Skandinavische Schriftsysteme im Vergleich [Reprint 2012 ed.] 9783110927085, 9783484304307

Most script systems are too complicated to be adequately described in terms of sound-letter equivalents. The Scandinavia

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German Pages 299 [300] Year 2001

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Abkürzungen
1. Einleitung
1.1. Problemstellung und Ziel der Arbeit
1.2. Gliederung der Arbeit
1.3. Vom lateinischen Schrifttum über die Kalmarer Union bis hin zur Entstehung der modernen nordischen Schriftsprachen
2. Grundlegende Terminologie
2.1. Graph, Allograph, Graphem
2.2. Phonetische und phonologische Notation
2.3. 1:1-Korrespondenz zwischen Graphemik und Phonemik als Bezugssystem
2.4. Konzeptionell schriftliche Mündlichkeit und konzeptionell mündliche Schriftlichkeit
2.5. “Flache” und “tiefe” Schriftsysteme
3. Die Grapheminventare der nordischen Sprachen
3.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen
3.2. Nicht-internationale Grapheme der skandinavischen Sprachen
3.3. Ungenutzte internationale Grapheme: , , , ,
3.4. Intersprachliche Konnotationen
4. Graphem-Phon(em)-Korrespondenzen
4.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen
4.2. Phonologischer Pluralismus
4.3. Selbstreferenzielle Orthographie-Steuerung bei der Distribution von graphemischer Ober-/Unterlänge
4.4. Tilgbare und stumme Grapheme
4.5. Schriftbedingte Analogiebildungen: etymologisch “falsche” Schreibung, Restitution, Leseaussprache, Hyperkorrektur
5. Orthographische Ikonizität
5.1. Terminologie
5.2. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen
5.3. Orthographische Ikonizität bei im Isländischen und im Färöischen
5.4. Orthographische Ikonizität bei , , , , und
5.5. Divergenzen zwischen geschriebener und gesprochener Grammatik
5.6. Morphemkonstanzschreibung und Homonymiedifferenzierung
5.7. Lesestrategien und grapho-morphologische Ikonizität
6. Graphemische Überdachung
6.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen
6.2. Ostnordische Expansion: Die Wirkung mundartenüberlagernder Herrschaftssprachen
6.3. Westnordische Introspektion: Die Unwirksamkeit der Mundartenüberdachung
6.4. Internordische Semikommunikation und paradigmenexterne Wortüberdachung
6.5. Typologie der paradigmenexternen Überdachung
7. Politische und kulturgeschichtliche Einflüsse auf die Orthographie-Entwicklung
7.1. Ideologie und Orthographie
7.2. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen
7.3. Die Abspaltung des norwegischen Riksmål/Bokmål vom Dänischen
7.4. Isländische Sondergrapheme
7.5. Das etymologisch-transformationelle Prinzip der färöischen Orthographie
8. Orthographische Variationstheorie und Reformkritik
8.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen
8.2. Der relative Stellenwert einer orthographischen Eigenschaft
8.3. Dependenzverhältnisse der orthographischen Parameter
8.4. Reformkritik und Parameterprioritierung
9. Nicht-lineare Phonologie
9.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen
9.2. Nicht-lineare Phonologie und Orthographie
9.3. Phonologische Adäquatheit und orthographische Praktikabilität
9.4. Orthographie und kognitive Repräsentationen
10. Zusammenfassung und Ausblick auf nicht behandelte Fragestellungen
Literatur
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Skandinavische Schriftsysteme im Vergleich [Reprint 2012 ed.]
 9783110927085, 9783484304307

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Linguistische Arbeiten

430

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Heinz Vater und Richard Wiese

Christer Liridqvist

Skandinavische Schrift syst eme im Vergleich

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lindqvist, Christer: Skandinavische Schriftsysteme im Vergleich / Christer Lindqvist. - Tübingen : Niemeyer, 2001 (Linguistische Arbeiten ; 430) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Habil.-Schr., 1997 ISBN 3-484-30430-8

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 321 "Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit"1 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg entstanden. Sie wurde von Herrn Prof. Dr. Otmar Werner angeregt und betreut; vor allem für die fachliche und zeitliche Freiheit, die er mir zugestanden hat, bin ich dankbar. Wertvolle Hinweise verdanke ich zudem den Herren Prof. Prof. Dr. Wolfgang Raíble, Prof. Dr. Hugo Steger, Prof. Dr. Heinz Vater und Prof. Dr. Alois Wolf. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei für die jahrelange Förderung gedankt. Mein Dank gilt auch meinem Freund Peter Stephan, meiner Ehefrau Sabine Lindqvist sowie Frau Andrea König, die zur endgültigen Textgestaltung entscheidend beigetragen haben. Greifswald, Juli 2000

Christer Lindqvist

Lesehinweis: Vorliegende Arbeit enthält eine in sich geschlossene Kurzfassung von etwa 70 Seiten, die sich aus Kap. 1, 2, 3.1, 4.1, 5.1-5.2, 6.1, 7.1-7.2, 8.1, 9.1 zusammensetzt. 1

Mit einem Schwerpunkt in der Orthographie sind im SFB 321 drei weitere Monographien entstanden: Strobel-Köhl 1994; Scharlipp 1995; Meisenburg 1996.

Inhalt

Abkürzungen 1. Einleitung 1.1. Problemstellung und Ziel der Arbeit 1.2. Gliederung der Arbeit 1.3. Vom lateinischen Schrifttum über die Kalmarer Union bis hin zur Entstehung der modernen nordischen Schriftsprachen

ΧΠ 1 1 2 3

2. Grundlegende Terminologie 8 2.1. Graph, Allograph, Graphem 8 2.2. Phonetische und phonologische Notation 11 2.3. 1:1-Korrespondenz zwischen Graphemik und Phonemik als Bezugssystem 11 2.4. Konzeptionell schriftliche Mündlichkeit und konzeptionell mündliche Schriftlichkeit.... 12 2.5. "Flache" und "tiefe" Schriftsysteme 13 2.5.1. "Tiefe" eines Schriftsystems 13 2.5.2. Phonologische und orthographische Tiefe 16 3. Die Grapheminventare der nordischen Sprachen 3.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen 3.1.1. Die Grapheme in skära und skœre 3.1.2. Intersprachliche Konnotationen bei skära und skœre 3.2. Nicht-internationale Grapheme der skandinavischen Sprachen 3.2.1. Zu 3.2.2. Zu 3.2.3. "Ligaturisierungen" mit geringer Auswirkung auf die Schreibung 3.3. Ungenutzte internationale Grapheme: , , , , 3.4. Intersprachliche Konnotationen 3.4.1. Reform von zu im Dänischen und Norwegischen 3.4.2. Minimaler Komplexitätsgrad einer Konnotation

18 18 18 25 26 27 29 33 34 35 36 37

4. Graphem-Phon(em)-Korrespondenzen 4.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen 4.1.1. Syntagmatische Abweichungen von "1 Graphem= 1 Phonem" 4.1.2. Abweichungen von "1 Graphem(folge) 1 Phonem im orthographischen System" 4.1.3. Abweichungen von "1 Phonem -> 1 Graphem(folge) im orthographischen System" 4.1.4. Orthographische Etymologizität

40 40 40 44 47 47

vm 4.1.5. Stumme Grapheme 4.2. Phonologischer Pluralismus 4.2.1. Die Graphem-Phonem-Korrespondenzen bei [χ, h, ô, γ ] im Isländischen 4.2.2. Die Graphem-Phonem-Korrespondenzen bei stimmlosen Plosiven im Schwedischen und Deutschen 4.3. Selbstreferenzielle Orthographie-Steuerung bei der Distribution von graphemischer Ober-/Unterlänge 4.3.1. Sonoritätsbedingte Distribution von Ober-AJnterlänge 4.3.2. Selbstreferenzielle Orthographie-Steuerung bei und 4.4. Tilgbare und stumme Grapheme 4.4.1. Regulär tilgbare und stumme Grapheme 4.4.1.1. Definitionen 4.4.1.2. Stumme Grapheme und generative Phonologie 4.4.1.3. Stumme und getilgte Grapheme in haupttoniger Silbe 4.4.1.4. Stumme und tilgbare Grapheme in schwachtoniger Silbe 4.4.2. Tilgbare und stumme Grapheme bei irregulären Kürzungen im Dänischen und Schwedischen 4.4.2.1. Einleitung 4.4.2.2. Dänisch have und schwedisch ha 'haben' 4.4.2.3. Dänisch tage und schwedisch ta 'nehmen' 4.4.2.4. Gebrauchsfrequenz und graphemische/phonetische Kurzformen 4.4.2.5. Warum ist das dänische Schriftbild konservativer als das schwedische? 4.5. Schriftbedingte Analogiebildungen: etymologisch "falsche" Schreibung, Restitution, Leseaussprache, Hyperkorrektur 4.5.1. Etymologisch "falsche" Schreibungen im Dänischen: /n/->{, ,...} und/l/->{, ,...} 4.5.2. Phonologische Restitutionen 4.5.2.1. Isländisches flâmœli 4.5.2.2. Schwedisch =[rö] 4.5.3. Morphophonemische Restitutionen 4.5.3.1. Schwedische Pluralendungen -or/-er 4.5.3.2. Norwegische (Nynorsk) Endsilbenvokale 4.5.3.3. Färöische Endsilbenvokale 4.5.3.4. Der bestimmte Artikel vom Typ schwedisch häst-ar-na 4.5.4. Typologie der Restitution 4.5.5. Theoretischer Stellenwert von Graphem-Phonem-Korrespondenzen 4.5.5.1. Standardschreibung, Standardlautung und Restitution 4.5.5.2. Graphem-Phonem-Korrespondenzen als Elementareinheiten der Orthographie

48 49 49 52 54 54 57 59 59 59 60 61 62 63 63 64 65 66 70 76 77 79 79 81 82 82 86 87 87 89 89 89 92

IX 5. Orthographische Ikonizität 97 5.1. Terminologie 97 5.2. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen 99 5.2.1. Graduelle graphemische Ähnlichkeit 99 5.2.2. Grapho-phonetische und grapho-phonologische Ikonizität 100 5.2.3. Grapho-morphologische Ikonizität 101 5.2.4. Orthographische Ikonizität und graphemische Diskriminierbarkeit 103 5.3. Orthographische Ikonizität bei im Isländischen und im Färöischen 104 5.4. Orthographische Ikonizität bei , , , , und 106 5.4.1. Das strukturale Econizitätsprinzip (SIP) 106 5.4.2. Dänisch 109 5.4.3. Schwedisch Ill 5.4.4. Norwegisch 115 5.4.5. Isländisch 117 5.4.6. Färöisch 119 5.4.7. Die nordischen Sprachen im SIP-Vergleich 120 5.5. Divergenzen zwischen geschriebener und gesprochener Grammatik 121 5.5.1. Einleitung 121 5.5.2. Grammatische Divergenzen aus taxonomischer Sicht 122 5.5.3. Grammatische Divergenzen aus generativer Sicht 123 5.5.4. Grammatische Divergenzen jenseits der zugrundeliegenden Form 124 5.5.5. Grammatische Divergenzen beim dänischen Infinitiv und Präsens Indikativ 125 5.6. Morphemkonstanzschreibung und Homonymiedifferenzierung 133 5.7. Lesestrategien und grapho-morphologische Ikonizität 135 5.7.1. Welche lesestrategische Bedeutung hat die grapho-morphologische Ikonizität?.. 135 5.7.2. Einige Ergebnisse der experimentellen Leseforschung 136 5.7.3. Flexion und ihr Verhältnis zur grapho-morphologischen Ikonizität bei verschiedenen Lesestrategien 144 5.7.4. Einflüsse von Lese- und Schreibstrategien auf die grapho-morphologische Ikonizität 150 6. Graphemische Überdachung 158 6.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen 158 6.1.1. Einleitung 158 6.1.2. Paradigmeninterne und paradigmenexterne Wortüberdachung 159 6.1.3. Diachrone Wortüberdachung 161 6.1.4. Paradigmenexteme zwischensprachliche Wortüberdachung und intemordische Semikommunikation 161 6.1.5. Orthographische Tiefe und internordische Semikommunikation 163 6.2. Ostnordische Expansion: Die Wirkung mundartenüberlagernder Herrschaftssprachen.. 164 6.2.1. Das Schwedische in den ostdänischen/südschwedischen Provinzen 164 6.2.2. Das Schwedische in Finnland und das Finnlandschwedische 166

χ 6.2.3. Das Dänische in Norwegen und das Bokmâl 6.2.4. Das Dänische in Schweden 6.2.5. Das Dänische im Inselnordischen 6.3. Westnordische Introspektion: Die Unwirksamkeit der Mundartenüberdachung 6.3.1. Färöischer Abschied von der orthographischen Überdachung 6.3.2. Isländische Absage an die orthographische Überdachung 6.3.3. Nynorsk in der Zange zwischen Mundartenüberlagerung und Mundartenüberdachung 6.3.3.1. Nynorsk als Konkurrent zum Bokmâl 6.3.3.2. Nynorsk als mundartenüberlagernde Standardsprache 6.3.3.3. Nynorsk als mundartenüberdachende Standardsprache 6.3.3.4. Lexik und Mundartenüberdachung imNynorsk 6.4. Intemordische Semikommunikation und paradigmenexterne Wortüberdachung 6.5. Typologie der paradigmenexternen Überdachung 7. Politische und kulturgeschichtliche Einflüsse auf die Orthographie-Entwicklung 7.1. Ideologie und Orthographie 7.1.1. Inner- und außersprachlich akzeptable Orthographien 7.1.2. Sprache und Nationalismus 7.1.3. Inkludierende und exkludierende Kulturidentifikation durch Sprache 7.1.4. Sprache und Nationalismus in Skandinavien 7.2. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen 7.3. Die Abspaltung des norwegischen Riksmâl/Bokmâl vom Dänischen 7.3.1. Entwicklungen vor 1917 7.3.2. Die Distribution von und im heutigen Bokmâl 7.3.3. Umbau der ursprünglich dänischen Distribution von und 7.3.4. Zum Vergleich: Die Entstehung von /ε/—>{ und [Θ, d, ö] im heutigen Isländisch 7.4.2. Drei Gedankenexperimente zur Distribution von

und 7.4.3. Ein Vergleich mit und [ö - d] im Dänischen 7.4.4. Zur Realität der Gedankenexperimente 7.4.5. Ein Vergleich mit dem Färöischen und eine Bemerkung zum Nynorsk 7.5. Das etymologisch-transformationelle Prinzip der färöischen Orthographie 7.5.1. Färöischer Sprachnationalismus in Dänemark 7.5.2. Färöischer Sprachnationalismus auf den Färöem 7.5.3. Ist die etymologisierende färöische Orthographie die einzige innersprachlich vertretbare? 7.5.4. Färöische Schriftgeschichte ohne den Historismus - ein Vergleich mit dem Finnischen

168 171 171 173 173 175 175 175 177 180 182 185 189 192 192 192 193 196 197 198 202 202 203 206 208 210 211 212 213 215 216 218 219 220 225 227 231

XI 8. Orthographische Variationstheorie und Reformkritik 8.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen 8.2. Der relative Stellenwert einer orthographischen Eigenschaft 8.3. Dependenzverhältnisse der orthographischen Parameter 8.4. Reformkritik und Parameterprioritierung 8.4.1. Auferlegte und logisch notwendige Randbedingungen der orthographischen Parameter 8.4.2. Parameterprioritäten 8.4.3. Orthographie-ideologische Einschränkungen bei der Parameterauswahl

236 236 239 241 242 243 244 245

9. Nicht-lineare Phonologie 9.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen 9.1.1. Nicht-Linearität der phonetischen Empirie 9.1.2. Phonologische Repräsentation von Stimmhaftigkeit in Obstruentenverbindungen 9.1.3. Artikulatorische Phonologie 9.2. Nicht-lineare Phonologie und Orthographie 9.3. Phonologische Adäquatheit und orthographische Praktikabilität 9.4. Orthographie und kognitive Repräsentationen 9.4.1. Orthographischer Pluralismus 9.4.2. Kognitive Repräsentationen phonologischer Strukturen 9.4.3. Besitzen wir eine sekundäre schriftspezifische phonologische Kompetenz? 9.4.4. Orthographischer Pluralismus und schriftinduzierte phonologische Sekundärkompetenzen

248 248 248

264

10. Zusammenfassung und Ausblick auf nicht behandelte Fragestellungen

266

Literatur

271

251 252 257 259 261 261 262 264

Abkürzungen

adän. aengl. afár. ags. ahd. aisl. an. anorw. arab. aschwed. awestnord. bokm. chin. dän. dt. engl. estn. für. finn. fnhd. fränk. frz. germ. got. griech. grönländ. hd. hebr. ie. isl. it. ital. jap. kelt. lat. md. mhd. mnd. nd. ndl. nhd.

altdänisch altenglisch altfäröisch angelsächsisch althochdeutsch altisländisch altnordisch altnorwegisch arabisch altschwedisch altwestnordisch bokmâl-norwegisch chinesisch dänisch deutsch englisch estnisch färöisch finnisch frühneuhochdeutsch fränkisch französisch germanisch gotisch griechisch grönländisch hochdeutsch hebräisch indoeuropäisch isländisch italienisch italisch japanisch keltisch lateinisch mitteldeutsch mittelhochdeutsch mittelniederdeutsch niederdeutsch niederländisch neuhochdeutsch

nord. norw. nyn. obd. port. schwed. serbokroat skand. slowak. span. tschech. türk. urn.

nordisch norwegisch nynorsk-norwegisch oberdeutsch portugiesisch schwedisch serbokroatisch skandinavisch slowakisch spanisch tschechisch türkisch urnordisch

Adj. Adv. Akk. Dat. Def. Fem Gen. GPK Ind. Indef. Inf. Mask. Neutr. Nom. Part. Perf. Pers. PGK PI. Präs. Prät. sg. sth. stl. Utr.

Adjektiv Adverb Akkusativ Dativ Definitheit Femininum Genitiv Graphem-Phonem-Korrespondenz Indikativ Indefinitheit Infinitiv Maskulinum Neutrum Nominativ Partizip Perfekt Person Phonem-Graphem-Korrespondenz Plural Präsens Präteritum Singular stimmhaft stimmlos Utrum

1. Einleitung

1.1. Problemstellung und Ziel der Arbeit

Es gibt bereits mehr oder weniger ausführliche Arbeiten zu den orthographischen Systemen der sechs nord. Schriftsprachen Dänisch, Schwedisch, Norwegisch (mit seinen Standards Bokmâl und Nynorsk), Färöisch und Isländisch. Die vorliegende Arbeit will diese Ergebnisse keinesfalls zusammentragen und Sprache für Sprache abhandeln. Ein derartiges Vorgehen hieße nicht nur, bereits Bekanntes zu wiederholen, sondern würde auch wesentliche Prinzipien alphabetischer Standardsprachlichkeit unberücksichtigt lassen. Orthographische Systeme sind zu komplex, als daß sich ihr Funktionieren allein anhand aufgelisteter Graphem-Phonem-Korrespondenzen (im folgenden: GPKen) erschlösse. Dies zeigen allein schon Problembereiche wie: Internationalität von Graphemen, textkonnotative Kraft von Graphemen, Ligaturisierungsprozesse, stumme und tilgbare Grapheme, etymologisch "richtige" und "falsche" Schreibung, Restitution, Leseaussprache, Hyperkorrektur, Homonymiedifferenzierung, invariante Schreibung lexikalischer Morpheme (sog. Morphemkonstanzschreibung oder Schemakonstanz), Mundartenüberdachung, internord. Semikommunikation, Lese- und Schreibstrategien, Wortfrequenz, Eugraphie und ästhetische Textgestaltung, geistes- und kulturgeschichtliche Einflüsse auf die Schriftsysteme, orthographische Einheiten als Träger von Ideologien, wirtschaftliche Aspekte von Orthographiereformen usw. Wie man sieht, gibt es ein ganzes Spektrum orthographischer Eigenschaften. Es erstreckt sich von den rein innersprachlichen GPKen bis hin zu dem kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund, vor dem Schriftsysteme entstehen, verwendet und reformiert werden. Die vorliegende Arbeit nimmt sich nicht nur vor, all diese Eigenschaften als konstituierende Elemente der Orthograhie zu berücksichtigen, sie will vor allem auch ihre Abhängigkeiten voneinander erfassen. Nur so sind die zum Teil komplizierten Abweichungen vom einfachen alphabetschriftlichen Grundprinzip "ein Phonem «-» ein Graphem" verständlich. Um entsprechende Überlegungen anzustellen, bieten die nord. Sprachen ein sehr reichhaltiges Material. Dabei ermöglicht nicht nur die diachrone Verwandtschaft, sondern auch die Abstufung von feinen bis hin zu sehr großen synchronen Sprachunterschieden eine differenzierte Theoriebildung. Insbesondere wenn Vorschläge zu Orthographiereformen kritisch beurteilt werden sollen, genügt es nicht, diese nur in bezug auf das Grundprinzip "ein Phonem ein Graphem" zu bewerten. Um Reformvorschläge in ihrer ganzen Wirkung einschätzen zu können, darf man einzelne orthographische Eigenschaften nie isoliert betrachten. Was hinsichtlich einer bestimmten orthographischen Eigenschaft als eine begrüßenswerte Veränderung erscheinen mag, wirkt sich möglicherweise hinsichtlich anderer Eigenschaften ungünstig aus. Ob ein Reformvorschlag abgelehnt oder angenommen wird, hängt aber nicht nur von seiner in linguistischer Hinsicht "objektiv" feststellbaren Auswirkung ab; mindestens ebenso entscheidend ist, welche Bedeutung dieser Auswirkung zuerkannt wird. Hier einen hinlänglich hohen Grad an Intersubjektivität zu erreichen, ist nicht ohne weiteres möglich - auch wenn man sich weitgehend über die "objektiv" vorhandenen Sachverhalte einig ist. Dies hängt eng damit zusammen, daß die Bedeutung, die den einzelnen orthographischen

2 Eigenschaften zugeschrieben wird, fast immer sprachpolitisch und kulturspezifisch determiniert ist: Die Schriftsprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, vielmehr dient sie breiten Bevölkerungsschichten auch als Kulturträger und als Zeichen der nationalen Identität. Die Frage nach der Güte einer Schrift entzieht sich daher dem rein sprachwissenschaftlichen Zugriff zumindest teilweise. Aus diesem Grund ist die Theorie zur Reformkritik (Kap. 8) ein wichtiges Ziel dieser Arbeit.

1.2. Gliederung der Arbeit

Die Gliederung der Arbeit ist so angelegt, daß Kap. 1, 2, 3.1, 4.1, 5.1-5.2, 6.1, 7.1-7.2, 8.1, 9.1 einen etwa 70seitigen repräsentativen Auszug der grundlegenden Theoriebildung bieten. Wird aber die Arbeit in ihrer Gesamtheit gelesen, übernehmen die Teile dieser Kurzfassung eine weitere textstrukturelle Funktion: Am Anfang jedes der Kap. 3-9 führen sie in einen Problemkreis ein, der in den anschließenden Unterkapiteln ausführlich behandelt wird. Auch läßt sich Kap. 8 als eine Zusammenfassung der Kap. 3-7 lesen. Die Kapitel 2-10 behandeln folgende Themenbereiche: Kap. 2: Neben der Erörterung grundlegender Termini und Notationsweisen wird das theoretische Grundprinzip festgelegt, nach dem die orthographischen Eigenschaften der nord. Schriftsprachen aufgearbeitet werden. Dabei wird als Fixpunkt eines theoretischen Referenzsystems eine prototypische 1:1-Zuordung zwischen graphemischen und phonologischen Segmenten angenommen (was aber keineswegs eine ideale Verschriftung impliziert). Die unterschiedlichen Abweichungen von diesem Fixpunkt führen zu weiteren Fragestellungen, die über das bloße Feststellen von GPKen hinausgehen. Kap. 3: Bevor aber die Beziehungen zwischen der Graphemik und den anderen sprachlichen Ebenen (wie vor allem Phonetik, Phonologie und Morphologie) in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, werden einige Besonderheiten der Grapheminventare selbst untersucht. Das Interesse richtet sich auf die Internaüonalität von Graphemen, ihre textkonnotative Kraft sowie Fragen nach Ligaturisierungsprozessen. Kap. 4: Anschließend wird der Aufbau von GPKen als dem tragenden Organisationsprinzip aller Alphabetschriften behandelt. Allerdings werden keine Listen mit GPKen vorgestellt. Statt dessen steht der theoretische Stellenwert dieser Korrespondenzen selbst im Vordergrund. Ebenso wird auf die Verhältnisse zwischen dem Sonoritätsgrad von Lauten und ihrer Verschriftung eingegangen. Einen weiteren Themenkreis bildet der schriftinduzierte Lautwandel (Leseaussprache, Hyperkorrekte, Restitution). Kap. 5: Während Kap. 4 den graphemischen Strukturen phonologische gegenüberstellt, konzentriert sich Kap. 5 auf die Beziehungen zwischen der Graphemik und der Morphologie, da diese oft Abweichungen vom Prinzip der 1:1-Korrespondenz motivieren. Damit eng verbunden ist die Frage nach der lesestrategischen Bedeutung einer invarianten Schreibung lexikalischer Morpheme. Kap. 6: Kap. 6 befaßt sich mit verschiedenen Typen der graphemischen Überdachung: Morphemkonstanzschreibung, Mundartenüberdachung, internord. Semikommunikation.

3 Außerdem wird die Mundartenüberdachung mit der orthographischen Überdachung von regionalen Varianten einer Standardaussprache verglichen. Kap. 7:

Sprache - vor allem in ihrer Funktion als standardisierte Schriftsprache - ist mehr als ein bloßes Instrument der Kommunikation. Neben ihrer Verwendung als Literatursprache ist ihr auch eine starke Politisierung widerfahren: Sprachen sind zu Trägern von Ideologien geworden. Dieser Umstand zeigt sich vor allem bei der far. und den beiden norw. Schriftsprachen (Bokmâl und Nynorsk), die sich im 19. Jh. konsolidierten. Von dieser Politisierung sind sowohl das orthographische Detail als auch die grundlegenden Verschriftungsprinzipien betroffen. Um diese Besonderheiten erklären zu können, greift eine rein innersprachliche Argumentation oft viel zu kurz, weshalb auch außersprachliche Hintergründe beachtet werden.

Kap. 8:

In diesem Kapitel wird ein Darstellungsmodus ausgearbeitet, mit dem sich die Auswirkung eines Reformvorschlags auf das gesamte orthographische System veranschaulichen läßt. Überlegungen zu nicht-linearen phonologischen Theorien werfen die Frage auf, inwiefern die kognitive Repräsentation linear-segmentaler phonologischer Einheiten als eine rein alphabetschriftlich bedingte Sekundärkompetenz aufzufassen ist.

Kap. 9:

Kap. 10: Abschließend werden die wichtigsten behandelten orthographischen Phänomene zusammengefaßt.

