuweisen? Dem Genusse nachjagend, waren sie der Zucht der Arbeit abgeneigt. Und Epikur selbst schämte sich nicht von der Mutter aller Wissenschaften, von der Mathematik, zu sagen, die Beschäftigung mit ihr sei zu nichts nütze. Sie führe doch nicht zur Wahrheit, und wenn auch, jedenfalls mache sie das Leben nicht angenehm. So erscheinen denn die Besorgnisse welche der Verfasser an die christliche Lehre der Geduld und Ergebung knüpft, im höchsten Grade unberechtigt.

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Geradezu lächerlich aber ist es, wenn er an dieser Stelle darauf hinweist, daß der große Marcus Aurelius ein Verfolger des Christenthums gewesen sei; als habe der einsichtsvolle Kaiser bereits jenen Keim des Verderbens in der christlichen Lehre erkannt und sei deshalb ihrer Verbreitung feindlich entgegengetreten. Marcus Aurelius! der Verfasser der schönen Selbstbetrachtungen, in welchen immer und immer wieder, in wahrhaft christlicher Weise, dieselbe Lehre von Geduld und Entsagung eingeschärft wird, und dessen ganzes Leben sie in vollkommenster Weise verwirklicht darstellt! – Es wäre eine starke Behauptung, wenn man sagte, jener edle Geist habe das Christenthum verfolgt, obwohl er dessen wahre Lehre und Bedeutung gekannt habe. Aber mit dem Verfasser zu sagen, er habe es gerade wegen eines solchen Lehrpunkts, den er selbst mit ihm gemein hatte, verfolgt, ist völlig absurd. Noch auf einem andern Wege aber sucht der Verfasser zu zeigen, daß der Gottesglauben eine große Gefahr für den Fortschritt der Wissenschaft einschließe. Jede theistische Religion, sagt er, macht den Anspruch auf Unfehlbarkeit. Spricht sie ja doch im Namen eines Gottes. Hiedurch, meint er nun, werde sie nothwendig eine Feindin der wissenschaftlichen Forschung. Sie dulde keine Discussion der von ihr entschiedenen Fragen und könne sie nicht dulden. Auch hier indessen scheint mir der Verfasser Mehreres und sehr Wesentliches zu übersehen. Vor Allem ist es klar, daß, was er hier sagt, nicht den Theismus überhaupt angeht. Gibt es ja doch nicht bloß eine Ueberzeugung vom Daseyn Gottes, welche sich auf eine übernatürliche Offenbarung als ihre Grundlage beruft. Vielmehr hat man seit tausenden von Jahren auch aus Vernunftgründen die Existenz eines Gottes behauptet. Und Aristoteles nicht minder als St. Paulus war der Ansicht, daß diese vollkommen beweisend seien. „Als endlich“ – sagt im Hinblick auf seinen Vorgänger Anaxagoras der genannte große Weltweise – „als endlich Einer kam, der sagte, ein Verstand sei, wie in den lebenden Wesen, so auch im Weltall die Ursache der Schönheit und der Ordnung, da erschien er wie ein Nüchterner unter gedankenlosen Schwätzern“. So ist denn von vorn herein einleuchtend, daß der Verfasser auf diesem Wege nothwendig hinter seinem Vorhaben zurückbleibt. Aber wir können noch weiter gehen. Auch hinsichtlich der positiven Religionen, seien sie nun wahr oder falsch, wird eine Unterscheidung nöthig seyn. Eine Religion an und für sich ist eine geistige Macht, ähnlich den Ueberzeugungen einer philosophischen Schule. Es gilt in diesem Sinne von ihr, was schon in der Schrift gesagt wird. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt. Sie hat keine bewaffneten Legionen, sie hat nicht Ketten und Bande, um mit ihnen die Ihrigen in der Treue zu erhalten und ihre Gegner zu bedrohen. Sie herrscht durch die

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Macht der Ueberzeugung. „Wer aus der Wahrheit ist“, sagt sie, „höret meine Stimme.“ Somit ist klar, daß sie an und für sich wenigstens durch physische Gewaltmittel die Wissenschaft und ihre Forscher nicht in ihrer Freiheit wird beschränken können. Anders freilich, wenn die Religion, wie es in dem Heidenthum und im Muhamedanismus der Fall ist, mit dem Staate verschmolzen auftritt. Dann sehen wir die Amphitheater von dem Blute der Bekenner Christi geröthet, dann sehen wir fanatisirte arabische und türkische Horden Schlachten schlagen und Städte stürmen, dann sehen wir einen Sokrates den Schirlingsbecher trinken und eine aufblühende Philosophie sowohl in Syrien als in Spanien mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Da wo, wie im christlichen Abendlande, eine Kirche als selbstständige Macht neben der staatlichen Gewalt auftritt, finden wir darum solche Erscheinungen nicht. Oder wenn zuweilen auch in christlichen Landen, im Mittelalter oder in der neueren Zeit, in einer intoleranten und blutigen Weise abweichende Ueberzeugungen verfolgt wurden, so erklärt sich dieß daraus, und kann sich nur daraus erklären, daß die staatliche Gewalt sich mehr als billig in Dinge der Religion und Kirche einmischte. Und sie hat dann immer, zwar manche Gewaltthat zu Gunsten der kirchlichen Autorität, viele aber auch und größere gegen sie geübt. Sie hat im Mittelalter einen Huß und einen Faulfisch hingerichtet; sie hat aber auch einen Investiturstreit geführt, Gegenpäpste aufgestellt und langjährige Schismen hervorgerufen, sie hat einen Gregor VII. vertrieben, einen Bonifaz VIII. gefangen genommen, einen Thomas von Canterbury ermordet. Sie hat unter einem Ludwig XIV. die Hugenotten vertrieben; sie hat aber unter ihm auch Dogmen geben wollen und den französischen Klerus zur Annahme der gallikanischen Artikel gezwungen. Und so wird denn durch solche Thatsachen in keiner Weise das widerlegt, was wir schon oben sagten, und was schon von vornherein einleuchtend ist, daß nämlich auch die positive Religion an und für sich nicht im Stande seyn werde mit physischen Gewaltmitteln die Freiheit des Denkens zu hemmen. Vielmehr ist nur Eines daraus erkennbar, nämlich daß es im dringendsten Interesse der Freiheit des Geistes liegt, daß die Theilung der beiden Gewalten aufrecht erhalten werde, daß die Selbstständigkeit der kirchlichen Autorität auch in unserer Zeit gewahrt bleibe, ja mehr noch als im Mittelalter sich realisire, und daß es eines der größten Verbrechen ist, die man an der Wissenschaft begehen kann, wenn man die Hand dazu bietet, daß die staatliche Gewalt auf ’s neue die kirchliche Autorität in sich absorbire, ein Unternehmen, das leider in der Gegenwart, gerade auf deutschem Boden, wieder versucht werden soll. Eine Staatskirche, in der That, kann nicht anders als intolerant und gewaltthätig seyn.

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Wenn nun aber auch der positive Theismus durch physische Gewaltmittel die Freiheit der Forschung nicht beeinträchtigen kann, wird er nicht vielleicht dennoch durch den Druck, welchen er auf die Gewissen übt, der Untersuchung wehren und den Geist im Irrthum geknechtet halten? – Ich glaube auch in dieser Hinsicht sind die Besorgnisse gewöhnlich sehr übertrieben. Es ist wahr, daß eine positive Religion, indem sie ihre Lehre als übernatürliche Offenbarung, und so als eine der höchsten Geschenke der Gottheit betrachtet, immer geneigt seyn wird, den Zweifel an ihrer Lehre als böse und verderblich zu verdammen. Aber daß sie auch keine Diskussion ihrer Lehre werde dulden können, ist darum nicht richtig. Wer recht fest von der Wahrheit und Vernünftigkeit seiner Ansicht überzeugt ist, hat gar keinen Grund eine wissenschaftliche Diskussion derselben zu fürchten. Im Gegentheil wird er glauben, daß man, je reiflicher über die Frage nachdenken, um so mehr mit ihm übereinstimmen werde. So denn auch die religiöse Autorität, wenn anders sie selbst von dem, was sie lehrt, überzeugt ist, was doch nothwendig der Fall seyn muss, wenn sie in Andern nachhaltig den Glauben daran erhalten will. Sonst ist die Religion in vollem Verfall und mit ihrer Macht neigt es sich ohnehin rasch zum Ende. Die kirchliche Autorität wird also, wenn sie vernünftig handelt, nicht die Diskussion der von ihr entschiedenen Fragen verbieten. Im Gegentheil wird sie zu ihrer Untersuchung antreiben. „Prüfet Alles und wählet das Beste!“ wird sie mit freiem muthigem Selbstbewußtseyn den Menschen zurufen, überzeugt, daß eine recht gründliche Forschung nur zu ihr hin-, nie von ihr wegführen könne. Nehmen wir nun den ungünstigeren Fall an, die positive Religion sei falsch, und jede gründliche wissenschaftliche Forschung komme nothwendig mit ihren Entscheidungen in Conflikt und zeige mit Evidenz, daß ihre Lehre reich sei an Ungereimtheiten und Widersprüchen. Was wird geschehen? – Der gläubige Forscher, wie er auch immer zunächst den Zweifel für böse erachten wird, wird doch die Untersuchung und Diskussion nicht scheuen. Wenn aber diese ihn mit Evidenz auf die Falschheit und Unmöglichkeit der bis dahin geglaubten Dogmen geführt hat, dann wird für ihn in demselben Momente sein bisheriger Glaube keine geistliche Macht mehr seyn, die ihn zu binden und aufzuhalten vermöchte. Das Verbot des Zweifels wird eben in dem Moment, in welchem es ihn hemmen könnte, für sein Gewissen nicht mehr existiren. So also ist die Besorgniß des Verfassers auch dem positiven Theismus gegenüber eine außerordentlich übertriebene. In einer auffallenden Weise aber verirrt er sich, wenn er gerade der christlichen Religion im Besonderen eine tödtliche Feindschaft gegen die Wissenschaft zur Last legen will.

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Schon zur Zeit der Kirchenväter soll die kirchliche Autorität absichtlich die Wahrheit verheimlicht und die bewußte Lüge gepredigt haben. Hochangesehene Kirchenväter, wie Gregor von Nazianz, sagten, allerdings nur im Kreise von Vertrauten: „Es bedarf nichts als Geschwätz, um beim Volke damit Eindruck zu machen. Je weniger es begreift, desto mehr bewundert es. Unsere Väter und Lehrer haben nicht das gesagt, was sie dachten, sondern was ihnen die Umstände und das Bedürfniß in den Mund legten. Und trotzdem fuhren sie fort dieselben Lehren zu predigen, anstatt das Volk aufzuklären.“ Diese Mittheilung des Verfassers ist neu und unerhört. Natürlich, daß wir in den Schriften Gregors jenes Geständniß nicht finden; hat er es ja nur „im Kreise von Vertrauten“ abgelegt. Aber wir dürfen den Verfasser wohl fragen, wie denn er in jenem Kreise von Vertrauten Eingang gefunden habe? – Doch noch mehr! Thomas von Aquin soll gesagt haben: „Credo quia absurdum est“, „ich glaube weil es unsinnig ist“. Wenn so der gerühmteste Theologe des Mittelalters spricht, welche Finsterniß muß nicht da geherrscht haben! Und so schildert der Verfasser denn in der That diese Zeit als „eine der finstersten Epochen der Weltgeschichte“, welche die lichtvollere Zeit der Renaissance nicht aus sich geboren, sondern vielmehr nur als Reaktion hervorgerufen habe. Aber leider hat er sich hier einer schlimmen Verwechslung schuldig gemacht. Niemals und nirgendwo hat Thomas von Aquin jene Worte gesprochen, da er vielmehr ausdrücklich sagt, daß der Nachweis der Absurdität eines Dogmas den Glauben daran unmöglich machen würde. Vielmehr war es bekanntlich ein bitterer Feind der katholischen Kirche, der in der Zeit der Reformation jenen wahnwitzigen Ausspruch that, der von allen katholischen Theologen verworfen wird. Und was die vielverschriene Finsterniß des Mittelalters angeht, so haben nach und nach alle Unterrichteten die Ueberzeugung gewonnen, daß sie vielmehr in den Köpfen derjenigen bestanden habe, die in ihrer Unkenntniß eine große geschichtliche Epoche lästerten. Hören wir in dieser Beziehung Émile Littré, der gewiß nicht als katholisirend verdächtigt werden kann. Ist er ja doch derselbe Gelehrte, dessen Ansichten Dupanloup sich so antipathisch fühlte, daß er, nach seiner Aufnahme in die Akademie, nicht länger den eigenen Sitz darin bewahren wollte. In seiner Vorrede zu der von ihm veröffentlichten zweiten Ausgabe des „Cours de Philosophie Positive“ von Auguste Comte finden wir fogende Stelle: „Ich blicke jetzt in die Tiefe des Mittelalters. Andere würden sagen in die Finsternisse dieser barbarischen Epoche. Aber Herr Comte hat dogmatisch mich gelehrt, und ich habe empirisch mich überzeugt, daß diese Epoche weder barbarisch noch finster gewesen ist. Barbaren nennt man z. B. die Germanen vor ihrem Einfalle in das Römerreich. Sie hatten kein Alphabet; Kriegsgesänge

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bildeten ihre ganze Literatur; der Polytheismus war ihre Religion. Nicht Städte besaßen sie, nicht Wissenschaften, eine unentwickelte, fast ausschließlich auf den Krieg bezügliche Moral und von Regierung kaum einen Anfang. Ich werde nicht so ungerecht gegen das Mittelalter seyn, es mit diesem Bilde zu vergleichen. Tochter der classischen Periode, bewahrte es ihre Traditionen. Es war christlich und ritterlich. Es sanktionirte die Theilung der zwei Gewalten, der weltlichen und geistlichen, civilisirte England und Deutschland, bereitete die Emancipation der arbeitenden Classen vor, begeistere sich für die Philosophie und für die Wissenschaften, schuf, um den Gefühlen der neuen Religion Ausdruck zu geben, die Architektur, die man in so unpassender Weise die gothische nennt, und gab der Welt jene trefflichen Werkzeuge der Schönheit und Klarheit, welche wir in der spanischen, französischen und italienischen Sprache bewundern. Es ist nur auf Grund aller dieser Vorzüge zu begreifen möglich, wie die reiche und mächtige Civilisation der modernen Zeit aus diesem Mittelalter geboren werden konnte.“ So Émile Littré und mit ihm Alle, die auf der Höhe der neuen historischen Forschungen stehen. Das Mittelalter also war so finster nicht, und es war am allerwenigsten eine Zeit, in der es sich zeigte, daß, wie der Verfasser sagt, die Religion keine wissenschaftliche Diskussion ihrer Dogmen dulde. Niemals wurde mehr diskutirt und disputirt als gerade im Mittelalter. Man denke nur, um sich davon zu überzeugen, an den großen Actus Sorbonicus, den die Scotisten in Paris einführten, und worin der Denfendent einen ganzen Tag lang, von Morgen bis zum Abend, seine Thesen gegen jeden Opponenten vertheidigen mußte, oder man blicke in das Sic et Non des Abälard oder schlage auf die Quaestiones Disputatae des Thomas von Aquino. Diese Disputationen und allseitigen Diskussionen jeder Frage, welche wir im Mittelalter finden, und welche in den dialektischen Erörterungen des Aristoteles ihr Vorbild hatten, sind jetzt fast gänzlich von unseren Universitäten verschwunden. Und es ist damit ein mächtiger Sporn zu eigenem Nachdenken und Forschen weggefallen, so daß unsere Zeit jener früheren gegenüber in dieser Beziehung in entschiedenem Nachtheile ist. Dieß hat unter Anderen John Stuart Mill richtig erkannt und noch in der letzten Abhandlung, die er vor seinem Tode veröffentlichte, in seiner Recension des Aristoteles von Grote (Fortnightly Review 1873) hervorgehoben. „Die allgemeine Anweisung des Aristoteles zur Uebung und Anwendung der Dialektik“, sagt Mill, „ist wunderbar geeignet den eigenen Geist für die Forschung nach Wahrheit zu erziehen.“ „Wir sind allerdings“, fährt er dann fort, „weit davon entfernt zu behaupten, daß die dialektischen Kämpfe der Griechen oder die öffentlichen Disputationen des Mittelalters, welche auf

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sie folgten, niemals eine andere als wohltätige Wirkung gehabt hätten, daß sie nicht ihre Fallstricke und ihre Versuchungen eingeschlossen, und daß das Gute, das sie bewirkten, nicht noch besser durch andere Mittel erreicht werden könne. Aber es bleibt darum nicht minder Thatsache, daß man bis jetzt für keine solchen Mittel Sorge getragen hat, und daß die alte Weise geistiger Erziehung verschwunden ist, ohne, selbst an den Universitäten, durch eine andere ersetzt worden zu seyn. Es ist kein Grund vorhanden, warum eine für die Erforschung der Wahrheit so heilsame Uebung nicht da angewandt werden sollte, wo nichts Anderes als die Erreichung der Wahrheit das Ziel ist … Hätten nur die Lehrer irgendwelche Vorstellung von der Lücke, welche solche Diskussionen ausfüllen würden, oder betrachteten sie es irgendwie mit als ihre Aufgabe Denker zu bilden, statt, wie Locke sich ausdrückt, den Schülern nur die Lehren einzutrichtern und sie mit vorgeschnittener Erkenntniß zu stopfen, so würde nichts im Wege stehen, daß man ähnliche Uebungen zu einem ständigen Elemente des Unterrichtscurses in den höheren Zweigen der Erkenntniß machte.“ Wir sehen also, das christliche Mittelalter hat nach dem Zeugnisse eines unserer liberalsten Denker bessere Einrichtungen getroffen den Forschergeist zu wecken, als die religiös aufgeklärte Neuzeit! Aber freilich, der Verfasser wird dennoch fortfahren das Christenthum als einen Feind der Wissenschaft zu betrachten. Spricht sich doch, wie er meint, diese Feindschaft im Evangelium selbst deutlich aus. „Nach dem Evangelium“, sagt er, „gehört das Himmelreich den geistig Armen.“ Er weiß offenbar nicht, was der Sinn dieser Schriftstelle ist. Und wenn wir ihm sagen, daß unter den geistig Armen, oder vielmehr den Armen im Geiste, diejenigen zu verstehen sind welche, seien sie in Wirklichkeit reich oder arm, nicht mit ihrem Herzen am Mammon hangen, so wird er einsehen, daß er auch hier gegen Windmühlen gestritten hat. So viel zur Rechtfertigung des Theismus gegenüber dem ersten großen Vorwurf, welchen ihm der Verfasser macht, indem er behauptet, er sei ein Feind des wissenschaftlichen Fortschritts. So ungerecht auch immer dieser Vorwurf war, so war er mir doch weniger befremdend, da man ihm auch sonst wohl häufig begegnet. Auffallender dagegen erschien es mir, daß der Verfasser hiezu noch einen zweiten und nicht minder gewichtigen Vorwurf fügt, indem er erklärt, der Theismus sei auch ein Feind der Sittlichkeit. Wie kommt er zu dieser unerhörten Behauptung? Daß der Theismus auch auf die Sittlichkeit einen nachtheiligen Einfluß habe, folgert der Verfasser vor Allem aus dem, was er eben erwiesen zu haben glaubt, indem er (und gewiß nicht ganz ohne Grund) einen gewissen fördern-

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den Einfluß der Erkenntniß und Bildung auf die Sittlichkeit annimmt. Was also den Fortschritt der Erkenntniß hemmt, hemmt den der Sittlichkeit. Allein dieser Theil seiner Argumentation hat nach der Kritik, der wir seine Basis selbst unterworfen, seinen Halt verloren. Blicken wir darum lieber sogleich auf die Beweise hin, die der Verfasser direkt und unabhängig von dem Vorangegangenen dafür zu erbringen sucht. Vor Allem, sagt er, lehren die Theisten eine jenseitige Belohnung und Strafe. Hiemit aber zerstören sie alle wahre Tugend. Denn eine Handlung ist nicht mehr tugendhaft, wenn sie nur in Rücksicht auf Lohn und Strafe geübt wird. Es ist wahr, daß das Gute, das nur aus Rücksicht auf Lohn oder Strafe geschieht, wesentlich an seinem Werthe verliert. Aber folgt hieraus das was der Verfasser gefolgert hat? – Wäre dieß der Fall, so würde noch vieles Andere folgen. Jede Aussicht auf Belohnung oder Bestrafung würde dann sittlich nachtheilig wirken, und weder Lohn noch Strafe dürfte irgendwo und irgendwie in sittlicher Ordnung und Erziehung eine Stelle finden. Dagegen aber spricht nicht bloß die Praxis aller Zeiten, sondern auch alle Diejenigen, welche jemals verständig über den Gegenstand nachgedacht, haben das Gegentheil davon gelehrt. Es steht außer allem Zweifel, daß, wer Strafe und Lohn aufheben, die Erziehung lähmen und das größte sittliche Verderben einleiten würde. Recht schön hat noch in neuester Zeit der schon genannte englische Philosoph in seinem „Utilitarianism“ gezeigt, in welcher Weise Lohn und Strafe uns oft zu wirklich sittlich Gutem führen, wenn sie selbst auch nicht als die edelsten ethischen Motive gelten können. Zuerst thun oder lassen wir etwas um des Lohnes oder der Strafe willen; dann aber, in der Folge der sich bildenden guten Gewohnheit, auch ohne Rücksicht auf sie, und thun so das Gute um des Guten willen. Diese Lehre bestätigt die alltägliche Erfahrung. Und auch die Kirche stimmt mit ihr überein. Sie lehrt, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, daß sie heilsam sei als Weg zur Liebe Gottes, für welche in den höchsten Erscheinungen ihrer Heiligen die Rücksicht auf Lohn und Strafe gänzlich entbehrlich wird. Bekannt ist das schöne spanische Sonett, das einige Theresia, Andere mit mehr Wahrscheinlichkeit Xaverius zugeschrieben haben, und welches eine deutsche Uebersetzung also wiedergibt: „Nicht Hoffnung auf des Himmels sel’ge Freuden Hat Dir, mein Gott, zum Dienste mich verbunden, Nicht Furcht, die ich vor ew’gen Graus empfunden, Hat mich bewegt der Sünder Pfad zu meiden.

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Vermischte Schriften Du, Herr, bewegst mich, mich bewegt Dein Leiden, Dein Anblick in den letzten, bangen Stunden, Der Geißeln Wuth, Dein Haupt vom Dorn umwunden, Dein schweres Kreuz und – ach! – Dein bittres Scheiden. Ja, Du bewegst mich mit solchem Triebe, Daß ich Dich liebte, wär’ kein Himmel offen, Dich fürchtete, wenn auch kein Abgrund schreckte. Nichts kannst Du geben, was mir Liebe weckte, Denn würd’ ich auch nicht, wie ich hoffe, hoffen, Ich würde dennoch lieben, wie ich liebe.“

Jedes Wort in diesem herrlichen Erguß reinster Liebe widerlegt die Behauptung einer Unvereinbarkeit ächter selbstloser Tugend mit tiefer religiöser Ueberzeugung. Aber noch in anderer Weise sucht der Verfasser zu zeigen, wie der Theismus sittenverderblich, ja entmenschlichend wirke. Jeder Religion – er hätte auch richtiger gesagt: jeder positiven Religion, aber wir wollen hier absehen von diesem Fehler – jeder Religion ist die Idee des Opfers wesentlich. „Sei es, daß auf den Teokallis des schrecklichen mexikanischen Kriegsgottes Huitzilipuochtli in einem Jahre bis zu 70.000 Gefangene hingeschlachtet wurden, sei es daß, wie im Christenthum durch seine Lehre vom stellvertretenden Opfer, Gott selbst sein Blut für die Menschheit hingeben musste.“ So also erscheint in allen Religionen die Gottheit als blutdürstig, und alle fördern die Gefühle der Grausamkeit. Aber was soll man zu dieser sonderbaren Gleichstellung sagen? Ist nicht die Parallele, welche hier der Verfasser zwischen mexikanischer und christlicher Gottheit gezogen, ganz so, als wenn einer behauptete, daß zwischen einem Nero und Codrus Verwandtschaft bestehe, weil der Eine des Lebens seiner Untertanen, der Andere des eignen Lebens zur Rettung der Seinigen nicht geschont habe? Der Tod Christi lehrt Blutdurst und Grausamkeit? – Ja gewiß, wenn die Worte: „stecke dein Schwert in die Scheide“, und wiederum: „Vater verzeihe ihnen“, und wiederum (da die Jünger Feuer vom Himmel regnen lassen möchten): „ihr wißt nicht, welchen Geistes Kinder ihr seid“, und wiederum: „er wird das geknickte Rohr nicht brechen und den glimmenden Docht nicht löschen“, und wiederum: „ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe“, und: „wer von euch sich ohne Schuld fühlt, der werfe den ersten Stein auf sie“ – ich sage, wenn alle diese Worte Worte der Grausamkeit sind, dann mag die Behauptung als richtig gelten. Wenn aber

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nicht, so ist es unleugbar, daß der Verfasser auch hier, was von einzelnen entarteten Religionen gilt, in ungebührlichster und ungerechtester Weise verallgemeinert, und daß er Unterschiede, ja Gegensätze übersehen hat, die nun ein für allemal nicht zu übersehen sind. Aber eben dieses gibt dem Verfasser, so wunderbar weiß er sich zu wenden, wieder ein neues Argument an die Hand, wodurch er, wenn nicht die Schädlichkeit, wenigstens die Entbehrlichkeit und Nutzlosigkeit theistischer Ueberzeugungen für die Sittlichkeit der Völker erweisen zu können glaubt. „Schon die große Verschiedenheit der vielen über den Erdboden verbreiteten Religionen“, sagt er, „läßt erkennen, daß dieselben in keinem nothwendigen Zusammenhange mit der Moral stehen können, da deren Vorschriften im Großen und Ganzen wesentlich dieselben sind und seyn müssen.“ Wir sehen, es ist eine starke Schwenkung, die der Feind hier macht. Nichtsdestoweniger ist auch die neue Stellung für einen Angriff wenig günstig, und das neue Argument widerlegt sich mit derselben, wenn nicht größeren Leichtigkeit als die vorhergehenden. Es ist nämlich, um von andern Mängeln des Beweises ganz abzusehen, eine offenbar unrichtige Behauptung, die mir wenigstens auch zum ersten Male hier begegnet, daß die Moral in allen Religionen, so verschieden diese sonst seyn mögen, im Großen und Ganzen wesentlich dieselbe sei. Vergleicht man auch nur näher stehende Religionen miteinander, so findet man gerade in dieser Beziehung die stärksten Gegensätze, wie z. B. den zwischen der Sanftmuth und Feindesliebe, zu welcher der Christ, und der Rachegier, zu welcher der Muhammedaner erzogen wird. Wie nun gar, wenn man an die Gräuel des Astarte- und die Grausamkeiten des Molochdienstes denkt? Freilich sagt der Verfasser, die Geschichte aller Religionen sei erfüllt von Gräueln und Gewaltthaten. Und er sucht dieß wiederum im Besonderen am Christenthum zu zeigen. „Wegen einer Vokaldifferenz in einem religiösen Dogmenworte, homoousios statt homoiousios, sind“, sagt er, „hunderttausende hingemordet worden.“ Er nennt dieß eine Vokaldifferenz, eine Differenz von bloßen Buchstaben, und scheint hienach zu glauben, daß der Fall so ziemlich dem der beiden Nachtwächter bei Gellert gleiche, von welchen der eine sang: „Verwahrt das Feuer und das Licht. So aber sang der andere nicht. Er sang: Bewahrt das Feuer und das Licht“, was ihnen der Grund unversöhnlichen, lebenslänglichen Hasses wurde. Ein etwas genaueres Studium der Kirchengeschichte würde den Verfasser in dieser Hinsicht eines Besseren belehren. Vielleicht würde er aber dann zugleich zu seinem Troste bemerken, daß es mit den „Hunderttausenden“ nicht eben ganz so schlimm gewesen sei. Denn ich wenigstens hörte hier zum ersten Male von jenem entsetzlichen Gemetzel.

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Andere Thatsachen, die der Verfasser anführt, sind dagegen unleugbar und allerdings sehr zu beklagen. So die spanische Inquisition, die Bartholomäusnacht und das Blut, das in neueren Religionskriegen auch im christlichen Abendlande geflossen ist. Nur spricht der Verfasser auch hier in so übertriebenen Ausdrücken, daß man, so traurig der Gegenstand ist, des Lachens sich kaum erwehren kann. „Das spanische Reich“, sagt er, „war mit Leichen bevölkert“, und „durch die Religionskriege ist so viel Menschenblut vergossen worden, daß das Festland der Erde damit überschwemmt werden könnte.“ – Von Seite der Kirche hat man aber immer und mit voller historischer Wahrheit geltend gemacht, daß die spanische Inquisition nicht ihr Werk, sondern eine politische Institution gewesen sei. Und von der Bartholomäusnacht, die ohne Vorwissen von Rom in Paris in Scene gesetzt wurde, und von den Religionskriegen, wie z. B. dem dreißigjährigen Kriege, in welchem ein Cardinal Richelieu die Protestanten mit Geld unterstützte, ist es ohnehin deutlich, daß politische Interessen die eigentlichen Triebfedern waren. Dem Staat also viel mehr als der Religion und Kirche fallen diese Begebenheiten zur Last. Uebrigens sind wir weit davon entfernt, den Staat deßhalb zu verwerfen und als eine gemeinschädliche sociale Einrichtung zu verdammen. Auch der Verfasser wird es wohl nicht thun. Denn gewiß weiß er recht gut, daß ohne staatliche Ordnung und weltliche Obrigkeit die Anarchie noch viel grausamer unter den Menschen gewüthet haben würde. Eben darum fragt es sich aber sehr, wenn der Verfasser sogar mehr, als es, wie wir sahen, der Fall ist, Recht hätte, und alle die genannten Unthaten wirklich und allein der Religion zur Last fielen, deßhalb diese selbst als gemeinschädlich zu bezeichnen wäre, oder ob nicht vielmehr auch dann noch Aristoteles Recht behielte, wenn er sagt, vor Allem sei in der Gesellschaft Religion nöthig, die Sorge für die Verehrung der Gottheit, die man das Priesterthum nenne. So sehen wir denn, daß es dem Verfasser nichts weniger als gelungen ist, seine schweren Beschuldigungen wirklich zu erweisen. Nachdem er nun alle denkbaren Vorwürfe auf den Theismus gehäuft hat, schließt er mit dem Spruche der Chinesen: „Die Religionen sind verschieden, die Vernunft ist eine, wir sind alle Brüder.“ Leider scheint der Verfasser das Wahre in diesen Worten nicht tiefer als die Chinesen selbst erfaßt zu haben, die bekanntlich trotz dieses „schönen Spruches“ und anderer toleranter Principien in der unerbittlichsten Weise gegen abweichende Religionsanschauungen gewüthet haben. Daher denn auch bei ihm die gehässigen und ungerechten Angriffe und die böswilligen Denunciationen, bald ganzer Religionen, die unverkennbaren Segen verbreitet haben, bald einzelner Forscher, die mit seiner Ansicht nicht einverstanden sind,

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wie denn der berühmte Agassiz, wie wir sahen, bloß weil er dem Theismus das Wort redet, von ihm als ehrgeizig, habsüchtig, heuchlerisch und, es fehlt wenig, als gemeiner wissenschaftlicher Spitzbube gebrandmarkt wird. Das ist die neue Bruderliebe des Atheismus, die allerdings von der des Paulus etwas verschieden ist, wenn er sagt: „Die Liebe ist großmüthig, ist milde; die Liebe ereifert sich nicht; sie ist nicht übermüthig und aufgeblasen; sie schmäht und beleidigt nicht; sie sucht nicht das ihrige; sie erbittert sich nicht; sie denkt nicht das Böse; sie freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sondern freut sich mit an der Wahrheit.“ Was immer der Fortschritt der Jahrhunderte bringen möge, dem Atheismus wird die Zukunft nicht gehören. Gewiß, nichts wird dauernd bestehen, was der Wissenschaft widerstreitet. Aber der Atheismus ist selbst kein ächter Sohn der Wissenschaft. Sie erkennt ihn nicht als solchen an. Und diejenigen, die es in ihrem Namen thun und ihn mit ihr auf den Thron erheben möchten, zeigen eben dadurch, was insbesondere auch der Verfasser in seinem Aufsatze gezeigt hat, daß sie noch nicht wahrhaft Bürger im Reiche der Wissenschaft geworden sind.

Ueber die Gründe der Entmuthigung auf philosophischem Gebiete Ein Vortrag gehalten beim Antritte der philosophischen Professur an der k. k. Hochschule zu Wien am 22. April 1874 von Dr. Franz Brentano 1874

https://doi.org/10.1515/9783110621228-007

Euer Excellenz! Hohe Versammlung! Vor wenigen Jahrzehnten würde ein Lehrer der Philosophie beim Eintritte in einen neuen Wirkungskreis sicher darin seine Aufgabe erblickt haben, ein Bild seines besonderen philosophischen Systems vor den Augen seiner Zuhörer zu entrollen. Vor wenigen Jahren dagegen hätte er es wohl in dem gleichen Falle vor Allem für geboten erachtet, sich über die Methode seiner Forschung auszusprechen: darüber, ob er den menschlichen Geist für fähig halte, durch intuitiv schöpferische Conzeption und durch a priorische Construction ein Gebäude speculativen Wissens herzustellen, oder ob er, ähnlich dem Naturforscher, keinen anderen Weg zur Wahrheit kenne als den der Beobachtung und Erfahrung; ob er, von kühnem Fittig emporgetragen, das Ganze der Wahrheit mit einheitlichem Blicke zu überschauen hoffe, oder ob er sich damit begnüge, Satz um Satz, Wahrheit um Wahrheit im Einzelnen aufzuspüren und zu sichern. Heute ist die Sachlage abermals verändert. Der Kampf von damals ist ausgestritten; die damals schwebende Frage ist entschieden. Kein Zweifel mehr besteht, daß es auch in philosophischen Dingen keine andere Lehrmeisterin geben kann als die Erfahrung, und dass es nicht darauf ankommt, mit einem genialen Wurfe das Ganze einer vollkommeneren Weltanschauung vorzulegen, sondern dass der Philosoph wie jeder andere Forscher nur Schritt für Schritt erobernd auf seinem Gebiete vordringen kann. Aber etwas Anderes erregt Bedenken. Es fragt sich, ob auch nur ein solches, bescheideneres Unternehmen gelingen werde, und ob überhaupt Wahrheit und Sicherheit in philosophischen Fragen erreichbar sei. Es ist unleugbar, dass die Philosophie keines grossen Vertrauens sich erfreut. Sehr allgemein betrachtet man das von ihr erkorene Ziel entweder als ein verschleiertes Bild, durch dessen Hülle kein sterblicher Bück zu dringen vermag, oder als die Lösung eines Knäuels vielverschlungener Fäden, die keine menschliche Hand zu entwirren im Stande ist. Die Philosophie, glauben die Meisten, sei darum nicht eigentlich den Wissenschaften beizuzählen. Sie ziehen vor, sie der Astrologie oder der Alchymie an die Seite zu stellen. Auch diese nannten sich einst Wissenschaften: jetzt aber gibt es keinen Verständigen, der nicht die ganze Sterndeuterei und die gesammte Goldmacherei mit ihrem Steine des Weisen für eitel Hirngespinnst erklären würde. Aehnlich jage denn auch die Philosophie nach Unmöglichem und nach eitlen Phantomen. In den ersten Decennien unseres Jahrhunderts waren die Hörsäle der deutschen Philosophen überfüllt: in neuerer Zeit ist der Flut eine tiefe Ebbe gefolgt. https://doi.org/10.1515/9783110621228-008

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Man hört darum oft, wie bejahrtere Männer die jüngere Generation anklagen, als ob ihr der Sinn für die höchsten Zweige des Wissens mangele. Das wäre eine traurige, aber zugleich auch eine unbegreifliche Thatsache. Woher sollte es kommen, dass das neue Geschlecht in seiner Gesammtheit an geistigem Schwung und Adel so tief hinter dem früheren zurückstände? In Wahrheit war nicht ein Mangel an Begabung, sondern eben jener Mangel an Vertrauen die Ursache, welche die Abnahme des philosophischen Studiums zur Folge hatte. Wäre die Hoffnung auf Erfolg zurückgekehrt, so würde sicher auch jetzt die schönste Palme der Forschung nicht vergeblich winken. Desshalb glaube ich meine Wirksamkeit an der hiesigen Hochschule nicht besser einleiten zu können als durch eine Betrachtung der Gründe, welche das allgemeine Misstrauen veranlassten, und eine Prüfung ihrer Kraft und Berechtigung. Führen wir uns zu diesem Zwecke die vornehmsten unter ihnen in raschem Ueberblicke vor. Wo Wissen ist, da ist nothwendig Wahrheit; und wo Wahrheit ist, da ist Einigkeit: denn es gibt viele Irrthümer, aber nur eine Wahrheit. Blicken wir nun auf die philosophische Welt um uns. Weit entfernt von Einheit und Uebereinstimmung der Lehre, finden wir sie vielmehr in eine grosse Menge von Schulen zerspalten und zertheilt, so dass hier beinahe das Sprichwort: ,,So viele Köpfe, so viele Sinne“, seine volle Bewährung findet. Und diese Uneinigkeit beschränkt sich keineswegs auf eine Meinungsverschiedenheit in einzelnen, besonderen Fragen. Diese wird auf jedem Gebiete der Forschung bestehen. In der Philosophie betrifft der Streit selbst die ersten und grundlegenden Sätze; die ganzen Systeme stehen einander entgegen und bekämpfen sich mit äusserster Heftigkeit. Gewiss wird Niemand sagen, dass dieser Anblick geeignet sei, unseren Glauben an den wissenschaftlichen Charakter der Philosophie zu stärken. Die Philosophie ist so alt als irgend ein anderer Zweig der Forschung. Thales, dem man die Entdeckung einiger einfacher geometrischer Lehrsätze nachrühmt, wird von Aristoteles auch als Vater der Philosophie gepriesen. Wäre die Philosophie eine Wissenschaft, so sollte man meinen, es könne wenigstens heute nach mehr als 2000jährigen Forschungen ein solcher Mangel allgemein anerkannter Theoreme nicht mehr in ihr bestehen. Ferner: Blicken wir aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück. Auch der geschichtliche Verlauf der Philosophie hat etwas, was wenig der Geschichte einer Wissenschaft entsprechen möchte. Die Geschichte jeder Wissenschaft, sollte man meinen, müsse in der Art sich weiter bilden, dass die im Anfang

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unvollständige Erkenntniss durch Hinzufügung neuentdeckter Wahrheiten sich mehr und mehr erweitere und so zur vollendeten Wissenschaft auswachse. Eine Wissenschaft setzt nicht in jedem Kopfe neu an. Es besteht eine Tradition, ein Erkenntnissschatz, der sich erhält, indem die spätere Zeit die Erbschaft der früheren antritt. Anders jedoch zeigt sich die Geschichte der Philosophie. Was wäre, das hier feststände und den Wechsel der Zeiten überdauerte und von Philosophen auf Philosophen sich vererbte? Wiederholt finden wir, und gerade noch in der neuesten Zeit, einen gänzlichen Umschwung der Systeme; das folgende tritt zu dem vorausgehenden in den entschiedensten und bewusstesten Gegensatz. Auf einen breit angelegten Dogmatismus folgt ein Kriticismus, und auf ihn, dessen Zurückhaltung oft in’s Skeptische geht, eine absolute Philosophie mit dem Anspruche überschwänglicher Erkenntniss. Wie könnte das eine Wissenschaft, also Wahrheit sein, was sozusagen alle Jahre gänzlich Gestalt und Farbe wechselt, so dass es nicht mehr zu erkennen ist? Während meiner Studienjahre geschah es, dass ich einem der berühmtesten Historiker unserer Zeit begegnete, der sich auch mit der Geschichte der Philosophie eingehend beschäftigt hatte. Der Eindruck, den ihre Betrachtung in ihm zurückgelassen hatte, war nicht eben ein tröstlicher. Die Geschichte der Philosophie, sagte er, könne man am besten mit einem grossen Friedhofe vergleichen. Zahllose Monumente seien da zu sehen; das eine ansehnlicher und prächtiger, das andere niedriger und minder reich geschmückt; aber auf dem einen wie auf dem anderen lese man dasselbe traurige „Hic jacet“. Dass nach solchen Erfahrungen auch für die Zukunft keine Hoffnung bleibe, schien ihm wenigstens ausser Zweifel. Und so würde denn die Philosophie überhaupt mit Unrecht einen Platz in der Reihe der Wissenschaften beanspruchen. Zu derselben Ansicht werden Andere auf anderem Wege geführt. Fasst man die Natur der Probleme genauer ins Auge, mit welchen der Philosoph sich zu beschäftigen pflegt, so scheinen sie von ganz anderem Charakter als die der übrigen Wissenschaften. Die Philosophie scheint eine Weise der Erklärung und Ergründung anzustreben, die für den menschlichen Verstand völlig unmöglich ist. Gewiss, wenn Jemand auf die Erfolge blickt, welche die Forschung auf dem Gebiete der Naturwissenschaft erzielt hat, so wird er anerkennen, dass hier Leistungen vorliegen, welche eine frühere Zeit ebenfalls für unmöglich gehalten hätte. Das unsichtbar Kleine und das unsichtbar Ferne hat sie sich zugänglich gemacht und auf die Entwickelung längstvergangener Perioden Licht geworfen, wie sie andererseits künftige Ereignisse mit Sicherheit vorherbestimmt.

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Nichtsdestoweniger ist die Weise der Erklärung, die der Naturforscher anstrebt, eine sehr bescheidene. Er geht niemals darauf aus, in das eigentliche Wesen der Dinge einzudringen. Er verlangt niemals, das innere Wie und Warum eines ursächlichen Zusammenhanges zu ergründen. Er beobachtet die Naturerscheinungen und ihre Aufeinanderfolge, sucht zwischen den verschiedenen Fällen Aehnlichkeiten auf und will auf diese Weise allgemeine und unveränderliche Beziehungen der Erscheinungen, d. i. Gesetze ihres Zusammenhanges ermitteln. Was er darunter versteht, wenn er von einer Erklärung von Thatsachen spricht, ist nichts Anderes als die Unterordnung einzelner Phänomene unter gewisse allgemeine Thatsachen, deren Zahl er durch weitere und weitere Rückführung auf noch allgemeinere Gesetze fortwährend zu verringern strebt. Niemals, auch da wo die Naturerklärung als eine im höchsten Maasse gelungene betrachtet wird, bietet sie mehr als dieses. Der hervorragendste Fall unter allen ist wohl die Erklärung der Himmelserscheinungen durch das allgemeine Gesetz der Gravitation, das Newton entdeckte. Aber inwiefern sagen wir, dass der Lauf der Gestirne durch dieses Gesetz erklärt sei? – Es fasst die ganze unendliche Mannigfaltigkeit astronomischer Ereignisse in einer Einheit zusammen: nämlich in der Thatsache, dass die Körper einander anziehen im directen Verhältnisse ihrer Massen und im umgekehrten der Quadrate ihrer Entfernungen. Und diese Thatsache erscheint zugleich nur als Erweiterung einer solchen, mit der wir schon anderweitig vertraut sind; das Gesetz der allgemeinen Anziehung ist das erweiterte Gesetz der Schwere irdischer Körper. – Allein was ist die Anziehung und was ist die Schwere? Enthüllt uns die Erklärung Newton’s das wirkende Princip und die innere Weise des Vorganges? – Keineswegs! Diese Untersuchung über Wie und Wodurch überlässt der Naturforscher der Speculation des Philosophen. Wird nun dieser im Stande sein, die Frage zu beantworten? Wird er uns wirklich Aufschlüsse zu geben vermögen, welche den Zusammenhang der Erscheinungen in seiner Nothwendigkeit verstehen lassen? – So viel ist sicher: der gemeine Weg der Forschung, wie andere Wissenschaften ihn wandeln, führt nicht dahin. Sollten Beobachtung und Erfahrung zur Lösung der Frage uns den Schlüssel bieten, so müsste unsere Wahrnehmung in das wahre und innerste Wesen der Dinge eindringen und seinen Begriff uns erfassen lassen. Das ist aber nicht der Fall. Wir sehen verschiedene Erscheinungen regelmässig aufeinander folgen; wir schliessen aus der Regelmässigkeit auf die Nothwendigkeit des Zusammenhanges: aber was, den Erscheinungen zu Grunde liegend, diese Nothwendigkeit erzeugt, sehen wir nicht, noch erfassen wir es sonst mit einem unserer Sinne. Wenn der Philosoph nicht ein anderes Auge hat, für welches dieses Dunkel Licht ist, so wird daher all sein Streben fruchtlos sein. Und nur das

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etwa mag geschehen, was der Dichter sagt, dass da, wo die Begriffe fehlen, ein Wort zur rechten Zeit sich einstellt. Es scheint also, wie gesagt, unser philosophisches Streben ein völlig hoffnungsloses zu sein. Zu den angegebenen Gründen, der Philosophie die Bedeutung einer Wissenschaft abzusprechen, kommt endlich als ein gewichtiges Argument ihre praktische Unfruchtbarkeit. Jede Erkenntniss, wie auch immer aus blossem Wissensdrange entsprungen, erweist sich früher oder später auch im Leben nutzbar. Die Untersuchungen, die Archimedes und Apollonius über die Kegelschnitte anstellten, haben nach vielen Generationen zur Erneuerung der Astronomie geführt; und dies machte die Vervollkommnung der Schifffahrt möglich, so dass Condorcet mit Wahrheit sagen konnte: „Der Seemann, der durch die genaue Beobachtung der geographischen Länge vom Schiffbruche gerettet wird, verdankt sein Leben einer Theorie, welche 2000 Jahre früher von genialen Denkern aufgestellt wurde, die auf nichts Anderes als auf geometrische Betrachtungen bedacht waren.“ Alle Zweige der anerkannten allgemeinen theoretischen Wissenschaft, die Physik und unorganische Chemie ebenso, wie die organische Chemie und Physiologie, sind darum die Grundlage praktischer Bestrebungen geworden. Sie haben durch mannigfache Verbesserungen und Entdeckungen die Medicin und Agricultur und sozusagen das ganze Leben umgestaltet. Photographie wie Eisenbahn und Telegraph sind ihnen entsprungen. Man kann daran zweifeln, ob, wie Bacon wollte, in der Erweiterung der Macht des Menschen das einzige oder auch nur das höchste Ziel wissenschaftlichen Strebens liege: dass aber das Wissen eine Macht sei, das steht unerschütterlich, nicht blos innerhalb des Kreises der Gelehrten, sondern für jeden Gebildeten fest. Nur die Philosophie scheint sich nicht in ähnlicher Weise als eine Macht bewähren zu wollen. Wohl haben manche philosophische Ideen am Ende des vorigen Jahrhunderts mächtig das französische Volk ergriffen und zu gewaltigen Katastrophen geführt. Aber, wie man auch über sie und ihre Folgen urtheilen mag, sicher wird kein Verständiger in ihnen eine ähnliche Bewährung der Philosophie erblicken, wie andere Wissenschaften sie in der Praxis gefunden haben. Was immer für Aenderungen eingetreten sind, die Erwartungen, weiche die begeisterte Bewegung der Massen hervorriefen, sind nicht in Erfüllung gegangen. Das aber ist nicht wahrhaft eine Macht, was zwar grosse Wirkungen, aber nicht die gewollten Wirkungen hervorbringt. Von grossem Einflusse kann oft auch ein Irrthum sein,

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und es wird demnach hiedurch die philosophische Speculation in nichts als ein Wissen gekennzeichnet. Also die Philosophie hat allein unter den abstracten Wissenschaften sich nicht durch praktische Früchte bewährt. Wäre dies der Fall, so wäre der allgemeine Zweifel an ihr ja auch nicht möglich. Aber er ist möglich, denn er ist wirklich. Und sein wirkliches Bestehen scheint somit selbst schon seine Berechtigung darzuthun. Dies etwa sind die vorzüglichsten Ursachen, aus welchen das allgemeine Misstrauen gegen die Philosophie als Wissenschaft entspringt: Mangel allgemein angenommener Lehrsätze; gänzliche Umwälzungen, welche die Philosophie ein um das andere Mal erleidet; Unerreichbarkeit des angestrebten Zieles auf dem Wege der Erfahrung; und Unmöglichkeit praktischer Verwerthung. – Wer könnte leugnen, dass diese Thatsachen gewichtig und wohl geeignet sind, das Urtheil zu bestimmen? Dennoch gelingt es uns vielleicht, zu zeigen, dass die erbrachten Gründe nichts, oder dass sie wenigstens nicht so viel beweisen, als man daraus zu folgern geneigt ist. Wenn wir die verschiedenen allgemeinen theoretischen Wissenschaften, die Mathematik, die Physik, die Chemie, die Physiologie, nebeneinander stellen: so finden wir, dass sie eine Reihe bilden, in welcher jedes frühere Glied abstracter als das nachfolgende ist. Der Gegenstand der später genannten Wissenschaft ist verwickelter, und zwar in der Art, dass die Phänomene, die Gegenstand der früher genannten sind, sich bei ihr durch neue Elemente und Bedingungen compliciren. Hieraus folgt, dass jede später genannte Wissenschaft von der früher genannten abhängig ist, während das Gegentheil nicht oder doch nur in einem ungleich geringeren Maasse der Fall ist. Und eben desshalb wird die später genannte in ihrer Entwickelung langsamer sein, und wenn man den jeweiligen Grad ihrer Vollkommenheit mit demjenigen vergleicht, welchen eine früher genannte zu derselben Zeit erreicht hat, so wird sie um ein Bedeutendes zurückgeblieben erscheinen. Dies lehrt die Geschichte der Wissenschaften auf das Deutlichste. Mathematische Entdeckungen hatten schon die Griechen in reicher Fülle aufzuweisen. In der Physik begründete zwar Archimedes den einfachsten Theil, die statische Mechanik; aber alle weiteren nennenswerten Erfolge blieben der Zeit Galilei’s und den darauf folgenden Jahrhunderten aufbewahrt. Die eigentlich wissenschaftliche Chemie wiederum ist um Vieles jünger als die Physik; Lavoisier, der bekanntlich als ein Opfer der französischen Revolution gefallen ist, wird gemeiniglich als ihr Gründer betrachtet. Und die festere Gestaltung

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einer wissenschaftlichen Physiologie gehört erst unserem Jahrhundert an. Auch steht sie unverkennbar in ihrer Entwickelung heute noch weit hinter der Chemie, so wie diese hinter der Physik zurück. Und die Physik kann sich ebenso mit den mathematischen Wissenschaften nicht entfernt an Vollkommenheit vergleichen. Es ist nun klar, dass, wenn es Phänomene gibt, die sich ähnlich zu den physiologischen, wie diese zu den chemischen und die chemischen zu den physischen verhalten: die Wissenschaft, welche sich mit ihnen beschäftigt, in einer noch unreiferen Phase der Entwickelung sich finden muss. Und solche Phänomene sind die psychischen Zustände. Sie begegnen uns nur in Verbindung mit Organismen und in Abhängigkeit von gewissen physiologischen Processen. Somit ist es offenbar, dass die Psychologie heutzutage, wo sogar die Physiologie noch relativ geringe Fortschritte gemacht hat, nicht über die ersten Anfänge ihrer Entwickelung hinausgeschritten sein kann, und dass in einer früheren Zeit, abgesehen von gewissen glücklichen Anticipationen, von einer eigentlich wissenschaftlichen Psychologie gar nicht geredet werden konnte. Mit der Psychologie steht aber die Gesellschaftswissenschaft sowie auch alle übrigen Zweige der Philosophie in Zusammenhang. Werden sie ja nur darum zu einer Gruppe zusammengefasst, weil ihre Forschungen untereinander durch die engsten Beziehungen verknüpft sind. Wir sehen also wohl, dass die Philosophie, auch dann wenn es ihr an der Fähigkeit zu wahrer wissenschaftlicher Entfaltung nicht fehlen sollte, heutzutage unmöglich einen hohen Grad von Entwickelung erreicht haben kann; dass man also aus ihrem gegenwärtigen, zurückgebliebenen Zustande keineswegs den Schluss ziehen darf, dass ein wissenschaftlicher Fortschritt in ihr überhaupt unmöglich sei, und somit ihre Forschungen nicht wahrhaft den Namen wissenschaftlicher Bestrebungen verdienen. Wenn nun aber der unvollkommene Zustand, in welchem die Philosophie sich findet, zu einem solchen Schlusse nicht berechtigt, so dürften auch alle die Gründe, welche, wie wir sagten, das Misstrauen und die tiefe Entmuthigung für philosophische Forschungen erzeugten, nichts gegen den wissenschaftlichen Charakter der philosophischen Aufgaben beweisen, da sie sich leicht als Folgen dieser Thatsache begreifen lassen. Man sagt: Jede allgemeine Wissenschaft trägt Früchte für das Leben. Die Philosophie aber thut es nicht. Also ist sie keine Wissenschaft. – Allerdings trägt jede Wissenschaft praktische Früchte; aber erst dann, wenn sie den Zustand einer gewissen Reife erreicht hat. Die grossen praktischen Leistungen der Physik gehören mit geringen Ausnahmen der modernen Zeit, die der Chemie

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dem gegenwärtigen Jahrhundert an; die Physiologie aber beginnt sozusagen erst in unseren Tagen die Heilkunst neu zu gebären. Die praktischen Früchte, welche die Philosophie, nach meiner Ueberzeugung, mit aller Sicherheit zu bringen berufen ist, kann also offenbar der heutige Tag nicht brechen. Man sagt weiter, die Weise der Erklärung und Ergründung, nach welcher der Philosoph verlange, sei von ganz anderer Art als die, welche der Naturforscher anstrebe. Der Philosoph wolle in das innere Was und Wie der Dinge eindringen, zu welchem Beobachtung und Erfahrung einen Zugang nicht besitzen. – Wir antworten: Auch dies ist nur Folge des zurückgebliebenen Zustandes der Philosophie. Es ist ein Zeichen davon, dass sie über die Grenzen möglicher Erkenntniss und über die richtige Weise, in welcher sie ihre Fragen zu stellen hat, sich vielfach noch nicht klar geworden ist. Auch auf anderen Gebieten des Wissens war einst Aehnliches der Fall. Nicht immer setzte sich der Naturforscher die bescheidene Aufgabe, die einzelnen Vorgänge in der Körperwelt als Fälle allgemeinerer Thatsachen zu begreifen. Im Gegentheile ging er vor Zeiten selbst darauf aus, die innersten Kräfte der Natur als das was sie sind und in der Weise wie sie wirken zu verstehen. Erst sehr spät und allmälig ist er dazu gelangt, sich von solchen Versuchen zurückzuziehen und sie dem Philosophen zu überweisen. Mehr und mehr gesellte sich dann zu diesem Verzicht ein mitleidiges oder auch wohl ein spöttisches Lächeln. Der Naturforscher war sich darüber klar geworden, dass die Grenzen, die er in dieser Weise seiner Forschung steckte, zugleich diejenigen seien, welche die Natur selbst hier dem Streben der Wissenschaft gesetzt habe. Nur der zurückgebliebene Zustand der Philosophie hat es aber verschuldet, dass die Philosophen sich nun wirklich häufig dieser Fragen bemächtigten. Sie hätten sonst nicht blos dieses Danaergeschenk zurückgewiesen, sondern auch auf ihrem eigenen Gebiete in analoger Weise die Forschungen nach dem inneren Wesen der Vorgänge als etwas Unmögliches aufgegeben. Sie hätten, wie der Naturforscher für die physischen, für die psychischen Phänomene aus der Beobachtung einzelner Thatsachen allgemeine Gesetze festzustellen gesucht und dann, durch die Verknüpfung der einzelnen Erscheinungen mit diesen allgemeinen Gesetzen, gewisse Vorgänge zu erklären und andere vorauszubestimmen gestrebt. Und ebenso wären sie auf dem Gebiete der Metaphysik darauf ausgegangen, allgemeinere, für das Gebiet der physischen wie psychischen Phänomene und so für das Ganze des Universums gleichmässig geltende Wahrheiten aufzufinden. Auch sie hätten an der relativen Erkenntniss es sich genügen lassen, und nicht mehr durch den Anspruch auf absolute Erkenntniss in das Gebiet des völlig Unbegreiflichen sich verstiegen. An grossen und reichen Aufgaben würde es der Philosophie nach einer solchen Klärung

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und Reinigung ihres Strebens sicher eben so wenig als der Naturwissenschaft gefehlt haben. Wir haben als Grund des Misstrauens gegen die Philosophie auch angeführt, dass sie nicht in derselben Weise wie andere Zweige der Forschung eine stetige wissenschaftliche Tradition aufweise; dass noch die allerneueste Zeit gänzliche Umwandlungen gesehen habe, indem das folgende System in schroffem Gegensatze gegen das vorangegangene sich erhob. Auch dies erklärt sich unschwer aus der langsameren Entwicklung, welche der Philosophie im Vergleiche mit anderen Wissenschaften zukommen musste. Einmal gewinnt jede wissenschaftliche Forschung erst in ihrem weiteren Verlaufe einen gewissen festeren Bestand. Erst wenn sie zum breiten Strome geworden ist, besitzt sie ein unwandelbares Bett; vorher geschieht es wohl, dass sie wie der Giessbach im Gebirge im neuen Frühjahre eine neue Bahn sich wühlt. Die verschiedensten Hypothesen tauchen auf und verschwinden, indem die eine so unhaltbar wie die andere sich zeigt. Andererseits ist jede Wissenschaft in unreiferen Phasen am meisten der Gefahr ausgesetzt, auch das bereits Gewonnene wieder zu verlieren. Sie gleicht dem zarten Organismus des Kindes, welcher leichter als der zu voller Kraft erwachsene einer Störung und Krankheit erliegt. So zeigt denn in der That die philosophische Forschung nicht blos eine geringere Entwickelung als andere Wissenszweige, sondern auch einen öfteren und tieferen Verfall. Vielleicht ist auch die jüngstvergangene Zeit eine solche Epoche des Verfalles gewesen, in der alle Begriffe trüb ineinander schwammen, und von sachentsprechender Methode nicht eine Spur mehr zu finden war. Der rasche Aufund Niedergang entgegengesetzter Systeme wird in diesem Falle uns nicht mehr befremden können. Die Gegenwart ist aber dann wohl eine Zeit des Ueberganges von jener entarteten Weise des Philosophirens, zu einer naturgemässeren Forschung. In einem solchen Augenblicke werden die philosophischen Ansichten natürlich am meisten auseinandergehen. Die Einen stehen noch ganz unter dem Einflusse der letzten Systeme; Andere suchen in früheren Zeiten Anknüpfungspunkte; wieder Andere beginnen völlig neu, indem sie sich von vorgeschritteneren Wissenschaften Winke für die Methode entnehmen; und die allermeisten stellen in verschiedenen Verhältnissen Mischungen von alten und neuen Elementen dar. So erklärt sich denn vollkommen auch jener chaotische Widerstreit der philosophischen Ansichten in unserer Zeit, der vielleicht mehr als alles Andere das Ansehen der Philosophie in den weitesten Kreisen zu untergraben dient, und den wir darum vor allem anderen als Grund des herrschenden Misstrauens hervorhoben.

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Wir haben nun in rückläufiger Ordnung die früher erwähnten Einwände, einen um den anderen, in ihrer Tragweite geprüft; und wir haben gefunden, dass keiner etwas Weiteres erschliessen lässt, als dass die Philosophie noch nicht in so vollkommener Weise wie andere allgemeine Disciplinen als Wissenschaft gegründet ist. Wir sehen also hieraus, in welchem Sinne etwa das Misstrauen gegen die Philosophie berechtigt ist und in welchem nicht. Es ist berechtigt, insofern der Philosoph heutzutage nicht blos in geringerem Umfange, sondern gewöhnlich auch mit geringerer Sicherheit und Schärfe die ihm zufallenden Fragen beantworten kann als ein anderer Forscher die Fragen seines Gebietes. Es ist aber nicht berechtigt, wenn es so weit führt, zu glauben, dass die Philosophie nur nach Phantomen jage; dass sie Ziele verfolge, zu denen kein Weg und kein Steg führe, und die für alle Ewigkeit unerreichbar und unnahbar seien. Wie sie auch immer manchmal ihre Grenzen verkannt haben mag: es bleibt ihr ein Kreis von Fragen, auf deren Beantwortung nicht verzichtet werden muss und, im Interesse der Menschheit, nicht verzichtet werden kann. Sie hat darum ohne Zweifel eine Stelle unter den Wissenschaften auszufüllen, und eine Zukunft bleibt ihr gesichert. Jene Entmuthigung also, die in unseren Tagen nur allzuweit um sich gegriffen hat, erweist sich als eine völlig unbegründete. Ja wir dürfen mehr sagen als dies. – Wenn irgend eine Zeit Ursache hatte, auf glücklichen Erfolg der philosophischen Forschungen zu hoffen, so gilt dies von der unserigen. Gerade der Blick auf die Naturwissenschaften, deren schönere und fruchtbarere Entfaltung beim ersten Ansehen den Philosophen verzagen lassen möchte, dient hierfür zum Beweise. Die Wissenschaften sind wie Pflanzen, von denen, ihrer Art und Natur nach, die eine früher als die andere grünen und blühen muss. So lange die Naturwissenschaft und jede ihrer Unterarten nicht reiche Knospen getrieben hatte, war für die Philosophie die Zeit des Frühlings noch nicht gekommen. Nun aber, da selbst die Physiologie kräftiger zu sprossen beginnt, fehlt es nicht mehr an den Zeichen, welche auch für die Philosophie die Zeit des Erwachens zu fruchtbringendem Leben ankündigen. Die Vorbedingungen sind gegeben; die Methode ist vorbereitet; die Forschung ist vorgeübt. So scheint denn, wenn nicht Alles trügt, das Verzagen in unserer Zeit nicht unähnlich dem der Gefährten des Columbus zu sein, die gerade dann die Hände hoffnungslos sinken lassen wollten, als das ersehnte Land im Begriffe war, vor ihnen aus dem Meere emporzusteigen. Und noch etwas Anderes zeigt sich, weshalb gerade in unseren Tagen am wenigsten der Muth erschlaffen darf. Es ist das wachsende Bedürfniss nach Philosophie.

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Mag auch die Philosophie mehr von den Naturwissenschaften abhängen als umgekehrt, so ist doch hier wie überall, wo sich Wissenschaften berühren, zugleich die entgegengesetzte Beziehung nicht ausgeschlossen. Psychologisches und Physiologisches stehen in Wechselwirkung; und so hört man sehr häufig gerade die eifrigsten Vorkämpfer des Fortschrittes in der Physiologie, wie z. B. Helmholtz in seiner physiologischen Optik, über den zurückgebliebenen Zustand der Psychologie Klage führen, der sie in der Lösung der wichtigsten Probleme aufhalte. Und auch auf die Probleme der Metaphysik, wie auf die Frage über das allgemeine Causalgesetz und seinen etwaigen a priorischen Charakter, sieht man die Naturforscher eingehen, und andere ihrer Untersuchungen, wie z. B. die über das Gesetz der Wechselwirkung der Naturkräfte, führen sie bis hart an die Schwelle der höchsten metaphysischen Fragen. Mit dem wissenschaftlichen Bedürfnisse verbindet sich zugleich das praktische. Die socialen Fragen treten in unserer Zeit mehr als in jeder früheren in den Vordergrund. Das Bedürfniss nach einer befriedigenderen Lösung erweist sich dringender als irgendeine Verbesserung der Gesundheitspflege, der Landwirthschaft oder des Verkehrswesens. Aber offenbar gehören die socialen Erscheinungen zu den psychischen Erscheinungen, und kein anderes Wissen kann hier als ordnende Macht zu Hülfe gerufen werden als die Kenntniss der psychischen Gesetze, also das philosophische Wissen. Auch dieser Umstand hat in unseren Tagen schon mehr als einen hochdenkenden Mann, dem das Wohl der Menschheit am Herzen lag, dazu bestimmt, sich ernst und sorgfältig mit psychologischen Untersuchungen zu beschäftigen. Darum hoffe ich auch mit Zuversicht, dass die Ebbe im philosophischen Studium, die bei der deutschen Jugend eintrat, wie sie bereits heute nicht mehr den äussersten Stand ihrer Tiefe zeigt, bald wieder in einer neuen Flut aufgehoben erscheine. Und die deutschen Jünglinge Oesterreichs, begünstigt von einer Regierung, deren Weisheit den Werth der Wissenschaft erkennt und nach jeder Seite und mit allen Mitteln sie zu fördern sucht, werden in diesem edlen Streben hinter ihren Brüdern in anderen Gauen gewiss nicht zurückbleiben wollen.