1.3. Vom lateinischen Schrifttum über die Kalmarer Union bis hin zur Entstehung der modernen nordischen Schriftsprachen

Vor der Christianisierung wurde das Nordgerm, mit der Runenreihe des nord, (jüngeren) Futhark verschilftet. Diese Schrift geht auf das gemeingerm. (ältere) Futhark zurück, das seinerseits unter Einfluß norditalischer Alphabetschriften bei alpengerm. Stämmen entstanden sein dürfte. Die alphabetschriftliche Notwendigkeit, das Gesprochene auf eine Lautkette zu reduzieren, muß somit den (wenigen schriftkundigen) Germanen schon seit der Verwendung des älteren Futhark bekannt gewesen sein. Mit dem lat. Schrifttum erreichte Skandinavien daher kein neues Verschriftungsprinzip. Bedeutender waren die damit verbundenen Kulturimpulse aus Mitteleuropa: Die Anfänge des lat. Schrifttums in Skandinavien hängen eng mit den politischen, wirtschaftlichen und religiösen Entwicklungen im Frühmittelalter zusammen. Als sich größere Verwaltungsräume herausbildeten, die sich Jahrhunderte später in Form von Nationalstaaten konsolidieren und etablieren sollten, kam bald das Bedürfnis nach einem Kommunikationsmittel auf, das größere zeitliche und räumliche Abstände zu überbrücken vermochte als die reine Mündlichkeit. Mit einer weiterentwickelten Runenschrift wäre dies zwar auch möglich gewesen, doch konnte sich diese nicht gegen die lat. Schrift behaupten. Die Missionare aus Mitteleuropa boten nämlich nicht nur eine schon gut bewährte Schrift und Verschriftungsmethode an; der Klerus war auch eine schriftkundige Berufsgruppe, die Kenntnisse über die straffe Organisation der römisch-katholischen Kirche besaß und

4 somit für den Aufbau einer weltlichen Verwaltung bestens geeignet war. Die dadurch bedingte Verquickung religiöser und weltlicher Zentralisierung erwies sich bald als ein effektives Instrument, die Macht der Könige zu festigen und auszudehnen. Der alten, stark auf Sippenzugehörigkeit und Familiensolidarität basierenden Gesellschaftsstruktur des Heidentums wurden nun sowohl die bereits erprobte Organisation als auch die universalistisch-verbindlichen und somit stark gemeinschaftskonstituierenden Glaubenssätze der römisch-katholischen Kirche entgegengesetzt. Das lat. Schrifttum und der neue Glaube implizierten daher die Zugehörigkeit zu einem internationalen Kulturkreis, außerhalb dessen man nicht stehen wollte; als Mitglieder der christlichen überstaatlichen Gemeinschaft konnten die Nordleute ihren Handel mit dem restlichen Europa wesentlich leichter betreiben. Somit hängt in Skandinavien die Christianisierung unmittelbar mit wirtschaftlicher Expansion und Ausübung weltlicher Macht zusammen. Zugleich waren die christlichen Glaubensinhalte für die breiten Massen oft attraktiver als die heidnischen (dies betrifft vor allem die Jenseitsvorstellungen). Wie auch im übrigen Europa geht die Verschriftung der Volkssprachen mit einem Verdrängen der lateinsprachigen Schriftlichkeit einher. In Skandinavien treten ab dem 15. Jh. verstärkt auch politische Faktoren hinzu. Durch die Kalmarer Union (1397) kam ganz Skandinavien unter dän. Herrschaft (obwohl das Einheitsdokument weder in Schweden noch in Norwegen ratifiziert wurde). Vor allem deshalb konnten sich die verschrifteten Regionalvarianten des Anord. nicht immer ungehindert zu modernen Nationalsprachen entwickeln. Mit der Verwaltung, der Rechtsprechung, der reformierten Kirche und dem Unterrichtswesen verbreitete sich ab dem 16. Jh. die dän. Schriftkultur auf Kosten der anderen Volkssprachen. Daher ist die Entstehung der sechs nord. Schriftsprachen bis in den heutigen Tag engstens mit der Kalmarer Union und ihrer allmählichen Auflösung verbunden. Als Gründer der dän. schriftsprachlichen Norm ist vor allem Christiern Pedersen (um 14801554) anzusehen. Er übersetzte 1529 das Neue Testament und war an der Bibelübersetzung von 1550 entscheidend beteiligt. Seine Übersetzungen beruhen aber auf keiner bestimmten Mundart. Vielmehr versuchen sie, die Schrifttradition von Kopenhagen in etymologisierender Weise zu systematisieren und zu standardisieren. Dabei wird auf Kosten des 1:1-Prinzips ein hoher Grad an graphemischer Morphemkonstanz erreicht; vgl. dän. =['dç'(e) - 'daoli] 'Tag - täglich'. Diese Etymologisierung führte außerdem zu einer großen Übereinstimmung mit dem schwed. Schriftbild; vgl. schwed. =['da:(g) - vdaigli(g)] 'Tag - täglich'. Dieser dän./schwed. Vergleich zeigt eine wichtige Eigenschaft der dän. Schriftsprache: Um die Aussprache von der Schreibung abzuleiten, bedarf es wesentlich mehr Regeln als im Schwed. Hinzu kommt, daß die Regeln viele Irregularitäten aufweisen (vgl. Kap. 4.4.2). Außerdem enthält die standarddän. Aussprache je nach Sprechtempo, Gesprächskontext, sozialer Zugehörigkeit und Personenalter ein wesentlich größeres und heterogeneres Variantenspektrum als irgendeine andere nord. Sprache. Schweden hat sich als erstes Land bereits im Zeitalter der Reformation aus der Kalmarer Union gelöst. Dabei dienten die neuen Bibelübersetzungen (1526 das Neue Testament, 1540/41 die ganze Bibel) nicht nur der religiösen Umstellung, sondern auch einer kulturpolitisch motivierten "Entdanisierung" der Schrift; unter anderem wurden bei der Veröffentlichung der schwed. Bibelübersetzung die weiterhin in Dänemark verwendeten Graphe durch die dt. Umlautbezeichnungen , die sich später zu entwickelten, ersetzt. Dies gilt ebenso für

5 schwed. , das ersetzte. Die Schöpfer der standardisierten Schriftsprache gingen aber nicht nur von den ihnen vertrauten mittelschwed. Mundarten des 16. Jh. aus, sondern griffen auch auf die mittelalterliche Schreibtradition des Vadstenaklosters in Östergötland zurück. Dadurch wurden ein Schriftbild und eine biblische Sprachform geschaffen, die nicht nur feierlich und würdevoll waren, sondern ebenso undän. wirkten. Auf dieser Basis entwickelte sich über Leseaussprache eine gesprochene Standardsprache, die die Mundarten überlagerte und allmählich verdrängte. Die politische Bedeutung standardsprachlicher Überlagerung wird nochmals bei der gut hundert Jahre später einsetzenden Svezisierung der eroberten ostdän. Provinzen Skâne, Hailand, Blekinge und Bohuslän deutlich (Friede zu Roskilde 1658, Friede zu Lund 1679). Norwegen war bereits 1380 (mit Island und den Färöem) unter dän. Herrschaft gelangt. Damit begann eine über 400 Jahre währende Periode dän. Einflusses auf die norw. Sprache und Sprachkultur. Die Übernahme der dän. Schriftsprache war aber nicht nur politisch motiviert. Da sich die traditionelle anorw. Schrift nicht dem schnellen Wandel angepaßt hatte, erleichterte die dän. Schreibung des 16. Jh. die Arbeit der norw. Schreiber erheblich. Bis 1814 wurde in Norwegen das dän. Rigsmâl als einzige Verwaltungs-, Kirchen- und Unterrichtssprache verwendet. So kam es in der Reformation nie zu einer norw. Bibelübersetzung. Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege wurde Norwegen von Dänemark zwar abgetrennt, aber nur, um unmittelbar in Personalunion mit Schweden (bis 1905) zu treten. Rein sprachlich hatte diese zweite Union jedoch keine Auswirkung auf das Norw. Vor allem durch den Einfluß dän. Beamter und Handelsleute entstand in den einheimischen oberen Gesellschaftsschichten eine Sprache, die sich am ehesten als ein norw. gefärbtes Dän. umschreiben läßt. Diese Sprache wurde vor allem von der städtischen Bevölkerung zunehmend als Muttersprache gelernt und entwickelte sich im 19. und 20. Jh. durch etliche Reformen zum sog. Bokmâl 'Buchsprache' weiter. Heute wird diese Sprache von rund 80% der norw. Bevölkerung geschrieben. Ein Viertel hiervon verwendet außerdem eine standardisierte Aussprache, während die restlichen drei Viertel Mundart reden; anders als in Schweden und Dänemark haben Mundarten in der norw. Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Die Entwicklungen im Bokm. der letzten 150 Jahre ist mit der Ideologie des Sprachnationalismus eng verwoben. Erst als sich die Vorstellung von der Notwendigkeit einer eigenen undän. Nationalsprache verbreitete, begann auch die orthographische Reformarbeit. Das heutige Ergebnis dieses Prozesses ist eine eigenständige norw. Standardsprache, die phonologisch eher dem Schwed. nahesteht. Vor dem gleichen kulturpolitischen Hintergrund ist auch das Nynorsk 'Neunorwegisch' entstanden. Hierbei handelt es sich um eine auf Grundlage norw. Mundarten (re)konstruierte norw. Schriftsprache, die sich gänzlich vom dän. Einfluß befreien wollte und sich entsprechend der sprachnationalistischen Ideologie stark auf die "Echtheit" und vermeintliche "Ursprünglichkeit" der Mundarten bezog. Die Initiative zu dieser zweiten norw. Schriftsprache ging von dem Dichter und Sprachforscher Ivar Aasen ( 1813-96) aus. Das Nyn. wird heute von etwa einem Fünftel der norw. Bevölkerung benutzt. Vor allem auf dem Lande und in kleineren Siedlungen ist Nyn. stark vertreten, während Bokm. entsprechend seinem Ursprung im hohen Grad die Sprache der Stadt, der bürgerlichen Kultur und der Bildung ist. Allerdings ist im Laufe der Zeit eine reiche nyn.sprachige Literatur entstanden. Ebenso lassen sich alle Bereiche der modernen Gesellschaft und Wissenschaft mit dieser Sprache erfassen. Dennoch steht die sprachliche Opposition "Bokmâl Nynorsk" für soziale Spannungen, die sich im Laufe des 20. Jh. immer wieder in oft sehr emotio-

6 nal geführten Debatten über orthographische Details entladen haben. Das Nyn. muß sich außerdem nicht nur significant vom Dan. abgrenzen, sondern ebenso vom Bokm., das aus radikaler Nynorsk-Sicht als getarntes Dän. erscheint. Wie Bokm. hat auch Nyn. eine Standardaussprache, die aber keine allgemeine Verbreitung gefunden hat. Wer Nyn. schreibt, redet hauptsächlich die lokale Mundart, wodurch Nyn. noch mehr als Bokm eine fast ausschließlich geschriebene Varietät ist. Die Hoffnung vieler, daß aus einer Annäherung von Bokm. und Nyn. eine gemeinsame Sprachnorm, das sog. Samnorsk 'Gesamtnorwegisch', entstehen wird, scheint wenig Aussicht zu haben. Vielmehr bringt es die zunehmende Urbanisierung mit sich, daß Nyn. langfristig zugunsten des Bokm. zurückgeht. Unter den nord. Sprachen zeichnet sich das Isl. im großen Gegensatz zu den festlandskand. Sprachen durch eine sehr konservative Morphologie aus. Dennoch sind es vor allem Unterschiede im Wortschatz, die eine Verständigung zwischen dem Isl. und den festlandskand. Sprachen verhindern. Während letztere stark vom Nd. beeinflußt wurden, hat der isl. Sprachpurismus sehr viele nd. und dän. Lehnwörter durch einheimische ersetzt, was ebenso für die meisten Internationalismen auf griech., lat. und engl. Grundlage gilt. Wie im Falle der beiden norw. Schriftsprachen ist die Entstehung einer stabilen isl. Orthographie sowohl Reflex als auch Mittel politischer Autonomiebestrebungen. Ein erster Schritt zur Loslösung Islands aus seiner politischen Abhängigkeit von Dänemark erfolgte 1843, als das Alling wiedereingeführt wurde. Als selbständiger Staat wurde Island erst 1918 anerkannt. Das Land blieb aber bis 1944 in Personalunion mit Dänemark. Während in Norwegen (und auf den Färöern) der lange dän. Einfluß zum Abbruch der einheimischen Schrifttradition führte, besteht seit dem Mittelalter eine schriftsprachliche Kontinuität des Isl. Das heutige Schriftbild des Isl. stimmt auch mit dem der orthographisch normalisierten Ausgaben mittelalterlicher Texte weitgehend überein. Allerdings darf man hieraus keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sowohl das Neue Testament von Oddur Gottskálksson (1540) als auch die Bibelübersetzung des Bischofs Guöbrandur Porláksson (die sog. Guöbrandsbiblia von 1584) sind stark vom Dän. beeinflußt. Das heutige Schriftbild, das vielfach einer 1:1Verschriftung des aisl. Phonemsystems entspricht, ist somit keineswegs eine bereits im Mittelalter fixierte und seitdem unverändert gebliebene Schreibung. Vielmehr ist die heutige Orthographie ganz im Sinne des sprachnationalistischen Historismus des 19. Jh. eine Rekonstruktion, die den dän. Einfluß auf die Schriftentwicklung im 15.-18. Jh. verleugnet. Da die Edition mittelalterlicher Handschriften nach sehr ähnlichen graphemischen Prinzipien wie beim modernen Isl. erfolgt, wird sehr wirkungsvoll eine Kontinuität von knapp 800 Jahren schriftbildlicher Unveränderlichkeit suggeriert. Eine Stellung zwischen dem Isl. und dem Norw. nimmt die sprachliche Situation auf den Färöern ein. Hier steht das Fär. in einer besonderen Spannung zum Dän. Während auf Island für eine kürzere Zeit und nur in bestimmten Sozialgruppen (vornehmlich Verwaltung und Handel) ein vom Dän. stark beeinflußtes Isl. anzunehmen ist, konnte sich in Norwegen aus dem norw. gefärbten Dän. eine selbständige Sprache, das norw. Bokmâl, entwickeln und sogar zum Symbol nationaler Eigenständigkeit aufsteigen. Auf den Färöern ist die Entwicklung des dort verwendeten Dän. bei einer fär. beeinflußten Varietät stehengeblieben. Dieses typisch fär. Dän. wird allgemein relativ gut beherrscht. Als Mitte des 19. Jh. eine fär. Orthographie in Kopenhagen geschaffen und etwa 50 Jahre später auf den Färöern selbst eingeführt wurde, war somit keine ernsthafte Konkurrenz von einem fär. gefärbten Dän. zu befürchten (man vergleiche die Situation in Norwegen, wo sich

7 Nyn. und Bokm. gegenüberstehen). Die moderne fär. Orthographie wurde vor allem durch Vencelaus Ulricus Hammershaimb (1819-1909) eingeführt. Jedoch kann Hammershaimb nicht als ihr eigentlicher Urheber gelten. Das Verdienst, die moderne fär. Schrift geschaffen zu haben, gebührt vielmehr dem Isländer Jon Sigurösson (1811-1879). Auf Anregung des Dänen Carl Christian Rafn 1 (1795-1864) und unter großem Einfluß des dän. Philologen Niels Matthias Petersen (1791-1862) ersetzte Sigurösson die lautnahe Orthographie eines fär. Textstückes durch eine etymologisch-transformationelle. Hammershaimb, der bis dahin hauptsächlich Versuche mit phonetisch ausgerichteten Orthographien angestellt hatte, ließ sich bald zu dieser neuen Schreibweise bekehren. Wie im Isl. bildet das fär. Schriftbild den awestnord. Lautstand ziemlich gut ab. Dies bedeutet auch, daß die Orthographie mundartenüberdachend funktioniert: Ausgehend vom gleichen Schriftbild hat jede Mundart ihre eigenen Ausspracheregeln (die natürlich viele Gemeinsamkeiten aufweisen). Da die far. Orthographie an sich keine Mundart als Standard- oder Hochsprache bevorzugt, sind die mundartlichen Aussprachevarianten rein theoretisch gleichberechtigt. Eine mundartenüberdachende Orthographie garantiert jedoch keine soziolinguistische Gleichwertigkeit. Vor allem die extremen Aussprachevarianten der dünnerbesiedelten Randgebiete besitzen ein geringes Ansehen, während die dominierende Mundart von Tórshavn an Prestige gewinnt. Dies geht sowohl auf die größere Mobilität der Menschen als auch auf das 1952 eingeführte fär. Radio (Útvarp F0roya) zurück. Hier bildet sich allmählich eine hochsprachliche Variante des Fär. heraus. Schließlich sind die nordischen Mundarten, die auf den Orkney- und den Shetlandinseln bis ins 17. bzw. 18. Jh. gesprochen wurden, zu erwähnen (vgl. Barnes 1998). Dieses sogenannte Nom bildete einen eigenständigen südwestnord. Dialektraum. Wie bedeutsam der Sprachnationalismus und eine normierte Schriftlichkeit sein können, zeigt sich bei Sprachen, die - um einen anthropomorphisierenden Ausdruck der Romantik zu verwenden - vom "Aussterben" bedroht sind. Hier ist ein Vergleich des Norn mit dem Fär. aufschlußreich. Während die Einführung der fär. Orthographie im 19. Jh. wesentlich dazu beitrug, daß diese kleine Sprache nicht völlig durch das Dän. verdrängt wurde, setzte sich im 18. Jh. die engl. Schriftsprache gegen das unverschriftete Norn durch, ehe es zu einer Verschriftung und möglichen "Rettung" des Nom hätte kommen können. Hier kann man nur darüber spekulieren, was passiert wäre, wenn die Ideen der Romantik, des Historismus, des Skandinavismus und vor allem des Sprachnationalismus mit seiner ideologischen Kopplung von sprachlicher Identität und politischer Autonomie ein gutes Jahrhundert früher im südwestnord. Sprachraum gewirkt hätten. Die kulturelle, politische und wirtschaftliche Einbindung der Orkney- und der Shetlandinseln ging mit einem anderen Sprachenverständnis einher als bei den dän.-fär. Beziehungen im 19. Jh. In London, von wo aus ein sprachlich sehr heterogenes Reich regiert wurde, hätte man für eine nationalsprachliche Argumentation wenig Verständnis gehabt. Im Dänemark des 19. Jh. gehörte dagegen das nationalsprachliche Argument vor allem in bezug auf die preußisch-dänische Grenzziehung zur offiziellen Staatsideologie, was sich folglich auf die Diskussion der politischen und kulturellen Autonomie der Färöer auswirken mußte (vgl. Kap. 7.5).

1

Vgl. die Kurzbiographie von Borring 1864.

2. Grundlegende Terminologie

2.1. Graph, Allograph, Graphem

Um graphemische Verhältnisse unabhängig von phonologischen studieren zu können, liegt den Überlegungen dieser Arbeit ein autonomer Graphembegriff zugrunde (eine Übersicht über Graphemdefinitionen bietet Althaus 1980: 144-146). Es ist offensichtlich, daß (g) und (g) in einem anderen Sinn zwei unterschiedliche Buchstaben sind als beispielsweise (g) und (f). Dieser Umstand bildet den Ausgangspunkt für die folgende Graphemdefinition. Laut Konvention werden zunächst schriftliche Ausdrücke wie (g), (g), (f), (a), (a) Graphe genannt. Indem Graphe, deren Austausch in einem Wort mit keiner Bedeutungsveränderung korrespondieren, zu einer eigenen Gruppe zusammengeführt werden, findet eine Klassifikation statt. Da der Graphaustausch schwed. (gul) 'gelb' -* (gul) 'gelb' nie zu einer Bedeutungsveränderung führt, werden (g) und (g) der gleichen Graphgruppe zugeordnet. Zu dieser Gruppe gehören auch weitere Graphe wie (g) und (g). Eine solche Graphgruppe wird im folgenden Graphem genannt und mit Spitzklammern notiert: . Gehören zwei Graphe zum gleichen Graphem, nennt man sie Allographe. Der Einfachheit halber wird im folgenden die Schreibweise verkürzt, indem nur eines der Allographe als Repräsentant für die ganze Graphgruppe gesetzt wird; d.h. = . Die Graphe (g) und (f) gehören dagegen zu zwei verschiedenen Graphemen, weil deren Austausch mit einer Bedeutungsveränderung korrespondieren kann wie z.B. schwed. (gul) 'gelb' -» (ful) 'häßlich'. Selbst ein Graphaustausch führt jedoch nicht immer zu einer Bedeutungsveränderung; vgl. dt. benutzen/benatzen mit Mutter/Mütter. Auch wenn der Austausch eines Graphs zur Bildung eines Nonsens- oder Nichtwortes führt, wird dies als eine Bedeutungsveränderung bewertet. Deswegen kann aufgrund schwed. (gul) *(tul) geschlossen werden, daß (g) und (t) zwei verschiedenen Graphemen zuzuordnen sind (ein schwed. Wort *tul gibt es nicht). Diese Graphemdefinition bedeutet auch, daß zwei komplementär distribuierte Graphe nicht unbedingt dem gleichen Graphem zugeordnet werden. Ein solcher Fall ist mit den isl. Graphen Q>) und (ö) gegeben. Laut Kap. 7.4 sind sie komplemementär distribuiert. Wenn man Q>) und (ö) in isl. 0>iö) 'ihr' tauscht, läßt das normabweichende *(öip) nicht ohne weiteres auf die Bedeutung 'ihr' schließen. Vielmehr erhält man mit *(öip) ein Nonsenswort. Deswegen werden (p) und (ö) zwei verschiedenen Graphemen zugeordnet. Man beachte, daß dies unabhängig davon geschieht, daß

und weitgehend [Θ] bzw. [β], die Allophone eines Phonems sind, abbilden (für Details s. Kap. 7.4). Nach Kap. 7.4 sind auch isl. (ö) und (d) - anders als im Fär. - komplementär distribuiert. Da aber die ausdrucksverändernden Operationen in (dàô) 'Tat' -* *(0ád) zu einem Nonsenswort führen, sind (ö) und (d) keine Allographe des gleichen Graphems. Dies gilt auch für die entsprechenden Großbuchstaben (D) bzw. (D); vgl. (DÄD) -> *(DÁD). Damit wird deutlich, daß

9 zwei komplementär distribuierte Graphe nicht notwendigerweise zwei verschiedenen Graphemen zuzuordnen sind, selbst wenn der Ausdrucksunterschied - wie bei (D) und (D) - minimal ist. Majuskeln werden in den nord. Sprachen im wesentlichen am Satzanfang und bei Eigennamen wortinitial benutzt, während Minuskeln in diesen Positionen so gut wie nie auftreten (es sei denn, statt Minuskeln werden durchgehend Majuskeln verwendet). Damit sind (a, b, c, ...) und (A, B, C, ...) komplementär distribuiert. Eine normabweichende Schreibung wie schwed. *(diG) statt (dig) 'dich' korrespondiert aber mit keiner Bedeutungsveränderung. Obwohl sich (g) und (G) nicht weniger als (f>) und (ö) unterscheiden, sind sie dem gleichen Graphem = zuzuordnen. Hier stellt sich allerdings auch die Frage, ob aufgrund singulärer Oppositionen wie schwed. (ni - Ni, âsarna - Âsama, horn - Horn, boden - Boden) einzelne Majuskeln und Minuskeln Graphemstatus erhalten sollen. Die hier gewählte Graphemdefinition basiert nicht auf Ausdrucksoppositionen von Wörtern unterschiedlicher Bedeutung, sondern geht von ausdrucksverändernden Operationen, die mit Bedeutungsveränderungen korrespondieren, aus. In den meisten Fällen führen beide Methoden zum gleichen Ergebnis. Eine GTaphemdefinition, die auf ausdrucksverändemden Operationen beruht, hat aber einige Vorteile. Sie geht nämlich von Graphen aus, die sich rein syntagmatisch aus der Buchstabenfolge eines Wortes ermitteln lassen. Der gedruckte Text läßt dies problemlos zu, weil die Graphe stets durch Spatien getrennt sind (bei einer gebundenen Handschrift sind die Graphe immer in einen äquivalenten gedruckten Text überführbar). Eine Graphemdefinition dagegen, die mit minimalen Ausdrucksoppositionen arbeitet, berücksichtigt diese schriftspezifische Segmentalität nicht in gleichem Maße. Die Oppositionsbildung wird dabei nicht nur benutzt, um den graphemischen Status der Graphe zu bestimmen, sondern - und das unnötigerweise - auch, um die Graphe selbst als Segmente zu ermitteln. Dieser Unterschied der zwei Graphemdefinitionen zeigt sich am dt. Graph (q). Die Graphemdefinition vorliegender Arbeit ermittelt allein aufgrund der Spatien in (quer) das Graph (q) als ein schriftliches Segment. Durch ausdrucksverändernde Operationen, die eine andere bzw. keine Wortbedeutung implizieren, ist daraufhin festzustellen, daß (q) zu einem anderen Graphem gehört als (p), (d), (s) usw. Wird nämlich (q) in (quer) durch andere Graphe als die Allographe von ausgetauscht, verändert sich immer die Bedeutung: man bekommt ein Nichtwort wie z.B. (quer) -> *(buer). Eine Graphemdefinitionen, die im Gegensatz hierzu auf dem Prinzip der minimalen Ausdrucksopposition beruht, vermag nicht als Graphem zu ermitteln. Dies kommt daher, daß sich kein Minimalpaar findet, bei dem (q) als minimale ausdrucksunterscheidende Einheit festzustellen ist (allenfalls wäre an (Nichtstuer - quer) zu denken). Daraus folgt für die Graphfolge (qu) die Eigenschaft der Minimalität und somit auch die des Graphemstatus. Da eine solche Analyse das Spatium zwischen (q) und (u) nicht registriert, unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Graphemen wie und ; vgl. die Oppositionen (quer - der) und (quer - wer). Erst wenn man das Fremdwort (dual) bemühen würde, ließe sich aufgrund einer Oppositionsbildung mit kleingeschriebenem (qual) zwei minimal opponierende Graphe (d) und (q) ermitteln (alternativ könnte man (Qual) und (Dual) heranziehen). Allerdings hinge dann der bigraphemische Status des von der Existenz eines einzigen Fremdwortes ab. Vor der Entlehnung von (dual) wäre als ein Graphem, danach aber als zwei Grapheme zu verstehen. Im Dt. kommt hinzu, daß sich (ü) durch (ue) ersetzen läßt. Auch dann lassen sich Minimalpaare wie (für/fuer - quer) bilden, die den graphemischen Status von ergeben. Geht man aber von der grundsätzlich

10 syntagmatischen Segmentierbarkeit durch das Spatium aus, bleibt der graphemische Status von sowohl vom Vorhandensein eines (dual) als auch von den Besonderheiten der (schweizer-)dt. Umlautschreibung unabhängig. Die Methode der minimalen Ausdrucksopposition erweist sich aber nicht nur als ein überflüssiges Mittel der alphabetschriftlichen Segmentierung, das zu einem kontraintuitiven Graphemverständnis führt. Auch bewirkt diese Methode, daß ein Teil der Graphotaktik in das Grapheminventar gerät. Die Ursache hierfür ist letztlich wissenschaftshistorischer Art. Die Methode der minimalen Ausdrucksopposition wurde nämlich nicht entwickelt, um alphabetschriftliche Segmente zu ermitteln, sie kommt vielmehr aus der Phonologie. Aufgrund der artikulatorischen Kontinuität der Phonation läßt die phonetische Grundlage der Wörter keine syntagmatische Segmentierung unterhalb der Silbe zu, so daß hierfür eine Methode entwickelt werden mußte. Aus Sicht dieser phonologischen Tradition ist eine Oppositionsbildung wie schwed. ['guil - 'fad] 3 'gelb - häßlich' notwendig, um die beiden Phone [g] und [f] aus dem kontinuierlichen Phonationsstrom zu ermitteln. Diese Methode wurde dann direkt auf die Alphabetschrift übertragen, ohne die andersartigen Segmentierungsbedingungen zu berücksichtigen. Der Graphemstatus von dt. ist ein Kind dieses Systemzwangs. Das Segmentierungsverfahren mittels minimaler Ausdrucksoppositionen wirft weitere Probleme auf. So müßte die Opposition schwed. (hâr - här) 'Haar - hier' streng genommen die minimal ausdrucksunterscheidenden Einheiten (°) und (") ergeben. Anhand von schwed. (pil - bil) 'Pfeil Auto' führt eine konsequente Oppositionsbildung dazu, daß die Position der Hasta am Wortanfang minimal ausdrucksunterscheidend ist; alternativ steht das obere Stück der Hasta beim (b) dem unteren des (p) gegenüber. Da aber keine der graphemischen Analysemethoden, die mit "minimal" ausdrucksunterscheidenden Oppositionen arbeiten, solche tatsächlich minimal ausdrucksunterscheidenden Elemente ermittelt, darf man vermuten, daß der Minimalität meist unausgesprochene Grenzen gesetzt sind: Es werden nur solche Graphemgrenzen erlaubt, die mit den syntagmatisch ohnehin ermittelbaren Abgrenzungen der Graphe, d.h. mit den Spatien, zusammenfallen. Auch Satzzeichen können eine minimal ausdrucksunterscheidende Funktion einnehmen. Folgendes Brecht-Zitat geht letztlich auf die Bibel zurückgeht: Der Mensch denkt: Gott lenkt! (aus: Mutter Courage, Lied von der großen Kapitulation, 4. Akt) Der Mensch denkt, Gott lenkt! (Spruch basierend auf der Bibel, Spr. 16,9) Phonetisch gesehen korrespondiert diese Gegenüberstellung von (:) und (,) mit einem unterschiedlichen Intonationsmuster (entsprechend unter- bzw. nebenordnendem Satzbau). Derartiges dürfte zu den subtilsten Mitteln gehören, die Brecht im Sinne seines Verfremdungseffekts einsetzt.

Streng genommen steht die IPA-Notation [HI] für einen geschlossenen, gerundeten Mittelzungenvokal (etwa zwischen [y:] und [ui] wie z.B. in der finnlandschwed. Aussprache von hu s 'Haus'). Für den halbgeschlossenen Vorderzungenvokal in der standardschwed. Aussprache von hus gibt es wegen der ungewöhnlichen Lippenrundung kein passendes IPA-Zeichen. In der schwed. Forschungstradition wird deshalb [uc] aus dem sog. Mundartenalphabet verwendet. Da der Unterschied zwischen der finnlandschwed. und der standardschwed. Aussprache von in dieser Arbeit keine größere Rolle spielt, wird zur typographischen Erleichterung durchgehend [«:] verwendet.

11 2.2. Phonetische und phonologische Notation

Die Graphemdefinition dieser Arbeit geht von einer grundsätzlichen und unmittelbar vorhandenen Eigenschaft der Alphabetschrift aus: der konsekutiven Segmentalität der Graphe. Im Gegensatz zu schwed. (gul) ist der damit korrespondierende Phonationsstrom jedoch nicht syntagmatisch in drei eindeutige Segmente zerlegbar. Allein die artikulatorischen Bewegungen legen diese spätestens seit Menzerath/Lacerda (1935) bekannte Tatsache nahe. Der alphabetschriftlichen Struktur der phonetischen Transkription ['ga:l] wohnt somit eine Eigenschaft inne, die im phonetischen Korrelat zu (gul) nicht vorhanden ist: Aus der syntagmatischen Segmentalität der phonetischen Transkription [gad] = [g]+[«:]+[l] darf nicht direkt auf eine entsprechende Zerlegbarkeit des Phonationsstroms geschlossen werden. Der Weg vom Phonationsstrom zur eindimensionalen Phonfolge [g]+[w]+[l] kann nach der Methode der segmental-taxonomischen Phonologie vorgenommen werden (vgl. kritisch hierzu Kap. 9.1). Nach der Segmentierung werden die ermittelten Phone entsprechend ihrer kommunikativ-funktionalen Distribution Phonemen zugeordnet. So gehören z.B. schwed. [f] und [g] zu zwei verschiedenen Phonemen, weil sie in der Opposition schwed. ['feil - 'g«il] 'häßlich - gelb' minimal ausdrucksunterscheidend sind. Die Phoneme der taxonomischen Phonologie werden im folgenden mit Schrägstrichen /.../ notiert. So faßt die Schreibweise /[g],.../ die zum Phonem /g/ gehörenden Phone zusammen. Alternativ wird die Notation [g]e/g/ verwendet. Zwischen senkrechten Strichen I...I stehen dagegen die phonologischen Einheiten der klassischen segmental-generativen Phonologie, wie sie am prominentesten von Chomsky/Halle (! 1968/1991) vertreten wird. In dieser Theorie werden linear-segmentale Einheiten nicht ermittelt, sondern a priori angenommen. Transformationsregeln überführen diese zugrundeliegende Form in eine phonetische Repräsentation. Den taxonomischen und generativen Phonologien ist bei allen Unterschieden gemeinsam, daß sie analog zur Alphabetschriftstruktur mit linear-segmentalen Einheiten operieren. Diese Eigenschaft muß indes einer phonologischen Theorie keineswegs eigen sein. Die wissenschaftliche Entwicklung seit den 1970er Jahren zeigt auch, daß phonologische Strukturen, die sich von der Vorstellung linearer Segmentalität gelöst haben, vielfach lautliche Regularitäten adäquater erfassen können als linear-segmentale Theorien (hierzu ausführlicher in Kap. 9).

2.3. Iii-Korrespondenz zwischen GraphemikundPhonemik als Bezugssystem

Als Bezugssystem wird im folgenden von einer prototypischen l:l-Korrespondenz zwischen Graphemik und Phonemik auf (spät-)lat. Grundlage ausgegangen (so auch Werner 1994: 122). Dieses Grundprinzip zerfällt in drei Teilprinzipien (die in Konflikt miteinander geraten können; vgl. Kap. 4.1):

12 (i)

Syntagmatische l=l-GPKen. Prototypisch korrespondiert in jedem Wort ein Graphem mit einem Phonem; vgl. Kap. 4.1.1.

(ii)

Paradigmatische 1 ->l-GPKen. Prototypisch korrespondiert jedes Graphem im ganzen Wortschatz mit demselben Phonem; vgl. Kap. 4.1.2.

(iii) Paradigmatische l->l-PKGen. Prototypisch korrespondiert jedes Phonem im ganzen Wortschatz mit demselben Graphem; vgl. Kap. 4.1.3. Dieses Grundprinzip alphabetischer Verschriftung kommt in reinster Form nur selten vor. Einer konsequent durchgeführten 1:1-Korrespondenz stehen die finn, und die serbokroat. Schriftsprache am nächsten. Die nord. Sprachen weichen dagegen oft irregularisierend hiervon ab. Mit Blick auf andere orthographische Eigenschaften führt dies jedoch oft zu Regularisierungen. Dan. =['bç:ea - "badete] 'backen: Inf. - Prät.' zeigt, wie eine relativ große Abweichung von einer rein phonemisch ausgerichteten Verschriftung die invariante Schreibung des lexikalischen Moiphems ermöglicht. Ein anderes Beispiel bietet die schwed. Orthographiereform von 1906, bei der der Auslaut von ['gu:d - got:] 'gut: Sg.Utr. - Sg.Neutr.' entsprechend dem l:l-Prinzip verschriftet wurde: -> . Dies beeinträchtigt aber sowohl die graphemische Morphemkonstanz als auch die dän./schwed. Semikommunikation (vgl. dän. ). Der Ansatz mit einem prototypischen Bezugssystem, von dem konkrete Beispiele unterschiedlich stark abweichen, distanziert sich von traditionellen Kategorisierungen, bei denen das Vorhandensein eines bestimmten definitorischen Merkmals entscheidend ist. Die 1 ^-Korrespondenz als theoretischer Bezugspunkt ermöglicht es dagegen, graduelle Unterschiede im Sprachmaterial präzise zu erfassen. Das alte Problem mit "Übergangszonen", "Grenzbereichen", "Randgebieten" u. dgl. tritt bei einem prototypentheoretischen Ansatz nicht auf, da Gradualität als Beschreibungsentität von vornherein vorgesehen ist. Mit der Prototypentheorie steht ebenso die Lehre von unscharfen Mengen (sog. fuzzy sets) in enger Verbindung wie auch die wittgensteinsche Familienähnlichkeit. Zu all dem vgl. Quirk/Mulholland 1964; Goguen 1969; Vestergaard 1973; Beneä 1974; Rosch 1975; Werner 1975; Lehmann 1985; 1996; Heringer 1989; Rieger 1989; Taylor 1995; Heine et al. 1991; König/Kortmann 1991; Broschart 1992; Lindqvist 1994a bzw. Zadeh 1965; Wittgenstein 1984, Bd. I: PU §§ 66f.; Schulte 1989: 149-153; Hassenstein 1991 (sehr anschaulich); Bandemer/Gottwald 1993; Kruse/Gebhardt 1993. Mit dem prototypischen Grundprinzip alphabetischer Verschriftung soll keineswegs die Vorstellung von einer idealen Orthographie angedeutet werden. Es markiert lediglich einen Fixpunkt der Theoriebildung, an dem sich die einzelsprachlichen Orthographien messen und sprachvergleichende Überlegungen durchführen lassen.

2.4. Konzeptionell schriftliche Mündlichkeit und konzeptionell mündliche Schriftlichkeit

Eine schriftlich ausgearbeitete, aber mündlich vorgetragene Rede unterscheidet sich in der Regel auf allen sprachlichen Ebenen stark vom zwanglosen Erzählen in einer Gaststätte. Umgekehrt kann

13 aber auch ein schriftlicher Text sehr stark gesprochensprachliche Züge aufweisen wie z.B. ein Tagebucheintrag. Mündlichkeit und Schriftlichkeit lediglich nach der medialen Verschiedenheit (graphisch vs. phonisch) zu unterscheiden, unterschlägt einen wichtigen Aspekt der Kommunikation, nämlich das Spannungsfeld zwischen den Polen kommunikativer Nähe und Distanz. Mit kommunikativer Nähe soll aber keineswegs Einverständnis oder Vertrautheit eines intimen Gesprächs signalisiert werden; auch Streitgespräche zwischen zwei Fremden können zur Sprache der Nähe gehören. Ein Text der kommunikativen Distanz ist dagegen oft das Ergebnis einer Reihe von Korrekturen/Überarbeitungen (vgl. hierzu Gauger 1995: 119-122, 187f„ 242f.). Abb. 2/1 gibt das Modell von Koch/Oesterreicher (1985; 1994) wieder (vgl. auch Widmark 1987). Sprache der Distanz [konzeptionelle Schriftlichkeit]

[mediale Mündlichkeit]

offizielle Rede

Gesetzestext

Vorstellungsgespräch

Zeitungsinterview

Kneipengespräch

Sprechblase im Comic

[mediale Schriftlichkeit]

[konzeptionelle Mündlichkeit] Sprache der Nähe Abb. 2/1: "Sprache der Distanz" und "Sprache der Nähe". Dieses Modell wird sich vor allem in Kap. 4.5, das die Entstehung von normierter Standardaussprache und die Prozesse der schriftinduzierten Ausspracherestitution behandelt, als nützlich erweisen.

2.5. "Rache" und "tiefe" Schriftsysteme

2.5.1. "Tiefe" eines Schriftsystems Die Verschriftung einer Sprache kann auf verschiedenen lautlichen Analysen basieren. Beispielsweise läßt sich prinzipiell für jedes Phon ein eigenes Schriftzeichen verwenden. Eine Annäherung daran ist bereits mit der phonetischen IPA-Notation gegeben. Statt jedem Phon ein eigenes Schriftzeichen zuzuordnen, lassen sich den taxonomischen Phonemen als funktional-kommunikativ definierten Phongruppen Schriftzeichen zuordnen. Da z.B. [0:] und [œi] im gepflegten Standardschwed. nie minimal ausdrucksunterscheidend sind, sind

14 sie Allophone des gleichen Phonems ([0:] steht so gut wie nie und [œ:] nur vor [r]). Sowohl [0:] als auch [oe:] mit dem gleichen Graphem zu verschriften, führt daher zu keinem funktionalen Verlust. Im Gegenteil: Diese Verschriftung vermeidet redundante Differenzierungen und hält das Schriftzeicheninventar entsprechend gering; vgl. schwed. =['h0:k - 'hceir] 'Habicht hör-, Präs.Ind.'. Im Vergleich zu einer phonetisch basierten Verschriftung ist mit einer phonemisch basierten oft mehr Morphemkonstanz zu erreichen; vgl. schwed. mit ['d0: 'dœir] ->/'d0 - 'd0r/ 'sterben: Inf. - Präs.Ind.'. Eine taxonomische Analyse bewirkt jedoch nicht immer, daß der lexikalische Stamm in verschiedenen Wortformen invariant bleibt; vgl. schwed. ['Çaeira - 's^cur] ->/ v fjera - 'skar/ 'schneiden: Inf. - Prät.Ind.'. In diesem Fall weist die Schreibung mehr Morphemkonstanz auf als die phonemische Analyse Tijera - 'skar/. Neben der taxonomischen gibt es auch die generative Phonologie, die im wesentlichen von zwei Grundprinzipien ausgeht: Die zugrundeliegende Form soll erstens einen hohen Grad an phonologischer Invarianz des lexikalischen Stammes aufweisen. Die Transformationsregeln, die die zugrundeliegende Form in die phonetische Repräsentation überführen, sollen zweitens so generell wie möglich sein. Morpho-phonetische Alternanzen kommen demnach vor allem durch die Transformationsregeln zustande. In Kap. 4.1 wird gezeigt, daß man dem Anlaut von schwed. ["fjœira - 'sijarr] die Form Isk - skl zugrundelegen kann. Dadurch wird die phonetische Alternanz [fj - sé¡] ausschließlich durch Transformationsregeln erfaßt. Die Schreibung bildet diese phonologische Struktur ab. Die taxonomische und die generative Analyse sind nicht nur in sich verschieden, sondern stehen auch in einer andersartigen Relation zur Orthographie. Wenn im folgenden die Termini flach und tief benutzt werden, beziehen sie sich ausschließlich auf Verhältnisse, die von generativen Analysen ausgehen. Die graphemische Struktur bildet die zugrundeliegende Form nicht zwangsläufig ab. Auch unterschiedliche Transformationsstufen zwischen ihr und der phonetischen Repräsentation können verschilftet werden. Die verschriftete Tiefe kann sich daher von Wort zu Wort und sogar von Laut zu Laut innerhalb eines Wortes unterscheiden (hierzu Bierwisch 1972). Während schwed. in skära · skar mit Isk - skl strukturell übereinstimmt, ist der Auslaut von schwed. =['r0:d - *r0t:] 'rot: Sg.Utr. - Sg.Neutr.' entsprechend der phonetischen Repräsentation verschilftet. Entgegen einer zugrundeliegenden Form I'r0d - "r0dtl, die eine Verschriftung implizieren würde, wird die morpho-phonetische Altemanz [d -1:] mit , d.h. flach abgebildet. Damit sinkt auch der Grad an graphemischer Morphemkonstanz. Die Verschriftung hat es gegeben, doch wurde sie 1906 zugunsten der heutigen flachen Schreibung reformiert (hierzu Stähle 1970b: 21-27). Die generative Phonologie ist mit Problemen verbunden, die sich auch auf die orthographischen Untersuchungen auswirken: (i)

Es wäre zu überlegen, ob sich für ["r0:d - ^ t i ] nicht eine "flachere" Form I'r0d - tytil motivieren ließe. Folgende Beschränkung der Phonotaktik legt dies nahe: Eine phonologische Folge laßl ist nur dann in der zugrundeliegenden Form erlaubt, wenn sie in mindestens einem Kontext phonetisch als [aß] realisiert wird. Bei Tstera - 'skarl ist diese Bedingung erfüllt, da Iskl in ['sâair] als [s£|] realisiert wird (nach Isl ist Ikl unaspiriert, wofür die Notation [à] steht). Bei Idtl in l ^ d - "r0dtl ist dies dagegen nicht der Fall, da im Schwed. weder [dt] noch [dt] vorkommt. Mit I'r0d - *r0til hätte man ein leicht suppletives Wortpaar, was dem zweiten

15 Grundprinzip der generativen Phonologie nicht mehr so gut entspräche. Das Prinzip eines invarianten lexikalischen Stammes ist bei I"r0d - "r0citl konsequenter durchgeführt als bei I'r0d 'r0til. An diesem Beispiel wird deutlich, daß die Tiefe einer Verschriftung gewissermaßen davon abhängt, wie tief die zugrundeliegende Form überhaupt angesetzt wird; geht man von I'r0d - "r0til aus, zeigt die Verschriftung eine maximale Tiefe, während sie gemessen an l ^ d - 'r0dtl nicht maximal tief ist. Und geht man von der Analyse I'r0d - 'r0t:l aus, muß die vor 1906 verwendete Verschriftung als "übertief' gelten. (ii) Bislang wurde die graphemische und phonologische Ähnlichkeit bei morphologisch eng verwandten Wörtern wie z.B. schwed. röd/rött diskutiert. Es gibt aber auch Wortpaare, bei denen die synchrone Verwandtschaft weniger offensichtlich ist. Wenn das Prinzip eines phonologisch invarianten Stammes Transformationen wie ldtl->[t:] rechtfertigt, stellt sich die Frage, ob dies auch für lljl->[j] bei schwed. cljus - lyse>=['jtj:s -~ly:se] 'Kerze/Beleuchtung - Licht' gilt. Ist man der Meinung, daß die synchrone Verwandtschaft in diesem Fall nicht groß genug und ein zugrundeliegendes Ij - II für den Anlaut angemessener ist, ergibt sich das Problem, ab welchem semantischen Verwandtschaftsgrad zweier Wörter das Prinzip eines phonologisch invarianten Stammes eine so geringe Rolle spielt, daß ein transformationeller Mehraufwand wie bei lljl->[j] oder ldtl->[ti] nicht mehr zurechtfertigenist. Je nachdem welche Form zugrundegelegt wird, ist der Wortanfang bei entweder "übertief' oder eine 1:1-Verschriftung. (iii) Die unter Punkt (i) und (ii) behandelten Probleme werfen auch die Frage auf, ob nicht die Form llj - II und die Transformationsregel lljl->[j] schriftspezifisch sind und somit keine Gültigkeit für Analysen primärer Mündlichkeit besitzen. Die zugrundeliegende Form Ij - II wäre demnach nur bei schriftunabhängiger Analyse des Gesprochenen anzusetzen. Dies hieße letztlich, daß sich eine schriftinduzierte zugrundeliegende Form bei einer Orthographiereform verändern könnte (hierzu vgl. Kap. 9). (iv) Viele Arbeiten zur Orthographie stellen die Prinzipien der phonetischen, taxonomischphonemischen, generativ-phonologischen und historischen Schreibung in ein graduelles Verhältnis zueinander, das die orthographische Tiefe repräsentieren soll: phonetische Schreibung taxonomisch-phonemische Schreibung generativ-phonologische Schreibung historische Schreibung [orthographische Tiefe] Abb. 2/2: Orthographische Tiefe bei unterschiedlichen Verschriftungstypen. Dabei entsteht der falsche Eindruck, daß man bei der Ableitung der phonetischen aus der phonologischen Repräsentation immer einen Zustand entsprechend der taxonomischen Phonemanalyse passieren würde. Dies trifft in vielen Fällen zu, gilt jedoch nicht immer. Abb. 2/2 legt auch den falschen Schluß nahe, daß eine "übertiefe" Verschriftung immer historisch sein muß. Aschwed. röp/rött -> röd/rödt -* röd/rött zeigt, daß dies nicht allgemein gilt.

16 (ν)

Obwohl sich die zugrundeliegende Form der generativen Phonologie durch eine hochgradige Invarianz des lexikalischen Stammes auszeichnet, folgt daraus nicht, daß der Übergang von einer Verschriftung dieser Form zu einer historischen Schreibung immer die graphemische Morphemkonstanz steigert. Dies zeigt sich deutlich am stummen in schwed. chjälpa hjälpte>=[ v jelpa - 'jelpte] 'helfen: Inf. - Prät.Ind.'. Das ist hier nicht erforderlich, um eine invariante Wortstammschreibung zu gewähren. Bei diesem Beispiel rechtfertigen sich der Anlaut lhj-1 und die Transformationsregel lhjl->[j] lediglich durch das Schriftbild. Für eine schriftunabhängige generative Analyse der schwed. Lautstruktur darf dies nicht maßgebend sein. Adän. r0p/r0tt -> τφά/τφάΐ zeigt, daß eine auf graphemischer Analogie beruhende ahistorische Schreibung sogar mehr Morphemkonstanz bewirken kann, (vi) In einigen Fällen läßt sich die "Übertiefe" einer historischen Schreibung synchron durch das Prinzip der heterographen Schreibung homophoner Wörter motivieren. Dies ist bei schwed. =['ju:cJ, 'juxj, 'juay 'Erde, Horde, Gurt/gemacht' der Fall. Dieses Verfahren impliziert aber nicht immer eine historische Tiefe, wie dt. das und daß, die beide auf mhd. daç zurückgehen, oder schwed. och/ocksä 'und/auch' zeigen.

2.5.2. Phonologische und orthographische Tiefe Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, daß nicht nur zwischen phonologischer und orthographischer Tiefe zu unterscheiden ist, sondern auch, daß eine tiefe Verschriftung je nach Sprache unterschiedlich tief sein kann. Bei einer Sprache mit weder morpho-phonetischen Alternanzen noch komplementär distribuierten Allophonen fiele die zugrundeliegende Form mit der phonetischen Repräsentation zusammen, womit auch ein maximal tiefes Schriftsystem flach wäre. Dies macht deutlich, daß die Termini tief und flach einer Präzisierung bedürfen. Der transformationeile Abstand zwischen der zugrundeliegenden Form und der phonetischen Repräsentation wird im folgenden phonologische Tiefe genannt. Die orthographische Tiefe ist dagegen der transformationeile Abstand zwischen der Transformationsstufe, die mit der Schreibung strukturgleich ist, und der phonetischen Repräsentation. Die orthographische Tiefe kann demnach zwischen Null und der maximalen phonologischen Tiefe (die aber auch Null sein kann!) variieren; vgl. Abb. 2/3. Abb. 2/3 bedeutet nicht, daß die phonologische Tiefe stets größer ist als die orthographische. Geht man von auslautendem Id - t:l in schwed. god/godt (vor 1906) aus, ist die phonologische Tiefe - im Sinne des oben erwähnten zweiten Grundprinzips der generativen Phonologie - geringer als die orthographische. Es ist nun möglich, die relative orthographische Tiefe zu definieren. Mit ihr soll das Verhältnis zwischen orthographischer und phonologischer Tiefe in Form eines Quotienten erfaßt werden. Demnach liegt die relative orthographische Tiefe im Normalfall zwischen 0 und 100%. Nur wenn die orthographische Tiefe größer als die phonologische ist, ergibt sich eine relative orthographische Tiefe größer als 100%. Zu Fragen nach flacher und tiefer Verschriftung vgl. auch Eisenberg 1989: 20; Meisenburg 1992:49f.; 1996: 22-30; Sampson 1985: 43-45. Unter bestimmten Bedingungen stimmen die phonologischen Strukturen einer generativen Analyse mit denen einer taxonomischen überein. Dieser Sonderfall tritt dann ein, wenn sich sämtli-

17 che Transformationen, die die zugrundeliegende Form in die phonetische Repräsentation überführen, restlos aus der allophonischen Distribution einer segmental-taxonomischen Analyse ableiten lassen. Die Wahrscheinlichkeit dieses Umstandes nimmt mit der phonologischen Tiefe ab.

— phonetische Repräsentation

tM υ Η υ χι u I» &

s

00

o o — graphematisch abgebildete Struktur β Rj Ii Η

zugrundeliegende Form der generativen Phonologie

Abb. 2/3: Phonologische und orthographische Tiefe.

υ J3 υ

'05

"ab "o e o •G

3. Die Grapheminventare der nordischen Sprachen

Bei den Untersuchungen zu den Graphemformen sind oft phonologische und morphologische Verhältnisse zu berücksichtigen (Kap. 4 bzw. 5). Einige Aspekte der Graphetik und Allographik lassen sich jedoch relativ selbständig behandeln. Für allgemeinere Darstellungen zu nordischer (Paläo-)graphie siehe vor allem Svensson 1974: 164, 169-171, 201, 243-249 und Br0ndumNielsen 1943, 1954, aber auch Jansson 1954; Skautrup 1968, Bd. I: 194-196; Haugen 1984: 85f„ 246-250; Braunmüller 1999: 26-28, 91f., 148-157, 193-196, 220-227, 271-276.

3.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen

3.1.1. Die Grapheme in skära und skcere Die Ausdruckseite des geschriebenen Wortes schwed. 'schneiden' besteht aus einer Folge von fünf verschiedenen Graphemen: , , , und . Bei handelt es sich um ein international ungewöhnliches Graphem; in Europa weisen es lediglich das Dt., Finn., Estn., Schwed. und Slowak. auf. Dieses Graphem ordnet sich indes gut in das lat. Alphabet ein, da es auf dem bereits vorhandenen Graphem basiert. Das Punktepaar taucht sonst nur bei auf, doch läßt es sich synchron auch als eine Reduplikation des -Punktes verstehen. Aus diachroner Sicht ist das aber anders zu betrachten, da seine Punkte nicht den gleichen Ursprung haben wie der -Punkt (vgl. unten). Der graphemische Ausdruck für 'schneiden' ist im Dän. und im Bokm. . Das Graphem kommt auch im Fär., Isl. und Nyn. vor - aus phonologischen Gründen jedoch nicht in den Wörtern für 'schneiden' (vgl. isl./fär. , nyn. ). Die Allographe dieses sehen teilweise anders aus als die von schwed. . Das Ligatur- läßt sich auf ein -Ke> zurückführen und besteht somit wie aus einem mit Zusatz. Einige Allographe des haben sich von der Formel + weiterentwickelt, wie am (s.) zu sehen ist. Hier erscheint der Querstrich des (e) leicht rotiert, was neben der reinen Graphverschmelzung (d.h. der Tilgung des Spatiums zwischen und ) eine weitere Distanzierung von der Graphemfolge bedeutet. Bei einigen handschriftlichen Allographen wie etwa(&) ist die Distanzierung von einem zugrundeliegenden Graph (CE) sogar derart weit gegangen, daß eine Zerlegung und Identifikation mit (α) und ( e) kaum mehr möglich ist (vgl. Abb. 3/1). Auch ist die Stiftführung beim (

> GL

Abb. 3/1: Wandel der Stiftführung bei der Entstehung von dän. (& ) . Da die Allographe von und < a e > denen von bzw. und sehr ähnlich sind, erneuern sie nur geringfügig das Grapheminventar. Isl. > ist hingegen gegenüber den lat. Graphemen wesentlich eigenständiger. Um die alphabetische Erneuerung graduell erfassen zu können, werden drei prototypische Graph(em)eigenschaften des internationalen lat. Alphabets festgelegt: (i, ii) Ein prototypisches Graph ist vertikal und horizontal kompakt. Die Erstreckung der Hasta von

und zeigt die maximale Ausdehnung nach unten bzw. nach oben, während cm, w> die maximale Ausdehnung in der horizontalen Richtung angibt. Die Ausdrucksseite der Graphe ist kontinuierlich wie z.B. (e). (Iii) Die Allographe eines prototypischen Graphems haben wenig Ähnlichkeit mit den Allographen anderer Grapheme (was vor allem für die Minuskeln gilt). Diese ausdrucksseitige Einmaligkeit garantiert eine maximale Diskriminierbarkeit. Ein prototypisches Graph wäre somit (s), das entsprechend der Kriterien (i, ii) ein vertikal und horizontal kompaktes Element ist, das die erforderte Kontinuität aufweist und schließlich nach (iii) wenig Ähnlichkeiten mit den Allographen anderer Grapheme als besitzt. Die Festlegung eines prototypischen Graphs soll aber keineswegs besagen, daß es vorteilhaft wäre, wenn alle Graphe die prototypischen Eigenschaften maximal erfüllten. Abweichungen können durchaus sinnvoll sein. Weil (s) die prototypischen Eigenschaften hochgradig erfüllt, steht es rechts auf den drei Ordinalskalen in Abb. 3/2. Diese Skalen drücken keine absoluten quantitativen Werte aus, sondern erfassen lediglich die Reihenfolge gradueller Unterschiede (deshalb können Ordinalskalen keine Zahlenskalen sein). Abb. 3/2 zeigt auch die graduellen Unterschiede zwischen (ae), (ä), (as) und (s). Erste Skala: Da (ä) und (s) in der Schreibrichtung gleich kompakt sind, erhalten sie den gleichen Platz auf der ersten Skala. Das Graph (®) tendiert hingegen zu Bigraphetik, ist somit wenig komprimiert und steht weiter nach links. Ganz links steht die Graphfolge (ae). Zweite Skala: In der vertikalen Dimension ergibt sich eine andere Reihenfolge. Hier sind (s), (EB) und (ae) gleich kompakt. Das Graph (ä) ist dagegen wegen der diskontinuierlichen (")-Punkte weniger kompakt. Dementsprechend wird (ä) weiter nach links eingeordnet.

20 Dritte Skala: Die graphische Einmaligkeit ist beim (s) am größten, da die Allographe anderer Grapheme als auch nicht annähernd ähnlich aussehen. Deswegen steht (s) ganz rechts auf der dritten Skala. Die graphische Einmaligkeit ist dagegen bei (ä) ganz gering; dieses Graph besteht aus einem (a) mit diskontinuierlich von ihm getrennten (')-Punkten. Die graphische Einmaligkeit ist bei (ae) größer als bei (ä), weil durch die Ligatur teilweise eine neue Einheit entstanden ist. Deswegen steht (ae) zwischen (ä) und (s) auf der dritten Skala. Da die Graphfolge (ae) aus zwei auch sonst vorhandenen Graphen besteht, befindet sie sich ganz links auf der dritten Skala. [Grad an horizontaler graphischer Kompression] [Grad an vertikaler graphischer Kompression] [Grad an graphischer Einmaligkeit] ^

Γ

(ae) (ä) (ae) ( s) Abb. 3/2: Abweichungen der Graphe (ae, ä, as, s) vom prototypischen Graph. Der Ursprung des Ligatur- ist schon im Lat. zu finden, wobei die Monophthongierung [ae > ae:] die Ligaturisierung (ae) > (ae) begünstigt haben dürfte (dt. Kaiser gehört somit zu den ältesten germ. Lehnwörtern; vgl. auch die später entlehnte Aussprache von Caesar mit Monophthong). Die Punkte des (ä) sind dagegen später aus einem über dem (a) gesetzten kleinen ( e ) entstanden. Im 16. Jh. wurde für den Druck das (a) und für die Handschrift das (ä) nach Schweden gebracht (erst später wurde (ä) auch im Druck verwendet). Die handschriftliche Entwicklung in Deutschland vom kleinen darübergeschriebenen ( * ) z u m O läßt sich nur nachvollziehen, wenn die Federführung bei der spätmittelalterlichen got. Schrift unter schreibökonomischen und ästhetischen Gesichtspunkten berücksichtigt wird. Abb. 3/3 deutet in Vergrößerung die Entstehung der ( ")-Punkte aus dem ( e ) an. Dabei muß ergänzend vermerkt werden, daß gerade bei der anfänglichen Auflösung und Reduktion des C) auch eine große Vielfalt an andersartigen Formen vorkommt.

Stufe 1

Stufe 2

Stufe 2*

Stufe 3

Stufe 4

Abb. 3/3: Entstehung der Q-Punkte aus dem ( e ). Sogar in Handschriften mit sonst relativ einheitlichen Graphformen finden sich auf ein und demselben Blatt mehrere, unterschiedlich reduzierte Formen des ( e ). Erst wenn sich die Punkte entsprechend der Stufe 4 etabliert haben, fällt diese Variation geringer aus; der in Wandel geratene

21 Teil der Allographik stabilisiert sich. In bezug auf die Federführung ist vor allem der Schritt von einer sehr großen Variation auf der Stufe 3 zur stabilen Stufe 4 entscheidend. Während die Stufe 3 noch als eine stark reduzierte Form eines ( ) gelten kann, handelt es sich bei der Stufe 4 um einen eindeutig neuen Duktus, dessen maximalem Ausprägungsgrad nicht mehr ein (**), sondern das Punktepaar zugrunde liegt. Dieses ist ab hier nicht mehr synchron als ein stark reduziertes ( e ) anzusehen. Indem eine neue graphische Maximalform entsteht, ist auch dieser Teil des Schriftwandelprozesses irreversibel abgeschlossen. Als expandierte Form der (")-Punkte (oder als direkter Nachfolger der Stufe 3) finden sich auch ( ' ) -Striche (vgl. Wessén (1970, Bd. I: § 31.10). Im Ungarischen werden diese sogar zwecks einer graphemischen Unterscheidung verwendet; vgl. die ungar. Minimalpaare 'Alter - Krankheit - Herz - Kreis' (ähnliches gilt für ungar. ). Das Modell in Abb. 3/2 soll nun ergänzt werden, um die Überlegungen zu Abb. 3/3 zu präzisieren. Der Schriftwandel ist kaum adäquat zu erfassen, wenn lediglich die materiellen Veränderungen der Graphe beachtet werden. Wie groß die synchrone Reduktion eines graphischen Zeichens ist, läßt sich nur mit Blick auf die vom Schreiber intendierte Maximalform entscheiden. Bei der Stufe 1 in Abb. 3/3 ist offenbar, daß ein mental beabsichtigtes (*) auf dem Papier auch als solches realisiert wird. 1 Ebenso eindeutig ist die Situation auf der Stufe 4; diese (")-Punkte sind g keineswegs als eine kräftige synchrone Reduktion eines intendierten ( ), sondern als (")-Punkte gedacht. Dennoch ist es denkbar, daß diese Punkte für den Schreiber noch symbolisch als Abkürzung für das C) stehen. Bei einem Schreiber, der entsprechend der Stufe 3 schreibt und kein Bewußtsein über Stufe 1 besitzt, ist daher der Schreibwandel in kognitiver Hinsicht weiter gegangen als bei einem Schreiber, der zwar entsprechend der Stufe 4 schreibt, jedoch noch ein Symbolbewußtsein entsprechend der Stufe 1 hat. Neben der materiellen Realisation, der mentalen Maximalform und dem Symbolbewußtsein kommt heute für den paläographisch Interessierten außerdem das sekundäre diachrone Wissen hinzu, daß die Punkte auf ein altes (") zurückgehen. Diese Präzisierungen machen deutlich, daß die Entstehung der ( ")-Punkte nur sehr unvollständig erfaßt wird, wenn lediglich die Schriftbilder beachtet und kognitive Repräsentationen bei den Schreibern außer acht gelassen werden. Der Schriftwandel ist somit vor dem Hintergrund mindestens der folgenden vier graphischen Repräsentationsformen zu begreifen: (i) die graphische Oberfläche (Papier oder ein anderes Schreibmaterial), auf dem das materielle Schriftbild erscheint (hier OF-Tiefe)·, (ii) die kognitiv intendierte Maximalform (hier: K-Tiefe), an der der Reduktionsgrad der graphischen Oberfläche zu messen ist; (iii) das Symbolbewußtsein (hier: S-Tiefe), wonach sich entscheiden läßt, ob die Maximalform der K-Tiefe lediglich für sich selbst steht oder auch einen Symbolwert hat; (iv) das diachrone Sekundärwissen (hier: D-Tiefe). Die vier Repräsentationsformen werden auf die drei Skalen in Abb. 3/2 bezogen. Je nachdem, ob man es mit der OF-, K- oder S-Tiefe zu tun hat, sind die Formen in Abb. 3/3 anders zu bewerten. Im folgenden steht eine gepunktete Linie (····) für die S-Tiefe, eine gestrichelte (—) für die K1

Zur Frage nach der kognitivistíschen Grundlage der Graphemformen vgl. insbesondere Brekle 1994a: 46-64; 1994b; 1998.