Herr Horwicz als Recensent Ein Beitrag zur Orientirung über unsere wissenschaftlichen Culturzustände 1875

https://doi.org/10.1515/9783110621228-009

Herr Horwicz hat nach der Berücksichtigung, welche ich seiner „Methodologie der Seelenlehre“ und seinen „Psychologischen Analysen auf physiologischer Grundlage“ in meiner Psychologie zu Theil werden liess, in Nr. 6 der „Philosophischen Monatshefte“ 1874 eine Kritik über mich ergehen lassen, die, in Folge einer ernsten Erkrankung, mir sehr verspätet zu Gesichte kam. Vielleicht ist sein Angriff nur wenigen Lesern erinnerlich. Doch mag auch jetzt ein kurzes Wort der Entgegnung nicht schaden. Herr Horwicz wirft mir vor, dass ich in seinen Schriften nicht genug gelesen, und was ich gelesen nicht verstanden habe. Meine zahlreichen, der Methodologie und den verschiedensten Theilen der Analysen entnommenen Citate haben die erste Beschuldigung wohl zum Voraus entkräftet. Dagegen werde ich meine wiederholten Missverständnisse kaum in Abrede stellen können. Als ich z. B. las, die Aehnlichkeit zwischen der eigentlichen und der tropisch sogenannten Verdauung, welche das der Seele „durch die Nerven zugeführte Rohmaterial zu Empfindungen und zu seelischen Producten immer höherer Art … verarbeitet“, sei „eine wichtige Analogie des seelischen Lebens mit dem leiblichen“ (Ps. Anal. S. 148), so verstand ich dies so, als erkläre der Verfasser, dass er auf die betreffende Analogie Werth lege, und nur darum habe ich bei diesem Punkte verweilt. Nun aber sagt Herr Horwicz in seiner Antikritik ausdrücklich, diese Analogie sei etwas, worauf er „keinen Werth“! lege (Ph. Mon. S. 272). Das Missverständniss von meiner Seite ist somit durch den Ausspruch dessen, der am Besten die Ansichten des Autors kennen muss, unwidersprechlich dargethan. Aber ich hoffe, ein geneigter Leser werde anerkennen, dass ich an diesem Missverständnisse wenigstens ziemlich unschuldig bin. Aehnlich glaubte ich, als ich S. 61 meiner „Psychologie“ sagte, nach Herrn Horwicz vermöge das Selbstbewusstsein bloss einen vorläufigen rohen Ueberblick über das Ganze der Seelenthätigkeit zu gewähren, jeder weitere Fortschritt werde nur durch die Physiologie möglich, und dann S. 62 dasselbe in anderer Wendung wiederholte, – den Gedanken ziemlich getreu wiederzugeben, der in folgenden Stellen, sowie in anderen, ihnen ähnlichen ausgesprochen liegt: „Es kommt vor Allem in Betracht das Selbstbewusstsein … Es fehlt auch nicht … an mancherlei secundären Hülfsmitteln, als die Beobachtungen früher Entwicklungsstufen an Kindern, jungen Thieren, ausserordentlicher Seelenprocesse an Geisteskranken, fertiger, gleichsam krystallisirt abgelagerter Entwicklungsproducte in der Sprache u. s. w. – Wie sollen wir nun diese Erkenntnissmittel anwenden? … Das geht offenbar nicht anders als so: Wir müssen auf irgend eine Art zunächst einen vorläufigen rohen Ueberblick über das Ganze unserer Seelenthätigkeit zu gewinnen suchen. Es schadet dabei nichts, wenn derselbe für’s

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Erste ziemlich beweislos und dunkel dasteht“ (Meth. des Seelenl. S. 186). Wie aber werden wir dann weiter kommen? Wie soll es uns namentlich gelingen, das Hauptproblem (vgl. Psych. Anal. Vorr. S. V) zu lösen, nämlich „die einfachsten und frühesten Seelenelemente und ihren Entwicklungsgang aufzufinden?“ – „Wir haben“, erinnert der Verfasser (Meth. der Seelenl. S. 187), „auch noch ein drittes methodologisches Moment ins Auge zu fassen, die Hülfswissenschaft; vielleicht giebt sie Rath“. Als solche erweist er dann (ebend. S. 188 ff.) die Physiologie. Und um die Art, wie er sich diese Hülfswissenschaft helfend denkt, zu charakterisiren, sagt er in den Analysen: „Das Bewusstsein“ giebt „über die ursprüngliche Entwicklung und den wesentlichen Zusammenhang“ der einzelnen Seelenprocesse „so gut wie gar keine Auskunft“ (I S. 155). „Die Physiologie ist uns nicht bloss ein nützliches Beiwerk, sondern das methodologische Vehikel der Forschung. Ein seelisches Gebilde gilt uns nur dann für wissenschaftlich erklärt, wenn es gelungen ist, dasselbe auf jene physiologische Grundlage zurückzuführen“ (ebend. S. 175). Herr Horwicz erklärt nun auf das Nachdrücklichste, ich habe ihn hier missverstanden, ja ich habe in diesem Punkte das gerade Gegentheil von dem gesagt, was er lehre. Das physiologische Mittel spiele nach ihm bei der Forschung nur eine vorbereitende Rolle und das psychologische sei und bleibe die Hauptsache (Phil. Mon. X, S. 273). Auch hier kann es mir nicht einfallen, der Autorität des Autors, wenn er sich selbst auslegt, entgegen zu treten. Aber das wenigstens erscheint hart, wenn Herr Horwicz von „grobem“ Missverständnisse spricht; denn unter solchen Umständen dürfte wohl ein Versehen auch bei dem geübtesten Auge nicht Wunder nehmen. Es scheint fast, als sprächen Herr Horwicz und ich verschiedene Sprachen. Denn nicht bloss er klagt über Missverständnisse, sondern auch ich finde, dass er mich fast nirgends verstanden hat; obwohl eines wenigstens bei meinem Buche ziemlich allgemein anerkannt wurde, nämlich, dass es mit Klarheit sich ausdrückt. Selbst Anfänger im Studium der Philosophie fanden das Verständniss leicht. Herr Horwicz dagegen giebt meine Bemerkungen über die Methode in solcher Weise wieder, dass sie als ein wahres Chaos erscheinen, bei welchem mit dem Kritiker auch ich ausrufen muss: „Versteh’s wer kann!“ Wenn ich bemerke, bei dem mehrfachen Sinn eines in der Wissenschaft zu gebrauchenden Terminus sei es gut, sich für einen bestimmten Gebrauch des Ausdruckes zu entscheiden und dann unter den Bedeutungen des Wortes „Bewusstsein“ diejenige auswähle, vermöge welcher es sich am Meisten auf eine wichtige Klasse bezieht, für die kein anderer Namen gegeben ist: so meint Herr Horwicz, das sei die Empfehlung eines Verfahrens, wonach der Ausdruck „Denken“ von nun an für „Nicht-denken“ zu gebrauchen wäre. Höflich genug

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deutet er dann an, dass ich in diesem Falle Hoffnung habe, auch einmal unter die Denker gezählt zu werden. Wenn ich gelegentlich sage, das Gesetz der Gravitation oder das der Trägheit könne etwa als Beispiel eines obersten und letzten Gesetzes gelten: so scheint Herr Horwicz zu glauben, ich wolle sie damit als erklärbare Thatsachen bezeichnen. Voll Staunen schaltet er die Frage ein: „die Gravitation, eine unerklärbare, nackte Thatsache, wäre ein oberstes Gesetz?“ Er hat offenbar keine Ahnung, dass was ich, aber meines Wissens auch jeder andere Logiker oder Naturforscher, ein oberstes Gesetz nenne, nie etwas anderes als eine unerklärbare Thatsache ist. Jede Erklärung eines Gesetzes ist ja eine Ableitung aus höheren. An einer anderen Stelle sagt Herr Horwicz: „eine Hypothese, ,wonach die sensibelen Nerven für das Erkennen, die motorischen Nerven für das Begehren als Substrat zu betrachten wären‘, habe ich nirgends aufgestellt“. Dass ich, in gröblichem Missverständnisse, ihm diese Ansicht zuschreibe, beweist ihm auf ’s Neue, wie ich nur leichtfertig in seinem Buche geblättert habe; sonst hätte ich sehen müssen, dass auch er, „wie Jedermann (?), die seelische Thätigkeit in den Centren localisirt denke“. – Ich habe anderwärts die Vorwürfe von Missverständnissen willig hingenommen, weil der Verfasser wohl besser wissen muss, was er sagen wollte, als ich. Aber in diesem Falle kann ich nachweisen, dass das Missverständniss vielmehr auf Seiten des Herrn Horwicz ist. Und wenn er nochmals einen Blick auf die von ihm angezogene Stelle werfen will, so wird er sich hoffentlich selbst davon überzeugen, dass ich die von ihm verleugnete Ansicht ihm gar nicht zugeschrieben habe. Was ich sage, ist nur dieses: dass derjenige, welcher wie Herr Horwicz (Ps. Anal. I, S. 149 ff.) aus der Unterscheidung der Nerventhätigkeit in sensibele und motorische Wolff ’s Grundeintheilung der Seelenthätigkeit in Erkennen und Begehren als richtig und vollständig darthun wolle (nur die vermittelnden Uebergangsstufen soll dieser übersehen haben), die Annahme machen müsse, es seien die sensibelen Nerven für das Erkennen, die motorischen für das Begehren das Substrat. Und das schien in der That im Sinne von Herrn Horwicz gesprochen. Denn „für die Vollständigkeit“ der Aufzählung der verschiedenen Seelenprocesse, lehrt er in der Methodologie (S. 190), „bürgt uns die physiologische Grundlage, wenn es irgend richtig ist, dass kein seelischer Process ohne stoffliches Substrat sich vollziehen kann“. Und selbst in seiner Antikritik findet sich der Ausspruch, „die organische Gliederung des Nervensubstrates“ gebe bei der Aufzählung der „wichtigsten Arten seelischer Zustände und Processe“ „beachtenswerthe Fingerzeige“. Nun machte ich darauf aufmerksam, wie unwahrscheinlich jene Hypothese wäre, und wie sehr sie mit den gewöhnlichen Annahmen der

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Physiologen, von denen viele Denken und Wollen nicht bloss in die Nervencentren sondern sogar in dieselben Nervencentren verlegen, im Widerspruche stände. „Es wird sich also“, schloss ich, „schlechterdings auf diesem Wege über die Zahl der Seelenvermögen nichts ermitteln lassen“. Dass Herr Horwicz die für seine Beweisführung allerdings unentbehrliche Hypothese wirklich aufgestellt habe, sage ich so wenig, dass ich vielmehr ausdrücklich folgende Anmerkung beifüge: „Horwicz selbst sagt : ,Wir müssen bestimmt annehmen, dass alle seelische Action an die Centralorgane des Nervensystems geknüpft sei. Wir konnten es … nicht wahrscheinlich finden, dass die verschiedenen Eigenschaften, Kräfte, Vermögen (oder wie man sich ausdrücken will) der Seele sich wie die Phrenologen wollen in bestimmte Parthien der Nervenmasse getheilt haben, sahen uns vielmehr zu der Annahme genöthigt, dass die verschiedenen Organe und Gruppen und Systeme von Organen im Wesentlichen dieselben Functionen verrichteten, dass den einzelnen Centralorganen, resp. Theilen derselben, nicht verschiedene Seelenkräfte entsprechen u. s. w.‘ Was für ein Werth soll aber dann der von ihm durchgeführten Analogie zukommen?“ – Kann man hiernach in Wahrheit sagen, ich habe nicht gewusst, was Herr Horwicz in diesem Punkte lehrt, oder, ich habe, wie mir zugleich vorgeworfen wird, die Sache „gewaltsam verdreht?“ Ich glaube, die Versuchung von böswilliger Entstellung zu sprechen, läge für mich in diesem Falle näher. Doch gerne nehme ich an, dass auch hier Alles nur Missverständniss gewesen ist. Und für ein Missverständniss kann ich auch in aller Aufrichtigkeit es erklären, wenn Herr Horwicz den, wie ich glaubte und noch jetzt glaube, sehr freundlichen Ton meiner Besprechung für Insult genommen hat. Ich rede von seinen „interessanten ,Psychologischen Analysen‘“ und nenne den Verfasser einen „urtheilsfähigen Kopf“. Herr Horwicz aber findet, dass ich „in äusserst abschätziger Weise“, und wiederum, dass ich „in schnödem Hohne“ über ihn und sein Werk mich ausspreche. Der Verfasser, sagt er, „fragt in schnödem Hohne, ob ich wohl wie Newton von mir sagen könne: ,hypotheses non fingo?‘“ Es liegt mir etwas an meinem guten Namen als Mensch, der sich auch in der Polemik gebührlich zu benehmen weiss. Darum möge der betreffende Passus hier folgen. „Dass das Wort Newton’s ,hypotheses non fingo‘ auf ihn als physiologischen Analytiker psychischer Erscheinungen nicht anzuwenden sei, dessen ist Horwicz selbst sich wohl bewusst, und er scheint sich zuweilen über die Unmöglichkeit seines Unternehmens völlig klar zu werden“. Und nun kommt eine Reihe von Citaten, worin Herr Horwicz z. B. anerkennt, dass es zur erklärenden Zurückführung eines seelischen Gebildes auf seine physiologische Grundlage „vorläufig immer noch an sehr wesentlichen Bindegliedern fehlt“, „dass es sich bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft

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nur um Hypothesen und denkbare Möglichkeiten handeln kann“ und dass es „selbstverständlich nicht darauf ankommt, zu sagen, wie die Dinge wirklich sein müssen, was man eben nicht weiss“, u. s. w. u. s. w. Ob irgend Jemand ausser Herrn Horwicz hier eine in schnöder Weise höhnende Frage finden wird, weiss ich nicht; ich zum Mindesten finde nicht einmal eine Frage. Auch wollte ich keine stellen, da, wo bereits alle die citirten Aeusserungen vorlagen, eine Frage wenig am Platze schien. Doch auch in ihnen fürchtete ich, wenigstens für einen Augenblick, Herrn Horwicz missverstanden zu haben, als ich, nicht ohne Verwunderung, sah, wie er in seiner Antikritik dem Wahne huldigt, er dürfe wirklich und mit bestem Rechte das Wort von Newton sich eigen machen. Aber bald wurde mir klar, dass in diesem Falle das Missverständniss zwischen Herrn Horwicz und Newton schwebt. Herr Horwicz scheint in seinem kritischen Aufsatze den Regeln der Höflichkeit wenig Werth beizulegen, und die „physiologische Grundlage“ eines solchen psychischen Verhaltens könnte füglich in einer ungewöhnlichen Reizbarkeit des sensibelen Nervensystems gesucht werden, wie sie ihm gemäss seiner eigenen lebendigen Schilderung (S. 303) des ersten Bandes der „Psychologischen Analysen“ schon als „Randalirfuchs“ eigenthümlich war. Oder ist vielleicht auch hier der Schein nur Folge meiner Unfähigkeit, mich in seine Ausdrucksweise zu finden? – Wie dem auch sei, jedenfalls ist es nicht angenehm, mit Jemand längere Discussionen zu führen, bei dessen Aeusserungen sogar in dieser Hinsicht ein Missverständniss so nahe liegt. Darum sei nur noch ein Punkt mit wenigen Bemerkungen berührt. Herr Horwicz ist der Meinung, dass die Physiologie mir durchaus terra incognita sei. Da ich aus Gründen, welche die vorerwähnten Geständnisse von Herrn Horwicz selbst schon reichlich an die Hand geben, bei denen ich aber in meiner „Psychologie“ eingehender verweile, von der Einmischung physiologischer Theorien möglichst Umgang nehme, so hat er wenig Gelegenheit gehabt, dies zu constatiren. Ueber seine eigenen naturwissenschaftlichen Kenntnisse dagegen lässt sich, da er principiell den physiologischen Weg betritt, ungleich leichter ein Urtheil bilden. Und da giebt er sich denn, wie mir wenigstens scheint, mehr als einmal Blössen. So z. B. in den Erörterungen über die Lebenskraft (Ps. Anal. 1, S. 14 ff.). Unter wahre Behauptungen werden hier ganz irrige und von der Physiologie ein für allemal abgethane Vorstellungen gemengt. „Der Organismus, das organisirte Leben als thätige Endursache,“ heisst es S. 15, „bildet hier die Krystallflüssigkeit des Augapfels, dort das Fasergewebe des Muskels, wie es der Plan des Ganzen erfordert, nicht der Sauerstoff oder einer der Stoffe, in welche diese Gebilde nach dem Tode zerfallen. Diese Stoffe und Kräfte sind offenbar ganz

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unschuldig daran …, es werden ihnen Dienste auferlegt, die sie den Gesetzen ihrer Natur nach leisten, die sie aber von selbst und ohne Mitwirkung anderer Ursachen niemals leisten können.“ – Der Metaphysiker wird sich hier an der „thätigen Endursache“ stossen. Die Annahme eines wirkenden Zweckes ist jedenfalls ein Curiosum, da die Endursache erst am Ende sein wird, das Wirkende schon beim Beginne wirklich ist. Der Naturforscher aber wird von jener „Mitwirkung anderer Ursachen“ überhaupt nichts wissen wollen, und wenn dann Herr Horwicz die von ihm vertheidigte Lebenskraft mit der immateriellen Seele identificirt, statt „zwischen die immaterielle Seele und die Materie erst noch die Lebenskraft wie einen Platonischen Demiurg einzuschalten“, so wird dies den Physiologen zur Zustimmung nicht geneigter machen. Und was wird dieser sagen, wenn er S. 36 liest: es „durchbricht der Organismus den Causalnexus der materiellen Atome und Kräfte und tritt seinerseits als neue Ursache, als freies Wesen auf, welches für sich eine ganz neue Causalitätsreihe eröffnet?“ Die irrige Anschauung, die sich in diesen Stellen zu erkennen giebt, betrifft die Gesammtheit des organischen Lebens. Doch auch im Besonderen und Einzelnen zeigen sich Verstösse. So finden wir z. B. ebend. S. 183 folgende Bemerkung: „Die Beschaffenheit und Anordnung der Endigungen des Hörnerven im Corti’schen Organ lässt mit Sicherheit darauf schliessen, dass die Verschiedenheit der Empfindungen der Töne auf der Mitschwingung verschieden gespannter Hörnervenfaserenden ebenso beruht, wie die objective Tonhöhe auf der Schwingung einer Saite oder Luftsäule von verschiedener Länge.“ Und wir hören dann den Verfasser „die Wichtigkeit dieser Helmholtz’schen Entdeckung“ rühmen. – Dass die vermeinte Entdeckung eine längst widerlegte Hypothese war, deren Unhaltbarkeit auch Helmholtz schon mehrere Jahre vor dem Erscheinen der „Psychologischen Analysen“ anerkannt hatte, war Herrn Horwicz offenbar unbekannt geblieben. In der gegen mich gerichteten Antikritik selbst findet sich ausser der merkwürdigen Aeusserung über den Charakter der obersten Naturgesetze, von der früher die Rede war, auch folgender Ausspruch. „Newton’s Farbenlehre“, sagt Herr Horwicz, war eine „gut beglaubigte Hypothese“, „bis sie erst in unserer Zeit durch die Entdeckung der Spectralanalyse zur Gewissheit erhoben ist“ (S. 273). – Newton’s Farbenlehre durch die Spectralanalyse erst zur Gewissheit erhoben? – Redet Herr Horwicz von der längst widerlegten Emission der Lichtkörperchen oder von der längst erwiesenen Dispersion der im Weiss vereinigten Farbenstrahlen? – Hier dürfte nicht bloss mir, sondern auch jedem Physiker und Chemiker von Profession das Verständniss schwierig sein. Und so möchte es sich denn zeigen, dass Herr Horwicz, der in der Psychologie in

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die Arbeiten eines Bain zugestandenermaassen keinen Blick geworfen, und in der Logik einen Mill ebensowenig kennt, aber auf seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse pocht: bei genauerer Selbstprüfung Ursache gefunden haben würde, auch in dieser Hinsicht etwas bescheidener aufzutreten. Die Polemik soll nicht bloss die persönliche Bekämpfung eines Gegners im Auge haben, sondern immer zugleich ein allgemeineres Interesse fördern. Da ich Herrn Horwicz in meiner „Psychologie“ besprach, war es meine Absicht, einen Weg, den aus naheliegenden Gründen jetzt mancher Psychologe betreten möchte, als gegenwärtig noch ungangbar darzuthun. Auch diese kritische Erwiderung dient vielleicht einem allgemeineren Gute, und wäre dasselbe nur die Erkenntniss, wie wenig sich das Publikum in unseren Tagen auf den Bericht eines Recensenten verlassen darf. Nicht bloss Herr Horwicz giebt von meinen Lehren kein treues Bild. In den „Blättern für Literarische Unterhaltung“ werde ich als ein eifriger Vertheidiger des unbewussten Bewusstseins getadelt, während ich, zwar nicht durch „Definitionsmechanismen“ und „Begriffsevolutionen“, wie Herr Horwicz mir vorwirft, die Annahme unbewusster psychischer Thätigkeiten ausschliesse, wohl aber in einem mehrere Bogen umfassenden Kapitel sowohl die Argumente für die Lehre als diese selbst zu widerlegen bemüht bin. Da ich einem Studirenden gegenüber zufällig der Sache erwähnte, so erzählte er mir, dass seinem Vater, einem gelehrten Historiker, kürzlich ganz Aehnliches begegnet sei. Man tadelte ihn in der „Sybel’schen Zeitschrift“ als Vertreter eines geschichtlichen Irrthums, den er doch gerade in dem betreffenden Werke selbst als solchen verworfen hatte. – Doch vielleicht ist es besser, wenn ich, statt dem Publikum Misstrauen zu predigen, vielmehr diejenigen, die in Wahrheit zu einem kritischen Urtheile berufen wären, auf das Treiben derer aufmerksam mache, welchen das von ihnen vernachlässigte Richteramt naturgemäss in die Hände fällt. Wien

Franz Brentano

Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht Vortrag gehalten zum Besten des Lesevereins der deutschen Studenten Wiens 1876

https://doi.org/10.1515/9783110621228-010

Vorwort Mein Vortrag spricht von Erscheinungen einer frühen Vergangenheit: aber die Interessen unserer Tage sind es, die er vorzüglich im Auge hat. Und nichts dürfte geeigneter sein, sie zu fördern, als der Blick auf fernentrückte Zustände, in welchen die näherliegenden sich spiegeln. Die Philosophie lebt in einer Zeit des Ueberganges und der Gährung. Mehr und mehr hat die Ueberzeugung sich Bahn gebrochen, daß die gerühmtesten Systeme der letzten Decennien nichts anderes als Ausartungen der Wissenschaft gewesen sind: aber noch immer fehlt viel daran, daß diese Erkenntniß ein Allgemeingut geworden wäre; und noch weniger ist man über die wahre Natur des Uebels und seine Ursachen sich klar geworden. So kann es geschehen, daß Viele, die von den letzten Denkern sich abwenden, auf solche Lehren zurückgreifen, die entweder selbst bereits die Anfänge der gleichen Krankheit oder, in entgegengesetzter Richtung ausschreitend, die Ursache von ihr enthielten. Ihre Fehler hatten die späteren Mißstände als Reaction zur unausbleiblichen Folge. Insbesondere aber fehlt es auch nicht an Forschern, welche das anererbte Uebel nicht sowohl zu heilen als einer erwachenden Kritik gegenüber zu verdecken bestrebt sind. Ihr Bemühen mag uns als ein Zeichen der nahenden Besserung gelten: ein Mittel dazu bietet es sicher nicht; ja es schafft mehr als jedes andere dafür ein Hemmnis. Keine von diesen falschen Richtungen ist in dem Vortrage unberücksichtigt geblieben: doch geht er selbstverständlich nicht über bloße Andeutungen hinaus. Alles Weitere bleibt dem eigenen Nachdenken überlassen. Aber die Thatsachen, und zumal die Analogien zwischen antiken und modernen Verhältnissen, sprechen klar genug für sich selbst; und so darf ich hoffen, daß auch ein Wort, welches nicht mehr als eine einfache Anregung enthält, nicht nutzlos gesprochen sein werde. Vielleicht wird es sogar wie in anderen Fällen auch hier in erfreulicher Weise sich bewähren, daß die Belehrung, die von innen stammt, am willigsten Gehör findet.

„Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht“ – das ist ein Titel recht nach neuestem Schnitte. Wie sollten Sie sich da nicht wundern, wenn ich sage, daß in der modernen Hülle sich ein antiker Kern verbirgt? Der Denker, für welchen ich ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen möchte, ist weder Hegel noch Schopenhauer, noch auch der Philosoph des Unbewußten, der jetzt vor Anderen der Held des Tages geworden ist. Sein Name ist Plotin, und er lebte und starb vor mehr als sechzehnhundert Jahren. Plotin! – wer war dieser Plotin? – Die Philologen kennen ihn wohl und haben als treue Hüter aller Reliquien des Altertums neue Ausgaben seiner Enneaden veranstaltet: aber schon die Philosophen befassen sich wenig mehr mit dem Studium seiner Werke, und der Laienwelt ist der Name selbst so gut wie unbekannt. Das war anders zu anderen Zeiten. Alt und Jung, Reich und Arm, Vornehm und Gering, – Alles drängte sich zu seinem Lehrstuhle. Hunderte von begeisterten Verehrern stießen für seinen Ruhm in die Posaune. Ja die auszeichnende Begünstigung, die man in Preußen noch vor Kurzem der Hegel’schen Schule zuteil werden ließ, hat die Schule Plotin’s auf einem ungleich ausgedehnteren Schauplatze gefunden: in dem ganzen, weiten Römerreich ist ihre Lehre für einen Augenblick sozusagen Staatsphilosophie geworden. Die große Bewegung der Geister, die Plotin hervorrief, der weittragende Einfluß, den seine Anschauung gewann, knüpfen an seinen Namen ein bleibendes historisches Interesse. Und wenn die Gegenwart seinen Speculationen keinen wahren Werth zugesteht, so liegt gerade in dem Contraste zwischen der früheren und späteren Würdigung ein neues Moment, das unsere Aufmerksamkeit verdient. An welches Urteil sollen wir uns halten? – An das der Vorzeit? – wie läßt sich dann die jetzige Geringschätzung begreifen, da doch ein Demokrit, Sokrates, Platon und andere Denker des Alterthums noch immer hoch in Ehren stehen? Wenn aber, wie zu vermuthen, das Urtheil der Nachwelt das gerechtere ist; wenn so wenig wissenschaftlicher Geist den Forschungen Plotins innewohnt, daß entweder sie nicht den Namen einer Philosophie, oder die Philosophie nicht den Namen einer Wissenschaft verdient: so erhebt sich die Frage, wie denn seine eigene Zeit, die doch bereits wahre Größen der Wissenschaft, einen Archimed, einen Hipparch und in der Philosophie selbst einen Forscher wie Aristoteles vor sich hatte, – wie, sage ich, eine solche Zeit den haltlosesten Träumereien mit bewundernder Verehrung lauschen konnte. Jedenfalls stehen wir vor einem Räthsel. Bei Plotin gehören Leben und Lehre innig zusammen. Werfen wir einen Blick auf beide.

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Das Leben Plotins hat bereits sein unmittelbarer Schüler Porphyrius beschrieben. An seinen Bericht vorzüglich werde ich mich halten. Manches darin klingt allerdings märchenhaft; aber Porphyrius macht auch diese Aussagen als redlicher Zeuge, wie er denn nirgends, wo in seiner Kenntniß eine Lücke ist, sie mit Conjecturen oder gar mit willkürlichen Erfindungen auszufüllen wagt. So liegt auch in dem Unglaublichen, was er berichtet, ein werthvolles historisches Zeugniß; es zeigt uns, was die nächste Umgebung Plotins, ja was dieser selbst über sich selbst zu glauben fähig war. Plotin wurde geboren im Jahre 205 nach Chr., also 800 Jahre, nachdem Thales den Grundstein zur griechischen Philosophie gelegt, und 527 Jahre, nachdem Aristoteles sein Forscherauge für die Welt irdischer Erfahrungen geschlossen hatte. Ueber seine erste Jugend sind wir fast ohne Nachrichten; denn Plotin verweigerte darüber fast jede Auskunft. „Er schien“, sagt sein Biograph, „sich zu schämen, daß seine Seele in einem Körper wohne. Deshalb konnte er es nicht ertragen, wenn man ihn nach Vorfahren, Eltern oder Vaterland frug. Völlig entrüstet wurde er darum auch bei der Zumuthung, er möge sein leibliches Angesicht von einem Maler oder Bildhauer nachbilden lassen. „,Wie?‘ rief er seinem Schüler Amelius zu, als dieser ihn einst mit solchen Bitten bestürmte, – ,wie? dir scheint es nicht genug, daß ich dieses Bild selbst mit mir herumtrage, mit welchem die Natur mich von Anfang an umkleidet hat? – du meinst gar, ich solle überdies von diesem Bild ein bleibenderes Bild wie ein sehenswürdiges Werk hinterlassen?‘“ – Doch in diesem Stücke überlisteten ihn seine Anhänger. Ein Maler, den sie in die Schule brachten, fertigte sein Bildnis nach der Erinnerung. Ebenso wußte man auf Umwegen das Jahr seiner Geburt zu ermitteln. Sein Arzt, wahrscheinlich unter dem Vorgeben, eine genauere Kenntniß seines Alters sei bei der Behandlung von Wichtigkeit, entlockte ihm das Geheimnis. Ueber den Tag seiner Geburt, den die Schüler gern festlich begangen hätten, konnten sie dagegen nichts erfahren. Und ebensowenig kennt Porphyrius seinen Geburtsort. Spätere nennen als solchen Lykopolis in Aegypten. So fließt zunächst unsere Quelle spärlich. Nur einen Zug weiß Porphyrius aus seiner Kindheit zu erzählen, und dieser ist eigenthümlich genug. Bereits acht Jahre alt, zu einer Zeit, da er schon die Schule besuchte, trank Plotin noch an der Brust seiner Amme. Als aber diese ihn schalt und einen lästigen Jungen nannte, entsagte er endlich dieser Weise der Ernährung. Nun verlieren wir ihn für lange Zeit aus den Augen und finden ihn erst als achtundzwanzigjährigen jungen Mann in Alexandrien wieder, eben im ersten Nachdenken über philosophische Fragen begriffen.

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Alexandrien, die geniale Schöpfung des großen Makedoniers, blieb, auch nachdem Aegypten dem Scepter Rom’s sich gebeugt hatte, noch lange eine Weltstadt im großartigsten Sinne. Fremde aus allen Ländern strömten in seinem Hafen zusammen. Hellenen und Barbaren, Juden und heidnische Völker, Orient und Occident tauschten hier mit den Waaren zugleich auch die Ideen aus. Das Museum und die großen Bücherschätze, welche die Ptolomäer in Bruchium und im Tempel des Serapis aufgehäuft hatten, waren der Mittelpunkt einer ausgebreiteten literarischen Thätigkeit. Hier lebten die gelehrten Commentatoren des Platon und Aristoteles, hier hatte Aenesidem für den Skepticismus epochemachend gewirkt, hier Philo der Jude die Samenkörner einer theologisch-philosophischen Speculation ausgestreut. Zur Zeit des Plotin besaßen alle bedeutenden Schulen des Alterthums in Alexandrien ihre Vertreter. Plotin suchte, einen um den anderen, die Lehrer auf, welche am mei-sten eines Rufes sich erfreuten. Aber das philologisch gelehrte Commentiren, zu welchem die einen ihn anleiten wollten, war nicht das, wonach er verlangte; die Skepsis der andern war durchaus seinem Sinne fremd; und ebensowenig konnten die Epikureer oder die Stoiker ihn befriedigen, alle etwas vom Skepticismus angekränkelt und in Eklekticismus ausgeartet. Da verfiel Plotin in Traurigkeit und tiefe Schwermuth. In dieser Stimmung, da jede Hoffnung schwinden wollte, fand ihn ein Freund und beredete ihn zu einem letzten Versuche. Er führte ihn zu Ammonius. Dieser Ammonius war ein seltsamer Geist. Er war Christ gewesen und Heide geworden, und er war Sackträger gewesen und Philosoph geworden. Nach seiner früheren Beschäftigung gaben ihm die Leute den Beinamen Saccas, d. i. der Sackträger. Seine Schüler aber nannten ihn θεοδίδακτος, „der Gott-belehrte“; denn dieselben schrieben ihm göttliche Eingebungen zu. Und in Wahrheit, aus den Säcken wenigstens, die er getragen, konnte Ammonius seine speculativen Ideen nicht wohl genommen haben. Seine Lehre, über die wir nur sehr unvollkommen unterrichtet sind, war enthusiastisch, mystisch, schwärmerisch. Plotin war hingerissen. – „Dieser ist’s, den ich suchte“, rief er seinem Freunde zu, als der Vortrag schloß; und sofort verband er sich dem Meister und gehörte bald zu seinen vertrautesten Schülern. Acht Jahre blieb er bei ihm und verließ ihn nicht mehr bis zu seinem Tode. Auch später, auf der Höhe seines Ansehens, hat Plotin immer Ammonius als denjenigen genannt, dem eigentlich der Ruhm gebühre. Um jene Zeit, im Jahre 242 nach Chr., geschah es, daß Kaiser Gordian einen Feldzug gegen die Perser unternahm. Plotin, dem gewiß Ammonius die

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Weisheit des Orients gepriesen hatte, schloß sich, nach geistigen Eroberungen begierig, dem Heere an. Aber das Glück war Gordian nicht günstig; er verlor in Mesopotamien Sieg und Leben, und Plotin selbst rettete sich nur mit Mühe nach Antiochien. Bei dieser Gelegenheit mochte Plotin mit manchem edlen Römer freundschaftliche Beziehungen angeknüpft und die Ueberzeugung gewonnen haben, daß auch in der Hauptstadt des Erdkreises ein für seine Speculationen empfänglicher Boden sich finde. Er wandte sich nach Rom. Vierzig Jahre alt betrat er die Stadt. Alsbald eröffnete er eine Schule, legte seine Lehre dar, besprach die Ansichten der vornehmsten Commentatoren zu Platon und Aristoteles, forderte aber auch die Schüler zu activer Theilnahme an der philosophischen Untersuchung auf. Sein Biograph schildert ihn als von unerschöpflicher Geduld und Sanftmuth und weiß auch die Kraft seiner Dialektik und die Schnelligkeit, mit welcher er Schwierigkeiten zu lösen und den richtigen Weg zur Ueberzeugung zu finden wußte, nicht genug zu rühmen. Doch andererseits hören wir ihn klagen, die Schule sei voll gewesen von Unordnung und vielem Geschwätze, so daß diese Uebelstände Plotin schließlich genöthigt hätten, seine Lehre schriftlich aufzuzeichnen. Jene Meisterschaft im Dialoge, die einst Sokrates eigen gewesen, werden wir also unserem Philosophen kaum zuschreiben dürfen. Wie dem auch sei, jedenfalls sind logische Schärfe und Gewandtheit etwas, was immer nur eine kleine Zahl zu würdigen versteht: Plotin aber wußte mit seinen Vorträgen die weitesten Kreise anzuziehen. Dazu trug nicht wenig die Begeisterung bei, die aus seiner Rede hervorleuchtete. Seine Züge waren schon von Natur edel und anmuthig; aber ihre Schönheit erhöhte sich, wenn er sprach. Sein Antlitz wurde dann wie strahlend, und leichte Schweißtropfen perlten auf seiner Stirne. Der Ausdruck war gespannt, gedankenschwer, kurz und enthusiastisch. Man fühlte, wie er nicht auf die Worte achtete, sondern ganz in die Sache vertieft war. Was er sprach, floß aus der Fülle seiner Betrachtung; denn immer war er in ernstem Nachdenken begriffen, mochte er allein sein oder mit Anderen verkehren. Er war so vollkommen gesammelt, daß er, im Schreiben und vielleicht mitten in einem Satze unterbrochen, wenn er nach geraumer Zeit dazu zurückkehrte, nie nöthig hatte, auch nur ein Wort von dem zu überlesen, was er geschrieben. Er fuhr fort, als hätte er den Griffel nie aus der Hand gelegt. Auch im übrigen war seine Lebensweise eine eigenthümliche und erinnert stark an das, was in unseren Heiligenlegenden berichtet wird. Er schlief wenig und nahm nur kärgliche Nahrung zu sich. Selbst Brod genoß er nicht

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häufig; Fleischspeisen wies er gänzlich und sogar in Zeiten der Krankheit zurück. Ebensowenig erlaubte er sich jemals den Gebrauch von Bädern. Und für alle diese Entsagung fand Plotin reichen Lohn in der Wonne der Betrachtung, namentlich der Betrachtung göttlicher Dinge. Die Persönlichkeit des Plotin und seine Lehre machten in Rom den gewaltigsten Eindruck. Philosophen, Aerzte, Senatoren, Staatsmänner und auch Frauen aus den vornehmsten Geschlechtern schlossen sich ihm an. Sein Haus füllte sich mit Knaben und Mädchen, die von sterbenden Eltern ihm anvertraut wurden; und er sorgte für die Kleinen und ihr Vermögen mit praktischem Sinne und aufopfernder Hingebung. Sehr häufig wurde er bei Streitigkeiten zum Schiedsrichter gewählt; und obwohl er viele Jahre hindurch unzählige Male des Amtes waltete, niemals hat er sich dabei mit einer der Parteien verfeindet. Selbst bei dem Kaiser Galienus und der Kaiserin Salonina stand Plotin in höchsten Ehren. Und fast hätte der Kaiser ihm erlaubt, eine zerstörte Stadt Campaniens unter dem Namen Platonopolis wieder aufzubauen. Plotin selbst mit allen seinen Freunden wollte sich dort niederlassen, und sie sollte nach den Gesetzen Platon’s regiert werden. Doch gelang es einigen am Hofe einflußreichen Männern, durch ihre kräftigen Gegenvorstellungen die Genehmigung des etwas abenteuerlichen Planes zu hintertreiben. Wollte man den Berichten des Porphyrius Glauben schenken, so hätten den Plotin nicht blos die Menschen, sondern auch die Götter durch besondere Gunstbezeigungen ausgezeichnet. Seine Contemplation soll sich oft bis zur höchsten Stufe übernatürlicher Ekstase erhoben haben. In den sechs Jahren, in welchen Porphyrius mit Plotin verkehrte, wäre dieser nicht weniger als viermal zur vollen Vereinigung mit der Gottheit gelangt, während Porphyrius selbst ein solches Glück nur einmal in seinem Leben, und zwar im achtundsechzigsten Jahre seines Alters, erfahren haben will. Noch in anderen Beziehungen behauptet er eine wunderbare Bevorzugung seines Meisters durch die überirdischen Mächte. Jeder Mensch hat nach der Schule Plotin’s eine Art von Schutzengel, einen Dämon, der ihn geleitet. Aber Plotin’s persönlicher Schutzgeist soll kein Dämon, sondern ein Wesen höheren Ranges gewesen sein. Porphyrius erzählt als Beweis dafür folgende Begebenheit. Ein ägyptischer Priester, der Plotin in Rom besuchte, versprach ihm den Dämon zu zeigen, der ihn schütze. Die Beschwörung fand im Tempel der Isis statt. Aber siehe da! statt des Dämons erschien ein Gott, der nicht mehr in die Gattung der Dämonen gehörte. „Selig bist du, o Plotin“, habe da der Aegyptier gerufen, „der du statt eines Dämons einen Gott hast, und nicht aus einem geringeren Geschlechte den Führer deines Lebens erlostest“. „So“, sagt Porphyr, „hatte Plotin schon durch die

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Natur selbst etwas vor den Uebrigen voraus.“ Freilich klingt es etwas verdächtig, wenn Porphyrius beifügt, diesen Gott habe man damals weder etwas fragen, noch auch länger als einen Augenblick sehen dürfen, weil, wie der Aegyptier sagte, ein Freund, der mit dabei war, die (Opfer-)Vögel, die man ihm zum Aufheben in die Hand gegeben, erdrückt hatte, sei es aus Neid, sei es aus Schrecken. Ein anderes Mal soll der höhere Schutz, dessen Plotin genoß, sich gezeigt haben, als ein gewisser Olympius aus Alexandrien ihm mit Zaubermitteln nachstellte. Dieser mußte es erleben, daß alle seine Versuche sich gegen ihn selbst kehrten. „Wehe!“ rief er zu seinen Gefährten, „die Seele dieses Plotin hat eine so ungeheure Macht, daß sie die Schläge, die man gegen sie richtet, sofort auf den Angreifer zurückfallen läßt.“ Plotin aber sagte zu derselben Zeit denen, die mit ihm waren: „Jetzt wird Olympius der Leib wie ein Geldbeutel zusammengeschnürt, und alle seine Glieder reiben sich aneinander.“ Noch ein stolzes Wort berichtet Porphyrius von ihm. Amelius hatte ihn aufgefordert, mit ihm zu der Stätte zu gehen, wo er den Göttern opferte. „Nicht meine Sache“, entgegnete Plotin, „ist es, zu ihnen, sondern die ihrige, zu mir zu kommen.“ „Wie er aber dazu komme“, fügt Porphyrius bei, „so Hohes von sich zu sprechen, das konnten wir weder selbst uns erklären, noch wagten wir, ihn darüber zu fragen.“ Der Astrologie war Plotin nicht grundsätzlich feind. Er glaubte, unbeschadet der Freiheit lasse sich das Schicksal der Menschen in den Sternen lesen. Aber von denen, welche sich als Astronomen rühmten, hätten viele die Kunst nicht inne. Er selbst hatte zuweilen auf andere und mehr unmittelbare Weise einen Einblick ins Verborgene und in die Zukunft. Einer Witwe, Namens Chione, die mit ihren Kindern im Hause des Plotin wohnte, wurde eine kostbare Halskette entwendet. Plotin ließ alle Sklaven und Hausgenossen versammeln, schaute jedem Einzelnen in’s Gesicht, und indem er dann auf einen von ihnen hinwies, sagte er: Dieser hat den Schmuck genommen. Der Bursche verlegte sich aufs Leugnen, bis er endlich, durch Schläge zum Geständnisse gebracht, das gestohlene Gut zurückgab. Ein anderes Mal sagte Plotin von einem Knaben seine späteren sittlichen Ausschweifungen und seinen frühen Tod voraus. Und von sich selbst erzählt Porphyrius, er sei einst mit dem Gedanken umgegangen, sich den Tod zu geben; da habe Plotin seine geheimen Absichten erkannt und ihn von ihrer Ausführung zurückgehalten. Auch beim Tode des Plotin und nach demselben fehlte es nicht an wunderbaren Zeichen. Er starb 270 n. Chr. in einem Alter von 66 Jahren. Einem

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Magenleiden unterworfen, hatte er nur tägliche Reibungen dagegen angewendet. Da eine Pest ausbrach und die Männer, welche ihm diesen Dienst zu leisten pflegten, wegraffte, hatte dies für seine Gesundheit schlimme Folgen. Er wurde nach und nach contract an Händen und Füßen und verlor auch den Gebrauch der Sprache. Dies veranlaßte ihn, sich aus der Stadt zurückzuziehen. Man brachte ihn nach Campanien, auf ein Landgut, das der Familie eines verstorbenen Freundes gehörte. Die Stunde seiner Auflösung war nahe. Seine vertrautesten Schüler, Porphyrius und Amelius, waren abwesend; der eine in Sizilien, der andere in Syrien. Sein treuer Arzt Eustochius, der in Puteoli wohnte, eilte auf die Nachricht von seiner schweren Erkrankung zu ihm. Es war zu spät. Da Eustochius eintrat, erlangte Plotin plötzlich die Gabe der Sprache wieder und rief dem Freunde entgegen: „Auf dich nur habe ich gewartet und strebe jetzt das, was in mir göttlich ist, zu dem Göttlichen, das im Weltall lebt, zurückzuführen.“ Mit diesen Worten gab er seinen Geist auf. Bei seinem letzten Atemzuge, erzählt Porphyrius weiter, sei ein Drache unter dem Bette, auf welchem Plotin lag, hervorgekommen und, nachdem er das Gemach durcheilt, in einer Maueröffnung verschwunden. Amelius frug beim delphischen Orakel an, welches Schicksal der Seele des Verstorbenen zu Theil geworden. Der Gott antwortete mit einundfünfzig hinkenden Hexametern voll schwülstiger Lobpreisungen. Plotin, heißt es darin, weile da, wo die Brüder Minos und Rhadamanthys, wo der gerechte Aeacus, wo Platon’s heilige Kraft, wo der schöne Pythagoras sammt allen jenen wohne, die bereits in den Chor unsterblicher Liebe eingegangen seien, gleichen Loses theilhaft mit dem Geschlechte der seligsten Dämonen. Freuen wir uns dieser für die Freunde unseres Philosophen gewiß sehr tröstlichen Offenbarungen, und wenden wir, über das Seelenheil des Mannes beruhigt, uns der Betrachtung seiner Lehre zu. Nicht ganz unvorbereitet treten wir an die Lehre Plotin’s heran; aber freilich nicht sowohl für ihr Verständnis, als auf ihre Unverständlichkeit. Mystisches Dunkel und ein freies Schweifen der Phantasie in unbekannten Regionen: das ist, worauf jeder von uns gefaßt sein wird. Und diese Erwartung wird er reichlich bestätigt finden schon in den wenigen Grundzügen, auf die sich meine Darstellung beschränken wird. Denn lange Zeit Sie auf den Pfaden Plotinischer Speculationen umherführen, hieße die Geduld meiner geehrten Hörer und Hörerinnen auf eine allzu harte Probe stellen. Auch das Leben Plotin’s war absonderlich. Es ist in der Tat gleichsam eine Verkörperung seiner Lehre. Aber im Leben gewinnt alles Farbe, wenn man sie auch bei einem Leben, wie Plotin es führte, nicht wohl mit Goethe als grün

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und golden bezeichnen kann. Die Theorie dagegen, sagt der Dichter, ist grau, und die Speculationen Plotins sind ganz besonders ein Reich der Schatten. Auch dürften wir über das, was wir hinsichtlich der Lehre Plotin’s vorzüglich zu erkennen wünschten, aus seinem Leben allein schon hinreichenden Aufschluß gewonnen haben. Keiner von Ihnen wird noch daran zweifeln, daß das Urtheil der Nachwelt ein gerechtes ist, wenn es seiner Philosophie jede wissenschaftliche Bedeutung abspricht. Als einen edelgesinnten und für hohe Ideale begeisterten Mann mögen wir Plotin bewundern: als einen ruhigen Beobachter von Thatsachen, oder auch als einen nüchtern berechnenden Verstand, der mit logischer Schärfe die Consequenzen zieht und Schritt für Schritt sich von der Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit seiner Gedankenverbindungen Rechenschaft gibt, – mit einem Worte als einen besonnenen und in irgend welchem Sinne wahrhaft wissenschaftlichen Forscher werden wir ihn nicht gelten lassen. Welches ist das erste Princip aller Ding? – Ist es etwas Körperliches? – so hatte Thales, so hatte Demokrit es gefaßt. – Ist es ein weltbildender Verstand? – dafür hatte Aristoteles es erklärt. – Nach Plotin ist beides unrichtig. Alles Körperliche hat Theile, ist also eine Vielheit; und auch der Verstand ist eine Vielheit, denn er enthält in sich die Zweiheit des Denkenden und Gedachten. Aber eine Vielheit kann das erste Princip nicht sein, da jede Vielheit eine Einheit voraussetzt. Die erste und höchste unter allen Ursachen der Dinge ist also weder etwas Körperliches noch ein göttlicher Verstand, sondern das schlechthin Eine. Was dieses Eine sei, vermögen wir nicht zu sagen. Kein Name steht uns zu Gebote, der sein Wesen entsprechend bezeichnete. Es ist nicht Denken; es ist nicht Sein. Nicht aber als ob es deshalb Mangel hätte: es überragt nur sowohl Denken als Sein. Es ist zu erhaben, um noch unter diese Begriffe zu fallen. Hier haben wir sozusagen den ersten Lehrsatz in dem Systeme Plotin’s und zugleich den ersten Fehlschluß. Jede Vielheit, sagt er, setzt eine Einheit voraus. Ist diese Behauptung unmittelbar einleuchtend? – In einem Sinne ohne allen Zweifel! – Als Theil ist eine Einheit für jede Vielheit Vorbedingung. Aber es handelt sich ja in unserem Falle um eine Voraussetzung als wirkendes Princip. Und da erscheint der Satz in keiner Weise als selbstverständlich. Er müßte bewiesen werden. Und auf einer groben Verwechslung beruht es, wenn Plotin unterschiedslos auch in diesem Sinne das unmittelbare Zugeständnis fordert. Und noch einer zweiten Verwechslung macht er sich hier schuldig. Das, was im Gedanken existirt, verwechselt er mit dem, was in Wirklichkeit besteht.

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Sonst hätte er nicht in dem Verstande eine Vielheit (natürlich eine wirkliche Vielheit) finden können, nämlich die Zweiheit des Denkenden und Gedachten. Doch dieser Fehler wird sofort noch deutlicher hervortreten und zu den tollsten Annahmen führen. Denn, was Plotin eben gesagt, erscheint noch klar und verständig gesprochen, verglichen mit dem, was sich unmittelbar daran anschließt. Es folgt die Lehre von der göttlichen Trias und der Schöpfung der niederen Welt. Alles geht nach Plotin aus der unendlichen Kraft des Einen hervor. Aber in einer Reihe sich folgender Processe. Zunächst und unmittelbar entspringt aus ihr ein zweites göttliches Prinzip, der Verstand, und aus ihm ein drittes, die Weltseele. Von dieser erst wird die sinnliche Welt hervorgebracht. Betrachten wir kurz jede einzelne Stufe der Entwickelung. Der göttliche Verstand umfaßt selbst eine Welt. Er erzeugt und trägt in sich die Ideen aller Dinge. Und diese Ideen sind nicht wesenlose Gedanken. Was der göttliche Verstand denkt, das ist wahr und wirklich. Und so sind denn die Ideen nicht weniger seiend als die Dinge, deren Ideen sie sind, sondern mehr als sie. Sie sind das wahrhaft Seiende. Jede Idee ist selbst ein lebendiger Geist und ein göttliches Wesen. Der göttliche Verstand, der die Idee der Ideen ist, ist ein Geist von Geistern, ein Gott, der eine Fülle von Göttern in sich begreift. Ganz Aehnliches lehrt Plotin von der Weltseele. Wie der Verstand die Ideen oder Götter, so erzeugt und trägt die Weltseele die Seelen in sich. Und er sagt, die einzelnen Seelen seien voneinander und von der Weltseele verschieden, zugleich aber, da sie in der Weltseele seien, auch eines mit ihr und unter sich. Schneidender können Widersprüche nicht sein. Aber Plotin läßt sich nicht dadurch beirren, oder vielmehr selbst durch sie wird er nicht auf die arge Begriffsverwechslung aufmerksam, deren er sich abermals schuldig machte, indem er Wahrheit im Sinne der Richtigkeit des Denkens und Wahrheit im Sinne der Wirklichkeit confundirte. Die Richtigkeit des Denkens muß im Verstande sein, die Wirklichkeit des Gedachten muß es nicht. Doch hören wir weiter. Die Weltseele hat eine doppelte Wendung, nach Oben und nach Unten. Nach Oben zum göttlichen Verstande gekehrt, hat sie in sich die Seelen erzeugt, und jeder Idee im Verstande entspricht in ihr eine Seele. Plotin bezeichnet die Weltseele wegen dieser Wendung nach Oben als himmlische Aphrodite. Die Weltseele wendet sich aber auch nach Unten, zur Welt der körperlichen Dinge, und in dieser Hinsicht heißt sie die Natur. Die Körperwelt ist weit unvollkommener als die Weltseele, aus der sie ihren Ursprung nimmt, wie überhaupt das, was ausgeht, nie so vollkommen ist, als

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das, woraus es entspringt. Das unnennbare göttliche Urprincip ist nur Einheit, der Verstand und die Weltseele sind Einheit und Vielheit zugleich. Die Körperwelt ist Vielheit ohne Einheit. Und wegen dieses Mangels an Einheit ist sie einerseits unvermögend, ein neues Reich von Wesen hervorzubringen, und andererseits unfähig jeglicher Erkenntniß. So schließt mit der Weltseele das Reich des Lichtes ab. Die sinnliche Welt, das schlechthin letzte Glied der Kette, ist das Reich des Dunkels. Blind aufeinander wirkend, würden die körperlichen Dinge, sich selbst überlassen, ein Chaos darstellen. Da wendet die Weltseele fürsorgend sich zu ihnen hinab und führt Alles zu verständiger Ordnung. Fehlerfrei und mühelos ist das Walten ihrer Vorsehung. Sie herrscht in der Welt mit königlicher Gewalt, ohne im geringsten ihrerseits in eine Abhängigkeit von ihr zu gerathen. Nicht die Weltseele, sagt Plotin, ist in der Körperwelt, sondern die Körperwelt ist in der Weltseele, ja (genau gesprochen) nur in einer Seite von ihr, in jener nämlich, vermöge deren sie als Natur mit ihrer Kraft und Herrschaft dem Körperlichen zugewandt ist, nicht in der anderen, vermöge welcher sie, nach Oben gekehrt, als himmlische Liebe die Welt der Ideale nachbildet. Aber wie verhält es sich mit der Einzelseele? Wie ist sie mit ihrem Leibe verbunden? und welches war die Ursache, die ihre Vereinigung mit ihm bewirkte? Hier stoßen wir auf einen Punkt, wo unser Philosoph wieder einmal ganz besonders mystisch wird. Das Herabsteigen der Einzelseelen in das Reich des Sinnlichen, lehrt er, liegt im Plane der Vorsehung. Die Vollkommenheit der körperlichen Welt verlangt dasselbe wesentlich, und es geschieht nach nothwendigen Gesetzen. Aber die Prädestination von Seite der Weltseele schließt nicht auf Seite der Einzelseele die Freiheit aus. Die Einzelseelen in ihrem übersinnlichen Zustande blicken nieder. Sie schauen ihre körperlichen Abbilder und von Liebe zu ihnen erfaßt wollen sie für dieselben Sorge tragen. So steigen sie zunächst in den der idealen Welt benachbarten und besten Ort der sichtbaren Welt, den Himmel. Hier nehmen sie einen himmlischen Körper an, und mittels seiner gehen sie in den irdischen Körper ein, jede in den ihr entsprechenden. Doch nicht eigentlich die Seele wird in den Leib, sondern der Leib in sie aufgenommen. Ihre Vereinigung ist ganz ähnlich zu denken wie die der Weltseele mit der Gesamtheit der Körperwelt. Nichtsdestoweniger besteht ein großer Unterschied zwischen dem Zustande der Weltseele, die dem sinnlichen Universum, und dem Zustande der Einzelseele, die ihrem Leibe vorsteht. Die Weltseele hat die Körperwelt geschaffen.

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Sie herrscht darum vollkommen unbeschränkt durch irgend etwas, was ihr als fremdes Werk gegenübersteht. Die Einzelseele dagegen lenkt einen Körper, der nicht ihr selbst entsprungen ist, und indem sie ihn beherrschen will, wird sie darum gleichzeitig abhängig von ihm. So tritt eine Aenderung ihrer Functionen ein: das vegetative Leben, Empfindung, Lust und Unlust, Begierde, Zorn, Sinneswahrnehmung, – lauter Thätigkeiten, bei welchen sie an den Leib gebunden ist, treten an die Stelle des Denkens. In mannigfachster Weise wird sie von ihrem Leibe in Anspruch genommen, der ja zerstörenden Wirkungen unterworfen ist. Und je mehr sie sich mit ihm abgibt, um so mehr wird sie ihm ganz innerlich. Hatte sie vormals in Einheit mit der Weltseele, leidlos und gleich vollendet wie sie, den Himmel und das Universum verwaltet, so wird sie jetzt, nachdem sie sich der Sorge für das Einzelne hingab, mehr und mehr vom Ganzen und Allgemeinen, und ebenso vom Idealen entfernt. Darum war ihr Herabsteigen in den Leib ein wahrer Verlust für sie, in den sie nie hätte willigen sollen. Es war für sie die Versenkung in einen Kerker, ein Fall aus lichter Höhe in Grabesnacht. Was als Fügung der Weltseele weise und vollkommen gerechtfertigt erscheint, das muß, als Handlung der Einzelseele betrachtet, im höchsten Grade mißbilligt werden. Schuldig wird der Mensch geboren, und wohlverdient erscheint das mannigfache Leid, das ihn trifft. Und die erste Schuld zeugt weiter. Die Seele schwebt in der höchsten Gefahr, sich in ihrer Liebe immer mehr noch in das Sinnliche zu verlieren. Und so finden wir sie thatsächlich auf bösen Wegen. Uneingedenk ihres göttlichen Ursprunges, und ihrer inneren Hoheit vergessend, ehrt sie das Verächtlichste. Da bedarf es der Bekehrung. Der Seele, die so Vieles verlor, Eines ist ihr geblieben: ihre Freiheit. Einige benützen diese Freiheit zur Hingabe an die Lust; Andere wenden sich zur Tugend des praktischen Lebens; Andere endlich verweilen, alles Irdische gering schätzend, betrachtend dort, wo ihr wahres Vaterland ist. Sie haben den besten Theil erwählt. Die höchste Stufe der Betrachtung ist die Ekstase. In der Ekstase findet die Seele sich selbst wieder; ja sie erhebt sich noch über sich empor. Und wenn der höchste Gipfel der Ekstase erstiegen wird, so reicht die Seele nicht etwa blos an den die Weltseele überragenden göttlichen Verstand, sondern an den ersten, eigentlichen Ursprung, an das Einig-Eine selbst hinan. Sinnliche Bilder leisten hier keine Dienste. Auch das höhere Denken gibt kein Licht. Es ist noch Vielheit und Bewegung. Die Seele muß unbewegt sein, wie das Eine selbst es ist, um sich mit ihm zu verbinden. Alles ruht und schweigt in ihr, wenn das höchste Vermögen, welches gleichsam der Mittelpunkt

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der Seele ist, der Einheit sich vermählt. Es ist dies Erkennen der Einheit kein Schauen; es ist Verzückung, Berührung, Vereinfachung der Seele bis zum Einen. Alles frühere Erkennen, auch das der Ideen, war nur Vorbereitung: dies ist Ziel, dies ist Seligkeit. Die Seele ist sozusagen Gott geworden und umtanzt ihn mit unendlichem Entzücken in gottinnerlichem Reigentanze. Freilich kann sie nicht immer hier verharren, so lange sie noch mit den Fesseln des Leibes belastet und an das Irdische gekettet ist. Nur in seltenen Augenblicken wird den besten, weisesten, göttlichsten Menschen die Vereinigung mit dem höchsten Gute zuteil, und erst das Jenseits, wo jede körperliche Störung wegfällt, vermag in bleibender Weise sie zu geben. Ich habe den Gedankenlauf Plotins nicht weiter unterbrochen. Nur bei den ersten Schritten zeigte ich durch ein paar Worte der Kritik, wie schon hier alle Bahnen vernünftiger Forschung verlassen werden. Wie die ersten Schritte, so ist der ganze Weg. Es bedurfte für ihn keiner weiteren Bemerkung. Ein Reichthum von Behauptungen ist in der Lehre: aber ein gänzlicher Mangel an Beweisen. In einem einheitlichen Stil ist der Bau künstlerisch ausgeführt: aber er ist kein System mit wissenschaftlicher Methode. Und nicht auf fester Grundlage erhebt er sich: sondern wie eine Fata morgana schwebt er in den Lüften. In jeder Hinsicht wird der Vernunft Unmögliches zugemuthet: das Unerkennbarste soll sie erkennen und denken, was am meisten undenkbar ist. Dröhnend prallen oft die Widersprüche aneinander: aber das alles paßt recht wohl in das Ganze der schwärmerischen Musik, die unser Hirn in Taumel setzt. Und das konnte ein Mann von der Bedeutung Plotins für sichere Erkenntniß halten! – und das vermochten Hunderte und Tausende begabter Menschen als Ueberzeugung sich eigen zu machen! – ja auf ein solches System wollten sie wie auf ein unerschütterliches Fundament ihr ganzes Leben gründen! – Das scheint unbegreiflich und ein unlösbares Räthsel. Doch die Geschichte bietet den Schlüssel zu Vielem. Die Geschichte der Philosophie zeigt uns wiederholt Zeiten des Verfalles, und dieser Verfall ist ein allmählicher und erfolgt nach festen Gesetzen. Immer finden wir zunächst eine Abnahme oder Trübung des wissenschaftlichen Interesses, und in Folge davon verflacht die Philosophie und verliert den Charakter strenger, wissenschaftlicher Forschung. So war es im Alterthum zur Zeit der Stoiker und Epikureer. Mannigfache Umstände führten dahin, daß das praktische Interesse das theoretische überwog und verdrängte. In der Stoa und bei Epikur herrscht fast ausschließlich

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die Ethik. Aber die Wurzeln der praktischen Disciplinen liegen in den theoretischen; und wenn diese ohne Nahrung sind, so können auch jene nicht gedeihen. Darum war die Zeit der Stoiker und Epikureer eine Zeit des Niederganges der philosophischen Forschung überhaupt. Doch dies war nur ein erstes Stadium des Verfalles, das mit Nothwendigkeit zu einem zweiten führte. Die Herrschaft eines unberechtigten Dogmatismus drängt in der Wissenschaft zum Skepticismus, wie in der Politik die Herrschaft rechtloser Willkür zur Revolution und Anarchie. Die neuere Akademie und der Pyrrhonismus waren die skeptischen Systeme, die, alle sichere Erkenntniß leugnend, nunmehr zu Ansehen und Verbreitung gelangten. Und auch die Eklektiker, wie z. B. Cicero, waren vom Geiste des Skepticimus durchdrungen. Aber die Skepsis kann den Menschen nie befriedigen; er hat einen Drang nach Wissen, und wo der Skepticismus und die Verzweiflung an der Erkenntniß herrschend geworden sind, da sieht man ihn zu einem krankhaften Heißhunger sich steigern. Dieser, plötzlich hervorbrechend, führt nun zu einer Reaction, die jedes Maß überschreitet. Unvermittelt, oder im Gefolge einer Gedankenverbindung, die keine vernünftige Vermittelung zu nennen ist, sieht man die kühnsten Behauptungen auftreten. Zu den unnahbarsten Höhen wähnt man sich erschwingen zu können; ja man glaubt, man habe sie erreicht, und füllt mit den willkürlichsten Annahmen die weiten Lücken der Erkenntniß aus. So war es zu der Zeit, in welche das Leben des Plotinus fällt. Dieselben krankhaften Dispositionen hatten schon die judaisierenden Platoniker wie Philo und Numenius und die sogenannten Neupythagoräer hervorgerufen. Das neuplatonische System (so pflegt man die Lehre zu nennen, die Plotin begründete) war nur die großartigste Gestalt, in welcher das damalige Streben Ausdruck gewann; und darum fanden in ihm vorzüglich eine Menge hervorragender Persönlichkeiten Befriedigung. Die neuplatonische Philosophie war also in gewissem Sinne allerdings zeitgemäß; sie war den Dispositionen ihrer Zeit entsprechend: aber sie war darum nicht weniger Verfall und allen wissenschaftlichen Werthes baar und ledig. Aber wenn dem so ist, warum habe ich so lange Ihre Aufmerksamkeit dafür in Anspruch genommen? – Etwa aus reiner Liebhaberei an Antiquitäten, die selbst auf antiquierte Systeme sich erstreckt? – Nein! eine solche ist nicht meine Sache. Aber ich glaube, daß der Blick auf den Neuplatonismus und seine Erfolge für die Gegenwart in hohem Maße lehrreich ist. Auch die neueste Zeit hatte und hat sogenannte epochemachende Philosophen, und nicht Wenige glauben, schon die Größe ihres Anhanges beweise, dass bei ihnen vorzüglich Belehrung und Weisheit zu finden sei. Wer die Erfolge des Neuplatonismus kennt, der weiß,

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wie wenig dieser Schluß gerechtfertigt ist. Ja, wenn man sieht, wie auch in der modernsten Philosophie auf die Speculationen der ersten großen Denker eine Zeit seichter Aufklärung, und auf diese eine Zeit der Skepsis, und auf die Skepsis, erst in den letzten Decennien, eine mächtige Reaction folgte, welche der höchsten und absolutesten Erkenntniß sich rühmte: so wird man noch mehr zur Vorsicht sich gemahnt fühlen, damit man nicht, von eitlem Scheine verlockt, in den labyrinthischen Gängen einer Pseudophilosophie sich verliere. Der beste Prüfstein des Werthes einer Speculation ist der Vergleich ihrer Forschungsweise mit der Methode, welche in anderen, minder schwierigen und darum vorgeschritteneren Wissenschaften angewandt wird. Das haben bereits viele erkannt. Und in der That schien es einen Augenblick, als ob durch den Einfluß der Naturwissenschaft die Philosophie der Willkür ihres unberechtigten Ansehens entkleidet worden sei. Aber gewisse Zeichen deuten darauf hin, daß die Krankheit fortdauert, und daß noch immer Philosophen Epoche machen können, die in ihrer Natur sich von den Koryphäen der jüngsten Vergangenheit nicht merklich unterscheiden, wenn sie nur, wie der Wolf der Fabel, der in den Schafspelz kroch, insoweit dem erwachenden Sinne für empirische Begründung Rechnung tragen, daß sie ein angenehmes Vielerlei von Thatsachen zusammenflicken und ihr System äußerlich damit umkleiden. Zu einer eigentlich wissenschaftlichen Verwerthung der Thatsachen, wobei die wahren Regeln der Induction beachtet werden, kommt es dabei nicht. Soll ich Namen nennen? – Nein, das will ich mir ersparen. Nomina sunt odiosa. Und selbst unter meinen geehrten Zuhörern könnte vielleicht der eine oder der andere sich beleidigt fühlen. Denn die epochemachenden Philosophen der Gegenwart, wie sollten sie nicht auch in dem hier versammelten Kreise von Freunden der Speculation Anhänger zählen? Gewiß aber wäre es schlechte Sitte, wollte ich zum Danke für die Freundlichkeit, mit welcher Sie mich bisher begleiteten, in einem meiner Zuhörer oder gar einer meiner geehrten Zuhörerinnen die Gefühle der Sympathie mehr verletzen, als es Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen unbedingt zu erheischen scheint.

Miklosich über subjektlose Sätze1 1883, 1889

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„Subjectlose Sätze.“ Von Franz Miklosich. Wien, Braumüller, 1883.

https://doi.org/10.1515/9783110621228-011

I. „Subjektlose Sätze“ – so nennt der berühmte Sprachforscher eine kleine Schrift, die er bei ihrem ersten Erscheinen „Die Verba impersonalia im Slavischen“ überschrieben hatte. Die Änderung des Namens mochte mit bedeutenden Zusätzen der zweiten Auflage in Zusammenhang stehen. Doch wäre die neue Bezeichnung wohl auch ursprünglich die treffendere gewesen. Denn weit entfernt, die Eigenheit bloß eines Sprachstammes ins Auge zu fassen, hatte der Verfasser einen Satz von weitgreifendster Bedeutung aufgestellt, der, wenn er der herrschenden Ansicht widersprach, nur um so mehr die allgemeine Aufmerksamkeit verdient hätte. Nicht allein die Philologie, auch die Psychologie und Metaphysik waren bei der Frage interessiert. Und wie dem Forscher auf den erhabensten Gebieten, so versprach die neue Lehre auch jedem Knaben auf der Schulbank Vorteil zu bringen, der jetzt von seinem Schulmeister mit unmöglichen und unbegreiflichen Theorien gequält wird. (Vgl. S. 23 f.) Solchen Einfluß hat die Abhandlung nicht geübt. Die Herrschaft früherer Meinungen besteht auch heute noch ungebrochen. Und wenn das Erscheinen der Monographie in neuer Auflage für eine gewisse Teilnahme in weiteren Kreisen Zeugnis giebt, so war dieselbe offenbar nicht dem Umstande zu danken, daß man dadurch Aufklärung über alten Zweifel und Irrtum empfangen zu haben glaubt. Darwins epochemachendes Werk hatte, ganz abgesehen von der Richtigkeit der Hypothese, einen selbst für Gegner unbestreitbaren Wert; den Reichtum wichtiger Beobachtungen und sinnreicher Kombinationen mußte jeder mit Verwunderung anerkennen. So mochte auch bei Miklosich, der auf wenigen Blättern eine Fülle von Gelehrsamkeit zusammendrängt und die feinsten Wahrnehmungen eingestreut hat, auch der, welcher seiner vornehmsten These die Zustimmung versagte, immer noch im einzelnen für gar vieles sich verpflichtet fühlen. Wir aber wollen hier vor allem auf die Hauptfrage achten und uns in Kürze klar machen, um was es sich denn eigentlich handelt. Es ist eine alte Behauptung der Logik, daß das Urteil wesentlich in einem Verbinden oder Trennen, in einem Beziehen von Vorstellungen aufeinander bestehe. Durch ein paar tausend Jahre fast einmütig festgehalten, hat sie auch auf andere Disciplinen Einfluß geübt. Und so finden wir von alters her bei den Grammatikern die Lehre, daß es keine einfachere Ausdrucksform des Urteiles gebe und geben könne als die kategorische, welche ein Subjekt mit einem Prädikate verbindet. Daß die Durchführung Schwierigkeiten bereitete, konnte man sich allerdings nicht auf die Dauer verbergen. Sätze wie: es regnet, es blitzt, schienen

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sich nicht fügen zu wollen. Doch die Mehrzahl der Forscher war so festen Glaubens, daß sie sich in solchen Fällen nicht sowohl zum Zweifel an der allgemeinen Gültigkeit ihres Satzes, als vielmehr zur Suche nach dem nur scheinbar mangelnden Subjekte aufgefordert fühlte. Wirklich meinten dann viele, sie seien desselben habhaft geworden. Aber, in seltsamem Kontraste zu der bis dahin gezeigten Einigkeit, gingen sie nun in den mannigfachsten Richtungen auseinander. Und sehen wir uns die verschiedenen Erklärungsversuche im einzelnen mit einigermaßen prüfendem Blicke an, so begreifen wir leicht, warum keiner von ihnen dauernd zu befriedigen oder auch nur zeitweise alle Stimmen auf sich zu vereinigen vermochte. Die Wissenschaft erklärt, indem sie eine Vielheit als Einheit begreift. Das hat man darum natürlich auch hier angestrebt; doch jeder Versuch ist gescheitert. Wenn man sagt: es regnet, so haben manche gemeint, das ungenannte mit dem unbestimmten „es“ bezeichnete Subjekt sei Zeus; der Sinn sei: Zeus regnet. Aber wenn man sagt: es rauscht, so ist es offenbar, daß Zeus das Subjekt nicht sein kann. Und so haben denn andere geglaubt, das Subjekt sei hier das Rauschen; also der Sinn des Satzes: das Rauschen rauscht. Und beim vorigen Beispiele ergänzten sie dem entsprechend: das Regnen oder der Regen regnet. Wenn man nun aber sagt: es fehlt an Geld, so müßte folgerecht der Sinn sein: das Fehlen an Geld fehlt an Geld. Das geht aber nicht an. Und so erklärte man hier vielmehr, das Subjekt sei „Geld“, und der Sinn des Satzes: Geld fehlt an Geld. Freilich war dies, genau besehen, ein bedenklicher Verstoß gegen die gewünschte Einheit der Erklärung. Und wenn man, ein Auge zudrückend, sich ihn vielleicht verbergen konnte, so gelang dies nicht mehr, wenn man auf Sätze stieß wie: es giebt einen Gott, wo man weder in dem Satze: das einen Gott Geben giebt einen Gott, noch in dem: das Geben giebt einen Gott, oder: Gott giebt einen Gott zu einem annehmbaren Sinne gelangen konnte. Hier mußte man also auf ein ganz anderes Erklärungsmittel sinnen. Aber wo wäre eines zu finden gewesen? Und wenn selbst auch hier der Scharfsinn etwas aufzutreiben vermöchte, was sollte uns dieses Abspringen von Fall zu Fall, das ja nur die Karikatur einer wahrhaft wissenschaftlichen Erklärung genannt werden könnte? Nein! keine einzige Bezeichnung des Subjektes, so viele ihrer bisher versucht worden sind, kann treffend genannt werden, wenn nicht etwa ein Wort von Schleiermacher. Denn wenn dieser Gelehrte (vgl. S. 16) sich wirklich dahin geäußert hat, das Subjekt in solchen Sätzen sei das Chaos, so dürfte der Ausspruch nicht sowohl wie ein Erklärungsversuch, als vielmehr wie ein Spott auf die bisher von den Philologen aufgestellten Hypothesen zu fassen sein.