22 Tiefe und eine durchgezogene Linie ( ) für die OF-Tiefe. Die Zahlen in Abb. 3/4 entsprechen den Stufen in Abb. 3/3, die den graphischen Wandel von ( ) zu (") darstellt. Zunächst wird das erstmalige Auftreten von (a) wiedergegeben. Nicht nur rein materiell enthält die OF-Tiefe ein (a); auch die kognitive Maximalform in der K-Tiefe entspricht der Stufe 1 in Abb. 3/3. Ähnliches gilt für die S-Tiefe.

S Κ OF

3 4

..„••¿¿¿•^ •1 1 '• 1 : ι : ι •1 1 1

2

3

[Grad an horizontaler graphischer Kompression]

[Grad an vertikaler graphischer Kompression]

4 [Grad an graphischer Einmaligkeit]

2

3

^

4

OF = graphische Oberfläche, Κ = kognitive Maximalform, S = Symbolbewußtsein Abb. 3/4: OF-, K- und S-Tiefe bei der Entstehung von (1). Abb. 3/5 zeigt zum Vergleich die entsprechenden Repräsentationen vom heutigen (ä).

D S Κ OF

^ ^ ^^^^^^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ 1

2

3

^

..¿¡r .-¿S ..yfjr

[Grad an horizontaler graphischer Kompression]

3

4

[Grad an vertikaler graphischer Kompression]

4¡ [Grad an graphischer Einmaligkeit]

1

2

3

4

^ ^

Abb. 3/5: OF-, K-, S- und D-Tiefe bei heutigem (ä). Abb. 3/4 und 3/5 sind sich insofern ähnlich, als in beiden Fällen die drei Linien der OF-, K-, und S-Tiefe parallel verlaufen, d.h. ( a ) 0 F = (a) K = (a) s bzw. (ä) O F = (ä) K = (ä) s . Einige repräsentative Übergangsstufen zwischen dem Anfangs- und dem Endstadium dieses graphischen Wandels bedürfen einer ausführlichen Erörterung. Am Anfang der Entwicklung wird die graphische Oberfläche unvollständiger ausgeführt (etwa entsprechend der Stufen 1 und 2 in Abb. 3/3). Abb. 3/6

23 zeigt, wie die Schriftform beim Übergang von Stufe 2 zu 3 einmaliger wie auch vertikal komprimierter erscheint. Dabei muß sich aber noch nichts in der K- und S-Stufe verändert haben.

S Κ OF .

„ —

: !l •1 : ι : ι •1 :1 1

:

.

-

^

i 3 4

[Grad an horizontaler graphischer Kompression]

[Grad an vertikaler graphischer Kompression]

4

-

[Grad an graphischer Einmaligkeit] 2

3

4

^ ^

Abb. 3/6: Übergang von Stufe 2 zu 3 in der OF-Tiefe bei der Entstehung von (ä) aus (1). Der Übergang von Stufe 2 zu 3 in der OF-Tiefe ist selbstverständlich nicht sprunghaft. Der Wandel zeigt sich, indem sich die Häufigkeit der graphischen Varianten verändert. Spätestens bei einem Ausprägungsgrad entsprechend der Stufe 4 in Abb. 3/3 ist mit einer neuen Maximalform (")κί η der K-Tiefe zu rechnen. Sollte in der OF-Tiefe eine Schreibform entsprechend der dritten Stufe auftreten, ist diese somit nicht mehr als ein ( ) mit extrem geringem Ausprägungsgrad, sondern lediglich als nicht besonders sorgfältig gezeichnete Punkte zu interpretieren. Demnach sind graphische Oberflächen entsprechend der Stufen 1 bis 2 nicht als Realisationen von (")K denkbar. Schreibungen entsprechend der Stufe 3 lassen aber keine eindeutige Aussage über die ICTiefe zu: Sowohl ( e ) K als auch (")K können zur gleichen graphischen Oberfläche (Stufe 3) führen. Abb. 3/7 zeigt die Situation kurz nachdem die K-Tiefe entsprechend dem neuen Allograph (") nachgerückt ist; die S-Tiefe bleibt konstant.

S Κ OF

\ 4

:

1

2

2

[Grad an vertikaler graphischer Kompression]

3 !

1

[Grad an horizontaler graphischer Kompression]

3

[Grad an graphischer Einmaligkeit]

Ί 4

Abb. 3/7: Übergang von Stufe 3 zu 4 in der K-Tiefe bei der Entstehung von (ä) aus (I).

24 Da Stufe 1 nunmehr weder in der OF- noch in der K-Tiefe repräsentiert ist, geht als nächstes das Bewußtsein darüber verloren, daß (") die graphische Form ( e ) symbolisiert: In der S-Tiefe wird ( e ) s durch O s ersetzt. Dies muß aber nicht unmittelbar, nachdem das Allograph Ô k ™ der K-Tiefe durch (")k ersetzt wird, geschehen. Nachdem aber ( e ) auch aus der K-Tiefe ausgeschieden ist, dürfte sich ( e ) s in der S-Tiefe nicht besonders lange gehalten haben. Weder in der graphischen Oberfläche noch als kognitive Maximalform findet sich ein ( e ) entsprechend der Stufe 1. Die gepunktete Linie der S-Tiefe rückt dann nach rechts nach und schließt sich sprunghaft der K-Tiefe an. Damit ist die Entstehung der heutigen Form ( ä ) 0 F / K / s mit seinen (") 0F/K/S -Punkten abgeschlossen und der Zustand in Abb. 3/5 erreicht. Folgende generelle Prinzipien des graphischen Schreibwandels lassen sich feststellen: (i)

In der OF-Tiefe entsteht sehr leicht eine allographische Variation, die erst allmählich die KTiefe verändern kann. Die S-Tiefe bleibt dagegen lange sehr konservativ und wandelt sich erst, nachdem sich die K-Tiefe verändert hat.

(ii)

In der OF-Tiefe verläuft der Wandel meist schrittweise, während er in der K-Tiefe abrupter ist. Die S-Tiefe verändert sich meist, indem sie sich einer bereits mehrmals gewandelten KTiefe anpaßt. Diese Sprünge sind somit sowohl größer als auch radikaler.

(iii) Das stabile Anfangs- und Endstadium des graphischen Wandels sind in diesem Modell durch parallele OF-, K- und S-Linien repräsentiert. Ein Schreibwandelprozeß beginnt mit der Auflösung dieser Parallelität und endet mit einer erneuten Parallelisierung. Graphische Stabilität geht mit dem Ausmaß an Parallelität der OF-, K- und S-Linien einher. Umgekehrt deutet eine mangelnde Parallelität der OF-, K- und S-Linien auf einen stattfindenden Wandel hin. Die Entstehung des Ligatur- läßt sich in ähnlicher Weise wie die des erfassen, wobei aber die Entwicklung nicht so weit gegangen ist wie beim . Ein Ligatur-(Ee) ist j a noch heute deutlich als eine leicht verschmolzene Graphfolge (a)+(e) zu erkennen. Lediglich das handschriftliche Allograph ( bedeutet also Abwesenheit von ). Demnach konnotiert die Menge {Dt., Estn., Finn, Slowak.}, die Menge {Dt., Estn., Finn, Schwed.} und â, -,ô> die Menge {Dt., Estn., Finn.}. Werden Vorkommensfrequenzen beachtet, läßt sich die Konnotationskraft noch erhöhen. Kombiniert man die hohe Frequenz von Majuskeln mit dem Vorkommen von , so erlaubt dies Rückschlüsse auf die eindeutige Menge {Dt.}. Heute genügt sogar alleine die hohe Gebrauchsfrequenz von Majuskeln, um die eindeutige Sprachmenge {Dt.} zu konnotieren. Bis 1948 war ein weiteres Kriterium wie z.B. notwendig, da für das Dän. die gemäßigte Kleinschreibung erst seit 1948 gilt. Allerdings war die Kleinschreibung von Substantiven keine außer2

Von seltenen Wörtern im Engl, (fcecal, hœmorrhoids, ...) und Frz. (cacai, gemeine Schriftbild prägen, wird Mer abgesehen.

...), die kaum das all-

26 ordentliche Neuerung für das Dan. Im ausgehenden 19. Jh. kam sie schon im Buchdruck vor (wie z.B. in Hammershaimb 1891). Auch niedrige Vorkommensfrequenzen können die Konnotationskraft erhöhen. So impliziert eine verhältnismäßig niedrige -Frequenz zusammen mit die Menge {Schwed.} ( würde {Estn., Finn.} konnotieren). Ebenso können Graphemfolgen Sprachen konnotieren. So kommt in allen nord. Sprachen, nicht aber in den meisten anderen europ. Sprachen vor. dagegen findet sich nur im Norw., sieht man von einigen wenigen dän. Eigennamen wie ab. Die Bedeutung der graphemischen Konnotationskraft erschöpft sich keineswegs in der bloßen Feststellung von Sprachenmengen; vielmehr findet dieser Umstand eine ideologische Umsetzung, wenn dem Schriftbild eine idenütätsstiftende Funktion zugesprochen wird; hierzu Kap. 7.

3.2. Nicht-internationale Grapheme der skandinavischen Sprachen

Die nord. Sprachen besitzen eine Reihe von Graphemen, die sonst in nur wenigen anderen Schriftsprachen vorhanden sind: . Die phonologische und die morphologische Motivation dieser zusätzlichen Zeichen werden in Kap. 4 und 5 behandelt; augenblicklich geht es hauptsächlich um ihre Form und einzelsprachliche Distribution: Ö/D

ΗΡ

Dän. Fär. Isl. Bokm., Nyn. Schwed.

+ +

+

x/JE

ä/Ä

0/0

+

+

+

+

+

ö/Ö

â/Â + (seit 1948 statt )

(+) +

+

+

+

+

+ (seit 1907 empfohlen, seit 1938 obligatorisch) +

Die Verwendung von als Mittel der graphemischen Differenzierung wurde von H0ysgaard 1733 für das Dän. vorgeschlagen und von Rasmus Rask 3 (1826: 188) wieder aufgegriffen (vgl. Skautrup 1968, Bd. ΙΠ: 14, 167f., 193). Damit ließen sich heterophone Homographien wie =['d0B' - 'dee'®] 'sterb-, Präs.Ind. - Tür1 vermeiden. Geht man von der auch anzutreffenden Aussprache f'd0'ç] 'sterb-, Präs.Ind.' aus, liegt sogar ein Minimalpaar vor, das die Opposition auch phonologisch rechtfertigen würde. Gleiches gilt für dän. =['f0'e - 'fce'e] '(wohl)beleibt - bevor'. Die Einführung von ins Dän. wurde bereits im 18. Jh. von H0ysgaard empfohlen (vgl. Hansen 1995; Skautrup 1968, Bd. ΙΠ: 14). Allerdings ist noch heute als fakultative Variante

3

Vgl. die Kurzbiographie von Rischel 1987.

27 erlaubt, vor allem bei Eigennamen wie Aalborg, Aage. Angeblich verkauft sich das Wasser Aalborg Akvavit besser mit als mit (vgl. Meilstrup 1996). Da im heutigen Fär. kaum vorkommt, lassen sich anhand der Opposition "fár. vs. isl. " die inselnord. Sprachen leicht auseinandergehalten. Auch hier fällt ein identitätsstiftendes Getränk aus dem orthographischen Rahmen: Föroya Bjór 'Färöer Bier'. Die nord. Sprachen weisen neben auch einige Grapheme auf, die zwar international gängig sind, jedoch nicht die gleiche Verbreitung wie etwa haben. So nimmt z.B. anders als im Dt. einen festen Platz in den Graphemin ventaren aller nordischen Sprachen ein. Folgende Reihe zeigt, daß sich die Frage nach der Abweichung vom internationalen Alphabet letztlich nur graduell beantworten läßt: .

3.2.1. Zu Die nicht-internationalen Grapheme der nord. Sprachen basieren in der Regel auf bereits im lat. Alphabet vorhandenem Material. Bei isl.

handelt es sich indes sowohl synchron als auch diachron um ein dem lat. Alphabet völlig fremdes Schriftzeichen, das aber nicht isl. Ursprungs ist.

war in Skandinavien als Rune schon vor der Adaption des lat. Alphabets bekannt. Als Ergänzung zu den lat. Buchstaben geht

auf die angelsächsische Schrifttradition zurück. Diese Besonderheit geriet erst zu isl. Exotik, als

im Engl, durch ersetzt wurde. Das Graphem nimmt, was den Unterschied zu den internationalen Graphemen angeht, eine Stellung zwischen und ist die Ähnlichkeit der rechten Hälfte des Ligatur< a e > mit offenbar. Bei < â > nimmt der (°)-Kringel eine Zwischenstellung ein, obwohl er einem von der Form her sehr ähnlich geblieben ist. Allein an der Größe des (°) kann diese unterschiedliche Einschätzung nicht liegen, da bei das C) eindeutig als ein kleines interpretiert wird. Daß man in eher als in eine Kombination von zwei vorhandenen Buchstaben sieht, liegt an dem unterschiedlich hohen Informationswert von C) und (°). Während sich ein (e) - auch dort, wo man normalerweise keine Buchstaben erwartet - relativ eindeutig als ein Allograph von identifizieren läßt, sieht die Situation bei (°) anders aus. Mit (°) liegt zwar die Form eines Allographs von vor, doch ist der Informationswert der -Form geringer als der von . Nur wenn ein in einer Abfolge von Buchstaben auftritt, wird es als Buchstabe erkannt. Jede Abweichung hiervon gefährdet diese Interpretation. Die kontextuellen Bedingungen für eine korrekte Interpretation der -Form sind derart empfindlich, daß die Verwendung von (°) als diakritischem Zeichen ausreicht, um seinen Buchstabencharakter in Frage zu stellen. Dabei

30 ist bemerkenswert, daß die Form des zu den stabilsten überhaupt in der über 3500jährigen Geschichte des Alphabets zählt. Der geringe Informationswert der -Form führt dazu, daß das im Gegensatz zu kaum bigraphen Charakter hat. Im Sinne von Kap. 3.1 bedeutet dies eine Veränderung in der graphischen S-Tiefe, der aber ein Wandel in der OF- und K-Tiefe nicht vorangegangen ist (vgl. Kap. 3.1). Der geringe Informationswert von dürfte auch dazu beigetragen haben, daß die relativ große Formgleichheit von und (°) beibehalten wurde. Gewöhnlich sind die Inventare der diakritischen Zeichen und der normalen Grapheme nämlich nicht formgleich - sie sind disjunkt - , was sowohl der Entstehung der ( )-Punkte als auch deren Übernahme in das Druckbild entspricht. Für das Schwed. kommt beim Wandel von (!) zu (ä) hinzu, daß sich (a) und (â) stark ähneln. Da der Unterschied zwischen (") und (°) viel größer ist als der zwischen (e) und (°), ermöglichen die (")-Punkte einen höheren Diskriminierbarkeitsgrad; vgl. char - hár> mit 'hier - Haar'. Aufgrund dieser Beispiele läßt sich eine vierdimensionale Typologie zum Verhältnis zwischen Graphen und diakritischen Zeichen erstellen. Je weiter nach rechts ein Eintrag in Abb. 3/10 steht, um so höher ist sein Diakritizitätsgrad. Die Einzelheiten werden unten näher erläutert. [Grad an graphischer Selbständigkeit] [Grad an Konnotationskraft "Zusatzzeichen"]

11 Γ 1 1 1

schwed. (°)

schwed. ( e )

iιΙ:; il

schwed. (") dt. (")

[Grad an Disjunktivität der Inventare "Grapheme und "Zusatzzeichen"] [Grad an graphischer Einmaligkeit] isl. O

Abb.: 3/10: Diakritizitätsgrad von dt. ("), schwed. (", e , °) und isl. (')· Abb. 3/10 macht deutlich, daß die graphische Einmaligkeit (vierte Skala) mit der Inventardisjunktivität (dritte Skala) positiv korreliert. Die erste Skala erfaßt den Selbständigkeitsgrad eines Zusatzzeichens; weil (°) im Schwed. nur mit dem einzigen Graphem kombiniert wird, ist die graphische Selbständigkeit bei (°) wesentlich geringer als bei isl. O , das über sechs Vokalgraphemen steht. Aus diesem Grund wird (°) kaum als diakritisches Zeichen, sondern als fester Bestandteil von aufgefaßt. Die (")-Punkte stehen hinsichtlich ihrer graphischen Selbständigkeit zwischen (°) und C). Da (") im Dt. bei auftreten, im Schwed. hingegen nur bei , sind dt. (") etwas selbständiger als schwed. ("). Abb. 3/10 zeigt nicht nur, daß das prototypische diakritische Zeichen ein Extrempunkt einer (mindestens) vierdimensionalen Gradualität darstellt, sondern auch, daß der Entstehung von (") aus (e) eine Verschiebung der durchgezogenen Linie

31 links in Abb. 3/10 zur gepunkteten Linie entspricht. Die Erhöhung des Diakritizitätsgrades wird Diakritisierung genannt. Wie bei (o) -> (ö) und frz. (oe) (oe) geht auch das durchgestrichene auf eine Kombination von und zurück. Seip (1954: 35, 54), Benediktsson (1972: 111) und Haugen (1984: 249) nehmen an, daß aus einer vollständig überlappenden Schreibung von und entstanden ist. Demnach besitzt anders als und von Anfang an eine starke horizontale und vertikale Kompression: (o)+(e) -> (e). Dieser Vorgang soll anhand des Modells von Kap. 3.1 erörtert werden. Mit (e)oF liegt eine neue Gestalt vor, die vor allem (o) OF sehr ähnlich ist. Hierbei wirkt jedoch der waagerechte Strich vom (e) 0 F auf die Wahrnehmung der (o) OF -Form ein. In der K- und S-Tiefe ist dagegen keine graphemische Einmaligkeit gegeben, da die Maximalform von (θ)κ/3 zunächst als "(e) auf (o)" erhalten ist; vgl. Abb. 3/11. [Grad an horizontaler S Κ OF graphischer Kompression] [Grad an vertikaler graphischer Kompression]

-

« »J

(e)auf(o)

/

^

[Grad an graphischer Einmaligkeit] ^

(β)

Abb. 3/11: Schreibung von (θ) als "(e) auf (o)". Indem (e) K nicht mehr als "(e) auf (o)", sondern als "(o) mit kleinem Querstrich" verstanden wird, ist eine entscheidende Veränderung eingetreten, die jedoch nicht notwendigerweise einen Wandel in der OF-Tiefe nach sich zieht. In der S-Tiefe gilt nach wie vor, daß (e) OF für "(e) auf (o)" steht; vgl. Ab. 3/12. [Grad an horizontaler S Κ OF graphischer Kompression] [Grad an vertikaler graphischer Kompression]

^ (e) auf (o)

- z r

[Grad an graphischer Einmaligkeit]

(e)

Abb. 3/12: Wandel von '(e) = (e) auf (o)" zu "(o) mit kleinem Querstrich" in der K-Tiefe. Wenn der Querstrich von (e) K nicht mehr als eine Teilmenge von (e) gilt, sondern lediglich als "Strich durch das (o)", ist eine wichtige Voraussetzung für den weiteren Wandel in der OF-Tiefe geschaffen: (e) K wird zunehmend in einer expandierten Form als ( -&)QF realisiert. Aus dem

32 gleichen Grund wird der Weg für eine Drehung des Querstrichs parallel zur Schriftneigung frei. Entsprechend dieser Entwicklung in der OF-Tiefe bildet sich allmählich auch in der K-Tiefe eine neue Maximalform (0)κ aus. Dieser Wandel beeinflußt aber nicht notwendigerweise die S-Tiefe. Es besteht immer noch die Möglichkeit, (0) als ein Symbol für "(e) auf (o)" aufzufassen, auch wenn kein Bewußtsein über den diachronen Zusammenhang mehr besteht, vgl. Abb. 3/13.

Κ OF

1

S

[Grad an horizontaler graphischer Kompression]

• :

[Grad an vertikaler graphischer Kompression]

ij II

//

// //

//

(e)auf(o)

[Grad an graphischer Einmaligkeit]

^

(0)

Abb. 3/13: Schreibung von (0) K als (0)Op bei erhaltener S-Tiefe "(0) = (e) auf (o)". Unter Einfluß der OF- und K-Tiefe wandelt sich als letztes in diesem Prozeß auch die S-Tiefe: Entsprechend dem heutigen Verständnis von (0) ist die S-Linie parallel zur K- und OF-Linie anzusetzen. Lediglich als diachrones Sekundärwissen wäre eine D-Linie auf dem alten Platz der alten S-Linie einzuzeichnen. Wie bereits bei der Entstehung von (ä) und (as) beobachtet, fängt der Wandel zunächst mit einer Auflockerung der Parallelität der OF-, K- und S-Linien an. Nachdem sich diese einzeln in mehreren Schritten nach rechts verschoben haben, schließt der Wandel mit einer erneuten Parallelisierung der Linien ab und garantiert somit wieder eine schriftbildliche Stabilität. Die Notwendigkeit, vor allem die K-Tiefe zur Grundlage für strukturalistische Überlegungen zu machen, wurde bereits bei der Opposition (a - ae) angesprochen. Während sich bei (o - ce) mehr oder weniger identische Überlegungen anstellen lassen, stehen sich bei dän. (stod - st0d) 'stand-, Prät.Ind. - Stoß' die beiden minimal ausdrucksunterscheidenden Opposition (Neil - / ) 0 F und (Null - /) K gegenüber; nur in der K-Tiefe ist (0) ist als (o)+(/) zu verstehen. Zusammenfassend ist festzustellen, daß aus (e, o, oe) mit ihren verschiedenen Anordnungen von (e) und (o) drei neue Graphe (0, ö, œ) mit erheblichen Formunterschieden entstanden sind. In den Handschriften finden sich weitere Bigraphe mit (e) und (o) wie etwa (eo). 5 Die Entstehung von (0, ö, ce) umfaßt demnach auch die Frage nach der Auswahl einer Variation, die vielfältiger war als das Endergebnis. Während der (e)-Teil einem starken Wandel unterworfen ist, hat sich die (o)-Form in (0, ö, ce) unversehrt erhalten. Das Isl. weist eine Besonderheit bei seinen "Umlaut"-Graphemen auf. Während isl. eine Reihe von Graphempaaren bildet, finden sich keine

5

Diese Ähnlichkeiten und Unterschiede der Graphe (o), (e) und (ö) hat Ernst Jandl (1985, Bd. I: 365) sehr schön in der visuellen Konstellation oeö thematisiert.

33

Entsprechungen zu und mit Akzent; d.h. * und * gibt es nicht. Dieser Umstand geht auf vier Lautveränderungen im Aisl. zurück: (1) aisi. œ (= φ < í-umgelautetes um. o) wurde entrundet und fiel mit aisl. χ (< i-umgelau tetes urn. ä) zusammen; (2) urn. ç (< i-umgelautetes urn. α) fiel mit aisl. e zusammen; (3) das seltene aisl. φ (< i-umgelautetes um. o) wurde im 13. Jh. entrundet und fiel mit e zusammen; (4) durch Palatalisierung von ç (< «-umgelautetes urn. a) entstand ein neues kurzes φ. Das Aisl. des 13. Jh. weist somit keine kurze Entsprechung zu langem χ und keine lange Entsprechung zu kurzem φ auf. Da die phonologische Struktur eben dieses Lautstands der etymologisierenden Graphemstruktur des modernen Isl. zugrunde liegt, wären im Neuisl. streng genommen die Grapheme * statt zu erwarten. Da aber * keinem gegenübersteht, kann man (trotz Länge bei aisl. a?) auf den Akzent ganz verzichten. Die Tatsache, daß kein langes φ im Aisl. des 13. Jh. vorhanden ist, erleichtert auch die neuzeitliche Einführung des (nicht mehr so dän. aussehenden) Graphems . Hätte es nach dem 13. Jh. auch ein Phonem φ gegeben, hätte man im Neuisl. zwischen und * unterscheiden müssen. Dabei würde jedoch die senkrechte Ausdehnung des * übermäßig groß sein. Während insgesamt nicht höher als Grapheme mit Überlänge sind, erstreckt sich * irregularisierend über diese Grenze hinaus; vgl. . Bei wird dieses Problem gelöst, indem das untere Ende des Akzents mit dem Punkt zusammenfällt; d.h. der -Punkt (ver-)schwindet in der graphischen Oberfläche. Ein entsprechendes Verfahren bei * = + befinden. Eine nicht irregularisierende Verwendung von im Neuisl. wird somit durch das frühe Fehlen eines langen φ im Aisl. nach 1400 ermöglicht. Entsprechendes gilt auch für neuisl. < a e > , das sich durch hypothetisches * ersetzten ließe. Zur Orthographie des isl. Vokalsystems vgl. auch Werner (1994: 136-142).

3.2.3. "Ligaturisierungen" mit geringer Auswirkung auf die Schreibung In der K- und S-Tiefe können Ligaturisierungen vorhanden sein, die aber keine Zusammenziehungen in der OF-Tiefe bewirken. Folgendes Beispiel aus dem Ndl. verdeutlicht dies: Obwohl bei ndl. =[ë'] keine Anzeichen einer Ligaturisierung in der OF-Tiefe erkennbar sind, weist folgende vertikale Schreibung von ndl. 'Eis' aus der Werbung auf eine Koppelung j>s in der S-Tiefe hin: Ij s Anhand der Verwendung von Majuskeln bei Eigennamen zeigt sich das gleiche Verhältnis auch in der horizontalen Schreibrichtung; in cIJsselmeer, IJmuiden, IJzei> wird das ganze Bigraphem groß geschrieben (dies gilt nicht für die Schreibung der anderen ndl. Diphthonge). Im Hand-

34 geschriebenen kommt die Koppelung j> s noch deutlicher zum Ausdruck, da hier ein ligaturisiertes (y) auch dann verwendet wird, wenn die Schrift ungebunden ist. Das Bigraphem taucht ebenso in nord. Handschriften auf. Hier dient es - wie auch im Ndl. vor der Diphthongierung [il > e'] - der Verschriftung eines langen [ii]. Wie im heutigen Ndl. finden sich auch im Nord. Ligaturisierungsansätze in der OF- und wohl auch in der K-Tiefe: Statt (ij) treten oft Allographe wie (9) auf. Eine zu große Ähnlichkeit mit (y), das auch mit Punkten als (ij) auftreten konnte, aber oft für einen anderen Lautwert als [ii] stand, dürfte dazu beigetragen haben, daß sich (ij) nicht durchgesetzt hat (vgl. Svensson 1974: 48, 78). In ndl. Telefonbüchern findet sich noch heute ein Reflex dieser Verwechslung von (y) =(9) und (ij) - * (y): Namen wie finden sich unter < Y > . So verfahren auch ältere Lexika (Reihenfolge: ), während in neueren zuerst alle Wörter mit , dann unter einem "neuen" Buchstaben die mit < Y > folgen (Reihenfolge: ). Moderne ndl. Wörterbücher ordnen streng alphabetisch zwischen und ein. Eine noch schwächere Koppelung als ndl. s findet sich im Dt. zwischen und , die sich nur bei der Worttrennung am Zeilenende zeigt. Dt. wird nach der Duden-Regelung von 1986 als 6 im Gegensatz zu getrennt (vgl. Duden-Rechtschreibung 1986: R 179). Die reformierten Schreibregeln sehen dagegen vor (Deutsche Rechtschreibung 1996: §108). Die Bindung des geht auf den Buchdruck des Frakturstils zurück, wo ( f ) und (t) - wohl wegen der häufigen Kookkurrenz - auf einem Block leicht ligaturisiert zusammen standen. Dieser drucktechnische Umstand hat dann aufgrund der autoritären Kraft gedruckter Texte auch die handschriftliche Praxis beeinflußt.

3.3. Ungenutzte internationale Grapheme: , , , , In den nord. Sprachen bleiben einige international oft verwendete Grapheme ungenutzt. Davon sind vor allem , , , und betroffen. Jedoch sind sie nicht in allen nord. Sprachen gleichermaßen unbekannt. Wie im Dt. ist auch im Schwed. und Isl. < x > ein allgemein verwendetes Graphem; vgl. schwed./isl. 'Axt'. Die anderen nord. Sprachen benutzen statt dessen die Graphemkombination ; vgl. fär./bokm. , dän. 'Axt'. Die Grapheme sind dem Dän. jedoch nicht ganz fremd, da sie in einigen Eigennamen und orthographisch nicht integrierten Fremdwörtern vorkommen, beispielsweise bzw. und kaum feststellbar ist. Die in Kap. 2.1 festgelegte Graphemdefinition bleibt davon aber unberührt. Im Schwed. wird < c > oft in Eigennamen und Fremdwörtern verwendet; vgl. schwed. . Es kommt auch in einem weiteren Zusammenhang regulär vor. Während in den anderen nord. Sprachen - wie die meisten anderen Konsonantengrapheme - auch 6

"Trenne nie , denn es tut ihm weh."

35 geminiert vorkommt (d.h. ), verfahrt das Schwed. im wesentlichen wie das Dt. und Engl, und verwendet statt dessen ; vgl. dt. Glocke, engl, clock, schwed. klocka mit dän./norw. klokke 'Uhr'. Das isl. Graphem wurde 1973 bei einer Reform durch ersetzt. Heute kommt nur in Eigennamen und Fremdwörtern vor. Insgesamt ist festzustellen, daß Grapheme unterschiedlich stark in die Orthographie integriert sein können. Folgende Reihe mit steigendem Integrationsgrad zeigt, daß eine binäre Trennung von "ungenutzten" und "genutzten" Graphemen nicht angemessen ist: isl. , isl. , dän. , schwed. , schwed. . Auch einzelne Grapheme können je nach Sprache unterschiedlich stark integriert sein. Während isl. nur in wenigen nicht-isl. Eigennamen wie z.B. vorkommt (aber isl. ; vgl. it. ), wird dieses Graphem auch in einigen norw. Lehnwörtern verwendet wie z.B. 'Cello'. Im Dän. steht dagegen nicht nur in vielen Lehnwörtern, sondern auch in einheimischen Eigennamen wie z.B cClausen, Christiansborg>. Noch integrierter ist das bereits erwähnte schwed. , das wegen in einheimischen Wörtern sehr frequent ist. Im Engl, und Frz. schließlich ist ein völlig normales Graphem, das in den meisten für Konsonantengrapheme typischen Positionen auftritt; vgl. engl. bzw. frz. . Folgende Sprachenreihe korrespondiert mit einem steigenden Integrationsgrad von : Isl., Norw., Dän., Schwed., Engl.