Miklosich über subjektlose Sätze

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Manche Forscher sind darum der Meinung, daß das wahre Subjekt solcher Sätze wie: es regnet, es blitzt, bis zur Stunde noch nicht gefunden sei, und daß die Aufgabe, es zu suchen, noch heute der Wissenschaft vorliege. Aber wäre es nicht befremdlich, wenn die Aufspürung eines Subjektes, welches doch von jedem gedacht und unausgesprochen zu Grunde gelegt werden müßte, so ganz außerordentliche Schwierigkeiten bereiten sollte? Steinthal will dies daraus erklären, daß das grammatische Subjekt ein angedeutetes, aber als undenkbar angedeutetes Etwas sei. Aber mit Miklosich (S. 23) wird wohl noch mancher andere hierauf erwiedern: „Wir werden wohl nicht zu viel sagen, wenn wir behaupten, mit Undenkbarem operiere die Grammatik nicht.“ Die Totalität der Erscheinungen und das geradezu groteske Mißlingen eines jeden Bestimmungsversuches, wie oft und mit wieviel Scharfsinn er auch gemacht worden sei, sind denn auch die vor allem andern von Miklosich dafür geltend gemachten Gründe, daß das ganze angebliche Subjekt eines solchen Satzes ein Wahn, daß der Satz keine Verbindung von Subjekt und Prädikat, daß er, wie Miklosich sich ausdrückt, subjektlos sei. Weitere Betrachtungen dienen dem zur Bestätigung, und unter ihnen ist eine Erwägung über die Natur des Urteiles als besonders bedeutend hervorzuheben. Miklosich bekämpft hier diejenigen, welche mit Steinthal jede Wechselbeziehung zwischen Grammatik und Logik in Abrede stellen, wehrt aber dann auch die Angriffe ab, die gerade auf Grund solcher Wechselbeziehung von Psychologen und Logikern gegen seine Lehre versucht werden könnten. Ja er kommt zu dem Ergebnisse, daß infolge der besonderen Eigentümlichkeit gewisser Urteile, subjektlose Sätze von vornherein in der Sprache erwartet werden müßten. Es ist nämlich nach dem, was er ausführt, nicht richtig, daß in jedem Urteile Begriff auf Begriff bezogen wird. Oft wird nur eine einfache Tatsache darin anerkannt oder verworfen. Auch in solchen Fällen wird ein sprachlicher Ausdruck Bedürfnis sein, und es ist offenbar, daß derselbe nicht wohl in einer Verbindung von Subjekt und Prädikat wird bestehen können. Miklosich zeigt, wie schon wiederholt Philosophen zu dieser Erkenntnis geführt wurden, wie sie aber die Bedeutung ihrer Entdeckung gewöhnlich selbst nicht hinreichend gewürdigt haben. Sie waren sich über das, was sie Neues aussprachen, selbst nicht recht klar, und indem sie so, in seltsamer Halbheit, zugleich noch an gewissen Resten der älteren Anschauung festhielten, begegnete es ihnen, daß sie das im Anfange Gesagte am Ende wesentlich wieder aufhoben. So wollte Trendelenburg in einem Satze, wie: es blitzt, schließlich nicht eigentlich ein Urteil, sondern nur das Rudiment eines Urteiles ausgesprochen finden, welches dem Begriffe: Blitz vorangehe, sich zu ihm fixiere und dadurch erst das vollständige Urteil: der Blitz wird durch Eisen geleitet, begründe. Und Herbart

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erklärte zuletzt, Urteile, wie: es rauscht, seien keine Urteile im gewöhnlichen Sinne, sie seien nicht das, was die Logik streng genommen ein Urtheil nenne. Treffend sind die Bemerkungen, in welchen der Verfasser die Inkonsequenz dieser Philosophen rügt und ihr Irrewerden an sich selbst auf ihre Verkennung des Wesens des Urteils und ihre fehlerhafte Definition desselben zurückführt. (S. 21 f.) Nach all dem hält Miklosich seine subjektlosen Sätze für vollkommen gesichert. Und nicht bloß ihre Existenz glaubt er außer Zweifel gestellt, sondern er zeigt auch, daß sie keineswegs so selten vorkommen, als man nach dem Streite, der um sie geführt werden mußte, glauben möchte. Ihre Mannigfaltigkeit veranlaßt ihn, im zweiten Teile der Abhandlung (S. 33 bis 72) die Hauptklassen übersichtlich zusammenzustellen, und wir finden da subjektlose Sätze mit einem Verbum activum, subjektlose Sätze mit einem Verbum passivum, subjektlose Sätze mit dem Verbum esse aufgeführt, und jede der vier Klassen durch zahlreiche Beispiele aus den verschiedensten Sprachen erläutert. Namentlich gilt dies von der ersten Klasse, bei welcher er eine achtfache Untereinteilung macht, um die Sätze nach der Verschiedenheit ihres Inhaltes zu gruppieren. Als allgemein gültig bemerkt er (S. 6), daß das Verbum finitum der subjektlosen Sätze immer in der dritten Person des Singulars und, wo die Form des Genusunterschiedes fähig sei, im Neutrum steht. Auch in anderen Beziehungen verfolgt er die Sache weiter. Er führt aus, wie die betreffenden Sätze nicht später als die von einem Subjekt aussagenden entstanden, sondern ursprünglich in der Satzbildung aufgetreten (S. 13ff., S. 19), wie sie aber im Verlaufe der Zeit aus manchen Sprachen verschwunden seien (S. 26.). Er weist nach, wie diejenigen Sprachen, die sie sich bewahrt, hiedurch eines Vorzuges sich erfreuen, indem ihre Anwendung dem Ausdrucke eine besondere Lebhaftigkeit verleihen kann (S. 26), und er zeigt, wie auch in anderer Hinsicht subjektlose Sätze den mit ihnen für identisch gehaltenen kategorischen oft nicht ganz gleichgesetzt werden dürfen. „Ich friere“, ist z. B. nicht völlig identisch mit: „mich friert“. Statt: was frierst du draußen? komme doch herein! kann man nicht sagen: was friert dich’s draußen? u. s. w. „‚Mich friert‘ kann nicht angewendet werden, wenn ich mich freiwillig dem Froste aussetze.“ (S. 27.)

II. Dies, in Kürze, ist der Inhalt der Schrift, über die ich mir nun noch ein paar kritische Bemerkungen erlaube.

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Wie sehr die Abhandlung im allgemeinen und namentlich in ihrem Grundgedanken meinen Beifall hat, gab ich schon während des Berichtes genugsam zu erkennen. Die Beweise dafür scheinen mir in so zwingender Weise erbracht, daß auch der Widerstrebende sich der Wahrheit kaum wird verschließen können. Ich selbst aber war, unabhängig von ihnen, auf dem Wege rein psychologischer Analyse, schon längst zu der gleichen Ansicht gelangt, wie ich sie denn auch, als ich im Jahre 1874 meine „Psychologie“ herauszugeben begann, aufs entschiedenste öffentlich ausgesprochen habe. So viel ich mich aber dort auch bemühte, die Lehre ins volle Licht zu setzen und jede ältere Meinung als unhaltbar darzuthun: der Erfolg war bis jetzt ein geringer. Von ganz vereinzelten Stimmen abgesehen, habe ich ebensowenig die Philosophen, als Miklosich in seiner ersten Auflage die Philologen zu überzeugen vermocht. Wo ein Vorurteil durch Jahrtausende sich fest und fester eingewurzelt hat; wo eine Lehre selbst in die Volksschule eingedrungen ist; wo ein Satz als ein Fundamentalsatz betrachtet wird, auf dem vieles andere ruht und es sozusagen durch seine Schwere unverrückbar macht: da darf man nicht erwarten, daß die erbrachte Widerlegung sofort den Irrtum werde verschwinden lassen; im Gegenteil ist zu fürchten, daß man der neuen Ansicht zu viel Mißtrauen entgegenbringen werde, um ihre Gründe auch nur einer genaueren Aufmerksamkeit zu würdigen. Doch wenn zwei Forscher völlig von einander unabhängig in ihrem Zeugnisse zusammenstimmen, wenn sie auf ganz verschiedenem Wege am gleichen Ziele angelangt sind: dann läßt sich hoffen, daß man diese Begegnung nicht ohne weiteres als Zufall betrachten und ihren beiderseitigen Erwägungen eine sorgsamere Beachtung schenken werde. Möchte sie Miklosich in dieser neuen Auflage, in der ich zu meiner Freude auch meine eigene Arbeit berücksichtigt fand, zu teil werden! Neben der Übereinstimmung in der Hauptsache sind gewisse Meinungsverschiedenheiten in untergeordneteren Punkten von verschwindender Bedeutung. Immerhin will ich auch sie kurz namhaft machen. Miklosich hat jene einfacheren Sätze, welche kein Subjekt mit einem Prädikat verbinden und in deren Anerkennung ich mit ihm einig bin, „subjektlose Sätze“ genannt. Daß er dies that und die Gründe, warum er es that, kann ich nicht ganz billigen. Subjekt und Prädikat sind korrelative Begriffe, die miteinander stehen und fallen. Ein Satz, der in Wahrheit subjektlos ist, muß ebensogut auch prädikatlos genannt werden können. Darum scheint es mir nicht ganz passend, wenn Miklosich solche Sätze immer nur als subjektlose, und geradezu unrichtig, wenn er sie als bloße Prädikatsätze bezeichnet (vgl. S. 3, S. 25, S. 26 u. ö.). Es könnte dies auf die Meinung führen, daß auch er einen zweiten

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Begriff (das Subjekt) unausgesprochen hinzugedacht glaube, wenn er dies nicht aufs entschiedenste in Abrede stellte (S. 3f. u. ö.), oder daß er solche Sätze nur für verkümmerte kategorische Sätze und diese Form für die ursprüngliche halte, wenn er nicht auch dies ausdrücklich widerlegte (S. 13ff.). Vielmehr scheint nur das seine Ansicht, daß der natürliche Fortschritt des Denkens und Sprechens von einem einfachen zu einem kategorischen Satze im Allgemeinen in der Art gemacht werde, daß der in jenem allein enthaltene Begriff sich einen zweiten als Subjekt geselle. „Die subjektlosen Sätze“, heißt es (S. 25), sind … Sätze, die nur aus dem Prädikate bestehen, aus dem, was in einer großen Anzahl von Sätzen in der natürlichen Gedankenbildung als das Prius anzusehen ist, wozu das Subjekt gesucht werden kann, aber nicht gesucht werden muß. Aber auch dies dürfte kaum richtig sein, und schon der Ausdruck „Subjekt“ scheint wenig dafür zu sprechen. Das, was zu Grunde gelegt wird, ist ja doch wohl das, was beim Aufbaue des Urteiles das erste ist. Auch die zeitliche Aufeinanderfolge der Worte stimmt schlecht damit überein; denn gewöhnlich beginnt man den kategorischen Satz mit dem Subjekte. Und ebenso kann man dagegen geltend machen, daß der Nachdruck vorzüglich auf das Prädikat zu fallen pflegt (was Trendelenburg dazu führte, das Prädikat als den Hauptbegriff zu bezeichnen, ja, mit einiger Übertreibung, zu sagen: „wir denken in Prädikaten“, vgl. S. 19). Wenn der Prädikatsbegriff das ist, was neu hinzukommt, so wird er naturgemäß der Gegenstand des vorzüglicheren Interesses sein; gerade das Gegenteil aber müßten wir erwarten, wenn der Subjektsbegriff das neu hinzutretende Moment enthielte. Man kann eben so wahr sagen: ein Vogel ist schwarz, als: ein Schwarzes ist ein Vogel; Sokrates ist ein Mensch, als: ein Mensch ist Sokrates; aber schon Aristoteles bemerkte, nur die erstere Prädikation sei natürlich, die letztere der natürlichen Ordnung entgegen. Und dies ist wirklich insofern der Fall, als man naturgemäß den Terminus zum Subjekte macht, auf welchen man zuerst hinblickte, da man das Urteil bildete, oder auf welchen der Angeredete zunächst achten soll, um den Satz zu verstehen oder sich von seiner Wahrheit oder Falschheit Kenntnis zu verschaffen. Man kann sich vom Dasein eines schwarzen Vogels überzeugen, indem man ihn unter den Vögeln oder unter den schwarzen Gegenständen sucht; besser aber unter den ersten. Und so kann man sich auch leichter überzeugen, ob ein Individuum unter eine Art oder Gattung gehört, wenn man seine Natur zergliedert, als wenn man den Umfang des betreffenden Allgemeinbegriffes durchläuft. Die Fälle der Ausnahme bestätigen hier deutlich die Regel und ihre Begründung, wie z. B. wenn ich sage: dort ist etwas Schwarzes, dieses Schwarze ist ein Vogel, wo ich eben deshalb,

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weil ich zunächst die Farbe erkannt habe, sie in dem darauf gebildeten kategorischen Satze naturgemäß zum Subjekte mache. Von den beiden kategorischen Soriten, dem Aristotelischen und Goclenianischen, macht der erstere in jedem folgenden Gliede den Terminus, den es mit dem vorhergehenden gemein hat, zum Subjekte, der letztere zum Prädikate. Jener erscheint aber eben darum als der natürlichere und wird allgemein als der ordentliche, dieser als der umgekehrte Kettenschluß bezeichnet. So werden wir denn gewöhnlich auch da, wo wir auf einen Satz ohne Begriffsverknüpfung einen kategorischen, der einen Terminus mit ihm gemein hat, folgen lassen, diesen dann nicht als Prädikat, sondern als Subjekt verwenden, und man könnte darum eher sagen, daß ein Prädikat zum Subjekte, als daß ein Subjekt zum Prädikate gesucht worden sei. Zum Beispiel: es rauscht; das Rauschen kommt von einem Bache. Es donnert; der Donner verkündet ein nahendes Gewitter. Es riecht nach Rosen; dieser Rosengeruch kommt aus dem Nachbargarten. Es wird gelacht; das Gelächter gilt dem Hanswurste. Es fehlt an Geld; dieser Geldmangel ist die Ursache der Stockung der Geschäfte. Es giebt einen Gott; dieser Gott ist der Schöpfer des Himmels und der Erde u. s. w. u. s. w. Nur in einem Sinne scheint mir darum der Ausdruck „subjectloser Satz“ sich rechtfertigen und vielleicht sogar empfehlen zu lassen; wenn man nämlich darauf Rücksicht nimmt, daß der darin enthaltene Begriff, als einziger, natürlich auch der Hauptbegriff ist, als welchen wir im kategorischen Satze das Prädikat erkannten. Ganz ähnlich dürfte man ja auch von den kategorischen Sätzen im Verhältnisse zu den hypothetischen viel eher sagen, daß sie vordersatzlose Sätze, als daß sie Sätze ohne Nachsatz seien; nicht als ob, wo von keinem Vordersatze, noch von einem Nachsatze gesprochen werden könnte, sondern weil im hypothetischen Satzgefüge der Nachsatz eben der Hauptsatz ist. In dieser Weise also könnte ich mich in dem Ausdrucke „subjektlose Sätze“ mit dem Verfasser vielleicht einigen. Ein anderer Punkt aber, in welchem ich ihm nicht wohl beizupflichten vermag, ist die Frage, in welchem Umfange subjektlose Sätze anwendbar seien. Mit Recht betont Miklosich, daß die Grenzen hier keineswegs eng gezogen werden dürften. Aber er glaubt – und gerade sein Versuch einer Übersicht und Einteilung des mannigfachen darin ausdrückbaren Inhaltes zeigt dies aufs deutlichste –, daß solche Grenzen doch jedenfalls bestünden. Dies scheint mir nun aber nicht richtig. Die Anwendbarkeit der subjektlosen Form dürfte vielmehr streng genommen eine unbegrenzte sein, indem, wie ich schon in meiner „Psychologie“ nachgewiesen zu haben glaube, jedes Urteil, möge es in kategorischer oder hypothetischer oder disjunctiver Form ausgesprochen werden, sich ohne die geringste Änderung des Sinnes auch in die Form eines

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subjektlosen oder, wie ich mich ausdrückte, eines Existentialsatzes kleiden läßt. So ist der Satz: irgend ein Mensch ist krank, synonym mit: es giebt einen kranken Menschen; und der Satz: alle Menschen sind sterblich, synonym mit: es giebt nicht einen unsterblichen Menschen u. dgl.2 Und noch in einer anderen Beziehung scheint mir Miklosich die Anwendbarkeit seiner subjektlosen Sätze zu sehr beschränkt zu haben. Wir hörten von ihm, daß solche Sätze „ein Vorzug der Sprache“ seien, „dessen sich entfernt nicht alle Sprachen rühmen könnten“ (S. 26). Dies scheint indessen kaum glaublich, wenn es richtig ist, was er selbst an anderer Stelle so überzeugend nachweist, nämlich daß es Urteile giebt und von Anfang an gegeben hat, in welchen nicht zwei Begriffe aufeinander bezogen werden, und die darum auch unmöglich durch die Verbindung eines Subjekts mit einem Prädikate ausgedrückt werden können (vgl. S. 16). Denn hieraus wird nicht bloß mit Miklosich die notwendige Existenz subjektloser Sätze überhaupt, sondern dann auch weiter noch gegen ihn die Existenz solcher Sätze in allen Sprachen gefolgert werden müssen. Daß der Verfasser sich hierüber täuschte, scheint sich mir zum Teile wenigstens daraus zu erklären, daß er, um ja recht vorsichtig zu sein und für seine These kein Beispiel unberechtigt in Anspruch zu nehmen, gewisse Sätze, die in Wahrheit subjektlos sind, nicht als solche geltend zu machen wagte. Wir hörten, wie Miklosich die Meinung aussprach, daß das Verbum finitum der subjektlosen Sätze immer in der dritten Person des Singulars und, wo die Form des Genusunterschiedes fähig sei, im Neutrum stehe. Dies war wohl sicher eine zu enge Umgrenzung, die er auch selbst, freilich erst an einer viel späteren Stelle, im zweiten Teile der Abhandlung durchbricht, wenn er sagt: „In ‚es ist 2

Nachträgliche Bemerkung: Was ich hier von der allgemeinen Verwendbarkeit der existenzialen Formel sage, gilt nur mit der einen, selbstverständlichen Beschränkung auf wahrhaft und vollkommen einheitliche Urteile. Als Ausdruck solcher Urteile hat die Logik von je her die kategorische Formel gebraucht; das Leben wendet sie oft auch als Ausdruck einer Mehrheit aufeinander gebauter Urteile an. So deutlich in dem Satze: dies ist ein Mensch. In dem hinweisenden „dies“ liegt schon der Glauben an die Existenz eingeschlossen; ein zweites Urteil spricht ihm dann das Prädikat „Mensch“ zu. Ähnliches geschieht auch sonst häufig. Meiner Meinung nach war es die ursprüngliche Bestimmung der kategorischen Formel, solchen Doppelurteile, die etwas anerkannten und anderes ihm zu- oder absprachen, zu dienen. Ich glaube auch, daß die existentiale und impersonale Formel durch Funktionswechsel aus ihr hervorgegangen sind. Dies ändert nichts an ihrer wesentlichen Besonderheit; eine Lunge ist keine Fischblase, auch wenn sie genetisch aus ihr hervorgegangen ist, und das Wörtchen „kraft“ darum nicht minder eine bloß synkategorematische Partikel (vgl. Mill, Logik I, 2 § 2), weil sie von einem Hauptwort ihren Ursprung herleitet.

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ein Gott‘ wird der Begriff ‚Gott‘ absolut, ohne Subjekt aufgestellt; ebenso: ‚es sind Götter‘.“ Und er fügt hier bei: „Das ‚ist‘ des Existentialsatzes tritt an die Stelle der sogenannten Kopula ‚ist‘, die, in vielen, bei weitem nicht in allen Sprachen, zur Aussage unentbehrlich, dieselbe Bedeutung hat wie die Personalendung der Verba finita, wie ‚es ist Sommer, es ist Nacht‘ neben ‚es sommert, es nachtet‘ deutlich zeigen. ‚Ist‘ ist demnach kein Prädikat.“ (S. 34, vgl. übrigens auch S. 21 oben.) In der That, wenn der Satz: es giebt einen Gott, so wird auch der Satz: es ist ein Gott, dann aber auch der Satz: es sind Götter als subjektlos zu betrachten sein, und die früher aufgestellte Regel hat sich als zu eng erwiesen. Damit aber, daß die Existentialsätze (und etwaige analoge Gebilde) alle zu den subjektlosen Sätzen zu rechnen sind, dürfte, was wir oben darthun wollten, sich bestätigen, daß es nämlich wohl keine Sprache giebt, noch geben kann, die dieser einfachsten Sätze ganz entbehrte. Nur einige besondere Arten des subjektlosen Satzes dürften demnach das sein, was wir hier mit Miklosich als den eigentümlichen Vorzug gewisser Sprachen anerkennen müssen. Dies etwa sind die Ausstellungen, die ich zu machen für nötig hielt. Man sieht, daß sie, wenn sie richtig befunden werden, so wenig den Hauptgedanken des Verfassers in seiner Richtigkeit oder in seinem Werte beeinträchtigen, daß sie ihn vielmehr eine noch erweiterte Bedeutung gewinnen lassen. Und so schließe ich denn mit dem erneuerten Wunsche, es möge die inhaltreiche kleine Schrift, die bei ihrem ersten Erscheinen nicht allgemein genug beachtet worden ist, in dieser zweiten Auflage, die einzelnes berichtigt, vieles erweitert und namentlich die kritischen Einwände von Gelehrten wie Benfey, Steinthal und anderen in lakonischer Kürze, aber mit wahrer dialektischer Kraft widerlegt, jene Teilnahme finden, welche die Wichtigkeit der Frage und die treffliche Durchführung der Untersuchung verdienen.*

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In der Fassung von 1883 folgt hier noch ein Absatz: „Doch noch einen anderen Wunsch kann ich nicht unausgesprochen lassen. Am zwanzigsten November werden die Verehrer des hochverdienten Sprachforschers die Vollendung seines siebzigsten Lebensjahres feiern. Nach den österreichischen Gesetzen, die, wie mich und Viele bedünkt, hier etwas Gutes im Auge haben, aber weit über das Ziel hinausschießen, ist dann sein Lehrstuhl an der Wiener Universität von seinem Rücktritte, und hiemit, wie jedermann beklagt, von einem wahrhaft unersetzlichen Verluste bedroht. Möchte doch ein Mittel sich finden lassen, die Hochschule davor zu bewahren, daß sie in dem in seinem Alter noch jugendkräftigen Manne ihrer vorzüglichsten Zierde beraubt werde!“

Ueber die Zukunft der Philosophie Mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede von Adolf Exner „Ueber politische Bildung“ als Rector der Wiener Universität 1893

https://doi.org/10.1515/9783110621228-012

Meinen philosophischen jungen Freunden von Würzburg her und Wien herzlich zugeeignet

Vorwort Der Vortrag sucht zu zeigen, wie unbegründet die Meinung derjenigen ist, welche heutzutage an der Zukunft der Philosophie verzweifeln und insbesondere ihr die Möglichkeit absprechen, naturwissenschaftliche Forschungsweise mit Erfolg auf ein Geistesgebiet zu übertragen. In beiden Beziehungen wendet er sich polemisch gegen die Ausführungen von Adolf Exner in seiner Inaugurationsrede als Rector unserer Universität (am 22. Oktober 1891). Solche Kritik einer Rectoratsrede mag ungewöhnlich sein, ungebührlich aber wird sie niemand nennen, der beachtet, wie der Redner selbst nachdrücklich zu ihr aufgefordert hat. „Der Kritik“, sagt er S. 22, „sollen alle Thore offen stehen.“ Immerhin ziehe ich vor, erst jetzt, nach Ablauf des Studienjahres, die schon im Winter1 gehaltene Vorlesung im Drucke zu veröffentlichen. Ich habe sie mit einigen Anmerkungen versehen, von denen die dringlichste mich dagegen verwahrt, gewisse Erscheinungen, die ich wie Exner beklage und verdamme, in Schutz nehmen zu wollen. Andere enthalten die kurze Begründung einzelner im Text ausgesprochener Behauptungen. Ich weiß wohl, daß manche von ihnen nichtsdestoweniger gar Vielen paradox erscheinen werden; aber auch darin sehe ich mich mit Exner einig, daß man bei wichtigen Fragen voll und offen seine Ueberzeugung bekennen soll, auch wenn man mit ihr zunächst nicht auf den Beifall der Mehrheit wird rechnen dürfen. Das Manuscript war dem Buchhändler bereits übergeben, als mir die dritte Auflage der Rede zu Gesichte kam, und ich fand in ihr (S. 34) eine Bemerkung eingefügt, von der ich annehmen darf, daß sie durch meine Kritik veranlaßt worden sei. Sie sagt mir, daß ich irrte, wenn ich die Worte des Redners „Das ist dahin“ (S. 54 der ersten Auflage) nach ihrem sensus obvius deutete. In der That konnte ich hier nicht wohl ahnen, welche Auferstehung Exner für die Philosophie in einer fernen Zukunft erhoffte. Doch was sage ich! für die Philosophie? – nicht doch! für etwas ganz Anderes, dem weder Psychologie, Erkenntnißtheorie und Metaphysik, noch Aesthetik, Logik, Ethik u. s. f. entsprechen würden, und was nur, an der wirklichen Philosophie irr geworden, Exner mit ihrem hohen Namen zu bezeichnen sich erlaubt. Statt einer Wissenschaft soll jetzt ein künstliches Geistesspiel ihn tragen, das, ohne auf objective Wahrheit Anspruch zu erheben, auf Grund augenblicklich gangbarer Ansichten eine Systematisation von Verstandenem und Unverstandenem erstrebt, die, thöricht genug, von Zeit zu Zeit 1

Am 22. März 1892 in der „Philosophischen Gesellschaft“ in Wien.

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dem heutigen Tage möglich scheint, und die er, dadurch in falsche Sicherheit gewiegt, vielleicht als Abschluß alles Wissens bewundert, die aber der morgige Tag schon widerlegen und, wie es zu geschehen pflegt, verlachen wird. – War diese „Philosophie“ das Ziel, welches einem Sokrates wie Aristoteles, einem Descartes wie Locke vorschwebte, und das sie für würdig hielten, es mit der allerhöchsten Anstrengung ihrer Geisteskraft zu verfolgen? Und soll diese „Philosophie“ uns die echtgeborene Königin sein, mit der verglichen, wie wir jetzt erfahren, selbst Exners politische Wissenschaft nur wie eine interimistische Regentin walten würde, um ihr am Tage der Mündigkeit den Thron der Ahnen in Demut wieder abzutreten? – Wahrhaftig nein! Die Königin muß immer eine ihres Volkes, und die Königin der Wissenschaften nothwendig selbst eine Wissenschaft sein. So mildern die Bemerkungen, die Exner theils der Rede eingeschaltet, theils im Vorworte beigefügt hat, unsern Gegensatz in keiner Weise. Doch manches zeigt sich nach ihnen allerdings in neuem Lichte, und für gewisse Betrachtungen, wie ich sie S. 15 ff. angestellt, wäre jetzt der Anlaß entfallen. Indem ich dies bekenne, wird es nun aber wohl Niemand mehr als Unrecht erscheinen, wenn ich den Vortrag in seiner ursprünglichen Gestalt unverstümmelt vor den Leser bringe. Wie sich zumeist Gutes und Uebles aneinanderknüpfen, so hat meine Deutung der Worte nach ihrem nächstliegenden Sinne mir Gelegenheit gegeben, über einige besondere Fragen, die Exner in seiner reichen Darlegung zur Sprache bringt, meine abweichende Meinung geltend zu machen, und auch hier mag der Vergleich der Anschauungen anregen und fördern. Wien, im October 1892

Franz Brentano

Meine Herren! 1. Die Inaugurationsrede unseres Herrn Rectors,2 der, mit hochgeehrtem Namen, zu den vorzüglichsten Zierden der Schule zählt, ist in weiten Kreisen beachtet worden; insbesondere aber hat sie unsere „Philosophische Gesellschaft“ in Aufregung versetzt ob gewissen Behauptungen, welche die Absichten des Vereins zu entmuthigen drohen. Eine Discussion darüber hat stattgefunden, und ich bedauere um so mehr, nicht dabei zugegen gewesen zu sein, als Seine Magnificenz uns bei diesem Anlaß mit ihrem Besuche beehrte, und dialektische Wechselrede die angeregten Fragen gewiß am besten gefördert haben würde. Aber auch heute noch, wurde mir gesagt, erscheine eine Meinungsäußerung von meiner Seite vielen erwünscht. Zu dem Behuf habe ich die Rede nochmals aufmerksam gelesen, mit erneutem Genuß ob dem Reichthum der Gedanken, die in schöner, durchsichtiger Darstellung geboten werden, und ob den hohen Zielen, die der Redner in der wohlwollendsten Absicht verfolgt; zugleich aber auch mit besonderer Befriedigung, weil ich nunmehr die „Gesellschaft“ hinsichtlich der erregten Besorgnisse mit bestem Gewissen beruhigen zu können glaube. Zwei Aufstellungen insbesondere sind uns entgegen. Erstens: Dem Redner gilt die Philosophie als etwas völlig Ueberlebtes.3 Sie hat nach seiner Ueberzeugung ihre Herrschaft eingebüßt, und keinerlei Hoffnung, sie wiederzugewinnen, ist ihr geblieben. Nur darum kann es sich noch handeln, wer der Erbe des erledigten Thrones werden solle. Zweitens: Der Redner mißbilligt auf das Entschiedenste die Uebertragung naturwissenschaftlicher Methode auf das Gebiet der Geisteswissenschaften.4 Auch dieser Spruch trifft die Bestrebungen des Vereins, und kaum minder hart als der frühere, da wir, oder wenigstens unsere rührigsten Glieder, durchaus nur in einem Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft das Heil philosophischer Forschung zu erblicken vermögen. Diese beiden Behauptungen also haben Sie erregt, in einem begreiflichen, aber doch, wie mir wenigstens scheint, im Grunde nicht ganz berechtigten Maße. 2

Über politische Bildung. Inaugurationsrede, gehalten am 22. October 1891 im Festsaale der Universität von A. Exner, derzeit Rector der Wiener Universität. (Seitdem ist die Rede in Leipzig bei Duncker und Humblot in zweiter und dritter Auflage erschienen. Ich citire nach der ersten Ausgabe; nach der neuesten wäre jede Seitenzahl um 20 bis 21 Einheiten niedriger zu setzen.)

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a. a. O. S. 54.

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a. a. O. S. 45, S. 46 u. ö.

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2. Und eines wenigstens ist Ihnen wohl allen mit mir ersichtlich, die beiden Behauptungen bieten uns dem Inhalte nach nichts Neues. Die eine von dem Verlebt- und Verwebtsein der Philosophie haben wir längst als eine weitverbreitete Meinung gekannt und uns über sie hinweggesetzt; die andere aber, die sich auf die Methode bezieht, war wenigstens in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vorherrschend, als Schelling nach seiner genial-construktiven, Hegel nach seiner dialektischen Methode vorging, Jeder vom Andern verschieden, aber doch darin, daß in der Philosophie mit naturwissenschaftlicher Methode nichts zu richten sei, durchaus mit ihm einig. Die Forschungsweise eines Bacon, Descartes, Locke, Condillac galt allgemein als ein längst überwundenes kindliches Unterfangen. Da vor einem Vierteljahrhundert ich selbst in Würzburg meine philosophische Lehrtätigkeit begann, stellte ich allerdings die These auf: Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est. Sie erschien aber damals keineswegs wie etwas Hergebrachtes; vielmehr wurde sie als höchst auffällig empfunden und unter meinen fünfundzwanzig zur Disputation angeschlagenen Thesen zur vorzüglichen Zielscheibe der Angriffe gewählt. Und auch jüngst wieder ist es geschehn, daß Professor Dilthey, welcher in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ der Philosoph der historischen Schule zu werden beansprucht, sich in eigenthümlich neuer Weise polemisch zu ihr stellte. Es sind Zeichen dafür vorhanden, daß der Herr Rector wesentlich auf gleichem Standpunkte mit diesem Schriftsteller sich befinde. Also nochmals, die beiden Sätze sind nicht neu, und so könnten sie an sich uns wenig Eindruck machen; vielmehr nur etwa wegen der größeren Autorität, mit der sie uns hier entgegentreten, oder wegen der kräftigeren Beweise, durch welche der Redner sie stützt. 3. Irre ich nicht, so hat besonders der erstere Umstand beunruhigend gewirkt. Die Gelehrsamkeit des Sprechenden, das Feierliche der Gelegenheit, die erhabene Stelle, von der herab die Worte erklungen, – das alles schien ihnen ein besonderes Gewicht zu verleihen. Aber gerade in dieser Hinsicht hoffe ich Ihre Sorgen am leichtesten zum Schweigen zu bringen. Exner ist gewiß ein Mann von begründetem wissenschaftlichen Ruf, und die Würde, mit welcher ihn das einmütige Votum der Facultäten betraut hat, gibt ihm heute für uns noch ein besonderes Ansehn. Aber dennoch hat der Gelehrte kaum jemals mit weniger Autorität gesprochen, und auch weniger die Absicht gehabt, autoritativ eindringlich seine Ueberzeugungen geltend zu machen, als in diesem Vortrage. Seine eigenen Worte lassen dies auf ’s Deutlichste erkennen.

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Wann, frage ich, spricht ein Forscher mit größerer Autorität, dann, wenn er über Fragen sich äußert, die zu seinem Fache gehören, oder dann, wenn er die Grenzen des Gebietes, auf welchem er sich einen Namen erworben, weit überschreitet? – Offenbar im ersten Falle. Aber der Herr Rector unterläßt nicht, gleich von Anfang an zu erklären, er werde nicht von seinem speciellen Fache handeln, sondern zu einem viel allgemeineren Thema greifen.5 Ferner: wann beansprucht ein Forscher mehr Autorität, dann, wenn er etwas als sein Wissen geltend macht, oder dann, wenn er, im Gegensatze zum Wissen, etwas als seine bloße subjective Überzeugung hinstellt? – Offenbar im ersten Falle. Aber der Herr Rector trägt Sorge, uns gleich im Eingang nachdrücklichst zu erklären, daß, was er sagen werde, ein wissenschaftliches „Glaubensbekenntnis“ sei, und daß er seine subjective „Persönlichkeit“ darin zum Ausdruck bringe.6 Diese Worte sind an und für sich schon deutlich genug, werden es aber noch mehr, wenn wir gleich darauf 7 ein doppeltes Gebiet unterscheiden hören, deren eines weit vom andern abstehe. Jenes nennt Exner den Intellect, der allein nach ihm das Arbeitsfeld der lehrhaften Tätigkeit und sozusagen „die aus Begriffen gewebte Oberfläche der Seele“ ist; dieses bezeichnet er als die „Summe des Fühlens, Glaubens und Wollens“, welche nach seiner Meinung erst unter jener Oberfläche „in unnahbarer Tiefe ruht“. Endlich noch einmal: wann nimmt ein Forscher mehr Autorität in Anspruch, dann, wenn er auf zweifellose Annahme seiner Lehre rechnet, oder dann, wenn er, statt allgemeiner Zustimmung, überwiegend Widerspruch erwartet und selbst zu kritischer Beleuchtung auffordert? – Offenbar im ersten Falle. Aber der Herr Rector spricht es auf ’s Bestimmteste aus, daß er gewiß sei, vielfachen Widerspruch zu erregen,8 und er hegt diese Erwartung insbesondere darum, weil er sich bewußt ist, daß sein persönlicher Glaube in vielen Punkten ein fast vereinzelter sei. Indem er sich selbst wiederholt durch das Ansehn hochbedeutender Männer nicht anfechten läßt, gibt er uns ein wohl zu beherzigendes Beispiel, nicht sowohl auf den, der sagt, als auf das, was gesagt wird, zu achten. Und dieses uns zu Nutze machend, wollen wir jetzt, durch keine Autorität befangen, seine Gründe in Erwägung ziehen. 4. Was also, für’s Erste, hat den Herrn Rector zu seiner für die Philosophie so traurigen Meinung geführt? wodurch hält er sich für berechtigt, ihre Zeit für 5

a. a. O. S. 22.

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a. a. O. S. 22.

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a. a. O. S. 27.

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a. a. O. S. 22.

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völlig abgelaufen zu erklären ? – Die Stelle des Vortrags,9 welche diesen Artikel seines Glaubensbekenntnisses formulirt, macht einen doppelten Grund dafür namhaft: einmal den „Verfall der philosophischen Production seit den Zeiten Kant’s, Hegel’s, Schelling’s“; dann das Erlöschen der „ehedem so lebendigen und verbreiteten Theilnahme an philosophischen Fragen“. Wir wollen, einen um den andern, diese Gründe in Erwägung ziehen. 5. Seit Kant, Hegel, Schelling, sagt uns der Redner, sei die philosophische Production im Verfalle. Ist dem so, und wie sollen wir überhaupt dieses Wort vom Verfall der Production verstehen ? – Meint vielleicht der Herr Rector, daß unsere Zeit überhaupt aufgehört habe, originell philosophisch thätig zu sein, so zwar, daß nur noch das von jenen berühmten Männern Ueberlieferte wiederholt oder in handwerksmäßiger Art verarbeitet werde? – Kaum ist es denkbar, daß er eine solche Ansicht hege, da ja vielmehr gerade der durchgängige Bruch mit der jüngsten Vergangenheit für die Jetztzeit charakteristisch ist. Schelling ist zuerst und rasch nach ihm Hegel gefallen, während Kant sich zunächst behauptete, ja eine Zeit lang an Ansehn stieg. Aber auch über ihn lehrte ich schon vor einem Vierteljahrhundert, daß er einen Abweg eingeschlagen habe, und daß seine willkürlichen Constructionen und sein widernatürliches A priori die Einleitung zu den Extravaganzen der Nachfolger gebildet hätten. Heute ist hiervon eigentlich jeder wahre Fachmann mehr oder minder überzeugt, wenn auch nicht gerade jeder für räthlich hält, es bereits so unumwunden, wie ich es thue, auszusprechen. So wenig also wäre es richtig, daß unsere Zeit in der Philosophie nichts Neues versuchte und nur sklavisch von den Urtheilen der Vorfahren sich bestimmen ließe, daß vielmehr die Gegenwart als die Zeit einer universellen Revolution oder, besser gesagt, einer Reformation der Philosophie von Grund aus bezeichnet werden muß. Das also konnte unmöglich die Meinung des Herrn Rectors sein, wenn er von einem Verfall philosophischer Production redete. Was er aber sonst gemeint, ist mir wenigstens hiermit noch nicht klar geworden. Oder sollte er vielleicht nur dieses haben sagen wollen, daß, mit jener Vorzeit verglichen, die Gegenwart an neuen philosophischen Erzeugnissen arm erscheine? – Wenn dies, so könnten wir ihm nicht wohl widersprechen. Denn damals, in der That, wucherten die Systeme in üppigster Fülle empor; bändeweis und über Alles, was man nur verlangte, gaben die Meister ihre Weisheitssprüche von sich: heute dagegen verwendet Mancher, der nicht zu den 9

a. a. O. S. 54.

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mindest Geachteten gehört, sein ganzes Leben auf die Erörterung weniger, engumgrenzter Fragen und hat als Schriftsteller vielleicht nur ein paar magere Heftchen aufzuweisen. Aber seltsam wäre es denn doch, wenn, ob solcher verminderter Quantität allein, sofort von einem Verfalle der Production gesprochen werden sollte. Wie müßten wir sonst zum Beispiel die Wendung nach Abschluß des Mittelalters beurteilen, als Bacon und Descartes die moderne Philosophie inaugurierten? Bacons Novum organon war ein schmales Büchlein, und die Meditationen, an denen Descartes jahrelang gearbeitet, zählten nur wenige Blätter. Ja Aehnliches gilt auch von den philosophischen Schriften eines Pascal, eines Locke, und selbst eines Mannes, der auf andern Gebieten so fruchtbar war, wie der Verfasser der Monadologie. Sie alle, was hätten sie, nur auf Zahl und Umfang der Werke geachtet, gegen die Riesenbände der Scholastiker, oder auch nur gegen die fünfundzwanzig mächtigen Folianten des einzigen Suarez, eines älteren Zeitgenossen von Descartes, in die Wage zu legen? Doch gewiß, es wäre unbillig, dem Redner einen so niedern Gesichtspunkt zuzuschreiben. Sicher ist er mit uns darin einig, daß, wer von einem Verfall philosophischer Production spreche, nicht bloß der Quantität, sondern vor allem auch der Qualität der Werke Rechnung tragen müsse. Wenn nun aber dies, dann erlaube ich mir, als Fachmann, dem Herrn Rector zu versichern, daß die philosophische Production der Gegenwart die der ersten Hälfte des Jahrhunderts nicht bloß erreicht, sondern bei weitem übertrifft, und daß z. B. alles, was Schelling’s umfangreiche Bücher enthalten, aufgewogen wird von ein paar Blättern, welche selbst Mancher, der nicht ausschließlich Philosoph ist, wie z. B. die Physiologen Helmholtz und Hering, gelegentlich zum Fortschritt unserer Wissenschaft beiträgt. Und warum darf ich das so kühnlich behaupten? – Darum, weil von diesen bewiesen wird, während dort nur Willkür, ja volle Unverständlichkeit herrschte. Schon unser Grillparzer hatte diese in den Werken von Hegel erkannt und sich daraufhin mit Abscheu von ihnen abgewendet. Er war mit dem Philosophen in Berlin persönlich bekannt geworden und wollte ihn, der ihm auf ’s Liebenswürdigste begegnet war, nun auch in seinen Schriften kennen lernen. Aber, so ansprechend und bescheiden er mir persönlich erschienen, erzählt er uns in seiner Selbstbiographie,10 so unleidlich abstrus und anmaßend zeigte er sich mir in seinen Werken. Doch die Frage nach dem qualitativen Werte hängt natürlich mit der Methodenfrage zusammen, auf welche wir später eingehender zurückzukommen haben. 10

Grillparzer’s sämmtliche Werke. 1872, X, S. 159.

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6. Es bleibt der andere Grund, um deßwillen unsere Wissenschaft dem Herrn Rector für verloren gilt, nämlich das Erlöschen des philosophischen Interesses in weiteren Kreisen. Aber auch hier muß ich die Thatsache selbst auf ’s Entschiedenste in Abrede stellen. Exner, der sie behauptet, hat an trügerische Zeichen sich gehalten und würde, hätte er genauer untersucht, zu ganz entgegengesetztem Urtheile gekommen sein. Er würde gefunden haben, daß das philosophische Interesse nicht im Geringsten abgenommen, die philosophische Bildung aber sogar entschieden zugenommen hat. Es ist wahr, die damals übervollen Hörsäle sind heute vielfach verödet. Aber nicht darum sind sie es, weil jetzt weniger Interesse bestände, sondern darum, weil man weniger Hoffnung hegt, das Interesse hier befriedigt zu finden. Und an diesem verringerten Vertrauen ist insbesondere der Mißbrauch schuld, der in jenen gepriesenen Zeiten damit getrieben worden ist. So sind denn auch die Vorlesungen der alten Richtung ganz besonders vernachlässigt. Einst lief man zu den Herren wie zu Wunderdoctoren, heute läßt man sie wie erkannte Charlatane vergeblich ihre Künste anpreisen. Sehr natürlich, daß das Mißtrauen dann weiter griff und auch solche traf, die sich nicht mitschuldig gemacht hatten. Aber doch beginnt man bereits zu unterscheiden. Als ich im Jahre 1866 in Würzburg mich habilitirte, war der Lehrstuhl der Philosophie mit einem eifrigen Baaderianer, also mit einem Philosophen besetzt, dessen Richtung der Schelling’schen verwandt war. Der Saal war verlassen, und auf der Türe stand von eines dreisten Studenten Hand das Wort „Schwefelfabrik“ mit großen Lettern geschrieben. Aber sieh! ich, obwohl gewiß nur ein unreifer Anfänger, fand sofort eifrige Zuhörer, und als ich nach sechs Jahren von der Universität schied, hatten die Verhältnisse sich so verändert, daß an der ganzen Hochschule, selbst die berühmte medicinische Facultät nicht ausgenommen, kein Colleg so viel Theilnehmer zählte als das philosophische. Ich sehe noch die jungen Leute vor mir, wie sie manchmal eng zusammengedrängt saßen, so daß die Ellenbogen sich beim Schreiben irrten. Nun mag freilich Einer, der dies hört, mir ein „hic Rhodus, hic salta“ zurufen, aber ich antworte getrost: Gar wohl! nur soll man mir zum Tanzen erst die Beine frei machen.11 Und auch jetzt schon deutet das Entstehen unserer „Philosophischen Gesellschaft“ darauf hin, daß trotz empfindlicher Störungen das philosophische Leben Wiens einigermaßen im Aufschwunge begriffen ist. Doch was spreche ich von Localem und Partiellem, wo vollere und allgemeinere Zeugnisse zu Gebote stehn? 11

Anh. 1, S. 151.

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Wir alle haben erlebt und erleben noch heute die Bewegung, welche die Darwinsche Hypothese hervorgerufen hat. Keine andere, wahre oder vermeinte, Entdeckung hat in der neuesten Zeit ein ähnliches Aufsehen erregt, weder der allumfassende Satz von der Erhaltung der Kraft noch die segenverheißende Kunde von den zu hoch gelobten und zu tief verdammten Koch’schen Impfungen. Fragen wir aber warum, so liegt der Grund unverkennbar darin, daß die Darwin’sche Hypothese Licht zu geben versprach für die große Frage, ob wirkliche oder nur scheinbare Zweckordnung in der lebendigen Natur bestehe, und ob infolge davon das Weltall vielleicht ohne einen schöpferischen Verstand begreiflich werde. Es war also ein metaphysisches, ein im eminenten Sinn philosophisches Interesse, welches in jener Bewegung sich mächtig erwiesen hat. Wiederum haben wir erlebt und erleben noch heute, wie der Hypnotismus, ja wie der Spiritismus überall in der Gesellschaft und in den Blättern besprochen werden. Und auch diese, was sind sie Anderes als Erscheinungen, die zum Gebiet der Psychologie gehören, ja zum Theil solche, die ebenfalls in das Gebiet der Metaphysik hineinreichen würden? Ganz unzweifelhaft sind es also auch hier philosophische Interessen, die ihr Leben bekunden. In vielen Städten sehen wir spiritistische Vereine sich bilden, in andern aber, wie dies namentlich in England und Amerika geschieht, neben diesen auch ethische, also Vereine, die auf praktischem Gebiet die höchsten philosophischen Fragen verfolgen. Was sind sie anderes als neue Belege für den Bestand, ja für die Ausbreitung philosophischer Interessen in weiteren und weiteren Kreisen? Ja aus Basel kam uns kürzlich der Bericht, daß ein dortiger Bürger sein ganzes Gut, ein Vermögen von mehreren Hunderttausenden, testamentarisch demjenigen bestimmt habe, der die Natur der Seele ergründen werde. Die Bedingungen, welche der Eifer des Erblassers gesetzt, waren etwas seltsamer Art. Denn der Forscher sollte sich in eine Art Conclave begeben und es nicht eher verlassen, bis die Lösung des Räthsels gefunden sei. Und dieses Ungestüm hatte schließlich begreiflicherweise die Annullierung des Testamentes zur Folge. Vielleicht sagt einer daraufhin: der Mann war offenbar unklug, der Vorfall darum ohne jede Bedeutung. Aber Esquirol belehrt uns anders. Er constatirt, daß die Wahnvorstellungen der Irren mit den Geschichtsperioden wechseln, jetzt religiös, jetzt politisch, jetzt wieder einem anderen Gebiet zugehörig, immer aber von den die Zeit bewegenden Interessen beeinflußt sind. Blicken wir auf das Gebiet der schönen Literatur, so begegnet uns auch hier, was unsere Behauptung bestätigt. Der große Erfolg, den ein Romanschriftsteller wie Tolstoj und ein Dramatiker wie Ibsen erringen, führt sich

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anerkanntermaßen besonders auch darauf zurück, daß bei ihnen neue philosophische Lebensanschauungen zu dichterischem Ausdruck gelangen. Auch da Wilbrandt im Meister von Palmyra an die Seelenwanderung, und so an eine philosophische Frage rührte, hat dieses Drama vor allem, was er sonst geschaffen, so vorzügliche Beachtung gefunden, daß einer zu prophezeien wagte, man werde den Dichter einmal den Meister des Meisters von Palmyra nennen. Ja selbst bei Goethe ist es unleugbar, daß sein Faust, sogar den zweiten Teil mitinbegriffen, unter allen seinen Werken als das interessanteste gilt, und daß dies damit zusammenhängt, daß er in dieser Dichtung vor allen, wie ein Philosoph, eine weltumfassende Anschauung entwickelt. Abermals also und abermals stoßen wir auf Wirkungen jenes Interesses, das unser Redner der Gegenwart absprechen will. Doch seine Rede, ist sie nicht zugleich selbst ein Zeichen für das, was sie in solcher Weise bestreitet? – Der Herr Rector sagt uns im Eingange, er habe sein Thema gewählt, obwohl es nicht zum engeren Gebiet seiner Wissenschaft gehöre, indem er ein lebendigeres und allgemeineres Interesse für eine solche Frage erwartet habe, und der Erfolg hat bewiesen, daß er sich hierbei nicht verrechnet hat; denn kaum jemals früher wurde ein Wort von dem erhabenen Stuhle gesprochen, welches so vielseitig berücksichtigt worden wäre, wie das seinige. Aber dieses Thema, was ist es? – Ich sage: es ist ein philosophisches Thema, so gewiß als die Frage, welchen fördernden oder irrenden Einfluß der Aufschwung einer Culturbestrebung auf eine andere übe, und welches wissenschaftliche Interesse dem zwanzigsten Jahrhundert die Signatur aufdrücken werde, nichts anderes als ein Stück Philosophie der Geschichte genannt werden kann. Und wie im Ganzen seiner Rede, so zeigt der Herr Rector in jedem ihrer Teile sich wieder und wieder in philosophische Betrachtungen vertieft. Psychologisches, Logisches, Ethisches, Metaphysisches führt er in rascher Folge an unsern Augen vorüber. S. 23 ff. forscht er nach dem Wesen des Patriotismus und seinen Quellen. — Das ist Psychologie. S. 31 bestimmt er den Begriff der Bildung und fragt, woraus sie hervorgehe. — Das ist wieder Psychologie. S. 27 gibt er eine Eintheilung der psychischen Thätigkeiten und macht jene schon erwähnte Scheidung zweier Gebiete, des Intellects, welcher „die aus Vorstellungen und Begriffen gewebte Oberfläche der Seele sei“, und eines anderen Gebietes, welches „die Summe des Fühlens, Glaubens, Wollens“ umfassen soll, und von dem er sagt, daß es mehr in der Tiefe liege. – Also wieder ein Stück Psychologie und von sehr eigenthümlicher Art. Daran reiht sich sofort eine ethische Bemerkung. Jener Intellect mache keinen Theil des Werthes des Menschen aus; sein Fühlen, Glauben, Wollen aber thue es.

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Und wenn hier die Ethik, so begegnet uns anderwärts die Logik; denn S. 35 handelt er von dem Wege Causalzusammenhänge zu erkennen, und S. 45 von der Frage der Uebertragbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode auf geistige Gebiete. Andere Sätze wieder greifen in die Ontologie und Metaphysik über. So wird uns S. 37 gelehrt, daß alles von nothwendigen Causalgesetzen beherrscht sei, das moralisch-politische Gebiet ebenso wie das mechanische. Und S. 35 wird sogar behauptet, daß das Gesetz von der Erhaltung und Verwandlung der Kraft ganz allgemein bestehe und auch für die politischen Kräfte Geltung habe. Dann S. 33, daß die Gemeinde, daß der Staat „wesenhafte“ Dinge seien, daß sie nicht aus der Summe der zugehörigen Menschen und Territorien beständen, sondern etwas seien, was „hinter beiden liege“, ein „wesentlich Anderes“, aber ebenso „Reales“ (S. 34). Wiederum hören wir S. 49, daß der Panmechanismus, d. h. die allgemeine mechanische Weltanschauung, welche manche Physiker vertreten, zu verwerfen sei. Und ebenso schon S. 34, daß eine teleologische Ordnung in der Natur bestehe, wonach Alles in ihr sich selbst Zweck sei. So seien auch die Staaten, als Naturproducte, sich selber Zweck. Also wirklich Psychologie, Ethik, Logik, Metaphysik, mit einem Wort Philosophie und wieder Philosophie ist, was der Rede des Herrn Rectors Zeichnung und Farbe gibt; und so finden wir ihn denn auch wiederholt die Autorität berühmter Philosophen anrufen; S. 33 und S. 51 citirt er Aristoteles und S. 37 Hegel, dessen Spruch: „Alles Wirkliche ist vernünftig“ der Redner sich eigen macht. Wer mit solcher Rede allgemeines Interesse erwartet und allgemeines Interesse findet, klingt es von dem nicht wie eine contradictio in adjecto, wenn er in ihr erklärt, daß das philosophische Interesse in weiteren Kreisen erstorben sei? – Jedenfalls beweist er durch sein Unternehmen und durch seinen Erfolg das Gegentheil von dem, was er lehrt; das philosophische Interesse lebt auch heute. 7. Ich habe gesagt, in unsern Tagen sei das philosophische Interesse nicht geschwunden, die philosophische Bildung aber habe sich in ihnen vermehrt. In letzterer Beziehung bin ich den Beweis noch schuldig. Aber der Herr Rector hat mir die Sache hier leicht gemacht. Er hat ein Kriterium angegeben, welches, wenn wir ihm vertrauen dürfen, auf ’s deutlichste erkennen läßt, daß jene angeblich „goldenen“ Zeiten der Philosophie die Zeiten höchster philosophischer Unbildung gewesen sein müssen. Der sicherste Maßstab für die Beurtheilung des Bildungsgrades, lehrt er uns (S. 38), ist der Takt für das Mögliche. Wer alles für möglich, nichts für unmöglich hält, der trägt, sagt er, das untrügliche Zeichen der Unbildung an sich.

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Wo nun, frage ich, könnte einer dieses untrügliche Zeichen sicherer gegeben finden, als beim philosophirenden Publicum in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts? – Jede neue Schrift eines unreifen jungen Menschen, wie Schelling es damals war, begrüßte der philosophische Aberglaube seiner Zeitgenossen mit der Hoffnung auf die geisterlösende Offenbarung. Und bald darauf, von diesem Propheten abfallend, lag die Welt anbetend vor Hegel auf den Knien und glaubte ihm, wenn er verkündete, er besitze in seiner absoluten Philosophie den endgiltigen Abschluß aller Forschung und vermöge mit seiner dialektischen Methode von einem schlechthin leeren Begriff, einem völlig gedankenlosen Denken ausgehend, die ganze Fülle der Wahrheit sich spontan entwickeln zu lassen. Ueber einen andern Philosophen jener Zeit, Professor Wagner in Würzburg, der, mit enger umgrenzter Herrschaft, s. z. s. als „Philosoph der inneren Stadt“, dort Sensation machte, hat unter Anderen der große Naturforscher Karl Ernst v. Baer in seiner Selbstbiographie uns berichtet. Er gab neben einer hochtönenden Naturphilosophie und andern Proben übermenschlicher Weisheit auch ein unfehlbares Recept zur Fabrication echt poetischer Werke. Wie bei Hegel in einem Dreischlag, so ging bei Wagner alles in einem Vierschlag vorwärts, und natürlich, wie Baer sofort, aber wie es scheint unter den Zuhörern allein erkannte, war aller dieser Fortschritt bloßer Schein. In Berlin durchreisend kam Baer dann zufällig in den Hörsaal eines philosophischen Dozenten, der sich gewissenhaft mit einer Specialforschung befaßte. Das Publicum wußte den Mann nicht zu würdigen, so zwar, daß heute ohne Baer’s Erwähnung sein Name selbst vergessen wäre. „So wenig“, sagt Baer, „zog Horkels gründlich philosophischer Vortrag die Menge an, daß auch nach meinem Hinzutreten sich nur 6 Zuhörer in dem ansehnlichen Hörsaale fanden als rari nantes in gurgite vasto. Wie voll hatte ich im Jahre vorher (1815) den Hörsaal des alles vierteilenden Wagner gefunden!“12 Unsere Zeit, die, wenn überhaupt, nur von bescheiden sorgsamer Einzelarbeit etwas erwartet, wie ganz anders zeigt sie dadurch im Exner’schen Sinne sich philosophisch gebildet! Gewiß auch gegenwärtig fehlt es nicht an solchen, die philosophisch Unmögliches für möglich halten, sahen wir doch selbst den geistvollen Zöllner in tragischer Weise spiritistischem Betrug zum Opfer fallen; aber was ist aller spiritistische Wahn gegen den Glauben an monströse Unternehmungen, wie sie die erste Hälfte des Jahrhunderts kennzeichnen? 12

Wie Baer urtheilte auch der große französische Forscher, mit dem er sich in seiner zoologischen Classifikation berührt. Littrow erzählt von den Vorlesungen Cuvier’s: „Sein Hauptwerk dabei war, seine Landsleute vor der damals in Frankreich immer mehr um sich greifenden deutschen Naturphilosophie zu warnen.“

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Nichts Aehnliches hat heute Bestand, und mit Staunen hören wir, daß solche Afterphilosopheme jemals Anhang zu gewinnen und Epoche zu machen vermocht haben. 8. Doch nun noch eines. Der Herr Rector sagte uns in seinem Vortrage, das Interesse für Philosophie sei in weiteren Kreisen geschwunden, obwohl vor Allem der Vortrag selbst diesen Irrtum schlagend widerlegt. Das war seltsam. Doch seltsamer noch will es mich bedünken, wenn er, nachdem er das Erlöschen dieses Interesses als Thatsache gegeben glaubt, sofort daran auch noch die Ueberzeugung knüpft, daß es in alle Ewigkeit nicht wieder sich entzünden werde.13 Auch das politische Interesse scheint ihm im neunzehnten Jahrhundert bedenklich schwach geworden;14 Vorträge über ein naturwissenschaftliches Thema vor gemischtem Publicum sprächen an, über ein politisches begegneten sie meist erstaunlich geringer Theilnahme.15 Aber doch prophezeit er hier kühn eine Neubelebung, ja ist überzeugt, daß das zwanzigste Jahrhundert vornehmlich von diesem Interesse beseelt sein werde.16 Warum also, frage ich, wäre nur bei der Philosophie ein Wiedererstehen von vornherein ausgeschlossen? Auf diese Frage bekommen wir keinen ausdrücklichen Bescheid und sind auf das, was sich etwa indirect aus dem Vortrag ersehen läßt, angewiesen. Doch auch so, glaube ich, können wir mit genügender Sicherheit den bestimmenden Grund erkennen, der in nichts Anderem als in der durchaus praktischen Sinnesart des Herrn Rectors zu liegen scheint. In der That sah ich mit Staunen, bis zu welchem Grad eine solche Geistesverfassung bei einem Forscher, der sein ganzes Leben der Betrachtung praktischer Verhältnisse geweiht, sich entwickeln konnte. Wissen hat, nach Exner, nur Werth und Berechtigung, wo es einem praktischen Bedürfnisse dient.17 Dies geht bei ihm so weit, daß ihm das Verlangen nach Kenntnißnahme von Naturgesetzen, zu welchen die neueste Forschung gelangt, und das freudig staunende Verweilen bei der Betrachtung ihrer kühns13

a. a. O. S. 54.

14

Daß dem so sei, dürften ihm Wenige zugeben, wir indeß mögen es hier dahingestellt sein lassen.

15

a. a. O. S. 41.

16

a. a. O. S. 52.

17

Hiermit stimmt es, wenn er, wie wir schon oben (S. 135) hörten, den Intellect und das Wissen nicht zu dem rechnet, was als solches dem Menschen einen höheren Werth verleihe. Das Gegentheil ergibt sich aus Betrachtungen wie die in meiner Abhandlung „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ §§ 27 und 32.

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ten Errungenschaften, ohne Aussicht sie praktisch zu verwerten, geradezu „widersinnig“ vorkommt. So nimmt er S. 41 an dem allgemeinen Interesse für die Spektralanalyse18 Anstoß. Daß diese das Mittel ist, uns über die elementaren Bestandtheile der fernsten Gestirne zu unterrichten, macht dem Herrn Rector nicht im Mindesten verständlich, wie mit dem männlichen Geschlecht auch sogar Frauen sich dafür zu interessiren vermögen, bei denen man, meint er, „ein lebhaftes Interesse“ (hört! hört!) „weit eher für eine wissenschaftliche Erklärung der Ursachen und Wirkungen des Kaffeezolles erwarten möchte“. „Aber ganz im Gegentheil“, fährt er fort, „der einseitig herrschenden Geistesrichtung zufolge bewundert man dort die Erhabenheit eines ewigen Naturgesetzes und berauscht sich am Scharfsinn des Entdeckers, indessen man hier nur klägliches Menschenwerk erblickt, … eine Sache, die willkürlich auch anders oder gar nicht sein könnte, welche darum das nach ewigen Wahrheiten lechzende Gemüth des Bildungsphilisters gänzlich kalt lassen muß.“ Also, meine Herren, wer populäre naturwissenschaftliche Vorträge aus rein theoretischem Interesse, mit einem nach ewigen Wahrheiten lechzenden Gemüth, besucht, ist nach dem Herrn Rector – ein Philister! Aristoteles, für den der Herr Rector selbst die größte Hochachtung bekennt, hebt seine Metaphysik mit den berühmten Worten an: „Alle Menschen begehren von Natur nach dem Wissen“; und er führt dann aus, wie dies ohne jede Rücksicht auf praktischen Gewinn geschehe. Wir sehen, daß, was Aristoteles von dem normalen Menschen lehrt, mit dem, was der Redner über den Philister denkt, so ziemlich in eins zusammenfällt. Derselbe exclusiv praktische Sinn begegnet uns dann auch in seiner erstaunlichen Hochschätzung der Römer, deren Geistesarbeit – obwohl sie nach ihm weder in der Naturwissenschaft (und Philosophie), noch in der Kunst Selbständiges hervorzubringen vermochten19 – er über die der Griechen zu erheben wagt;20 freilich ihnen dabei praktische Leistungen zuschreibend, die, meines Erachtens, einen ganz anderen Ursprung genommen haben. So die Entstehung des Reiches der katholischen Kirche, welche wir (wie auch die Kirche selbst es thut) gewiß besser auf die Semiten in Palästina, ähnlich wie die des muhammedanischen Reiches auf die Semiten in Arabien zurückführen werden. Das Römerthum trat der Kirche, wie etwas unbegreiflich Fremdem, zunächst nur feindlich entgegen; dort aber sehen wir sie wahrhaft und seit langem vorbereitet, wie denn auch das Verhältnis von Kaiser und Papst das 18

Einer keineswegs so, wie Exner sagt, schwierig zu popularisirenden Lehre.

19

a. a. O. S. 47.

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a. a. O. S. 49.

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zwischen König und Hohempriester im Judenland wesentlich wiederholt.21 Und ebenso unberechtigt schreibt er dem römischen Reiche die Verjüngung Europas zu,22 die sicher vielmehr theils dem Einflusse des Christentums, theils dem Eindringen der germanischen Völkerschaften zu danken war.23 Die Römer, sagt Exner, haben uns alle Schätze des Alterthums übermittelt; alle Wege von dorther führen durch Rom.24 Und hier allerdings kann ich ihm – doch, ich füge hinzu, leider! – nicht widersprechen. Es gibt gegenwärtig Leute, die uns prophezeien, daß ein gewaltiges Reich, das wir im Osten schauen, einmal das ganze civilisirte Europa unter die Füße treten, und so das gespaltene einigen werde. Wenn solches – wovor Gott uns bewahre – wirklich geschehen sollte, so würde dieses Rußland gewiß ähnlich die westeuropäische, wie damals Rom die griechische Cultur, in sich aufnehmen und späteren Zeiten überliefern. Und dann möchte ein zukünftiger Historiker wohl auch einmal in diesem panslawistischen Staat ein politisches Wunderwerk erblicken, segenspendend, wie es kein anderer unserer Staaten vor und neben ihm gewesen sei. Ich aber muß zum Voraus hiergegen protestiren. Ebensowenig kann ich aber dann Exner’s Hochpreisungen Roms in bezug auf das Alterthum gelten lassen; man sieht, hier urtheilt kein unparteiischer Richter, hier spricht der Lehrer des römischen Rechtes.25 Doch lassen wir uns nicht von unserem Thema abbringen! Es handelte sich uns darum, begreiflich zu machen, warum der Herr Rector eine Auferstehung des in weiteren Kreisen erstorbenen philosophischen Interesses für ausgeschlossen hält, und ich sagte, daß dies wohl nur aus der eigenthümlichen Art verständlich werde, wie er das Wissen allein nach dem Maß praktischen Bedürfnisses schätze. Ein praktisches Bedürfnis nach Philosophie wäre nämlich nach dem, was er S. 55 ausführt, bei der größeren Menge in keiner Weise vorhanden. Sie hat den Arzt und seine Verordnungen, sie hat den Geistlichen und seine Predigt, und indem diese dann bei Gelegenheit die Leute zugleich über politische Fragen berathen, sind sie vollständig versorgt. Sie nennt er darum „die beiden Augen des Volkes in seiner großen Masse, welches durch sie die Welt der geistigen Dinge wahrnimmt“. Der Philosoph, was wäre er da anderes als ein drittes Auge im Gesicht und ein fünftes Rad am Wagen? So hatte denn die allgemeine Theilnahme für philosophische Lehren wohl nie 21

Anhang 2, S. 152.

22

a. a. O. S. 47.

23

Anhang 3, S. 152.

24

a. a. O. S. 49.

25

Anhang 4, S. 153.

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eine natürliche Berechtigung, und ihr Erlöschen erscheint als ein Fortschritt, der, einmal gethan, nicht rückgängig gemacht werden soll und kann. Aber das Alles ist ja durchaus verwerflich. Sehen wir ab von der allgemeinen Macht theoretischen Interesses und von jenem natürlichen Verlangen nach Wahrheit, welches für die hohen Fragen unserer Wissenschaft das allerlebendigste war, ist und sein wird: selbst unter rein praktischem Gesichtspunkt wird die Philosophie immer und immer wieder als dringlichstes Bedürfnis weitester Kreise empfunden werden. Der Geistliche, der positive Theologe, sagt Exner, sei eines der Augen des Volkes. Er schreibt ihm hier einen Einfluß zu, von dem es fraglich ist, ob er ihn immer und überall besitze und besitzen werde. Die Sanction der positiven Religion ist heutzutage entschieden in Abnahme begriffen. Man mag dies, wie unter den Freidenkern der edle Fechner es gethan,26 und wie ich selbst es thue, bedauern, aber man kann es darum nicht leugnen, oder auch nur praktisch ignoriren. Eine Kirche, an die das Volk nicht mehr wie früher glaubt, kann auch nicht mehr wie früher dafür sittliche Stütze sein. Und so hat denn in Frankreich, wo der Verfall des christlichen Glaubens am weitesten vorgeschritten ist, und z. B. der allgemein geehrte Präsident der Republik Sadi Carnot nicht einmal mehr die Taufe empfangen hat,27 die Nothwendigkeit sich herausgestellt, einen rein philosophischen Unterricht in der Moral an den Volksschulen einzuführen.28 Das Gesetz über Organisation der französischen Volksschule vom 28. März 1882 verlangt in diesem Sinne an erster Stelle : l’enseignement moral et civique; und eine Reihe von Lehrbüchern für elementare und höhere Schulklassen beweisen, daß dieses Gesetz bereits in die Praxis übergeführt worden ist. Wenn im neunzehnten Jahrhundert solches in Frankreich nöthig geworden, wäre es da nicht vermessen, zu leugnen, daß im zwanzigsten Tage kommen könnten, wo ein derartiges Gesetz auch in unsern Landen als unentbehrlich sich herausstellen würde? Wer den so schwachgewordenen Glauben unseres heutigen Volkes29 mit seiner Glaubensstärke im Mittelalter vergleicht, wird darin wenig Grund finden, die Frage zu verneinen. Aber nehmen wir an, es gehe bei uns sicher alles einen andern Weg; die Macht der christlichen Religion über die Gemüther werde sich erhalten und wieder herstellen: so, sage ich, wird auch dann die Philosophie von höchster 26

Anhang 5, S. 157.

27

Es wurde mir dies von einem geistlichen Würdenträger mitgeteilt.

28

Anhang 6, S. 158.

29

Man sehe, wie leicht die irreligiöse Propaganda der Sozialistenführer die Arbeiterkreise gewinnt, und wie die Päpste selbst die schwersten Uebelstände unserer Zeit überall mit dem Verfall des Glaubens in Zusammenhang bringen.