3.4. Intersprachliche Konnotationen

Das Aussehen einer Schrift kann eine bestimmte Sprache oder Gruppe von Sprachen konnotieren. Bedenkt man, daß es heute über 5000 lebende Sprachen gibt, hiervon aber nur knapp 700 verschriftet sind, bedeutet allein die Tatsache der Verschriftung eine sehr große Eingrenzung. Dies relativert sich etwas, wenn man in Betracht zieht, daß 60% der Weltbevölkerung mindestens eine verschriftete Sprache sprechen (Zahlen aus Haarmann 1990: 18f.). Die verschiedenen Alphabettypen können unterschiedliche Kulturkreise konnotieren. So konnotiert z.B. die arab. Schrift nicht die arab. Welt, sondern vielmehr die islamische. Demnach wird das Persische, eine ie. Sprache, mit arab. Buchstaben verschriftet, während umgekehrt das Maltesische, eine arab., hauptsächlich von christianisierten Arabern gesprochene Sprache, mit lat. Buchstaben geschrieben wird. Ähnlich wird die kyrillische Schrift mit der griechisch-orthodoxen Kirche und die hebräische mit der jüdischen Kultur gekoppelt. Schließlich steht das lat. Alphabet für den römisch-katholischen Kulturkreis einschließlich seiner späteren Ableger (Luthertum, Calvinismus usw.). Die Übernahme eines Alphabets ist somit auch engstens mit einem Perspektivenwechsel der kulturellen Zugehörigkeit verbunden. Als der tiirk. Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk (18811938) die islamische Türkei in einen laizistischen Staat umwandelte, war dies zwar mit keiner Bekehrung zum Christentum gekoppelt, jedoch mit einer Hinwendung zur westeuropäischen Kultur und Wirtschaft. Es ist offensichtlich, daß Atatürk die lat. Verschriftungsmethode nicht nur

36 aus rein innersprachlichen Gründen geeigneter fand als die arab. (zur schrifthistorischen Akkulturation des Türk. vgl. Scharlipp 1995).

3.4.1. Reform von zu im Dänischen und Norwegischen Allein die Übernahme eines einzigen neuen Buchstabens kann eine politische Umorientierung signalisieren. Das ist bei der norw. und dän. Adaption des schwed. statt der Fall. Als in Norwegen 1938 obligatorisch wurde (ab 1907 lediglich empfohlen), verringerte sich seine Konnotationskraft. Die bis dahin eindeutige Konnotation {Schwed.} wurde durch {Schwed., Norw.} ersetzt. Aus dän. Sicht wurde dadurch nicht nur weniger skandinavisch, sondern auch etwas weniger schwed. Dies erleichterte es den Dänen, dem norw. Beispiel zu folgen. Mit und der Abschaffung der Großschreibung von Substantiven fand 1948 in Dänemark eine Reform statt, die aber nicht nur eine Angleichung an die anderen festlandskand. Länder bedeutete, sondern ebenso zu einer gewissen "Entdeutschung" des Schriftbilds beitrug (vgl. Spang-Hanssen 1970: 44f.; Hansen 1995). Diese orthographische Umorientierung korreliert auch mit einigen Zügen der dän. Wirtschafts- und Verteidigungspolitik seit 1945. 1948/49 führten Dänemark, Schweden und Norwegen weit fortgeschrittene Verhandlungen zur Schaffung eines gemeinsamen Verteidigungsbundes. Die Verhandlungen scheiterten, da die schwed. Neutralitätspolitik mit dem norw. Wunsch nach einer starken Bindung an die Westalliierten nicht zu vereinbaren war. Unmittelbar danach trat Dänemark der NATO bei. Im Jahre 1968 ergriff Dänemark die Initiative zu einer intensiveren wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Skandinavien. Eine 'Nordische Wirtschaftsunion' (NORDEK = Nordisk Ekonomisk Union) ließ sich jedoch nicht realisieren, da Finnland den Vertrag nicht ratifizierte und infolgedessen auch Schweden nicht. Nur fünf Jahre später wurde Dänemark Mitglied der damaligen EG (nachdem der wichtige Handelspartner Großbritannien zugunsten der EG die Freihandelsorganisation EFTA verlassen hatte).7 Es wird gelegentlich behauptet, daß sich die Reform -> auch rein innersprachlich erklären läßt. Dabei wird angeführt, daß im Dän. und Norw. in der Regel nie zwei Vokalgrapheme nebeneinander stehen, außer wenn zwischen ihnen eine Silbengrenze verläuft. So gesehen war dän. =[oi] eine Ausnahme. Um diese zu beseitigen, ist aber kein erforderlich, wie man bereits Aasens (1850) Wörterbuch zur norw. Volkssprache entnehmen kann. Dort wird weder noch verwendet, sondern ein zusammengeschriebenes , d.h. (erst später entschied sich Aasen für das schwed. ; vgl. auch Beito 1970: 23). D a s < a » ist keineswegs eine Neuerung des 19. Jh.; bereits im gotischen Halbkursiv Anfang des 14. Jh. wird diese Zusammenschreibung benutzt, und sie kommt in gedruckter Form in der isl. Guöbrandsbiblia (1584) vor (vgl. Noreen 1923: § 33, Anm. 1; Seip 1954: 98, 142; Bandle 1956: § 17; Svensson 1974: 185-187). Ebensowenig ist « n > eine norw. oder isl. Besonderheit. Es wurde gelegentlich auch für das Dän. verwendet (wie z.B. in Rask 1811). Mit der Ligatur hätte man somit über

7

Mit Blick auf die Sprachenfrage in der EU-Verwaltung ist ein Vergleich mit der EFTA interessant. Dort wurde Engl, als einzige offizielle Sprache sogar nach Großbritanniens Austritt 1973 benutzt, obwohl die EFTA dann keine englischsprachigen Mitglieder mehr hatte.

37 ein Graphem verfügt, welches wie bereits monographemische Züge trägt. Dennoch entschloß man sich für .

3.4.2. Minimaler Komplexitätsgrad einer Konnotation Bereits das Vorkommen der Grapheme /p, xJÄi, ä/Ä, 0/0, ö/Ö, â/Â> verweist meist auf eine oder mehrere der nord. Sprachen (vgl. Kap. 3.1-3.2). Abb. 3/14 faßt einige der wichtigsten und einfachsten Konnotationsmöglichkeiten zusammen. [objektive Konnotationskraft] Eigenschaft der Graphie

[Anzahl Sprachen]

1 α

Ο»



κ—(κ)



, "skand."

viele {Isl.}

{Fär.}

{Schwed.} {Dän.}

{Inselnord.}

{Festlandnord. }

Abb. 3/15: Komplexitätsgrad der Konnotation einiger Sprachen und Sprachgruppen. Abb. 3/15 zeigt, daß der Komplexitätsgrad der beiden Konnotationen = {Isl.} und = {Fär.} gleich groß ist. Jedoch läßt sich das Isl. im Gegensatz zum Fär. durch

möglichst einfach konnotieren. Von Bedeutung ist somit der minimale Komplexitätsgrad, durch den eine eindeutige Konnotation einer Sprache oder Sprachengruppe gewährleistet ist. Wird weiteres sprachspezifisches Wissen über Phonologie, Graphotaktik, Grammatik und Lexik hinzugezogen, lassen sich neue Konnotationen erarbeiten. Z.B. finden sich mehrere eindeutige Konnotationen des Dän., bei denen man ohne das negative Kriterium der Graphem(folgen)abwesenheit auskommt: ", keine wortfinale Gemination" oder ", graphemisches Wort ". Die letzte Variante nutzt die Tatsache aus, daß das Äquivalent zu dän. af 'von' in allen nord. Sprachen, die auch ein besitzen, als verschriftet wird. Aus demselben Grund konnotiert ", graphemisches Wort " das Fär. und ", graphemisches Wort " das Isl. Die Fremdwortschreibung bietet eine weitere Möglichkeit, das Dän. gegenüber den beiden norw. Sprachen abzugrenzen. So konnotiert "graphemisches Wort " das Norw., während ", " eindeutig auf das Dän. verweist. All diese Kriterien setzen jedoch zunehmend größere Sprachkenntnisse voraus, was den konnotativen Komplexitätsgrad erhöht; ", " ist noch weiter oben als "" in Abb. 3/15 einzuordnen.

39 Das Dan. läßt sich vom Norw. durch die Distribution der Grapheme abgrenzen. Während im Norw. in den meisten Positionen vorkommen, stehen dän. (fast) nie nach einem Vokalgraphem; vgl. dän. mit norw. 'hoffen, süß. Dach' (zum phonologischen Hintergrund s. Werner 1981: 43-48). Es kann auch schwierig sein, zwischen Nyn. und Bokm. zu unterscheiden. Aufgrund der Flexion in Wörtern wie 'Lied, Lieder' läßt sich zwar eindeutig auf Nyn. schließen; jedoch ist dies nicht immer ein anwendbares Kriterium, da die Schreibung cvise, viser> nicht nur im Bokm., sondern als Alternative auch im Nyn. vorkommt. Die lexikalische Opposition bokm./nyn. 'nicht' ist dagegen ein relativ frequentes Kriterium, um die beiden norw. Sprachen zu unterscheiden.

4. Graphem-Phon(em)-Korrespondenzen

Dieses Kapitel ist den Beziehungen zwischen der graphemischen und der phonetischen/phonologischen Ausdrucksseite der Wörter gewidmet. Erst in Kap. 5 wird der semantische Einfluß auf die Schreibung behandelt. Kap. 4 bietet jedoch keinen zusammenfassenden Überblick über alle GPKSysteme der nord. Sprachen. Statt dessen wird die Komplexität auch einfachster GPKen detailliert untersucht, um grundlegende Erkenntnisse über das Funktionieren der Standardsprachen zu gewinnen. Damit soll eine Forschungslücke geschlossen werden. Es folgt eine Auswahl von Aussprachewörterbüchern und Darstellungen der GPKen: Dan.

: Werner 1981; Fix-Bonner 1986: 16-29; Basb0ll/Wagner 1988: 160-187; BeckerChristensen 1988; Meissner-Andresen 1988: 9-18; Brink et al. 1991; Hansen 1991. Schwed. : Wessén 1956; Allén 1967; Collinder 1971: 93-118; Hultman 1972; Teleman 1973; Hellberg 1974; Nauclér 1977; Törnqvist 1977; Garlén 1984; Moberg 1987. Bokm./Nyn. : Alnaes 1925; Popperwell 1963; Berulfsen 1969; Naes 1972: 86-98; Vanvik 1985; Bj0rnskau 1991. Fär. Isl.

: Lockwood 31977/1955: 6-25; Rischel 1961: ΧΙΠ-XXXVI; Lindberg/ Hylin 1984: 17; Snaedal 1992 (das Vokalsystem im Vergleich mit dem Isl.). : Jónsson 1959; Einarsson 1976: 1-31; Glendening 1978: XI-XVIII; Pétursson 1978a: 38-60; 1978b: 54-56; 1987: 25-41; Friöjönsson 1981; Kress 1982: 17-42; Jansson 1986: ΧΠ-XIV; Rögnvaldsson 1990: 82-93.

4.1. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen

Schwed. skära und seine Entsprechungen in den anderen nord. Sprachen liefern ein umfassendes Material, an dem sich verschiedene Aspekte der GPKen studieren lassen. Wie in Kap. 2.3 dargelegt, hat man grundsätzlich zwischen zwei Typen von GPKen zu unterscheiden. Zum einen gibt es die unmittelbaren syntagmatischen Korrespondenzen zwischen Graphemen und phonologischen Einheiten eines einzelnen Wortes, zum anderen gibt es die Korrespondenzstrukturen des ganzen orthographischen Systems. Dabei ergeben sich letztere aus einer Zusammenfassung der ersteren.

4.1.1. Syntagmatische Abweichungen von "1 Graphem = 1 Phonem" Das phonetische Korrelat zur Graphemfolge in schwed. 'schneiden' ist derart analysierbar, daß es sich mit der alphabetischen IPA-Notation als [ "fjaeira] verschriften läßt (hierzu vgl.

41 Kap. 9). Abb. 4/la unten zeigt die Korrespondenzen zwischen der Graphem- und der Phonfolge. Durch eine weitere Analyse lassen sich die Phone entsprechend ihrem funktional-kommunikativen Stellenwert Phonemen zuordnen (Abb. 4/lb). Die syntagmatischen Korrespondenzen zwischen Graphemen und Phon(em)en werden durch Doppellinien gekennzeichnet. • I I I [fj]

[*:]

[r]

[a]

Abb. 4/la: Graphem-PhonKorrespondenzen.

1 1 1 1 /ς/ Id Irl lai Abb. 4/lb: Graphem-PhonemKorrespondenzen.

Im laufenden Text wird die Doppellinie um 90 Grad gedreht, so daß die GPKen in Abb. 4/lb als =/Ç/, =ld, =/r/, =/a/ erscheinen. Die Aussprache von skära ist auch ausgehend von ableitbar. Dabei sind die GPKen Regeln unterworfen: , und werden regulär mit Id, Irl bzw. lai verbunden. Vor wird hingegen nicht wie sonst regulär mit /sk/, sondern mit /fj/ gekoppelt. In einem zweiten Schritt wird die phonotaktisch bedingte Distribution der Allophone berücksichtigt: Id vor kl ist gesenkt, und Id vor Einzelkonsonanz ist lang. Die so abgeleitete Phonfolge [fj]+[ae:]+[r]+[a] muß dann in einen spatio-temporalen Bewegungskomplex der Artikulatoren umgesetzt werden, damit es schließlich zum akustischen Signal kommt. Hiermit soll jedoch kein tatsächlicher Leseprozeß andeutet werden, sondern lediglich die prinzipielle Möglichkeit, die phonetische Notation und die Aussprache aus der Schreibung abzuleiten (womit noch nichts über die Art der kognitiven Bedeutungszuordnung von 'schneiden' an gesagt ist). Die Phonfolge läßt sich auch ableiten, indem mit IskeraJ verbunden wird. Bei den Korrespondenzen in =lskeral fallt auf, daß den Graphemen und - auch vor die phonologischen Einheiten Isl bzw. Ikl zugeordnet sind. Die Ableitung der Phonfolge muß somit neben tel [aei] auch die Transformation Iskl -> [fj] enthalten. Schließlich läßt sich die Aussprache über die Wortsemantik ermitteln, indem der Graphemfolge zuerst die Bedeutung 'schneiden' zugeordnet und anschließend die Aussprache abgeleitet wird. Dabei sind möglicherweise phonologische Strukturen wirksam, die nicht linear-segmental basiert sind. Dies berührt die Frage, wie bei Nonsens- und NichtWörtern die Aussprache abgeleitet wird. 1 Diese Überlegungen sollen nun auf das in Kap. 2.3 festgelegte prototypische Verschriftungsprinzip einer 1:1 -Korrespondenz zwischen Graphemik und Phonemik auf (spät- )lat. Grundlage bezogen werden. Auf syntagmatischer Ebene ist dies als eine Korrespondenz "1 Graphem = 1 Phonem" zu verstehen. Während =/e/, =/r/ und =/a/ diese erste Forderung erfüllen, weicht die 2=l-Korrespondenz =/fj/ hiervon ab. Außerdem stimmt das Graphem wegen seiner Punkte nur teilweise mit der zweiten Forderung "auf (spät-)lat. Grundlage" überein. Den Korrespondenzen =/fj/ und =/d enthalten somit zwei verschiedene Typen von Abweichungen/Irregularisierungen des Bezugssystem "l=l-GPKen auf (spät-)lat. Grundlage". 1

E n besonders schönes Beispiel solcher "Wörter" stellt die ursonate von Kurt Schwitters (1985: 394-422) dar.

42 Mit dem kommt es zu einer Irreguiarisierung des Parameters "auf (spät-)lat. Grundlage", was aber in bezug auf "l=l-GPKen" regularisierend wirkt. Andernfalls hätte man I d mit zwei bereits vorhandenen Graphemen verschriften müssen (vgl. mit =/e/). Bei =/fj/ fällt der Kompromiß hingegen anders aus. Die Korrespondenz =/Ç/ erfüllt zwar die Forderung "auf (spät-)lat. Grundlage", weicht aber vom l=l-Prinzip ab. Eine vollständige Übereinstimmung mit den beiden Parametern " l=l-GPKen" und "auf (spät-)lat. Grundlage" ist somit weder bei =/e/ noch bei =/fj/ gegeben. In beiden Fallen handelt es sich um Kompromißlösungen. Damit ist auch ein sehr allgemeines Verschriftungsprinzip exemplifiziert, das in den unterschiedlichsten Bereichen wirksam ist und die Organisation aller Schriftsysteme entscheidend mitbestimmt:

Das Universale Verschriftungsprinzip: Regularisierung in bezug auf einen orthographischen Parameter führt in vielen Fällen zur Irregularisierung in bezug auf einen anderen Parameter. Sämtliche Parameter lassen sich nur selten gleichzeitig regularisieren, weshalb eine optimale Orthographie nur als Kompromiß zwischen mehreren einander entgegengesetzten Parametern denkbar ist.

Ein orthographisches System ist daher als ein multidimensionales Parameterverhältnis zu verstehen, das möglichst vollständig betrachtet werden muß. Welche phonemischen Einheiten mit gekoppelt werden, hängt von der Graphotaktik ab. Ein Vergleich von schwed. =[vÇsa"a] mit =['s(|ua·] 'Schauer' und =['s£|u:] 'Schuh' macht deutlich, daß der Graphemfolge je nach Folgegraphem entweder /fj/ oder /sk/ zugeordnet wird. Diachron gesehen geht dies auf eine Palatalisierung zurück: /sk/ > /{]/ im Wortanlaut vor palatalem Vokal. Bei skära und sko hat diese Regel noch heute synchrone Geltung für die Orthographie. Da aber mit [HI] ein neuer palataler Vokal erst nach Abschluß der Palatalisierung entstanden ist, läßt sich die diachrone Regel "/fj/ vor palatalem Vokal" nur bedingt auf die heutige Synchronie übertragen. So steht =/sk/ vor =[ei], obwohl [uj] ein palataler Vokal ist (wobei /k/ in /sk/ zwar palatal realisiert, jedoch nicht weiter palatalisiert wird). Die Distributionsregel für /sk/ und /fj/ bei muß somit eine andere synchrone Formulierung erhalten: " in Hauptdrucksilbe wird vor mit /fj/ und sonst mit /sk/ verbunden (außer bei =/fj/)". Ausnahmen hiervon sind einige wenige Lehnwörter wie skiss und skeptisk, die mit [s§-] gesprochen werden (vgl. auch marskalk und människa mit =[J, fj] vor =[a]).

43 Der Wandel /sk/ > /fj/ vor palatalem Vokal ist charakterisiert durch eine syntagmatische Raffung einiger Merkmale, während andere getilgt werden: > /fj/ /s/ /k/J+palatal, +Vokal] > stimmlos Stimmton: stimmlos stimmlos > frikaüv Artikulationsart: fnkativ plosiv > dorso-präpalatal Artikulationsstelle: apiko-dental dorso-präpalatal Die phonologischen Merkmale von /fj/ finden sich somit bei den regulär durch und abgebildeten Phonemen /s/ bzw. Dd wieder. Dies impliziert folgende Verteilung der Merkmale von /fj/ auf die Grapheme und : ={stl., frikativ} und ={stl., dorso-präpalatal}. Das phonologisch Simultane in /fj/ läßt sich daher auch synchron auf das graphemisch Sukzessive in beziehen. Die Korrespondenzen =/sk/ und =/fj/ unterscheiden sich demnach nur durch das Fehlen von "apiko-dental, plosiv" in /fj/ und durch den Grad an Raffung der restlichen Merkmale. Während es sich bei =/fj/ um eine graphemische Expansion in der Leserichtung handelt, leisten dies die ( ")-Punkte in rechtwinklig zur Leserichtung. Die ( ")-Punkte korrespondieren jedoch nicht mit einem bestimmten Merkmal, sondern haben vielmehr die merkmalmodifizierende Funktion "palataler" (im Sinne von "mehr Palatalität"). Ein palatalisiertes /a/= ist nämlich ein /e/=. Das Dän. verschriftet led in =['s£|ere] 'schneiden' nicht mit , sondern mit . Wie im Schwed. läßt sich die phonologische Opposition der regulären GPKen =/ç: - ει/ als ein Unterschied in Palatalität auffassen: Ein noch palataleres Içd ist ein le.il (vgl. cmale -mœle>['mçÛ3 - 'meda] 'malen - sprechen'). Der (e)-Teil des ist somit - wie die schwed. (")Punkte - als ein graphemisches Element mit der merkmalmodifizierenden Funktion "palataler" zu interpretieren. Anders als in schwed. handelt es sich bei dän. um eine graphemische Sukzession. Dän. =/e¡/ unterscheidet sich auch von schwed. =/fj/, da die Sukzession bei kontinuierlich, sie bei hingegen diskontinuierlich ist. Diese Unterschiede zwischen =/sk/, =/fj/, =/eJ und =/e:/ lassen sich anhand eines zweidimensionalen Koordinatensystems verdeutlichen, das den Komprimierungsgrad der Verschriftung sowohl parallel als auch rechtwinklig zur Leserichtung erfaßt. Die Progressionen in Abb. 4/2 entsprechen den zwei ersten prototypischen Graph(em)eigenschaften in Kap. 3.1.1. Die GPK =/sk/ im Koordinatenursprung repräsentiert das Grundprinzip des l=l-Bezugsystems.

Á

[Abweichung von l=l-Korrespondenz im Syntagma: vertikale graphematische Expansion] =/e/

^/sk/

=/E'J

=/fj/

[Abweichung von l=l-Korrespondenz im Syntagma: horizontale graphematische Expansion]

Abb. 4/2: Abweichung vom 1=1-Prinzip durch horizontale und vertikale Expansion.

44 Isl. =['söjeara] 'schneiden' enthält sowohl bei =/söj/ als auch bei =/e/ einfache l=l-Korrespondenzen. Diese GPKen lassen sich alle dem Koordinatenursprung von Abb. 4/2 zuordnen (dies gilt jedoch nicht, wenn man /{|j/ biphonemisch wertet). Fär. =['Jeua] weist mit =/J7 und =/e/ eine Mischung der schwed. und isl. Verhältnisse auf. In bezug auf den Hauptdruckvokal sind nyn. und bokm. wie das isl. bzw. dän. Äquivalent zu behandeln. Bei norw. =/JV fällt die graphemische Expansion noch größer aus als in schwed. =/fy. Das Verhältnis zwischen Graphemen und phonologischen Einheiten läßt sich auch im Rahmen der generativen Phonologie erfassen (am prominentesten durch den Klassiker von Chomsky/Halle 1 1968/1991 vertreten). Für schwed. skära sieht eine traditionelle Analyse etwa folgendermaßen aus: zugrundeliegende Form I "skeral Palatalisierung "fjera Senkung des ΙεΙ vor Irl "fjaera Längung des ΙεΙ vor einfacher Konsonanz : "fjaesra phonetische Repräsentation [vfjae:ra] Die generative Analyse =l "skeral impliziert fünf l=l-Korrespondenzen und weicht somit vom 1=1-Prinzip nicht ab.

4.1.2. Abweichungen von "1 Graphem(folge)-> 1 Phonem im orthographischen System" Werden die syntagmatischen GPKen mehrerer Wörter ermittelt, zeigt sich, daß einige Grapheme und Graphemfolgen mit verschiedenen Phonemen korrespondieren. Dies bedeutet, daß auch bei lauter syntagmatischen l=l-Korrespondenzen das orthographische GPK-System vom generellen l:l-Prinzip (Kap. 2.3) abweichen kann. Die Überlegungen zu schwed. skära ergaben die syntagmatischen 1=1-Korrespondenzen =/e/ und =/a/. Eine Analyse weiterer Wörter zeigt, daß dem Graphem im Schwed. nur das Phonem lai zugeordnet wird (von Entlehnungen wie =['grejp-] 'Grapefruit' abgesehen). Bei ist die Situation allerdings anders. Weil im Standardschwed. [ε, e] > [e] zusammengefallen sind, überschneiden sich die Allophonbereiche von /ε/ und /e/; vgl. =['men: - 'men:] 'Männer - aber' und Abb. 4/3a. Da bei phonetischer Kürze kein synchroner Ausdrucksunterschied mehr besteht, lassen sich [e] und [ε] > [e] nicht mehr zwei verschiedenen Phonemen zuordnen. Das Phon [e] (< [ε]) ist vielmehr wie altes [e] dem Phonem lei zuzuweisen; vgl. Abb. 4/3b. Eine weitere Komplikation der Allophonik besteht darin, daß die heutigen Reflexe von altem Id und Id bei phonetischer Kürze vor IrJ zu [x] zusammengefallen sind; vgl. cvärka verka>=["vaerka - vVEerka] 'schmerzen - wirken' und Abb. 4/3a. Bei phonetischer Länge gilt dies jedoch nicht: =['beir - 'baear] 'betet - trägt'. Abb. 4/3c zeigt die neuen GPKen, nachdem [ε] > [e] und [e]r > [x] 1 eingetreten sind.

45

J_ [ε] > [e]

[e] > [e,Γ ®]

[s]r

[ει]



[e:]

[aei]r

/I /I

Abb. 4/3a: Ursprüngliche Allophonik von /ε/ und /e/.

[e]

[e]

[*] r

[œ]r

-mi [e]

[e:]

[ει]

[ε:]

[e:]

[*:]

[œ:]r

/I í

/i /i

r

Abb. 4/3b: Allophonik von Abb. 4/3c: Neue GPKen, /ε/ und /e/, nachdem [ε] > [e] nachdem [ε] > [e] und und [e]r > [as]r. [e]r > [ae]r.

Im Gegensatz zur Standardlautung sind auch [e:] und [ε:] in der Stockholmer Stadtsprache zu [e¡] zusammengefallen, wodurch eine ususregulierte Korrespondenz [ei]-»{, } entstanden ist (so werden z.B. tre 'drei' und trä 'Holz' gleichermaßen ['tre:] gesprochen). Seit neustem gibt es einen Trend in der gepflegten Stockholmer Stadtsprache, diese Irregularität zu beseitigen.2 Das geschieht jedoch nicht durch phonetische Imitation der standardsprachlichen Distribution von [e:] und [ει]. Statt dessen erfolgt die Restitution, indem die graphemische Opposition Φ auf die Aussprache übertragen wird. Bei dieser Restitution kommt es zu einer "überdeutlichen" phonetischen Differenzierung, indem nicht standardschwed. [ει], sondern ein offeneres und deutlich vom [ei] (und [ει]) abweichendes [œi] gesprochen wird. Mit der Restitution ist aber kein neues Phonem entstanden. Schon vor der Restitution besaß die Stockholmer Stadtsprache das Phon [se:], das bisher aber nur in der Position vor [r] stehen konnte (vgl. das Minimalpaar ber/bär oben). Außerdem fehlen weitgehend hyperkorrekte Formen mit [ae:] (wo die Standardlautung [e:] hat). Letzteres belegt, daß die Distribution von und bekannter ist als die der standardaussprachlichen Phone [e:] und [ει]. Diese Entwicklung bestätigt Wollins (1991: 43) grundsätzliche Feststellung, daß man heute in Schweden eine der schriftsprachlichen Struktur wesentlich angepaßtere Sprache benutzt als um die Jahrhundertwende. Die zwei GPKen =/e/ und =/eJ in Abb. 4/3c implizieren folgende l-»2-GPK: ->{/e/, [e]e/e/}. Während die 2=1-GPK =/fj/ auf der syntagmatischen Ebene vom prototypischen 1:1-Prinzip abweicht, tritt dies bei =/e/ und =/e/ erst auf der Ebene des orthographischen Systems ein. Die 1 -^-Korrespondenz ->{/eJ, [e]e/e/} ist jedoch nicht ususreguliert, sondern läßt sich anhand der Graphotaktik mit folgender Regel disambiguieren: "->[e] wird nur dann verwendet, wenn dem mindestens zwei zum Lexem gehörige Konsonantengrapheme folgen, wovon der erste nicht sein darf' 3 ; vgl. schwed. =['sek:] 'Sack' mit = ['vaea\, - vçaena] 'Wehr - Karre'. 2 3

Freundlicher Hinweis von Lena Molin, Svenska Spräknämnden Stockholm. Genau genommen müßte diese Regel folgendermaßen ergänzt werden: "—>[e] wird auch dann verwendet, wenn dem wortfinales folgt, das in einer zweisilbigen Wortform geminiert

46 Die Analyse in Abb. 4/3c hat den Vorteil, daß alle Allophone des Id geschlossener sind als die des lei. Allerdings wird damit der komplementären Distribution von [e] und [ae]r nicht Rechnung getragen; vgl. schwed. =[ "çscna - "çeha, "haene - 'feti] 'Karren Quelle, Herr - Fett'. Eine alternative Analyse, die diesen Umstand berücksichtigt, müßte demnach von den Phonemen /e/ = /[e:], [e], [ae]r/ bzw. leJ = /[ε:], [ae:]r/ ausgehen. Das ist aber nicht nur mit dem Schönheitsfehler behaftet, daß in bezug auf den Öffnungsgrad [ε:]e/ε/ zwischen [e]e/e/ und [ae]re/e/ liegt; ebenso werden dann [ac]r und [ae:]rzwei verschiedenen, aber komplementär distribuierten Phonemen zugeordnet. Die Vokale [as]r und [ae:]r sind aber genau wie z.B. [i] und [is] dem gleichen Phonem zuzuordnen; vgl. =[ v çxna - ~çae:ra] 'Karren - lieb-, PI.' mit =[vfinia - "fima] 'finden - fein-, PI.'). Hieraus wird ersichtlich, daß im Rahmen der taxonomischen Phonemtheorie keine Analyse der schwed. Phone [e:], [e], [ε:], [œ]r, und [œ:]r möglich ist, die die komplementäre Distribution von [e:] und [e], von [ae]r und [as:]r, von [e] und [ae]r sowie die von [ει] und [aex]r konsequent berücksichtigt. Zu diesem Problem vgl. Kap. 4.2. Da die generative Phonologie ihre zugrundeliegenden Einheiten nicht durch phonetische Ausdrucksoppositionen definiert, lassen sich Überlegungen zu verschiedenen zugrundeliegenden Formen anstellen: =ΓskεΓal =l'men:l =l'men:l

-» [vfjae:ra] ['men:] -> ['men:]

'schneiden' 'aber' 'Männer'

Die verschiedenen zugrundeliegenden Formen bei men und man sind ausschließlich morphologisch motiviert. Wird für [e] das lei nur dann angesetzt, wenn eine morpho-phonetische Alternanz [a - e] vorliegt (wie bei schwed. man/män 'Mann/Männer'), erhält man eine zugrundeliegende Form, die zu einem hohen Grad morphologisch determiniert ist. Die 1=1Korrespondenzen =lel und =lel ergeben daher zwei 1 -» 1 - Korrespondenzen im orthographischen System ->{ΙεΙ} und ->{lel}. Bei Wörtern wie schwed. =[ v çel:a, 'feü] 'Quelle, Fett' findet sich aber kein morphologisches Argument gegen eine einheitliche zugrundeliegende Form mit lei. Auch die generative Phonologie kann somit eine 2-^-Korrespondenz ->{lel, [e]e lei} bedingen. Es lassen sich wortinitiale Abweichungen von einer 1-»1-Korrespondenz im orthographischen System konstatieren. Die Gegenüberstellung von =/fj/ mit =/sk/ in schwed. =[ vfjae:ra - v sô«ira] 'schneiden - scheuern' führt zur 1-^-Korrespondenz -»{/sk/, /Ç/}. In bokm. =[ v Jaeie] 'schneiden' ist das eine redundante Markierung der Palatalisierung. Ähnlich wie vor könnte auch hier auf verzichtet werden; vgl. bokm. =[ v Ji:p3, "Je'sa, vJyrts, 7 0 ^ ] 'schiffen, Schlittschuh fahren, schieben, spaßen'. Bokm. in =[ v J«üa] 'decken' erfordert hingegen ein vor dem , da regulär die Aussprache ["sijaila] und somit die andere Bedeutung 'schief

wird" (vgl. =[Vem/ v venia - 'ven/"ven:er] 'schön (poet.) Utr./Pl., - Freund Sg./Pl.'). Vgl. analog dazu man/manar - man/män 'Mähne - Mann: Sg./Pl.'. Für die genauen generativen Regeln der schwed. Quantität vgl. Eliasson/Pelle 1973.

47 gucken' impliziert. Die systematische 1 -» 1 - Korrespondenz ->{/fj/} läßt sich somit nicht beseitigen.

4.1.3. Abweichungen von "1 Phonem-» 1 Graphem(folge) im orthographischen System" Die systematische Korrespondenz ->{/sk/, /fj/} wurde ausgehend von einer Graphemfolge und ihren phonologischen Korrelaten ermittelt. Geht man aber vom schwed. Phonem /f}/ aus, stellt man fest, daß es nicht nur mit korrespondiert, sondern mit nicht weniger als 22 verschiedenen Graphem(folg)en. Ein Vergleich mit drei anderen schwed. PGKen zeigt, daß hier stark von der prototypischen 1->1-PGK abgewichen wird: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , }; /j/-»{, , , , , }; /o/-K,}; /0/->{}. Auch wenn man die verschiedenen orthographisch nicht integrierten Fremdwortschreibungen unberücksichtigt läßt, liegen mit /fj/->{, , , , , } ungewöhnlich viele Schreibmöglichkeiten vor. Hierbei sind und am häufigsten. Ein Vergleich mit der l->2GPK ->{/e/, [e]e/e/} bestätigt eine grundsätzliche Tendenz, die für die meisten alphabetverschrifteten Sprachen gilt: Systematische GPKen weisen weniger Divergenz auf als PGKen. Mit anderen Worten: Ein(e) Graphem(kette) korrespondiert im allgemeinen mit weniger Phonemen als umgekehrt (vgl. hierzu Henderson/Chard 1980). Entsprechend selten sind l=2-GPKen wie schwed. =/ks/.

4.1.4. Orthographische Etymologizität Abweichungen vom orthographischen l:l-Prinzip lassen sich oft durch die Einführung neuer Grapheme vermeiden. Für das Phonem schwed. /f)/ bzw. fär./norw. /// könnte man sich ein neues Graphem wie etwa * vorstellen. Überlegungen zur hypothetischen Einführung eines solchen zusätzlichen Graphems sind von großem Wert. Nur dadurch läßt sich zeigen, inwiefern bestehende orthographische Verhältnisse mit all ihren "Mängeln" in dem Sinne optimal sind, daß das Universale Verschriftungsprinzip keine bessere Alternative zuläßt (hierzu vgl. Kap. 8). Die konsequente Umsetzung einer neuen GPK *=^fj/ würde sowohl syntagmatisch als auch systematisch zu einer vollständigen Regularisierung führen, aber auch das Schriftzeicheninventar um ein nicht-internationales Graphem vergrößern. Obwohl * zu eine gewisse Ähnlichkeit aufweist (die auch zur Opposition /fj - h/ relativ gut paßt), ließe sich * nicht auf einer engl, oder dt. Schreibmaschine tippen. Die Schreibung schwed. * würde außerdem die orthographische Etymologizität reduzieren, da nicht mehr sichtbar wäre, daß [Ç] in ["fjœira] und [ v fjeüa] 'stehlen' auf zwei verschiedene aschwed. Anlaute sk bzw. stj zurückgeht. Wie noch zu zeigen sein wird, verletzt * außerdem das Prinzip der Morphemkonstanzschreibung (Kap. 5.6) und beein-

48 trächtigt die intemord. Semikommunikation (Kap 6.4). Kulturpolitische Bedingungen, die eben diese Konsequenzen eines * befürworten, sind prinzipiell durchaus denkbar, zur Zeit jedoch kaum relevant (vgl. Kap. 7).

4.1.5. Stumme Grapheme Im Dän. wurde ['s^jere] 'schneiden' bis 1889 mit als verschriftet. Da [s{|] mit und [ε:] mit korrespondieren, steht ohne phonetisches Korrelat. Dieses Graphem, das stumm genannt wird, geht auf eine Palatalisierung [s£] > [s§j] zurück, die aber auf Seeland im 18. Jh. restituiert wurde. Seit der Reform von 1889 wird daher das heutige Dän. so verschriftet, als hätte es keine zwischenzeitliche Palatalisierungsphase gegeben. Lediglich in einigen Eigennamen findet sich noch heute die Schreibung mit stummem vor Vokalgraphemen, die einen palatalen Vokal abbilden, wie z.B. in =['âe-, 'ke-, s§ç]. Gelegentlich kommt auch die Aussprache ['φςε-] von vor. Vor allem Nichtträger des Namens Gjedde neigen zu einer Leseaussprache mit anlautendem ['Jje-]. Von der Entpalatalisierung verschonte "Sprachfossilien" liegen hier indes nicht vor. Vielmehr basiert die palatalisierte Leseaussprache auf Mißachtung einer seit 1889 nur noch sehr selten benötigten Regel: "nach gilt =0, wenn das darauffolgende Vokalgraphem einen palatalen Vokal abbildet". In der Regel werden als [¿j, kç, s^ç] realisiert, doch finden sich diese Graphemfolgen heute lediglich vor Vokalgraphemen, die nichtpalatale Vokale abbilden; vgl. ['s§juil3, s^uila] 'verdecken, boshaft blicken'. Die Leseaussprache geht daher auf eine Generalisierung der genannten Regel zurück. Während dieses Argument bei Personennamen weitgehend zutrifft, muß es bei Ortsnamen relativiert werden. Für =['sôço'n] - die Bezeichung eines Orts auf Jütland, etwa 60 km nördl. von Esbjerg - ist die lokale Aussprache ['s^çço'n] lautgesetzlich, d.h. sie wurde von keiner Entpalatalisierung erfaßt. Stumme Grapheme treten auch wortfinal auf wie in dän. =['söa'] 'schnitt-, Prät.Ind.'. Diachron gesehen handelt es sich hier ursprünglich um ein =[r], das sich über eine Uvularisierung zu einer Nullkorrespondenz =0 entwickelt hat. Noch heute kommt eine seltene Aussprache ['sôa'u] mit nicht-stummem in sehr gewähltem und stark schriftgebundenem Stil vor. Als Maximalform des modernen Standarddän. gilt ['s§a']. Für eine Phonemanalyse der dän. Standardsprache hat dies Konsequenzen, da [a] in ['s^a'] nicht mehr durch eine/r/-Umgebung positionsbedingt ist. Wortpaare wie ctage - tager>=['tf ' - 'ta'] 'nehmen: Inf. - Präs.Ind.' machen deutlich, daß [ç - α] aus synchroner Sicht eine minimal ausdrucksunterscheidende Opposition bildet, wonach [ç] und [α] zwei verschiedenen Phonemen angehören: lai * /ç/ (die Opposition =["ne' - 'na'] 'abnehmender Mond - Narr' zeigt außerdem, daß leJ ï lai Φ /ç/). Eine alternative Analyse, die von ['βφα'κ] ausgeht und [α] aufgrund der [if]-Umgebung dem gleichen Phonem /a/ zuordnet wie [ç], leistet zwar eine Analyse medialer Mündlichkeit, doch hängt diese stark von der korrespondierenden Graphemstruktur ab. Die Leseaussprache ['SÔO'B] entsteht nämlich dadurch, daß die Distribution von /r/ mit der von parallelisiert wird. Nur bei einer solchen schriftinduzierten Aussprache lassen sich [α] und [ç] als komplementär distribuiate Allophone analysieren. Überlegungen zu GPKen sind hier wenig sinn-

49 voll, da hinter dem "P" in der Bezeichnung "GPK" nicht mehr schriftunabhängige phonologische, sondern erst durch Leseaussprache übertragene graphemische Strukturen stehen. Die mit dem 1:1Prinzip konforme l=l-Korrespondenz ={/[a], [ç]/} ist somit tautologisch; sie verkörpert eine Gegenüberstellung graphemischer Strukturen mit sich selbst (hierzu vgl. Kap. 4.5.5). Aus der Perspektive der generativen Phonologie impliziert der [n]-Schwund keine neue phonologische Einheit. Es reicht, eine [»]-Tilgung als synchrone Transformationsregel einzuführen, die erst nach der Regel "lai [α] vor wortfinalem Irl" wirksam wird. Die l=l-Korrespondenz ={lal} ist daher nicht tautologisch. Im Schwed. liegt mit =['sôaa7-j] 'schneid-, Prät.Ind.' dagegen eine reguläre wortfinale l=l-Korrespondenz =/r/ vor. Nur bei Allegrosprechen und schriftungebundener Rede kann ein Schwund zur Homophonie mit ['s^cu] 'soll-, Präs.Ind.' führen. Eine solche Aussprache überschreitet aber die Grenze dessen, was unter standardprachlicher Artikulation zu verstehen ist und macht Überlegungen zu einem stummen Graphem < r > = 0 gegenstandslos. Erst wenn das Endprodukt der Schwächung [r > ι > 0 ] auch als schriftsprachliche Mündlichkeit akzeptiert wird, sind entsprechende Überlegungen relevant (vgl. Kap. 4.4 und 4.5.5).

4.2. Phonologischer Pluralismus

In der Skandinavistik hat Benediktsson (1963) auf folgenden allgemeingültigen Umstand aufmerksam gemacht: Zwei verschiedene phonologische Interpretationen des gleichen Sprachmaterials müssen nicht unbedingt auf die Verwendung zweier unterschiedlicher Theorien zurückgehen. Auch die wiederholte korrekte Verwendung genau der gleichen Analysemethode an genau dem gleichen Sprachmaterial führt gelegentlich zu unterschiedlichen phonologischen Interpretationen. Diese Analysevielfalt rührt von einer theorieinternen Unbestimmtheit her, die sich u.a. dann bemerkbar macht, wenn die Wörter des sprachlichen Materials in unterschiedlicher Reihenfolge herangezogen werden. Dieses Phänomen wird im folgenden phonologischer Pluralismus genannt (vgl. hierzu auch die Überlegungen zum phonemischen Stellenwert von schwed. [e:, e, ε:, aer, ae:r] in Kap. 4.1 samt Werner 1970: 63-73 und Householder 1971:194-215).

4.2.1. Die Graphem-Phonem-Korrespondenzen bei [x, h, (|, γ ] im Isländischen Ein phonologischer Pluralismus macht sich vor allem bei der Untersuchung von Sprachen mit einer komplizierten allophonischen Distribution bemerkbar. Im Isl. eignen sich die Phone [χ, h, ή, γ ] 4 sehr gut, die orthographischen Konsequenzen des phonologischen Pluralismus zu demonstrieren. Den folgenden Überlegungen liegt die Aussprache des Südlandes vor allem in Reykjavik

4

In der Nordistík wird für den velaren Frikatìv [γ] oft auch das Zeichen [q] benutzt, das aber in der IPA-Notation einem uvularen Plosiv vorbehalten ist.

50 zugrunde. Untersucht werden die verschiedenen Möglichkeiten, die Laute [x, h, ή, γ ] phonemisch zu bestimmen. Folgendes Mengendiagramm zeigt ihre Distribution:

Abb. 4/4: Distribution von isl. [x, h, ή, γ]. Da sich die beiden Mengen entsprechend [h] und [x] nur teilweise überschneiden, sind folgende phonotaktische Kontexte zu beachten: (1) wo [h], aber nicht [x] vorkommt, z.B. [h] im Anlaut, [x] nie im Anlaut; (2) wo [x], aber nicht [h] vorkommt, z.B. [x] vor [s], [h] nie vor [s]; (3) wo sowohl [x] als auch [h] vorkommen (die Schnittmenge), z.B. vor auslautendem [t] und vor inlautendem [d], [h] und [x] haben somit eine partiell äquivalente Distribution. Das gilt auch für das Phonpaar [h - £)]. Folgende drei phonotaktische Kontexte liegen vor: (4) wo [h], aber nicht tôl vorkommt, z.B. [h] vor [b], aber [{|] nie vor [b]; (5) wo tô], aber nicht [h] vorkommt, z.B. [ή] inlautend vor Vokal, [h] nie inlautend vor Vokal; (6) wo sowohl [ή] als auch [h] vorkommen (die Schnittmenge), z.B. im Anlaut vor Vokal. Wie [h - x] und [h - Ò] weisen auch [0] und [γ] eine partiell äquivalente Distribution auf. Folgende drei phonotaktische Kontexte liegen vor: (7) wo [ή], aber nicht [γ] vorkommt, z.B. anlautend und nach [s]; (8) wo [γ], aber nicht [ή] vorkommt, z.B. vor [β]; (9) wo sowohl [fl] als auch [γ] vorkommen (die Schnittmenge), z.B. intervokalisch. Weiterhin sind folgende Phone paarweise komplementär distribuiert (die entsprechenden Mengen in Abb. 4/4 überschneiden sich nicht): (a) [h - γ]: [h] kommt nur anlautend und als Präaspiration vor; [γ] dagegen nur nach Vokal im Wortauslaut, zwischen Vokalen, zwischen Vokal und [ö, r] (außerdem finden sich keine Einzelwortlexeme mit [ΐ(Σ)]+[γ]+[δ, r]); (ß) [x - γ]: [x] kommt nur vor [s] und [d] vor, [γ] nie; (Ύ) [Χ - â]: [x] kommt nur vor [s] und [d] vor, [ή] nie. Laut (a) (b) (c) 5

(3), (6) und (9) lassen sich folgende Minimalpaare bilden: [x - h]: =['saxd - 'sahd] 'gesagt - wahr, Sg.Neutr.Nom./Akk.'; [h - ô]: {} mit einer systematischen 1 1 -Korrespondenz völlig übereinstimmt, implizieren die zwei taxonomischen Phonemanalysen (I) und (Π) Abweichungen: (I) -^{/h/ I ,/à/ I ,...}; (Π) ->{/ô/ n . /χ/π,...}, wobei /h/n * /fl/ n . /h/n * /x/IIDie Indizes der Phoneme sind notwendig, da die zwei Analysen nicht den gleichen Allophonbestand implizieren: /h/¡ / /h/n und * /ή/πDie phonemische Struktur und somit auch die entsprechenden systematischen GPK- und PGKStrukturen hängen davon ab, in welcher Reihenfolge die Beispielwörter bei der Analyse herangezogen werden. Damit zeigt sich, daß nicht einmal bei einer bloßen Materialanalyse mit der gleichen Methode Einigkeit über den Aufbau des Schriftsystems garantiert ist. Das relativiert den Wert von Expertenwissen bei der Diskussion über Orthographiereformen erheblich.

4.2.2. Die Graphem-Phonem-Korrespondenzen bei stimmlosen Plosiven im Schwedischen und Deutschen In einem Zusammenhang mit dem phonologischen Pluralismus ist auch die phonemische Interpretation von schwed. [b, d, jj] nach [s] zu sehen wie in beispielsweise =['sbo¡, 'sdo: 's^u:] 'weissagen, stehen, Schuh'. Da nach [s] unaspiriertes [ή] in keiner Opposition weder zu aspiriertem [§h] noch zu stimmhaftem [g] steht (d.h. *[s£jh] bzw. *[sg] sind der schwed. Phonotaktik fremd), sind zwei taxonomische Interpretationen des [$] in =['sí|u:] 'Schuh' möglich: (1) (2)

Ordnet man [ή] dem Phonem Dd = /[ôh], s[ô]/ zu, ist die unterlassene Aspiration als positionsbedingt nach /s/ zu interpretieren. Dabei sind die Allophone von /k/ alle stimmlos. Man kann aber auch [φ] als ein Allophon von I g / = /[g], s[(|]/ sehen. In diesem Fall ist die Position nach dem/s/ für die unterbliebene Stimmhaftigkeit verantwortlich. Dabei sind alle Allophone von /g/ unaspiriert.

Damit sind zwei Analysen von ['s¿ju:] möglich: /sku/ und/sgu/. Die zweite Interpretation, d.h. /g/ = /[g], stÔ]/, ist in der Forschung zwar unüblich, doch entspricht sie laut Nauclér (1977: 57) der kognitiven Realität vieler Schulanfänger. Sie weist nämlich auf die interessante Tatsache hin, daß

53 Schulanfänger anfangs nicht immer normgerechtes , sondern auch * schreiben. Anscheinend fällt die Wahl zwischen =[§] und =[{|] oft zugunsten einer Analyse aus, die auf der phonologischen Opposition "aspiriert - unaspiriert" basiert: ñd = /[é|h]/ bzw. /g/ = /[g], s[ö]/. Dieses Verhalten ist auch nachvollziehbar, da der Unterschied an Aspiration für das linguistisch ungeschulte Ohr viel leichter zu erkennen ist als der an Stimmhaftigkeit. Oie Schreibstrategie, die zu * führt, wird sogar dadurch unterstützt, daß sie außer nach erfolgreich ist, vgl. schwed. ['^«d - 'gad] 'spaßig - gelb'. Ob bei diesen Wörtern die Diskriminierung nach "aspiriert unaspiriert" oder "stimmlos - stimmhaft" erfolgt, wirkt sich auf die Schreibung nicht aus. Bei diesen Wörtern ist "aspiriert" mit "stimmlos" und "unaspiriert" mit "stimmhaft" gekoppelt. Deshalb führt eine Schreibstrategie, die sich nach der Aspiration richtet, zur normgerechten Schreibung . Schreibenlemen heißt also erkennen, daß die phonologisch "richtige" Analyse des Phons [ή] im wortwörtlichen Sinn vorgeschrieben ist: Weil ['s(|ui] mit geschrieben wird, ist das [ή] dem gleichen Phonem wie das ebenfalls mit geschriebene [ή11] in kul zuzuordnen. Oder einfacher: [$] wird /k/ zugeordnet und geschrieben, da es wie [¿)h] mit verschriftet wird. Hier stellt sich auch noch die Frage, inwiefern sich nicht nur Schulkinder, sondern auch die Fachlinguistik - entgegen psycholinguistischen Tatsachen - von der Graphotaktik beeinflussen läßt. Ist es denkbar, daß [{)] e fk/ nur bei hochgradiger konzeptioneller Schriftlichkeit und [ή] e /g/ nur bei schriftunabhängiger Mündlichkeit gilt? Die Ausführungen in Kap. 9.4 legen eine Bejahung dieser Frage nahe. Zu diesem Thema vgl. auch die Untersuchungen zur Lese- und Schreibforschung in Liberman 1984; Browman/Goldstein 1986; Derwing/Dow 1987: 173-175; Derwing 1992: 197. Die nicht normgerechte Schreibung von stimmlosen Plosiven hat eine lange Tradition. Auf dem Thorsberger Schildbuckel (Schleswig-Holstein) aus dem 3. Jh. steht in aisgz 'Fragender' statt der zu erwartenden k- eine g-Rune; vgl. das zugrundeliegende Verb in as. ëscôn und engl. ask. In ähnlicher Weise ist -gasdiz 'Gast' auf dem Stein von Myklebostad (Norwegen) aus dem 5. Jh. statt mit einer t- mit einer ¿-Rune verschriftet (vgl. Antonsen 1975: 30, 46). Die Schreibung sbA 'Weissagung' (vgl. aisl. spá ) statt zu erwartendem spA auf dem Björketorp-Stein (Blekinge) aus dem 7. Jh. ist hingegen anders zu bewerten. Zu diesem Zeitpunkt ist die p-Rune - wenigstens bei sinnvollen Wörtern - bereits aus dem Futhark ausgeschieden, weshalb die ¿»-Rune hier regulär steht. Im jüngeren Futhark hat sich die fc-Rune für sowohl /p/ als auch M durchgesetzt. Nonnabweichende Schreibungen mit =[sb, sd, s£] finden sich auch in der modernen dt. Literatur, um Abweichungen von der Standardlautung zu signalisieren. In seiner Novelle Tonio Kröger verschriftet Thomas Mann eine norddt. gefärbte Standardlautung mit Schreibungen wie . Die nächstliegende, normabweichende Interpretation von ist [sb, sd-], da diese Obstruentenverbindungen auch in der Hochlautung vorkommen, allerdings nur im In- und Auslaut. Die theoretisch denkbaren Verbindungen [fb-, Jd-] kommen nicht in Frage, da diese Phonotaktik im Dt. grundsätzlich unzulässig sind. Bei eher echten Mundartverschriftungen wie im Roman Buddenbrooks verzichtet Th. Mann hingegen auf solche graphotaktische Abweichungen in der direkten Rede. Hier ist von vornherein klar, daß für nd. [sb-, sd-] stehen. Wenn nun [b, d, à] nach [s] den Phonemen /b, d, g/ zuzuordnen sind, wie kommt es dann, daß die Orthographie mit entgegen dieser phonologischen Analyse verfährt? Die Antwort

54 liegt in den frühen Verschriftungen der altgerm. Sprachen. Im Frühmittelalter waren die stimmlosen Plosive (< ie. b, d, g) nicht nur nach s, sondern in sämtlichen Positionen zunächst unaspiriert. Damit war allein der Stimmton bei b/p, d/t, g/k minimal diskriminierend, weshalb [b, d, ή] den Phonemen /p, t, k/ zugeordnet und - auch nach [s] - als verschilftet wurden. Erst nach der Aspiration [b, d, §] > [bh, d h , ö h ] lassen sich [ s b, s d, s ö] den Phonemen /b, d, g/ sinnvoll zuordnen. Die Schreibungen auch stimmhaft gesprochen wird. In ähnlicher Weise steht schwed. =[s] der Korrespondenz näher als engl. =[k]. Eine weitere Ausnahme

55 ist =[y]. Jedoch ist der Sonoritätsgrad von [y] geringer als der der meisten anderen Vokale; vgl. Abb. 4/5.

Die beiden relativ dicht besetzten Polaritäten in Abb. 4/5 bestehen somit aus Vokalen bzw. Plosiven. Es geht daraus auch hervor, daß sich nur wenige Ausnahmen sehr weit weg von der prototypischen Korrespondenzlinie befinden wie etwa =[k]. Versuche mit anderen Korrespondenzlinien zeigen, daß sich die in Abb. 4/5 nicht optimieren läßt. Dieses Ergebnis läßt sich auch in einen Bezug zu Silbenstrukturen setzen. Je sonorer die Phone sind, um so eher treten sie als Silbenträger auf. Während [a, e, o] immer den Silbenkern ausmachen, übernehmen [m, n, r, v] nur gelegentlich diese Funktion; vgl. dt. choffen, spielen>=f'hofm, 'Jbidn], tschech. =['brnoi]. Die Phone [ρ, t, k, b, d, g], welche alle mit Ober- oder Unterlänge abgebildet werden, treten hingegen nie als Silbenträger auf. Hiervon weicht nur =[1] ab wie z.B. in dän. = ['gafl] 'Gabel'. Durch radikalen Lautwandel finden sich auch Fälle, wo sogar und Silbenträger verschriften wie in dän. =["biö^] 'beißen' (an. < bita) und =['sâçbô] 'schäbig'. Allerdings bilden und hier keine Plosive, sondern Frikative ab. Insgesamt vermittelt die Distribution von Ober- und Unterlängen trotz dieser Einschränkungen eine gewisse Information über die lautliche Silbenstruktur. Ein strukturell äquivalenter Zusammenhang wäre auch zu erreichen, wenn umgekehrt die Phone mit hohem Sonoritätsgrad durch Ober- und Unterlängen und die mit geringem Sonoritätsgrad durch kompakte Grapheme abgebildet wären. Es stellt sich daher die Frage, warum die Graphemformen gerade bei den Nicht-Silbenträgern Ober- und Unterlängen aufweisen und nicht umgekehrt; vgl. ohne Ober-/Unterlänge, mit halber Oberlänge, mit voller Oberlänge, mit voller Unterlänge (g), mit Ober- und Unterlänge. Läßt man aus dem gleichen Satz in

6

Die gleiche Korrespondenz gilt (jedoch nicht ganz so gut) ebenso für die griech. Kleinbuchstaben.

56 einem Fall - wie im Hebräischen - die Vokalgrapheme und im anderen die Konsonantengrapheme weg, ergibt sich eine mögliche Antwort:7 (i)

Lßt m n s d m glchn Stz η nm Fil - w m Hbrschn - d Vklgrphm nd m ndrn d Knsnntngrphm wg, rgbt sch η mglch ntwrt.

(ii)

ä a au e eie a i eie a - ie i eäie - ie oaaee u i aee ie ooaeaee e, ei i eie öie Ao.

Während Satz (i) verhältnismäßig verständlich ist, so läßt sich Satz (ii) keine Bedeutung zuordnen. Die Konsonatengrapheme erweisen sich daher bei der Bedeutungszuordnung als weitaus informationsträchtiger als die Vokalgrapheme. Deswegen ist es sinnvoll, daß Ober-/Unterlänge gerade bei den Konsonantengraphemen für eine gesteigerte graphemische Diskriminierbarkeit sorgen. Dies kommt teilweise daher, daß der für das Verständnis wichtige Anlaut sehr häufig konsonantisch ist. Allerdings implizieren auch Sätze mit nur vokalisch anlautenden Wörtern prinzipiell die gleichen Unterschiede wie (i) und (ii). Das Verschriftungsprinzip in Satz (i) ist der normalen Rechtschreibung nicht völlig fremd, wie folgende Einzelwort-Abkürzungen zeigen: . Vokalgrapheme werden dagegen in Abkürzungen hauptsächlich wortinitial beibehalten (zur optisch-kognitiven Dominanz der Ober- und Unterlängen beim Lesen vgl. die frühen Arbeiten von Meumann 2 1914: 492f. und Wundt 6 1911: 580). Bei den für die Bedeutungszuordnung unwichtigeren Vokalgraphemen spielt es somit keine größere Rolle, daß sie einander wesentlich ähnlicher sind als die Konsonantengrapheme; vgl. mit . Außerdem ist von Vorteil, wenn sich die Form der Vokalgrapheme grundsätzlich von der der Konsonantengrapheme abhebt. Vor allem bei Konsonantengraphemen ohne Ober-/Unterlänge muß zwecks dieser Differenzierung ein weiteres Kriterium herangezogen werden: Während sich die Vokalgrapheme weitgehend an einer rundlich-geschlossenen Grundform orientieren, sind die Konsonantengrapheme oft offener und/oder eckiger; vgl. mit . Auch von dieser prinzipiellen Tendenz finden sich einige Abweichungen wie z.B. und . Das Modell in Abb. 4/5 läßt sich wie in Abb. 4/6 präzisieren. [mit Ober-/ Unterlänge]

. A »Ob

'Poi [rundlich geschlossen ohne Ober-/ Unterlänge]

u n s i ibisch

[Sonoritätsgrad] • silbisch

Abb. 4/6: Prototypische Korrespondenz zwischen Graphemform und Phonetik/Phonotaktik.

7

Das erinnert an das Kinderlied "Drei Chinesen mit dem Kontrabaß", wo in jeder Strophe alle Vokale durch einen einheitlichen ersetzt werden, der somit keine Bedeutungsunterscheidung mehr leistet; d.h. "Dra Chanasan mat dam Kantrabaß,...", "Dri Chinisin mit dim Kintribiß,..." usw.