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praktischer Bedeutung bleiben, indem sie, statt als irgend denkbarer Ersatz, als Helferin der Theologie angerufen werden wird. Denn diese ist wie eine fürstliche Frau, die mannigfacher Dienerschaft bedarf. Sie bedarf als Dienerin der Geschichte, sie bedarf als solcher der Philologie, vor allem aber nimmt sie fort und fort die Dienstleistungen der Philosophie in Anspruch, die darum schon das Mittelalter vorzugsweise als die „ancilla theologiae“ zu bezeichnen liebte.30 Exner verlangt S. 55 „Harmonie“ der Weltanschauungen von Arzt und Geistlichem, indem der „Widerspruch zwischen den von ihnen entworfenen Weltbildern das Volk verwirre“. Er vermeint diese Harmonie durch politische Bildung herstellen zu können. Aber hat er da wirklich das geeignete Mittel bezeichnet ? – Wahrhaftig nein! Offenbar thut ganz anderes dafür noth. Denn nicht ob Föderalismus oder Centralismus, Socialismus oder Kapitalismus, sondern ob Theismus oder Materialismus, – das ist die Frage, deren gegensätzliche Lösung den gewöhnlichen Zwiespalt zwischen Arzt und Geistlichem verschuldet. Wie also sollte das Studium der Politik ihre Weltanschauungen genugsam einigen? – Ja nicht blos dies muß bestritten werden; es scheint mir sehr fraglich, ob die Einigkeit zwischen ihnen auch nur in irgendwelcher Beziehung größer würde, wenn unsere Ärzte und Geistlichen von heute ab aufs eifrigste mit Politik sich befaßten. Je mehr Politik, finde ich, um so mehr politischer Dissens.31 Doch sehen wir für einen Augenblick von allem hier Gesagten ab, und halten wir uns nur an das, was dem Herrn Rector selbst unzweifelhaft ist, nämlich daß ein allgemeines Bedürfnis nach politischer Bildung immer bestehen bleibe. Ich frage, ist darin dann nicht wiederum enthalten, daß auch philosophische Bildung allezeit erforderlich sein wird? Sind es denn nicht psychologische Gesetze, die in dem Staat, die in der Gesellschaft walten? – Mir und den allermeisten scheint dies einleuchtend. Ich bedauere aber, daß wir den Herrn Rector hier nicht auf unserer Seite haben. Wir stoßen hier auf jene 30

Die Theologen bilden und bildeten immer einen verhältnißmäßig kleinen Theil der Gläubigen. Daher ist für das Verlangen der Kirche nach möglichst allgemeiner Theilnahme an philosophischer Erkenntniß, mehr noch als das Prädicat „ancilla theologiae“ für die Philosophie, das Attribut „praeambula fidei“ bezeichnend, das sie ebenfalls schon im Mittelalter gewissen philosophischen Theoremen gegeben hat. Sie dürfte kaum auf Exner’s Stimme hören, wenn er ihr rathen sollte, dieselben durch politische Betrachtungen zu ersetzen.

31

Die Wahrheit ist nur eine, aber einen chimärischeren Utopisten könnte es nicht geben, als den, der glaubte, daß ein energisches Studium der Politik alle sofort in der Wahrheit einigen werde. Exner weist selbst auf das Übermaß der Schwierigkeit hin, die aus vielfachem Grunde gerade hier für den Beobachter sich ergibt (S. 35). Und wenn er noch immer ein nüchterner Beobachter wäre! aber für Nichts wird ein solcher seltener als für politische Erscheinungen gefunden.

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„wesenhaften Dinge“ hinter der Summe des Einzelnen, für welche der Herr Rector die Gemeinde und den Staat erklärt, während ich, ich bekenne es, von diesen metaphysiko-politischen Wesen nichts sehe, sei es, daß sie wirklich nur in dem Geist einiger Juristen bestehen,32 sei es, daß mir, wie der Herr Rector annehmen wird, „der politische Sinn“ fehlt, der zu solcher Wahrnehmung nöthig ist.33 Ich tröste mich damit, daß auch Leibniz und Aristoteles, denen man doch politische Einsicht nicht abzusprechen pflegt, sie nachweisbar ebensowenig gesehen haben.34 Und ganz ausdrücklich sagt dieser auch, daß der Staat den Zweck habe, das Leben des Menschen möglichst edel und glückselig zu gestalten.35 Was übrigens hier das Richtigere sei, das sei dahingestellt; bleiben uns doch schon im früher Gesagten der Beweise genug, welche zeigen, daß die Philosophie am allerwenigsten darum, weil kein normales Bedürfnis nach ihr vorhanden wäre, auf Nimmerwidersehn verschwunden sein kann. Dieses Bedürfnis wird gerade heutzutage so lebhaft gefühlt, daß die Fachphilosophen ihm nicht zu genügen vermögen, und daß wir oft sehen, wie Naturforscher – Henle, Du Bois-Reymond, Helmholtz, Tait, Darwin, Huxley, Baer, Häckel, Hering, Mach, Rokitansky – dem auch noch andere Namen unserer Hochschule zuzugesellen wären – und ebenso berühmte Juristen, wie z. B. Ihering und, wir sahen es ja, unser Herr Rector selbst, vielfach in sie übergreifen. 9. Welches also ist das Ergebniß dieser ganzen Betrachtung? – Wie die philosophische Production der Gegenwart, mit jener der ersten Hälfte des Jahrhunderts verglichen, nicht im Verfall erschien, so ist auch das philosophische Interesse in ihr nicht erloschen oder auch nur geschwächt. Viel 32

Wohl als Nachklang Schelling-Hegel’scher Lehre. (Vgl. Schelling’s Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. 1803.)

33

a. a. O. S. 33 f.

34

Der Staat ist für Aristoteles kein Reales, kein ὄν im Sinne einer der Kategorien, weder eine Substanz, noch ein Accidenz. Denn nichts actuell Reales setzt sich nach seiner ausdrücklichsten Lehre aus actuell Realem zusammen; der Staat aber ist ihm die Gemeinschaft der Familien und Gemeinden um eines vollendeten und glückseligen Lebens willen. (Polit. III, 9; vgl. I, 1, 1252, a, 17.) Daß Aristoteles den Staat als etwas von der Natur Beabsichtigtes bezeichnet, steht damit nicht im Widerspruch. Auch das Weltall, und vor allem dieses, gilt Aristoteles als Zweck der Natur, aber darum wahrhaftig nicht als ein „wesenhaftes“ Ding (vgl. Exner, a. a. O. S. 33) hinter der Summe des Einzelnen (vgl. ebend. S. 34), vielmehr offenbar als diese Summe (τὸ πᾶν) selbst (vgl. Metaph. Λ. 10)

35

Polit., III, 9, 1280, b, 39.

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weniger ist jemand berechtigt, es für etwas, was auf Nimmerwiedersehn verschwunden wäre, zu nehmen. Ueber den ersten Punkt, der Einigen von uns Sorge machte, dürfen wir somit beruhigt sein. * * * 10. Aber eine andere wichtige Frage bleibt uns zu erörtern. Haben Diejenigen recht, oder haben sie unrecht, welche heutzutage darauf ausgehen, die auf naturwissenschaftlichem Gebiet so glänzend bewährten Methoden auf Probleme der Geisteswissenschaft anzuwenden? Ich war im Begriff, mir ein paar Gedanken hierfür zusammenzustellen, als der Brief eines Freundes aus München mich erreichte; und der Zufall wollte, daß ich darin sogleich auf folgende Worte stieß. „Am Schluß des Wintercollegs der Geschichte der Philosophie“, schreibt mir Professor Stumpf, „erwähnte ich diesmal, daß es nun ein Vierteljahrhundert sei, daß Sie bei der Habilitation die These aufstellten: ,die wahre Methode der Philosophie ist die der Naturwissenschaften‘, und wie es sich seitdem immer mehr bewährt habe“. „Diese These“, fügt er bei, „und was damit zusammenhing, war es auch, die Marty und mich mit Begeisterung an Ihre Fahne fesselte.“ So spricht ein namhafter, zeitgenössischer Forscher auf geisteswissenschaftlichem Gebiet. Unser Herr Rector, wir sahen es, ist anderer Meinung und hat in seinem Vortrage sowohl im allgemeinen als insbesondere, was die socialen Disziplinen betrifft, energisch dagegen protestiert. „In fast allen Zweigen der Geisteswissenschaft“, klagt er S. 45, „hat in unserem Jahrhundert eine widernatürliche … Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen Platz gegriffen“; in gewissen Fällen hat sie „gänzlich auf Abwege geführt“, in anderen eine „wunderliche Verschrobenheit in der formalen Stoffbehandlung erzeugt“, für die „Zopf“ die würdigste Bezeichnung wäre. Und welches sind seine Gründe? Ich glaube sie mit wesentlicher Vollständigkeit in vier Momenten zusammenfassen zu können, von denen die beiden ersten deductive Argumente sind, die beiden andern empirische Verificationen bieten. Erstens: Die Mechanik geht bis zu den Grundgesetzen der Natur zurück, sie leitet aus ihnen die secundären Gesetze ab und erklärt so die besonderen Erscheinungen. Auf dem moralisch-socialen Gebiet ist solches unmöglich; die Phänomene sind hier unendlich feiner und tiefer verzweigt;36 die unabsehbar vielfältigen 36

a. a. O. S. 38.

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Voraussetzungen sind nicht vollständig erkennbar, geschweige daß jede einzelne einer exacten Maßbestimmung unterworfen werden könnte. Wer also nach Art jener Naturforscher vorgehn will, kommt nothwendig zu keinem oder zu ganz irrigem Resultate. Zweitens: Die moralisch-socialen Erscheinungen sind geschichtliche Erscheinungen; die der Mechanik sind es nicht. „Die Mechanik kennt weder Vergangenheit noch Zukunft.“37 Somit muß die Methode hier und dort ganz verschieden sein. Die wahre sociale Methode ist, im Gegensatze zur mechanisch-naturwissenschaftlichen, die „historisch-politische“.38 Dies die zwei deductiven Argumente. Zu ihnen kommt, wie gesagt, eine doppelte Verification durch directe Empirie. Die eine liegt in dem geschichtlichen Zusammentreffen von höchster naturwissenschaftlicher Bildung mit tiefster politischer Unbildung sowie von hoher politischer Bildung mit dem äußersten Tiefstand der Naturwissenschaft. Für jenes gibt einen schlagenden Beleg das 18. Jahrhundert, welches, sagt Exner,39 den Höhepunkt des Aufschwunges der exacten Naturwissenschaften zugleich mit dem tiefsten Tiefstand politischen Elends zeigt. Er erinnert an „die Decrete des französischen Nationalconvents“, „dessen Mitglieder doch für politisch möglich halten mußten, was sie mit Gesetzeskraft befahlen“.40 Für dieses findet er ihn in dem alten Rom. „Die Römer … haben keinen mathematischen Lehrsatz aufgestellt und kein Naturgesetz entdeckt“, sie haben aber „eine unerhörte politische Macht zu folgerechter Entwicklung gebracht“ und die großartigsten „politischen Traditionen geschaffen“.41 Dies die erste Verification. Noch entscheidender scheint ihm die zweite. Nicht blos Gleichzeitigkeit zwischen höchstem naturwissenschaftlichen Aufschwung und tiefstem Verfall politischer Bildung ist, was wir im 18. Jahrhundert in Frankreich finden, sondern wir bemerken geradezu den verderblichen Einfluß, den die naturwissenschaftliche Denkweise damals auf politischem Gebiet übte. Der Historiker Hippolyte Taine hat jüngst den causalen Zusammenhang überzeugend dargetan;42 und auch Verirrungen der Gegenwart auf geistes37

a. a. O. S. 51.

38

ebend.

39

a. a. O. S. 49.

40

a. a. O. S. 39.

41

a. a. O. S. 47 f.

42

a. a. O. S. 50.

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wissenschaftlichem Gebiete tragen deutlich das Zeichen solcher Herkunft an sich.43 So läge denn alles Heil in der Ablehnung jedes Gedankens, die Naturwissenschaft auf geisteswissenschaftlichem Gebiet methodisch zum Vorbild zu nehmen. Das dürften in wesentlicher Vollständigkeit die Gründe des Herrn Rectors sein. Wir müssen sie der Reihe nach prüfen. 11. Die Mechanik, sagt uns Exner, geht auf Grundgesetze zurück und erklärt aus ihnen deduktiv die besonderen Erscheinungen. Bei den moralisch-politischen Phänomenen ist solches Verfahren unmöglich. Die feinen, unendlich verwickelten Voraussetzungen sind weder vollzählig erkennbar noch im Einzelnen meßbar. Wer also hier nach Art des Naturforschers vorgehen will, verfehlt sein Ziel. Unstreitig sagt uns der Redner hier viel Wahres. Aber indem ich dies beifällig anerkenne, muß ich zugleich auf ein Uebersehen aufmerksam machen, welches den Schluß seiner Gültigkeit beraubt. Dies Uebersehen ist sehr merkwürdig; Exner spricht, als ob nicht auch auf dem Gebiet der Natur feine und unendlich verwickelte Erscheinungen vorkämen; Erscheinungen, bei denen theils die mangelhafte Kenntniß der Vorbedingungen, theils die in’s Unendliche wachsende Schwierigkeit der Berechnung jeden Versuch einer Ableitung aus den mechanischen Grundgesetzen vereiteln würde. Und doch finden wir solche in reichster Fülle; ja in ganzen Zweigen der Naturwissenschaft sind alle Phänomene ausnahmslos von dieser Art. Betrachten wir folgenden Fall. Ein Würfel von gleichmäßiger Dichtigkeit sei auch sonst regelmäßig gebaut, nur auf einer Seite etwas schief geschnitten; man will bestimmen, mit welcher Leichtigkeit bei solcher Gestalt jede einzelne Seite getroffen werde. Dieses verhältnismäßig einfache Problem, mit genau bestimmten Daten, erweist sich bereits als so verwickelt, daß die Mittel unserer heutigen Mathematik zur Berechnung nicht ausreichen. Was also tun? Etwa die Frage als schlechthin unlösbar aufgeben? – Keineswegs! Der Naturforscher paßt den Verhältnissen sich an und greift zu dem bescheideneren Verfahren directer Induction. Er würfelt und würfelt wieder, und bestimmt so, nach dem Gesetze der großen Zahlen, die gesuchte Unbekannte mit einer in’s Unendliche wachsenden Sicherheit und Genauigkeit. Nehmen wir eine andere, ungleich verwickeltere Aufgabe. Es handele sich darum, das specielle Gesetz zu bestimmen, nach welchem bei einer gewissen 43

a. a. O. S. 45 f.

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Bucht, infolge der Uferbildung, Ebbe und Flut verlaufen. Die Vorbedingungen sind hier unendlich mannigfach, und weder unsere Kenntniß von ihnen noch unsere mathematische Kunst irgendwie zur Analyse ausreichend. Die directe Erfahrung entscheidet. Dasselbe finden wir in dem ganzen, weiten Reich der Meteorologie. Wer könnte hier die Ursachen so, wie es zu deductiver Behandlung der Erscheinungen nötig wäre, ermessen ? Und abermals, ja mehr noch gilt solches auch bei den Erscheinungen der Krystallisation. Verschiedene Stoffe krystallisiren nach verschiedenen Gesetzen, und auch derselbe zeigt unter verschiedenen Verhältnissen eine Krystallbildung nach völlig verschiedenem Systeme. Bei Schwefel, Phosphor, Kohlenstoff ist dies z. B. der Fall. Krystalle, so verschieden wie Graphit und Diamant, sind beide aus reinem Kohlenstoff gebildet. Wir wissen dies erfahrungsgemäß; eine Ableitung aus der Natur der Elemente überstiege, wie jeder Chemiker und Mineraloge weiß, weitaus unsere Kenntniß und Kraft. Und wie nun erst auf dem Gebiete der lebendigen Natur, wo schon die einfachste Zelle etwas unvergleichlich Künstlicheres und in seinen Functionen Räthselhafteres ist, als die durchgebildetsten krystallinischen Formationen! Wir sind überzeugt, daß hier physikalisch-chemische Gesetze die Unterlage bilden, aber wir vermögen nicht den Aufbau der Zelle durch sie zu begreifen; und wie nun gar sollte einer, bei der Wechselwirkung unzähliger Theile des Organismus unter sich und mit der Außenwelt, dieses ganze Getriebe aus seinen ersten Ursachen deductiv zu erklären imstande sein? Der Physiologe bestimmt empirisch die gesetzmäßigen Stadien embryonaler Entwicklung und des jugendkräftigen Erblühens und des greisenhaften Verfalles. Der Morphologe zeigt uns empirisch die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen der Aenderung eines und aller andern Organe. Der Zoologe erzählt uns, daß alle weißen Katzen mit blauen Augen taub sind; er bewahrheitet das Gesetz empirisch, ohne es deductiv von höheren Principien aus voraussehen oder auch nur nachträglich erklären zu können. Der Ethnologe verzeichnet die Aenderungen, welche bei der weißen Rasse schon heute, nach wenigen Jahrhunderten, im östlichen Nordamerika zutage treten; er beschreibt uns den Wandel der Gesichtsfarbe; das Kleinerwerden der Hände und Füße, das Durchdringendere im Blick der gleichfalls verkleinerten Augen – lauter Umbildungen, welche die eingewanderte weiße Rasse der eingeborenen rothen annähern –; er ermittelt empirisch, daß die Ursachen klimatische Einflüsse sind, die nicht ebenso in den westlichen Teilen, wie z. B. in Californien, bestehen: aber dabei irgend etwas aus den Grundgesetzen der physikalisch-chemischen Urbedingungen abzuleiten, kommt ihm nicht in den Sinn. Auch ist der biologische Forscher sich vollauf

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bewußt, daß seine Gesetze, wie nicht die Würde, so auch nicht die Genauigkeit vollanalysirter Lehrsätze haben. Der Pathologe weiß, daß kein Krankheitsfall dem andern gleich ist, und so bekannt ist der unanalysirbare Einfluß individueller Constitution, daß man allgemein am liebsten den durch directe Erfahrung länger mit ihr vertrauten Arzt um Hilfe anruft. Die Naturwissenschaft verlangt also keineswegs, wie das Argument voraussetzt, daß wir überall gleichmäßig und so, wie in den einfachsten Fällen der Mechanik, vorgehen sollen. Im Gegentheil, sie unterweist uns und übt uns darauf ein, der besonderen Natur der Gegenstände entsprechend unser Verfahren zu ändern und unsere Ansprüche bald zu steigern, bald herabzustimmen, um dort den volleren Erfolg zu erzielen, hier, auf das Unmögliche verzichtend, das wissenschaftlich Mögliche glücklich zu erreichen. Die mathematische Analyse, die auf manchen Gebieten der Naturwissenschaft das hauptsächliche Mittel des Fortschrittes ist, spielt darum bekanntlich auf anderen so gut wie gar keine Rolle; und so konnte es geschehen, daß große und geniale Entdecker sehr wenig von ihr verstanden haben. Benjamin Franklin und Darwin erzählen uns in ihren durch Aufrichtigkeit mustergültigen Selbstbiographien von ihrem sehr bescheidenen mathematischen Talente, und Häckel rühmt sich geradezu, daß er nicht einmal den pythagoreischen Lehrsatz beweisen könne. Wenn dem nun so ist, wie könnte etwas anderes rascher und überzeugender, als der Blick auf die Naturwissenschaft, erkennen lassen, wie wir bei jenen hochverwickelten Erscheinungen, welche die Geisteswissenschaft begreift, naturgemäß zu verfahren haben werden? – Wir sehen, von dem, was der Herr Rector besorgt, dürfen wir das gerade Gegenteil erwarten. So viel vom ersten Argumente, bei dem wir ob seiner Wichtigkeit etwas länger verweilten. Das zweite dürfte sich daraufhin mit kürzeren Worten erledigen lassen. 12. Die Sociologie, sagt Exner, hat es, im Unterschied von der Mechanik, mit geschichtlichen Erscheinungen zu thun; so muß auch ihre Methode, im Unterschied von der mechanisch-naturwissenschaftlichen, die historisch-politische sein. Dies Argument hat, losgelöst von dem früheren, gar keine Kraft und Bedeutung; es würde zu einer reinen petitio principii werden. Denn nicht darum kann es sich handeln, ob in der Sociologie gleichartige oder andersartige Probleme wie in der Naturwissenschaft erforscht werden sollen, sondern darum, ob trotz der Verschiedenartigkeit der Fragen ein analoges Verfahren erfolgreich sein könne. Dieses von vornherein leugnen, hieße eben das fordern, wofür der

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Beweis obliegt. So könnten wir, nach der Widerlegung des früheren Grundes, von diesem ganz und gar Umgang nehmen. Doch ich will es nicht unterlassen, noch im Besonderen zu bemerken, daß der geschichtliche Charakter, den gewisse Erscheinungen vor andern tragen, gewiß nicht das ist, was die Gebiete der Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft trennt. Exner erwähnt selbst, was die Geisteswissenschaft betrifft, hier nur der socialen Phänomene als historischer. Was aber die Naturwissenschaft anlangt, so ist es mir höchst auffallend, wie er bezweifeln kann, daß auch sie in weitem Umfange mit geschichtlichen Erscheinungen sich befasse. Exner sagt: „Die Mechanik kennt weder Vergangenheit noch Zukunft.“ Ich werde darauf nicht antworten, daß dies schon darum nicht richtig sein könne, weil jede Bewegung in einer Zeitfolge von Momenten verläuft; denn dies hieße gewiß seine Meinung mißdeuten. Gestehen wir vielmehr, was er von der Mechanik sagt, willig zu, ohne daran zu nörgeln. Aber was gilt denn von der Embryologie und der Betrachtung verschiedener Stadien der Ausbildung vom Ei zum vollentwickelten Organismus? Was gilt von dem Studium der Lebensalter und ihrer beträchtlich verschiedenen Dispositionen? Was gilt von dem Krankheitsverlauf im einzelnen Fall und was von den Aenderungen des Charakters einer Epidemie bei ihrer Wiederkehr? Haben diese Phänomene nichts von einem geschichtlichen Charakter an sich? Was ferner soll man sagen von der Kosmogonie und dem Gesetz der Entropie und den Verheißungen, die Thomson und Helmholtz für das Weltall daran knüpfen? Was von der Geologie und den Gesetzen, die Lyell und Andere hier feststellen? Was von der Paläontologie der Pflanzenwelt und Thierwelt, zumal seit die Descendenzlehre an die Stelle von Cuvier’s Revolutionen die Continuität der Entwicklung gesetzt hat? – Ich weiß keine Antwort, außer etwa die, daß dem Herrn Rector die Mechanik so vornehmlich imponirt zu haben scheint, daß ihm alles andere in der Naturwissenschaft neben ihr verschwindet. So bemerken wir denn hier auf ’s Deutlichste dasselbe Uebersehen, welches schon das vorige Argument ungiltig machte. 13. Wenden wir uns jetzt zu den beiden Verificationen. Die erste wollte Exner in dem geschichtlichen Zusammentreffen höchster naturwissenschaftlicher Bildung mit tiefster politischer Unbildung sowie vorgeschrittenster politischer Bildung mit äußerst zurückgebliebenem Zustande der Naturwissenschaft aufweisen. Offenbar meint er, dieses Zusammentreffen könne nicht ohne die größte Unwahrscheinlichkeit als etwas Zufälliges betrachtet werden; vielmehr müsse man darin eine Folge der von ihm behaupteten Verschiedenheit naturwissenschaftlicher

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und social-politischer Methode erkennen, indem die auf dem einen Gebiete angenommenen Denkgewohnheiten auf dem anderen sich nachtheilig erwiesen. Aber hier ist gar Vieles, was uns hindert, sein Argument irgendwie als vollwichtig gelten zu lassen. Vor Allem, wenn das Zusammentreffen hoher naturwissenschaftlicher und niedriger politischer Bildung und umgekehrt durchgängig in der Geschichte beobachtet würde, so würde dies allerdings etwas Auffallendes sein und Vermuthungen wie die des Herrn Rectors nahelegen; anders wenn Fälle eines solchen Zusammentreffens sich nur vereinzelt in der Geschichte zeigen. Es wird also darauf ankommen, ob uns der Herr Rector die Gesetzmäßigkeit des Zusammentreffens in weitgreifender, gewissenhaft durchgeführter Induction darzulegen vermocht hat. Aber siehe da! er gibt uns für jede der beiden Seiten nicht mehr als ein einziges Beispiel, hier das 18. Jahrhundert, dort das alte Rom. Und wenn wir nun, was er versäumt hat, nachzuholen versuchen, so stößt unsere Induction sofort und sozusagen beim ersten Schritt auf eine instantia contradictoria, wie, wenn wir finden, daß das moderne England gleichzeitig durch naturwissenschaftliche und politische Bildung andere Länder überstrahlt. Ja nicht blos in ein und demselben Volke, sogar in ein und derselben Person finden wir oft der eminenten Befähigung für naturwissenschaftliche Forschung eine hohe politische Einsicht gesellt, so daß sich vielmehr der Gedanke einer Verwandtschaft des Verfahrens hier und dort mit einer kaum abzuwehrenden Macht uns aufdrängt. Pascal, der geniale Mathematiker und Physiker, tut in seinen Pensées oft überraschend tiefe Blicke in moralischsociale wie überhaupt in geisteswissenschaftliche Fragen. Leibniz, der in der Mechanik die Maßformel der lebendigen Kraft bestimmt, ist zugleich der aufgeklärteste Politiker seiner Zeit, so zwar, daß er nicht bloß Vergangenheit und Gegenwart am besten beurtheilt, sondern auch als politischer Prophet in die Zukunft schaut und unter anderem die große Revolution vorherverkündet. Franklin, dem wir den Blitzableiter danken, übernimmt die erfolgreichsten diplomatischen Missionen und wird einer der hauptsächlichen Begründer der nordamerikanischen Union. Was sollen demgegenüber ein paar vereinzelt herausgerissene Fälle? Ja diese können um so weniger etwas beweisen, als sie selbst, jeder in seiner Art, beträchtlichen Bedenken unterliegen. Nehmen wir den Fall der Römer. Es ist gewiß richtig, wenn der Herr Rector sagt, daß die alten Römer weniger als andere antike Völker, wie namentlich die Griechen, in der Naturwissenschaft geleistet hätten; weder einen Biologen wie Aristoteles noch einen Physiker wie Archimedes haben sie je hervorgebracht. Daß sie aber als Forscher auf socialem Gebiete

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so überragend groß gewesen wären, daß sie hier Denker erzeugt hätten, welche die großen politischen Denker Griechenlands, wie z. B. unter den praktischen Politikern einen Perikles, unter den Schriftstellern einen Aristoteles übertroffen hätten, das wird mir Niemand so leicht glauben machen. Exner meint, die Römer als ein unerreichtes Musterbild politischer Bildung hinstellen zu können, weil sie, wie kein anderes Volk, ein Weltreich gründeten, welches die ganze gebildete Erde und mit ihr weite Barbarenländer sich unterwarf und jahrhundertelang sich in seiner Macht behauptete. Beides ist unleugbar; Rom hat seine Herrschaft riesig ausgedehnt und so fest begründet, daß man schon an ewigen Fortbestand zu glauben wagte. Wenn man nun so, wie Exner es thut,44 jeden Staat als Selbstzweck betrachtet, und darum auch vielleicht in Wachsthum und Selbsterhaltung die wesentliche Aufgabe des Staates sieht, so hat diese der römische Staat unleugbar vollkommener als andere, und insbesondere als irgendeiner der griechischen Staaten gelöst. Gerade hierin aber bin ich, und sind glücklicherweise die allermeisten durchaus anderer Meinung. Und wir glauben den Staat nicht zu erniedrigen, wenn wir vielmehr in der Beglückung und Vervollkommnung der eigenen Bürger und in dem Segen, welcher weiteren Kreisen, der Mitwelt und der fernsten Zukunft, aus dem Bestande des Staates fließt, die wahre und volle Aufgabe desselben erblicken. Mit diesem Maßstab gemessen, wie weit ist dann das alte römische Reich, auch in der Zeit seiner höchsten Blüte, davon entfernt gewesen, als das Ideal eines Staates gelten zu können! Wieder und wieder sehen wir es in die blutigsten Kriege nach außen oder in noch schrecklichere Bürgerkriege verwickelt; ungerecht, habgierig, treubrüchig, intolerant in der grausamst tyrannischen Weise war es ein Fluch der Menschheit und vielen der Edelsten ein Greuel.45 Wo in einem Staat die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, wie sie sein sollen, da werden sie dem Emporblühen der höchsten geistigen Bestrebungen günstig sein; die freudige Entfaltung der Wissenschaft und Kunst ist also als natürliche Folge zu erwarten. Der Herr Rector erkennt aber selbst an, daß diese im römischen Staat nur zu geringer Vollkommenheit gediehen sind. Rom hat die Bildung der glücklicher civilisirten hellenischen Staaten verschlungen, wie die mageren Kühe im Traume des Pharao die fetten verschlangen, ohne selbst davon fett zu werden. Wer unter solchen Umständen, blos um der größeren Ausdehnung und Kraft und um des zäheren Bestandes willen, das römische Reich über die Republik Athen erheben wollte, der würde mit ähnlichem 44

Vgl. oben S. 136.

45

Anhang 7, S. 159.

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Recht auch den Organismus eines Haifisches über den eines Menschen stellen können.46 Das andere Beispiel, welches uns die Kehrseite der Münze zeigen soll, entnimmt Exner dem 18. Jahrhundert. Er sagt uns, daß der Höhepunkt des naturwissenschaftlichen Aufschwunges sich hier mit dem tiefsten Stand politischer Bildung vereinigt zeige.47 Aber auch da scheinen mir die Thatsachen, und zwar in jeder der beiden Beziehungen, mit seiner Schilderung nicht ganz übereinzustimmen. Exner spricht dem 18. Jahrhundert jede höhere politische Bildung ab. Hat er wohl, als er dies sagte, an Leibniz, hat er an Friedrich den Großen,48 hat er an Adam Smith, hat er an Burke,49 hat er an Washington gedacht? – Es scheint vielmehr, daß er nur auf Europa und in ihm auf Frankreich am Ausgang des Jahrhunderts achtete. Aber auch hier wie parteiisch unvollständig sind nicht seine Berichte! Er erwähnt die Decrete des Nationalconvents, in denen sich freilich oft wenig politische Weisheit kundgab. Aber ist es nicht ungerecht, danach die ganze damalige Gesellschaft beurtheilen zu wollen?50 Man denke in dem von ihm gepriesenen alten Rom den Pöbel, in aufgeregter Zeit, plötzlich mit souveräner Macht in Händen, würde er sie wohl mit großer politischer Einsicht zu verwalten gewußt haben?51 Und hat nicht dieselbe, oder doch 46

Anhang 8, S. 164.

47

a. a. O. S. 49.

48

Comte, dem die historische Schule nicht abhold ist, hat seinem Andenken, als Gründer der modernen Politik, einen seiner 13 Jahresmonate gewidmet.

49

Exner selbst nennt (a. a. O. S. 50) diesen hervorragenden englischen Politiker des 18. Jahrhunderts neben Savigny als Musterbild echter politischer Methode.

50

Es war eine Epoche, wo, wie Exner selbst betont, die Naturwissenschaft in hoher Blüthe und dementsprechend bei allen Intelligenten in hohen Ehren stand. Nicht so bei den Machthabern. Als Lavoisier um einen Aufschub seiner Hinrichtung auf 14 Tage bat, damit er eine wichtige Arbeit, an welche er schon viele Jahre gewandt, zum Nutzen des Vaterlandes vollenden könne, antwortete ihm der Gerichtshof: „Die Republik benöthigt weder der Gelehrten noch der Chemiker. Der Gang der Gerechtigkeit kann nicht verschoben werden.“ Hierin sprach sich gewiß eine große politische Unbildung aus; daß dieselbe aber in übertriebener Ehrfurcht vor naturwissenschaftlicher Forschung ihre Ursache gehabt habe, wäre wohl eine allzu paradoxe Behauptung. So beschließt auch der Convent in einem seiner hochtrabenden Decrete, die demokratische Republik siegreich zu machen, nicht etwa „gestützt auf die Errungenschaften der französischen Naturwissenschaft“, die ihm wirklich dabei die besten Dienste leisteten, sondern nur „gestützt auf die Tugend der Bürger“.

51

Ein Plebiscit wie die Lex Genucia, aus der Zeit einer unvergleichlich milderen Fieberkrise, belehrt uns hierüber in anschaulichster Weise.

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eine um ein Geringes spätere Zeit in Frankreich auch den Code Napoléon geschaffen, ein Gesetzbuch, welches die Juristen zwar viel bemängelt, die Völker aber alsbald so in’s Herz geschlossen haben, daß man nach der Befreiung der Rheinlande es nicht zu beseitigen wagte?52 Und hat sie nicht zuerst jene sociale Frage gestellt, welche im 19. Jahrhundert eine wachsende Bedeutung erlangte und, wie der Herr Rector meint, die vornehmste Frage des 20. Jahrhunderts werden wird?53 – Wer hierin Fortschritte sieht, der muß auch die Anregung der Frage selbst als einen großen Schritt vorwärts in der politischen Bildung anerkennen; und das 18. Jahrhundert hat diesen Schritt gerade in Frankreich gethan.54 Das also nach der einen Seite. Nach der anderen aber muß ich – und jeder Naturforscher wird mir hier beistimmen – dem Herrn Rector ebenso oder noch entschiedener widersprechen; er hat unter naturwissenschaftlichem Gesichtspunkt das 18. Jahrhundert vielleicht noch mehr überschätzt, als er es unter politischem Gesichtspunkt ungerecht erniedrigt hat. Wie, das 18. Jahrhundert die Zeit des höchsten Aufschwunges der Naturwissenschaft? Das 18. Jahrhundert, das in der Physik noch nichts von der mechanischen Wärmelehre kannte, von der Chemie nur die ersten Anfänge sah und die Gründung einer wissenschaftlichen Physiologie gar nicht erlebte?55 Das 18. Jahrhundert, wo die Geologie ein Märchen war,56 das erst Lyell durch geschichtliche Wahrheit ersetzte? und wo Botanik und Zoologie, ohne wahrhaft wissenschaftliche Systeme57 und ohne das belebende Prinzip der Evolution,58 die Schwelle des mannbaren Alters noch nicht überschritten hatten ? – 52

Anhang 9, S. 165.

53

a. a. O. S. 51.

54

Anhang 10, S. 165.

55

Bichat’s Hauptwerk erschien 1801.

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Buffon gab in seiner verwegenen Art nacheinander zwei ganz verschiedene Theorien der Entstehung und Ausbildung der Erde; die letzte 1778. Beide sind längst einer verdienten Vergessenheit verfallen.

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Das Studium der Physiologie allein konnte in Botanik und Zoologie zu einer natürlichen Systematisation verhelfen; sie aber, wie gesagt, war damals noch nicht vorhanden. Und darum mußte selbst der große Linné beim Versuche natürlicher Ordnung unglücklich sein, obwohl er die Methode, die zu ihr führt, schon vollkommen richtig erkannt hatte.

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Wohl blitzte im Kopfe des ideenreichen Lamarck schon damals der Gedanke auf. Aber man lese in Arago’s selbstgeschriebener Jugendgeschichte, wie wenig zu jener Zeit selbst ein Bonaparte fähig war, den Geist des Mannes zu würdigen. Lamarck überreicht dem Consul ehrerbietig ein Werk vieler Jahre, und dieser, es ist empörend, fährt ihn wie einen Schulknaben an, so daß er die Schwäche hat, in Thränen

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Wir, im Besitze aller dieser Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, möchten hier kaum unsern Ohren trauen. Also weder Rom noch das 18. Jahrhundert hat der Herr Rector uns irgendwie mit genügender Treue gezeichnet; und wer dies und alles früher Gesagte überdenkt, wird unmöglich mehr dieser ersten Verification eine wahre Bedeutung zuzuerkennen vermögen. 14. Aber auch der zweite Versuch empirischer Bewährung, den Exner macht, erscheint nach der zuletzt gegebenen Berichtigung hinfällig. Exner glaubt im 18. Jahrhundert nicht blos den höchsten Aufschwung der Naturwissenschaft mit dem tiefsten Verfall politischer Bildung gleichzeitig gegeben, er meint, daß sich der schädigende Einfluß naturwissenschaftlicher Denkweise in den politischen Verirrungen jener Zeit sichtbar erkennen lasse. Der politische Rationalismus, sagt er, habe nach absoluten Lösungen der Aufgaben gestrebt, weil er gesehen, daß Mathematik und Mechanik solche schlechthin allgemeingiltige Lösungen suchten; das aber war der vor allem Anderen unheilbringende Wahn.59 Die Antwort hierauf ist sehr einfach. Wir können das, was Exner sagt, zugestehen, ohne im Geringsten seine weiteren Consequenzen zuzulassen und von unserer Ueberzeugung abzugehen, daß die wahre Methode der Geisteswissenschaft, und insbesondere auch die der Politik und Sociologie, in nichts anderem als in einem Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft liegen könne. Nicht daß das 18. Jahrhundert solches wollte, war der Fehler, sondern daß es, indem es solches wollte, es nicht wirklich that.60 Dasselbe Uebersehen, dessen, in einer heute etwas schwer begreiflichen Weise, der Herr Rector sich schuldig machte, das konnte damals viel leichter von den Politikern begangen werden; und gar manche mögen ihm wirklich verfallen sein, indem sie neben der dazumal allein vollentwickelten Mechanik die andern naturwissenschaftlichen Wissenszweige nicht beachteten, um durch sie über das Verhalten bei Fällen von hoher Verwicklung und unvollkommener Kenntniß der Vorbedingungen belehrt zu werden. Also nicht der Umstand, daß damals die höchste Höhe naturwissenschaftlichen Aufschwunges erreicht war, sondern der, daß die Naturwissenschaft damals von solchem Höhepunkt noch allzuweit entfernt war, macht jene Mißgriffe auszubrechen. Auch ist Lamarck’s berühmtestes Werk, seine „Histoire des animaux sans vertèbres“ erst im 19. Jahrhundert (1815–1822) erschienen. 59

Anhang 11, S. 166.

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Dies zeigt hier einen Fortschritt ähnlich denen, von welchen Anhang 10, S. 176 gesprochen wird.

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verständlich. Und somit ist es klar, daß man nicht das geringste Recht hat, an die damals eingetretenen Mißstände die Besorgniß zu knüpfen, daß auch heute der Sociologe irrgehen werde, der in einem Verfahren nach dem Vorbilde der Naturforschung sein Heil sucht. 15. Oder stiftet dennoch das Forschen nach naturwissenschaftlicher Methode auf dem moralisch-politischen Gebiete sichtlich auch heute Schaden und Verwirrung ? – Exner behauptet es, ohne es aber, wenigstens was deutsche Wissenschaft betrifft, anders als durch Beispiele jener, wie er sagt, „verschrobenen“ Ausdrucksweise zu belegen, die er als „Zopf“ bezeichnet, und die wesentlich darin besteht, daß man gewisse in der Naturwissenschaft gebräuchliche Termini in der Benennung politischer Phänomene nachahmt. Dieser Zopf, ist er denn aber etwas gar so Schlimmes, gar so Verdammliches? – Ich glaube kaum, und möchte mich sogar anheischig machen, etwas Aehnliches wie diesen „Zopf“, wenn wir einmal den Namen gelten lassen wollen, schon bei dem geschmackvollen Platon und dem in seinen Terminis wählerischen Aristoteles nachzuweisen. Ja Exner selbst – so sehr ist die Uebertragung gewisser Ausdrücke vom physiologischen auf ’s politische Gebiet nahegelegt – verfällt in seiner Sprechweise unwillkürlich ein wenig in den von ihm verpönten Zopfstil, wenn er S. 24 sagt, wir fühlen uns „als ein lebendiges Atom im Leibe des siegenden oder fallenden, gesunden oder kranken, vor- oder rückwärtsschreitenden Ganzen“ – nämlich des Vaterlandes.61 Und so ist es denn gewiß auch das größte Unglück nicht, wenn Schäffle in einem anerkannt bedeutenden Werke vom „Bau und Leben des socialen Körpers“ die technische Terminologie physiologischer Systeme benützt; abgesehen davon, daß es dem Herrn Rector zu einigen recht artigen Scherzen Gelegenheit bietet.62 16. So wären wir denn auch in Ansehung des zweiten Punktes zu einem uns beruhigenden Ergebnisse gelangt. Bleiben wir nur unserer Überzeugung und der Überzeugung der philosophischen Gegenwart treu, daß nur ein Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft der Geisteswissenschaft zum Heile gereichen könne! Das goldene Zeitalter der Philosophie, welches der Herr Rector hinter uns gelegen glaubte, wird dann vielmehr vor uns liegen, und die Zukunft wirkliche Lösungen von Fragen geben, über welche jene „classische Zeit“ 61

Auch Savigny nennt den Staat ein „organisches Wesen“ und spricht von einer „Gesundheit“ des Staates (Vom Ber. uns. Zeit f. Gesetzgeb. u. Rechtsw., 3. Aufl., S. 42) und ähnlich a. and. O.

62

a. a. O. S. 46. Anhang 12, S. 167.

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nur in arrogantester Weise abzusprechen wußte. Die Ausführungen der Rede enthalten nach den Erörterungen, in welche wir eingegangen, sicher nichts, was geeignet wäre, unser Vertrauen zu erschüttern. Ja noch mehr; ich darf sagen, daß sie, genau betrachtet, eine Bekräftigung dafür sind. Denn mit Befriedigung werden Sie bereits erkannt haben, was ich aber doch auch noch ausdrücklich hervorzuheben verpflichtet bin, daß der ausgezeichnete Gelehrte, dem ich mehrfach entgegentreten mußte, im Grunde genommen die naturwissenschaftliche Forschungsweise auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft selbst wesentlich für die richtige hält. Hören Sie insbesondere noch folgende schöne Stelle: „Hier [auf dem moralisch-politischen Gebiet] wie auf jedem Gebiet menschlicher Erkenntniß “, sagt er S. 35, „kommt es auf die Causalzusammenhänge an, die nur mittelst methodischer Beobachtung des wirklichen Geschehens erkannt werden; einer Beobachtung, die freilich auf diesem Gebiete ihre besonderen Schwierigkeiten hat, wegen der Uebersinnlichkeit der Objecte, wegen der Unmöglichkeit, die Erscheinungen durch das Experiment zu isoliren, wegen des weiten Abstandes von Ursachen und Wirkungen“. – Welcher Anhänger unserer Richtung könnte hier nicht jedes Wort unterschreiben?63 Wenn Exner trotzdem die naturwissenschaftliche Methode verwirft, so kommt dies daher, weil er mit dem Namen speciell das Verfahren auf dem Gebiete der rationellen Mechanik bezeichnet. So haben wir zunächst einen Streit nur im Worte, obwohl ich nicht leugnen kann, daß die ungewöhnliche, und wohl darum auch unpassende, Ausdrucksweise im Verlauf zu sachlich irrigen Consequenzen verleitet. Principiell aber sind und bleiben wir eigentlich einig. 17. Und wenn ich hierüber mich freue, so kann ich von dem vielen Trefflichen, was die inhaltreiche Rede umschließt, noch ein anderes Moment nicht unerwähnt lassen, nämlich, daß Seine Magnificenz in einer in unsern Tagen nicht eben gewöhnlichen Weise ihre Ueberzeugung von dem besonderen Adel der Philosophie zu erkennen gibt. Von den ersten Decennien des Jahrhunderts sagt der Herr Rector, daß damals alles nach philosophischer Bildung verlangte; und so habe sich in jenen Zeiten insbesondere auch „jeder Student, mochte er sonst Theologe, Jurist, Mediciner u. s. w. sein,“ „vor Allem in den tonangebenden großen Collegien sein Theil an philosophischer Bildung“ geholt. „Das“, sagt er, „ist dahin“. Dann aber fügt er die Worte bei: „Aber muß und darf der 63

Wenn ich dies sage, so gebe ich den Worten „auf jedem Gebiet menschlicher Erkenntniß“ eine im Zusammenhang wohl selbstverständliche Beschränkung. Wissenschaften, die gar nichts mit ursächlichen Verhältnissen zu tun haben, sondern, wie die reine Mathematik, nur Größenverhältnisse erforschen, sind nicht einzubeziehen.

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Thron leer bleiben, von dem eine Königin herabstieg?“64 Diese Frage erscheint beim ersten Blicke befremdend, ja wie ein Widerspruch. Denn von der Jetztzeit, wie wir uns erinnern, hatte er uns nicht gesagt, daß sie eines einheitlich dominirenden wissenschaftlichen Interesses entbehre, sondern daß alles in ihr, selbst die bürgerliche Hausfrau, nach naturwissenschaftlicher Bildung lechze. Man sollte also vielmehr erwarten, Exner werde sagen: „Aber von dem Throne, von dem eine Königin herabstieg, hat bereits, als eine andere Königin, die Naturwissenschaft Besitz ergriffen.“ Nein! der Thron erscheint ihm leer. Um unter den wissenschaftlichen Disciplinen an der Universität als Königin geehrt zu werden, dazu genügt ihm offenbar nicht die allgemeine Theilnahme, die eine Wissenschaft findet; es muß noch eine andere Bedingung erfüllt sein, welche nicht wohl in etwas Anderem als in der besonderen Würde bestehen kann, die der Gegenstand ihr verleiht. Nur eine Geisteswissenschaft, meint er, könne darum rechtmäßige Königin der Wissenschaft genannt werden. Und so meldet er seine „politische Wissenschaft“ als etwaige Erbin der Philosophie, der sichtlich hier, ob dem hohen, königlichen Adel ihrer Bestrebungen, eine Huldigung gebracht wird, die der Redner selbst der hochangesehenen Naturwissenschaft zu bringen sich weigert. Mit diesem Gefühl für die überragende Würde unserer Wissenschaft können wir nicht anders als auf ’s Lebhafteste sympathisiren. Es beruht auf Wahrheit. Und diese Wahrheit bleibt, auch wenn manches Andere, was die gedankenreiche Rede aussprach, sich uns als minder haltbar erwiesen hat. Möge sich auch die Prophezeiung von der hohen politischen Bildung des kommenden Jahrhunderts bewähren! Darin läge, bei dem Zusammenhang, der nach meiner Ueberzeugung zwischen der Politik und den anderen, und insbesondere den theoretischen Geisteswissenschaften besteht, beschlossen, daß die Philosophie im 20. Jahrhundert nicht bloß als theoretische Königin wieder mächtiger das Zepter führen, sondern auch eine praktische Herrschaft gewinnen werde, wie sie selbst vergangene Jahrhunderte noch niemals geschaut haben.

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a. a. O. S. 54.

ANHANG Anmerkungen 1. Zu S. 126, 11. Mit dem Fortschritte der Wissenschaft mehren sich die akademischen Bedürfnisse. Im Jahre 1874 an die Universität berufen, war ich noch nicht lange in Wien, als ich das Ministerium um ein Institut für experimentelle Psychologie ersuchte. Hätte dasselbe sich damals bewogen gefunden, meiner Anregung Folge zu geben, so würde Wien den sämmtlichen deutschen Hochschulen damit vorangeeilt sein. Heute haben Wundt in Leipzig, Stumpf in München, Elias Müller in Göttingen, Lipps in Breslau und Andere anderwärts ihr psychologisches Kabinett, und in Wien ist noch nicht der geringste Anfang dazu gemacht. Der Lehrer ist außer Stande, den Schüler in experimentelle Forschung auf psychologischem Gebiete einzuführen, und der Forscher sieht sich in den wichtigsten Untersuchungen aufgehalten, sooft eine Frage gewisse experimentelle Arbeiten unbedingt erheischt. Das sind denn doch wahrhaft schreiende Mißstände! In welcher Weise die Universität Wien in philosophischer Hinsicht kümmerlichst versorgt ist, mag auch der Vergleich mit einer österreichischen Schwesteruniversität klar machen. Wiener Universität

Prager Universität65

Zahl der Studirenden im Wintersemester 1891/92 6220 1460 Zahl der ordentl. Professoren der Philosophie 1 3 Philosophische Seminarien 0 1 Psychologische Institute 0 1 Möchten diese Daten, allgemeiner beachtet, die öffentliche Meinung veranlassen, die Interessen der Universität in dieser wesentlichen Beziehung wirksamst zu unterstützen! Wenn die Beredsamkeit Exners das Ministerium gegen die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Forschungsweise auf dem Geistesgebiete einnehmen, und dadurch die wohl unzweifelhaft jetzt geplante Dotation eines psychologischen Instituts hintanhalten sollte, so würde dies als eine schwere Schädigung der österreichischen Wissenschaft zu beklagen sein.

65

Mit deutscher Unterrichtssprache.

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2. Zu S. 133, 21. Der Gedanke des einheitlichen Gottes für alle Erdbewohner erwies sich mit der Beschränkung des geistlichen Reichs auf ein einzelnes Land und Volk auf die Dauer unverträglich, und der Seherblick, der einem Malachias die in dem religiösen Cultus geeinigte Menschheit zeigt, muß darum gewiß kein Aufblick zu einem staatlichen Herrscherthrone gewesen sein. Exner freilich nennt die katholische Kirche selbst eine politische Macht (S. 44); aber das ist, wie er auch vielleicht nicht leugnen wird, sehr uneigentlich gesprochen. Staat und Kirche sind vielmehr zwei ganz heterogene Erscheinungen; das Evangelium spricht es deutlich aus, und je mehr die kirchlichen Würdenträger sich dessen bewußt blieben, um so segensreicher konnten sie wirken. Andere sind die Waffen, mit denen die Kirche normalerweise kämpft und sich ausbreitet, andere die Bande, durch die sie ihre Einheit naturgemäß knüpft und erhält. Die Speculationen der Historiker über die Unentbehrlichkeit der Traditionen des alten Römerstaates zum Werden und Bestehen der katholischen Kirche sind darum eher alles Andere als ein rechtskräftiger Beweis zu nennen. Ja die Geschichte zeigt, daß für die Kirche und ihre Mission nichts gefährlicher wäre, als wenn weltliche Traditionen Roms sich verunreinigend mit seinen geistlichen Traditionen vermengen wollten. Daß römische Jurisprudenz (oft mißverstanden) das Kirchenrecht beeinflußt hat, ist richtig; daß ohne sie kein Kirchenrecht möglich geworden wäre, ist aber damit nicht erwiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht; das aber ist der Punkt, auf den es hier ankäme. 3. Zu S. 133, 23. Von welchem Theil der alten Welt könnte man sagen, daß Rom ihn „verjüngt“ habe? – Von Unteritalien? – Dies wurde vielmehr von ihm in seiner Vollkraft gebrochen; fand es doch in Syrakus einen Archimedes vor, durch dessen Tod die Welt mehr verlor, als ihr ein römischer Forscher jemals zu ersetzen vermochte. – Oder vom eigentlichen Hellas? – Dies, in der That, traf es im Verblühen. Aber weder ihre Dichter sind den Athenern wiedererstanden, noch haben sie in dem Neuplatonismus anderes als das Zerrbild philosophischer Denktätigkeit gesehen. – Oder soll vielleicht (da an eine Verjüngung Spaniens, Galliens, Britanniens offenbar nicht zu denken ist) die lateinische Literatur uns als eine Verjüngung griechischen Geisteslebens gelten, weil sie, ohne ursprüngliche Kraft, wesentlich nachahmend sich bethätigte? – Aber sollte man hieraus nicht vielmehr das gerade Gegentheil entnehmen? Eines ist Imitation, Anderes ist Renaissance. Gerade die bleibende Unselbständigkeit zeigt, daß zu wahrer Verjüngung bei den Römern die Bedingungen fehlten. – Doch hüten wir uns vor einem Wortstreite! Jedenfalls waren der in Vergil „verjüngte“ Homer und der in Seneca „verjüngte“ Euripides nicht etwas, was

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den Römern ein Recht geben konnte, ihre Leistungen neben die der Griechen zu stellen. Am besten gelang ihnen noch die Nachahmung in untergeordneten Zweigen, was Horaz mit seinem gesunden Sinne sehr wohl erkannt und (Buch IV, Ode 2) mit edler Aufrichtigkeit ausgesprochen hat. „Pindarum, quisquis studet aemulari“ etc. 4. Zu S. 133, 25. Exner unterläßt es natürlich nicht, auch dieses römische Recht unter den Ruhmestiteln des gewaltigen Volkes geltend zu machen. Dagegen schweigt er von den Verdiensten Roms um die Ausbildung der Feldherrnkunst, obwohl auf diesem Gebiet seine glänzendsten Talente sich betätigt haben. Offenbar geschieht dies darum, weil er erkennt, daß die Strategie, trotz ihrer großen praktischen Bedeutung, mit Naturwissenschaft und schöner Kunst denn doch nicht wohl in eine Linie gestellt werden kann. Daß keine Universität einen Lehrstuhl ihr gewidmet hat, zeugt genugsam für ihren geringeren Anspruch auf allgemeine Theilnahme. Aber muß nicht ähnlich auch von der Rechtswissenschaft gesagt werden, daß sie sich zwar mit praktisch Wichtigem, aber, in sich selbst betrachtet, wenig Anziehendem und im Vergleich zu den „unbegreiflich hohen Werken“ der Natur und den unerschöpflichen Reichthümern des Gemüthes ganz Unansehnlichem befasse? – Ihering, der ihr doch selbst sein Leben geweiht, ist unbefangen genug, dies zu bekennen. „Welch ein armseliges Ding“, sagt er (Geist d. röm. Rechts, III, 1, S. 320, Anm.), „wäre es … um den Willen, wenn die nüchternen und niederen Regionen des Rechts das eigentliche Gebiet seiner Thätigkeit bezeichneten!“ In der That glaube ich, daß unter den Laien eine größere Zahl sich finden ließe, die sich für die Kriegskunst eines Cäsar als für die Rechtskunst eines Scävola und Rufus interessirte. Doch, mag die Feldherrnkunst die glänzendere sein, die Rechtskunst ist, allgemein gesprochen, gewiß ungleich wichtiger. Und es liegt mir fern, die hohen Vorzüge des römischen Rechts, für die Exner (S. 48) sich begeistert, und seine eminente Bedeutung für die Jurisprudenz aller späteren Zeiten in Abrede stellen zu wollen. Aber ihm diese Eigenschaft zuerkennen heißt noch lange nicht Exner beistimmen, wenn er sagt, die Römer hätten „in Jahrhunderte lang fortgesponnener genialer Arbeit die Rechtsbegriffe gebildet, welche den Verkehr der civilisirten Welt beherrschen“. Man erkennt wohl sofort, daß Exner hier nicht wörtlich zu nehmen ist; er hat, im Gegensatz zu der poetischen Figur einer Pars pro toto, einer rhetorischen sich bedient, die ein Totum pro parte bietet und, zwar vielleicht nicht seltener in Gebrauch, aber, wenigstens bei wissenschaftlicher Rede, von

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zweifelhafterem Werte ist. Es ist gewiß nicht richtig, daß die alten Römer alle unsere heute herrschenden Rechtsbegriffe geschaffen oder auch nur gekannt haben, da uns vielmehr andere andersher überkommen, wieder andere erst dem modernen Leben entsprungen sind. Doch was wirklich im alten römischen Recht uns überliefert wurde, bleibt jedenfalls mehr als genug, um ihm eine in seiner Art unvergleichliche Bedeutung zu sichern. Wenn wir aber daraufhin von einer „genialen Arbeit der Römer“ sprechen sollen, so werden wir zuvor ein Doppeltes zu berücksichtigen haben: Erstens müssen wir darauf achten, wieviel von dem im römischen Recht Ueberlieferten nicht sowohl als Werk der Römer selbst zu betrachten, als vielmehr anderen Völkern und insbesondere den früher vorgeschrittenen Griechen zuzuschreiben ist. Schon beim Zwölftafelgesetz war griechischer Einfluß fördernd. Eine römische Gesandtschaft hatte ja Großgriechenland und Hellas besucht, um von den griechischen Gesetzen Kenntniß zu nehmen; und wenn es eine Torheit war, zu glauben, die Decemvirn hätten dann einfach die griechischen Gesetze kopiert, oder wenigstens Vieles ohne Weiteres auszugsweise daraus entnommen (da ja doch das römische Gesetz dem eigenthümlich römischen Charakter und den besonderen römischen Lebensgewohnheiten angepaßt sein mußte), so war es andererseits ebenso verkehrt oder noch verkehrter, wenn man dann auf die Meinung kam, die ganze Reise der Gesandten sei ohne jede größere Bedeutung gewesen. Denn die von griechischer Rechtsweisheit ausgearbeiteten Gesetzessysteme konnten sowohl in ihrem technischen Aufbau als in ihrer Harmonie mit dem Geiste des Volkes als Vorbilder dienen, auch wenn (was ebenfalls nicht richtig ist) kein Satz unverändert herüber zu nehmen war. Lykurg hätte den Athenern, Solon den Spartanern sicher ganz andere Gesetze gegeben, als die, welche jetzt ihre Namen tragen, und so ist denn auch der alte Bericht, daß Hermodorus, nach dem Zeugnisse Heraklit’s der beste Mann in Ephesus, durch Ostracismus aus seiner Vaterstadt vertrieben, bei der ersten Fassung des römischen Rechtssystems eifrig mitgewirkt habe, sicher wenigstens darum nicht unglaublich, weil nur echt römische Rechtsanschauungen darin zum Ausdrucke gelangten. Je mehr dies der Fall war, um so bewundernswerter gerade würde die Einsicht und Geschicklichkeit des Griechen, und um so größer auch das Verdienst, welches in ihm der griechische Geist sich um die römische Rechtsentwicklung erworben hätte, erscheinen. Doch diese Förderung war jedenfalls nicht die einzige; mächtiger noch, und zugleich ganz unwidersprechlich erwiesen, ist die, welche das römische Recht später durch die Berührung mit dem Rechte der vorgeschritteneren

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hellenischen und hellenisirten Staaten erfuhr. Das „jus gentium“, welches neben dem „jus civile“ sich ausbildete, war ganz anderen Geistes, ja mit seiner „aequitas“ in einem ähnlichen Gegensatz zu dessen verfänglichem und rigorösem Formalismus, wie die Behandlung ethischer Fragen bei Jesus zu jener in der pedantisch-rabulistischen Casuistik der Pharisäer. Seine Ueberlegenheit machte sich dem Volke und den Juristen Roms mehr und mehr fühlbar und erzeugte die seltsame Kluft zwischen dem „jus honorarium“ der Prätoren und dem „jus civile“, dessen toten Buchstaben das lebendige Walten berichtigte. Es war eigentlich ein Kampf, in welchem der fremde Geist des „jus gentium“ siegreich erobernd in das Gebiet des „jus civile“ eindrang, bis er, durch das „jus extraordinarium“ der Kaiser unterstützt, sich schließlich zum alleinigen Herrn des Ganzen machte. Wie viel das römische Recht solchen verdankt, die nicht im engeren und nationalen Sinne Römer waren, zeigt auch das Verzeichnis der berühmten Rechtsgelehrten. Von den fünf großen classischen Juristen, die das Citirgesetz Valentinian’s III. und Theodosius’ II. (426 n. Chr.) als maßgebende Autoritäten aufführt, waren Gajus und Modestinus Griechen, Ulpian ein Phönizier, und auch Papinian, der größte unter allen, von dem gerühmt wird, daß er, statt nach hergebrachter Art die Worte zu pressen, sie kühn beiseite werfe und aus höheren Principien die Entscheidung schöpfe, ein Asiate. Nur der einzige Paulus war aus Italien, und nicht einmal er aus Latium, sondern aus dem Gebiet der Gallia cisalpina gebürtig. Das spricht denn doch nicht allzusehr dafür, daß die römische Rasse vor allen andern antiken Nationalitäten für juridische Denkarbeit genial beanlagt gewesen wäre. Und dazu stimmt es dann auch noch recht artig, daß Justinian, der durch seinen Codex für das römische Recht das geleistet hat, was die Römer nach Exner für die antike Cultur geleistet haben sollen, nämlich daß er es uns in die moderne Zeit herüberrettete, ebenfalls nicht von römischer Nationalität, sondern ein Slave gewesen ist. Er hieß mit seinem Familiennamen Upravda. Soviel unter dem einen Gesichtspunkt. Zweitens aber, und vornehmlich, müssen wir ins Auge fassen, in welcher Art von Entwicklung das römische Recht seine allmähliche Ausbildung erfuhr. Ich selbst theile die Ansicht sehr bedeutender und von Exner hochgeschätzter Juristen, wenn ich glaube, daß es dabei ganz ähnlich wie bei der Entwicklung einer Sprache zugegangen sei. Wer aber hätte eine solche, auch wenn sie sich wohllautend, fein organisirt und praktisch dienlich zeigte, jemals als Werk „durch Jahrhunderte fortgesponnener genialer Arbeit“ gerühmt? Eine Art natürliche Zuchtwahl ist es, was sie von schwachen, fast structurlosen Anfängen zu höchster Durchbildung führt. Das Gesetz der Gewohnheit vertritt dabei

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Darwin’s Gesetz der Vererbung, und zwar, da ihm nicht blos eine Tendenz zur Erhaltung und Vervielfältigung des Gleichen, sondern auch zur Production von Analogem innewohnt, mit wesentlich gesteigerter Vollkommenheit. Gewiß erscheint auch der Ausdruck „Zuchtwahl“ auf sprachlichem Gebiete etwas minder uneigentlich angewandt als auf phylogenetischem, insofern dort wirklich fort und fort ein gewisses Wählen statt hat. Und so kann man bei einer Sprache, und ähnlich dann bei der Ausbildung eines Rechtes wie das der alten Römer, mit allem Fug auch von einer „Denkarbeit“ reden. Aber diese Denkarbeit, auch wenn sie, durch Jahrhunderte fortgesetzt, von wachsendem Erfolg begleitet war, sollte sie wohl den erhabenen Ruhmestitel der Genialität verdienen? Was soll daran so gar befremdlich sein, wenn eine unter wechselnden und mehr und mehr sich complicirenden Verhältnissen ausnahmsweise lang fortgesetzte Selection eine zu ausnahmsweiser Vollkommenheit durchgebildete Organisation hat entstehen lassen? Müssen wir da wirklich einen eminent überlegenen Geist der Wählenden annehmen, oder genügt der Gedanke, daß der an jede ungeeignete Verfügung geknüpfte empfindliche Schaden bei der Bewegung als mächtiger Regulator wirkte? Bei gar manchem „responsum“ versagte die sententia communis, und es ist niemals „jus“ geworden; und Aehnliches gilt auf cautelarischem Gebiete. Außer den Gewohnheiten des privaten und öffentlichen Lebens kam bei der Bildung der römischen Rechtsbegriffe wohl auch noch die wissenschaftliche Tätigkeit der Rechtslehrer in Betracht. Wie weit aber diese Männer, und selbst die gefeiertsten unter ihnen, als Denker hinter einem Aristoteles zurückstanden, wird niemand verkennen, der z. B. beachtet, wie sie alle gewisse Vorbegriffe der griechischen Philosophie zu entlehnen pflegten, welche (ihre Verehrer selbst versichern es uns) zum Geiste ihrer besonderen Rechtsanschauungen nicht paßten, ohne daß diese Disharmonie ihnen auch nur im Geringsten fühlbar geworden wäre (vgl. z. B. Bluntschli, „Recht, Rechtsbegriff“ in seinem „Staats-Wörterbuch“, VIII, S. 490). Auch Savigny findet, die römischen Juristen hätten, obwohl die Begriffe weder verschwommen noch schwankend gewesen, es meist nicht zustande gebracht, sie treffend zu definieren (Vom Ber. uns. Zeit f. Gesetzgeb. u. Rechtsw. ,3. Aufl., S. 29). Ebenso zeigt der Vergleich der Aristotelischen Lehre von der Entstehung des Staates mit der Ansicht, welche die Römer darüber hatten (Cic. de inv. lib. I, cap. 2) den griechischen Denker in seiner eminenten Ueberlegenheit; und gerade einem Anhänger der historischen Schule, sollte man meinen, müsse sie hier besonders deutlich werden. So verwahrt denn auch Savigny (Vom Ber. uns. Zeit f. Gesetzgeb. u. Rechtsw., 3. Aufl., S. 50), wo er die juristische Literatur der Römer der deutschen gegenüber hocherhebt, sich nachdrücklich dagegen, hiermit behaupten zu wollen, daß die römischen

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Juristen den unseren geistig überlegen gewesen seien. „In dieser Ansicht“, sagt er, „liegt keine Herabsetzung [der deutschen Juristen gegen die römischen], denn unsere Aufgabe ist in der That sehr groß, ohne Vergleichung schwerer als die der römischen Juristen war.“ Damit das Recht zu einem so vollkommen durchgebildeten Organismus erwachse, wie er im römischen Recht des 3. Jahrhunderts n. Chr. sich uns darstellt, ist ein Doppeltes erforderlich; einmal eine reiche und vielfältige Erfahrung, dann ein reservirtes laisser aller von Seiten der Gesetzgebung und Wissenschaft, welches, statt durch energisches Aufsuchen der Principien und Entwickeln fernliegendster Consequenzen den systematischen Aufbau zu beschleunigen, die Erfahrungen selbst sich in natürliche Wechselwirkung setzen läßt. Wie in erster Beziehung durch den längeren Bestand und die weitere Ausbreitung ihrer Herrschaft, so waren die Römer in der zweiten durch ihren geringeren Wissensdurst wohl ungleich besser als die Griechen zu solcher Arbeit befähigt. Denn war das praktische Bedürfnis des Augenblicks befriedigt, so lag ihnen die Verallgemeinerung und der systematische Aufbau des Ganzen wenig am Herzen. Ob aber diese größere Befähigung als genialere Geistesanlage gepriesen werden könne, scheint mir mehr als zweifelhaft. (Vgl. auch Ihering’s Urteil, Geist d. röm. Rechts, 2. Aufl., I, S. 339f.) Wir haben hier einen ähnlichen Unterschied der Dispositionen, wie den, der dem römischen Stuhle den griechischen Patriarchen gegenüber zu Gute kam. Der lebhafte Eifer, der bei den Orientalen für die Ausbildung der dogmatischen Theologie bestand, contrastirt auffallend gegen die ruhige Zurückhaltung Roms. Selbst Papst Gregor der Große war darum, verglichen mit den Kirchenvätern von Constantinopel, Antiochien, Alexandrien, eine wenig glänzende wissenschaftliche Erscheinung. Aber während die Orientalen in den ersten christlichen Jahrhunderten wiederholt durch überstürzte und extravagante Behauptungen sich compromittirten, hat das still zuwartende Rom, abgesehen von seiner Unfehlbarkeit, schon durch sein wissenschaftliches Phlegma sich ungleich leichter und vollkommener in den Grenzen der Mäßigung halten und im Einklang mit der sententia communis sein Urteil abgeben können. 5. Zu S. 134, 26. Es war in der Zeit des beginnenden Culturkampfes, als ich Fechner in Leipzig besuchte, und das Gespräch wandte sich auch der Tagesfrage zu. Fechner zeigte sich darüber tief betrübt; nicht etwa als ob er den Versuch Bismarck’s in seinem kläglichen Ende vorausgesehen hätte, vielmehr weil er für die Kirche, deren Kraft er, wie damals so viele, unterschätzte, den Untergang erwartete. Von den Bischöfen meinte er, sie seien bereits zu aufgeklärt, um noch recht eigentlich an ihre Sache zu glauben. Nicht um in sträflicher Weise

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zu heucheln, wohl aber nur um die moralisch segensreiche Einwirkung des Christentums auf die Massen nicht zu schwächen, bewegten sie sich noch in den von der Orthodoxie vorgeschriebenen Formen. Eine solche Gesinnung aber, dachte er wohl nicht ohne Grund, sei von der begeisterten Überzeugung der ersten Märtyrer allzuweit entfernt, um nicht die Kirche, beim ersten heftigen Zusammenprall mit der staatlichen Gewalt, wie ein thönernes Gefäß am eisernen zerschellen zu lassen. Unsere Zeit, fügte er bei, sei aber durchaus nicht darnach angethan, einer idealen Macht, wie die katholische Kirche, ohne schwerste Schädigung der Gesellschaft zu entbehren. Ich war in der Lage, ihn auf Grund weitreichender Erfahrung in vielen Beziehungen des Gegentheiles zu versichern, und namentlich sagte ich ihm auch voraus, daß die katholische Kirche Deutschlands siegreich und gestärkt aus dem Kampfe hervorgehen werde. Obwohl noch immer nicht ganz beruhigt, freute sich doch Fechner in dem Gedanken, daß Jemand, der mehr als er selbst hier die Chancen zu wägen in der Lage sei, ihm solche Aussichten eröffnet habe. 6. Zu S. 134, 28. Im Jahre 1873 hatte man berechnet, daß Alles in Allem, Städte und Landgemeinden gleichmäßig in Ansatz gebracht, die kirchlich Gläubigen in Frankreich nahezu ein Drittheil des Volkes bildeten. Das war, wie auch Albert Sorel, der Verfasser der Histoire diplomatique de la guerre franco-allemande, da er mir dies mittheilte, hervorhob, immerhin eine sehr ansehnliche Masse. Ihre besondere moralische Tüchtigkeit hatte sich gerade damals durch die im Kriege bewiesene Tapferkeit glänzend erprobt, und auch unter den Freidenkern konnte kein einsichtiger Patriot wünschen, daß die Kirche behindert würde, ihren segensreichen ethischen Einfluß auf sie auch ferner noch zu üben. Aber die zwei Drittheile, bei denen ihr Einfluß Null war, sollte die sittliche Erziehung dieser factisch Ungläubigen gar keine Fürsorge erheischen? – Wenn Einer dies leugnen wollte, indem er vielleicht meint, es wäre gut, wenn der Staat diesen Theil der Bevölkerung gänzlich ethisch verkommen und verwildern ließe, damit dann schließlich der rettende Arm der Kirche angerufen werde, so würde er wahrlich zu einem sehr gefährlichen Experimente rathen. Und nur ein Fanatismus könnte es empfehlen, der weit von dem hohen ethischen Sinn der katholischen Kirche abirrt. Wie bekannt, hat sie es von Alters her als ein schweres Verbrechen bezeichnet, ein Judenkind gegen den Willen der Eltern zu taufen. Warum dies, da sie doch lehrt, daß jeder vor allem ein Kind Gottes und die Taufe für alle bestimmt sei? Ihre Theologen, wie insbesondere auch Thomas von Aquino, begründen es damit, daß das Kind einer ethischen Erziehung bedürfe und die Eltern die natürlichen Erzieher der

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Kinder seien. Man sieht, der Geist der Kirche freut sich nicht an der Verwahrlosung der Moral bei jenen, die nicht an ihr hangen. Ein eigennütziges Interesse ist ihr dabei gewiß nicht maßgebend; aber doch ist ihr Verhalten auch unter dem Gesichtspunkt einfacher Klugheit das allein entsprechende. Denn wenn sie unter den Ungläubigen Freunde findet, die sich mit dagegen zur Wehre setzen, daß sie ungerecht bedrückt werde, so sind es gewiß nicht die sittlich Verkommenen, sondern solche, welchen die Liebe zum Guten, die sie beseelt, für das Edle in der Kirche Sinn und Verständnis gibt. So muß es denn gewiß von jedem Einsichtigen gebilligt werden, wenn der französische Staat einen ethischen Unterricht auch für jene zwei Drittheile nothwendig gefunden hat. Etwas Anderes freilich ist die Frage, ob die Lehrbücher, die jetzt in Frankreich dafür erscheinen, wirklich das sind, was sie sein sollten. Selbst Jodl, wenn er die Moral der Kirche bemängelt, scheint denn doch auch von diesen Producten der Aufklärung nicht eben gar erbaut zu sein. Ich selbst freilich fände noch weit mehr an ihnen zu tadeln, und insbesondere erachte ich jeden polemischen Seitenblick auf die positiv christliche Moral für etwas, was ebenso sachlich ungerechtfertigt ist, wie es der besonderen Bestimmung solcher Lehrbücher zuwiderlaufen würde. Der Reichskanzler Caprivi scheint in einem vielbesprochenen Worte leugnen zu wollen, daß es überhaupt eine natürliche Moral geben könne, die sich wirksam und darum auch für Staatszwecke förderlich erweise; und mit Befremden hörte ich, daß theologisch gebildete Männer ihm hier applaudirten. Diese wenigstens hätten wissen sollen, daß er hier mehr, als die positive Religion selbst, für sie in Anspruch genommen hat. Bossuet, der beredte Eiferer für die Sache der Kirche, sagt in seiner „Histoire universelle“ (III, 5): „Ce que fit la philosophie, pour conserver l’État de la Grèce, n’est pas croyable. Plus ces peuples étaient libres, plus il était nécessaire d’y établir par de bonnes raisons les règles des moeurs et celle de la société. Pythagore, Thalès, Anaxagore, Socrate, Archytas, Platon, Xénophon, Aristote, et une infinité d’autres, remplirent la Grece de ces beaux préceptels. Il y eut des extravangants, qui prirent le nom de philosophes: mais ceux qui étaient suivies étaient ceux qui enseignaient à sacrifier l’intérèt particulier et même la vie à l’intérèt général et au salut de l’État; et c’était la maxime la plus commune des philosophes, qu’il fallait ou se retirer des affaires publiques, ou n’y regarder que le bien public.“ 7. Zu S. 144, 45. Wenn wir den römischen Staat als einen Musterstaat, als ein Meisterwerk höchster politischer Weisheit, bewundern sollen, so möchte ich fragen, wann und in welcher Verfassung er uns als ein solches erscheine? – Etwa zur Zeit wilder Barbarei, wo das rechtliche Walten der Könige im

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Uebermuth, und der Uebermuth in jähem Sturze endet, und schon unter den Dezemvirn das gleiche Schauspiel mit neuen Greuelscenen wiederkehrt? Oder da, wo der Druck des Patriciers dem Plebejer unerträglich wird, beide Stände in mehr als hundertjähriger Feindschaft hadern, die leges sacratae den Staat spalten, und wiederholte Secessionen auch den letzten politischen Verband in Frage stellen? – Oder etwa, dann, da in dem Sieg der Gerechtigkeit der innere Frieden gewonnen scheint, aber in dem Streit der Vornehmen und Niederen sofort ein neuer Kampf entbrennt, ein Kampf, der nicht zu allgemeiner Freiheit führen soll, sondern die allgemeine Knechtschaft vorbereitet? – Erscheint uns die römische Politik vielleicht da in ihrer Höhe, wo die Engherzigkeit der Altbürger den latinischen und den Bundesgenossenkrieg heraufbeschwört (man vergleiche hier die höhere Weisheit Alexanders des Großen), und der Mangel staatlicher Obsorge die Schlächtereien des Sclavenkrieges zur Folge hat; wie denn die proconsularische Verwaltung der Provinzen selbst in dem nahen Sicilien Verrinische Zustände ermöglichte ? – Oder sollen wir das römische Gemeinwesen dann ob seiner Vollkommenheit beneiden, wenn Marius und Sulla sich grausam befehden? oder dann, wenn die Stadt vor Catilina zittert? oder dann, wenn Cäsar das gesunkene Banner des Marius wieder erhebt und als zweiter und siegreicher Catilina den Rubico überschreitet, ein genialer, aber sittlich corrumpirter Abenteurer, der mitten zwischen seinen weltumstürzenden Unternehmungen schier ein volles Jahr in Ägypten mit Cleopatra vertändelt? – Oder vielleicht später, unter den Triumvirn und Duumvirn, wenn Octavian und Antonius Rom mit ihren Proscriptionslisten beglücken, und Fulvia die Zunge des Cicero mit Nadeln durchbohrt? – Oder etwa nach dem definitiven Sieg des Cäsarismus, wo das julische Cölibats- und Orbitätsgesetz und die neuen Sclavenverordnungen uns die häusliche Zerrüttung der Optimaten in grellem Lichte zeigen, und Horaz in den Satiren und Episteln den Verfall altväterlicher Sitten beklagt (vgl. z. B. Epist. 1, 62 ff.), wie denn bald darauf Tacitus dem entarteten Römervolk das beschämende Beispiel barbarischer Germanen entgegenhält? – Oder vielleicht dann, wenn das Haus der Claudier zum Heil der Welt erloschen ist, und eine Reihe hochherziger Kaiser auftreten, aber nichts eine Gewähr dafür bietet, daß nicht auf einen Titus ein Domitian, auf einen Marc Aurel ein Commodus mit gleicher Vollgewalt folgen werde; ja wo selbst die edelsten dieser Herrscher die Christenverfolgungen erneuen, die in blindem und ohnmächtigem Haß die alleinigen Keime einer bessern Zukunft zertreten wollen? – Oder vielleicht zur Zeit der classischen Jurisprudenz, wo Papinian und Ulpian hohen Ruhm gewinnen; aber ein Caracalla, indem er den Einen mordet, den Andern in die Verbannung schickt, zu den Märtyrern des Christentums auch noch Märtyrer weltlicher

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Gerechtigkeit fügt? – Oder noch später, wo der entwürdigte Kaiserthron vollends zum Spielball prätorianischer Horden wird? – Oder vielleicht unter Diocletian, wo die Selbstzerfällung des morschen Reiches beginnt, und der Despotismus die Bürger (jetzt nur noch „subjecti“, Unterthanen, genannt), nicht einmal mehr eine Berufswahl gestattend, in ein Kastenwesen zwängt, während der Monarch als „Numen divinum“ sich verehren läßt? – Oder endlich unter den Byzantinern, da Justinian, den die Geschichte den Großen nennt, das Haupt wieder mächtiger erhebt und mit der Wiedereroberung Italiens zugleich die Restauration des römischen Rechtes versucht; aber wo der Hof in theologische Händel sich mischt, den verdientesten Männern, einem Belisar und Narses, mit Undank lohnen zu dürfen glaubt, und die Spiele der Rennbahn draußen in ernsteren Kämpfen sich fortsetzen, so daß man tagelang in den Straßen mordet, und ein großer Theil der Hauptstadt in Flammen aufgeht? – Wer kann in dieser langen Kette von Elend und Verbrechen etwas anderes als eine eindringliche Mahnung sehn, sich bei der Beurtheilung staatlicher Vollkommenheit nicht an dem Maßstab großer und nachdauernder Machtentwicklung zu halten? Bossuet sagt, wo er von den besseren Zeiten Roms und von den Eindrücken spricht, unter welchen dort schon die Kindheit sich bildete: „Das Einzige, wovon man reden hörte, war die Größe des römischen Namens.“ Er, der Franzose, begeistert sich in diesem Gedanken; wir Deutsche, wenn wir unserem besten Selbst treu bleiben wollen, können solche chauvinistische Hoffart, die, von Geschlecht auf Geschlecht verpflanzt, immer mächtiger wird, nur als verderbliches Laster verabscheuen. So lange die Macht des Staates gering war, mochte die fanatische Gesinnung der wahren Bürgertugend sich ähnlich zeigen, und mit sympathischem Staunen hören wir von der heroischen Aufopferung des Einzelnen für die Rettung der Gemeinschaft. Aber sobald Rom die Oberhand gewonnen hatte, mußte sein eigentliches Wesen sich offenbaren (Sophokles, Antigone 175 ff.); die grausamste Ungerechtigkeit gegen alle anderen Nationen hat damals den Namen der Stadt für alle Zeiten geschändet. Es empört sich unser Gefühl bei dem Chauvinismus der Franzosen; in der alten Geschichte Roms tritt er uns aber noch ungleich häßlicher entgegen. Der Unterschied ist der, daß wir heute ein Volk schauen, das, allseitig reich beanlagt, auch in den Bahnen der Wissenschaft und Kunst, wo jeder Sieg schließlich der Gesamtwelt zum Gewinne wird, den Ruhm des Vaterlandes sucht. Damals aber waltete ein traurig enger Sinn, der nur politische und vor allem militärische Interessen kannte, und darum die Größe des Vaterlandes hauptsächlich durch Thaten verwirklichen wollte, welche die Minderung und den Ruin aller andern Völker bedeuteten.

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Doch nicht blos den fremden Staaten, auch dem eigenen wurde diese Beschränktheit der Römer verderblich; und wer in der Geschichte zu lesen Augen hat, der mag in der ihrigen geschrieben sehn, daß ultrirtes, einseitiges Interesse für Politik dem wahren politischen Interesse eines Volkes zuwiderläuft. Wo, wie bei den Römern, alle höheren Bestrebungen in der Politik aufgehn, da ist es, zwar nicht moralisch, aber sehr natürlich, daß Jeder seinen Anteil an der politischen Gewalt nach Möglichkeit vergrößert. Daher die gerühmte Freiheitsliebe der Römer, die von Anfang an ebensowenig wie die Vaterlandsliebe durch rein ethische Motive bestimmt war. Und auch sie hat, dann und wann mit dem Schein des Edelsinnes bekleidet, anderwärts und allermeist in ihrer eigensüchtigen Niedrigkeit sich enthüllt. Die Patrizier waren Freiheitsmänner, wo es galt, die Könige zu vertreiben, aber nicht, wo es sich darum handelte, den bescheidensten Ansprüchen der Plebejer, mit denen sie im Namen der Freiheit das Königtum besiegt, gerecht zu werden. Und die Plebejer waren Freiheitsfreunde, wenn die Tribunen sie gegen die Patrizier führten, aber nicht, wenn es galt, den latinischen Brüdern oder den italischen Genossen die wohlverdienten bürgerlichen Rechte zuzugestehn. Und wie hat Rom die Provinzen behandelt! Sein Colonialsystem wird gepriesen; aber was waren die römischen Kolonien anderes als Zwingburgen, die zwar unter dem Gesichtspunkt gesicherter Eroberung, keineswegs aber unter humanpolitischem Gesichtspunkt unser Lob verdienen. Wer nur durch solche Mittel seine Eroberung zu behaupten weiß, der sollte sie überhaupt unterlassen. Ja, bis in’s 3. Jahrhundert n. Chr. versagt Rom den Provinzen das volle Bürgerrecht, und da wird es ihnen von einem der schlechtesten Kaiser nur aus dem niedrigsten Motiv habsüchtiger Selbstbereicherung erteilt. So sehen wir von Anfang an nicht eigentlich eine edle Freiheitsliebe die römische Welt beseelen, sondern durchaus nur eine egoistische Gier nach politischer Macht, die vor keiner Unbilligkeit zurückschreckt. Bei den größeren und kühneren Talenten aber artet das Streben nach möglichst erweiterter politischer Gewalt in eine Herrschsucht aus, welche, den Zwiespalt zwischen den Vornehmen und Niederen benützend, rücksichtslos ihr Ziel verfolgt und auch die systematische Corruption von Volk und Heer nicht scheut. Und so mußte denn die Zeit kommen, wo Rom mehr vor seinen eigenen Feldherren als einst vor einem Hannibal zu zittern hatte. Neben der Herrschsucht war, bei dem Mangel edlerer Interessen, die Habsucht das, was die Vornehmen Roms mehr und mehr erfüllte; und die Eigenthumsordnung Roms bot ihr gegenüber der Gesellschaft keine ausreichende Hilfe. Unermeßlicher Reichtum strömte nach Italien; aber dies hinderte nicht, daß die Massen in tiefere und tiefere Armuth sanken. Der Staat verstand

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eben nicht im allergeringsten die Kunst, die Segnungen des Wohlstandes auf alle Classen zu verteilen, und in den Händen der Wenigen sah er ihn, zu deren eigenem Schaden, in rohestem und unnatürlichstem Luxus mißbraucht. Ein besonderes Verderben wurden die massenhaften Sclaven. Sclavenbesitz scheint uns heute mit der wahren Ehrfurcht vor Freiheit und Menschenwürde überhaupt nicht wohl verträglich; dagegen konnte er dem minder verfeinerten Gefühl, wie es der Römer hatte, nicht anstößig sein. Ja die Sclaverei nahm in Rom die widerlichsten Formen an. Mancher Reiche hatte deren mehr als 8000; und schon dies mußte es unmöglich machen, daß, ähnlich wie zu Athen, zu Rom ein gemüthliches Verhältnis zwischen Herr und Knecht sich herstellte, geschweige daß der Römer die hohen philosophischen Gedanken, durch welche ein Aristoteles den Sclavenbesitz rechtfertigen wollte, zu verwirklichen gedacht hätte. Sclavenaufstände, wie die Geschichte keine ähnlichen verzeichnet, setzten ganz Italien in Schrecken und Verwirrung. Und dies war nicht das einzige, noch auch das schlimmste öffentliche Unglück, das der Sclaverei entsprang. Indem den Sclaven nicht bloß Kunst und Handwerk, sondern mehr und mehr auch der Ackerbau des unermeßlich wachsenden Großgrundbesitzes zufiel, wurde dies eine der wesentlichsten Ursachen der Verarmung des einfachen freien Mannes. Und zu welchem Grad sittlicher Verkommenheit sanken nicht die Unglücklichen selbst in solcher Knechtschaft hinab! Es kam dahin, daß ihre Freilassung mehr noch als ihre empörendste Mißhandlung das Gemeinwesen gefährdete. Nicht edler Menschensinn, sondern einzig ein prahlerisches Verlangen nach mächtigem Clientenschwarm pflegte dazu zu führen; und so sichtlich vergiftete ihre Einmischung die Masse der Bürger, daß man schon unter Augustus zu strengen Beschränkungen griff, um diese Quelle vielen Unheils zu verstopfen. An eine pädagogisch-sittliche Fürsorge von seiten des Staates wurde auch da von keinem Politiker gedacht; sie wäre ein crimen laesae majestatis gegen die geheiligte Hoheit des pater familias gewesen. Die Kulturgeschichte des römischen Reiches zeigt – wie es vielleicht einmal bezüglich Rußlands gesagt werden wird – nur zwei Perioden, die von rauher Barbarei und die von importirter sog. Ueberkultur, d. h. einer Cultur, die schon mit allen Culturkrankheiten behaftet war, und die zudem, mehr äußerlich angenommen als innerlich eigen gemacht, die alte Roheit des Volkes wesentlich bestehen ließ. Man denke hier nur an die brutale Hoffart der Triumphzüge und die Unmenschlichkeit der Gladiatorenspiele, und wie über solcherlei Genüsse selbst ein Cicero (Epist. 126, ad M. Marium) sich, zwar mit blasirter Gleichgiltigkeit, aber ohne jede ethische Entrüstung, äußert. So weiß

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er auch in der Rede gegen Verres nicht an das Mitgefühl für die grausamste Mißhandlung eines Menschen, sondern nur eines römischen Bürgers zu appellieren. Unsere Rechtsgelehrten sagen, daß die Römer den Begriff des Rechts von dem des ethisch Guten losgelöst hätten (Bluntschli, „Recht, Rechtsbegriff “ in seinem Staatswörterbuch, VIII, S. 490; vgl. auch das Vorausgehende). Dem entspricht es, wenn in der Geschichte ihr Staat von der wahren Tugend entblößt erscheint. Aber seine Geschichte zeigt auch, wie verkehrt es ist, in dieser Loslösung, wie zu meinem Staunen gewisse Juristen es tun, einen Fortschritt, statt eines verderblichen Irrthums im Principe selbst, erblicken zu wollen. Wie wesentliche Dienste übrigens dieses unmoralische Römerreich der Moral und der auf Moral gegründeten Politik zu leisten vermochte, habe ich schon in meinem „Ursprung sittlicher Erkenntniß“ hervorgehoben und bekenne heute noch so wie damals meine Ueberzeugung von ihrer vollen Größe. (Vgl. auch Domat, Traité des Lois ch. 9, Oeuvres, nouv. édit. Paris 1835, I, 26.) Nicht ohne guten Schein wird nach alledem nun wohl einer sagen: Du beschuldigst die Politik Roms, könnte man nicht ähnliche Anklagen, mehr minder, gegen jedes Staatswesen, von dem die Geschichte weiß, erheben? – Aber wenn dem so ist, was folgt daraus Anderes, als daß es überhaupt bis jetzt eine politische Wissenschaft nicht gibt, die ihrer hohen Aufgabe gewachsen wäre? Sie ist, wie auch andere Zweige der Geisteswissenschaft, wegen besonderer Schwierigkeiten (vgl. Exner, a. a. O. S. 35), im Vergleich mit den Naturwissenschaften sehr beträchtlich zurückgeblieben, und wird ihnen auch nie würdig zur Seite stehen, ehe sie (wozu erst in der neuesten Zeit die Hoffnung vorhanden ist), unter Benützung der dort gegebenen großen Vorbilder, sich die Methode des richtigen Verfahrens anzueignen vermocht hat. Die Nationalökonomie steht noch fast in der Kindheit; und wie könnte man da glauben, daß die andern Theile der Staatswissenschaft bereits zu so gereifter Vollkommenheit gediehen seien, um wahrhaft entsprechend das gesellschaftliche Leben zu ordnen? – Nein, mit der politischen Oekonomie fallen auch die andern socialen Wissenszweige wesentlich noch ganz ins Bereich der Zukunft. (Vgl. m. Psychol. v. empir. Standpunkt, I, S. 26 ff.) 8. Zu S. 145, 46. Exner macht S. 48 auf die Etymologie des Wortes „civilisirt“ aufmerksam; es komme von „civis“, d. i. „römischer Bürger“, und so liege darin eine gerechte Anerkennung der Culturverdienste der Römer. „Civilisation“, sagt er, „deutet mit Grund auf eine gewisse Zugehörigkeit zum Bannkreis der politischen Gedanken und der juristischen Begriffe Roms.“ – Ich kann dies

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nicht zugeben, da wir den Ausdruck auch auf vorrömische gesittete Völker, wie Griechen und Egypter, anzuwenden pflegen. Wenn irgend etwas, so könnte man aus ihm die Sterilität des Römerthums auf allen geistigen Gebieten außer dem des politischen Lebens herauslesen; denn durch diese wird es nur zu sehr begreiflich, warum der Römer den Unterschied der Cultur von der Barbarei wesentlichst als einen politischen faßte. Bei der Nachwirkung römischer Sprache in der modernen Namengebung lebt dieses Erinnerungszeichen an die relative Unfähigkeit des römischen Gemeinwesens zur Entfaltung allseitigen Geisteslebens nun auf ewig fort. 9. Zu S. 146, 52. Kaum jemals hat ein hervorragender Jurist den Code Napoléon härter gerichtet als Savigny im Jahre 1814 (Vom Ber. uns. Zeit f. Gesetzgeb. u. Rechtsw.) es gethan, und überhaupt hat er hier die französischen Juristen am Ende des 18. Jahrhunderts überaus abfällig beurtheilt. Dies stimmt mit Exners geringschätzigen Worten gar wohl zusammen. Aber schon im Jahre 1828 drängten den edlen Mann sein Gerechtigkeitssinn und seine Wahrheitsliebe zu förmlichem Widerruf. Ohne für den Code Napoléon größere Sympathien zu zeigen, erklärt er doch in der Vorrede zur 2. Auflage sein „Totalurtheil“ über die französischen Juristen der letzteren Zeiten für „völlig einseitig und ungerecht“. „Die Ursache dieser Einseitigkeit“, fügt er bei, „lag theils in der aufgeregten Stimmung gegen diese Nachbarn, die in jenem Zeitpunkt so natürlich war, theils in meiner unvollständigen Kenntnis ihrer Literatur, und ich benütze gerne diese Gelegenheit, jenes zugefügte Unrecht durch ein offenes Bekenntnis gut zu machen.“ Interessant ist, daß Savigny in der weiteren Ausführung im Besonderen auf Schriften des Grafen Philipp Anton v. Merlin mit hohem Lob zu sprechen kommt, welche „wahre Muster gründlicher, scharfsinniger, geschmackvoller Behandlung von Rechtsfällen“ seien. Es ist dies derselbe Merlin, der 1794 Präsident des Nationalconvents wurde und es bis zu dessen Ende verblieb. Noch am Tage vor seiner Auflösung legte er dem Convent einen Codex der Verbrechen und Strafen vor, welcher, von der Versammlung angenommen, bis 1811 in gesetzlicher Kraft bestand. Wie viel in der Anerkennung liegt, die Savigny ihm hier als Juristen spendet, erkennt man noch besser, wenn man vergleicht, wie der berühmte Rechtslehrer (ebend., 3. Aufl., S. 126f.) über die Beziehungen von Theorie und Praxis urteilt. 10. S. 146, 54. Es ist richtig, daß das 18. Jahrhundert in politische Irrthümer verfiel, die weder das 17. Jahrhundert noch auch frühere Jahrhunderte gekannt hatten; den Radicalismus Rousseau’s werde ich nicht vertheidigen. Aber wenn sein Princip der Volkssouveränität verwerflich erscheint, war

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vielleicht die politische Grundanschauung des Hobbes in seinem Leviathan und die der Juristen des 16. Jahrhunderts mit ihrem „cujus regio, illius religio“ weniger zu verdammen? Oder war etwa die politische Lehre, mit welcher im 14. Jahrhundert Huß bei den Massen das mächtigste Echo fand, aufgeklärter und eher praktisch durchführbar; eine Lehre, nach der eine im verborgensten Dunkel begangene Todsünde jeden staatlichen und kirchlichen Beamten, den Kaiser und Papst mitinbegriffen, de lege lata seiner weltlichen oder geistlichen Autorität entkleiden und alle seine Akte der Rechtsgiltigkeit berauben sollte? Zudem vermisse ich bei Exner eine, wie mir scheint, sehr wesentliche Unterscheidung; nämlich die zwischen der Richtigkeit politischer Ansichten und der Höhe politischer Bildung. Pascal hat in einer seiner Pensées (Raisons de quelques opinions du peuple) und öfter den Gedanken durchzuführen gesucht, daß die Ansichten des Ungebildeten vom Halbgebildeten verworfen, vom Ganzgebildeten aber vielfach wieder aufgenommen würden; freilich mit dem Unterschied, daß dieser nun einsieht, wofür jener keinerlei logische Rechtfertigung besaß. Auch viele Andere haben Aehnliches bemerkt, und es ist so geradezu sprichwörtlich geworden, daß die Halbwisser unter allen die schlimmsten seien. Pascal achtete besonders gerade auf moralisch-politische Fragen; Andere haben den Satz auf anderen Gebieten bewährt. Bekannt ist der Ausspruch des Kanzlers Bacon, daß das halbe Wissen von Gott ab, das ganze wieder zu ihm hinführe. Und wenn einer hier mit der Zustimmung zögern sollte, so wird er doch wahrscheinlich sofort zugeben, daß der Skepticismus Hume’s, welcher der ganzen empirischen Wissenschaft den Boden entzieht, eine Verirrung war und in den althergebrachten Ueberzeugungen die richtige Ansicht bekämpfte. Aber der Irrthum in dieser so wesentlichen Frage war durchaus nicht die Folge eines Rückschrittes philosophischer Bildung, vielmehr ein Zeichen vorschreitender Forschung, die sich hier durch Irrthum den Weg zur Erkenntniß brach, wo frühere Zeiten zwar allerdings die Wahrheit (wenigstens annähernd), aber nur in blindem Glauben besessen hatten. 11. Zu S. 147, 59. Was das römische Recht anlangt, so scheint Exner dem Vorwurf eines Widerspruches Raum zu geben, den man auch schon bei älteren Romanisten historischer Schule rügen wollte. Einerseits leugnet er, daß es politische Regeln gebe, die von absoluter Geltung und darum über Raum und Zeit erhaben sind (S. 50), andererseits glaubt er, daß sein geliebtes römisches Recht trotz allem Wechsel der nationalen Charaktere und der wissenschaftlichen und religiösen Anschauungen, und trotz den tiefgreifenden Veränderungen, welche Industrie und Handel in dem Völkerleben geschaffen, heute so wie zur Zeit der Römer selbst über die ganze gebildete Welt segensreich seine Herrschaft

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behaupte (S. 48). Es scheint, als ob der Satz, daß auf politischem Gebiet kein Gesetz auf absolute Geltung Anspruch habe, auch auf diesen Satz selbst angewandt werden, und so dem römischen Recht eine Art Ausnahmsstellung ermöglicht werden solle. Doch schon Savigny hat, zum Staunen von Schülern wie Gegnern, vielfach sogar solche Institute des römischen Rechts für überlebt erklärt, deren Geltung selbst die rationalistische Schule nicht angefochten hatte. Exner ist sicher derselben Überzeugung, die nur durch die rhetorische Färbung der Stelle unkenntlich wird. 12. Zu S. 148, 62. Es soll und darf hier nicht geleugnet werden, daß die öffentliche Meinung, die augenblicklich mehr und mehr zur Anwendung naturwissenschaftlicher Methode auf geistigem Gebiete ermuntert, hier oft zu wahren wissenschaftlichen Vergehen und Verbrechen Anlaß gibt. Gerade der Anhänger solcher Forschungsweise hat am meisten Grund, dies zu beklagen; die Fehler rächen sich nicht blos, früher oder später, an dem, der sie beging, sondern die Methode selbst läuft, wie gelegentlich schon Helmholtz klagte, Gefahr, durch sie compromittirt zu werden. Ich will hier mehrere Klassen solcher Verkehrtheit namhaft machen: 1. Der Fall naturwissenschaftlicher Schminke. Man gibt sich äußerlich den Anschein, als ob man nach naturwissenschaftlicher Methode vorgehe, während innerlich aller Ernst fehlt. Es gibt Gimpel genug, die man mit ein paar Redensarten und „angenehmen Holzschnitten“ (um Lotze’s Ausdruck zu gebrauchen) fangen kann. 2. Der Fall des Wechselbalgs. Man bringt unter geisteswissenschaftlichem Titel größtentheils nur Excerpte aus naturwissenschaftlichen Disciplinen. Das magere Hühnchen mit dem Gefüllsel scheint ein ganz ansehnlich fetter Braten geworden. Aber natürlich ist die Geisteswissenschaft damit um keine einzige Entdeckung bereichert; ja die Untersuchungen, welche die allerwesentlichsten sind, werden nun oft völlig sistirt. So ist es in der Psychologie durch eingelegte Wiederholungen aus den Handbüchern der Physiologie ergangen, wobei zudem gesagt werden muß, daß für die betreffenden Fragen diese Handbücher die weitaus besseren Rathgeber bleiben. Der Fall ist auch noch in anderer Weise gegeben. Wenn es sich auf geisteswissenschaftlichem Gebiet, wie z. B. in Logik, Ethik und Aesthetik, um Gesetze im Sinne eines Gebotes handelt, so substituiren Manche (vgl. für die Aesthetik z. B. Scherer’s Poetik) der Frage nach einem Soll die Frage nach einem Muß, und meinen, nur so naturwissenschaftlich correct zu verfahren, weil weder die Geometrie fragt, ob die Summe der Winkel eines Dreieckes

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zwei Rechten gleich sein sollen (sondern nur, ob sie es allgemein und nothwendig wirklich sind), noch auch die Mechanik, Elektricitätslehre, Chemie u. s. w. je nach einem Gesetz in anderem Sinn als dem einer allgemeingiltigen Thatsache forscht. Wenn Exner (S. 45) „eine blühende Criminalistenschule Italiens“ mit Recht beschuldigen sollte, daß sie „die Strafrechtswissenschaft in Psychiatrie auflöse“, so wäre hier der Fall eines solchen Quidproquo in weitestem Umfange verwirklicht. 3. Der Fall dilettantischen Uebergriffes eines Naturforschers in geistige Gebiete. Solche erfolgen oft mit großem Leichtsinn und Übermut. Ein Naturforscher, der, auf seinem eigensten Feld arbeitend, mit aller gebotenen Umsicht vorgeht, erlaubt sich manchmal auf einem Geistesgebiet in der frivolsten Weise abzusprechen. Es ist, als ob er, die Grenze überschreitend, plötzlich ein anderer Mensch geworden wäre und seinen ganzen, durch wissenschaftliche Uebung wohldisciplinirten Charakter verloren hätte. Das Vertrauen auf die naturwissenschaftliche Methode verkehrt sich bei ihm in gewisser Weise in ein Vertrauen auf sich selbst. Jeder Einfall wird ihm zur gesicherten These. Er unterläßt es, ihn durch ein leicht mögliches Experiment oder durch den Vergleich mit einer schon beobachteten und allbekannten Thatsache zu controlliren, ja er beugt die Thatsachen seiner Theorie, statt diese gehorsam ihnen zu unterwerfen. Mit ihm selbst leben aber dann immer auch noch etliche Andere in dem Wahn, daß er, der Mann der Naturwissenschaft, jedenfalls auch hier nach naturwissenschaftlicher Methode verfahre, und daß keiner der Fachmänner, auch wenn sie das sorgfältigste Studium daran wenden, dies mit ähnlicher Vollkommenheit vermöge. Der Trugschluß ist von vornherein recht scheinbar, und Jeder, den die Erfahrung nicht gewitzigt hat, mag sich etwas zu ihm geneigt fühlen; wenn er sich aber dann, einmal um das anderemal, getäuscht findet, wird er sich vielleicht mit Staunen nach dem Grund einer so häufig wiederkehrenden Erscheinung fragen. Gewiß darf dieser nicht ausschließlich darin gesucht werden, daß die Beobachtung auf besonderem Gebiete besonderes Talent erheische und darum die auf einem Feld glänzend bewährte Begabung auf einem anderen oft ganz und gar versage. So richtig dieses an und für sich sein mag, so wenig kann es doch bei einem Phänomen, wie es uns hier vorliegt, zur Erklärung ausreichen. Sollen wir vielleicht sagen, daß das Herz eines solchen Naturforschers gewissermaßen schon anderwärts vergeben sei und er darum die Geistesfragen nicht mit gleicher Liebesmühe umwerbe, während diese doch nicht minder spröde sind? – Oder sollen wir den Grund darin vermuten, daß der

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Naturforscher auf dem Geistesgebiet sich dem scharfen Auge seiner Zunftgenossen entrückt und überhaupt, vor einem überwiegend urtheilslosen Publicum, unter weniger strenger Controle fühlt und nun auch einmal in frei ausschweifender Bewegung sein Mütchen kühlen möchte? (Lavoisier weist am Beispiel der raschen kindlichen Entwicklung nach, wie förderlich es sei, wenn jeder Fehltritt sofort und empfindlich sich strafe.) – Oder erklärt sich uns der Fall daraus, daß die Gewöhnung am meisten unter ähnlichen Verhältnissen wirkt, und darum die alten guten Gewohnheiten eines Forschers, die, solange er auf dem heimischen Gebiete weilte, ihm treulich dienten, auf dem fremden Boden ihn plötzlich verlassen? – Oder haben wir die Erscheinung darauf zurückzuführen, daß der Forscher gewisse Schwierigkeiten, mit denen er anderwärts zu kämpfen hatte, hier entfallen sah, und nun vertrauensselig alles leicht nimmt, ohne etwas von den besonderen Mißlichkeiten und Gefahren des neuen Gebietes zu ahnen? – Oder ist der Grund seines Abfalles von sich selbst darin zu erkennen, daß die philosophischen Fragen so viel und so lange gewissenlos und schwindelhaft behandelt worden sind, und derjenige, der das Geistesgebiet als Fremdling betritt, leicht und unvermerkt etwas von den lockeren Sitten des schönen Landes annimmt? – Alles dies und noch manches Andere mag, das Eine öfter, das Andere minder oft, und nicht selten Mehreres davon zugleich, als Ursache beteiligt gewesen sein. Insbesondere aber spielt gewiß auch oft ein Fehler hinein, wie wir sie an nächster Stelle besprechen werden. 4. Der Fall von logischer Unkenntniß. Es bekennt sich Einer in ehrlichem Glauben zur naturwissenschaftlichen Methode und will nach ihr verfahren; aber, da er sie nicht genugsam kennt, so entspricht seinem Wollen nicht sein Können. Wir führten in dem Vortrage aus, daß der in naturwissenschaftlicher Weise Forschende sich dem Gegenstand anpasse. Mit einer vagen, allgemeinen Vorstellung von naturwissenschaftlich-empirischem Verfahren ist es also nicht gethan. Auch gibt es Leute, die sich niemals die Theorie der inductiven Forschung explicite zum Bewußtsein zu bringen suchten. Sie hantiren aber, von einem Fachmann praktisch zu guten Gewohnheiten geführt, nicht ohne Geschick und Erfolg auf einem gewissen, engen Gebiete. Nun betreten sie ein anderes und wenden hier ein Verfahren an, welches zwar ihrem Drill entspricht, aber von der Logik der Forschung, wie sie nur in dem Ganzen der Naturwissenschaft anschaulich verwirklicht ist, entschieden mißbilligt werden muß. Im Vortrage haben wir diesen Fall bereits etwas erläutert. Ein hierhergehöriger, besonders häufiger Fehler ist es, wenn einer die Forschung nach Analogie der Naturforschung mit einer Forschung verwechselt,

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welche auf dem Studium derselben Classe von Phänomenen beruhe, wie die Erforschung der Natur; wie denn z. B. Manche so thöricht sind, nur auf Erscheinungen des Sehens, Hörens, Tastens, nicht aber auf Erscheinungen der s. g. inneren Wahrnehmung, wie Urtheilen, Vorziehen, psychologisch sich stützen zu wollen. Eine weitere Verkehrtheit, die damit zusammenhängt, ist das HysteronProteron, welches man begeht, indem man die Genesis psychischer Erscheinungen begreifen will, ohne sie an und für sich noch ordentlich betrachtet und beschrieben zu haben; es ist dies, wie wenn einer die Physiologie ohne anatomische Vorstudien betreiben zu können glaubte. Trotzdem pflegen gerade Naturforscher häufig in diesen Fehler zu fallen, weil bei der Analyse psychischer Erscheinungen in ihre Elemente weniger als bei der genetischen Psychologie mit dem Secirmesser gearbeitet werden kann. 5. Der Fall des Uebersehens der Grenze zwischen lehrmäßigem Wissen und wissenschaftlichem und künstlerischem Takt. Pascal sagt, die wahre Dichtkunst spotte der Dichtkunst, die wahre Beredsamkeit spotte der Beredsamkeit, die wahre Moral der Moral; und über Bismarck hörte ich deutsche Professoren der Staatswissenschaften Klage führen, daß er von der Staatswissenschaft verächtlich rede. Ja Pascal sagt, noch weiter greifend und das ganze Geistesgebiet umfassend: „se moquer de la philosophie c’est vraiment philosopher.“ Dies hindert ihn aber nicht, in einer feinen Abhandlung „Ueber die Kunst zu überzeugen“ selbst einige logische Regeln aufzustellen; und so sind überhaupt solche Aussprüche immer cum grano salis zu nehmen. Es wäre eine grundverkehrte Meinung, wenn man aller Geisteswissenschaft, oder auch nur aller praktischen Geisteswissenschaft und ihren Regeln den Wert absprechen wollte. Gewiß kann und soll es eine Ethik, gewiß kann und soll es eine Logik und insbesondere auch eine Logik der Forschung geben. Aber dennoch werden ihre Regeln immer viel zu wünschen übrig lassen, was der Takt ersetzen muß. Und wenn solches auf praktischem, wie sollte es dann nicht ähnlich auf theoretischem Gebiete gelten? Es lerne einer der Psychologie so viel er wolle, er wird dadurch nimmer ein Menschenkenner werden, wie Darwin ihn uns in der Person seines Vaters schildert, wenn er nicht auch dessen wunderbar sicheren psychologischen Takt sich eigen machen kann. Wer glaubt, bei naturwissenschaftlicher Methode bestehe jene Grenze nicht mehr, die, nach Pascal, nur der „esprit fin“ überschreitet; sie könne den „esprit géometrique“ unumschränkt zum Herrn des Ganzen machen, der wird dadurch nur zu Torheiten geführt, die ihn selbst und vielleicht auch seine naturwissenschaftliche Methode in den Augen Anderer herabsetzen werden.

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Der gedankenreiche und verdienstvolle Fechner hat uns ein Werk geschenkt, welches nach naturwissenschaftlicher Methode ästhetische Fragen behandeln will. Er nannte es „Vorschule der Ästhetik“. Kein Künstler oder Kunstkritiker wird durch dieses Buch (das übrigens des Verfassers völlig würdig ist) wesentlich gefördert werden. Wenn aber einer dieser Elementarschule in ähnlichem Geist eine ästhetische Mittelschule und Hochschule folgen lassen wollte (und wenn er sich auch nicht dahin verstiege, aus der Combination sämmtlicher ästhetischer Urelemente das schlechthin schönste unter allen möglichen Gemälden und die schlechthin vollkommenste unter allen möglichen musikalischen oder poetischen Compositionen herauszurechnen), so würde sich etwas ergeben, worüber nicht bloß ein Pascal, sondern wohl jeder, der sich einigermaßen auf Kunst versteht, nur lächeln könnte. Diese Bemerkungen, hoffe ich, werden es verhüten, daß mein Auftreten für die wahre naturwissenschaftliche Methode mit einer Befürwortung alles solchen Mißverhaltens verwechselt werde. Exner konnte dasselbe nicht schärfer verdammen, als ich es selbst thue.

Meine letzten Wünsche für Oesterreich 1894, 1895

https://doi.org/10.1515/9783110621228-013

Vorwort Mehrseitig werde ich von Historikern gemahnt, eine Reihe von Artikeln, im Dezember des verflossenen Jahrs in der Wiener „Neuen Freien Presse“ erschienen, nochmals, zu einem Ganzen vereint, als Broschüre herauszugeben. „Sie enhalten“, versichert man mir, „ein für die österreichischen Verhältnisse am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts wertvolles Dokument, und dies wird auf solche Weise am besten der Zukunft sich erhalten.“ Indem ich hier der Aufforderung entspreche, wird mir zugleich eine andere Rücksicht maßgebend. Verschiedene namhafte Revüen, sowohl in Berlin als im westlichen Deutschland, suchen mich zu neuen Mitteilungen über die besprochenen Vorkommnisse zu bewegen, und dabei wird auch geltend gemacht, daß meine Ausführungen in der „Neuen Freien Presse“, trotz der weiten Verbreitung des Blattes, in ihren Kreisen nicht genug zu allgemeiner Kenntnis gelangt seien. Nun wäre allerdings auch des weiteren noch vieles und erstaunliches zu berichten. Aber schon jetzt, nur notgedrungen und mit Widerstreben, bis hart an die Grenze schuldiger Diskretion vorgeschritten, muß ich des Vorteils, den weitere Enthüllungen der Sache bringen könnten, mich begeben. Dem bereits Mitgeteilten aber ist durch das Erbieten der Cottaschen Buchhandlung, die Artikel neu aufzulegen, gewiß auch im Deutschen Reich die vollste Publizität gesichert. Einen Augenblick war ich im Zweifel, ob ich gut thun werde, mit dem Aufsatze „Meine letzten Wünsche für Oesterreich“ auch die Repliken auf Angriffe einer regierungsfreundlichen Presse wieder abdrucken zu lassen. Schließlich mußte ich mich dafür entscheiden und sogar die gegnerischen Ausführungen mit einbeziehen. Erscheinen die Angriffe schwach, so waren sie eben doch (und das ist bezeichnend) alles, was von jener Seite vorgebracht zu werden vermochte. Auch eine Bemerkung des „Vaterland“, die ich bei meiner Antwort in der „Neuen Freien Presse“ als wenig bedeutend übergangen, mag, da ihr nun doch, wie ich sehe, von mancher Seite ein Gewicht beigelegt wird, bei dieser Gelegenheit ihre nachträgliche Erledigung finden. Die Angriffe richten sich hauptsächlich gegen meine Erörterung der eherechtlichen Frage. Und in Wahrheit erscheint dieser Teil vor allen andern wichtig. Um eines traurigen Paralogimus willen sind nun schon eine ganze Reihe, vielleicht glücklicher, Ehen, und einzelne nach mehr als zwölfjährigem Bestand, gesetzwidrig zerstört worden. Wenn ich mir dächte, das Aufsehn, das mein Scheiden erregt, und die Teilnahme, die mein Schicksal in weiten Kreisen gefunden, könnten hier gerechtere Zustände anbahnen, so würde ich darin die tröstlichste Genugthuung erblicken.

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Von befreundeter Seite wurde mir die Besorgnis ausgesprochen, meine Erörterungen über das psychologische Institut möchten nicht in jeder Beziehung von guten Folgen sein. In Amerika namentlich, aber auch in Deutschland, bestehe gegenwärtig eine Tendenz zur Ueberschätzung der experimentellen Psychologie. „Von jedem Quark und jeder Handwerksleistung auf diesem Felde wird viel Aufhebens gemacht, theoretisch und praktisch; und die fundamentalsten Untersuchungen und Reformen, die ohne Apparate ausgeführt sind und ohne ,angenehme Holzschnitte‘ vors Publikum treten, werden ganz ignoriert oder zu den müßigen Raisonnements geworfen, in die man hineinblickt, ohne sie ernst zu nehmen.“ Und nun wird in freundlichster Weise ad hominem argumentiert und auf den Wert von Untersuchungen hingewiesen, die ich selbst, der Hilfsmittel eines psychologischen Instituts beraubt, teils ohne irgendwelchen Apparat, teils mit relativ sehr einfachen Mitteln durchgeführt habe. „Gewiß“, heißt es dann weiter, „wird ein Lehrstuhl mit einem psychologischen Kabinett nicht einem Rhetor übergeben werden können. Aber es besteht die andere Gefahr, daß er einem Handwerker zufalle, daß das spezifisch philosophische Talent neben demjenigen für Physikalisches und Physiologisches mehr und mehr unterschätzt, und daß auf die Uebung im Technischen zu viel Wert gelegt werde.“ … „Ich sage Ihnen da lauter Dinge, die Sie ebensogut wissen wie ich; sie sind auch in Ihrem dritten Artikel angedeutet; aber nur wer sonst woher über Ihre Ansichten und Forschungen informiert ist, liest es aus den Stellen heraus. Andre werden es mißverstehen und haben es mißverstanden. Sie könnten sich nun gerade auf diese Thatsache berufen, um die Fassung des dritten Artikels etwas zu modifizieren.“ Ich hätte diese Ausstellungen hier nicht mitgeteilt, wenn ich sie nicht in ihrer wesentlichsten Absicht für berechtigt hielte, glaube aber, mich daraufhin der verlangten Abänderungen enthalten zu dürfen. Mein Kritiker gibt selbst zu, daß nicht was ich sage, sondern nur was manche mißverstehend darin finden wollten, verwerflich sei. Dieses Mißverständnis aber erscheint nach dem eben Erörterten ausgeschlossen. Andrerseits halte ich das Bedürfnis nach einem psychologischen Institut für wahrhaft schreiend. Wenn es wahr ist, daß ohne seine Mittel gewisse philosophische, und im besondern auch gewisse psychologische Forschungen im einzelnen durchführbar sind, so erscheint es mir doch schlechthin unmöglich, die Psychologie, ja auch nur die Psychognosie, in ihrer Ganzheit ohne dieselben in entsprechender Weise anzubauen, und gar oft habe ich selbst das Hemmnis störend empfunden. Wie beklagenswert aber, wenn man durch solche Aeußerlichkeiten auf gutem Wege sich aufgehalten sieht! Und noch mehr! Als Forscher mag heute, und sicherer noch in einer nahen Zukunft, ähnlich wie ein Naturforscher, auch ein Philosoph groß genannt

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werden, wenn er seine Wissenschaft auch nur in einer einzelnen Frage fördert. Als Lehrer aber soll er seine Disziplin allseitig zur Darstellung bringen, und auch hierzu bedarf er bei der Psychologie heutzutage unbedingt der Hilfsmittel eines psychologischen Kabinetts. Da kann ich denn unmöglich in etwas willigen, was die in meinem Aufsatze im Interesse Wiens geltend gemachte Forderung abschwächen könnte. Auch scheint es mir geradezu unmöglich, daß, was Preußen, Sachsen, Bayern ihren vornehmeren Universitäten bereits gewährt haben, von Oesterreich der ersten Hochschule des Reiches noch lange versagt bliebe. Von einer anderen Seite wurde mir ein Befremden darüber geäußert, daß einmal Mantegazza, dessen Lektüre doch nicht, und besonders nicht der akademischen Jugend empfohlen werde könne, von mir genannt und mit Männern wie Helmholtz und Hering in eine Reihe gestellt erscheine. Ich habe den nicht unbedeutenden Mann, obwohl auch ich seine am meisten sensationellen Schriften in mehrfacher Beziehung mißbillige, neben wesentlich andern Erscheinungen deshalb aufgeführt, um die ganze Mannigfaltigkeit physiologischen Uebergreifens ins psychische Gebiet anschaulich zu machen. Immerhin habe ich, der Bemerkung Rechnung tragend, jetzt beim Abdrucke den Namen durch einen anderen ersetzt. Sonst erscheinen, von gewissen Druckfehlern und stilistischen Unebenheiten der ersten raschen Niederschrift abgesehen, die Aufsätze völlig unverändert. So ist denn auch die Aufschrift die alte geblieben, und ich erwähne dies ausdrücklich, weil von befreundeter Seite der Titel beanstandet worden ist. So vieles, sagte man mir, und so großes sei auch sonst noch in Oesterreich Bedürfnis. Da nun in meinen Ausführungen das alles unerwähnt bleibe, so könnte mancher, der sie als meine letzten Wünsche für Oesterreich dargeboten sehe, mich mit sehr engem Herzen an den öffentlichen Interessen beteiligt glauben. Doch nicht als bloßen Herzenserguß, nein, in wesentlich praktischer Absicht habe ich gewisse Anliegen vor die Oeffentlichkeit gebracht. Von der Schilderung selbsterfahrenen Undanks hoffte ich die Verhütung der Wiederkehr ähnlicher, der Ehre Oesterreichs abträglicher Vorkommnisse. Von der öffentlichen Darlegung ehelicher Rechtsverhältnisse hoffte ich die Abwendung von Gefahren, die, wie bei mir einst die Wirksamkeit, bei andern noch heute die freiheitliche Existenz, ja, da und dort, ein seit Jahren gegründetes Familienglück bedrohen. Begreiflicherweise habe ich die Frage mit besonderer Sorgfalt untersucht, und daraufhin schien mir der Nachweis hier so scharf und so unwidersprechlich zu führen, daß ich an einer wirksamen Aufklärung der öffentlichen Meinung nicht zweifelte. Was aber die Erhaltung des wissenschaftlichen Charakters der philosophischen Lehrkanzel und die Gründung eines

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psychologischen Instituts anlangt, so hoffte ich, daß das Vertrauen, welches ich durch langjährige Lehrtätigkeit mir erworben, meinem Worte Nachdruck verleihen werde. Hätte ich wohl ähnliches erwarten dürfen, wenn ich mit einem Programm für irgendwelche politische Reform hervorgetreten wäre, oder ein Klagelied über andersartige Mängel der Verwaltung angestimmt hätte? – In keiner Weise. Franz Brentano

I. Zwanzig Jahre sind es, daß ich Oesterreich* und seiner Universität angehöre. Mit einer angestammten warmen Sympathie für Land und Volk bin ich gekommen; die freundlichste Aufnahme habe ich gefunden; und als eine der edelsten Töchter Wiens mir als Gattin die Hand reichte, fühlte ich mich noch mehr mit meinen neuen Landsleuten verbrüdert. Nun sollte gerade dies Anlaß werden, daß ich, mannigfach gekränkt und bedrückt und in meinen besten Absichten für das Gemeinwohl gehemmt, heute daran denke, aus den österreichischen Landen zu scheiden. Wer von denjenigen, die ihm am liebsten sind, Abschied nimmt, spricht Segenswünsche aus und sinnt, was er etwa als passsendes Andenken ihnen hinterlasse. Da finde ich denn nichts geeigenter, als den Einblick in gewisse Uebelstände, die dringlich nach Abhilfe verlangen, und den Wunsch, es möge die öffentliche Meinung, wie sie gewiss leicht von meinem Worte überzeugt werden wird, auch die Kraft haben, die ersehnten Veränderungen herbeizuführen. Vor allem wünsche ich, dass die österreichische Regierung es lerne, für treu geleistete Dienste dankbar zu sein. Ich glaube, sagen zu dürfen, daß die Behandlung, die ich selbst erfahre, genugsam zeigt, wie viel ihr in dieser Beziehung fehlt. Ich habe, auf dem vornehmsten Gebiete der Wissenschaft arbeitend, mein Bestes und mit bestem Eifer geboten. Ich kam in einer Zeit, welche sich über die pomphaft aufgebauschten Lehrsysteme völlig klar geworden war, wo aber die Keime echter Philosophie noch fast gänzlich fehlten. Das Ministerium Auersperg (Stremayr) glaubte in mir den Mann zu erkennen, der am geeignetsten sei, einen solchen Keim nach Oesterreich zu bringen. Man rief mich, und ich folgte dem Rufe. Ich fand die Zustände in hohem Maße traurig; eine Herbartische Lehre, aber keine Herbartische Schule (die Stunde für sie war eben schon vorüber); und dieses Nichts war alles. Bezeichnend für die Lage war es, daß kurz nach meiner Herkunft ein wissenschaftlicher Studentenverein mich einlud, einem seiner Vorträge beizuwohnen. Darin setzte der Vortragende auseinander, es habe eine Zeit der Theologie gegeben; auf sie sei eine Zeit der Philosophie gefolgt; nun aber sei auch die Philosophie abgethan; das, was als einzig berechtigt an ihre Stelle trete, seien die exakten Wissenschaften. Aus der versammelten akademischen Jugend hatte keiner etwas einzuwenden. Ja, daß man zu solchem Vortrage nicht zum Hohn, sondern in allerehrlichster Höflichkeit mich geladen, zeigte mir genugsam, daß man die These bereits für etwas so allgemein *

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Zugestandenes hielt, daß auch der Professor der Philosophie – ähnlich wie manche von dem Apologeten es denken – innerlich von der Nichtigkeit seines Treibens überzeugt sein müsse. So etwas ist denn doch seit langem nicht mehr in Oesterreich möglich. In der That hatte ich alle Anstrengungen gemacht, die auf mich gesetzten Hofnungen des Ministeriums zu verwirklichen. Sechs bis sieben Jahre hatte ich so unter jährlich steigender Teilnahme gewirkt, da drohte plötzlich eine Störung. Ich hatte mich, nachdem ich aus der Kirche, der ich einst als Priester angehört, längst ausgetreten war, verlobt. Infolge der Uneinigkeit der Juristen über die Deutung einiger Bestimmungen des im Geiste der Tolerenz (ich werde darauf noch zu sprechen kommen) wesentlich refomierten österreichischen Zivilrechts erschienen, wenn ich als Oesterreicher die Ehe schlösse, gewisse Chicanen, ja größere Widerwärtigkeiten nicht ausgeschlossen. Und so trat mir der Gedanke nahe, mit meinem alten Heimatsrechte auch den sicheren Schutz der Ehe, die ich einzugehen im Begriffe war, neu zu erwerben. Aber das Unterrichtsministerium vermeinte in meinem Scheiden eine schwere Schädigung der Interessen der Universität zu erkennen. Sowohl der scheidende Unterrichtsminister, als der mit der damals gerade beginnenden Aera Taaffe neu eintretende äußerte mir darum, ich möge, um jene Schwierigkeiten unbekümmert, nur einfach den Eheschluß vollziehen. Aber da ich gewisse Garantien verlangte, wurden sie mir verweigert. Das Ministerium Taaffe stellte sich nach einigem Zögern auf den Standpunkt, daß zur Gültigkeit meiner Ehe die Auswanderung, also die Niederlegung der Professur notwendig sei. Trotzdem wiederholte mir Baron Conrad, ich sei an der Universität schlechthin unentbehrlich. Und daraufhin habe ich nun gethan, was vielleicht mehr als alles Frühere einen Anspruch auf Dankbarkeit von Seiten der Regierung begründete, ich bot an, mich sofort neu als Dozent zu habilitieren. Die Fakultät und die Regierung griffen den Gedanken auf, und der Akt wurde sofort von Sr. Majestät ratifiziert. So nahm ich als Privatdozent die Vorlesungen auf, die ich noch als ordentlicher Professor angekündigt. Und, obwohl von allen Rigorosen und andern Examinen und jedem direkten Einfluß auf die Vertretung meiner Interessen in den Fakultätssitzungen ausgeschlossen, brachte ich es nach etlichen Jahren dahin, daß die Frequenz meiner Vorlesungen wieder die alte Höhe erreichte, ja in den letzen Jahren die Zahl der Inskribierten die höchsten als Professor erreichten Inskriptionsziffern noch merklich überstieg.1 Solche, man darf wohl sagen, gute Dienste weihte ich nun als Privatdozent 1

In den beiden letzten Jahren erreichte sie in der Praktischen Philosophie, bei welchem für die Juristen obligaten Kolleg meine Vorlesungen mit denen von Hofrat Zimmermann und Professor Vogt zu konkurrieren hatten, die Höhe von beiläufig 400.

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vierzehn weitere Jahre der Universität und der Regierung. Natürlich that ich es in der unzweifelhaften und auch geradezu ausgesprochenen Ueberzeugung, daß neue um die Universität erworbene Verdienste einen neuen Anspruch auf die Verleihung einer Professur begründen würden. (Andernfalls wäre ja meine Aufopferung ein in gewisser Weise geradezu selbstmörderischer Akt gewesen.) Die Fakultät zog auch die logische Konsequenz aus dem ersten Schritte, indem sie nach einer Frist, die sie für entsprechend hielt, mich einstimmig und unico loco zum ordentlichen Professor vorschlug. Minister Conrad gab der Fakultät auf ihren Antrag keinerlei Bescheid; mir persönlich erklärte er aber, daß er noch etwas zu früh komme. Er halte für nötig, daß infolge einer Verlängerung der Sedisvakanz die Diskontinuität deutlicher hervortrete. Sowohl mir als der Fakultät war die Verzögerung sehr unangenehm. Mein Ausschluß bei Rigorosen und andern wichtigen Vorkommnissen machte sich empfindlich fühlbar. Eines nur gab einen gewissen Trost: „Je länger das Ministerium die Sache hinauszieht“, sagten mir die Kollegen, „um so unmöglicher wird es sein, daß man Ihnen in unbilliger Weise die Neuverleihung der so lange faktisch erfolgreich verwalteten Professur verweigert.“ Aber sieh da! Es ist anders gekommen. Nachdem ich vierzehn Jahre lang, die ganze Dauer des Ministeriums Taaffe hindurch, bei dem regelmäßig sich erneuernden einstimmigen Vorschlage der Fakultät, jedesmal mit Ausflüchten und halben Versprechungen hingehalten worden war, schien Baron Gautsch schließlich doch zu der Ueberzeugung gelangt, daß er endlich etwas für meine Sache thun müsse. Da aber fiel Taaffe und Gautsch fiel mit ihm und meinte, in der Schnelligkeit nichts andres mehr thun zu können, als mit der Erklärung, welche der Sache günstige Absicht er gehegt, dieselbe seinem Nachfolger aufs angelegentlichste zu empfehlen. Dies ist, wie ich durch einen sehr verläßlichen Gewährsmann weiß, thatsächlich geschehen. Und nun trat ich auch selbst an Herrn v. Madeyski heran. Da ich aber die, wie mir schien, selbstverständliche Bemerkung machte, die durch langjährige Dienste unter einem Ministerium erworbenen Ansprüche könnten doch wohl bei einem Wechsel der Ministerien nicht erlöschen, erwiderte er mir zu meinem Befremden, daß er „diese Ansicht nicht zu teilen vermöge“. Diese Aeußerung erschien mir bedeutungsvoller, als alle Versicherungen des lebhaften Wunsches, meine Angelegenheit im günstigen Sinne erledigen zu können. Und so konnte ich in sein Ansinnen, mich mit einer nochmaligen dilatorischen Behandlung der Frage zufrieden zu geben, unmöglich willigen. Kurze Zeit darauf ließ mir der Herr Minister durch einen hochgestellten Mann offiziell mitteilen, er könne mir die Professur nicht verleihen. Um aber zu zeigen, wie lebhaft er danach verlange, meine schätzbare Kraft der Universität zu erhalten, so lasse er mir folgenden Antrag machen: Ich habe einmal die Gründung eines psychologischen

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Instituts angeregt. Diesen Gedanken wolle er, während es sonst nicht geschehen wäre, um mich zu ehren, jetzt in Ausführung bringen und mir die Direktion des Instituts übertragen. Demnächst werde ein Sektionschef darüber mit mir verhandeln. Dann bekam ich die längste Zeit nichts weiter von der Sache zu hören. Endlich aber kam eine Karte, mit der mich ein Sektionscheft ins Ministerium lud. Und was wurde mir da eröffnet? Daß der Minister entschlossen sei, von meiner Wiederernennung Umgang zu nehmen, wurde mir, wie ich es erwartet, getreulich wiederholt, nur noch mit der Bemerkung, Motive würden keine angegeben. Auch den für eine zu errichtende dritte ordentliche Professur der Philosophie von der Fakultät primo loco vorgeschlagenen Professor Marty in Prag, hieß es dann weiter, werde der Minister nicht nach Wien berufen, und auch hierüber werde in Erörterungen nicht eingegangen. (Marty gegenüber hatte der Minister seinen Entschluss damit motiviert, dass er seine Thätigkeit an der Prager Universität sehr hochschätze, daß aber Wien als Sitz des apostolischen Nuntius besondere Rücksichten erheische.) Hillebrand dagegen (einer meiner jüngeren Schüler) werde zum Extraordinarius ernannt werden. Dann kam der Sektionschef auf das Projekt des psychologischen Instituts. „Was meinen Sie denn mit diesem Institute?“ „Ja, das müssen wir Ihnen nur sofort erklären, daß wir nicht über große Mittel verfügen.“ „Zudem, ich habe eben erwähnt, daß Hillebrand Extraordinarius werden wird. Sie werden einfacher Dozent sein. Nun geht es doch nicht an, den Dozenten über den Extraordinarius zu stellen. Man wird also Hillebrand die Leitung des Institutes übergeben, und der Herr Minister bietet Ihnen an, neben ihm zu fungieren.“ Dies und der ganze Ton des Gesprächs (selbst das war charakteristisch, daß der Beamte mich als „Herr Doktor“ und nicht, wie es allgemein und auch im Ministerium immer üblich gewesen, und wie ich, und wäre es nur auf Grund der einst in Bayern innegehabten Professur, mich noch heute nennen darf, als Professor anredete) zeigte mir zur Genüge, daß man mich brüskieren und moralisch zum Abschiede von der Universität nötigen wollte. Und so antwortete ich denn auch mit einer vielleicht nicht ganz ungerechtfertigten Entrüstung: „Sagen Sie dem Herrn Minister, daß ich den mir gewordenen Antrag schlechterdings unannehmbar finde. Was Se. Excellenz mir anbieten zu dürfen glaubt, steht zu dem, was ich nach dem Urteile vielleicht jedes Billigdenkenden zu beanspruchen hätte, in einem solchen Mißverhältnisse, daß es scheinen könnte, als wolle man zu dem Schaden, den man mir angethan, auch noch den Spott hinzufügen.“ – Das also, nach zwanzigjährigen treu geleisteten Diensten, und nachdem ich vierzehn Jahre der besten Manneskraft unentgetlich dem österreichischen Staate aufgeopfert, der Dank vom Minoritenplatze!

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II. Ich sprach den Wunsch aus, daß unser Oesterreich, wie Arndt es genannt, „an Ehren reich“, nicht durch den Ruf der Undankbarkeit daran geschädigt werde. Ich füge heute einen weiteren Wunsch hinzu: Möge seine Ehre auch nicht durch einen Vorwurf von Unfreiheit und Intoleranz der Gesetzgebung leiden, wo, nach meiner aufrichtigsten Ueberzeugung, das Zivilrecht schon wesentlich reformiert ist. Gerade mein Schicksal indes, fürchte ich, könnte dazu beitragen, solchen falschen Schein zu wecken oder zu verstärken. Man hat mich bestimmt, auszuwandern, um meine Ehe unter dem Schutze des Deutschen Reiches zu schließen. Und zu jedem beliebigen anderen großen Kulturvolk mich wendend, in England, in Frankreich, in den Niederlanden, in der Schweiz, in Italien, ja, wenn ich recht berichtet bin, selbst in Spanien würde ich denselben Schutz, dieselbe Freiheit gefunden haben. Sollte wirklich Oesterreich der einzige größere Kulturstaat sein, dessen Zivilrecht in der Entwickelung so zurückgeblieben wäre, daß es die in meinem Falle so natürliche Freiheit nicht gewährte? Wie gesagt, ich glaube, diesen so bitteren Vorwurf verdient es nicht. Und wenn ich dies bestreite, spreche ich im Einklang mit dem Urteil der beiden größten Schriftsteller der neueren österreichischen Jurisprudenz, auf deren Arbeiten alle wesentlichen Reformen seines Zivil- und Strafrechtes sich zurückführen. Natürlich meine ich hier niemand andern, als Glaser und Unger. Glasers Ansicht ist bekannt. Wie mir, im Privatverkehr, so hat er sie öffentlich, im Parlament, ausgesprochen, wo er sie in seiner Rede vom 8. Februar 1876 als Justizminister vertrat. Ueber Ungers Anschauung aber kann man ebensowenig in Zweifel sein, da er, der einst so gefeierte akademische Lehrer, sie in den Vorträgen an unserer Hochschule vor dem zahlreichsten Hörerkreise Jahr für Jahr darlegte und begründete. Seine Argumentation ist klar und bündig; ich begreife schwer, wie man sie hören und nicht von ihr überzeugt werden kann. Auch Herr v. Madeyski, da er mir Gelegenheit gab, sie vor ihm zu wiederholen, ließ mich durch ein zustimmendes Nicken sein Einverständnis erkennen. In einem Urteile des Landesgerichtes Prag vom 4. November 1876 zu Gunsten der Gültigkeit der Ehe eines aus der Kirche ausgetretenen Priesters wird in ähnlicher Weise und mit aller Schärfe der Beweis geliefert. Der Inhalt des Erkenntnisses ist einfach der, daß durch die Note des Prager Magistrates vom 12. Januar 1875 bewiesen sei, daß der gewesene katholische Priester Franz Pawlovsky am 4. September 1874 seinen Austritt aus der katholischen Kirche und seine Uebertritt zum evangelischen Glauben A. C.