57 Wie Satz (i) und (ii) oben zeigen, enthalten die meisten graphemischen Wörter tendenziell mehr Konsonatengrapheme als Vokalgrapheme. Das trägt natürlich auch dazu bei, daß die Bedeutungszuordnung bei (i) leichter erfolgt als bei (ii). Ein Vergleich mit folgenden zwei Sätzen zeigt aber, daß auch unabhängig hiervon die Verteilung von Ober-/Unterlängen auf vor allem die Konsonantengrapheme für die Lesbarkeit relevant ist: (1) LSST MN S DM GLCHN STZ Ν NM FLL - W M HBRSCHN - D VKLGRPHM ND M NDRN D KNSNNTNGRPHM WG, RGBT SCH Ν MGLCH NTWRT. (Π) Ä A AU E EIE A I EIE A - IE IEÄIE - IE OAAEE U I A E E IE OOAEAEE Ε, EI I EIE ÖIE AO. Während sich Satz (Π) nicht viel schlechter liest als der von (ii) oben, beeinträchtigt die Einebnung der heterogenen Verteilung von Ober-/Unterlängen in (I) die Lesbarkeit erheblich. Da Konsonanten- und Vokalgrapheme tendenziell Konsonanten bzw. Vokale abbilden, lassen sich die bisher erzielten Ergebnisse vorsichtig auf die gesprochene Sprache übertragen. In der Tat sind sich auch die für die Bedeutungszuordnung weniger wichtigen Vokale wesentlich ähnlicher als die Konsonanten; vgl. [aj - yi] mit [v - k]. Deshalb ist die gesprochene Kommunikation in höherem Maße von Veränderungen im Konsonantismus gefährdet als vom Wandel im Vokalismus. Diachron zeigt sich dies darin, daß der Konsonantismus der meisten Sprachen weitaus stabiler ist als der Vokalismus. Die prototypische Korrespondenzlinie in Abb. 4/6 gibt nicht nur ein zufälliges synchrones Muster wieder, auch diachron wirkt sie sich strukturbildend auf die Distribution von Allographen aus. Die Korrespondenzlinie repräsentiert somit ein selbstreferentielles, strukturbildendes System. Eine solche Selbstreferenz wird auch Autopoiesis genann (vgl. Luhmann (1991: 57-70) mit weiteren Literaturangaben). Verwandt hiermit ist die Koppelung von Mikro- und Makrostrukturen beim Sprachwandel, wie sie Keller (1994) allgemein und Meisenburg (1996: 6-16) speziell für den Orthographiewandel untersucht haben.

4.3.2. Selbstreferenzielle Orthographie-Steuerung bei und In frühen an. Handschriften findet sich kein ; statt dessen wird gleichermaßen zur Verschriftung von [ii/i] und [j] eingesetzt. Mit der Zeit etablierten sich die zwei neuen Grapheme und , die je nach Text eine teils freie oder teils kontextuell bedingte Distribution aufweisen. Im Bereich von frühneuschwed. [ii, i, i, j(:)] gilt in Gustav Vasas Bibel (1540/41) hauptsächlich folgende Regelung: ( 1 ) =[j/i ] nach Vokalgraphem wie z.B. 'sagen'; (2) =[ii] wie z.B. 'Zeit'; (3) =['i:] für die Präposition 'in' und das persönliche Pronomen 'ihr'; (4) sonst wie z.B. 'bekamen, ich'. Im Neuen Testament von 1526 wird sogar zwischen 'ihr' und 'in' differenziert, so daß eine heterographe Homophonie entsteht. Die heutige Distribution von schwed. und ist dagegen komplementär und richtet sich im wesentlichen nach der Silbizität der abgebildeten Phone:

58 bildet lediglich [i:, ι] ab, während < j > für [j(:)] steht; vgl. =['vi:d, vsitia] 'bei sitzen' mit =['jttd, v fej:a] 'Weihnachten - fegen'. Dieser Wandel bedeutet eine Annäherung an die Korrespondenzlinie in Abb. 4/5. Das Graphem < j > ist auch an der Verschriftung von palatalisierten (überwiegend stimmlosen) Konsonantenverbindungen im Anlaut beteiligt; vgl. schwed. =[ç, Ç, fj, fj, ç], norw. =[ç, J, J , J", ç], dän. =[ç]. Während anorw./aschwed. =[ki, si ...] und adän. =[si] im wesentlichen nach dem l=l-Prinzip des lat. Alphabets verschriftet sind, weisen die modernen Sprachen 2=1- und 3=l-GKPen auf. Für die neuen Frikative wurden weder neue Grapheme erfunden, noch wurde die alte Verschriftung vollständig übernommen. Indem das der Bi- und Trigrapheme durch < j > ersetzt wurde, fiel die diachrone Veränderung entsprechend der Korrespondenzlinie aus. Das selbstreferenzielle Orthographiesystem hat sich konkret im folgenden Prinzip manifestiert: (a)

Bi- und Trigrapheme, die Konsonanten abbilden, schließen mit Ober-AJnterlänge ab.

Demnach gilt für das Norw. und Schwed. folgende graphotaktische Regel mit großer Konsequenz: (b)

Eine Folge von zwei oder drei Konsonantengraphemen stellt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ein Bi- bzw. Trigraphem dar, wenn das letzte Konsonantengraphem Ober-/Unterlänge hat und das vorletzte sonst regulär einen stl. Konsonanten abbildet.

Für Wörter wie schwed. läßt sich demnach alleine aufgrund der Distribution von Ober-/Unterlängen darauf schließen, daß Bi- bzw. Trigrapheme sind; vgl. ['çud, "fjeqia, 'fjail] 'Rock, singen, Schuppen'). Insgesamt hat sich die Distribution von < i > und < j > entsprechend der prototypischen Korrespondenzlinie angepaßt. Verglichen mit dem 16. Jh. ist die Übereinstimmung sogar noch besser: Heute bildet nur [ij, i] ab, während < j > vor allem für [j, j:] und als Teil von Bi- und Trigraphemen auch für die stimmlosen Laute [ç, Ç] steht. Vor diesem Hintergrund ist Wesséns (1970, Bd I: § 162) Behauptung, daß die heutige Distribution von und auf einen Vorschlag des Philosophen Petrus Ramus (1562) zurückgeht, nur bedingt zuzustimmen. Die vorigen Überlegungen haben ergeben, daß diese Entwicklung vermutlich auch ohne Ramus' Beitrag zur damaligen Orthographiediskussion und zwar allein aufgrund der selbstreferenziellen Steuerung eingetreten wäre. Ramus lieferte daher nicht den Impuls für einen Orthographiewandel, sondern empfahl lediglich, was durch die Eigendynamik der Selbstreferenz ohnehin zu erwarten war. Die Grapheme und < j > sind nicht als einzige von einer selbstreferenziellen OrthographieSteuerung betroffen. In mittelschwed. Zeit wurden neben und auch für den [v]-Laut verwendet; vgl. 'fordern, haben, geben, gab'. Umgekehrt wurden auch [u: > ui] und [u > θ] vor allem mit verschriftet; vgl. 'heraus, jetzt, Zunge'. Die heutige Rechtschreibung verlangt für [v(j)] und [ai/e] dagegen immer bzw. , was eine Annäherung an die prototypische Korrespondenzlinie in Abb. 4/5 bedeutet. Nur wegen der sogenannten Morphemkonstanzschreibung kommt gelegentlich =[f] vor wie z.B. in schwed. eleva - levt>=[ v le:va - 'leift] 'leben: Inf. - Prät.Part.'. Auch der sehr früh einsetzende Schwund von aschwed. =[k] zugunsten eines konsequent verwendeten =[k] bedeutete eine erhebliche Annäherung an die prototypische Korrespondenz-

59 linie. In der bigraphemischen Einheit =[k:] ist zwar erhalten, doch schließt sie mit einer Oberlänge ab. Die Überlegungen in diesem Kapitel werden auch von den orthographischen Systemen anderer Sprachen bestätigt. In den folgenden Beispielen schließen die konsonantischen Bi- und Trigrapheme ebenso mit Ober- oder Unterlängen ab: engl. =[J] in shell 'Muschel', =[0] in thick 'dick', =[dç] in chain 'Kette', frz. =[J] in chanter 'singen'.

4.4. Tilgbare und stumme Grapheme

Ausführliche Literatur zu den Besonderheiten der stummen Grapheme gibt es kaum; vgl. jedoch Hansen 1991: 56-58 undHenriksen 1991.

4.4.1. Regulär tilgbare und stumme Grapheme 4.4.1.1. Definitionen Die Anlaute von dän. =['jem'] 'nach Hause' und schwed. =[vfjae:ra] 'schneiden' weisen einen wesentlichen Unterschied auf: Dän. =/j/ ist nicht wie schwed. =/Ç/ als eine 2=1-Korrespondenz interpretierbar. Während sich die phonologischen Merkmale des /(]/ in der Leserichtung expandierend auf und verteilen lassen (Kap. 4.1), werden sämtliche phonologischen Merkmale des /j/ simultan auf das in bezogen. Die Ursache hierfür liegt darin, daß weder noch allein schwed. /Ç/ abbilden, während regulär für dän. /j/ steht. Daher geht man bei dän. =['jem'] von einer wortinitialen 1=0-Korrespondenz aus. Dabei nennt sich ein stummes Graphem. In dän. =['hel3] 'halten' ist das Graphem =0 ebenso stumm. Während bei =['jem'] eine Schreibung ohne keine andere Aussprache implizieren würde, wäre im Gegensatz dazu eine hypothetische Schreibung * als ['hoila] (mit der neuen Bedeutung 'holen') auszusprechen. Stummes ist somit im Gegensatz zu stummem ein tilgbares Graphem. Ein oft angeführter Grund, tilgbare Graphme in der Schreibung beizubehalten, ist ihre Fähigkeit, Homophone graphemisch zu differenzieren; vgl. schwed. 'Horde, Erde, breiter Gürtel, getan', die alle als ['jusjj zu sprechen sind. Pragmatisch gesehen ist diese Heterographie indes überflüssig, da der semantische Kontext - wie im Gesprochenen - so gut wie immer disambiguiert. In norw. =[ vJae:re] 'schneiden' liegt mit ein tilgbares Graphem vor, da auch hypothetisches * keine andere Aussprache verlangt. Allerdings ist nicht im gleichen Sinn tilgbar wie in dän. hjem. Bokm. ohne stellt im Gegensatz zu dän. ohne keine reguläre Graphotaktik dar (=[J] steht vor , nicht aber vor ). =0 nennt sich daher ein bedingt tilgbares Graphem. Deshalb ist es angebrachter, den

60 Anlaut bei =[ v Jaeie] eher als eine 3=l-Korrespondenz =/J7 denn als =/J7 + =0 anzusehen. Nicht alle tilgbaren Grapheme sind stumm. Isl. =['ha(r)dna] 'hart werden' enthält fünf l=l-Korrespondenzen, wobei die vierte =[d] besonderes Interesse verdient (hier wird von der Leseaussprache ['haröna] abgesehen). Zwischen Vokalgraphemen wird gleichermaßen wie mit [(r)dn] verbunden; vgl. =['va(r)dna] 'warnen'. Da hypothetisches * ohne die gleiche Aussprache ['ha(r)dna] wie impliziert, erweist sich in =['ha(r)dna] als ein tilgbares, nicht aber als ein stummes Graphem. Diachron geht dies darauf zurück, daß zunächst aisl. rön >m mit altem rn zusammenfiel und erst danach die Dissimilation rn > [rdn] (und später der r-Schwund) erfolgte. Tilgbare, nicht-stumme Grapheme sind selten. Die Verbindung rön ist analog zu analysieren; vgl. =[sbe(r)dlar - va(r)dla] 'Enddärme von Schafen - kaum'. Das Mengendiagramm in Abb. 4/7 faßt zusammen.

f

X y stumme Grapheme^ bedingt tilgbare ^ Grapheme bokm. isl. dän. =['ha(r)dna] =[ 'Jasaba] =['hBl3] ν J dän. =['jem' ] tilgbare Grapheme

«

r

)

Abb. 4/7: Stumme und tilgbare Grapheme.

4.4.1.2. Stumme Grapheme und generative Phonologie Das in schwed. =['j«p] 'tief ist ein tilgbares und zugleich stummes Graphem, da sich ein hypothetisches * konform zur schwed. Graphotaktik verhielte und regulär als ['jwp] auszusprechen wäre. Eben an diesem Beispiel diskutiert Teleman (1973: 17) den Zusammenhang von Graphemik und Transformationen der generativen Phonologie. Steht die zugrundeliegende Form im allgemeinen der prototypischen l=l-Korrespondenz sehr nahe, so weicht die 2=1Korrespondenz =ljl hiervon ab, was eine gewisse "theorieästhetische" Irritation auslösen kann. Entsprechend überlegt Teleman, ob nicht statt ljupl eher Idjttpl anzusetzen wäre. Die dadurch "verbesserte" Übereinstimmung zwischen Graphemik und zugrundeliegender Form bei =ldjl wäre aber durch die zusätzliche Transformation ldjl->[j] zu erkaufen. Teleman legt sich in der Wahl zwischen ljupl oder Idjupl nicht fest. Gegen die Analyse Idjupl lassen sich zwei Einwände anführen: Zum einen sind unnötige Transformationen zu vermeiden, und zum anderen ist anlautendes [dj] der standardschwed. Phonotaktik grundsätzlich fremd. Ginge man unabhängig von der Schrift von einer Analyse Idjupl -» ['jœp] aus, müßte konsequenterweise auch die Analyse Idjull ['j«:l] 'Weihnachten' möglich sein. Da Idjl nie als [dj] realisiert wird, müßten folglich auch andere Konsonatenverbindungen in der zugrundeliegenden Form erlaubt sein, die phonetisch nicht realisiert werden wie etwa Ivjepl -> [j«ip]. Außerdem steht djup in keinem morpho-phonetischen Verhältnis zu einem Wort mit anlautendem

61

[d], was die Analyse Idjapl hätte motivieren können (im Gegensatz zu schwed. ->{lskl} für skära/skar). Ebensowenig gibt es im Schwed. ein Wort *ljapl=, das Idjapl als eine phonologische Homonymenflucht rechtfertigen ließe (vgl. auch Hellberg 1974:47). Der konsonantische Anlaut der Analyse Idjapl scheint daher auf einen Einfluß der Schrift zurückzugehen. Die angeführten Argumente gegen Idjapl greifen jedoch zu kurz, weil sie von wesentlichen Fragen nach der kognitiven Repräsentation der GPKen absehen. Kap. 9 wird zeigen, daß sich vor allem orthographische Argumente für Idjapl finden lassen.

4.4.1.3. Stumme und getilgte Grapheme in haupttoniger Silbe Im Schwed. finden sich stumme und tilgbare Grapheme am häufigsten wortinitial wie z.B. =['jair, "jaita, "jelpa, 'ja:d] 'Tier, gießen, helfen, Laut'. Allerdings ist nicht jedes wortinitiale Konsonantengraphem vor tilgbar; vgl. schwed. cbjörn, fjäder, mjöl, njuta^pbjceak 'fjeider, "mj0!l, v njaita] 'Bär, Feder, Mehl, genießen'. Bis 1906 wurde stummes auch vor geschrieben; vgl. schwed. chvem —» vem>=['verru] 'wer'. ImBokm. sind die Verhältnisse ähnlich. Allerdings wird in den meisten Fällen [dj] gesprochen. Die Aussprache von bokm. =['ja:p] 'tief ist somit eine Ausnahme; vgl. reguläres = f'djaerv] 'kühn'. Stumme Grapheme finden sich auch wortmedial. Hinsichtlich der Tilgbarkeit von Konsonanten weisen das Bokm. und das Schwed. einen systematischen Unterschied auf; vgl. schwed. =['sani - 'sant] mit bokm. =['san: - 'sant] 'wahr: Utr.Sg. - Neutr.Sg.'. Im Schwed. ist das zweite der Neutruniform ein tilgbares Graphem, das aber wegen der Morphemkonstanzschreibung beibehalten wird. Im Bokm. wird es hingegen getilgt. Die norw. Regel, geminierte Konsonantengrapheme vor einem dritten Konsonantengraphem zu vereinfachen, ist generell, wird jedoch nicht angewendet, wenn sich dadurch Homographe vermeiden lassen; vgl. n o r w . f u l i / f u l l t 'voll: Utr.Sg. - Neutr.Sg.' wegen/M/Í 'häßlich, Neutr.Sg.'. Insbesondere im Dän. treten stumme Grapheme häufig wortmedial und -final auf; so z.B. vor (das kein Genitiv- ist), vor und oft nach in =["plaes, '(pd, 'il', 'hela, 'fçna, W o ] 'Platz, gut/Neutr.Sg., Feuer, halten, Nord(en)'. Hierzu finden sich - wie in den meisten Bereichen der dän. Orthographie - Ausnahmen. In Wortbildungen mit gelten die Korrespondenzen =[ld, nd, çd/od]; vgl. cheldig, vseldig, syndig, faerdig>=['heldi, 'veldi, 'syndi, 'fççdi] 'glücklich, gewaltig, sündig, fertig'. Damit sind jedoch noch nicht alle Ausnahmefälle erfaßt, wie = ['fççdas] 'reisen' und =['noodis(|] 'nordisch' zeigen, bei denen auch die Korrespondenzen =[çd, od, ...] gelten (vgl. jedoch =['no'o] 'Norden' und =[fe'ç] 'Fahrt' mit stummem ). Bei anderen Wortbildungssuffixen gilt dagegen die Hauptregel mit stummem : cnordlig, kending>=['nooli, 'kenn]] 'nördlich, gut bekannte Person'. Diese orthographische Ususregulierung führt zu Unsicherheiten bei der schriftnahen Artikulation. So findet sich neben =['vçKsli] 'weltlich' mit regulär stummem auch die laut Brink et al. (1991: Stichwort verdslig) von vornehmlich jüngeren Sprechern verwendete Aussprache [Vççdsli]. Die ungewöhnliche Konsonantenhäufung [-dsl-] legt die Vermutung nahe, daß ['vççdsli] eher das

62 Ergebnis einer regularisierenden Leseaussprache als eine Analogie zu =['vçBdn] 'Welt' ist. Das in dän. =['hyla] 'huldigen' ist stumm, jedoch nicht tilgbar, wie der Vergleich mit =['hy:l3] 'heulen' zeigt. Anders verhält sich das Wortpaar =['hyl3 'hyla] 'hüllen - huldigen'. Hier trägt die Opposition zur Vermeidung einer homographen Homophonie bei. Daraus wird ersichtlich, daß dän. =[1] nicht als eine 2=l-Korrespondenz, sondern wie =[l] als die Abfolge einer l=l-Korrespondenz =[1] und einer Nullkorrespondenz anzusehen ist. Sonst wäre die Parallele zum stummen, aber nicht tilgbaren =0 in hylde verdeckt. Die jüngste Lautentwicklung des Dän. führt zu immer mehr stummen Graphemen, die aber selten tilgbar sind. Ein Beispiel hierfür ist das bereits in Kap. 4.1 behandelte in z.B. =['söa'] 'schnitt-, Prät.Ind.'. Wortfinal nach stellt es in vielen Fällen ein stummes, aber nicht tilgbares Graphem dar. Ohne wäre regulär wie =['dae] 'weil' mit [se] auszusprechen. Eine hypothetische Schreibung * würde zu einer ususregulierten Korrespondenz —»{[α], [»]} führen (dän. =['fKü'] 'von' läßt sich nicht als Gegenbeispiel anführen, da dieses Wort wegen des vorangehenden =[u] mit [α] gesprochen wird). Ähnlich verhält es sich mit dän. cbarn^fba'n] 'Kind'. Da eine reguläre Aussprache von * die Korrespondenz =[ae] impliziert, ist in =[ΐ>α'η] zwar ein stummes, jedoch kein tilgbares Graphem. Auch bei =[lka'm] 'Rahmen' ist das stumme Graphem =0 nicht tilgbar. Zwar wird vor auch sonst regulär mit [α] gekoppelt (vgl. =['kam'] 'Kamm'), doch befindet sich der Stoßton hier in einer anderen Position. An- und Abwesenheit des korrespondiert hier minimal mit einem Positionsunterschied des Stoßtons. Auch im Fär. finden sich stumme Grapheme. Ein besonders häufiges Beispiel ist wie in =['teai] 'dies, Neutr.Nom./Akk.Sg.'. In diesem Fall ist zugleich ein tilgbares Graphem, wie die heterographe Homophonie mit =['teai] 'dies, Fem.Akk.Sg.' zeigt. Das gleiche gilt für =['jç:a] 'raten', da hypothetisches * regulär ebenso als ['iç:a] zu sprechen wäre (vgl. =['fç>:a] 'bekommen'). Tilgbares ist jedoch nicht immer stumm, wie der Vergleich von ['ve:vuj] 'Wetter' mit hypothetischem *=['vejvuj] belegt. Dieser Umstand ist ein Produkt der fär. Lautgeschichte: Nach dem ¿(-Schwund ist ein Hiatusfüller [v] entstanden. Das bedeutet aber auch, daß das im homophonen Wort ['ve:vuj] 'webt, 2./3.Sg.Präs.Ind.' ebenso ein tilgbares nicht-stummes Graphem ist, obwohl dieses [v] auf keinen Hiatusfüller zurückgeht, sondern auf ein awestnord. =[v],

4.4.1.4. Stumme und tilgbare Grapheme in schwachtoniger Silbe In dän. Schwachtonsilben entstehen zunehmend mehr stumme, aber nicht tilgbare Vokalgrapheme. Das betrifft vor allem den Schwund des Schwachdruckvokals [a], der im Dän. inzwischen so weit fortgeschritten ist, daß Brink et al. (1991) distinkte Leseaussprachen wie =['lç:saô] 'zerfetzt' oder =['mç'09n] 'das Essen' nicht verzeichnen. Statt dessen werden ['lçisô] bzw. ['mç'Çn] als Maximalformen aufgeführt. Lediglich ein Hinweisverzeichnis führt die stark schriftgebundene Vollform mit [a] auf. Bei =['lçsÇ] und =['mç'Çn] liegt ein

63

stummes vor, das jedoch nicht tilgbar ist; vgl. mit der regulär einsilbigen Aussprache ['laesd] 'Ladung'. Bei den synkopierten Ausdrücken ['lçisô] bzw. ['mç'ôn] handelt es sich um zweisilbige Wörter. Diese Tatsache korrespondiert auch mit der graphemischen Zweisilbigkeit von bzw. , die sich bei der Worttrennung am Zeilenende zeigt: und . Ohne das in der zweiten Schreibsilbe bekäme man die hypothetischen Schreibformen * bzw. *, die aber am Zeilenende nicht trennbar wären. Der Schwund eines Vokals reduziert somit nicht unbedingt die Anzahl der Sprechsilben - ganz im Gegensatz zum Schwund eines Vokalgraphems. Obwohl das der verschrifteten Schwachdrucksilben stumm ist, erweist sich seine Nicht-Tilgbarkeit als eine Korrespondenz zwischen graphemischer und phonetischer Zweisilbigkeit. Die Vokalgraphem-Struktur des geschriebenen Wortes bildet - auch bei [a]Schwund - die Silbenstruktur des entsprechenden phonetischen Korrelats ab. Das impliziert somit in Wörtern wie maden, laset eine Art Silbenschrift.

4.4.2. Tilgbare und stumme Grapheme bei irregulären Kürzungen im Dänischen und Schwedischen 4.4.2.1. Einleitung Die Komplexität orthographischer Regeln setzt sich hauptsächlich aus zwei Komponenten zusammen: Regelumfang und Grad der Ususregulierung. Bei sehr umfassenden, aber dennoch eindeutigen Regeln ist die prinzipielle Ableitbarkeit eines phonetischen Wortes aufgrund einer Graphemfolge nie gefährdet. Das ist weitgehend bei der far. Orthographie der Fall. Mit zunehmender Ususregulierung nimmt dagegen auch bei einfachen orthographischen Regeln die Ableitbarkeit ab (vgl. Kap. 5.5). Diese Eigenschaft soll nun an einigen dän. Extremfällen im Vergleich zu ihren schwed. Äquivalenten diskutiert werden. Im gesprochenen Dän. gibt es einige Wörter, die nicht nur lautgesetzlich, sondern zusätzlich irregulär gekürzt sind; vgl. dän. chave - stave>= ['hx/'hç' - 'sdçiva] 'haben - buchstabieren' mit an. hafa bzw. stafa. Damit ist eine ususregulierte dän. 2=0-GPK =0 gegeben. Im Schwed. dagegen wurde bei vergleichbaren irregulären Kürzungen die Schreibung meist angepaßt, so daß die orthographischen Korrespondenzen bei schwed. =['hai] 'haben' regulär sind. Bei der etymologisierenden dän. Orthographie führen die regulären Kürzungen meist zu zwar komplizierten, jedoch relativ systematischen Orthographieregeln. Kommen aber dann die irregulären Kürzungen hinzu, so ist - wie beispielsweise bei dän. have 'haben' - der systematische Bezug zwischen Graphemik und Phonetik/Phonemik teilweise nur fragmentarisch. Entsprechend lassen sich sinnvolle orthographische Korrespondenzen lediglich in begrenztem Umfang angeben. Dieses Phänomen taucht vor allem im In- und Auslaut bei den hochfrequenten sogenannten Kurzverben auf (zur Morpho-Syntax dieser Wörter vgl. Nübling 1995a; 1995b; Nübling 2000; zur Graphiegeschichte schwed. Kurzformen vgl. Östman 1992).

64 4.4.2.2. Dänisch have und schwedisch ha 'haben' Versucht man, bei dän. =['hae/'hç'] 'haben' orthographische Korrespondenzen zu erstellen, erhält man zunächst die regulären Korrespondenzen =[h] und =[ç/ae]. Bei liegt dagegen eine Nullkorrespondenz vor. Der Unterschied zwischen =0 und =0 in dän. =['jem'] 'nach Hause' besteht vor allem darin, daß =0 immer vor gilt und somit regulär ist, wohingegen =0 nur bei vorkommt. Bei =['sdç;v3] gelten dagegen für und reguläre, distributionell determinierte orthographische Korrespondenzen, so daß sich eine korrekte Aussprache ableiten läßt: =[v] und =[a]. Neben ['hae/'hç'] findet sich für have auch die sehr gehobene Aussprache ['hçiva], der aber in bezug auf ihre Textsortendistribution sehr enge Grenzen gesetzt sind; sie ist u.a. der (älteren) Dichtung aus Reimgründen vorbehalten. Diese seltene Aussprache ist homophon mit der unmarkierten Aussprache von =['hçrv3] 'Garten', die von regulären orthographischen Korrespondenzen nicht abweicht. Das Ergebnis der irregulären Kürzung ['has/'hç'] geht mit der dän. Phonotaktik konform. Auslautendes [ae] ohne Stoßton kommt z.B. in =['dae, 'jae] 'weil, ja' und [ç'] mit Stoßton in =['ç\ "pç'] 'Buchstabename von , die Brust (geben)' vor. Theoretisch könnte man also die Schreibung einführen, denn anhand dieser ließe sich die standardsprachliche Aussprache regulär ableiten. Bei der Nullkorrespondenz =0 in =['hae/'hç'] handelt es sich somit nicht nur um stumme, sondern auch um tilgbare Grapheme. Trotzdem wird die graphemische Kurzform nicht in die dän. Standardschreibung aufgenommen. Lediglich in der Substandardschreibung taucht sie manchmal auf. Um dabei die Abweichung von der Standardorthographie zu markieren, wird ein Apostroph an die Stelle der graphemischen Auslassung gesetzt; d.h. recht oft vor. Die Kurzformen des orthographischen Substandards suggerieren somit einen phonetischen Realismus der Dialogführung. Die irreguläre Nullkorrespondenz =0 beim Wort =['hae/'hç'] ist zwar eine orthographische Singularität, doch erschwert diese nur in den seltensten Fällen die Bedeutungszuordnung. Das liegt daran, daß die Bedeutung dieses hochfrequenten Wortes nicht über die Lautung erschlossen wird. Vielmehr wird der graphemischen Gestalt eine Bedeutung direkt zugeordnet. Eine singuläre Irregularität wie die Nullkorrespondenz =0 führt somit kaum zu lesestrategischen Nachteilen. In diesem Fall dürfte Entsprechendes auch für das Schreiben gelten, weshalb =0 nie Gegenstand ernsthafter Orthographiediskussionen war. Im Schwed. ist in sehr ähnlicher Weise wie im Dän. eine irreguläre Reduktion des Verbs hava eingetreten: ['hai] 'haben'. Im Gegensatz zum Dän. gibt es hierfür aber die voll akzeptierte Standardschreibung , aus der die korrekte Aussprache mit Hilfe regulärer GPKen ableitbar ist. Daneben findet sich aber auch die sehr gehobene und seltene Wortform [ vhtKva], die regulär als geschrieben wird. Im Schwed. besitzen also die geschriebenen Wortformen etwa das gleiche Stilniveau wie ihre regulär abgeleiteten phonetischen Korrelate; vgl. Abb. 4/8.

65 substandard — s t a n d a r d — dän.

schwed.

drückt die unterschiedliche stilistische Koppelung im Schwed. und Dan. schriftlich aus. Die Gegenüberstellung "Dän. mit Apostroph - Schwed. ohne Apostroph" bildet eine minimale schriftliche Opposition, die mit zwei grundverschiedenen orthographischen und stilistischen Strukturen korrespondiert.

4.4.2.3. Dänisch tage und schwedisch ta 'nehmen' Ähnlich wie bei dän. have verhält es sich mit dän. =['tae/'tç'] 'nehmen'; den regulären Korrespondenzen =[t], =[œ/ç'] folgt die irreguläre Nullkorrespondenz =0. Der Schreibung steht aber auch die Variante möglich. Der Grund besteht jedoch nicht in der homographen Heterophonie von *=['tae/'tç' - 'ta'] 'nehm-: Inf. - Präs.Ind.' (vgl. engl, to have vs. I/you/we/they have). Vielmehr ist bei einer hypothetischen Schreibung * benutzt, wobei der Apostroph die ausgelassene Nullkorrespondenz =0 bezeichnet. Während bei den Infinitiven =['blig'] 'werd-, Präs.Ind.' (< bliver) ist die Reduktion anders geartet. Hier ist ein [va]-Schwund mit [H > g]-Vokalisierung eingetreten, so daß alle stummen Grapheme tilgbar sind. Die alternative Aussprache [ W Ì ' V B ] geht auf eine Leseaussprache zurück, die auf , regulären GPKen und der

66 Assimilation [a» > β] basiert. Mit dem Wandel [βκ > β] löst sich die ursprünglich schriftinduzierte Phono- von der Graphotaktik erneut ab. Das Schwed. verfahrt mit den Äquivalenten zu dän. tage/tager wie bei ha/hava in Abb. 4/8. Neben den unmarkierten Standardformen =['taj - 'Kur] 'nehm-: Inf. - Präs.Ind.' stehen die gehobenen und kaum verwendeten Formen ctaga - tager>= ['taiga - 'tcuger], Schreibungen mit ausschließlich regulären GPKen finden sich ebenso für =[ΐ>1ί:τ] und seine gehobene Variante =['bli:ver]. Im Dän. haben einige Wörter kürzere Schriftformen ohne Apostroph erhalten, indem stumme tilgbare Grapheme beseitigt wurden. Beim Präs.Ind. von have verfährt das Dän. entsprechend dem schwed. Modell: Dän. =['ha/'ha'] (unmarkiert, standardsprachlich) steht =['hçrvB] (gehoben) gegenüber. Ähnliches gilt für dän. =['fai] 'Vater'. Im Gegensatz zu =['hae/'he']. Auch die phonetische Kurzform ['ku] steht inzwischen einer akzeptierten Standardaussprache so nahe, daß es gelegentlich zu einer Substandardschreibung

['hae/'hç']

=["bli¡2' - "bli've] =['hç','hœ -'hçjva] char - haver>=['ha\ 'ha, - 'hçrve]

=['blin· - "blüver] 'werd-, Präs.Ind.' =['je:r - 'jirver] 'geb-, Präs.Ind.' cha - hava>=['hcu - "haiva] 'haben' char - haver>=['hœr - 'haiver] 'hab-, Präs.Ind.'