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angezeigt habe, und daß diese Anzeige nach dem Gesetz vom 25. Mai 1868 dem katholischen Pfarramte St. Peter zur Kenntnisnahme mitgeteilt worden. Hierdurch – sagt das Landesgericht – hat Pawlovsky in legaler Weise aufgehört, ein Mitglied der katholischen Kirche und sohin auch katholischer Geistlicher zu sein. Das Ehehindernis des § 63 verbietet nur dem Geistlichen wegen der empfangenen höheren Weihe die Eingehung einer gültigen Ehe. Pawlovsky war also am 28. September 1874 kein Geistlicher mehr, sohin war er auch in keiner Weise gehindert, an diesem Tage eine gültige Ehe mit Anna K. einzugehen, denn der § 63 bestimmt nicht, daß jeder, der die höheren Weihen empfangen hat, nicht mehr berechtigt sei, eine gültige Ehe zu schließen, sondern er beschränkt dieses Hindernis nur auf die Geistlichen und sohin auch nur auf die Dauer dieses Verhältnisses als Geistlicher. Ist nun dieses Verhältnis gelöst worden, und hat die Eigenschaft als Geistlicher aufgehört, so tritt der frühere Geistliche nach § 17 A.B.G.B. in alle Rechte, die ihm vor dem Eintritte in den geistlichen Stand zugestanden haben, sohin auch in das Recht einer gültigen Eheschließung nach § 47, da eben mit der Erlöschung seiner Eigenschaft als Geistlicher auch das mit derselben verknüpfte Ehehindernis aufgehört hat. Da kein Gesetz bestimmt, daß jemand, der die höheren Weihen empfangen hat, für immer Geistlicher bleibe, und da Pawlovsky nach Zulaß des Gesetzes vom 25. Mai 1868, Artikel IV, aufgehört hat, ein Mitglied der katholischen Kirche, sohin auch ein katholischer Geistlicher zu sein, und da durch seinen Uebertritt nach Artikel V alle Rechte der katholischen Kirche auf denselben aufgehört haben, so ist dargethan, daß der Gültigkeit seiner Ehe das Hindernis nach § 63 nicht entgegenstehe. Alles erscheint hier klar und faßlich. Doch nicht bloß noch unmittelbar vor dieser Entscheidung waren für einen andern Fall in allen drei Instanzen entgegengesetzte Urteile gefällt worden, sondern als ich selbst einige Jahre später auf Glasers Rat mit meiner Anfrage an die Regierung herantrat, stellte, infolge eines eigens zu dem Zwecke ausgearbeiteten Gutachtens, auch diese sich wieder auf den entgegengesetzten Standpunkt. Ich habe von dem Inhalt dieses Gutachtens nach allen seinen Teilen Kenntnis. Meinen Fall empfahl es in Rücksicht auf die in meiner Heimat bestehenden Freiheit, die, weil ich Oesterreichs Rufe gefolgt, nicht billigerweise mir verkürzt werden dürfe, in günstigem Sinne zu behandeln; im allgemeinen aber war es der Freiheit ungünstig. Und es geschah dann, daß die Regierung nur dem allgemeinen Teile des Gutachtens beipflichtete. Es erfolgte nun das Niederlegen meiner Professur, das, auffällig wie es war, die

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Aufmerksamkeit auf die Regierungsmaßregel lenkte, was vielleicht auf spätere Gerichtsentscheidungen nicht ohne Einfluß geblieben ist. Denn nun erfolgten die Erkenntnisse, eins um das andere, in einem der Meinung Glasers und Ungers widersprechenden Sinne. So insbesondere eine Plenarentscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 7. April 1891. Entscheidungen dieser höchsten Instanz sind natürlich inappellabel, aber jeder Jurist, und insbesondere auch der Oberste Gerichtshof selbst, ist sich darüber klar, daß sie nicht infallibel sind. Mit einer rühmenswerten Selbstverleugnung hat der Oberste Gerichtshof wiederholt begangene Irrtümer als solche anerkannt und bei neu auftretender Frage den richtigen Bescheid gegeben. Ich erinnere an den merkwürdigen Fall der Valutaprozesse, wo der Oberste Gerichtshof nach einer mehr als zwanzigjährig konstanten irrigen Praxis im Jahre 1890 mutig und gerechtigkeitsgetreu mit ihr brach, eine entgegengesetzte Entscheidung erließ und das Erkenntnis als Maßstab für die Zukunft kennzeichnete. Für unsere Frage hoffe ich mit gutem Vertrauen, daß Aehnliches und nicht einmal nach so lang mehr festgehaltenem Irrtum geschehen werde. Denn in der Motivierung, die wesentlich, ja stellenweise wörtlich (vgl. Links, Rechtsprechung des k. k. Obersten Gerichtshofes S. 322 f., mit Rittner, Oesterreichisches Eherecht, S. 99) einem Werke Rittners (Leipzig 1876) entnommen ist, liegt ein Trugschluß vor. Ich will ihn nachweisen und, ob der Wichtigkeit der Sache, um ihn geradezu handgreiflich zu machen, durch Anwendung auf analoge Beispiele illustrieren. Rittner argumentiert so: „Die Festsetzung des Impedimentum ordinis im österreichischen Privatrechte hat die Bedeutung, daß das Zivilgesetz in diesem Punkte das kirchliche Gesetz recipiert haben will. Da dies ohne eine Einschränkung geschieht, so muß auch das Ehehindernis in dem Maße und in den Grenzen anerkannt werden, als dies im Kirchenrecht der Fall ist. Da nun nach letzterem der Ordinierte auch nach seinem Austritte dem Cölibatsgesetze unterworfen bleibt, so muß dies vermöge des § 63 des A.B.G.B auch für den staatlichen Bereich gelten. Es handelt sich hier nicht um eine Verpflichtung der Kirche gegenüber, sondern um eine zivilrechtliche Beschränkung persönlicher Rechtsfähigkeit.“ Rittner spricht hier in anerkennenswerter Weise faßlich, und das ist, wo ein logisches Versehen vorliegt, immer die größte Erleichterung des Nachweises. Der erste Satz, der zweite Satz sind anstandslos zuzugeben. Gewiß hat der Staat hier ein von der Kirche gegebenes Gesetz recipiert (erster Satz). Ist aber der Inhalt eines Urteiles, so ist auch der Umfang derselbe (zweiter Satz). Der dritte Satz dagegen verlangt eine Emendation. Die kirchliche Anschauung und die

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des österreichischen Staates gehen in einem wesentlichen Punkt auseinander. Nach der Anschauung der Kirche ist ein eigentlicher Austritt aus ihr, wie der österreichische Staat ihn statuiert, gar nicht möglich. Das Unterthanenverhältnis gilt ihr für den Getauften als gänzlich unlösbar. Hat doch ein westfälischer Bischof einmal zum Aergernis der preußischen Protestanten verkündet, daß auch der König von Preußen geistlicher Unterthan des Papstes sei. Nach kirchlichem Rechte sind (wo das Tridentinum verkündet ist) die Eheschlüsse der Protestanten, wenn sie nicht in Gegenwart des katholischen Parochus proprius stattfinden, eigentlich ungültig. Geschwisterkinder-Heiraten unter Protestanten, wenn diese nicht die päpstliche Dispens einholen, leiden unter dem Impedimentum dirimens und sind schlechterdings null und nichtig. Auch zum Fasten, zur Abstinenz, zur österlichen Beichte, zum sonntäglichen Messehören beanspruchen die betreffenden kirchlichen Gebote, Protestanten und Katholiken gleichmäßig zu verpflichten. Der dritte Satz von Rittner sollte demnach in folgender Weise beginnen: „Da nun nach letzterem der Ordinierte trotz etwaigen Austrittsversuches nicht wirklich austreten kann und darum dem Cölibatsgesetze unterworfen bleibt,“ … Und wenn man ihn so emendiert hat, so wird kaum einer sein, der nicht Anstand nimmt, mit Rittner fortzufahren: „so muß dies vermöge des § 63 des A.B.G.B. auch für den staatlichen Bereich gelten.“ Vielmehr ist die einzig vernünftige Gedankenverbindung die: „Da nun aber nach letzterem (dem Kirchenrechte) der Ordinierte trotz etwaigen Austrittsversuches nicht wirklich austreten kann und darum immer in den Augen der Kirche zu den durch den character indelebilis der Taufe ausgezeichneten Christen und den durch den character indelebilis der Weihen ausgezeichneten Geistlichen zu rechnen ist, während nach dem österreichischen Rechte der Austritt unter Umständen wirklich vollzogen, also der Betreffende, als mit keinerlei charakter indelebilis gezeichnet, vom Staate weder für einen Christen noch gar für einen Geistlichen gehalten wird: so muß der kirchliche Satz, obwohl er nach Inhalt und Umfang recipiert ist, doch in den Augen des Staates auf eine ganze Klasse von Personen keine Anwendung haben, auf welche er in den Augen der Kirche anzuwenden ist.“ So ist denn das ganze Gewebe des Arguments zerrissen. Ich glaube, die Sache ist deutlich genug; doch will ich, wie ich es versprochen, sie durch analoge Beispiele noch zur volleren Anschaulichkeit bringen. Karl der Große hat in seiner barbarischen Intoleranz den Sachsen den christlichen Glauben und dann auch kirchliche Gebote, z. B. das Fastengebot, als staatliche Gebote oktroyiert, indem er sogar die grausamsten Strafen für jede Einzelübertretung setzte. Das von ihm auferlegte staatliche Fastengebot war, wenn irgend etwas, die Rezeption eines kirchlichen Gesetzes, also für

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jeden Christen gültig. Denken wir nun, es wäre sein Nachfolger zur Erkenntnis der Immoralität eines erzwungenen Religionsbekenntnisses gelangt und hätte jedem die Gewissensfreiheit gewährt, aus der Kirche austretend zum Heidentum zurückzukehren, im übrigen an der Gesetzgebung nichts ändernd: wie wäre der Fall nach Rittner, und wie nach der gesunden Logik zu beurteilen? – Die Sache ist klar. Rittner müßte, wenn das Argument in seinem Eherecht ihm als Muster diente, so argumentieren: „Die Festsetzung des Fastengebotes für jeden Christen im fränkischen Recht hat die Bedeutung, daß das Zivilgesetz in diesem Punkte das kirchliche Gesetz recipiert haben will. Da dies ohne Einschränkung geschieht, so muß auch das Fastengebot in dem Maße und in den Grenzen anerkannt werden, als dies im Kirchenrechte der Fall ist. Da nun nach letzterem der Getaufte auch nach seinem Austritte dem Fastengebot unterworfen bleibt, so muß dies vermöge des § x des fränkischen Gesetzbuches auch für den staatlichen Bereich gelten. Es handelt sich hier nicht um einer Verpflichtung der Kirche gegenüber, sondern um eine zivilrechtliche Beschränkung persönlicher Freiheit.“ So ganz offenbar ein Rittnerianer. Und wie die gesunde Logik? Ganz entgegengesetzt! Staat und Kirche, wird sie sagen, erklären zwar gleichmäßig alle Christen dem Fastengebot unterworfen. Da aber der Staat gewisse Leute nicht mehr als Christen ansieht, welche die Kirche als Christen und durch den charakter indelebilis der Taufe unabänderlich in ihren Schoß aufgenommenn betrachtet, so ergibt sich selbstverständlich, daß er, im Unterschiede von der Kirche, sie dem Fastengebot nicht unterworfen glaubt. Man könnte dies nun mannigfach variieren und zum Beispiel statt des kirchlichen Fastengebotes das kirchliche Gebot des sonntäglichen Messehörens oder der österlichen Beichte (für die Schulzeit ist dies ja da oder dort thatsächlich geschehen) von dem Zivilrecht recipieren lassen. Wie grotesk würde sich im letztgenannten Falle das Resultat des Rittnerschen Interpretationskunststückchens erweisen! Dieses also führt sich selbst ad absurdum. Und so zeigt sich denn klar, dass, wenn unsere Frage vor das gotteingesetzte und durch menschlichen Machtspruch nicht zu beseitigende Tribunal der Logik gebracht wird, die in der erwähnten Rede unseres verdienstvollen Glaser vertretene Rechtsanschauung unzweifelhaft die wahre ist. Die Wahrheit wird aber endgültig triumphieren. Ueberblicken wir noch einmal rasch den Hauptgedanken! Das dem Kirchenrecht entnommene Gesetz lautet: Geistliche, welche die höheren Weihen empfangen haben, können eine gültige Ehe nicht schließen. Was besagt der Satz? Offenbar, daß jeder, welcher dem Subjekt des Satzes zu subsumieren ist, auch dem Prädikat des Satzes zu subsumieren sei, ohne jegliche Einschränkung.

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Nun aber hört der Staat auf, gewisse Personen dem Subjekt zu subsumieren, indem er einen Modus festsetzt, der den Christen aufhören lässt, vor ihm als Christ und dann natürlich um so weniger als Geistlicher zu erscheinen, während die Kirche bezüglich der Personen, die sie einmal dem Subjekt subsumiert hat, sie auf Lebenszeit ihm zu subsumieren fortfahren muß. Also muß, trotz jener eben anerkannten uneingeschränkten Gültigkeit des Gesetzes, dennoch der Staat einen Teil der Personen von ihm frei denken, den die Kirche ihm untergibt. Herr Rittner, der bei einer früher erwähnten Unterredung mit mir so gut wußte, daß ein gewesener Professor kein wahrer Professor ist, kann unmöglich verkennen, daß ein gewesener Christ und Geistlicher kein wahrer Christ und Geistlicher sei, und bei der Suche nach der passendsten Anrede ist ihm damals der Gedanke, mich mit Euer Hochwürden anzusprechen, doch sicher nicht aufgestiegen. Also dem Subjekt des Satzes subsumiert auch er mich nicht, dann aber gehört ein Meisterstück der Auslegung dazu, herauszubringen, wie ich, obwohl nicht dem Subjekt, doch bei uneingeschränkt universeller Gültigkeit des Satzes dem Prädikat subsumiert werden könne, da der ganze Satz mich offenbar dann gar nichts angeht. Es scheint, ich habe genug gesagt und kann darum die dem Leser vielleicht schon unliebsam lange Erörterung abschließen. Doch darf ich es nicht unterlassen, noch einen Punkt zu berühren. Die Motivierung des autoritativ wichtigsten Erkenntnisses im freiheitsfeindlichen Sinne (7. April 1891) ist, wie ich sagte, wesentlich die von Rittner. Dabei fließt aber (l. c. S. 322) eine Bemerkung ein, die mir zwar in ihrer Kürze nicht ganz deutlich, aber immerhin bei der Wichtigkeit der ganzen Frage genugsam berücksichtigendswert erscheint. Es heißt da, „das kirchliche Cölibatsgesetz sei vom Staat darum recipiert worden, weil es zweifelsohne auch aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Moral zweckmäßig erschien, diesen Punkt der kirchlichen Disciplin dadurch zu unterstützen“. Angenommen, so sei es, so wird sich daran eine Frage knüpfen lassen, die für die Interpretation unseres Gesetzes einige Bedeutung hat. In welchem Falle wird eine öffentliche Ordnung und Moral besser gesichert erscheinen, in jenem, wo wir mit Glaser und Unger, oder in dem, wo wir mit Rittner entscheiden? – Ich denke, unzweifelhaft im ersteren. Nach dieser Interpretation sucht der Staat auch seinerseits zu verhüten, daß kirchliche Beamte sich mit der kirchlichen Disciplin in Widerspruch setzen. Man mag darüber streiten, ob er daran gut thue, aber es begreift sich die Meinung, dass dies zur öffentlichen Ordnung beitrage. Nach der anderen Interpretation sucht er aber auch zu verhindern, daß Leute, die in seinen Augen keine kirchlichen Beamten sind, ja gar nichts mehr mit der Kirche zu schaffen haben,

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eine Handlung setzen, die zwar kirchlichen Beamten verboten, aber sonst ganz unschuldig, ja für das Gemeinwohl höchst nützlich ist, und deren Verbot bei dem Durchschnitte der Menschen die gröbsten moralischen Unordnungen befürchten lassen muß. Auch das hat Glaser mit seinem ethisch wohlwollenden und psychologisch scharfsichtigen Auge wohl erkannt. Hält man, frage ich, die Ehe oder hält man die mehr lockeren Verbindungen von Mann und Weib für Unordnungen? Oder glaubt man diese letzteren sicherer ausgeschlossen, wenn man auch die Ehe ausschließt? Der Cölibat mag ja manche gute Wirkung haben; er erleichtert dem Geistlichen wie dem Offizier die tapfere Hinopferung für die Sache des Gemeinwesens, und im feudalistischen Mittelalter hat er, wie Comte treffend sagt, verhütet, dass die kirchlichen Würden erblich und dadurch erniedrigt wurden; aber die Wirkung, daß die geschlechtlichen Verirrungen besser ausgeschlossen würden, hat er sicher und auch nach der Ansicht der Kirche selbst nicht, sonst würde sie das matrimonium nicht als remedium concupiscentiae bezeichnen. Aber vielleicht sagt einer: Nein, nicht dieser, sondern einer anderen Unordnung soll gewehrt werden. Würde der Staat nicht mit seiner Gewalt die Ehe auch dem gewesenen Geistlichen unmöglich machen, so würde, bei dem so natürlichen Verlangen nach der Ehe, bald der ganze Klerus auseinanderlaufen. – Ich staune in der That, daß es nicht wenige gibt, die diese Meinung hegen, die ebensosehr der Erfahrung widerspricht, als die sittliche Kraft verkennt, die dem Gewissen eines gläubigen Priesters innewohnt. Was soll diese psychologische Klügelei? Man schaue doch auf die thatsächlichen Verhältnisse! Man blicke nach Deutschland! Man vergleiche statistisch die Zahlen der Priester, die sich von der Kirche trennen, und man wird sein Wahngebilde zerrinnen sehen. Ich selbst, der ich mich trennte, kann auf Grund eigener Erfahrung (und auch meine früheren Glaubensgenossen werden mir hier Zeugnis geben) versichern, daß die Rücksicht auf den Cölibat nicht das geringste Gewicht für meine Entscheidung in die Wage legte. Wenn ich mich einst ihrem Dienste weihte, so geschah es, um der Wahrheit zu dienen, und wenn ich mich von ihr trennte, weil ich sonst als Heuchler geendet hätte. Als mir katholische Freunde, von Rom kommend, erzählten, daß man auch dort sehnlich nach meiner Rückkehr verlange und auf jede Weise die Schritte mir erleichtern würde (meine damals noch bestehende Ehe sogar, sei ihnen versichert worden, würde infolge huldvollster Dispens dann kirchlich ratifiziert werden), da erfreute zwar und rührte mich solche Liebe, doch zur Rückkehr bestimmen konnte sie mich nicht. Das könnte nur, was mich eben zum Ausscheiden bewog und mich seitdem auf natürlicherem Wege leitete, – das Verlangen nach Wahrheit.

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III. Zwei Wünsche habe ich ausgesprochen. Aber wie viele andere für das Heil des Volkes, dem ich so treu verbunden war, regen sich nicht in meinem Herzen? – Möchte doch Oesterreich seinen inneren Frieden finden! Möchten seine Völker ob den Unterschieden der Nationalität die Einheit ihrer Kultur nicht verkennen und ihren Hader um relative Nichtigkeiten in einen Wettstreit in der Förderung dieses höchsten, gemeinsamen Gutes verwandeln! Das wäre eine Koalition, für die das Herz sich erwärmen könnte, und wenn unser Koalitionsministerium sie anstrebt und vollzieht, dann möge es dauernd Bestand haben! Es hat ja etwas von fortschrittlichen Elementen aufgenommen. Plener ist darin. Ich hoffe, er wird zeigen, daß er lebendig darin aufgenommen, und nicht, wie manche vorschnell kleingläubig murren, darin begraben sei; denn in diesem Falle könnte sein wahrer Freund nur wünschen, daß er recht bald mit seinem Austritte seine politische Auferstehung feiert. Zu den hohen Gütern der Kultur gehört die Wissenschaft. So gilt denn mein Wunsch insbesondere für diese. Und damit dieser Zweig der Kultur auch weiter noch reiche Früchte trage, so verhüte Oesterreichs guter Schutzgeist, daß die durch Gesetz gewährte Freiheit der Hochschulen jetzt durch die Verwaltung paralysiert werde. Im besonderen gibt hier Wien zur Besorgnis Anlaß; hat doch Herr v. Madeyski erklärt, daß Wien, als Sitz des apostolischen Nuntius, besondere Rücksichten erheische, und daß darum, was der Universität Prag anstandslos gewährt werden könne, von der Universität Wien vergeblich verlangt werden würde. Gesetzlich in seinen Rechten Prag gleichstehend, soll also in der Verwaltung Wien hinter Prag zurückgestellt sein. Kann man es stillschweigend anhören, wenn solche Grundsätze ausgesprochen werden? – Nein! Die Freiheit ist ein zu kostbares Gut. Und nicht sowohl die Studentenschaft, aber der Lehrkörper der Universität wird hoffentlich dagegen protestieren, wenn polnische Courtoisie es dem Herrn Nuntius zum Geschenke macht. Und das thut ein Minister, der selbst Universitätsprofessor gewesen ist! Es lebt in unserer Aller Erinnerung ein trauriges Ereignis aus dem Jahre 1883, welches zeigt, wie, was das Unterrichtswesen anlangt, die Polen ihr Galizien und das übrige Reich nicht gleichmäßig behandelt wissen wollen.2 2

Die „Augsburger Allegemeine Zeitung“ vom 9. Januar 1884 berührt diesen Vorgang mit folgenden Worten: „Während ein Einfluß des Reichsrates auf Galizien fast nicht mehr besteht, übt Galizien vollen Einfluß auf alle Reichsratsländer, und so konnte es kommen, daß im verflossenen Jahre die galizischen Abgeordneten die Schulgesetznovelle zwar für alle andern Reichsratsländer durchsetzten, aber für Galizien selbst

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Vielleicht wäre darum der Herr Minister etwas minder freigebig gewesen, wenn der apostolische Nuntius statt in Wien in Krakau oder Lemberg säße. Der Fall, in welchem die Maxime des Herrn Ministers zum ersten mündlichen Ausspruche und zur ersten faktischen Anwendung kam, war ein solcher, wo es sich um die Philosophie handelte. Diese ist an unserer Universität schon so lang im Wirrsal belassen worden, und nun sollen abermals fremdartige Rücksichten es verhindern, daß das erkannte Beste für sie geschehe. Wie sollte ich da nicht fürchten, daß nach meinem Weggange hier Alles aus dem richtigen Geleise komme? Die Gefahr dazu ist in der That eine imminente. Denn unsere Zeit ist eine Zeit des Ueberganges, des Erwachens der Philosophie nach einer Periode traumhaft willkürlicher Konstruktionen. Das Unkraut ist nicht ausgerodet. Es gehört ein Kennerauge dazu, junge edle Keime in ihrer Besonderheit zu würdigen. Wird das Ministerium, das nach Ablehnung der Universitätsvorschläge kühn für sich vorgegangen ist, wirklich ein solches Kennerauge besitzen? Herr Rittner, in dem Gespräch, das er zuletzt mit mir geführt hat, gestand mir ganz offen, daß er von philosophischen Dingen nichts verstehe. Warum aber, muß man sich dann fragen, hat Herr v. Madeyski gerade ihn sowohl mit dieser Verhandlung betraut als auch nach Breslau geschickt, um den scholastizierenden Bäumker für Wien zu gewinnen? Ist vielleicht – fast fürchte ich es – für den uns so jäh entrissenen David überhaupt noch kein Mann gefunden, der ähnlich wie er für die Philosophie Verständnis und Interesse hätte? In diesem Fall wäre es doch an der Zeit, an die Berufung einer Persönlichkeit wie des Baron Pidoll, Direktors der Theresianischen Akademie, des einstigen treuen Gehilfen von David, zu denken. Zu was für seltsamen Meinungen über das Wesen der Philosophie haben nicht ihre vielfachen Entartungen geführt! Ein angesehener Vertreter der Volkswirtschaft behauptete mir einmal, unter der Philosophie sei diejenige Disciplin zu verstehen, die über alle jene Fragen, über die man schlechterdings nichts wissen könne, Auskünfte erteile. Die Menschen verlangten eben auch darüber Bescheid, und, da Nachfrage sei, so komme es auch zum Angebot, und die Ware habe einen recht bedeutenden Marktwert. So wollte denn er im Unterschiede von mir in der „Zukunft der Philosophie“3 die stete Berechtigung derselben begründen. Ob sich aber so mit irgend welchem Schein auch ablehnen durften – ein widersinniges politisches Unikum, welches natürlich auf Seite der Besiegten große Erbitterung hervorrufen mußte.“ 3

Franz Brentano, Ueber die Zukunft der Philosophie. Mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede von Adolf Exner, Ueber politische Bildung, als Rektor der Wiener Universität. Wien, Alfred Hölder 1893.

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ihre Berechtigung an der Universität begründen ließe, ist mehr als zweifelhaft. Vielmehr wäre der Antrag auf Ausschluß eines solchen prinzipiellen Charlatanismus ganz am Platze. Die Philosophie ist eine Wissenschaft wie andere Wissenschaften und muß darum, richtig betrieben, auch eine mit der Methode anderer Wissenschaften wesentlich identische Methode haben. Die naturwissenschaftliche Methode (ich verweise dafür auf meine eben erwähnte Schrift) ist, das ist heute ausgemacht, auch für die Philosophie die einzig wahre. Und so allein wird sie sich dann auch mit den anderen Wissenschaften im Kontakt erhalten; denn nirgends sind die von uns unterschiedenen Wissensgebiete scharf begrenzt, alle greifen vielmehr irgendwie ineinander über. In allen aufsteigenden Perioden der Philosophie hat diese Methode geherrscht,4 und wo sie verlassen wurde, war ihr Verfall notwendig; der wissenschaftliche Charakter der Forschung war dahin. Mit großer Besorgnis blicke ich darum auf die Möglichkeit, daß dies nach meinem Weggang, wenn nicht sogleich, doch später hier geschehen werde. Dagegen gäbe nun eines mehr als jedes andere die geeignete Garantie: die Errichtung eines psychologischen Instituts, einer Anstalt, die keinem, der nicht nach naturwissenschaftlicher Methode und im Kontakt mit der Naturwissenschaft seine Forschungen betreibt, wird anvertraut werden können. Der philosophische Katheder bekäme darum eine Art von sicherndem Ballast, während jetzt sein wissenschaftlicher Charakter von einem Windstoß, von irgend welcher Richtung kommend, umgestürzt und in das Gegenteil verkehrt zu werden droht. Und nicht bloß zum Ausschluß solcher Gefahr, sondern auch darum muß ich die Errichtung des psychologischen Institutes auf das angelegentlichste empfehlen, weil ohne die Mittel, wie ein solches Institut sie bietet, sehr wesentliche psychologische Untersuchungen gar nicht durchführbar sind. Schon für Descartes, der seinerzeit die philosophische Forschung wieder in die wissenschaftliche Bahn lenkte, machte sich dies fühlbar. In seinen Briefen finden wir die Bemerkung, auf gewisse Untersuchungen, die sehr dringlich seien, müsse er verzichten, weil sie Mittel verlangten, deren Beschaffung die Kräfte seines Privatvermögens überstiegen. In der neuesten Zeit sind eine Menge von Arbeiten der verschiedensten Art, wie die über die Elemente der Empfindungen (zum Beispiel zusammengesetzter Klänge) und die über den Instinkt und eine von den einen behauptete, von den anderen geleugnete scharfe Grenze zwischen Menschen- und Tierseele mit oft nicht wenig komplizierten Hilfs4

Vgl. Franz Brentano, Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand. Stuttgart, Cotta 1895.

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mitteln für Beobachtung und Experiment zu mehr oder minder glücklichem Ergebnisse geführt worden. Meine Schule unterscheidet eine Psychognosie und eine genetische Psychologie (in entfernter Analogie zur Geognosie und Geologie). Die eine weist die sämtlichen letzten psychischen Bestandteile auf, aus deren Kombination die Gesamtheit der psychischen Erscheinungen wie die Gesamtheit der Worte aus den Buchstaben sich ergibt. Ihre Durchführung könnte als Unterlage für eine Characteristica universalis, wie Leibniz und vor ihm Descartes sie ins Auge gefaßt haben, dienen. Die andere belehrt uns über die Gesetze, nach welchen die Erscheinungen kommen und schwinden. Da die Bedingungen wegen der unleugbaren Abhängigkeit der psychischen Funktionen von den Vorgängen im Nervensystem großenteils physiologische sind, so sieht man, wie hier die psychologischen Untersuchungen mit physiologischen sich verflechten müssen. Eher könnte einer von der Psychognosie vermuten, daß sie vom Physiologischen ganz absehen und darum auch aller instrumentalen Hilfsmittel entraten könne. Aber schon die eben erwähnte Analyse der Empfindungen, sei es auf dem Gebiete des Gehörs, sei es auf dem des Gesichts oder gar der niederen Sinneserscheinungen (einem Gebite, wo sie bisher äußerst unvollkommen geführt worden ist), kann ihre wesentlichsten Erfolge nur mittels sinnreich erdachter instrumentaler Hilfsmittel erzielen; und diese Arbeit ist eine psychognostische. Die längste Zeit waren es ausschließlich Männer, die sich Naturforscher*, und schier niemals einer, der sich Philosoph nannte und als solcher angestellt war, die auf diesem Gebiete Erfolge aufzuweisen hatten. Und der Hauptgrund dafür ist wohl sicher in dem Mangel an jeder Ausstattung mit den entsprechenden Apparaten zu suchen. Die Arbeiten, weil von Physiologen und Zoologen ausgeführt, hörten darum aber nicht auf, wirklich philosophische, beziehungsweise psychologische zu sein. Zur Naturwissenschaft gehört ja nichts als Raum, Zeit, Bewegung. Die von den Naturforschern bevorzugte Anschauung faßt selbst die kompliziertesten physiologischen Prozesse sämtlich als mechanische auf. Wo daher das Bewußtsein (in jenem weitesten Sinne, in welchem Du Bois-Reymond das Wort gebraucht) beginnt, beginnt das Reich der Psychologie. Aber, wie ich schon sagte, die Grenzen, die wir zwischen Wissenschaft und Wissenschaft ziehen, können nirgends streng eingehalten werden, und so gewiß nach dem Gesagten Empfindung, Wahnehmung, Gedächtnis, Phantasie und phantastische Sinneserscheinung, Instinkt, Liebe u. s. w. dem Bereiche des Psychischen zugehören, so zeigen uns doch die Werke von Helmholtz, Hering, Johannes Müller, Darwin, Lubbock, *

1894: „Physiologen“

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Mosso* u. s. w. diese hervorragenden Naturforscher mit ernsten Untersuchungen darüber beschäftigt. Und zu solchen Uebergriffen wird es, wenn die Philosophen einmal in stand gesetzt sind, ihre Aufgabe bis zur Grenze der Naturwissenschaften hin zu verfolgen, sicher auch von ihrer Seite mehr als einmal kommen. Das psychologische Institut ist also ein unabweisbares Bedürfnis. Zu was für Verirrungen die Psychologen ob dem Mangel seiner Hilfsmittel geführt werden, zeigt besser vielleicht, als irgend etwas anderes, das gänzliche Fehlschlagen des Versuches von Herbart, eine wissenschaftliche Psychologie zu begründen. Sein Ernst, sein Streben nach Exaktheit verdienen höchste Anerkennung. Sie verraten sich in einer Fülle unter Anwendung der Mathematik weitgeführter Deduktionen. Aber – man verüble es mir nicht, wenn ich bei so wichtiger Sache mein Urteil offen ausspreche – es fehlt überall an der Erfahrungsgrundlage. So nimmt zum Beispiel Herbart ununtersucht an, daß zwei Lichter doppelt so hell beleuchten als eines (vgl. dagegen Webers und Fechners Untersuchungen), und daß entgegengesetzte Vorstellungen nach Maßgabe ihrer Stärke sich hemmen (vgl. dagegen die sich gleichzeitig fördernden Gegensätze des simultanen Kontrastes) u. s. w. Seine Psychologie hat mich oft an das launige Gedicht Goethes, „Katzenpastete“, erinnert. Ein Koch will sich selbst sein Wildbret aus dem Walde holen, kennt sich aber so wenig in seiner Tierwelt aus, daß er statt eines Hasen eine wilde Katze als Beute heimbringt. Nun wendet er an sie alles Raffinement der studiertesten Kochkunst. Umsonst! „Die Katze, die der Jäger schoß, Macht nie der Koch zum Hasen.“ Nach so manchem, was ich gesagt, um die öffentliche Meinung für die Unentbehrlichkeit des psychologischen Instituts zu gewinnen, will ich gewisse naheliegende Einwände erledigen. Vor allem wird einer vielleicht sagen: Du scheinst mir mit deinem psychologischen Institute auf nichts anderes als auf ein physiologisches Institut abzuzielen. Das aber besitzen wir ja bereits in der medizinischen Fakultät. – Ich antworte, daß dies nicht richtig ist. Vielmehr wird gar vieles, was dort von Apparaten sich findet, hier fehlen können, während das, was gemeinsam ist, hier reichhaltiger gegeben sein sollte. Sähe man von diesem Unterschiede ab, so könnte man behaupten, daß Wien schon jetzt zwei physiologische Institute, eines an der Universität, das andere an dem Konservatorium für Musik besitze, *

1894: „Mantegazza“

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wo Regierungsrat Zellner, dessen Verlust wir kürzlich zu beklagen hatten, als Lehrer der Musiktheorie über reichhaltige Apparate zur Lehre von der Tonempfindung verfügte. Aehnlich wird vielleicht einmal eine Sammlung von Apparaten für die Lehre von der Farbenempfindung und optischen Sinnestäuschung zum Behufe analoger Studien an der Akademie der bildenden Künste begründet werden. Uebrigens bemerke ich, daß es für die wissenschaftlichen Studien von mehrfachem Nachteil ist, daß nicht wirklich eine vollständige physiologische Lehrkanzel mit allen erforderlichen Apparaten in der philosophischen Fakultät sich findet. Es ist ganz offenbar, daß nach der ganzen Idee der philosophischen Fakultät die Physiologie ebensogut wie die Zoologie hineingehört. In der Reihe der Wissenschaften (Mathematik, Physik, Chemie, Psychologie) ist der Mangel der Physiologie zwischen Chemie und Psychologie eine geradezu störende Lücke. Unter anderm hat sich daran die beklagenswerte Bestimmung geknüpft, daß beim Hauptrigorosum aus der Philosophie das Nebenrigorosum5 nie, wie es so natürlich wäre, aus der in Wahrheit nächstangrenzenden Disciplin gemacht werden darf. Wie gut wäre es in dieser Hinsicht, wenn die jetzt projektierte zweite physiologische Lehrkanzel, statt der medizinischen, der philosophischen Fakultät zugeteilt würde! Doch das ist jetzt nicht unsere Frage. Es handelt sich, wie sich zeigt, bei dem psychologischen Institut um etwas wesentlich anderes als um ein ganzes, der Physiologie geweihtes Institut. Nur erscheint dieses psychologische Institut nach dem eben Gesagten bei der bestehenden Einrichtung, welche die Physiologie einzig in die medizinische Fakultät verlegt, womöglich noch unentbehrlicher. Doch nun noch eines. Vielleicht erwidert jemand: Mag es sein, daß die Psychologie ohne physiologische Apparate nicht entsprechend angebaut werden kann. Aber daraus ziehe ich vielmehr die Folgerung, daß man dem Philosophen die Psychologie ganz abnehmen und sie dem Physiologen zuteilen solle. Es umfasst ja das, was man jetzt Philosophie nennt, eine große Vielheit von Disciplinen, Metaphysik und Erkenntnistheorie und Logik und Aesthetik und Ethik u. s. f., wozu dann noch die Geschichte der Philosophie kommt, von welcher man gemeiniglich viel mehr als von der Geschichte irgend welcher andern Wissenschaft Kenntnis zu gewinnen verlangt. So bliebe auf der einen 5

Ich berühre hiemit eigentümlich österreichische Einrichtungen. Das philosophische Doktorexamen zerfällt hier in zwei Teile, ein „Haupt-“ und „Nebenrigorosum“. Wird das Hauptrigorosum aus der Philosophie im engeren Sinne gemacht, so bezieht sich das Nebenrigorosum auf andere Disciplinen, die der philosophischen Fakultät zugeteilt sind, z. B. auf Philologie oder auf Geschichte oder auf Mathematik und Physik u. s. f.

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Seite noch genug übrig, und auf der andern wäre die Psychologie, und somit alles genugsam besorgt. Aber gerade dies wäre das Verkehrteste, was man nur thun könnte. Die Geschichte der Philosophie kann nur der wahrhaft lichtvoll darstellen, der in der systematischen Philosophie selbst auf der Höhe der Forschung steht. Und die systematischen Disciplinen der Philosophie zeigen sich, wenn man die Sache gründlich erwägt, in Bezug auf das Prinzip natürlicher Arbeitsteilung noch inniger verbunden. Auf Grund neuer psychologischer Egebnisse schmeichle ich mir, die elementare Logik reformiert und in die Prinzipien ethischer Erkenntnis einen tieferen Einblick gewährt zu haben. Und ähnlich ließe sich für die Aesthetik und jede andere Disciplin der Philosophie aufs leichteste nachweisen, daß sie, losgetrennt von der Psychologie, wie ein vom Stamme losgetrennter Zweig verdorren müßte. Noch eines! Es darf nicht anders erwartet werden, als daß, wer von der Naturwissenschaft her ins psychische Gebiet übergreift, von den psychischen Phänomenen, für welche er die physiologischen Bedingungen sucht, keine so volle Kenntnis hat, als der für das Psychische vornehmlich sich interessierende Forscher. Bei Helmholtz sogar findet sich der Unterschied zwischen anschaulicher und unanschaulicher Vorstellung nicht richtig bestimmt, bei Hering die psychische Erscheinung des Gedächtnisses nicht nach allen ihren Momenten aufgefaßt, bei Meynert das eigentliche Wesen des Urteils nicht begriffen. Die Kontrolle, die Philosophie und Physiologie, beide in gleich wissenschaftlichem Sinne betrieben, auf dem Grenzgebiete gegenseitig üben, wird darum immer der Sache äußerst ersprießlich sein. Ich weiß, man kargt jetzt in Oesterreich mit Ausgaben für wissenschaftliche Zwecke. Möge man es hinsichtlich eines so wesentlichen Erfordernisses für das Gedeihen der Philosophie nicht thun! In dieser Absicht möchte ich bitten, zu erwägen, wieviel der österreichische Staat in den Jahren, wo ich unentgeltlich die philosophische Lehrkanzel verwaltet, an systemisiereten Gehalte erspart hat. Möge das so den Zwecken, für die es gesetzlich bestimmt war, Entzogene durch eine reiche Dotation des psychologischen Institutes nicht mir, aber den Interessen der Philosophie in Oesterreich gewissermaßen restituiert werden! Und möge überhaupt ein gesegnetes Gedeihen des Feldes, auf dem ich lange unter bedrückenden Kränkungen gearbeitet, mich in nichts vermissen lassen! Auch sonst möge sich das Wort erfüllen, das einst Glaser tröstend zu mir sprach. In Voraussicht der Störungen klagte ich, daß so manches Gute, worauf mein Wirken an der Hochschule abgezielt, infolge davon nicht werde erreicht werden können. „Seien Sie getrost“, sagte er, „wer weiß, ob sich nicht an das,

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was Sie jetzt thun, in einer anderen Richtung eine größere Förderung der öffentlichen Interessen knüpfen wird, als die aus der ungehemmtesten Lehrtätigkeit sich dafür ergeben hätte.“ Gewiß dachte er dabei an die Lösung der Verwirrung auf eherechtlichem Gebiete, die mein Fall in der That vielleicht neu als dringlich gekennzeichnet hat. Man sieht, eine wie große Wichtigkeit der edle Mann der Sache beilegte.

Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand 1895

https://doi.org/10.1515/9783110621228-014

Der Akademischen Jugend von Oesterreich-Ungarn zum Ausdruck meiner Dankbarkeit für so viele Zeichen wärmster Teilnahme herzlich zugeeignet.

Vorwort Was ich hier biete, ist ein am 28. November 1894 vor der „Litterarischen Gesellschaft in Wien“ gehaltener Vortrag. Man hatte mich ersucht, mit Rücksicht auf ein Werk, das der Verein herausgegeben, vor der Versammlung zu sprechen; und in der That wird, wer das Buch „Der grundlose Optimismus“ von H. Lorm gelesen, für keines seiner wesentlichen Momente die Kritik vermissen. Wem es aber unbekannt ist, dem wird der Vortrag darum nicht minder verständlich sein. Sein Inhalt steht für sich selbst. Die vornehmsten philosophischen Interessen der Gegenwart werden in dem Vortrage berührt. Seine Auffassung der Geschichte der Philosophie mag manchen als neu befremden; mir selbst steht sie seit Jahren fest und wurde auch seit mehr als zwei Dezennien, wie von mir, so von einigen Schülern den akademischen Vorlesungen über Geschichte der Philosophie zu Grunde gelegt. Daß sie Vorurteilen begegnen, und daß diese vielleicht zu mächtig sein werden, um beim ersten Anprall zu weichen, darüber ergebe ich mich keiner Täuschung. Immerhin hoffe ich von den vorgeführten Thatsachen und Erwägungen, daß sie bei dem, welcher denkend folgt, nicht ohne Eindruck bleiben können. Ich habe mich bemüht, dem Verständnis möglichst jede Schwierigkeit zu nehmen. Kurze Noten, am Schlusse beigefügt,* verfolgen unter anderm die Absicht, dem mit der Geschichte weniger Vertrauten die chronologische Ordnung sichtlich zu machen. Im übrigen sei noch bemerkt, daß man mich durchaus mißverstehen würde, wenn man glaubte, ich wolle jenen epochemachenden Denkern, die ich nicht als wahre Förderer der Philosophie verehren kann, deshalb etwas von ihrer ungewöhnlich hohen Begabung absprechen. In seinem Urteil über den wissenschaftlichen Wert des Hegelschen Systems bin ich mit Schopenhauer einig; in seiner Verachtung der geistigen Kraft des Mannes kann ich ihm unmöglich beipflichten. So möge man denn insbesondere auch da, wo ich von Kant handele, meine wahre Meinung über diesen außerordentlichen Geist nicht verkennen. Seine Leistungen für die Naturwissenschaft, ähnlich wie die eines Proklus für die Mathematik, bleiben von dem über sein philosophisches System Gesagten ohnehin ganz unberührt. Wien, 18. Januar 1895

* Die Endnoten wurden in Fußnoten umgewandelt.

Franz Brentano

Hochgeehrte Versammlung! 1. Hieronymus Lorm hat in seiner Schrift „Der grundlose Optimismus“1 uns ein Buch geschenkt, das die vornehmsten philosophischen Fragen behandelt. Die „Litterarische Gesellschaft“ in Wien hat es verlegt und wünscht heute, daß ich mit Bezug darauf vor Ihnen spreche. Nun hat ein vereinzelter philosophischer Vortrag – wenn man nicht unter lauter eigentlichen Fachmännern sich findet – immer etwas mißliches. Man isoliert, was thatsächlich durch mannigfache Beziehungen mit anderem verknüpft ist. Was das allgemeine Interesse am lebhaftesten erweckt, ist nicht, was der allgemeinen Einsicht am besten zugänglich gemacht wird. Denn das, offenbar, sind die elementaren Fragen. Aber hier ist die Betrachtung unscheinbar und trocken; man ahnt zunächst gar nicht, wie sie in entfernter Wirkung an das Erhabenste rühren, und, wenn man bei ihnen verweilte, so würde man dem schlimmsten der Uebel verfallen, man würde langweilig werden. Diesmal hatte ich auch gar nicht die Möglichkeit zu einem solchen einfachsten Gegenstand zu greifen; durch die Rücksicht auf das Werk von Lorm war das Gebiet, aus dem ich das Thema zu wählen hatte, mir in gewisser Weise abgegrenzt. Trotz alledem habe ich Ihrem Rufe Folge geleistet. Indem die „Litterarische Gesellschaft“ ein ernstes philosophisches Werk veröffentlicht, gibt sie kräftig schön gegen diejenigen Zeugnis, welche die Teilnahme für Philosophie in weiterem Kreis für erloschen erklären.2 Es ist dies eine Tat, die Anerkennung und Dank verdient.3 1

Hieronymus Lorm, Der grundlose Optimismus. Ein Buch der Btrachtung. Wien, Verlag der Litterarischen Gesellschaft 1894.

2

§ 3 der Statuten sagt: „Die Gesellschaft veröffentlicht Werke der schönen Litteratur und wissenschaftliche Arbeiten von allgemeinem Interesse.“ Unter dem im ersten Jahr ihres Bestandes (1894) von der Gesellschaft verlegten Werken gehören drei der schönen Litteratur, eines der Wissenschaft an, und dieses ist die philosophische Schrift, von der wir sprechen.

3

Im Vortrag folgten hier die Worte: „Auch habe ich vielleicht nicht wieder Gelegenheit, zu meinen lieben Wienern, die mich vor zwanzig Jahren freundlich aufgenommen und mir seitdem tausend Gutes erwiesen haben, zu sprechen. Meine Wirksamkeit an der Universität wurde unter dem Ministerium Taaffe in intoleranter Weise verkümmert, und unter dem Ministerium Hohenwart – ich meine natürlich das Ministerium Windischgräz, das unter Hohenwarts Einfluß gebildet worden ist – hat sich die Lage noch ungleich übler gestaltet. Herr v. Madeyski hat mir auf die Bemerkung, die unter einem Ministerium durch langjährige Dienste erworbenen Ansprüche könnten beim Wechsel der Ministerien nicht erlöschen, erklärt, daß er diese Ansicht nicht zu teilen vermöge. So sehne ich mich begreiflicherweise lebendig danach, eine freiheitlichere Luft zu atmen. Und mein Vortrag mag darum heute wie ein Abschiedsmahl

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2. Das Buch von Lorm besitzt hohe Vorzüge. Der großherzige Sinn des Verfassers lebt in seinem Werke, und es ist reich, teils an geistvoll anregenden, teils an schneidig scharfsinnigen Bemerkungen. Denn auch auf die Kritik anderer geht Lorm ein und verweilt viel bei der Würdigung sowohl der Tageserscheinungen, als der geschichtlichen Entwickelung, die zu den heutigen philosophischen Zuständen führte. Seinen eignen Aufstellungen fehlt es nicht an Originalität. Eher möchte ich sagen, daß das allzustarke Hervortreten subjektiver Eigentümlichkeit ihre Allgemeinbedeutung in Frage stelle. Zugleich aber erweist sich Lorm doch wesentlich als echtes Kind seiner Zeit. Schon die Wahl des Themas deutet auf die pessimistischen Tagesströmungen hin. Und ebenso lebt in dem Verfasser die hohe Ehrfurcht vor Kant, die für unsere Zeit charakteristisch ist; ja dies auch mit der jetzt gemeinüblichen Unterscheidung: die Kritik der reinen Vernunft wird hochgefeiert, sie gilt Lorm als der gesicherte Ausgangspunkt aller künftigen Forschung; die Kritik der praktischen Vernunft dagegen wird als gänzlich unhaltbar und „brüchig“ verworfen. Indem nun Lorm, wie erwähnt, sich viel bemüht, Licht über die philosophische Gegenwart und ihre Vorgeschichte zu verbreiten, finde ich mich veranlaßt, dieses auch meinerseits zu versuchen. Und es scheint mir dies ratsamer als ein Eingehen in jene eigentümlichen Stimmungen, die Lorm als „grundlosen Optimismus“ bezeichnet hat; sagt er doch selbst am Schlusse des Buches: „Nur einzelnen … sind diese Betrachtungen gewidmet; sie wenden sich nicht an Korporationen, nicht an die Kollektivvernunft von Vereinen4 – also offenbar auch nicht an die Kollektivvernunft des „Litterarischen Vereins“ in Wien selbst, der das Werk verlegt. 3. Die Geschichte der Philosophie ist eine Geschichte wissenschaftlicher Bestrebungen, und hat darum in gewissen Beziehungen Aehnlichkeit mit der betrachtet werden, wo ich zum letztenmal mit meinen Wiener Freunden vereinigt schmause.“ Diese Worte, von der Versammlung mit starrem Schweigen aufgenommen, haben dann in der Oeffentlichkeit eine mächtige Bewegung hervogerufen. Ich selbst sah mich schließlich veranlaßt, sie in einer Reihe von Artikeln der „ Neuen Freien Presse“ (vom 2., 5., 8., 15. und 18. Dezember 1894) unter Darlegung der gegebenen Mißstände zu kommentieren. Da diese Verhältnisse mit dem Thema des Vortrags nichts zu thun haben, so habe ich die Angabe dieses Motivs beim Drucke eliminiert. Wenn ich ihr hier, in der Anmerkung, eine Stelle anweise, so geschieht es, damit nicht einer, der den Vortrag gehört, durch das Wegfallen befremdet oder vielleicht sogar zu der Meinung geführt werde, ich glaube selbst, damals etwas Ungehöriges gesagt zu haben. 4

a. a. O., S. 328.

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Geschichte anderer Wissenschaften. In anderen Beziehungen aber zeigt sie sich von ihr verschieden und mehr der Geschichte schöner Künste analog. Während andere Wissenschaften, solange sie überhaupt betrieben werden, einen stetigen Fortschritt aufweisen, der nur einmal durch eine Zeit des Stillstandes unterbrochen wird, zeigt die Philosophie, wie die schöne Kunst, neben den Zeiten aufsteigender Entwickelung Zeiten der Decadence, die oft nicht minder reich, ja reicher an epochemachenden Erscheinungen sind als die Zeiten gesunder Fruchtbarkeit. Dabei findet sich eine gewisse Gesetzmäßigkeit. Wie bei der schönen Kunst verschiedene Perioden in Entwickelung und Verfall ihr Gemeinsames und Analoges aufweisen, so verläuft die Geschichte der drei großen Perioden, welche die abendländische philosophische Forschung unterscheiden läßt, in wesentlich analoger Weise. In der Periode des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit bis zum Zusammenbruch der Hegelschen Geistesherrschaft lassen sich je vier Stadien unterscheiden, die bei aller Verschiedenheit sich doch innerlichst verwandt sind, so zwar, daß für den, der einmal darauf aufmerksam geworden, die Aehnlichkeit unverkennbar ist. Kulturpsychologische Erwägungen einfachster Art machen auch diese merkwürdige Uebereinstimmung vollkommen begreiflich. Die erste Phase, die ich meine, umfaßt die ganze aufsteigende Entwickelung. Ihr Beginn ist immer durch ein doppeltes charakterisiert: einmal durch ein lebendiges und reines theoretisches Interesse – durch das Staunen, sagten mit Recht schon Platon und Aristoteles, sind die Menschen zuerst zu philosophischen Forschungen getrieben worden –; dann durch eine wesentlich naturgemäße, wenn auch gewiß noch mannigfacher Ausbildung bedürftige Methode. Mit ihrer Hilfe entwickelt sich die Wissenschaft, teils indem sich die Hypothesen vervollkommnen, teils indem die Untersuchung sich ausdehnt und neue Fragen in Angriff nimmt. Die zweite Phase ist die, welche das erste Stadium des Verfalles bildet. Dieser wird jedesmal eingeleitet durch eine Schwächung oder Fälschung des wissenschaftlichen Interesses. Irgendwelche praktische Motive werden nunmehr vornehmlich für die Forschung bestimmend. Infolge davon wird sie nicht mehr gleich streng und gewissenhaft betrieben. Es fehlt den Gedanken an Kraft und Tiefe, und wenn statt der Tiefe eine gewisse größere Breite gewonnen wird, und weitere Kreise an den popularisierten Lehren einer philosophischen Sekte teilnehmen, so ist dies doch für den Verlust der eigentlich wissenschaftlichen Energie kein wahrer Ersatz. Bei so verschlechtertem Zustand kömmt es nun zu einer Art geistiger Revolution, die das zweite Stadium des Verfalles bildet. Es ist die Epoche der vorherrschenden Skepsis. Die unwissenschaftlich gewordene Wissenschaft hat

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sich des Vertrauens unwürdig gemacht; es wird ihr versagt. Ja weitergehend wird nun überhaupt dem Verstande die Fähigkeit zu irgendwelcher sicheren Erkenntnis abgesprochen, oder doch dieselbe auf die kümmerlichsten Ueberreste beschränkt. Aber die Skepsis ist nicht etwas, was das menschliche Begehren befriedigt. „Alle Menschen“, sagt Aristoteles in den berühmten Eingangsworten zu seiner Metaphysik, „streben von Natur nach dem Wissen.“ Das natürliche Verlangen nach Wahrheit, von der Skepsis in seinem Laufe gehemmt, bricht sich gewaltsam Bahn. Mit krankhaft gesteigertem Eifer kehrt man zum Aufbau philosophischer Dogmen zurück. Zu den natürlichen Mitteln, mit welchen die erste Phase gearbeitet, erdichtet man sich ganz unnatürliche Erkenntnisweisen, Prinzipien, die ohne alle Einsicht sind, geniale unmittelbar intuitive Kräfte, mystische Steigerungen des intellektuellen Lebens, und bald schwelgt man in dem vermeinten Besitz der erhabensten, alles menschliche Vermögen weit übersteigenden Wahrheiten. Hiemit ist das äußerste des Verfalls gegeben. Der Gegensatz zu dem Zustand, der zur ersten gedeihlichen Forschung geführt, ist der ausgesprochenste. Man meint, alles zu wissen, und weiß nichts; denn man weiß nicht einmal das eine, was man beim Beginn der Periode gewußt und schmerzlich sehnend gefühlt hatte, – nämlich daß man nichts weiß. 4. Blicken wir zunächst auf die Periode des Altertums, um zu sehen, wie ihr Verlauf der eben gegebenen Schilderung wirklich entspricht. Die griechische Philosophie hob an mit der Jonischen Naturphilosophie. Es ist ganz deutlich, wie das Staunen über die Rätsel der Welt hier den regsten Wissenstrieb entzündete. Anaxagoras, einer der größten unter den Joniern, vernachlässigt die Verwaltung seiner Güter und verzichtet, da die Verwandten ihn darob schelten, leichten Herzens auf sein ganzes Vermögen, um frei der Forschung sich hinzugeben. Auch von seiner politisch bevorzugten Stellung als Aristokrat will er keinen Gebrauch machen. Er lehnt es auf das entschiedenste ab, sich der Verwaltung seiner Vaterstadt anzunehmen. „Der Himmel“, sagt er, „ist mein Vaterland, und die Betrachtung der Gestirne ist meine Bestimmung.“ Und, wie ein lebendiges und reines theoretisches Interesse, so besitzen diese ältesten Hellenen auch eine naturgemäße Methode. Es mag dies wundernehmen, indem viele – und auch Comte hat das Vorurteil begünstigt, – heute die Meinung hegen, daß die Menschen zunächst ganz sach- und naturwidrig vorgegangen und erst sehr spät auf eine entsprechendere Forschungsweise verfallen seien. Aber bei der Kindheit der Menschheit war es ähnlich, wie bei der Kindheit jedes einzelnen.

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Lavoisier5 macht darauf aufmerksam, wie rasch unsere Kinder von Entdeckung zu Entdeckung fortschreiten, von der Natur selbst den richtigen Weg der Forschung geführt. Wer das neue, von Billroth6 hochbewunderte Werk von Theodor Gomperz7 über die griechischen Denker zur Hand nimmt, mag sich anschaulich davon überzeugen, daß ich dem Verfahren der alten Jonier eine nicht unverdiente Anerkennung zollte. Mit solchem Interesse und mit solcher Methode arbeitet sich nun die griechische Philosophie empor. Die Hypothesen vertiefen sich; die Fragen vervielfältigen und verflechten sich, und es kömmt schließlich zum Aufbau weitumfassender Lehrsysteme. Nach dreihundert Jahren8 ist bereits ein wissenschaftlich so bedeutendes Werk wie die Philosophie des Aristoteles möglich geworden. Dieser aber war dann auch die letzte große Erscheinung des aufsteigenden Stadiums der antiken Philosophie; alsbald nach ihm beginnt das erste Stadium des Verfalles, und zwar ganz deutlich in der Weise, daß das theoretische Interesse einem praktischen Interesse weicht. 5. Das ganze griechische Leben war damals in einem Zustand der Auflösung. Der Glaube an die Volksreligion war dahin, und auch die Autorität der altüberlieferten staatlichen Einrichtungen war gebrochen. Nicht sowohl aus theoretischem Bedürfnis, sondern vor allem in praktischer Beziehung wurde die Philosophie als Nothelferin angerufen. Die Stoa9 und der Epikureismus10 mit ihrem einseitig praktischen Charakter sind die beiden Schulen, welche dieses erste Stadium des Verfalles im Altertum vertreten. In beiden Systemen unterschied man drei Teile der Lehre; eine Ethik, Logik und Physik. Aber Logik und Physik führten eine kläglich herabgedrückte Existenz als Dienerinnen der Ethik, wobei zugleich diese selbst in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung sank; sehr natürlich, weil ohne ein tieferes Studium der menschlichen Natur weder über ihre Aufgabe noch über die Wege zu deren Erfüllung Klarheit zu gewinnen ist. 5

Antoine Laurent Lavoisier, Traité élémentaire de chimie. Paris 1789. T. I. Discours préliminaire. Paris 1789, p. VIII s.

6

In einem in der „Neuen Freien Presse“ 11. Februar 1894 mitgeteilten Briefe.

7

Theordor Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie. Leipzig 1894.

8

Von Thales (geb. um 640 v. Chr.) bis Aristoteles (gest. 322 v. Chr.).

9

Von Zeno um 308 v. Chr. Gegründet, erhielt die Stoische Lehre durch Chrysippus (282–209 v. Chr.) ihre vorzügliche Ausbildung.

10

Epikurs Leben fällt in die Jahre 341–270 v. Chr.

208

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Verlor die Schule an Tiefe, so nahm sie dafür an Breite zu. Die Anhänger des Epikur waren ungleich zahlreicher als die Schüler des Platon oder Aristoteles gewesen. Und wenn keinen, der seine Lehre wissenschaftlich fortbildete, so hat doch Epikur unter seinen Anhängern einen genialen Dichter11 gefunden, wie er weder den Platonismus, noch auch, wenn man nicht die späte Zeit der Göttlichen Komödie einbezieht, die peripatetische Philosophie jemals verherrlicht hat. 6. Es folgt darauf das zweite Stadium des Verfalles, das der Skepsis. In zweifacher Form tritt sie in der Geschichte des Altertums auf. Die mildere ist die der Neueren Akademie12, die überall nur Wahrscheinlichkeit, in keiner Frage also jene Sicherheit für erreichbar erklärt, welche definitiv die Möglichkeit des Irrtums ausschließt. Die strengere Form ist die des sog. Pyrrhonismus. Pyrrho, nach dem die Schule sich nennt, hatte schon zur Zeit Alexanders des Großen gelebt, aber zunächst mehr Befremden erweckt, als Beifall geerntet. Anders wurde es in der späteren Zeit, als der Dogmatismus der Stoiker und Epikureer abzuwirtschaften begann. Aenesidemus13, Agrippa14, Sextus Empirikus15, die bedeutendsten Männer der Richtung, gehörten dieser Epoche an. Neben den milderen und strengeren Skeptikern sind auch noch die Eklektiker zu nennen. Indem diese es sich erlaubten, von den verschiedenen Schulen aufzunehmen und zurückzuweisen, was ihnen beliebte, vermochten sie selbst zu keiner festen Ueberzeugung zu gelangen. Cicero, der vornehmste unter den Eklektikern16, fühlt sich darum ausgesprochenermaßen den Skeptikern der neueren Akademie wesentlich verwandt. Bedenkt man, wie in der späteren Zeit des Epikureismus und Stoicismus auch in diese Schulen mehr und mehr ein Eklekticismus eindrang, so erkennt man, wie in Wahrheit damals alle Philosophie von einer gewissen skeptischen Stimmung angekränkelt war. Die weitesten Kreise der Gesellschaft waren davon ergriffen. Wenn Jesus, vor Pilatus stehend, ihm erklärt, er sei in die Welt 11

T. Lucretius Carus 95–52 v. Chr.

12

Karneades, der Stifter der neueren oder dritten Akademie, lebte 214–129 v. Chr. zu Athen.

13

Aenesidemus lehrte zu Alexandrien um die Zeit von Christi Geburt.

14

Für Agrippa können wir nur ungenaus die Zeit bestimmen. Er fällt jedenfalls zwischen Aenesidemus und Sextus Empirikus.

15

Sextus Empirikus blühte um 200 n. Chr.

16

M. Tullius Cicero 106–43 v. Chr.

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gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben, so entgegnet dieser ihm skeptisch mit der Frage: „Wahrheit, was ist Wahrheit?“ 7. Aber auch bei dieser Skepsis ist es im Altertum nicht geblieben. Es erfolgte vielmehr die gewaltigste Reaktion, die man sich nur denken kann. Die judaisierenden Platoniker17, die Neupythagoreer18 gehören ihr, und hiemit dem dritten Stadium des Verfalles der antiken Philosophie an. Die weitaus bedeutendste Erscheinung dieser Klasse ist aber der Neuplatonismus, der in der Welt des Intelligibeln schwärmt und schwelgt. Ammonius Sakkas19, Plotin20, Porphyrius21, Jamblichus22, Proklus23 und viele andre waren gefeierte, ja vergötterte Schulhäupter. Für die mangelnde Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der Natur wurde von Proklus und andern die künstlichwillkürlich gebildete Regelmäßigkeit eines triadischen Systems als Surrogat verwendet. Soviel mag zur Bewährung unseres Gesetzes von den vier Phasen der Philosophie bezüglich des Altertums genügen. 8. Wenden wir uns zum Mittelalter. Wir finden hier deutlich dasselbe Schauspiel. Die germanisch aufgemischten Völker des Abendlandes, ebenso wie die Araber, zeigen sich alsbald vom regsten Wissenstrieb ergriffen. Und sofort wird auch herausgefunden, welcher unter den alten Denkern für sie der wahre Meister des Wissens werden kann. Mit einer staunenswerten Vollkommenheit eignen sich die Scholastiker in relativ kurzer Zeit24 das durch die Unkenntnis des Griechischen so wesentlich erschwerte Verständnis des Aristoteles an. Weder Alexander von Aphrodisias noch Simplicius hatte ihn auch nur entfernt so vollkommen als der große Lehrer des dreizehnten Jahrhunderts, Thomas von Aquino25, verstanden. Das wäre 17

Philo der Jude lebte zu Alexandrien bis Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.

18

Von den vorzüglichsten Vertertern des Neupythagoreismus lebten Apollonius von Tyana und Moderatus aus Gades unter Nero, Nikomachus aus Gerasa vor der Zeit der Antoninen.

19

Ammonius Sakkas etwas 175–250 n. Chr.

20

Plotinus 205–270 n. Chr.

21

Pophyrius 233 bis ungefähr 304 n. Chr.

22

Jamblichus starb unter Constantin dem Großen.

23

Proklus 411–485 n. Chr.

24

Alexander von Hales, der erste Scholastiker, der die gesamte Lehre des Aristoteles kennt (früher hatte man nur logische Schriften besessen), starb 1245.

25

Thomas von Aquino 1227–1274.

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ohne eine gewisse kongeniale Denkweise unmöglich gewesen; und diese hat denn auch Thomas, sowohl in andern Stücken, als insbesondere in der in politischer Philosophie so vorgeschrittenen, berühmten Schrift „De regimine principum“ bewährt. Welche weiteren Fortschritte durfte man da nicht erhoffen! 9. Aber sieh da! unmittelbar nach Thomas beginnt für die mittelalterliche Philosophie der Verfall. Es ist deutlich zu erkennen, daß eine Schwächung und Fälschung des reinen wissenschaftlichen Interesses zu ihm führte. Die vorzüglichsten Träger der philosophischen Wissenschaft im Mittelalter waren die beiden großen Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner. Beide hatten angesehene Lehrer hervorgebracht; doch durch Albert den Großen und Thomas von Aquino hatte schließlich der Dominikanerorden alle Leistungen der Franziskaner in Schatten gestellt. Das erregte bei diesen eine nicht geringe Eifersucht. Und so wurde denn, da in Duns Scotus26 den Franziskanern ein energischer und fruchtbarer Schriftsteller erwuchs, dieser von ihnen als Führer auf den Schild erhoben. Jeder Franziskaner wurde auf seine Lehre, wie alsbald dann auch jeder Dominikaner auf die des Thomas verpflichtet. Die Wahrheitsund Weisheitsliebe entartete nun in pure Rechthaberei. Alle Beobachtung und gewissenhafte Berücksichtigung widerstrebender Tatsachen trat zurück. Durch eine spitzfindige, ja ins Sinnlose gehende Distinguiererei wurde jede noch so wohlbegründete Objektion dialektisch scheintot gemacht. Duns Scotus erfand sogar zu den zwei althergebrachten Weisen der Distinktion, der realen und begrifflichen, eine dritte, die er die formale nannte, die kleiner als die erste, größer als die zweite sein sollte, bei der sich schlechterdings nichts Klares denken, mit der sich aber um so leichter in Worten herumstreiten ließ.27 26

Johannes Duns Scotus 1274–1308.

27

Was real, was begrifflich verschieden sei, läßt sich leicht verstehen. Was immer ist, und wobei mit Recht geleugnet werden kann, dass eines das andre sei, das ist real verschieden. Was immer aber ist, und wovon mit Recht geleugnet werden kann, daß der Begriff des einen der Begriff des andern sei, das ist begrifflich verschieden. Zwei menschliche Individuen sind real verschieden. Ein Musiker und ein Maler sind begrifflich verschieden. Man erkennt daraufhin leicht, daß, was begrifflich verschieden, real eins sein könne; ein Musiker z. B. ist vielleicht zugleich ein Maler. Aber ebenso ersichtlich ist, daß, was real verschieden ist, begrifflich eins sein kann; wie z. B. Bismarck und Caprivi als Staatsmänner unter den denselben Begriff fallen. Und deshalb ist es durchaus unpassend, die reale Distinktion der begrifflichen gegenüber als die größere zu bezeichnen; keine schließt die andre ein, sie sind vielmehr völlig disparat. Um so mehr ist es absurd, wenn man zwischen beiden eine „formale“ Distinktion, als eine von mittlerer Größe, einschieben will.

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Die Disputiersucht wuchs ins Ungeheuerliche. Der Scotist Franz von Maironis führte in Paris den großen actus Sorbonnicus ein28, eine wahrhaft grausame Menschenschinderei, worin sich ein armer Disputax volle zwölf Stunden lang (eine kleine Mittagspause ausgenommen) gegen jeden, der seinen dialektischen Fehdehandschuh aufhob, verteidigen mußte. Wenn die Scholastik noch heute wegen ihrer unfruchtbaren Subtilitäten verrufen ist, so verdankt sie es dieser Epoche, die wir die Scotistische nennen können. 10. Das also war hier das erste Stadium des Verfalles; und es führte naturgemäß zum zweiten, zum Stadium der Skepsis. Dieses ist im Mittelalter durch den Nominalismus vertreten. Seine revolutionäre und skeptische Tendenz ist schon vielfach bemerkt worden. Wilhelm von Occam29 verwirft nicht bloß die Realität der Universalien; alle unsre Vorstellungen sollen nach ihm nur Zeichen sein, die, wie der Rauch mit dem Feuer, mit dem Gegenstande, dessen Zeichen sie sind, keine Ähnlichkeit haben. In Bezug auf die erhabensten Fragen erklärt er: eine Erkenntnis Gottes als eines erkennenden, schöpferischen, unendlichen Wesens durch Vernunftgründe ist unmöglich; ebensowenig können wir wissen, ob im Menschen etwas geistig und unsterblich ist; und auch eine natürliche Moral gibt es nicht; denn Gott kann befehlen, was er will; er könnte ebenso Lüge als Wahrhaftigkeit, Ehebruch als eheliche Treue, Mord als Schonung des Nächsten, ja er könnte den Haß Gottes selbst gebieten, und dieser würde dann verdienstlich sein. Der Einfluß der kirchlichen Autorität im Mittelalter war ein sehr mächtiger und stellte sich hemmend diesen skeptischen Tendenzen entgegen. Die Nominalisten aber suchten sich ihm zu entziehen; und sie thaten es, indem sie der Kirche ihr Kompliment machten und erklärten, daß sie die Wahrheit Scotus machte von seiner formalen Distinktion auf die vornehmsten Geheimnisse der Theologie Anwendung. Die drei göttlichen Personen z. B. sollten nicht real, aber auch nicht bloß begrifflich, sondern formal voneinander verschieden sein. Da sich, wie gesagt, die formale Distinktion nicht wahrhaft verständlich machen läßt, so war auch bei solchen Behauptungen ein Widerspruch gegen die orthodoxe Lehre nicht wohl nachweisbar. 28

Franz von Maironis, mit dem Ehrentitel magister abstractionum, starb 1325. Die Einführung des großen Sorbonnischen Aktes, einer im Sommer allwöchentlichen Disputation, worin, wie gesagt, der Disputant einen ganzen Tag (vom morgens 6 Uhr bis abends 6 Uhr) sich mit jedem beliebigen dialektischen Kämpen herumschlagen mußte, fällt in das Jahr 1315.

29

Wilhelm von Occam, der vorzügliche Begründer des Nominalismus im vierzehnten Jahrhundert, starb unter Ludwig dem Baiern, dessen Sache er gegen den päpstlichen Stuhl verfocht, zu München im Jahre 1343 (nach anderen 1347).

212

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ihrer Lehren nicht im geringsten antasteten. Sie selbst seien davon überzeugt, daß sie theologisch wahr seien, während sie sie allerdings ebenso entschieden für philosophisch falsch erklären müßten. Mit dieser Unterscheidung zweier entgegengesetzter Wahrheiten war natürlich das Wesen der Wahrheit selbst gänzlich annulliert. 11. Aber gegen diese Skepsis erhob sich gegen Ende des Mittelalters eine neue und mächtige Reaktion. Bekannt ist das Auftreten zahlreicher und hervorragender Mystiker in dieser Epoche. Meister Eckhardt30, Tauler31, Heinrich Suso32, Johannes Ruysbroeck33, sowie der Verfasser der Deutschen Theologie, die Luther herausgab34, gehören mit andern hierher. Der große Kanzler Gerson35, der, als der bedeutendste Mann seiner Zeit, das Costnitzer Konzil leitete, führt mit Recht den Namen des Mystikers. Und neben der religiösen Mystik finden wir philosophische Spekulationen, die vermöge einer neuen, bisher unerhörten und durchaus unnatürlichen Methode sich in kühnem Fluge zu unnahbaren Zinnen der Wahrheit erheben wollen. Ich nenne hier nur einerseits die Lullisten, andrerseits den berühmten deutschen Kardinal Nikolaus Cusanus. Im dreizehnten Jahrhundert schon war in Spanien ein edler aber schwärmerischer Geist aufgetreten, Raymundus Lullus.36 Er hatte sich eine neue logische Methode ersonnen, die er die Ars magna nannte. Auf konzentrischen, vereinzelt drehbaren Kreisscheiben wurden Begriffe aufgezeichnet, und dadurch die verschiedenartigsten Kombinationen hergestellt. Es ist offenbar nicht abzusehen, wie auf solche Weise der Natur ihre Geheimnisse abgelauscht werden sollen. Aber Lullus versprach sich von dieser Erfindung, die ihm vom Himmel eingegeben schien, das Allerhöchste und machte sich mutig daran, Trinität, Erbsünde, Inkarnation und Erlösungstod aus bloßer Vernunft apodiktisch zu erweisen. Bei seinen Zeitgenossen hatte dieser seltsame Mann nicht eben viele Anhänger gefunden, aber im vierzehnten Jahrhundert mehrte sich 30

Meister Eckhardt, O. P., gest. 1329.

31

Johannes Tauler, O. P., gest. 1361.

32

Heinrich Suso, O. P., von der Kirche selig gesprochen, gest. 1365.

33

Johannes Ruysbroeck, gest. 1381.

34

Der Name des Verfassers der „Deutschen Theologie“ ist unbekannt geblieben.

35

Johannes Gerson, Kanzler der Universität Paris, lebte 1363–1429.

36

Raymundus Lullus 1235–1315. Die erste Verdammung seiner Lehre durch den Papst fällt in das Jahr 1376.

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die Zahl der Lullisten, so daß unter Gerson die Pariser Universität notwendig fand, ausdrücklich die große Kunst zu verdammen. Die Lullisten hatten für die Schriften ihres Meisters eine grenzenlose Verehrung. Der alte Bund, sagten sie, sei dem Vater, der neue dem Sohn, die Lehre des Lullus dem hl. Geist zuzuschreiben. Sie sei nicht durch Nachdenken zu erforschen, noch durch Unterricht zu erlernen; ihr Verständnis sei nur durch höhere Eingebung zu erlangen möglich. Noch im Zeitalter der Reformation, wo selbst Giordano Bruno eine große Meinung von der Weisheit des Lullus hatte, waren die Lullisten so zahlreich, daß Paul IV., ähnlich wie früher Gregor XI., die Lehre verdammte und seine Schriften verbot. Mehr noch als bei den Lullisten zeigt sich der kühne Aufschwung, den in dieser Epoche, im Gegensatz zur vorangegangenen, die Spekulation nimmt, bei Nikolaus Cusanus37, der ebenfalls noch auf Giordano Bruno Einfluß übt. Er nannte seine Lehre „Docta ignorantia“, „Gelehrte Unwissenheit“. Unter ihr versteht er eine Unwissenheit, die ein alles Wissen übersteigendes Erkennen ist. Er nennt es ein „Schauen ohne Begreifen“, ein „unbegreifliches Begreifen“, „Spekulation“, „Intuition“, „Mystische Theologie“, „Dritter Himmel“, „Weisheit“ u. dergl. Das niederste Erkennen ist die Sinneswahrnehmung (sensus). Höher als diese steht die Vernunft (ratio). Ueber beide aber erhebt sich unser weitaus höchstes geistiges Vermögen, die intellektive Einsicht (intellectus). Der Sinn erkennt nur durch Bejahung, die Vernunft durch Bejahung und Verneinung, die intellektive Einsicht dagegen nur durch Verneinung. Das Gesetz des Widerspruchs besteht auf ihrem Gebiete nicht; vielmehr gilt hier geradezu das entgegengesetzte Prinzip, das der Koinzidenz der Gegensätze.38 In der kühnsten Weise werden vermöge dieses übervernünftigen Denkverfahrens Gott, Kreatur und die Einheit von Gott und Kreatur in der Inkarnation a priori konstruiert.39 37

Nikolaus Cusanus (Nikolaus Chrypffs aus Kues bei Trier), Bischof von Brixen, lebte 1401–1464.

38

Nikolaus Cusanus erläutert dieses Gesetz des Zusammenfallens der Gegensätze an mathematischen Beispielen. Das Gerade und das Krumme, z. B. die gerade Linie und der Kreis, sind einander entgegengesetzt, aber der unendliche Kreis, sagt er, ist eine unendliche gerade Linie. Der stumpfe Winkel steht im Gegensatz zum spitzen; aber das Extrem eines spitzen und das Extrem eines stumpfen Winkels, meint er, seien ein und dasselbe, da bei beiden die zwei Schenkel eine gerade Linie bildeten.

39

Trotz der weiten Kluft, die den Gedankenkreis des Cusanus von dem unsres Hegel trennt, ist eine gewisse Analogie zwischen den drei Teilen des Cusanischen und des Hegelsschen Systems unverkennbar. Der dritte Teil erscheint hier wie dort als die Einheit der beiden früheren. Man denke auch an die Weise, wie Hegel den Satz des Widerspruchs in sein Gegenteil verkehrt, und an die Rolle, welche er bei seinem spekulativen Verfahren der Negation zuweist.

214

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So sehr ich bedaure, nicht durch ausführlichere Mitteilungen die Art und Weise dieser letzten originellen mittelalterlichen Spekulationen anschaulich machen zu können, so glaube ich doch, reicht auch das Wenige hin, um zu zeigen, daß sie meiner allgemeinen Charakteristik des vierten Stadiums jeder großen Gesamtperiode der Philosophie ebenso, wie im Altertum die Spekulation der Neupythagoreer und Neuplatoniker, entspricht. Wenden wir uns also sofort zur Neuzeit. 12. Die dritte Periode hebt an mit Bacon von Verulam und Descartes.40 Der energische, reine Wissenstrieb jener Zeit ist bekannt. Ebenso aber sehn wir sie deutlich zu der natürlichen Methode zurückkehren. Die Erfahrung wird als die große Lehrmeisterin geehrt. Mit Bacons Namen ist der Gedanke an induktive Forschungsweise bis heute untrennbar verknüpft. Aehnlich wandte sich Descartes der Beobachtung der Thatsachen zu. Als einer seine Bibliothek zu sehen verlangte, führte ihn Descartes in ein Nebenzimmer, worin kein einziges Buch, aber, an der Wand aufgehängt, ein geschlachtetes Kalb zu sehen war, das er zum Behuf physiologisch-psychologischer Untersuchungen zerlegt hatte. „Das“, sagte er, „ist die Bibliothek, aus der ich mir meine Weisheit hole.“ Die nächsten Nachfolger blieben der Erfahrungsmethode treu. Locke41 hat auf solchem Wege Vieles und Treffliches geleistet. Und auch Leibniz42 that noch manchen guten psychologischen Blick. Nur ließ die Zersplitterung seiner Thätigkeit ihn nur den kleinsten Teil seiner genialen Kraft der Philosophie zuwenden. 13. Aber alsbald tritt eine Störung ein, ähnlich wie sie nach einer ungleich längeren aufsteigenden Entwickelung im Altertum eingetreten war. Es war in der That die Zeitlage in mehrfacher Beziehung jener der beginnenden griechischen Decadence ähnlich. Die Volksreligion übte auf die Ge40

Bacon von Verulam (1561–1626), Descartes (1596–1650). Manche nennen hier auch Galilei (1564–1642), doch hat dieser, scheint es mir, auf philosophischem Gebiete nicht eigentlich nachgewirkt; vielleicht nur darum, weil Italien überhaupt wenig an der beginnenden philosophischen Bewegung teil nahm. Wie dem aber auch sei, es ist offenbar, daß, was ich zur Charakteristik des Anfangs jeder neuen philosophischen Periode gesagt, durch die Mitberücksichtigung Galileis an Klarheit nichts verlieren würde.

41

John Locke (1632–1704), vielfach noch heute als der vorzügliche Begründer der analytischen Psychologie geehrt.

42

Gottfried Wilhelm v. Leibniz (1646–1716).

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müter die alte Macht nicht mehr aus, und auch auf politischem Gebiet kam alles Überlieferte ins Wanken. Wiederum sollte überall die Philosophie das Aushilfsmittel liefern. Das reine theoretische Interesse wurde somit abermals durch ein praktisches verdrängt. Und die gleiche Folge wie im Altertum trat ein. Die Philosophie verflachte, und trotz der zahlreichsten Teilnahme gewann nicht, sondern verlor sie nur an wissenschaftlicher Bedeutung. Die sog. französische und die sog. deutsche Aufklärung, trotz aller ihrer inneren Verschiedenheit sind beide für das Gesagte Belege. Jene könnte etwa als eine Verflachung der Lockeschen,43 diese als eine Verflachung der Leibnizschen Philosophie44 bezeichnet werden. Hume45 macht darauf aufmerksam, wie Lockes Schriften eigentlich kaum mehr gelesen würden, und nur oberflächlichere philosophische Schriftsteller das Publikum beherrschten. 14. So war das erste Stadium des Verfalles eingetreten. Und sofort folgte dann das zweite Stadium, das der Skepsis. David Hume46 ist es, der dieses Stadium in der dritten großen Periode der Philosophie vornehmlich vertritt.47 Es ist dies zu bekannt, als daß es nötig wäre, es durch eingehendere Besprechungen seiner Lehre zu begründen. Auch weiß man, wie der Stachel seiner Skepsis nicht bloß in seiner Heimat, sondern auch in Deutschland, das jetzt neben England das ergiebigste Feld für die Pflege philosophischen Denkens wurde, sich fühlbar machte. Kant sagt geradezu, er sei durch David Hume aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt worden. 15. Und sieh da! auf diese Skepsis folgt wieder die mächtigste Reaktion, welche mittels unerhörter und unnatürlicher Mittel die Erkenntnis zu retten, ja, in weiterer Fortbildung, in überschwänglicher Weise zu erweitern sucht. 43

Voltaire (1694–1778) war es vorzüglich gewesen, der die Lockesche Lehre auf französischen Boden verpflanzt hatte.

44

Schon von Christian Wolff (1679–1754) kann man sagen, daß er die Leibnizsche Philosophie verwässert habe. Seine Schule war in der Zeit der deutschen Aufklärung vorherrrschend. Daß Lessing (1729–1781) sich wesentlich nur in Bezug auf seine Umdeutung der Dreieinigkeitslehre als Spinozist bekannte, im übrigen aber bei seinen philsophischen Anschaaungen sich zumeist an Leibniz gehalten habe, steht heute außer Frage.

45

David Hume, Inquiry concerning human understanding, Sect. 1.

46

David Hume 1711–1776.

47

Wie im Altertum trat auch in der Neuzeit neben dem Skepticismus ein Eklekticismus auf, dem eine gewisse skeptische Unsicherheit eigen war.

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In England fand diese Reaktion statt durch die sog. Schottische Schule, die heutzutage unter den Deutschen allzuwenig beachtet zu werden pflegt. Thomas Reid48, ihr Gründer, behauptete, daß in dem Bewußtsein aller Menschen eine Summe primitiver Urteile lägen, deren wir gewiß seien, obwohl sie uns nicht einleuchteten. Er nannte sie „common sense“, „gemeinen Menschenverstand“. Es sei möglich, daß wir uns in ihnen täuschten, aber, darum unbekümmert, müßten wir sie glauben und könnten darauf eine Wissenschaft gründen. So – aber nur so – lasse sich der Skeptizismus überwinden. In Deutschland war es Kant49, der sich die Aufgabe stellte, das Wissen gegenüber der Humeschen Skepsis zu retten. Und er verfuhr in wesentlicher Beziehung ähnlich wie Reid. Kant behauptet, die Wissenschaft verlange zum Untergrunde eine Anzahl von Prinzipien, die er synthetische Erkenntnisse a priori nennt. Sieht man genau zu, was er darunter verstehe, so findet man, daß er damit Sätze meint, die uns von vornherein feststehen sollen, ohne einleuchtend zu sein, also eine Summe primitiver Urteile von dem Charakter, den nach Reid die Urteile haben, die er als „common sense“ zusammenfaßt. Aber nun kommt etwas, was Kant eigentümlich ist. Während Reid nicht das geringste thut, um die offenbare Unvernunft der Forderung, auf blinden Vorurteilen ein Wissen aufzubauen, zu beschönigen, sinnt Kant auf ein Mittel, ein scheinbar so unsinniges Verfahren zu rechtfertigen. Und das führt ihn darauf, daß es unter einer Voraussetzung gestattet sein werde, auf solchen blinden Vorurteilen zu bauen, nämlich wenn wir annehmen, daß die Gegenstände sich nach diesen Vorurteilen richteten. Diese Annahme also müßten wir machen. Während man, sagt Kant, bisher annahm, unsre Erkenntnis richte sich nach den Dingen, nehmen wir jetzt an, die Dinge richteten sich nach unsrer Erkenntnis. Unter der früheren Annahme war der Skepticismus unüberwindlich. Nun aber wird auf Grund der synthetischen Urteile a priori sein Angriff siegreich zurückgeschlagen werden können. Das wäre nun alles sehr schön, wenn nur nicht von den beiden Annahmen die alte als die einzig naturgemäße, die neue dagegen als eine widernatürlich kecke Behauptung erschiene. Indes Kant sucht sie plausibler zu machen, indem er darauf hinweist, wie ein Teil der Gegenstände, auf welche sich unser Forschen bezieht, und zwar die sämtlichen Erfahrungsgegenstände, Phänomene und, als Phänomene, von unsrer Subjektivität mitbedingt seien. Nur für diesen Teil der Gegenstände 48

Thomas Reid (1710–1796) eröffnet die Reihe der Philosophen der sog. Schottischen Schule. Nach ihm waren Dugald Stewart (1753–1828), Thomas Brown (1778–1820) und Sir William Hamilton (1788–1856) die bedeutendsten.

49

Immanuel Kant 1724–1804.

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sollen darum unsre synthetischen Erkenntnisse a priori gelten, und über sie und über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus ein Wissen schlechthin unmöglich sein. Und so entfallen denn nach Kant, wie nach Hume, die erhabensten Untersuchungen, über Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, Anfang oder Anfangslosigkeit, Begrenztheit oder Unbegrenztheit des Weltalls u. s. w. u. s. w. So sehr das menschliche Gemüt hier nach Erkenntnis lechzen mag, man kann ein Wissen darüber schlechterdings nicht erlangen. Das war also zunächst ein sehr partieller Erfolg in dem Streben, dem Skepticismus seine Beute zu entreißen; – wenn es überhaupt ein Erfolg war. Denn eigentlich ist dies schlechtweg zu leugnen. Gegenstände, die Phänomene von uns sind, mögen allerdings in ihrer Eigentümlichkeit von unsrer Subjektivität irgendwie mitbestimmt sein; daß aber deshalb irgendwelches blinde Vorurteil, das wir hegen, sich in bezug auf ihren Verlauf bewähren werde, ist damit noch keineswegs dargethan. Nehmen wir ohne weiteres an, dies sei der Fall, so ist das eine logische Unzulässigkeit, und es trifft, wenn wir auf dieser Annahme eine Wissenschaft aufbauen wollen, unser Verfahren der alte Vorwurf der Skeptiker von der Willkür der Prinzipien in vollstem Maße. Kant indes wird sich dieser Schwäche seiner Lehre nicht bewußt. Was ihm Bedenken erregt, ist nicht ein Zweifel an der Sicherung des phänomenalen Wissens, sondern das Bewußtsein, daß er den besten und erhabensten Teil der Erkenntnis den Skeptikern habe preisgeben müssen. Und da erdenkt er sich denn einen andersartigen Ersatz. Sind die synthetischen Erkenntnisse a priori etwas, was wir blind glauben müssen, so ist das Dasein Gottes, so ist die Unsterblichkeit der Seele, so ist die Freiheit des Willens etwas, was wir blind glauben sollen. Sie sind Postulate der reinen praktischen Vernunft. Einsicht in ihre Wahrheit besitzen wir keine; aber unsre Ueberzeugung von ihnen mag darum nicht weniger zuversichtlich sein; ich werde an ihr mit nicht minderer Kraft als an meiner eigenen sittlichen Würde festhalten. So schmeichelt sich denn Kant, uns auch über die objektive Realität dieser erhabenen Ideen dennoch Gewißheit verschafft zu haben. Aber, wenn Nikolaus Cusanus seinem „Intellectus“ ein unbegreifliches Begreifen zuschrieb, so, scheint es mir, können wir sagen, daß Kant seiner „praktischen Vernunft“ ein unglaubliches Glauben zumutet. Alles, was bei ihm von Mitteln gegen den Skepticismus in Anwendung gebracht wird, ist so widernatürlich verschroben, wie es jedesmal in der Zeit der Reaktion gegen das zweite Stadium des Verfalles der Fall zu sein pflegt. Und doch war diese Reaktion in Deutschland erst im Beginne. Während die besonneneren Engländer auf dem unnatürlichen Wege, den Reid eingeschlagen, nicht weiter gehen, ja in der Schottischen Schule selbst schon der

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zweite Nachfolger Reids, Thomas Brown, wieder mehr einer natürlichen Betrachtungsweise sich annähert, folgt in Deutschland auf Kant Fichte50 mit seiner Methode von Thesis, Antithesis und Synthesis; auf Fichte Schelling51 mit seiner intellektuellen Anschauung, einer schlechthin absoluten Erkenntnisart; sie kann nicht gelehrt werden; auch ist nicht abzusehen, warum die Philosophie zu besonderer Rücksicht auf das Unvermögen verpflichtet sein sollte; nein! man soll den Zugang zu ihr vom gemeinen Wissen her so abschließen, daß kein Weg oder Steg dahin führt. Und auf Schelling folgt Hegel52 mit seiner absoluten Philosophie, die der sich selbst als alle Wahrheit wissende, die ganze natürliche und geistige Welt aus sich selbst reproduzierende Gedanke zu sein behauptet. Von einem völlig inhaltlosen Denken will Hegel ausgehen, die Negation zum Vehikel dialektischen Fortschritts machen, und nach einer Reihe von Tanzschritten, die er in dem Dreiachteltakt von Position, Negation und Einheit beider ausgeführt, glaubt er sich an dem hohen Ziele angelangt. 16. Nun wohl! Dieses Hegelsche System und seine Prätensionen sind gerichtet. Vor wenigen Dezennien noch allgemein als die höchste Leistung menschlicher Forschungskraft gepriesen, wird es heute ebenso allgemein als die äußerste Entartung menschlichen Denkens verdammt. Das ist ein gutes Zeichen. Und überhaupt dürfen wir vertrauen, daß unsere Zeit der Beginn einer neuen Periode der Entwicklung ist. An die Ueberzeugung von der Nichtigkeit der jüngsten Systeme knüpft sich naturgemäß der Versuch, auf ältere Denker zurückgehend, einen gedeihlicheren Anknüpfungspunkt zu gewinnen, wie das Mittelalter in Aristoteles ihn gefunden hat. Man kömmt bei dieser Suche zunächst auf Kant zurück und meint in diesem sozusagen den „Aristoteles der Neuzeit“ zu erkennen. Unsere geschichtliche Betrachtung zeigt, daß dies nicht der Fall ist. Weder was Kant vorausgeht, noch was er selbst lehrt, noch was auf ihn folgt, gibt ihm irgendwie eine Stellung, wie der alte Stagirite sie im Altertum eingenommen hat. Herbart sagt, Kant habe wohl einen Funken geschlagen, an dem man ein Licht hätte anzünden können, aber sein Erbe sei in die Hände eines taumelnden Geschlechtes gefallen. Und so gesteht er denn zu, daß es unmittelbar nach Kant ärger zugegangen, als je zuvor. Aber warum, frage ich, hat denn nach Kant das ganze Geschlecht getaumelt? Ist es nicht in der Geschichte der Wis50

Johann Gottlieb Fichte 1762–1814.

51

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling 1775–1854.

52

Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1770–1831. Dem Alter nach früher, war doch Hegel den wesentlichsten Werken nach später als Schelling.

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senschaft unerhört, daß, unmittelbar nachdem einer als der erste den rechten Weg gezeigt, alles, und zwar infolge seiner Einwirkung, auf ärgeren Abwegen sich befunden hat als früher? Sollen wir diesem und so manchem anderen durchschlagenden Argumente gegenüber uns durch die gegenwärtige öffentliche Meinung beirren lassen? – Wahrhaftig nein! Wenn man unserer Zeit nachrühmen darf, daß sie in der Philosophie sich verjüngt habe, so liegt darin zugleich ausgesprochen, daß sie zunächst in ein neues Kindesalter getreten ist. Da kann denn ihr Urteil von keiner großen Sicherheit sein. Auch gibt die gegenwärtige öffentliche Meinung in ihrem jähen Schwanken vielfach gegen sich selbst Zeugnis. Schloß sie sich nicht gestern der ethischen Mitleidslehre eines Schopenhauer an, um sie heute, dem inhumanen Suprahumanismus Nietzsches huldigend, zu verachten? So haben denn auch in Bezug auf Kant etliche von den Besten sich schon heute von der gangbaren Meinung völlig emancipiert. Herbert Spencer, um nur einen der Angesehensten zu nennen, denkt über ihn ganz so, wie ich selbst, und wir tun dies, jeder ganz unabhängig vom anderen. Und mehr als einmal begegnete es mir, daß Gelehrte, vor denen ich mein Urteil über Kant aussprach, ausriefen: „Ach! wie freue ich mich, das von Ihnen zu hören! Es ist vollkommen auch meine Ueberzeugung. Aber man darf sie nicht aussprechen.“ Eine solche Menschenfurcht kenne ich nicht. Vielmehr halte ich es für wissenschaftliche Pflicht, in einer für die Mitwelt so wichtigen Frage seine wahre Meinung offen zu bekennen. Lehrreich ist es auch, wenn man sieht, wie von den Versuchen, auf Kant zurückgehend die Philosophie weiterzuführen, keiner irgendwelchen Erfolg gehabt hat. Und wiederum, wie diejenigen, die ihn sich zum Meister wählen, sich doch zugleich genötigt sehen zu bekennen, daß man bei ihm unterscheiden müsse. Während sie gewisse Werke, insbesondere die Kritik der reinen Vernunft, hoch erheben, brechen sie über andere, wie insbesondere über die Kritik der praktischen Vernunft, den Stab. So Schopenhauer, so – ich sagte es schon – auch unser Lorm. Also nicht bloß andere sollen, nachdem Kant ihnen den rechten Weg gezeigt, völlig in der Irre sich verloren haben, sondern er selbst, behauptet man, sei, nachdem er ihn eben gefunden, sofort ganz irrige Bahnen gewandelt. Klingt das nicht seltsam über alle Maßen? Doch noch mehr! Auch aus der Kritik der reinen Vernunft werden umfangreiche Teile als unhaltbar und wertlos ausgeschieden; bei denjenigen aber, denen man, nachdem man die Lehre so vielfach durchgesiebt hat, allein bleibende Bedeutung zuspricht, erklärt man schließlich auch noch, daß sie gewisser Modifikationen bedürftig seien. Man identifiziert sie dann mit gewissen Anschauungen und Meinungen, zu welchen die moderne Naturwissenschaft

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führte, wie z. B. mit Johannes Müllers Lehre von der spezifischen Sinnesenergie und mit der Annahme von anererbten Vorstellungen und Urteilen, wie Häckel und andere Darwinianer sie machen, und mit Du Bois-Reymonds Lehre von den Grenzen des Naturerkennens. Auch Lorm verfährt nicht anders. Aber eine einigermaßen exakte Untersuchung zeigt, daß, was man so im wesentlichen für identisch erklärt, tatsächlich alle tiefere Verwandtschaft vermissen läßt. Die Lehre Müllers über die spezifische Energie hat nichts zu tun mit der Lehre Kants von den apriorischen Sinnesformen, Raum und Zeit, sondern vielmehr mit den Lehren von Locke und andern der älteren Empiriker über die Subjektivität der Sinnesqualitäten.53 Die Lehre Häckels und andrer Darwinisten über die vererbten Gedanken – nebenbei gesagt, mit aller Erfahrung durchaus im Widerstreit – hat nichts zu tun mit Kants apriorischen Begriffen und Erkenntnissen, die ja von der Art sein sollen, daß sie aus gar keiner Erfahrung, also auch nicht aus der unsrer Vorfahren, geschöpft werden könnten. Die Lehre von Du Bois-Reymond endlich hat nichts zu tun mit Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dings an sich und der Unanwendbarkeit der synthetischen Erkenntnisse a priori auf transcendente Fragen, außer etwa dies, daß beide lehren, daß die Erkenntnis des Menschen gewisse Schranken habe. Das aber hatte auch die alte empirische Schule gelehrt und darüber, auf Grund psychologischer Betrachtungen, eine Reihe treffender Bestimmungen gegeben.54 Aber von diesen Früheren weiß man gemeiniglich gar wenig und rechnet darum Kant oft als ursprüngliches Verdienst an, was er thatsächlich von andern überkommen und nur gewöhnlich durch mancherlei Zutaten verunreinigt hat. So meint man auch vielfach, Kant habe erst eine Harmonie zwischen Naturforschung und Philosophie hergestellt, während tatsächlich die beiden in dem Maß in Einklang gestanden, daß Lavoisier in seinem berühmten, für die Chemie grundlegenden Werke eine lange Erörterung von Condillac über die richtige Weise der Forschung einlegte und sagt, daß er bei seinen eigenen Untersuchungen sie befolgt und durchaus bewährt gefunden habe.55 Zurück also zu den eigentlichen, lauteren Quellen! Knüpfen wir an die Errungenschaften der aufsteigenden Entwicklungsphase an! Da finden wir 53

Thomas Young stellte schon vor J. Müller auf optischem Gebiete die Hypothese der spezifischen Sinnesenergie auf, ja er hat sie konsequenter als J. Müller durchgebildet. Ein Einfluß deutscher Philosophie erscheint aber bei Young vollständig ausgeschlossen.

54

Vgl. z. B. Locke, An essay concerning human understanding. IV. Chapt. 3.

55

Lavoisier, Traité élémentaire de chimie. Paris 1789. T. 1. Discours préliminaire pp. V et XXXI.

Die vier Phasen der Philosophie

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treffliche Vorarbeiten. Und da finden wir auch jene gesunde Methode, die es uns möglich macht, die Arbeiten erfolgreich weiter zu führen. 17. Aehnliches kann in Bezug auf die Leistungen der aufsteigenden Phasen älterer Perioden gesagt werden. Ich denke hier insbesondere an die Leistungen der antiken Philosophie. Sie hatte gegenüber der modernen Zeit den Vorzug einer länger aufsteigenden Entwickelung und konnte darum in manchem Betracht zu reicheren Ergebnissen gelangen. Von Aristoteles ist noch heute gar manches am besten zu lernen. Was die mittelalterliche Periode anlangt, so ist sie, wie auch immer – schon Leibniz hat dies erkannt56 – berücksichtigenswert, den beiden andern nicht gleichwertig. Eigentlich gab es in ihr niemals ein ganz freies Interesse für vernünftige Forschung. Die Philosophie wurde als „ancilla theologiae“ (als „Magd der Theologie“) geachtet. Nur relativ gilt darum von der ersten Phase dieser Zeit, daß in ihr das theoretische Interesse rein war. Ohne Frage hat dieser Umstand die Entwickelung beeinträchtigt, in der aufsteigenden Epoche von wichtigen Untersuchungen abgehalten und die Ausartung in sinnlose Subtilitäten, welche das erste Stadium des Verfalles charakterisiert, begünstigt. Darum kann die Rücksicht auf die mittelalterliche Philosophie nicht von gleichem Segen sein. Geradezu von Unheil aber würde sie werden, wenn man sie sich darin zum Muster nähme, daß man die Philosophie wieder in jenes knechtische Verhältnis zur Theologie bringen wollte.57 18. Aber nicht bloß in der Geschichte der modernen und antiken Philosophie hat die Gegenwart Anknüpfungspunkte zu suchen, sondern auch in den Leistungen andrer Wissenschaften, insbesondere in jenen der Mathematik und Naturwissenschaft, die heutzutage einer so mächtigen Entwickelung sich erfreuen. Alles in der Wissenschaft steht ja in Zusammenhang. Und so findet man in den Arbeiten großer Mathematiker und Naturforscher sogar zur Philosophie selbst wesentliche Beiträge. Um nur eines zu erwähnen, hat die Aus56

„Ich weiß“, sagt Leibniz, „die Bücher der Scholastiker sind voll von Albernheiten, aber Gold ist unter diesem Stroh verborgen.“

57

Hier folgten im Vortrag einige Worte mit Bezug auf den österreichischen Unterrichtsminister. Nach einer Mitteilung der Hochschulnachrichten hätte dieser sich über die Vorschläge der Fakultät hinweggesetzt und (gewiß mit klarstem Bewusstsein, ihrem Sinne durchaus entgegen zu handeln) einen scholastizierenden Philosophen, Examinator der fürstbischöflichen Alumnen in Breslau, für die mir seit 14 Jahren reservierte Wiener ordentliche Lehrkanzel zu gewinnen versucht. Aus ähnlichen Gründen, wie gewisse Bemerkungen der Einleitung (vgl. Anm. 3), habe ich auch diese Stelle des mündlichen Vortrags bei der Drucklegung ausgeschlossen.

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bildung der Wahrscheinlichkeitslehre gewisse logische Fragen in einer Weise geklärt, daß Humes’ skeptische Bedenken dadurch vollkommen behoben werden können, ja thatsächlich behoben worden sind. Von jenen unnatürlichen Mitteln, zu welchen Reid und Kant greifen zu müssen glaubten, wird dabei keinerlei Gebrauch gemacht. 19. Infolge davon ist der Weg in jene höheren Gebiete, zu welchen Kant, nicht durch das Thor intellektueller Einsicht uns einziehen, sondern, in seltsamster Art, durch jene unglaublichen Akte blinden Glaubens einbrechen lassen wollte, nicht mehr, wie es früher schien, verrammelt. Es ist wahr, Schranken bestehen thatsächlich für unser Erkennen und werden immer so bestehen. Bei vielen Fragen vermögen wir nur Wahrscheinlichkeit, bei andern nicht einmal diese in irgend beträchtlichem Maße zu gewinnen. Aber wenn all unser Wissen Stückwerk ist, so ist doch auch schon dies Stückwerk etwas Grandioses. Der Mensch ist das Gewaltigste, was da lebt, sagt Sophokles; und die Wissenschaft, nach Goethes Wort, „des Menschen allerhöchste Kraft“. Diese Kraft hat ihn schon oft weiter geführt, als er selbst in seinen kühnsten Träumen gehofft hatte, und so mag es auch hinsichtlich jener höchsten Fragen geschehen. Ohne das Wesen des Stoffes zu erkennen, haben wir doch erkannt, daß derselbe wesentlich inkorruptibel ist: ohne das Wesen des Geistes zu erkennen, vermögen wir vielleicht doch zu zeigen, daß er auf immerwährenden Bestand wohlgegründete Hoffnung hat; und ohne das Wesen des Urgrundes der Welt zu erkennen, mögen wir doch zu einer vernünftigen Ueberzeugung durchdringen, daß die Welt zum Besten von ihm geordnet ist. Damit wird dann eine Lösung der Optimismusfrage gewonnen sein, wie sie wahrhaft auch dem Gemüte zusagt. Unser Lorm erkennt richtig, daß die pessimistischen Objektionen, welche ein Schopenhauer und Hartmann gemacht, allen wissenschaftlichen Wertes ermangeln. Die einen beruhen auf absurder Metaphysik, die andern auf einer oberflächlich parteiischen Aufzählung von Vorkommnissen, die, für sich selbst betrachtet, mißliebig sein müssen. Was ihm als einzig wissenschaftlicher Pessimismus gilt, ist die traurige Diskrepanz zwischen dem intellektuellen Bedürfen des Menschen und seiner Kraft, dieses Bedürfen zu befriedigen, wie sie als Ergebnis von Kants Kritik der reinen Vernunft hervorzutreten schien. Auch diese Objektion ist gefallen. 20. Freilich bleiben nun noch andre und vielleicht größere zurück. Man hat auf die Dysteleologie in der organischen Welt und auf den Mangel jedes teleologischen Charakters in der unorganischen hingewiesen. Aber sieh

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da! auch hier ist durch den Fortgang der Untersuchung alles ins Gegenteil umgeschlagen. Huxley58, der gefeiertste Biologe der Gegenwart, bezüglich der Entwickelungslehre auf dem Darwinschen Standpunkt stehend, erklärt trotzdem ebenso wie vor kurzem der große Ernst von Baer59 und wie Lamarck60, als er am Anfang des Jahrhunderts zur ganzen evolutionistischen Bewegung den Anstoß gab, daß die Welt in ihrer Uranlage einen teleologischen Charakter zu tragen scheine. Und das heißt dann, einen teleologischen Charakter, der Organisches und Unorganisches gleichmäßig umfaßt. Noch andre Objektionen erheben sich; wie z. B. die, welche auf die notwendige Begrenztheit der Schöpfung,61 auf die geringe Zahl der Dimensionen des Raumes,62 auf die bevorstehende Zerstörung der Erde und andrer etwa bewohnter Himmelskörper, oder auf das Gesetz der Entropie und den gefürch58

Thomas Huxley, The Problems of Geology IV, wo er gegen Häckel polemisiert. Von deutschen Darwinisten betont insbesondere Weismann entschieden die Notwendigkeit einer teleologischen Grundlage des Universums.

59

Karl Ernst v. Baer, Studien aus dem Gebiete der Naturwissenschaften. 2. Ausg. Braunschweig 1886. II, IV u. V.

60

Jean-Baptiste Pierre Antoine De Monet De Lamarck, Philosophie Zoologique 1819.

61

In welcher Richtung hier die Lösung zu suchen sei, habe ich einmal in ein paar Versen auszusprechen versucht: Die beste der möglichen Welten Du sprichst: „Es muß die Welt die beste sein: Das beste wählt der beste, wenn er schafft.“ Ein andrer: „Nicht die beste ist sie, nein! Sonst wäre sie das Maß von Gottes Kraft.“ Doch hört ihr beiden, die ihr also streitet! Ist denn die Welt? – Nein! werdend überschreitet Sie jedes Guten Maß, und, endlos fern, Strebt sie von Aehnlichkeit zu Aehnlichkeit Zum unerreichbar hohen Bild des Herrn. (Wiener Almanach 1892.)

62

Es liegt nahe, daß man, um diesem Bedenken zu entgehen, darauf hinweist, wie außerhalb unsres Erfahrungsgebietes noch Unter- und Ueberräume (wenn wir uns diese Ausdrücke erlauben dürfen), und diese mit einer beliebigen Zahl von Dimensionen bestehen mögen. Hat doch auch Spinoza keine Bedenken getragen, seiner Substanz außer den zwei in die Erfahrung fallenden Attributen, des (nulldimensionalen) Denkens und der (dreidimensionalen) Ausdehnung, noch unzählige andre zuzuschreiben. Doch dies führt dann zunächst nur zu neuen Schwierigkeiten, und es droht nunmehr das Weltall, nach einem glücklichen Ausdruck des Aristoteles, einer schlechten Tragödie gleich in lauter Episoden zu zerfallen (Metaph. XIV, Kap. 3, 1090, b, 19). Es würde uns zu weit führen, wollten wir hier zeigen, wie schließlich auch dieser Einwand seine Lösung finden mag.

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teten Stillstand aller oder wenigstens der höheren Formen der Naturprozesse63 sich beziehen. Wieder andre heben die Schwierigkeit hervor, die sich ergibt, wenn man, wie die Theodicée es verlangen muß,64 alles, für sich betrachtet, Schlechte als etwas rein negatives oder doch nur aus einer Verbindung von an sich guten Elementen sich Ergebendes begreifen will. Hier führt die Untersuchung in die feinsten Betrachtungen der Kategorienlehre hinein. Man sieht, die Optimismusfrage ist von einer in den verschiedensten Richtungen weitverzweigten Komplikation. Aber es ist unter allen Knoten, auf welche man in diesem Gewebe von Schwierigkeiten stößt, nicht einer, der sich nicht lösen ließe. Ja, mit der Lösung ist dann immer zugleich die Entdeckung neuer, ungeahnter Vorzüge verbunden, indem das Wort des alten Optimisten Heraklit65 sich bewährt: „Die unsichtbare Harmonie ist schöner als die sichtbare.“ Die größten Denker der aufsteigenden Entwicklungsphasen, welche, wie die Geschichte lehrt, durchwegs optimistisch dachten, Platon und Aristoteles, wie Augustinus und Thomas von Aquin, und wie Descartes und Locke und Leibniz, haben hier gar manche Arbeit gethan, die unsern vollen Dank verdient; und es geht schlechterdings nicht an, so, wie Lorm es zu thun wagt, ihre optimistischen Ausführungen mit den pessimistischen unsrer neuesten Modephilosophen in eine Linie zu stellen. Was aber jene Denker zu thun übrig gelassen, das, dürfen wir sicher hoffen, wird von uns oder unsern Nachkommen gethan werden. 21. Jedes Wissen bringt in seiner Sphäre eine gewisse Freiheit und Erlösung. Von dem Wissen, welches über das, was wir in der Welt als Uebel empfinden, in einer das Gemüt befriedigenden Weise Rechenschaft gibt, wird dies mehr noch als von jedem andern gelten. Denn die pessimistischen Besorgnisse sind der traurigste Alpdruck, der auf der Menschheit lastet. Unsre Volksreligion mit ihrer Lehre von einem allmächtigen, allgütigen Vater aller ist eine optimistische, und nur darum und nur unter dem Zeichen des Optimismus hat sie die Welt, ich meine, denjenigen Teil der Menschheit, welcher der eigentliche Träger der Weltgeschichte geworden ist, für sich gewonnen. Es sind nun freilich Zeichen dafür vorhanden, daß sie ihn nicht für 63

Man vgl. hierfür z. B. die populären Vorträge von Helmholtz, „Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte“ aus dem Jahr 1854 und „Ueber die Entstehung des Planetensystems“ aus dem Jahr 1871.

64

Schon Augustinus und Thomas von Aquin hatten dies erkannt.

65

Heraklit von Ephesus, der geistvolle jonische Naturphilosoph, für den Sokrates die höchste Ehrfurcht bekundete, blühte um 500 v. Chr.

Die vier Phasen der Philosophie

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immer gewonnen habe. Aber wenn auch diese großartigste Kulturerscheinung verschwinden sollte, so wird dies nicht geschehen, um die Stelle einfach leer zu lassen, noch weniger, um sie durch eine pessimistische Weltanschaung zu ersetzen; vielmehr wird das einzige, was dauernd über sie triumphieren kann, ein geläuterter Optimismus sein, der von den Uebeln der Welt besser Rechenschaft gibt, als das Christentum durch die Lehre von der Erbsünde und stellvertretenden Genugthuung es zu tun vermocht hat. Es wird die Revolution eine ähnliche sein, wie die, welche ihrer Zeit das Christentum selbst hervorbrachte. Das ganze Zeremonialgesetz, das man für das Wesen der Religion gehalten, fiel, und, sieh da! das wahre Wesen blieb gewahrt und erschien gereinigt und verklärt. So dürfte wieder vieles fallen, was der Augenblick für wesentlich hält, — und ich sage dies, obwohl ich weiß, daß sich darob mancher edle Mann an mir, ähnlich wie einst mancher wohlmeinende Anhänger der Beschneidung an Paulus, ärgert –: aber die drei Worte des Glaubens, wie Schiller sie nennt, werden darum nur um so mächtiger im Gemüte tönen und das innere und äußere Leben schöpferisch zum Guten ordnen. Das walte Gott! Ja – ich vertraue darauf – das wird er walten.

Voraussetzungslose Forschung 1901

https://doi.org/10.1515/9783110621228-015

Sehr geehrte Redaktion! 1 Gestatten Sie zu dem Briefe, den Professor von Hertling an Professor Brentano gerichtet hat, noch einer Stimme Gehör. So viel Gutes gegen diesen Brief auch schon gesagt worden ist, so ist doch meines Erachtens ein gewisser sophistischer Zug dieses Schreibens noch nicht in’s gebührende Licht gesetzt worden. Professor von Hertling ist aber in der Frage, die uns beschäftigt, kein beliebiger Professor. Seit Jahren ist er für das eingetreten, was durch die Berufung des Professors Spahn für Straßburg verwirklicht worden ist. Er gilt als Hauptvermittler der Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät an der Straßburger Universität. Seine Ausführungen beanspruchen also Beachtung als die des Mannes, der den ganzen Fall Spahn in letzter Linie verschuldet hat. Herr v. Hertling beanstandet in seinem Briefe vor allem das Wort „voraussetzungslose Forschung“. Indem Mommsen und wir Universitätsprofessoren, die ihm beigepflichtet, sie verlangten, verstießen wir gegen die elementarsten Lehren der „Erkenntnißtheorie und Methodologie“; wir verkennten, daß jedes menschliche „Forschen und Wissen auf zahlreichen Voraussetzungen aufgebaut“ sei. Ist diese Beanstandung wirklich ernst gemeint? Das Wort „voraussetzungslos“ heißt in dem Zusammenhang, in dem wir es gebraucht haben, doch nichts anderes als „vorurtheilslos“. Die an einen wissenschaftlichen Forscher zu stellenden Anforderungen sind gleich denen, welchen jeder Richter entsprechen soll. Damit der Richter einen Rechtsfall behandle, verlangt aber niemand, daß sein Urteilsvermögen völlig tabula rasa sei, noch auch, daß er noch keine von jenen Kenntnissen besitze, welche bei der Entscheidung des Falles von Bedeutung sind, wohl aber verlangt man, daß er, durch keine vorgefaßte Neigung und Ueberzeugung subjektiv gebunden, mit unparteiischem Blick deren Pro und Contra rein objektiv gleichmäßig zu würdigen vermöge. So ist es denn selbstverständlich Keinem von uns eingefallen, etwas Anderes als solche Vorausetzungen zu verwerfen, welche, ohne selbst wissenschaftlich gesichert zu sein, sei es direkt, sei es in ihren Konsequenzen, dem Ergebniß rein wissenschaftlicher Untersuchung präjudizieren können. Es brauchte weder besonderer erkenntnißtheoretischer noch methodologischer Studien, sondern nur der gewöhnlichen Interpretationskunst, um dieses Mißverständniß zu vermeiden. Das Mißverständniß ist aber um so schwerer begreiflich, als die Mommsen’sche Erklärung sofort den Sinn des Wortes „voraussetzungslos“ näher 1

Aus Münchner Professorenkriesen erhalten wir die folgende Zuschrift:

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Vermischte Schriften

erläutert. In dieser Erläuterung hat der Ausdruck „Wahrhaftigkeit“ Herrn v. Hertling zu neuer Klage Anlaß gegeben. Doch wie er übersehen hat, daß jener Ausdruck durch Gleichsetzung mit diesem, so übersieht er, daß dieser durch Gleichsetzung mit jenem jeder Mißdeutung enthoben wird. Jede beleidigende Absicht gegen gläubige Gemüther liegt ihm fern. Gegen die Wahrhaftigkeit fehlt uns nicht Der, welcher als Gläubiger spricht und lehrt, wohl aber Derjenige, welcher Sätze, wozu er durch sein Glaubensbekenntniß bestimmt ist, unter Aufklebung einer rein wissenschaftlichen Etikette auf den Markt bringen will. Ich möchte versuchen, noch einmal kurz darzulegen, um was Wichtiges es sich in unserem Falle handelt. Wie immer man mit Hochachtung von dem positiven religiösen Glauben denken mag, es steht fest, daß er der Evidenz ermangelt. Er ist weder unmittelbare Einsicht, noch Wissen im Sinne einer aus unmittelbarer Einsicht bündig gefolgerten Erkenntniß. Auch sage ich damit nichts, was die katholische Kirche selbst etwa bestritte. Selbst Thomas von Aquin, der vor Allen hochgepriesene Kirchenlehrer, will es schon in den Worten des Apostels: „Fides est substantia sperandarum rerum, argumentum non apparentium“ scharf formuliert finden (Summa theol. 2a 2ae qu. 4 art. 1). Und an anderer Stelle sagt er, daß der Verstand auf doppelte Weise zustimme; einmal, weil er durch die Sache selbst zur Zustimmung gebracht werde, sei es unmittelbar oder mittels Schlußfolgerungen; dies sei das Gebiet des Wissens; sodann da, wo er nicht ausreichend durch die Sache selbst, sondern durch einen freien Willensakt, der ihn der einen Seite mehr als einer anderen geneigt mache, zur Zustimmung gebracht werde; wo solche Wahl mit Zweifel verbunden auftrete, sei das Gebiet der Meinung, wo dagegen mit Gewißheit, sei das des Glaubens. (Ibidem, qu. 1 art. 4.) So sagt er auch in dem darauf folgenden Artikel geradezu: „Impossibile est quod ab eodem scitum et creditum“, und dem entsprechend: „Quod communiter omnibus proponitur hominibus ut credendum, est communiter non scitum“ usw. Die Kirche selbst also lehrt, der Verstand stimme ihrem Dogma zu, obwohl Verstandesgründe die Möglichkeit des Irrthums nicht ausschließen, bewegt vielmehr vom Willen, der von den Versprechungen ewiger Seligkeit gelockt und den Androhungen ewiger Pein getrieben wird. („Wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet.“) Wenn man es sich nun auch häufig gestattet hat, von einer übernatürlichen Theologie als einer auf Glaubensprinzipien aufgebauten „Wissenschaft“ zu sprechen, so erkennt man doch leicht, daß hier das Wort Wissenschaft in einem ganz anderen Sinne gebraucht wird als in dem eigentlichen, von welchem an den eben angeführten Stellen des hl. Thomas die Rede ist. Und so würde

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es denn zu großer Verwirrung geführt haben, wenn man, diese Wissenschaft in homonymem Sinne den eigentlichen Wissenschaften an der Universität gesellend, nicht Sorge getragen hätte, sie in einer besonderen Fakultät für sich abzuschließen. Hierdurch allein ist der wahrhaft wissenschaftliche Charakter der Universitätsstudien gewahrt. Gegen diese, einem tiefgreifenden Interesse dienende Einrichtung würde aber auf ’s Entschiedenste verstoßen, wenn ein Dozent auch anderer Fakultäten, ähnlich wie ein Theologieprofessor, kraft seines Lehrstuhls gebunden wäre, sich ebenso mit den Sätzen des Glaubens wie mit den Lehren natürlicher Einsicht in Einklang zu erhalten. Freilich ist zuzugestehen, daß die Theologie, die sich ja vielfach mit philosophischen und historischen, ja selbst mit naturwissenschaftlichen Thatsachen berührt, ein Interesse hat, daß ihre Jünger über diese in der Art unterrichtet werden, daß die Schwierigkeit, die betreffenden Lehren mit den theologischen zu vereinigen, nichts in’s Ungemessene steigt. Und darum ließe es sich verstehen, wenn sie verlangte, daß in der theologischen Fakultät sogen. philosophische, historische, ja sogar naturwissenschaftliche Lehrstühle errichtet würden, welche in glaubensfreundlichem Eklektizismus Darstellungen von philosophischen, historischen und anderen Lehren böten. Jedes solche Kolleg wäre eine Art Dependenz der Apologetik. Dagegen hieße es nichts geringeres als den ganzen, notorischen, und, wie gezeigt, von der Kirche selbst zugestandenen, tiefgehenden Unterschied zwischen Wissenschaft im eigentlichen und im modifizierten Sinne leugnen, wenn man auch in anderen Fakultäten von einem Lehrer offiziell verlangte, daß er sich bei seiner Lehre von anderem als von dem Lichte bloßer natürlicher Einsicht beeinflussen ließe. Herr v. Hertling erklärt im weiteren Verlauf seines Briefes, auch ein gläubiger Katholik sei vollkommen frei in seiner vernünftigen Forschung, und es ist dies in einem gewissen Sinne richtig, insofern auch der gläubigste Katholik, wenn ihm seine Forschung irgendwo das Gegenteil von dem, was ein katholisches Dogma lehrt, mit Evidenz als wahr erwiese, nach dem Zeugniß des hl. Thomas selbst dieses Dogma nicht länger zu glauben verpflichtet wäre, ja es nicht einmal weiter glauben könnte (Summa theol. 1a 2ae qu. 17 art. 6. 2a 2ae qu. 4 art. 8, 1°). Er würde dann freilich mit diesem einen Glaubensartikel zugleich seinen ganzen Glauben an die Kirchenlehre über Bord werfen müssen (ebenda 2a 2ae qu. 5 art. 3). Aber abgesehen von der Frage, ob ein Gewissen, welches schon jede Versuchung zu einem Glaubenszweifel als einen verbrecherischen Gedanken zu verscheuchen gebietet, durch diese innere Intoleranz die konsequente Verfolgung des weiteren Weges zu solcher Erkenntniß sich nicht vielfach unmöglich macht – eine Frage, auf welche ich hier nicht einzugehen

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habe –, ist diese Freiheit nicht blos dem Forscher als Forscher, sondern auch dem Forscher als Lehrer zu wünschen, und als solcher besitzt er, wenn seine Lehrkanzel selbst ihn auf die kirchlichen Dogmen verpflichtet, diese Freiheit keineswegs. Er hat dann, wenn im Fortgang seiner Forschung jene Wandlung für ihn eintritt, keine Wahl, als entweder zu heucheln oder zu resignieren, womit es denn mit der Möglichkeit jenes freien Lebens selbst zu Ende ist. Auch erlitte er in solchem Falle, seiner Stellung und Subsistenzmittel beraubt, ein wahres wissenschaftliches Martyrium, zu welchem eine Kraft der Aufopferung gehört, von der leider keine Klasse von Menschen eine Ueberfülle zu besitzen scheint. Herr v. Hertling denke, um dies zu würdigen, an den hohen Wert, den man auf die Unabsetzbarkeit der Richter legt! Was würde er dazu sagen, wenn jeder Richter, sobald er in einem Rechtsfalle zu einem der Regierung unliebsamen Urteile käme, dieses nicht einmal mehr vom Richterstuhl aus verkünden dürfte, um daraufhin abgesetzt zu werden, sondern schon vorher zurücktreten müßte, um einem anderen mit liebsamer Auffassung die Fortführung des Prozesses zu überlassen? Ein solcher monströser Zustand wäre aber in Wahrheit die getreue Parallele desjenigen, gegen dessen Herbeiführung wir zum Heile der Wissenschaft wie des Vaterlandes zu protestieren uns gedrungen fühlten. Was für peinliche Konflikte zwischen theologischer Autorität und wissenschaftlicher Freiheit sind nicht schon entstanden! Der Gedanke an das Verbot der Werke des Kopernikus durch den Index und an den Schwur, zu dem Galilei gezwungen worden ist, scheint es Professor v. Hertling selbst nicht räthlich erscheinen zu lassen, auch einen von kirchlicher Autorität abhängigen physikalischen Katheder zu befürworten. Aber warum sollten dieselben Rücksichten nicht auch für jeden philosophischen und historischen Lehrstuhl maßgebend sein? Weiß Professor v. Hertling vielleicht nicht, daß es auf diesem Gebiet zu ähnlich harten Zusammenstößen wie einst auf dem der fortstrebenden Astronomie und neuerdings wieder auf dem der biologischen Evolutionslehre kommen kann, ja thatsächlich und wiederholt gekommen ist? Ein Beispiel aus der Philosophie, also gerade jener Wissenschaft, deren Interesse Professor v. Hertling selbst am meisten vertreten sollte, mag dies mit drastischer Anschaulichkeit nachweisen. Bezüglich der so viel verhandelten philosophischen Frage über die Natur der menschlichen Seele stand der Schule des Mittelalters die Aristotelische Auffassung fest, wonach sie die substanzielle Form des menschlichen Leibes sein würde. Ja so groß war das Ansehen des „maestro di color che sanno“, daß diese Bestimmung, von der man weder bei einem der griechischen noch lateinischen

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Väter eine Spur findet – Gregor von Nyssa, der einzige, der von ihr spricht, bekämpft sie ausdrücklich –, von Clemens V. auf dem ökumenischen Konzil von Vienne förmlich zum Dogma erhoben worden ist. Auch hat Leo X. am 14. Januar 1513 auf dem 5. Lateranensischen Konzil diese Bestimmung des Viennense ausdrücklich in Erinnerung gebracht und bestätigt. Doch diese These, offenbar von den allgemeinen Prinzipien der Aristotelischen Metaphysik in ihrer Haltbarkeit bedingt, ist heutzutage als ebenso veraltet und überlebt zu betrachten, wie die ganze Aristotelische Lehre von den substantiellen Formen überhaupt oder die Ideenlehre Platons, aus der sie sich entwickelt hat. Wer sie als Philosoph noch halten wollte, müßte eines der allgemeinst anerkannten und bestgesicherten negativen Ergebnisse philosophischer Kritik verleugnen. Trotzdem hat auch Papst Pius IX., als es sich um die Vereinbarkeit der Günther’schen Philosophie mit der katholischen Orthodoxie handelte – und wie konnte er anders? –, nicht gezögert, die Entscheidung des Viennense, der Konstanz der kirchlichen Dogmenlehre entsprechend, wieder zu urgiren und daraufhin Günther nur zwischen Revokation und Anathema die Wahl zu lassen. Will Professor v. Hertling, daß durch Errichtung eines Lehrstuhles für katholische Philosophie an der Universität Straßburg die Möglichkeit geschaffen werde, daß wir auch in den wiedergewonnenen Reichslanden die Wiederkehr dieses Vorgangs erleben? Oder verlangt er, daß dieser Lehrstuhl mit einem Manne besetzt werde, der – nach bekanntem Muster – seine Vorlesungen mit dem Satze beginne: Ich lehre Philosophie stehend auf dem Boden des Vatikanums, durch dessen Beschlüsse ich mich für gebunden erachte, und daß dieser Unglückliche wie ein Feldwebel einschwenke, je nachdem seine Lehren in Rom gebilligt oder gemißbilligt werden? Ein Unterzeichner des Dankschreibens an Mommsen

Thomas von Aquin (Geschrieben im März, am Todestage Thomas’ von Aquin.) 1908

https://doi.org/10.1515/9783110621228-016

Jüngst, als sich mir die zehnte Jahrwoche des Lebens schloß, kamen freundliche Grüße aus dem Norden und sagten mir, daß ich jenseits der Alpen noch nicht ganz vergessen bin. Da drängt es mich denn zu zeigen, daß auch meinerseits die Teilnahme für eine einstige Stätte langjähriger Wirksamkeit nicht erloschen ist. Vielleicht ist es nicht unpassend, wenn ich dazu den Tag wähle, an welchem vor nun mehr als 600 Jahren jener Mann aus dem Leben schied, den die Kirche als ihren vorzüglichsten philosophischen Lehrer feiert. Heute verweilen die Priester, wenn sie ihr Brevier lesen, betrachtend bei dem Bilde des Thomas von Aquin. Vielleicht werden auch andere nicht ungern in gewisse Erwägungen, zu welchen der Rückblick auf sein Leben anregen kann, eingehen. Wer war denn der merkwürdige Mann, von dem trotz allem Hin- und Herwogen philosophischer Meinungen eine päpstliche Enzyklika noch heute zu verkünden wagt, daß man nicht ohne Nachteil von seinen metaphysischen Anschauungen abgehen könne? Thomas von Aquin, im Jahre 1226 auf dem Schlosse seiner Väter in Campanien geboren, ist einem der edelesten Geschlechter entsprossen; war doch sein Vater ein Schwestersohn des großen Kaisers Friedrich Barbarossa. Was die Geburt anlangt, kommt also wohl kein anderer großer Philosoph, den die Geschichte kennt, ihm gleich. Doch dessen wird gewöhnlich gar nicht gedacht, ähnlich wie von Archimedes schier niemand weiß, daß er einer fürstlichen Familie angehört hat. Auf einem Gebiet höherer Ordnung verschwinden alle solche Auszeichnungen. Dagegen mag es einen Deutschen interessieren, wenn er erfährt, daß, wie bekanntlich in dem größten Dichter Italiens, auch in dem größten Philosophen, den dieses Land jemals hervorgebracht, mit dem italischen Blut germanisches sicht mischte. Auch darf man den Fall beachten, wenn man die Frage untersucht, inwieweit Kreuzung der Rassen für eine der Entwicklung großer Talente günstige Bedingung zu halten sei. Leibniz, in dem man gerade jetzt wieder den größten Denker der modernen Zeit zu erkennen beginnt, war unzweifelhaft eine Mischung von slavischem und germanischem Blut. Und ebenso ist der größte Denker der antiken Zeit, Aristoteles, aus der von den Griechen kolonisierten macedonischen Stadt Stagiros gebürtig, aller Wahrscheinlichkeit nach einer Mischung verschiedener Volksstämme entsprungen. Da ist denn bezeichnend, daß wir auch in Thomas von Aquin, dem gepriesensten Philosophen des Mittelalters, einen Germano-Romanen finden. In einem Lande, dessen Bevölkerung sich so buntscheckig zusammensetzt wie im schönen Oesterreich, mag

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man sich solcher Beobachtungen ganz besonders freuen. Und so ist es denn wirklich zu hoffen, daß ihm aus einem Umstande, der ihm so manche traurige Störung bringt, zum Ersatz dafür in dieser Hinsicht ein nicht zu unterschätzender Vorteil erwachsen werde. Insbesondere auch, wo es sich um eine arisch-semitische Mischung handelt, wird noch eine solche frohe Wahrscheinlichkeit bestehen; zumal festgestellt ist, daß die so hoch bevorzugte hellenische Rasse aus einem leichten semitischen Einschlag in eine arische Rasse hervorgegangen ist. Doch gerade auch an die Schwierigkeiten, welche aus der engen Berührung verschiedener Nationen sich ergeben können, werden wir im weiteren Verlaufe des Lebens unseres Philosophen erinnert. Nachdem Albert der Große, der damals zu Köln mit höchstem Ruhme lehrte, die glänzenden Gaben des jungen Ordensgenossen erkannt hatte, wurde dieser nach Paris geschickt, um in der Stadt, welche der vorzüglichste Sitz des mittelalterlichen Studiums war, seine frühgereifte Lehrgabe zu betätigen. Die wissenschaftlich aufstrebende Jugend aller Nationen strömte hier zusammen, so daß die Studentenschaft ein buntes Völkergemisch aufwies. Insbesondere wurden vier große nationale Gruppen, die der Franzosen, die der Normannen, die der Picarden und die der Engländer, von denen die drei letzten vereint jene der Franzosen an Zahl ungefähr erreichte, unterschieden. Da kam es denn zu den ärgsten Reibungen, welche zur Folge hatten, daß zeitweilig die Universität geradezu in ihrer Einheit aufgehoben wurde und in zwei, die eine für die Franzosen, die andere für die anderen drei Nationen, auseinanderfiel. Man wird, wenn man von dem Treiben hört, gar sehr an das, was Oesterreich in seinem Prag erlebte und erlebt, erinnert. Aber in einem Stück zeigt sich der Verlauf der damaligen Ereignisse dem in unserer Zeit ungleich, und es mochte gerade das Auftreten einer so überragenden Persönlichkeit wie Thomas das Zweckwidrige solcher Zerfällung recht fühlbar machen. Denn wie konnte man ohne die schwerste Schädigung von der einen oder anderen Seite auf die Wohltat eines solchen Lehrers verzichten? So gelang es denn auch nach einigen Jahren unter dem beschwichtigenden Einfluß der päpstlichen Legaten, die Einheit wieder herzustellen. Wer sähe nicht, wie aus ähnlichen Gründen auch in neuerer Zeit ähnlicher Schaden werde erwachsen müssen? Und so kann ich nur den Wunsch aussprechen, daß er, wenn offenbar geworden, auch jetzt wieder zur Umkehr führe. Ich erinnere mich, wie einst auch mein Freund, der Slave Miklosich, die Verdoppelung der Prager Universität ebenso sehr wie mancher einsichtige Deutsche beklagte. Und er hätte, wenn dort ein czechisches Genie sich der deutschen Unterrichtssprache bediente, darin so wenig einen nationalen Verrat erblickt, als wenn einst der gut patrioti-

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sche Leibniz in französischer Sprache den Ruhm der deutschen Philosophie begründet hat.1 Die Vermutung, die ich aussprach, daß gerade die unvergleichliche Bedeutung eines Lehrers wie Thomas von Aquin es gewesen, welche damals zur besseren Einsicht führte, findet auch darin eine gewisse Bestätigung, daß uns berichtet wird, Thomas habe den besonderen Titel gemeinsamer Lehrer, „communis Doctor“, erhalten, ein Name, der sich ganz besonders als passend erweist, wenn man sich denkt, daß eine sonst scharf geschiedene Studentenschaft sich nur in seinem Hörsaale vereinigt fand, was dann eine allgemeinere Wiederverschmelzung der lernbegierigen Jugend begünstigen und vorbereiten mochte. Doch Genaueres wissen wir darüber nicht und erfahren nur, daß die Benennung als gemeinsamer Lehrer mit der alles übertreffenden Klarheit seiner Darlegung in Zusammenhang gestanden habe. Wie gut verschiedene Nationalitäten zu einem wissenschaftlichen Werk ihre Kraft vereinigen können, das zeigt sich gerade wieder recht anschaulich bei Thomas von Aquin in seinem Verhältnis zu Albert dem Großen. Dieser ein Deutscher, aus dem gräflichen Geschlecht der von Bollstädt in Lauingen, jener ein Italiener. Und wie einträchtig wirkten sie zusammen! Ihre Arbeiten verflochten sich so, daß wir, was dem einen, was dem andern an Verdienst zukomme, gar nicht recht eigentlich zu scheiden vermögen. Auch wird, was man gemeiniglich thomistische Lehre nennt, von einzelnen ganz richtig als albertino-thomistische Lehre bezeichnet. Nur eines dürfen wir sagen, daß, wenn Albert den Anfang gemacht, Thomas es gewesen, der das Begonnene zur höchsten Vollendung führte und ihm, was die Darstellung betrifft, die entsprechendste Gestalt verlieh. Man wird hier durch das Verhältnis der zwei großen Philosophen des Mittelalters an das seiner zwei großen Juristen erinnert; denn Irnerius (Wernher) war ein Deutscher und Accursius (Accorso), der andere große Glossator, welcher das von Wernher Begonnene zu seiner Höhe führte, ein Italiener. Fragen wir aber nach der Leistung, die jene beiden großen Denker mit Aufwand einer wahrhaft genialen Kraft und einer riesigen Energie vollbracht, 1

Ein Freund, dem ich eben in diese meine Erwägungen Einblick gebe, bezeichnet mir die hier ausgesprochene Hoffnung als eine starke Utopie. Er kennt die Prager Universitätsverhältnisse aus nächster Nähe. Und so scheint es wohl für lange Zeit im Interesse beider Nationen bei der von mir beklagten Trennung bleiben zu müssen. Scheidet man doch selbst Eltern und läßt die Geschwister getrennt erwachsen, obwohl die gemeinsame Sorge für die in einem Haus Verbundenen das Natürliche ist, wenn es als das einzige traurige Mittel erscheint, das weitere Leben erträglich zu machen.

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so läßt auch sie sich dem Werke jener großen Bologneser vergleichen. Dem Mittelalter war die Aufgabe zugefallen, das reiche Erbe, das die antike Zeit hinterlassen, das aber seit dem Zusammenbruch des Römerreiches beim Andrang der barbarischen Völker unter den Trümmern begraben lag, für die erneute Welt zu retten. Irnerius und Accursius waren es, die das römische Recht von dem Schutte befreiten. Albertus und Thomas aber erneuerten das Verständnis der aristotelischen Philosophie, welche als die Summe der Leistungen der antiken Spekulation zu betrachten ist, in einer Weise, daß sie mit ihrem Einfluß das ganze höhere Denken des verjüngten Europa zu durchdringen vermochte. Lewes sagt einmal von Aristoteles, seine Einwirkung auf die Geschichte der Menschheit sei eine ebenso kolossale als wohl berechtigte gewesen; die keines anderen Menschen (gewisse Religionsstifter ausgenommen) komme der seinigen gleich. Wir mögen aber hinzufügen, daß dieser Einfluß, wie immer vielleicht berechtigt, ohne die vermittelnde Arbeit eines Thomas nicht in entfernt ähnlichem Maße stattgefunden haben würde. Welche Absicht Albert und Thomas bei ihrer Arbeit verfolgt und inwieweit sie das Beabsichtigte wirklich erreicht haben, darüber ist man weniger einig, als wenn man in bezug auf die Bologneser Glossatoren die ähnliche Frage aufwirft. Sehr verbreitet ist die Meinung, daß Albert und Thomas gar nicht eigentlich darauf ausgegangen seien, den wahren Sinn der aristotelischen Schriften verständlich zu machen; vielmehr hätten sie sich vorgenommen, ihn umdeutend zu berichtigen, und so hätten sie denn auch etwas unvergleichlich Vollkommeneres als Aristoteles selbst geliefert. Allein so sehr die enthusiastischen Verehrer des Thomas gerade heute es lieben, seine Absicht und Tätigkeit so aufzufassen, um ihren „Doctor Angelicus“ in noch hellerem Glanze strahlen zu lassen, so widersprechen dem doch die ausdrücklichsten Erklärungen von Thomas sowohl als von Albertus, und ich dächte, es heiße wenig ihrer Ehre dienen, wenn man Behauptungen aufstellt, die sie geradezu als Betrüger erscheinen lassen würden. Es bliebe also nur etwa die Meinung möglich, daß Albertus und Thomas, indem sie etwas gewollt und nicht erreicht, bei diesem Fehlgehen glücklich auf eine unvergleichlich vollkommenere Lehre geraten wären. Ich überlasse es jedem, der gesunden Menschenverstand hat, über die Wahrscheinlichkeit einer so grotesken These sich selbst sein Urteil zu bilden. Nein, die beiden großen mittelalterlichen Kommentatoren des Aristoteles strebten wirklich nur nach seinem Verständnis; wie Wernher und Accorso zu einem Papinian, blickten sie zu Aristoteles mit demütigster Ehrfurcht empor. Und sie sind auch nicht bei diesem Streben auf glückliche oder unglückliche Abwege geraten, sondern haben vielmehr ihre Aufgabe so vollkommen gelöst, daß heute noch kein anderer Kommentar, weder unter jenen, welche wir

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aus der antiken Zeit, noch denen, welche wir von modernen, mit mancherlei philologischen Kunstmitteln ausgestatteten Erklärern besitzen, besser oder nur gleich gut wie sie in die schwierigsten Lehren des Aristoteles einzuführen vermag. Fragt man, wie dies begreiflich sei, so ist einerseits zu erwidern, daß Thomas schon über mehr Hilfsmittel verfügte, als man gemeiniglich glaubt. Man findet Themistius mit den eingestreuten Fragmenten des Theophrast, Simplicius, Alexander Aphrodisiensis und andere antike Kommentatoren bei der Erklärung schwieriger Stellen berücksichtigt. Auch hatte er den Bruder Wilhelm von Moerbeke zur Seite, der, des Griechischen mächtig, überall das Original verglich und die früheren mangelhaften Übertragungen sorgsam durch getreuere Versionen zu ersetzen sich bemühte. Andererseits aber bedient er sich einer Methode, welche, wo es sich um karge, oft knappe, oft fragmentarische, im einzelnen mehrdeutige Aeußerungen handelt, wie sie uns in den aristotelischen Werken vorliegen, allein von Erfolg gekrönt sein kann. Thomas hat immer das Ganze der aristotelischen Lehre vor Augen, in der ja sein eigenes Denken lebt und webt, und sucht die Teile aus dem Ganzen zu begreifen. Er beachtet von jedem die eigentümliche Funktion und führt sie zu ihren Folgerungen: er weiß es wie Cuvier, aus dem Befund eines einzelnen Organes ein anderes hinzugehöriges vorzuahnen. Dies verlangt freilich mehr als ein philologisch-kritisches Talent; es bedarf dazu einer philosophischen Kongenialität. Ich war einmal gegenwärtig, als Hofrat Benndorf dem Bildhauer v. Zumbusch Fragmente von Statuen zeigte, die er von seiner Expedition nach Kleinasien heimgebracht und in welche er nicht Sinn noch Ordnung zu bringen wußte. Da war es nun eine Freude zu sehen, wie ganz anders dies dem Künstler gelang, der bei jedem einzelnen Teil eigentümliche Hinweise auf nicht Gegebenes entdeckte und daraufhin den Gedanken des Kunstwerkes in der Art zu rekonstruieren vermochte, daß solches, dessen Zusammengehörigkeit bereits zweifelhaft schien, nunmehr als vereinbar, ja als von einander gefordert sich erwies. In solcher Art arbeiteten denn auch Albert und Thomas, und ein unvergleichlicher Erfolg krönte ihre Mühen. Und auf diese Weise richtig begriffen, konnte Aristoteles nun auch erst einen Einfluß gewinnen, den er, wenn er jene barocken und inkohärenten Lehren aufgestellt hätte, zu welchen mit einer, wie sie glauben, exakteren Methode manche Forscher heutzutage bei ihrer Erklärung gelangen, sicher niemals zu üben vermocht haben würde. Immerhin war es auch so noch keineswegs leicht, seiner Lehre im Mittelalter Eingang zu verschaffen. Die Geschichte berichtet vielmehr von dem

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heftigsten Widerstand, auf welchen die Einführung seiner Philosophie stieß. Und zwar waren es hauptsächlich der starr konservative Sinn einer älteren Theologenschule, die nur von der im Kontakt mit dem Neuplatonismus sich entwickelnden augustinianischen Philosophie wissen wollte, sowie jenes Mißtrauen, welches die kirchliche Obrigkeit jeder Neuerung, möge sie auch den entschiedensten Fortschritt bedeuten, entgegenzubringen pflegt, welche das vorzüglichste Hemmnis des großen Unternehmens wurden. Ich muß mich der Kürze wegen darauf beschränken, dies durch einige wenige Data zu belegen. *** Da bei der Wende des zwölften zum dreizehnten Jahrhundert das christliche Abendland zu den, teils mehr, teils minder lang, schon von früher her bekannten logischen Schriften des Aristoteles auch seine übrigen Hauptwerke von den Arabern überkam, erfolgte im Jahre 1210 ein scharfes kirchliches Verbot ihres Studiums. Das zu Paris abgehaltene Provinzialkonzil von Sens untersagte unter Strafe der Exkommunikation die Lesung der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles, das heißt ihre Interpretation sowohl in öffentlichen als in Privatvorlesungen. Und fünf Jahre später erneuerte der päpstliche Legat Robert de Courçon dasselbe Verbot in den den Pariser Schulen gegebenen Verordnungen. Gregor IX. mäßigte im Jahre 1231 in etwas den verdammenden Ausspruch, indem er zwar das Verbot der Bücher aufrecht erhielt, aber für später eine teilweise Erlaubnis ihres Studiums in Aussicht stellte, wenn nur erst eine entsprechende Auswahl des Guten und Ausscheidung des Verderblichen getroffen sein werde. Zu einer solchen Auswahl kam es aber niemals und konnte es auch der Natur der Sache nach gar nicht kommen. Und so bestand denn das päpstliche Verbot auch des weiteren in Kraft. Aber freilich nur rechtlich, nicht tatsächlich; denn dem Drange einer aufstrebenden geistigen Gewalt konnte sogar in jener Zeit, wo der römische Stuhl noch ungleich mächtiger war als in der unsrigen, ein päpstlicher Machtspruch nicht in genügender Weise wehren. Das Studium der indizierten Werke dauerte fort, ja wurde immer allgemeiner. Zeichen dafür sind Universitätsverordnungen, wie die der englischen Nation vom Jahre 1252, welche von jedem Baccalaureus, der die Magisterwürde erlangen will, fordert, daß er die Vorlesungen über die drei Bücher der Seele gehört habe, und die von 1255, welche nicht weniger als die Bekanntschaft mit Physik, Metaphysik, De Anima, De Sensu et Sensibili, De Memoria et Reminiscentia, De Somno et Vigilia, De Juventute et Senectute, De Vita et Morte, De Coelo

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et Mundo, De Generatione et Corruptione und anderen, teils echten, teils damals noch fälschlich für echt gehaltenen Schriften des Aristoteles zur Bedingung macht. Daraufhin erschien als sichtliches Zeichen, daß das alles noch immer dem päpstlichen Verbot entgegen geschah, im Jahre 1263 eine neue Verordnung des Papstes Urban IV., welche die Bestimmungen Gregors IX. in Erinnerung brachte. Natürlich auch diesmal ohne Erfolg. Vielmehr gelang es den Bemühungen von Albert dem Großen und Thomas von Aquin allmählich, die Besorgnisse der päpstlichen Kurie zu mildern, ja schließlich sogar sie der philosophisch-theologischen Reformbewegung geradezu günstig zu stimmen. Nun war es aber, wie gesagt, nicht der päpstliche Stuhl allein, vielmehr auch eine erbgesessene, retrograde Theologenpartei, welche sich im heftigsten Widerstand gegen die damals moderne Bewegung gefiel. Und so konnte es denn noch vier Jahre vor Thomas’ Tod geschehen, daß dieser bei einer Disputation an der Universität Paris sich bei allem, was heilig ist, beschworen sah, von einigen verderblichen peripatetischen Lehren zu lassen. Er, in seiner sanften Art, nahm die Vorwürfe so friedfertig und mit der Erklärung seines guten Willens zum Gehorsam gegen die Kirche hin, daß die Gegner sein Benehmen so auffaßten, als habe er in der Sache selbst ihnen Recht gegeben. Aber wir finden ihn in seinen Schriften nach wie vor die damals so heftig angegriffenen Thesen mit gleicher Entschiedenheit vertreten. Die theologische Fakultät der Universität Paris blieb, so lange Thomas lebte, seinen Neuerungen abhold. Nur die Facultas Artium, worin sich die drei weltlichen Fakultäten vereinigt fanden, folgte den von ihm gegebenen Impulsen. Diese war es denn auch, welche, als Karl von Anjou ihn nach Neapel rief, um der dort neu konstituierten Universität einen rascheren Aufschwung zu geben, das Ordenskapitel der Dominikaner zu Florenz anflehte, sie doch des gefeierten Lehrers nicht auf die Dauer zu berauben. Und als diese Bitte sich nicht erfüllte, vielmehr ein Fieber den noch nicht ganz Achtundvierzigjährigen in Italien plötzlich dahinraffte, da hören wir sie in einem neuen Schreiben sich mit dem flehenden Wunsch an das Ordenskapitel zu Lyon wenden, um nunmehr wenigstens die Leiche des herrlichen Mannes zu erhalten, damit er dort ruhe, wo er solange in segensvollster Weise tätig gewesen sei. Es ist dies ein im ganzen Mittelalter einzig dastehendes Beispiel ehrender Auszeichnung. Wir müssen bis tief in die moderne Zeit herabgehen, um etwas Aehnliches zu finden, wenn Frankreich die Ueberreste des großen Descartes aus der schwedischen Königsgruft sich zurückerbittet. Es war aber, man merke wohl, nicht die ganze Universität Paris und auch nicht im besonderen die theologische Fakultät, vielmehr die Vereinigung der drei weltlichen Fakultäten, von welcher diese außerordentliche Ehrung

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ausging. Und dies bereitet uns einigermaßen auf das vor, was drei Jahre nach dem Tod von Thomas von Aquin geschehen ist. Denn damals, im Jahre 1277, ließ der Bischof von Paris, Etienne Tempier, auf einer berühmt gewordenen Diözesansynode unter einer längeren Reihe von zum Teil sehr gröblich anstößigen Thesen auch etwa 20 Sätze, welche von Thomas vertreten worden waren, als häretisch verdammen, und jeden, der sie noch weiter verteidigen würde, mit der Exkommunikation ipso facto bedrohen. Es war wohl nicht zufällig, daß dafür gerade der 7. März, also der Todestag des Thomas von Aquin, ausersehen worden war. Und so feiern wir denn heute nicht bloß den Gedenktag seines Todes, sondern auch den der strengen Verdammung seiner Thesen durch eine hohe kirchliche Autorität. Nicht ganz 14 Tage später erfolgte dann in England durch den Erzbischof von Canterbury, Robert Kilwardby, obgleich dieser sogar selbst dem Predigerorden angehörte, ein in milderer Form abgefaßtes Verbot von noch weiteren wichtigen Lehrsätzen unseres Philosophen, die der Bischof von Paris sich daraufhin ebenfalls zu verbieten beeilte. Ja die Chroniken berichten uns von den trübsten Klagen der für den Fortschritt der Wissenschaft interessierten Kreise über die Störungen der Studien durch den Verdacht, welchem an dem Zentrum der mittelalterlichen philosophisch-theologischen Kultur die Schriften des hervorragendsten Lehrers verfallen waren, aus denen doch allein wahre Förderung gewonnen werden könne. Dringlich verlangte man, daß sie, von den Irrtümern, die sie etwa enthielten, gesäubert, dem allgemeinen Gebrauch wieder zugänglich gemacht würden. Doch der Rückschlag sollte nicht lange ausbleiben. Der DominikanerOrden sorgte dafür, daß der der Bewegung ungünstige Erzbischof von Canterbury durch eine Beförderung zum Kardinal nach Rom abberufen und damit das hauptsächlichste Hindernis für das Eindringen der thomistischen Philosophie in England beseitigt wurde. Und so gewann sie nun dort, wie überhaupt, mehr und mehr an Boden. Das Ansehen des großen Lehrers stieg zusehends. Im Jahre 1325 erfolgte seine Heiligsprechung, wobei, wie sonst auf Wunder, auf seine wunderbaren Werke hingewiesen wurde, und 1567 wurde ihm von Pius V. feierlich der Titel eines Doctor Ecclesiae, den früher im Abendlande nur Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregor der Große getragen hatten, zuerkannt. So hat die Kirche die früher ihm angetane Schmach, die von dem noch überlebenden greisen Albertus Magnus als schwerste Kränkung empfunden wurde, reichlich gut gemacht. Nur eines hat der Papst in Rom versäumt, nämlich dem großen Philosophen auf öffentlichem Platze ein Monument zu errichten. Dafür ragt dort das Standbild von Giordano Bruno, der, was seine Philosophie und

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ihren geschichtlichen Einfluß betrifft, wie die „Ars Magna“ des Lullus hinter der Logik des Aristoteles, ganz unvergleichlich hinter Thomas zurücksteht. Das Verbrechen eines intoleranten Jahrhunderts, das ihn als Märtyrer für die heiligste Pflicht des Forschers den Feuertod hatte erdulden lassen, verlangte von der vorgeschritteneren Zeit eine solche Sühne. Doch hat das junge Italien auch des Thomas von Aquin nicht ganz vergessen. Auf dem Pincio befindet sich unter den Marmorbüsten der berühmten Italiener, zu deren Aufstellung Mazzini 1849 die Anregung gab, auch die des Thomas von Aquin; zufällig nicht weit entfernt von der Napoleons I., so daß man die Züge des einen und anderen außerordentlichen Mannes leicht vergleichen kann. Man fühlt sich dann von der großen Aehnlichkeit betroffen. Abgesehen von einer gewissen reicheren Fettbildung infolge sitzender Lebensweise bei rein vegetabilischer Ernährung, unterscheiden sich die des Philosophen vornehmlich durch einen Ausdruck von Sanftmut und Güte im Gegensatz zu der Härte des rücksichtslos herrschsüchtigen Cäsaren. Die Herrschaft des Aristoteles hat länger gewährt als die Alexanders des Großen. Schon jetzt kann man Aehnliches von der Herrschaft, die die thomistische Lehre ausgeübt hat, im Vergleiche mit der napoleonischen Gewaltherrschaft sagen. Und sie war in vieler Beziehung sicher segensreich. Noch Leibniz, der im Gegensatze zum revolutionären Radikalismus Descartes’ auch die Traditionen früherer Zeiten in ihrem Werte zu begreifen wußte, bekannte sich vielfach Thomas zu Dank verpflichtet. Auch unsere Zeit würde dies vielleicht mit gutem Grunde tun, wenn sie nicht sehr allgemein ihn vorurteilsvoll ganz zu ignorieren liebte. Die Zerfahrenheit und die unsicheren Schwankungen der neuesten Philosophie zeigen sie aber keineswegs in einem so glänzenden Lichte, daß sie nicht nach dem Beispiel des großen Leibniz hilfsbegierig auch auf ältere und älteste Zeiten ihre Blicke kehren dürfte. Und wie sehr hat Ihering es bedauert, erst nach Abfassung seines Werkes „Der Zweck im Recht“ von den einschlägigen Lehren des Thomas von Aquin Kenntnis erlangt zu haben! Doch andererseits beachte man wohl, daß nicht jede Einwirkung, die jemand übt, sondern nur diejenige, welche seinem Sinn und seiner Absicht entsprechend ist, wahrhaft als eine Herrschaft, die er noch bewahre, aufgefaßt werden darf. Und so war es denn keineswegs mehr ein Herrschen des Aristoteles zu nennen, wenn er, der so energisch den Fortschritt des Wissens anstrebte, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zum Mittel retrogradester Bestrebungen gemacht wurde. Damals wiedererstanden, hätte er sicher nicht auf der Seite der sogenannten Aristoteliker, sondern derer, welche der Wissenschaft eine neue Aera eröffneten, gestritten. Auch für Thomas war und

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ist Aehnliches nicht ausgeschlossen, und wohl dürfen wir sagen, daß er ein solches Schicksal mehr beklagt und als Verunehrung seines Namens verabscheut haben würde als selbst die Verdammung seiner Thesen unter Androhung der höchsten kirchlichen Strafe durch den intolerant eifernden Bischof von Paris. Thomas war die vorzüglichste Zierde seines Ordens. Es ist begreiflich, ja nur zu billigen, wenn dieser wünscht, daß sein Verdienst noch heute allgemein anerkannt werde. Doch jedes gute Streben kann sich durch Uebertreibung in sein Gegenteil verkehren, und so erinnere ich mich denn eines Briefes, den mir einst Heinrich Denifle aus seinem Scholastikat nach Würzburg schrieb, und worin er mir mit gedrückter Seele erzählte, wie ihnen gelehrt werde, daß Thomas die ganze Philosophie für immer zum Abschluß gebracht habe; man könne hier nichts anderes mehr tun, als seine Lehre erklären und gegen neue Einwände schützen. Mit jenem historischen Sinn, den der verdienstvolle Herausgeber des „Chartularium Universitatis Parisiensis“ später in reichen schriftstellerischen Arbeiten bewährt hat, schien er die ganze Ungeheuerlichkeit einer solchen Behauptung zu fühlen. Doch schon unmittelbar nach Thomas’ Tod hatte eine ähnliche Auffassung sich unter den Dominikanern zu bilden begonnen, und nachgerade kam es dahin, daß jeder, der in den Orden trat, mit dem Habit zugleich die Waffenrüstung der thomistischen Philosophie anlegen mußte. Aehnlich schworen dann die Franziskaner auf ihren Duns Scotus, und nun kam es an der Stelle eines freien wissenschaftlichen Interesses zu jener ipsissimistischen Rechthaberei, welche den Niedergang der Philosophie im späteren Mittelalter wesentlich verschuldet und die Scholastik bis heute in Verruf gebracht hat. Es ist wahr, Thomas hat sich an die Autorität des Aristoteles angelehnt. Selbst wesentlich Kommentator, könnte man sagen, habe er das Beispiel zu einer nur kommentierenden Philosophie gegeben. Doch wie seltsam würde diese sich als bloßes Kommentieren eines Kommentators ausnehmen! Was Thomas tat, geschah in gerechter Würdigung der Lage seines Jahrhunderts im Vergleich mit der ungleich günstigeren des Aristoteles auf dem Höhepunkt der antiken Kultur. Es war die Zeit der Lehrjahre für das wieder jung gewordene Europa. Der Lehrling muß sich an einen Meister anschließen, selbst auf die Gefahr hin, von ihm zu Fehlern geführt zu werden; wie ihm denn auch Goethe mit dem ihm eigenen praktischen Sinn zuruft: „Mit ihm zu irren, ist dir Gewinn.“ Aber auf die Lehrjahre sollen naturgemäß auch Wanderjahre und Meisterjahre folgen.

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So war denn auch die Betonung der aristotelischen Autorität bei Thomas etwas ganz anderes als das αὐτὸς ἔφα der Pythagoreer, das jeden Widerspruch endgiltig niederschlagen sollte. Vielmehr lehrt er aufs ausdrücklichste, daß ein Autoritätsbeweis eine relativ schwache Begründung sei, die mit einem eigentlich wissenschaftlichen den Vergleich nicht aushalte. Wie wenig mit einem Ausspruch seines „Philosophen“ eine Frage ihm als zweifellos entschieden galt, tritt unter gewissen Umständen ganz besonders klar hervor. Die Weltanschauung des Aristoteles war eine monotheistische und durchaus teleologische; in dieser Beziehung der des Leibniz verwandt. Und es konnte daher, wie dieser seine, so Thomas im allgemeinen die aristotelische Philosophie zum christlichen Dogma in ein freundliches Verhältnis setzen. Dennoch war dies nicht überall der Fall, wie zum Beispiel, wo Aristoteles die Ewigkeit der Welt behauptet. Und da sehen wir denn, wie Thomas auch nicht einen Augenblick zögert, der Glaubenslehre den Vorzug zu geben. Die Kirche in ihrer historischen Größe macht ihm einen ungleich mächtigeren Eindruck als die altgriechischen Weisen insgesamt, Aristoteles nicht ausgenommen Freilich wird einer vielleicht sagen, auch im Besitz eines wahrhaft wissenschaftlichen Beweises würde Thomas noch immer sich verpflichtet gefühlt haben, sich dem Ausspruch der Kirche zu unterwerfen. Doch in dieser Beziehung sind wir nicht auf Vermutungen angewiesen, da sich Thomas selbst in ausführlicher Erörterung über das Verhältnis von Wissen und Glauben ergeht. Das Glauben, sagt Thomas, steht zwischen dem vernünftigen Meinen und Wissen in der Mitte. Mit jenem hat es den Mangel zwingender Gründe, mit diesem die Zuversicht der Überzeugung gemein. So steht beim Meinen und Wissen das Maß der Gründe zu dem Maße der Überzeugung in Proportion, beim Glauben in Disproportion. Und zu dieser kommt es, indem der Wille sich verpflichtet fühlt, den Verstand trotz des Mangels voll entsprechender Begründung zu rückhaltloser Zustimmung zu bewegen. Dies ist psychologisch möglich. Dagegen ergibt sich eine doppelte Unmöglichkeit. Einmal die, dasselbe zu gleicher Zeit zu glauben und zu wissen; denn das hieße zugleich durch die Gründe gezwungen und frei sein. Thomas konnte darum ohne Ungereimtheit sagen: ich kann nicht glauben, daß es einen Gott gibt, weil ich weiß, daß er ist. Dann aber auch die, etwas zu glauben, von dem man das Gegenteil weiß; denn hier heben die zwingenden Gründe für das Gegenteil ebenfalls die Freiheit und mit der Freiheit auch jegliche Verpflichtung auf. Der Satz des Widerspruches ist für Thomas, wie für Archimedes das Hebelgesetz, gesichert. Und wie dieser nur einen festen Punkt verlangt, um die ganze Erde aus den Angeln zu heben, so würde es darum nach Thomas nur eines wahrhaft gesicherten Satzes der Wissenschaft bedürfen, der im Widerspruch

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mit einem Dogma stände, um von ihm aus das ganze Gebäude der kirchlichen Dogmatik mit dem Felsen Petri selbst, auf dem es ruht, in seiner Autorität zu stürzen. Wer in solchem Fall noch dem Ausspruch der Kirche sich unterwürfe, der würde also nach Thomas nicht etwa um seiner frommen Demut willen zu preisen, sondern, da ja die innere Unterwerfung ganz und gar zur Unmöglichkeit geworden, als niedriger Lügner zu verurteilen sein. Nach diesen Grundsätzen hat der hochgesinnte Mann ohne Zweifel auch in seinem eigenen Handeln sich gerichtet. Und wenn wir ihn darum in jener Disputation von 1270 seine Bereitwilligkeit zur eventuellen Zurücknahme gewisser, als häretisch verdächtiger philosophischer Lehrsätze erklären hörten, so ersehen wir hieraus aufs deutlichste, daß er in ihnen kein eigentliches Wissen zu besitzen glaubte, geschweige, daß seine Philosophie überhaupt ihm selbst als der Abschluß alles philosophischen Wissens gegolten hätte. Uebrigens ist die damals am schroffsten beanstandete These, die Thomas aus dem ersten Kapitel des zweiten Buches von Aristoteles, „De Anima“ entnommen hatte, im Jahre 1312 auf dem Konzil von Vienne in grellem Gegensatz dazu vielmehr zum Dogma erhoben worden.

Appendix Die Habilitationsthesen in deutscher Übersetzung 1.

2.

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

10. 11. 12. 13. 14.

Die Philosophie muß protestieren gegen die Einteilung der Wissenschaften in spekulative und exakte, und die Berechtigung dieses Protestes ist das Recht ihrer Existenz selbst. Die Philosophie muß protestieren gegen die Zumutung, ihre Prinzipien der Theologie zu entnehmen, und gegen die Behauptung, daß durch die Existenz einer übernatürlichen Offenbarung ein fruchtbares Philosophieren erst möglich wird. Nichtsdestoweniger ist es richtig, daß die theologisch festgestellten Wahrheiten der philosophischen Forschung als Leitsterne zu dienen geeignet sind. Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaften. Die Vielheit in der Welt widerlegt den Pantheismus und die Einheit in ihr den Atheismus. Kant irrt, indem er behauptet, der physiko-theologische Beweis ergebe keine schaffende, wenn auch eine ordnende Intelligenz. Und weiter irrt er auch darin, daß er sagt, wenn Gott als Schöpfer erwiesen sei, so folge hieraus noch nicht seine unendliche Vollkommenheit. Weder gibt es eine unbegrenzte Zahl oder überhaupt eine Mehrzahl von Welten, noch ist die Welt von unbegrenzter Ausdehnung. Die Annahme eines leeren Raumes, wie ihn die ältere und neuere Atomistik lehrt, ist unmöglich, nicht sowohl darum, weil der Begriff eines leeren Raumes einen Widerspruch enthielte, als darum, weil Wirkung durch leeren Raum unmöglich ist. Die Paralogismen Zenos, genauer gesagt, die drei ersten unter ihnen, täuschen dadurch, daß sie das Kontinuum als diskrete Größe behandeln. Wer die Unsterblichkeit der Tierseele annimmt, muß auch annehmen, daß es Tiere mit vielen, ja unendlich vielen Seelen gebe. Es gibt so viele Vermögen der Phantasie als es Sinnesvermögen gibt, und die Phantasiebilder sind in den Sinnen selbst. Nichts ist im Verstande, was nicht früher in einem Sinne war, der Verstand selbst ausgenommen. Von manchen wird dem Menschen jedes erkennende Vermögen außer den Sinnen abgesprochen, von anderen eine Mehrheit übersinnlicher Erkenntniskräfte ihm zugesprochen. Beides mit Unrecht.

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15. Der Νοῦς ποιητικός des Aristoteles ist keine erkennende, sondern eine wirkende Kraft. 16. Es ist falsch, daß von Gattung und Differenz die eine die andere nicht enthalten dürfe. Vielmehr enthält jede spezifische Differenz das Genus, und die letzte Differenz ist gleich der ganzen Definition. 17. Eine Definition für Akzidentien im strengen Sinne des Wortes gibt es nicht, eine Substanz zu definieren ist uns aber ganz unmöglich. 18. Man denkt nicht vollständig, was man spricht, und selbst die strengsten Denker pflegen dies nicht zu tun, auch bei genauester Beweisführung. 19. Weit entfernt, daß, wie Herbart meint, die Sprache uns nur als Verkehrsmittel förderlich sei, beim Denken aber uns zum Hindernisse werde, leistet sie vielmehr auch für das Denken des einzelnen wesentliche Hilfe. 20. Das disjunktive Urteil ist ein zusammengesetztes hypothetisches Urteil, der disjunktive Schluß ist daher keine besondere Form, sondern unvollkommene Darstellung eines hypothetischen Schlusses. 21. Es gibt Schlüsse aus einer Prämisse. 22. Es ist falsch, daß der Mensch von Natur aus in der Art Egoist sei, daß er etwas anderes nicht mehr lieben könne als sich selbst. 23. Durch metaphysische Betrachtungen haben viele, wie Spinoza, den sich unwillkürlich aufdrängenden Glauben an die Freiheit des Willens widerlegen wollen. Im Gegenteil dienen metaphysische Betrachtungen diesem Glauben zur Bestätigung. 24. Die Begriffe des Guten und des Schönen unterscheiden sich in der Art, daß wir etwas gut nennen, insofern es begehrenswert ist, schön aber, insofern sein Erscheinen begehrenswert ist. 25. Das vorzugsweise und eigentümlich Anziehende tragischer Darstellungen ist zunächst der Einblick in die innere Schönheit des Menschen und in das Walten einer höheren göttlichen Macht. Sekundär aber sind es die Bewegungen, die, in der Seele des Betrachtenden schmerzlich erregt, dennoch doppelten Genuß gewähren, einmal, weil sie edel und erhaben sind, dann aber auch, weil eine verhaltene Trauer in ihnen sich ergießt und Erleichterung findet.

Sachregister Abstraktion 10f.

– A., metaphysische 11 accidentia 3 Actus Sorbonicus 55, 211 Affekt 21 Afterphilosophem 131 Akademie, neuere 102, 208 Akosmismus 35 Akt, innerer 21 Akzidentien 250 Alchemie 13, 65 Altertum 28, 91, 205–209 Analogie XXV, 9, 20f., 79 – A. des Willens 9 Analyse 111, 141 – A., mathematische 141 – A., psychologische 111 anima animalium 3 Anomalie, scheinbare 10 Anschauung 13, 218 – A., intellektuelle 218 – A., theologische 13 Anthropomorphismus XXVII, 41–43, 46 Antike XX, XXII, XXV Anziehung 18f. siehe auch Schwerkraft Aphrodite, himmlische 99 Apologetik 231 A priori, widernatürliches 124 arbitrium libertatis 4 argumentum physico-thologicum 3 Arithmetik 27 Ars magna 212, 245 Ästhetik XIV, XVII, 119, 167, 171, 195f. Astrologie 13, 65, 96 Astronomie 232 Atheismus XXVI, 39f., 47, 61, 249

https://doi.org/10.1515/9783110621228-018

atheismus 3 Atomistik 249 Aufklärung XX, 103, 215 Außenwelt 11 Autorität, kirchliche 52–54, 232 Autoritätsbeweis 247

Bartholomäusnacht 60

Bedürfnis, praktisches 131, 133 Begehren 81 Belohnung, jenseitige 57 Beobachtung 11f., 68, 149, 214 – B., methodische 149 – B., unmittelbare 11 Bestimmtheit, örtliche 17 Bestimmtheit, zeitliche 17 Bewegung, willkürliche 21 Beweis XXVIII, 46, 247, 249 – B., kosmologischer XXVIII – B., physiko-theologischer 249 – B., teleologischer 46 – B., wissenschaftlicher 247 Bewusstsein 80, 85 – B., unbewusstes 85 Bildung 126, 129, 135, 138, 142– 147, 166 – B., naturwissenschaftliche 138, 142f., 149 – B., philosophische 126, 129, 135, 149, 166 – B., politische 135, 138, 142– 147, 166 – Verfall politischer B. 147 Bildungsphilister 132 bonum 4 Botanik 146

Character indelebilis 186

characteristica universalis 193

252

Sachregister

Chauvinismus 161 Chemie XIV, XXII, 70–72, 168, 195 – Geschichte der Ch. XXII Christentum XXXVIII, 21, 32, 44, 50–56, 58f., 158, 225 – Ch. als Feind der Wissenschaft 56 Code Napoléon 146, 165 common sense 216 conclusio 4 cogitatio 4 continuum 3 Cortisches Organ 84 „Credo quia absurdum“ 54

Darwinismus 47

Denken 82, 250 Denker, positiver 11 Denkweise, naturwissenschaftliche 138 Desinteresse an philosophischen Fragen XVI Deszendenzlehre 142 definitio 3 Definition 250 deus 3 Dialektik 55 differentia specifica 3 Differenz, spezifische 250 Dimensionen 223 Ding(e) 10, 12, 16, 68, 99 – Beziehungen der D. 16 – Erkennbarkeit der wahren Verhältnisse der D. 16 – Existenz von D. 16 – Ideen aller D. 99 – Wesen der D., eigentliches 68 siehe auch Natur der Dinge Ding an sich XX, 16, 220 Disputation, öffentliche 55f.

Distinktion 221 Disziplinen, praktische 102 Disziplinen, soziale 137 Docta ignorantia 213 Dogmatismus 102 Dogmen 232f., 247f. – D., christliche 247 – D., kirchliche 232f., 248 Dominikaner 210 Doppelurteil 114 Dualismus 47 Dynamik, soziale 10

Ehe 175, 180, 183f., 187, 189 Ehehindernis des § 63 184–186 Eherecht 187 Eine, das 98f., 101 – das schlechthin E. 197 Eingreifen, willkürliches 10, 13, 21 Eklektizismus 7, 39, 93, 208, 215 Ekstase 95, 101 Einzelseele 100f. Elektrizitätslehre 168 Embryologie 142 Empfindung 21, 79, 192f. – Analyse der E. 192 – Elemente der E. 193 Empirismus XIV – E., Britischer XIV Endursache 10, 14, 83 – E., tätige 83 Englische Schule XXVII Entitäten, imaginäre 26 Entropie 142, 223 Entwicklungslehre 46 Entwicklungsphasen, aufsteigende 220, 224 Epikureer XX, 50, 93, 102f., 208 Epikureismus 207f. Erfahrung 18, 43, 65, 68 Erfahrungsgegenstände 216

Sachregister Erfahrungsgrundlage XVIII Erfahrungswissenschaften XIV Erkennen 81 Erkenntnis 10, 15f., 18, 40, 43, 72, 135, 149, 217, 220 – E., absolute 10, 16, 72 – E., apriorische 217, 220 – E., philosophische 135 – E., reale 16 – E., relative 72 – E., vollkommene 18, 43 – Grenzen möglicher E. 72 – Relativität unserer E. 40 Erkenntnisse a priori, synthetische 216, 217, 220 Erkenntnistheorie 119, 195, 229 Erkenntnisweise, unnatürliche XX, 206 Erklärung, naturwissenschaftliche 18 Erklärungsweise, entitätenfingierende 24 Erklärungsweise, fiktive 23 Erscheinung(en) XXVII, 10, 47, 68, 72, 75, 140, 170 – deduktive Behandlung der E. 140 – E., beobachtete 10 – E., moralisch-soziale 138 – E., psychische XXVIII, 75, 170 – E., soziale 75 – innere Ursache der E. 10 siehe auch Phänomen Erziehung, sittliche 158 Ethik XIV, XVII, XXIII, 103, 119, 129, 167, 170, 195, 207 Evidenz 230, 231 Evolution 146 Evolutionstheorie XXVII, 46 Evolutionslehre, biologische 232 Existenzialsatz XXX, 114f.

Fakultät, philosophische 195

253

Fakultät, theologische 231 Fall Spahn XXXII Farbenlehre 85 Feldherrnkunst 153 Fetischismus 11 Forscher, positiver 27 Forschung(en) XXI, XXVI, 9f., 14f., 17, 20, 23f., 28, 53, 73f., 102f., 121, 143, 145, 149, 151, 169f., 192, 205, 229–233 – Entwicklung der menschlichen F. 14 – F., exakte 17 – F., experimentelle 151 – F., historische XXI – F., metaphysische XXVI – F., naturgemäßere 73 – F., naturwissenschaftliche 143, 145, 149 – F., philosophische 74, 121, 192, 205 – F., positive 15, 20, 23f., 28 – F., psychologische XXVI – F., theologische 21 – F., voraussetzungslose XXXII, 229–233 – F., vorurteilsfreie XXXII – F., vernünftige 102 – F., wissenschaftliche 53, 73, 102 – Logik der F. 169f. – naturwissenschaftliche F. auf dem Geistesgebiet 151 – Niedergang der philosophischen F. 103 – Theorie der induktiven F. 169 Fortschritt XIV, 10, 51, 56, 71, 218 – Fortschritt der Wissenschaft 10, 51 – F., dialektischer 218

254

Sachregister

– Fortschritt, wissenschaftlicher XIV, 56, 71 Forschungsweise, naturwissenschaftliche 119, 149 Frage, eherechtliche 175, 177, 197 Frage, soziale 146 Franziskaner 210, 246 Freiheit 52f., 100f., 190, 232, 250 – F. des Denkens 52 – F. der Forschung 53 – F. des Willens 250 – F. ein kostbares Gut 190 – F., wissenschaftliche 232 Freiheitsliebe 162

Gattung 250

Gebiet, geisteswissenschaftliches 137, 139, 149 Gebiet, geistiges 129, 167f., 177, 196 – Übergriff eines Naturforschers in geistige G. 168 siehe auch Geistesgebiet, Geisteswissenschaften Gebiet, mechanisches 129 Gebiet, moralisch-politisches 129, 148f. Gebiet, moralisch-soziales 137f. Gebilde, seelisches 80 Gebot 167 Gedächtnis 196 Gelehrter, gläubiger 48 Geistesgebiet 119, 168, 169f. – der Naturforscher auf dem G. 169 Geisteswissenschaft(en) XV, 121, 132, 137, 141f., 147–150, 164, 168, 170 – Gebiet der G. XV – G., praktische 170 – G., theoretische 150

Geistlicher, katholischer 184, 186–189 Geist 10, 12, 222 – G., menschlicher 10, 12 – Wesen des G. 222 Geognosie 193 Geologie 142, 193 Geometrie 26, 167 Geschichte der Philosophie XI, XIX, XXIII, XXV, 27, 67, 101, 195f., 201 – Philosophie der G. der Philosophie XI, XVIII Geschichtsphilosophie XVIII, XIX, XXV – Prinzipien der G. XIX siehe auch Philosophie der Geschichte Gesellschaft 9, 135 – Erneuerung der G. 9 Gesellschaftswissenschaft 71 Gesetz(e) XIX, XXV, 10, 12, 14, 25, 72, 81, 102, 135, 137, 140, 167 – G., allgemeine XXV, 72 – G. der Phänomene 12 – G., festes 10, 102 – G., historisches XIX – G. im Sinne eines Gebotes 167 – G., natürliche 25 – G., oberstes 81 – G., physikalisch-chemische 140 – G., psychologisches 135 – G., sekundäres 137 – G. unveränderliches 14 Gesetz der drei Stadien XIX, XXV, 25, 27 Gesetz der Entropie XXVIII Gesetz der Vererbung 156 Gesetz der vier Phasen XI, XXIII siehe auch Theorie der vier Phasen

Sachregister Gesetz der Wechselwirkung der Naturkräfte XXVII, 46 Gewalt, staatliche 52 Glaube 22, 49, 134, 222, 230, 247 – G. an einen Gott 22, 49 – G., blinder 222 – G., religiöser 230 – Unentbehrlichkeit des G. an Gott 51 – Verfall des G. 134 Glaubensbekenntnis, wissenschaftliches 123 Glaubenszweifel 231 Gott XXVII, 7f., 20–23, 32–34, 40, 42–45, 49, 51, 249 – Beweis des Daseins G. 21 – Dasein eines G. 7, 22, 51 – Einfachheit G. 32f. – Erkennbarkeit G. 22 – Erkenntnis G., adäquate 45 – Existenz G. XXVIII – G. als Schöpfer der Welt XXVII, 249 – G. als Erklärungsgrund von allem 23 – G., christlicher 44 – G. die allgemeine Form der Dinge 34 – G. Natur 20 – Nichtexistenz G. XXVII, 40 – Unerkennbarkeit G. 32 – Unnennbarkeit G. 32f. – Unveränderlichkeit G. 32 – unvollkommene Erkenntnis G. 43 – Verhältnis G. zur Welt 34 – Vernunftgründe für die Existenz eines G. 51 – Weisheit G. 21 Gottesbegriff, christlicher 32 Gotteserkenntnis 44f.

255

Gottesglaube 51 – G. eine Gefahr für den Fortschritt der Wissenschaft 51 Gotteshypothese 41 Gotteslehre XXXI, 32, 34f. – G., thomistische 34f. Gottheit 43, 58, 95 – G., blutdürstige 58 – Vereinigung mit der G. 95 Gottidee 41, 44 Grammatik 109 Gravitationsgesetz 14, 18, 68 Griechen 143 Grundgesetz(e) 11, 26, 137, 139f. – G. der Entwicklung 11 – G. der Natur 137 – G., mechanisches 139 Grundlage, physiologische 82 Gute, das 164, 250 – das ethisch G. 164 Habilitationsthesen XIIf., XX, XXXIX – Habilitationsthese, vierte XIII, XX Herbartische Schule 180 Hilfswissenschaft 80 Hörnerv 84 Hylozoismus 11 Hypnotismus 127 Hypothese XXVII, 82 – H., erkenntnistheoretische XXVII – H., ontologische XXVII Hypothese, Darwinsche 127 „hypotheses non fingo“ 82 hysteron proteron XXVIII

Idealismus, Deutscher XX, XXII imaginatio 3 impedimentum ordinis 185

256

Sachregister

Impersonalia XXX Induktion 18f., 21 Inquisition, spanische 60 Institut für experimentelle Psychologie 151 Institut, psychologisches XVII, 151, 176, 178, 181f., 192, 194–196 siehe auch Kabinett, psychologisches siehe auch Laboratorium, psychologisches Intellekt 123, 128 intellectus 3 Interesse, philosophisches 126f., 129, 131, 133f., 136, 203 – Erlöschen des philosophischen I. in weiteren Kreisen 126, 131, 133, 203 Interesse, politisches 131 Interesse, praktisches XX, 102, 207 Interesse, theoretisches XX, XXIII, 102, 132, 134, 205f., 215 – reines theoretisches I. 205f., 215 Interesse, wissenschaftliches 128, 205, 210 – reines wissenschaftliches I. 210 Interpretation XXIf., XXXI, 241 – I. philosophischer Texte XXI, XXII, XXXI, 241 Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen 137

Judicium conditionale 4 judicium disjunctivum 4 Jurisprudenz 152, 160, 183 – J., klassische 160 – J., österreichische 183 – J., römische 152 Juristen, französische 165 Juristen, römische 156f.

jus civile 155 jus gentium 155

Kabinett, psychologisches 151,

176f. Kategorienlehre 224 Kausalgesetz, allgemeines 75 Kausalität 15 Kausalzusammenhang 129, 149 Kirche (katholische) 8, 55, 64, 140, 161, 167–169, 194f., 197–199, 242f., 256f., 260 – Gehorsam gegen die K. 256 – Göttlichkeit der K. 8 – K. als selbständige Macht 55 Kirchenrecht 152, 185–187 Kongenialität, philosophische XXI, XXXI, 241 Kontemplation 94 Kontinuum 249 Kontrast, simultaner 194 Konzeption der Welt, materialistische XXVIf., XXVIII Kopula 115 Körper 100 – K., himmlischer 100 – K., irdischer 100 Körperwelt 100 Kosmogonie 142 Kraft 10, 26 – K., abstrakte 10 – K., wirkende 26 Kritik der reinen Vernunft 204, 219, 222 Kritik der praktischen Vernunft 204, 217 Kulturkampf 157 Kulturkrankheit 163 Kunst, schöne 205 Kunstwerk 241

Sachregister

Laboratorium, psychologisches

XVIIf. siehe auch psychologisches Institut Leben 79, 101 – L., leibliches 79 – L., seelisches 79 – L., vegetatives 101 Lebenskraft 83 Lehren, soziologische XXIII Leib 96 Leitsterne der Philosophie XXXIX Leseverein der Deutschen Studenten Wiens XXII Litterarische Gesellschaft in Wien 201, 203f. Logik XVII, XXIXf., 107, 109, 114, 119, 129, 167, 170, 196 – Reform der L. XXIX

Macht, politische 162

Mächte, überirdische 95 Materialismus 47, 135 Mathematik XIV, XXII, 26f., 40, 70, 139, 147, 149, 194f., 221 – Geschichte der M. XXII Mechanik 26, 137–139, 141–143, 147, 149, 168 – Grundgesetze der M. 26 – M., rationelle 26, 149 Mechanismus, blinder 22 Meinen, vernünftiges 247 Meinung 230 Mensch 13, 250 – M. ein Egoist 250 – M., ursprünglicher 13 Menschenseele 192 Metaphysik XXVf., XXVIII, 13, 24f., 72, 75, 107, 119, 127, 129, 195, 222 Metaphysik, Aristotelische 233

257

Metaphysiker 11 Methode XIII, XV, XVIII, 10, 102, 121f., 129f., 137f., 141–143, 147–149, 167–170, 192, 205, 214, 216, 241, 249 – Erfahrungsm. 214 – M. der Geisteswissenschaft 147 – M. der Naturwissenschaften XIII – M. der Philosphie, wahre XIII, 137, 249 – M., dialektische 122, 130 – M., exaktere 241 – M., historisch-politische 138, 141 – M., induktive XX – M., mechanisch-naturwissenschaftliche 138, 141 – M., metaphysische 10 – M., naturgemäße 205f. – M., natürliche 214 – M., naturwissenschaftliche XV, XVIII, 121f., 129, 142f., 148f., 167–170, 192 – M., positive 10 – M., sozial-politische 143 – M., theologische 10 – M., wissenschaftliche 102 Methodenfrage XV Methodologie 229 methodus 3, 122 – vera philosophiae m. 3, 122 Mitleidslehre, ethische 219 Mittelalter XIXf., XXV, 28, 54–56, 205, 209–212, 218, 240f., 246 – M., christliches 56 – Finsternis des M. 54f. Moral XXXVIII, 59, 134, 159, 164, 188 – M., christliche 159

258

Sachregister

– Moral, natürliche 159 Monismus 47 Motiv 57, 205 – M., ethisches 57, 205 – M., praktisches 205 multitudo mundorum 3 Mystik, religiöse 212 Mystizismus XX

Nationalökonomie 164 Natur 13, 98f., 127 – das Ganze der N. 13 Natur der Dinge, innere 10, 12 Naturerforschung, positive 22 Naturerklärung 11, 14, 24, 68 – N., theologische 24 Naturgesetze 22f., 25, 84, 131 – Erforschung der N. 21 Natur, menschliche 11 Naturphilosophie, ionische 24, 206 Naturwissenschaft(en) XIII, XXI, XXV, XXVIII, 17, 67, 73–75, 104, 137–139, 141–143, 145–148, 150, 164, 169, 194, 196, 201, 219, 221, 249 – Aufschwung der N. 146f. – Grenze der N. 194, 220 – Methode der N. XIII – Verfahren nach Analogie der N. 147f., 169 Nerv 81 – N., motorischer 81 – N., sensibler 81 Nervensubstrat 81 Nervensystem 82 Nervenzentren 82 Neuplatonismus 29, 32, 34, 103, 152, 209, 242 Neupythagoreer 103, 214 Neuzeit XX, 28, 205, 214f. Nominalismus 211

nous poietikos (Νοῦς ποιητικός) 3, 250

Offenbarung, übernatürliche 51,

53, 249 Ökonomie, politische 164 Ontologie 34, 129 Opfer 58 Optimismus XVIII, 204, 222, 224 oratio 4 Ordnung 21, 60, 129 – O., natürliche 21 – O., staatliche 60 – O., teleologische 129 Organismus 84

Paläontologie 142

Panmechanismus 129 Pantheismus 28, 32f., 249 pantheismus 3 Partikel, synkategorematische 114 Pessimismus 222 Phänomen XVII, XXIVf., XXVIII, 10, 12–16, 19, 68, 71f., 139, 142, 148, 196, 216 – Begriff des Ph. XXIV – Erforschung der Ph. 13 – Ph., besonderes 10, 19 – Ph., intentionales XXIX – Ph., moralisch-politisches 139 – Ph., physisches XXIX, 72 – Ph., politisches 148 – Ph., psychisches XVII, XXVIII, 72, 196 – Ph., soziales 142 – Ursachen der Ph., innere 15 Phantasie 193, 249 Phase, abstrakte 9 Phase(n) des Niedergangs XX, XXIIf., XXV – Ph. des Niedergangs, erste XX

Sachregister – Phase des Niedergangs, fortgeschrittenste XXIIf. – Ph. des Niedergangs, zweite XX siehe auch Stadium des Verfalls Phase, fiktive 9 Phase, metaphysische 9 Phase, positive 9 Phase, theologische 9 Phase, wissenschaftliche 9 Philologie 107 philosophia 3 – ph. vera 3 Philosophie XI–XVI, XVIII–XX, XXVII, 7–9, 11f., 24, 28, 65– 67, 69f., 72–75, 89f., 104, 119, 121–124, 129, 134–136, 148, 150, 179, 191f., 195, 209, 215, 220f., 232, 249 – als Wissenschaft aufgefasste Ph. XXIV – Ansehen der Ph. 73 – Bedürfnis nach Ph. 74 – Erwachen der Ph. 191 – goldenes Zeitalter der Ph. XVI, 148 – Herrschaft der Ph. XV, XVI – Keime echter Ph. 179 – Methode der Ph., wahre XIII – Misstrauen gegen die Ph. 70, 73f. – Perioden der Ph. XX – Ph. als ancilla th. 135, 221 – Ph. als Wissenschaft XXVII, 66 – Ph. in einer Zeit des Übergangs 89 – Ph., wirkliche 119 – praktische Unfruchtbarkeit der Ph. 69 – Reform der Ph. XIII, 124 – sich als wissenschaftlich verstehende Ph. XII

259

– Verfall der Philosophie 28 – vier Phasen der Ph. 209 – Wiedergeburt der Philosophie XIII – wissenschaftlicher Charakter der Ph. 66 – Zukunft der Ph. XIf., XIV, XVIII, XX – zurückgebliebener Zustand der Ph. 72 Philosophie, absolute 130, 218 Philosophie, antike XXII, 209, 221 Philosophie, aristotelische 240f., 247 Philosophie, christliche 7 Philosophie der Geschichte XI, XIII, XXI, 128 Philosophie, deutsche XXI Philosophie, erste 24 Philosophie, exakte 249 Philosophiegeschichte XI, XIII, XVIIIf. – absteigende Phasen der Ph. XX – aufsteigende Phasen der Ph. XIV, XVIII, XX – Vierphasentheorie der Ph. XIX Philosophie, griechische 27, 92, 156, 206f. Philosophie, katholische 233 Philosophie, kommentierende 246 Philosophie, mittelalterliche 210, 221 Philosophie, moderne XX, 125, 221 Philosophie, neuplatonische 103 Philosophie, neuzeitliche XX Philosophie, positive XIIIf., XXIIIf., XXVI, 7–9, 12, 15, 20f. Philosophie, spekulative XIII, XIX, 249 Philosophie, systematische 196

260

Sachregister

Philosophie, theologische 12f. Philosophie, thomistische 239, 244–246 Philosophische Gesellschaft an der k.k. Universität Wien XV, 121, 126 Physik XIV, 25, 69–71, 195, 207 Physiologie XIV, XXVIII, 70–72, 74f., 79f., 83, 146, 170, 195f. Politik 22, 135, 147, 150, 160, 162, 164 – auf Moral gegründete P. 164 – P., römische 160 – P., theologische 22 Polytheismus 42 Positivismus XXI, XXVf., 7, 13 – Positivismus, englischer XXI Postulate der reinen praktischen Vernunft 217 Prädestination 100 Prädikat XXIX, 107, 109, 111–115 – Verbindung von Subjekt und P. 109 Prädikation 112 Prädikatsatz 111 Prädikatsbegriff 112 praemissa 4 Prinzip 11, 17, 19f., 22, 68, 98 – P. aller Dinge, erstes 98 – P., wirkendes 11, 17, 19f., 22, 68, 98 siehe auch Urprinzip Prinzip der Vorurteilsfreiheit XXXII Prinzip des Handelns, erstes 22 Privatrecht, österreichisches 185 Produktion, philosophische 124f. – Verfall der philosophischen P. 124, 136 Programm, philosophisches XI, XIII, XXIV, XXVII Providenz, göttliche 22

Prozesse, physiologische 193 Psychiatrie 168 Psychische, das 196 Psychognosie XVII, 176, 193 siehe auch deskriptive Psychologie Psychologie XIV, XVII, XXI, XXVf., XXVIIIf., 71, 75, 107, 119, 128f., 151, 167, 170, 176, 193–195, 214 – Gegenstand der Ps. XXV – Ps., analytische 214 – Ps., deskriptive XVIIf. siehe auch Psychognosie – Ps., experimentelle 151, 176 – Ps., genetische VXII, XXVIII, 170, 193 – Ps., physiologische XVII – Ps., wissenschaftliche 71, 194 pulchrum 4 Pyrrhonismus XX, 103, 208

Rasse XXX, 237f.

– Kreuzung von R. 237f. – Vermischung von R. XXX Rationalismus, politischer 147 Raum, leerer 249 Recht 153–157, 161, 164, 166f., 186 – R., kirchliches 186 – R., österreichisches 186 – R., römisches 153–157, 161, 166f. Rechtswissenschaft 153 Reich, römisches 144, 163 Religion(en) XXIIIf., XXVI, XXXVIII, 50–53, 58–60, 134, 225 – Geschichte aller R. erfüllt von Gräueln 59f. – R., christliche XXXVIII, 50, 53, 134

Sachregister – Religio(en), entartete 59 – R. in der Gesellschaft nötig 60 – R., positive 51, 53, 58, 134 – R., theistische 51 – Wesen der R. 225 Religionskriege 60 revelatio supernaturalis 3 Römer 132f., 138, 143f., 152–157, 162–166 Römertum 132, 175

Satz XXX, 107–115

– S., hypothetischer 113 – S., kategorischer 110, 112f. – S., subjektloser XXX, 107, 109–111, 113–115 Satzbildung 110 Satz des Widerspruchs 213, 247 Schluss 250 Schminke, naturwissenschaftliche 167 Scholastik XXXI, 24, 31, 211, 246 Scholastiker 28, 44f., 209 Schöne, das 250 Schöpfung 223 Schöpfungsakt, freier 20 Schule, historische 145, 156 Schule, rationalistische 167 Schule, schottische 216f. Schwerkraft 19 siehe auch Anziehung scientia 3 – s. exacta 3 – s. naturalis 3 – s. speculativa 3 Seele 99–101, 232 – Natur der menschlichen S. 232 siehe auch Einzelseele Seelenelement 80 Seelenprozess 80f. Seelentätigkeit 23, 79, 81

261

– das Ganze unserer Seelentätigkeit 79 Seelenvermögen 82 Selbstbeobachtung, wissenschaftliche XXIX Selbstbewusstsein XXIX, 79 – S. als Erkenntnisquelle XXIX sensus 3 Sinne 249 Sinnesenergie, spezifische 220 Sinnesformen, apriorische 220 Sinnesqualitäten 220 Sittlichkeit 56f., 59 – S. der Völker 59 Skepsis 103f., 205f., 208f. Skeptizismus XX, 15, 17f., 93, 103, 166, 215–217 Sklaverei 163 Soziologie XIV, 8, 141, 147 – S., positive 8 spatium vacuum 3 Spekulation 20, 23–25, 70, 93, 97f., 104, 212–214 – S., metaphysische 24 – S., mittelalterliche 214 – S., philosophische 70, 212 – S., positive 24 – S., theologische 23–25 – S., theologisch-philosophische 93 Spiritismus 127 Sprache 110, 114f., 155, 250 – Entwicklung einer S. 155 substantia 4 Staat 52, 60, 129, 135f., 144, 148, 152, 156, 185, 187–189 – der S. kein Reales 136 – Entstehung des S. 156 – Zweck des S. 136 Staat, französischer 159 Staat, österreichischer 186, 196

262

Sachregister

Staat, römischer 144, 159, 162–164 Staatskirche 52 Staatswissenschaft 164 Stadium des Verfalls 205, 207–209, 211, 215, 217 – erstes S. des Verfalls 205, 207, 211, 215 – zweites S. des Verfalls 205, 208, 215, 217 Stadium, metaphysisches XXV Stadium, positives XXV, 20 Stadium, theologisches XXV, 26 Stoa 27, 102, 207 Stoff, inkorruptibler 222 Stoiker XX, 50, 93, 102f. Stoizismus 208 Strafe, jenseitige 57 Strafrechtswissenschaft 168 Studium, philosophisches 66 Subjekt XXIX, 107–109, 111f., 114 – S., grammatisches 109 – Verbindung von S. und Prädikat 109 Subjektivität 216 Substanz 223, 250 Sukzession, zeitliche XXV, 15 Suprahumanismus 219 stellae rectrices 3 syllogismus conditionalis 4 System, Hegelsches 201, 218 System, philosophisches 65 Systeme, idealistische XVf. – Niedergang der idealistischen S. XV Systeme, spekulative XIX

Tatsache(n) 9f., 13, 16, 19, 68,

168, 214 – Beobachtung der T. 214 – Erklärung der T. 10, 16, 68 – T., allgemeine 10, 16, 19

– Tatsach(en), allgemeingültige 168 – T. beobachtbare 9 Teleologie 22, 46 – Schein von T. 46 Theismus XXIV, XXVIf., XXVIII, 21–23, 39–43, 45–49, 51, 53, 56, 58, 60f., 135 – Haß gegen den Th. 39 – Th. ein Feind der Sittlichkeit 56, 58 – Th. eine Gefahr für den wissenschaftlichen Fortschritt XXVIII – Th. eine Gefahr für die Moral XXVIII – Th., positiver 53 Theist 22f., 27 Theodizee 224 Theologe 11, 15, 31, 54, 134f., 158 theologia 3 Theologie XXXI, XXXIX, 11, 13f., 24f., 135, 157, 179, 211, 230, 249 – Th., mystische 2134 – Th., übernatürliche 230 Theorie, positive 12 Theorie der vier Phasen XII, XVIII– XX, XXII, XXV siehe auch Gesetz der vier Phasen Tier 21, 42, 79 Tierseele 192, 249 tragoedia 4 Tragödie 250 Trias, göttliche 99

Übel der Welt 224

Unbildung 129, 138, 142, 145 – U., philosophische 138 – U., politische 138, 142, 144 Universalien 211 Unterricht, philosophischer 134

Sachregister Untersuchungen, physiologische 193 Untersuchungen, psychologische 151, 167, 176, 192f. Urprinzip, göttliches 100 Ursache 10, 14f., 17–20, 22f., 26, 47, 140 – einheitliche letzte U. 47 – Erforschung der U. 17 – Erkenntnis der U. 15, 19, 23 – Unerkennbarkeit der U. 17 – U. einer Erscheinung 23 – U., erste 19 – U., schöpferische 20 – U., sekundäre 22 – U., wirkende 10, 14, 17f., 26 – Wesen der U. 23 siehe auch Endursache Ursächlichkeit 19f. Ursprung der Welt 20 Urteil XXIXf., 107, 109f., 112– 114, 196, 250 – existenziale Reduktion der U. XXIXf. – U., disjunktives 113, 250 – U., existentiales XXIX – U., hypothetisches 113, 250 – U., impersonale XXX – U., kategorisches XXIX, 107, 113 – U., vollständiges 109 – Wesen des U. 110, 196 siehe auch Doppelurteil Urteilstheorie, traditionelle XXIX Urteilsvermögen 229

Verbot, päpstliches 242

verbum finitum 110 Verfall, äußerster 206 Verheiratung ehemaliger Priester XVI

263

Vernunft XX, 60, 102, 204, 217 – die V. ist eine 60 – Priorität der theoretischen V. über die praktische XX – V., praktische XX, 204, 217 – V., reine 204 – V., theoretische XX Verstand 10f., 20, 23, 33, 45, 98f., 127, 250 – V., göttlicher 21, 23, 33, 98f. – V., menschlicher 10f., 45 – V., schöpferischer 127 Verursachung 19 Volksreligion 207, 215 Volkssouveränität 165f. Vollkommenheit 43, 249 – Vorstellung von V. 43 Vorsehung 99 Vorstellung(en) 42f., 196 – V., anschauliche 196 – unsere V. alle aus der Erfahrung 42f. Vorurteil XII, 216 – V., blindes 216

Wahrhaftigkeit 230

Wahrheit 40, 99, 119, 189, 249 – Verlangen nach W. 189 – W., objektive 119 – W., relative 40 – W., theologisch festgestellte 249 Wahrnehmung, innere 170 Wahrscheinlichkeitslehre 222 Welt 20, 98, 222, 247, 249 – Dysteleologie der organischen W. 222 – Entstehung der W. 20 – Ewigkeit der W. 247 – Schöpfung der niederen W. 99 – W., sinnliche 99

264

Sachregister

Weltall 136, 217 Weltanschauung XXVII, 40, 135 – W., monistische 40 – W., vernünftige XXVII Weltseele 99–101 Werke, aristotelische XXXI Wesen, freies 10 Wesen, vernünftiges 10, 20 Wille 21, 250 Freiheit des W. 250 Wissen XXV, XXVII, 9, 20, 66, 69, 131, 224, 229f., 247 – Relativität des W. XXVII – W. a posteriori erlangt 20 – W. eine Macht 69 – W., menschliches 9 – W., spekulatives 66 Wissenschaft(en) XIII, XIV, XXVIf., XXXVIII, 10, 14f., 17, 19, 27, 40, 49, 53, 61, 65, 69–71, 73, 104, 119f., 150, 166, 179, 190, 192, 230, 247 – Fortschritt der W. 10 – Gegenstand der W. XXV – Geschichte der W. XXVI, 10, 70 – Klassifikation der W. XIV, XXV – Königin der W. 120, 150 – Selbstbeschränkung der W. 40 – System der W. XIV

– Verfall der Wissenschaft(en), zeitweiser 27 – W., abstrakte 70 – W., allgemeine 9, 71 – W., beobachtende 14 – W., empirische 166 – W., exakte 19, 179 – W., positive 14f. – W., theoretische 69f.3 – W., vorgeschrittenere 104 Wissenschaft, politische 120, 150, 164 Wissenschaft, praktische XIV Wissenschaft vom Seienden im Allgemeinen 24 Wollen 20, 23, 82 Wunder 21

Zivilrecht 180, 183, 185, 187

– Z., österreichisches 180 Zivilisation 164 Zölibat 189 Zölibatsgesetze 185f., 188 Zoologie 146, 195 Zuchtwahl 155 Zusammenhang, kausaler 20 Zustände, psychische 71 Zweckordnung in der lebendigen Natur 127

Personenregister Abälard 55 Accursius (Accorso) 239f. Aenesidemus 93, 208 Aeschylus 48 Agassiz, Louis 48, 61 Agrippa 208 Albert der Große (Albertus Magnus) XX, XXXf., 48, 210, 238–241, 243f. Alexander der Große 160, 208, 245 Alexander von Aphrodisias 209, 241 Alexander von Hales 209 Althoff, Friedrich XXXII Amelius 92, 96f. Ambrosius 244 Ammonius Sakkas 93, 209 Anaxagoras XX, 27, 33, 51, 159, 206, 209 Anaximander 27 Anaximenes 27 Antonius (Marcus Antonius) 160 Apollonius von Tyana 69, 209 Arago, François 146 Archimedes 69f., 91, 143, 152, 237, 247 Archytas von Tarent 159 Aristoteles XX–XXIII, XXV, XXX, 3, 9, 21, 23f., 27, 33, 43, 45f., 48f., 51, 55, 60, 66, 91–94, 98, 112, 120, 129, 132, 136, 143f., 148, 156, 163, 205–209, 218, 221, 223f., 237, 240–243, 245–248, 250 Arnauld, Antoine 31 Arndt, Ernst Moritz 183 Augustinus 48, 224, 244 Augustus (Gaius Octavius) 160, 163 https://doi.org/10.1515/9783110621228-019

Bacon, Francis (Bacon von Verulam)

24, 28, 69, 122, 125, 166, 214 Baer, Karl Ernst von 130, 136, 223 Bain, Alexander 85 Baumgartner, Wilhelm XXIII, XXXIII, XXXV Bäumker, Clemens 191 Belisar (Flavius Belisarius) 161 Benfey, Theodor 115 Benndorf, Otto 241 Berthollet, Claude-Louis 13 Bichat, Xavier 146 Billroth, Theodor 207 Binder, Thomas XXXII–XXXIV Bismarck, Otto von 157, 170, 210 Bluntschli, Johann Caspar 156, 164 Bonifaz VIII. (Papst) 52 Börner, Wilhelm XXXIV Bossuet, Jacques Bénigne 48, 159, 161 Brandl, Johannes L. XXXV Brentano, Lujo XXXII, 229 Broussais, François 8 Brown, Thomas 216, 218 Bruno, Giordano 213, 244 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 146 Burke, Edmund 145

Caracalla 160

Cäsar, Gaius Julius 153, 160 Caprivi, Leo von 159 Catilina, Lucius Sergius 160 Chisholm, Roderick M. XXI, XXXIII Chrysippus von Soloi 207 Cicero, Marcus Tullius 103, 160, 163, 208 Clemens V. (Papst) 233

266

Personenregister

Cleopatra VII. 160 Codrus (König von Attika) 58 Coen, Deborah, R. XV, XXXIII Commodus 160 Comte, Auguste XIf., XIV, XIX– XXI, XXIII–XXVII, XXIX, XXXIV, 7–11, 14–28, 40, 54, 145, 189, 206 Condillac, Étienne Bonnot de 122, 220 Condorcet, Marie Jean Antoine Nikolas Caritat, Marquis de 69 Conrad von Eybesfeld, Sigmund 180f. Constantin der Große 209 Corrado, Michael XXI, XXXIII Courçon, Robert de 242 Cousin, Victor 7 Cusanus, Nikolaus XX, 212f., 217 Cuvier, Georges XXXI, 48, 130, 142, 241

Dante, Alighieri 48 Darwin, Charles XXVII, 46–48, 107, 127, 136, 141, 156, 170, 193, 223 David, Benno von 191 Delitzsch, Johannes XII, XXXI, XXXIV, XXXVII, 29–35 Demokrit 91, 98 Denifle, Heinrich 246 Descartes, René XX, XXIIIf., 21, 28, 48, 120, 122, 125, 192f., 214, 224, 243, 245 Dilthey, Wilhelm XVf., XXXIV, 122 Diocletian 161 Domat, Jean 164 Domitian 160 Du Bois-Reymond, Emil 136, 193, 220

Duns Scotus, Johannes XX, 210f., 246 Dupanloup, Félix 54

Eckhart (Meister Eckhart) XX, 212

Epikur 50, 93, 102, 207f. Eriugena, Johannes Scottus 32 Esquirol, Jean Étienne 127 Euripides 152 Eustochius 97 Exner, Adolf XVf., XXXIV, 119– 123, 126, 130–136, 138f., 141f., 144f., 147–153, 155, 164–168, 171, 191

Faulfisch, Nikolaus von 52

Fechner, Gustav Theodor 134, 157f., 171, 194 Fichte, Johann Gottlieb XX, 218 Fick, Adolf XXVII, 47 Fisette, Denis XXV, XXXIV Franklin, Benjamin 141, 143 Franz von Maironis 211 Fréchette, Guillaume XXII, XXVII, XXXIIIf. Friedrich Barbarossa 227 Friedrich der Große 153 Fulvia (Frau des Antonius) 160 Funck-Brentano, Théophile XXIII

Gagern, Maximilian von XXXVIII

Gaius 164 Galilei, Galileo 70, 214, 232 Gallienus 95 Gams, Pius Bonifac. XXXIII Gautsch von Frankenthurn, Paul 181 Gellert, Christian Fürchtegott 59 Gerson, Johannes 212 Gilson, Étienne XIX, XXXIV Glaser, Julius 183–185, 188f., 196 Goethe, Johann Wolfgang von 97, 128, 194, 222

Personenregister Gomperz, Theodor 207 Gordian III. (röm. Kaiser) 93 Gregor VII. (Papst) 52 Gregor IX. (Papst) 242f. Gregor XI. (Papst) 213 Gregor der Große (Papst u. Kirchenvater) 157, 244 Gregor von Nazianz 54 Gregor von Nyssa 233 Grillparzer, Franz 125 Grote, George 55 Günther, Anton 233

Haeckel, Ernst 48, 136, 141, 220,

223 Hamilton, William 216 Hartmann, Eduard von 222 Hedwig, Klaus XXXIII, XXXV Hegel, Georg Wilhelm Friedrich XVI, XX, 28, 91, 122, 124f., 129f., 136, 201, 205, 213, 218 Helmholtz, Hermann von XXVIIf., 46, 75, 84, 125, 136, 142, 167, 177, 193, 196, 224 Henle, Jakob 136 Heraklit von Ephesos 27, 33, 45, 154, 224 Herbart, Johann Friedrich XVII, XXIX, 4, 109, 179, 194, 218, 250 Hering, Ewald XVIII, 125, 136, 177, 193, 196 Hermodorus von Ephesos 154 Hertling, Georg von XXXII, 229– 233 Herzen, Alexander XXXVII Hessen-Rheinfels, Ernst von 31 Hieronymus (Kirchenvater) 244 Hillebrand, Franz XVI, XVIII, XXXIV, 182 Hipparch 91 Hobbes, Thomas 176

267

Hoffmann, Franz XII Höfler, Alois XV Homer 152 Horaz 153, 160 Horkel, Johann 130 Horwicz, Adolf XII, XXVIIIf., XXXIV, XXXVII, 79–85 Hume, David XX, 15, 17, 166, 215–217, 222 Huß, Jan 52, 166 Huxley, Thomas Henry 136, 223

Ibsen, Henrik 127

Ihering (Jhering), Rudolf von 136, 153, 157, 245 Irnerius von Bologna (Wernher) 239f.

Jamblichus von Chalkis 209

Jerusalem, Wilhelm XV, XXXIV Jesus von Nazareth 155, 208 Jodl, Friedrich XV, XXXIV, 159 Jouffroy, Théodore Simon 7 Justinian I. (röm. Kaiser) 155, 161

Kaiser-el-Safti, Margret XXXIII

Kant, Immanuel XVI, XX, 3, 15f., 124, 201, 204, 215–220, 222, 249 Karl der Große 186 Karlik, Berta XV, XXXIV Karl von Anjou 243 Karneades von Kyrene 208 Kepler, Johannes 13, 48 Kirchhoff, Gustav Robert XXI Kilwardby, Robert 244 Kopernikus, Nikolaus 232 Kraus, Oskar XXXV, XXXIXf.

Lamarck, Jean-Baptiste de 146f., 223 Lavoisier, Antoine Laurent de 70, 145, 169, 207, 220

268

Personenregister

Leibniz, Gottfried Wilhelm XX, XXIIIf., 21, 28, 31, 48, 136, 143, 145, 193, 214f., 221, 224, 237, 239, 245, 247 Leo X. (Papst) 233 Lessing, Gotthold Ephraim 215 Lewes, George Henry 240 Lieben, Ida von (Brentano, Ida) XVI Linné, Carl von 146 Lipps, Theodor XVII, 151 Littré, Émile 54f. Littrow, Joseph Johann von 130 Locke, John XX, XXIII, 21, 28, 42, 48f., 56, 120, 122, 125, 214f., 220, 224 Lorm, Hieronymus 201, 203f., 219f., 222, 224 Lubbock, John William 193 Ludwig XIV. 52 Ludwig der Bayer 211 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 208 Lullus, Raymundus XX, 212f., 245 Luther, Martin 212 Lyell, Charles 142, 146 Lykurg 154

Maaßen, Friedrich XVI, XXXVIII Mach, Ernst XXI, XXXIII, 136 Madeyski-Poray, Stanisław Jerzy von 181, 183, 190f., 203 Malachias 152 Mantegazza, Paolo 177 Marcus Aurelius (Marc Aurel) 51, 160 Marek, Johann Ch. XXXIII Marius (Gaius Marius) 160 Marty, Anton XIII, XVIII, XXIX, XXXIV, 137, 182 Mayer-Hillebrand, Franziska XXXIX Mazzini, Guiseppe 245 McGrath, William J. XXII, XXXIV

Meinong, Alexius XVII Merlin, Philippe-Antoine 165 Meynert, Theodor 196 Miklosich, Franz von XXIXf., XXXVII, 107, 109–111, 113– 115, 238 Mill, John Stuart XXI, XXIV, XXVI, XXXV, 24, 26, 55, 85, 114 Mivart, St. George 46 Moderatus von Gades 209 Modestinus, Herennius 155 Moerbeke, Wilhelm von 241 Möhler, Johann Adam XIX, XXXIII, 27 Molière 14 Mommsen, Theodor XXXII, 229, 233 Mosso, Angelo 194 Müller, Georg Elias XVII, 151 Müller, Johannes 193, 220 Münch, Dieter XXV, XXXIX

Napoleon I. Bonaparte 146, 245 Narses 161 Nero (röm. Kaiser) 58, 209 Newton, Isaac 14, 18, 47f., 68, 82, 83 Nietzsche, Friedrich XXII Nikomachus von Gerasa 209 Numenius von Apamea 103 Octavian siehe Augustus Origenes 48 Papinian 155, 160, 240 Pascal, Blaise 48, 125, 143, 166, 170f. Pasikles 45 Paul IV. (Papst) 213 Paulus (Apostel) 51, 61, 225

Personenregister

269

Richelieu, Armand Jean du Plessis de 60 Rittner, Edward 185–188, 191 Rokitansky, Carl von 136 Rousseau, Jean-Jacques 165 Royer-Collard, Pierre-Paul 7 Rufus, Servius Sulpicius 153

Schiller, Friedrich 225 Schleiermacher, Friedrich 115 Schmid, Erich XV, XXXIV Schmidkunz, Hans XIX, XXXV Schopenhauer, Arthur XXII, 91, 201, 219, 222 Seneca 152 Sextus Empirikus 208 Sigwart, Christoph XXIX, XXXV Simplicius 209, 241 Smith, Adam 25, 145 Sokrates 48, 52, 91, 94, 112, 120, 224 Solon 154 Sophokles 48, 161, 222 Sorel, Albert 158 Spahn, Martin XXXII, 229 Spencer, Herbert 219 Spinoza Baruch de XXIII, 4, 223, 250 Steinthal, Heymann XXIX, 109, 115 Stewart, Dugald 216 Stremayr, Karl von 179 Stumpf, Carl XIIf., XV–XVII, XIX, XXVII, XXXV, 137, 151 Suárez, Francisco 125 Sulla 160 Suso (Seuse), Heinrich 212

Sadi Carnot, Marie François 134

Taaffe, Eduard 180f.

Paulus, Iulius 155 Pawlovsky, Franz 183f. Perikles 144 Philo der Jude 93, 103, 209 Pidoll von Quintenbach, Michael 191 Pius V. (Papst) 244 Pius IX. (Papst) 233 Platon XX, XXIII, 33, 46, 48–50, 91, 93–95, 97, 148, 159, 205, 208, 224, 233 Plener, Ernst von 190 Plotin XIXf., XXIIf., 91–100, 102f., 209 Pontius Pilatus 208 Porphyrius XXII, 92, 95–97, 209 Proklus 201, 209 Pseudo-Dionysius Areopagita 32 Pyrrho von Elis 208 Pythagoras 97, 159

Reid, Thomas 216–218, 222

Salonina, Julia Cornelia 95 Sauer, Werner XIII, XXXV, XXXIX Savigny, Friedrich Carl von 145, 148, 156, 165, 167 Scaevola, Quintus Mucius 153 Schäffle, Albert 148 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph XVI, XX, XXII, 28, 122, 124– 126, 130, 136, 218 Scherer, Wilhelm 167

Tauler, Johannes 212 Tacitus, Publius Cornelius 160 Taine, Hippolyte 138 Tait, Peter Guthrie 136 Tempier, Étienne XXXI, 244 Thales von Milet 27, 66, 92, 98, 159, 207 Themistius 241 Theodosius II. (oström. Kaiser) 155 Theophrast 241

270

Personenregister

Theresia (Teresa von Ávila) 57 Thomas von Aquin XII, XXf., XXV, XXXf., XXXIV, 31–35, 42, 48, 52, 54f., 158, 209f., 224, 230f., 237–241, 243–248 Thomas von Canterbury 52 Thomson, Joseph John 142 Titus (röm. Kaiser) 160 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 127 Trendelenburg, Friedrich Adolf XXIX, 109, 112 Twardowski, Kazimierz XIX, XXXV

Wagner, Johann Jakob 130

Ulpian 155, 160

Xaverius (Francisco de Xavier) 57

Unger, Joseph 183, 185, 188 Urban IV. (Papst) 243 Urlichs, Ludwig von XII

Valentine, Elizabeth XXIV, XXXV Valentinian III. (röm. Kaiser) 164 Vergil 152 Verres, Gaius 164 Vogt, Theodor 180 Voltaire 49, 215

Washington, George 145 Weber, Ernst Heinrich 194 Weismann, August 223 Werle, Josef M. XXIII, XXXV Wilbrandt, Adolf von 128 Wilhelm von Ockham (Occam) XX, 211 Woleński, Jan XXXV Wolff, Christian 81, 215 Wundt, Wilhelm XVII, XXVIII, 151

Xenophanes 41f. Xenophon 159

Young, Thomas 220 Zellner, Leopold Alexander 195 Zeno von Elea 3, 207, 249 Zimmermann, Robert 180 Zöllner, Karl Friedrich 130 Zumbusch, Caspar von 241