68 =["ksc - 'keen'] =['si§ - 'SUB] =['s(|u, 's^ull - 's^ule] =['tç', 'tae - tçiea] =[vhadie] - kunna>=[ "kema] - kan>=["kan(:)] - lâta>=[vlo:ta]

'hatte-, Prät.Ind.' 'können' 'könn-, Präs.Ind.' 'lassen'

< - säga>=[ vsej:a/( "sesga)] < - säger>=['sej:er/('se:ger)] =['saj - "saide] < - skulle>=[v s^elie] =['s¿ja: - 'sôal(ï)] =[tai -"tœga] =[tair - teuger]

'sagen' 'sag-, Präs.Ind.' 'sag-, Prät.Ind.' 'soll-, Prät.Ind.' 'soll-, Präs.Ind.' 'nehmen' 'nehm-, Präs.Ind.'

Im großen und ganzen ist die Hemmschwelle, eine standardschriftliche Kurzform einzuführen, im Schwed. wesentlich niedriger als im Dan. Schwed. Texte enthalten daher relativ selten Substandardformen mit Apostroph. Wie aus der Liste oben hervorgeht, besitzt das Dan. mehr Kurzformen als das Schwed. Neben den Kurzverben treten auch in anderen hochfrequenten Bereichen irreguläre Kürzungen auf, was ebenfalls schriftliche Kurzformen wahrscheinlicher macht. Im Gegensatz zu den Kurzverben finden sich auch im Schwed. häufig Apostrophformen, die aber lediglich in stark gesprochensprachlichen Textsorten - wie etwa Comics - auftreten. Bei der Untertitelung von Fernsehinterviews sind sie wesentlich seltener im Schwed. als im Dän. Die häufigsten sind: schwed. ['non(:) - "noigon] =['sont - "soldant] 'solch-, Sg.Neutr.1 fällt die Position des Apostrophs nicht mit der Stelle der phonetischen Auslassung zusammen (d.h. nicht *=['non(:) - 'not(i)] 'etwas: Sg.Utr. - Sg.Neutr.' fällt diese morphologische Markierung mit der Position des phonetischen Schwunds zusammen. Vgl. hierzu dän. . Besonders schwed. und haben sich in der standardsprachlichen Schreibung gut etabliert. Bei ['sdaai - 'sdaiden] ist sogar eine partielle Lexemspaltung eingetreten: Nur ['sckun] (und nicht ['sdaiden]) wird in der Fügung gâ pâ stan/*staden (för att handla) 'in die Stadt gehen (zum Einkaufen)' benutzt. Auch im Eigennamen Gamia Stan 'die Altstadt von Stockholm' gilt Start ohne Apostroph als standardsprachliche Maximalform. Bei der Bedeutung 'Stadt, Siedlungsgebiet' sind dagegen beide Ausdrücke möglich, wenngleich mit stilistischem Unterschied. Die Lexemspaltung hat somit erst das Stadium einer partiell äquivalenten, inkludierenden Distribution erreicht. In bezug auf die Schreibung irregulär gekürzter Wörter steht das Bokm. zwischen dem Dän. und dem Schwed. Es weist mehr mündliche Kurzformen als das Schwed. auf, jedoch weniger als das Dän. So besitzt das Bokm. keine Kurzform [leu] "können', sondern wie das Schwed. nur eine Langform: =[vkenra]. Andererseits hat das Bokm. ['si:] 'sagen' mit dem Dän. gemeinsam, während das Schwed. nur die Langform ["sej:a] kennt. Dieser graduelle Unterschied im Vorkommen irregulärer phonetischer Kurzformen (Schwed. -> Bokm. -> Dän.) korreliert aber nicht mit der Auftrittswahrscheinlichkeit graphemischer Kurzformen. Im Geschriebenen verfährt das Bokm. weitgehend wie das Schwed. und verschriftet die phonetischen Kurzformen konsequent nach regulären GPKen. Auch in den Fällen, wo das Bokm. eine im Schwed. nicht vorhandene Kurzform hat, wird diese ohne stumme Grapheme verschriftet wie z.B. bokm. =['si:] vs. schwed. =[vsej:a] 'sagen'. Es findet sich sogar eine bokm. Kurzform, die im Dän. kein Äquivalent hat: vgl. bokm. =[ "laida/'lai] 'laden' mit dän. = ['lçiôa, 'lçîÇ] 'laden'. Mit wenigen Ausnahmen verhält sich das Nyn. weitgehend wie das Bokm. Allerdings findet sich mit nyn. seie/a 'sagen' wie im Schwed. nur eine Langform. Außerdem ist hier mit einer gewissen mundartlichen Variation zu rechnen. Für das Isl. und Fär. entfallen entsprechende Überlegungen weitgehend, da in den modernen Standardsprachen kaum graphemische Lang- und Kurzformen mit unterschiedlichem Stilniveau nebeneinander stehen. Der Apostroph wird nicht nur als Ersatzzeichen für stumme, tilgbare Grapheme im Wortinneren verwendet. Auch bei der Verschriftung von ehemaligen Wortgrenzen in klitischen Verbindungen kommt er vor (vgl. hierzu Nübling 1992). Diese sind meist durch Assimilationen oder andere Reduktionsprozesse entstanden wie z.B. in schwed. cha't sä bra!>=['ha:d1so,bra:] (< ['heu 'de:t 'so: 'bra:]) 'habe es so gut > mach's gut!'. Die mittelschwed. Verbindungen

70

=['seir1an/1na] 'seh-, Präs.Ind. ihn/sie' sind stärker grammatisiert, da die Vollformen zu den Klitika - das ist aschwed. Mask.Akk.Sg. kann bzw. Fem.Akk.Sg. hana - nicht mehr gebräuchlich sind. Statt dessen stehen die alten Dativformen honom bzw. henne in allen nicht klitisierten Objektpositionen. In dieser Form wird der Apostroph fast nur in skand. Mundartliteratur und bei stark gesprochensprachlichen Substandards verwendet. Mit ungewöhnlicher Konsequenz hat P.C. Jersild für seine Novelle El Alamein eine eigene Orthographie geschaffen, die ein stark umgangssprachliches und regional gefärbtes Schwed. wiedergibt.

4.4.2.5. Warum ist das dänische Schriftbild konservativer als das schwedische? Abschließend soll nun der Frage nachgegangen werden, wieso die dän. Orthographie oft wesentlich konservativer ist als die Schwed., obwohl in beiden Sprachen die phonetischen Kurzformen vergleichbar sind; vgl. dän. =['hç7'hae] mit schwed. =['haj] 'haben'. Im Schwed. wird somit eher orthographisch regularisiert, während das Dän. orthographische Singularitäten in Form von stummen und tilgbaren Graphemen vielfach duldet. Hinsichtlich des geradezu rasanten dän. Lautwandels wären zunächst umgekehrte Verhältnisse zu erwarten, zumal es mehr irreguläre Kürzungen im Dän. als im Schwed. gibt; vgl. dän. =["ku], aber schwed. =[ ~ken:a] 'können'. Bei hochfrequenter Lexik bereiten Schriftformen mit vielen irregulären Nullkorrespondenzen keine lesestrategischen Probleme, weil hier die Bedeutungszuordnung direkt und somit ohne den "Umweg" über die lautliche Form erfolgt. Da diese Feststellung nicht nur für das Dän., sondern auch für das Schwed. gilt, ist immer noch ungeklärt, warum im Schwed. keine graphemischen Langformen bei den phonetischen Kurzformen erhalten bleiben. Liegt hier eine rein zufällige Divergenz vor, die auch entgegengesetzt hätte ausfallen können? Oder gibt es einen synchron einleuchtenden Grund dafür, Kurzformen wie in die schwed. Standardorthographie aufzunehmen und sie von der dän. fernzuhalten? Auch das Bokm. mit all seinen vielfach aus dem Dän. übernommenen Kurzformen verfährt orthographisch weitgehend wie das Schwed. Hängen die unterschiedlichen orthographischen Verfahren möglicherweise mit einzelsprachlichen Verschiedenheiten der inlautenden Phonotaktik zusammen (hierzu vgl. auch Kap. 5.5)? Die weiteren Überlegungen gehen vom dän./schwed. Material in Abb. 4/11, wobei die dän. Maximalform ['tçrya] sehr gehobenen Textsorten und der Dichtung vorbehalten ist. substandardschwed.

dän.

als sehr stabil, obwohl sie nicht zur Norm gehört. Der schnelle Lautwandel erklärt daher nicht, weshalb graphemische Kurzformen kaum in die dän. Standardschreibung aufgenommen werden. Die voneinander abweichenden Verschriftungsstrategien haben weniger mit der Geschwindigkeit des Lautwandels zu tun als vielmehr mit einem prinzipiellen Unterschied zwischen der dän. und der schwed. Phonotaktik. Im Dän. entsprechen und b, d, g > γ/u, öfa, i/u) und der [B]-Vokalisierung entstanden sind, charakterisieren die dän. Phonotaktik. Allerdings fällt das entsprechende artikulatorische Kontinuum meistens wesentlich geringer aus als bei ['tae 'tçiya]. Bei =['s0aa] 'suchen' ist bereits die unmarkierte Standardlautung relativ schriftnah; nur durch eine Leseaussprache ließe sich ['s0áa] in Richtung ['s0ryg] abwandeln. Im Schwed. sind dagegen ['tcu] und [ "taiga] zwei voneinander getrennte stilistische Varianten, die regulär als bzw. verschriftet werden (vgl. Abb. 4/11). Bei genauer Betrachtung repräsentieren ['tcu] und ['taïga] je eine Gruppe von Aussprachevarianten. Allerdings ist die Variation innerhalb jeder Gruppe derart gering, daß diese sich nicht überschneiden. Während im Dän. die postvokalische Abschwächung von an. k > [γ] lautgesetzlich ist, trat sie in den mittelschwed. Mundarten, die der heutigen Standardlautung zugrunde liegen, nur in (typischerweise hochfrequenten) Ausnahmefällen ein; vgl. an. taka, baka > spätaschwed. tagha, baka 'nehmen, backen'. Im Gegensatz zum Dän. wurde in tagha [γ] nicht vokalisiert, sondern vollständig getilgt. Dieser Wandel hat zu neuschwed. [ta:] geführt (vgl. Wessén 1970, Bd. I: §§ 73, 77). Neben ['tai] lebte aber auch die alte, seltener gewordene zweisilbige Aussprache weiter - möglicherweise nur durch eine Leseausprache der konservativen Schreibung . Als im 17. Jh. der aschwed. Spirant =[Y] regulär zu einem Plosiv verhärtet wurde, fand dies auch bei der Langform tagha statt. In diesem Zusammenhang hat die Schreibung mit statt bei der Leseausprache unterstützend gewirkt. Die zwei neuschwed. Varianten =[tai] und =["tœga] sind aus dieser Entwicklung hervorgegangen. Ähnliches gilt für aschwed. t, das sich im Standardschwed. als stl. Plosiv erhalten hat; vgl. schwed. =["loita] 'lassen' mit an. lata. Im Adän. und Frühneudän. vollzog sich dagegen die rasante Abschwächung [t > d > ö (> 0)], so daß das neudän. Äquivalent als =['lae] 'lassen' erscheint. Die gehobeneren, längeren Formen 'lç$] bis hin zur sehr distinkten und stark schriftgebunden Aussprache ['lçiôs] treten nur mit entsprechend abnehmender Gebrauchsfrequenz auf. Beim weniger frequenten homographen dän. Wort =[1ç:ôa] 'laden' (< an. hlada) stellt hingegen die zweisilbige Aussprache die unmarkierte Normalform dar, welche sich allenfalls beim Allegrosprechen zu ['lç$] reduzieren läßt. Der dän. "Ziehharmonikaeffekt" und die schwed. Ausdrucksspaltung stellen eine der wichtigsten typologischen Divergenzen der dän. und schwed. Lautgeschichte dar. Da gehobene, maximal distinkte Formen vieler dän. Wörter gerade durch die inlautende Phonotaktik "Vokal+Halbkons.+Vokal" charakterisiert sind, ist die Entstehung phonetischer Kurzformen stark begünstigt. In den schwed. Äquivalenten ist dagegen die stabile inlautende Phonotaktik "Vokal+Plosiv+Vokal" wesentlich häufiger, so daß ein "Ziehharmonikaeffekt" ausbleibt. Diese phonotaktischen Unterschiede zwischen dem Schwed. und Dän. bedeuten, daß Abb. 4/11 revidiert werden muß. Während schwed. und wie vorher zwei disjunkte Aussprachen abbilden, korrespondieren dän. Abb. 4/12: Dän. tage/ta' und schwed. taga/ta 'nehmen'. Vor der Einführung von schwed. galt als stilistisch unmarkiert, da dies die einzige Verschriftung - auch der Normalform [tai] - war. Indem aber ein stilistisch neutrales zugelassen wurde, veränderte sich der Stilwert von . Da nunmehr ausschließlich die gehobene, regulär abgeleitete Aussprache ["tcuga] abbildet, gilt auch als gleichermaßen gehoben. Wie Abb. 4/12 zeigt, würde die Einführung von (ohne Apostroph) in die standarddän. Orthographie ganz andere Konsequenzen nach sich ziehen. Mit ließe sich zwar das standardsprachliche Kontinuum ['tae *-» 'tç(:)'], das eine Teilmenge von ['tae 'tçiye] ist, gut abdecken. Im Gegensatz zum Schwed. würde eine solche Vorgehensweise aber den stilistischen Wert von an das gehobene Niveau von [tçrya] nicht angleichen. Würde man =['t» 'tç(:)'] einführen, wäre nicht nur eine Verschriftung von ['tçrya], sondern auch für das ganze Teilkontinuum [Îçîç «-> Ίξίγο]. Damit fiele eine unmarkierte Aussprache von (d.h. ['tç(i)']) mit einer nur leicht gehobenen Aussprache von (d.h. ['tç:ç]) fast zusammen. Das orthographisch unerwünschte Ergebnis wären zwei unterschiedliche Verschriftungen für zwei beinahe identische phonetische Stilniveaus. Durch die Einführung von ließe sich dän. daher nicht derart eindeutig wie bei schwed. zu einer gehobenen Schriftform umdeuten. Die heutige Regelung mit einer apostrophierten Substandardschreibung löst diesen Konflikt im Dän. elegant: wird als standardsprachliche Form für das ganze phonetische Kontinuum verwendet, während 'ha:'(B)]*['hç:o =['ha:r - 'harver] in Abb. 4/14 zeigt, ist es genau diese Trennung der dän. Artikulationsbereiche, die für das orthographische Verfahren entscheidend ist - und nicht die kontinuierliche Ausdehnung der Artikulationsbereiche selbst; vgl. Abb. 4/14 mit Abb. 4/12. standard

gehoben

schwed.

I 1 [tar]

I 1 ['harver]

dän.



substandard

"

['ha-— 'hai'(K)] ['hçio

f Stilniveau]

— ^ 'hçivo(B)]

Abb. 4/14: Dän. har/haver und schwed. har/haver 'haben'. An. segir/sagöi 'sagt/sagte' wurden im Dän. und Schwed. irregulär gekürzt: dän. dän. =['kil3] 'kitzeln' mit schwed. kittla. Beim homographen und homphonen Wort dän. =[lkila] 'Quelle' < an. kelda ist dagegen die Schreibung etymologisch "korrekt". Die Möglichkeit, die Homographie durch eine reguläre und etymologisch "korrekte" Schreibung *=[ldl3] 'kitzeln' zu beheben, bleibt somit ungenutzt. "Falschen" Schreibungen mit liegt nicht nur eine zufällige Verwischung etymologischer Verhältnisse zugrunde, sie lassen sich teilweise auch synchron motivieren. Da in der modernen dän. Orthographie noch die Schreibregel gilt, daß keine geminierten Konsonantengrapheme wortfinal stehen dürfen, läßt sich die Aussprache des vorangehenden Vokalgraphems in z.B. =["baer] 'Billardkugel' und =['dç(:)'l] 'Tal' erst dann eindeutig bestimmen, wenn die zweisilbigen Formen bzw. bekannt sind. Das in ist somit als "zugrundeliegendes " zu werten, was die Korrespondenz =[ae] signalisiert. Dem in liegt hingegen einfaches zugrunde, woraus sich die Korrespondenz =[ç(:)] ergibt. Ähnliches gilt bei wortfinalem =[n]; so wird han 'Männchen' mit [ae] (vgl. hannen) und man 'Mähne' mit [ç(:)] (vgl. manen) gesprochen. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß die dän. GPKen =/l/ und =/n/ häufig in wortfinaler Position stehen. Dank des "falschen" Bigraphems läßt sich die Aussprache des in =['fael'] 'Fall' (< an .fall) eindeutig als [ae] ableiten. Bei einer historisch "korrekten" Schreibung * wäre die Aussprache des Vokals nicht eindeutig. Das gleiche gilt für dän. =['sœn'] 'wahr' < an. sannr. Der syn-

79 chrone Nutzen der wortfinalen Schreibungen wird auch dadurch bestätigt, daß keine umgekehrten Analogien vorkommen; d.h. wortfinales findet sich nie für adän. nd, Id. Die wortfinalen "falschen" Schreibungen mit und beseitigen somit orthographische Ambiguitäten. Im Sinne des in Kap. 4.1 vorgestellten Universalen Verschriftungsprinzips steht hier die etymologisch "korrekte" Schreibung im Konflikt zur orthographischen Eindeutigkeit. Wer eine historisch "korrekte" wortfinale Schreibung für dän. [1] und [n] einführen möchte, ohne der orthographischen Eindeutigkeit Abbruch zu tun, müßte somit - wie Karker (1976: 48-56) geminierte Konsonantengrapheme am Wortende befürworten.

4.5.2. Phonologische Restitutionen 4.5.2.1. Isländisches flámceli Zum typologisch einfachsten Fall von schriftinduzierter Restitution gehört die sprachplanerische Beseitigung von isl. flámceli, wörtl. 'Falschsprache'. Bei dieser Sprechweise werden die halbgeschlossenen palatalen Vokale [κ] und [YI] des réttmœli 'Richtigsprache' gesenkt, so daß sie mit [ει] bzw. [OE:] zusammenfallen. Da [N] und [YI] keine velare Entsprechung haben, reduziert sich das vierstufige isl. Vokalsystem dadurch auf ein dreistufiges. Da ein vierstufiges System bei nur acht monophthongischen Vokalphonemen sehr ungewöhnlich ist, hat dieser Wandel als relativ "natürlich" zu gelten. Hinzu kommt, daß die phonologischen Oppositionen l\l-leJ und /Y/-/CE/ funktional wenig belastet sind (vgl. Benediktsson 1961; Arnbjornsdóttir 1987; Küspert 1988: 187-191). Senkungen dieser Art sind zudem sehr häufig in den festlandskand. Sprachen; vgl. aschwed. vita > neuschwed. =[ v ve:ta] 'wissen', adän. fyr > neudän. =['fœ'ç] 'bevor'. Durch flámceli entstehen im Isl. heterographe Homophone. So wird nicht nur 'Wetter', sondern auch 'Holz' bei flámceli als ['veiÖYr] gesprochen. Entsprechendes gilt für < s ö g u m > = [ ' s o e i Y Y m ] 'Sagas, Dat.Pl.' und < s u g u m > = [ ' s Y i Y Y m > ' β ο κ γ γ π ι ] '(wir) sogen'. Das Ergebnis sind l-»2-PGKen, die zu Schreibschwierigkeiten führen: /ε/—»{, } bzw. /ce/->{, }. Demnach bildet * 'Holz' (statt korrekt ) die flámceli-Aussprache *['ve¡0Yr] regulär ab. Das flámceli stieß in Island auf massiven sprachplanerischen Widerstand, wurde rückgängig gemacht und gehört heute mehr oder weniger der Vergangenheit an. Diese bewußt gelenkte Restitution konnte vor allem durch den schulischen Unterricht erfolgen. Da der isl. Orthographie weitgehend ein 1:1-Prinzip zugrunde liegt, lassen sich /e/-*{, } bzw. /ce/->{, } zu "destruktiven" Irregularitäten ideologisieren, die es durch eine Restitution zu beseitigen gilt. Charakteristisch für diese Restitution ist außerdem, daß sie zu einer Zeit erfolgte, als die alte Aussprache mit nicht-gesenkten Vokalen noch vielfach zu hören war. Das Verhältnis zwischen flâmœli, restituiertem flámceli und unversehrtem réttmœli läßt sich schematisch darstellen (die folgenden Bilder sind von unten links den Pfeilen folgend zu lesen).

80 flâmœli =!eP

r

=/e/ =/œ/

vo m Einfluß unerreicht



flâmœli

CQ

réttmœli (

=/ΙΛ

=/e/ =/Y/

" Senkunj

S

\

réttmœli

^

[Zeit]^ Abb. 4/17a: Restitution von isl.flâmœli.

[Zeit] Abb. 4/17b: Restitution von isi.flámcelisamt Hyperkorrekteren. Die Restitution des flámceli kann wegen der ususregulierten l-»2-PGKen auch zu hyperkorrekten Aussprachen führen, etwa wenn bei den Bemühungen um réttmœli auch ursprünglich halbgeschlossene Laute gehoben werden. Die falsch restituierte Aussprache *[VBÖYT] 'Wetter' (statt korrekt [ V E I Ö Y R ] ) wäre ein Beispiel für eine solche phonologische Hyperkorrektur (vgl. Rögnvaldsson 1990: 67f.). Sollte sich diese auch auf die Schreibung auswirken, entstünde mit der zwar regulären, aber falschen Schreibung * 'Wetter' (korrekt: ) eine graphemische Hyperkorrektur. Entsprechend der 2-»l-PGK /i/-»{, } wäre * 'Wetter' ebenfalls als Hyperkorrektur denkbar; vgl. =[ΐι:τ > "beir] 'Fahrwind'. Doch sind Fehlschreibungen vom Typ * weniger wahrscheinlich als solche vom Typ *, da im Isl. seltener als ist. Bei *=*['βγιγγπι] 'Sagas, Dat.Pl.' (statt korrekt =['sceiYYm]) ist keine Ambivalenz der graphemischen Hyperkorrektur möglich, da sich /Y/ regulär nur durch schreiben läßt. Hyperkorrekte Aussprache und Schreibung sind übergeneralisierte Restitutionen, wobei die graphemische Hyperkorrektur eine entsprechende phonologische voraussetzt. In Abb. 4/17b sind diese Nebenwirkungen der Restitution als eine gepunktete Linie im orthographischen Spannungsfeld zwischen^- und réttmœli gekennzeichnet.

81 4.5.2.2. Schwedisch =[iö] Als sich das Standardschwed. im 16. und 17. Jh. herausbildete, kam es auch zu Restitutionen. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung von aschwed [rö]. Diese Verbindung wurde früh in fast dem ganzen schwed. Sprachgebiet zu einem kakuminalen Lateral [{] assimiliert (vgl. die Karte in Bergman 21988: 223). Dieser Laut wird gebildet, indem die Zungenspitze von einem Punkt weit hinten am harten Gaumen mit einem hörbaren Schlag schnell nach vorne zu den unteren Schneidezähne bewegt wird. Den Wandel [rö] > [t] belegen graphemisch regularisierte Schreibungen wie 'Wort' < aschwed. orp (Vokal vor rp wurde gelängt). Das schwed. Schriftbild blieb aber vielfach konservativ oder verwendete bewußt etymologisierend das Bigraphem für [j]. Nur um gesprochene Sprache explizit zu wiedergeben, steht statt dessen . Indem die Geltungsbereiche von =/d/ und =/r/ auf den graphotaktischen Kontext erweitert wurden, entstand [rd] zunächst als Leseaussprache. Diese wurde nicht nur in gehobenen Textsorten wie der Predigt verwendet, sondern galt auch bei der schulischen Erlernung der Schrift(aus)sprache als vorbildlich. Das Bigraphem ließ sich zudem besser durch eben eine solche Leseaussprache [rd] motivieren. Während das gedruckte Wort und die korrespondierende schriftnahe Aussprache an Prestige gewannen, wurde die mundartliche Artikulation mit [t] abgewertet. Indem die Mundarten mit assimiliertem [rö > t] zurückgingen, konnte sich allmählich ein [rd] auch in schriftungebundener Rede etablieren. Die Entwicklung [rö > t > rd] ist somit für einen Lautwandel beispielhaft, der nicht nur mündlich verlief, sondern auch von graphemischen Strukturen abhing. Außerdem ist [rö > t > rd] keine vollständige Restitution, da aschwed. [ö] eine andere Artikulationsart als [d] hat. Lediglich die apiko-dentale Artikulationsstelle wurde restituiert. Die plosive Artikulationsart bei [d] in [rd] entstand, indem der Geltungsbereich von =/d/ auf die Graphemverbindung ahistorisch erweitert wurde. Die Aussprache [rd] ist das Ergebnis einer Restitution, wie sie bereits in Abb. 4/16c beschrieben wurde; vgl. Abb. 4/18. [rö] [r] samt Aitikulationsdes zweiten Konsonanten

SIÊIIÊ

=[rd] fr S /V # Artikulationsalt des zweiten Konsonanten

[t] Abb. 4/18: Restitution durch ahistorische Erweiterung des Geltungsbereichs von =/r/ und =/dJ auf die Graphemverbindung .

82 Die heutige Aussprache von schwed. =['u:cJJ 'Wort' geht auf eine erst im Neuschwed. eingetretene Assimilation [rd > 4] zurück, die im wesentlichen auf die Standardlautung beschränkt ist (aschwed. [rö] wurde mundartlich zu [t]). In einigen Fällen ließ sich [rö > t] in der Standardsprache jedoch nicht restituieren, da sich hier eine lautgerechte Schreibung mit durchsetzte (vgl. Wessén 1970, Bd. I: § 164): neuschwed. aschwed. ifjol 'letztes Jahr' stel 'steif svâl 'Schwarte' vâlnad 'Gespenst' storvulen 'übertrieben großartig' utböling 'Fremder, pejorat.' hin häle 'der Teufel'

< ifiordh < stirdher < svardher < varpnaper < stor vurdhin 'groß geworden' (aber gehobenes neuschwed. vorden 'geworden') < *utbyrpinger (aber neuschwed. börd 'Geburt, Herkunft') < hin hardhe 'der Harte' (aber neuschwed. härd 'hart')

In den dän. Mundarten (einschließlich deijenigen östlich des Öresunds) erfolgte keine Assimilation [rö > tl; vielmehr schwand hier der Frikativ: [rö > r]. Orthographisch findet sich in vielen Fällen jedoch ein etymologisierendes stummes ; vgl. dän. =['go'] 'Hof, =['jo'a] 'Erde'. Ebenso kommen Schreibungen ohne stummes vor wie z.B. =[i 'fjo'a] 'letztes Jahr' (homophon mit fjord 'Fjord'; vgl. schwed. ifjol bzw. fjord) und =['sve'ç] 'Schwarte' (homophon mit svœrd 'Schwert').

4.5.3. Morphophonemische Restitutionen 4.5.3.1. Schwedische Pluralendungen -or/-er Die aschwed. Pl.-Endungen der δη- und i-Stämme (-ur/-or bzw. -ir) zeichnen sich aufgrund ihrer graphemischen und phonologischen Entwicklung seit dem 16. Jh. durch einige orthographische Besonderheiten aus (zum sprachhistorischen Material vgl. Wessén 1970, Bd. I: §§ 45f., 159-161, 181; Bergman 2 1988: 42, 87, 91,109). Die schwed. Standardschreibung geht weitgehend auf einen im 15. und 16. Jh. erfolgten Ausgleich der Schreibdialekte in der Mälar- und Uppland-Region zurück, wo sich auch die wichtigen Zentren der Bildung, der Regierung und des Hofes befanden. Hier kam es im Spätmittelalter zu einer Schwächung und einem Zusammenfall von -ur/-or und -er zu -er (> [-ar]?). Eine vergleichbare Entwicklung ist im Dän. und Dt. eingetreten, zwei Sprachen, die durch die Kalmarer Union bzw. die Hanse das Schwed. erheblich beeinflußt haben. Bei den Schwachdruckvokalen ist auch die sogenannte Vokalbalance zu berücksichtigen. Aus den Endsilbenvokalen i, u entstanden bereits im Aschwed. die gesenkten Varianten e, o, wobei diese zunächst komplementär distribuiert waren: nach langer Wurzelsilbe standen e, o und nach kurzer Wurzelsilbe i, u.

83 lange Wurzelsilbe kurze Wurzelsilbe hüse 'Haus, Dat.Sg.' gupi 'Gott, Dat.Sg.' tungo 'Zunge, Gen.Dat.Akk.Sg.' gatu 'Straße, Gen.Dat.Akk.Sg.' In der spätmittelalterlichen Schriftsprache wurden und auch bei den Wörtern mit kurzer Wurzelsilbe immer öfter benutzt; ein erstes Anzeichen für den lautlichen Zusammenfall, der in der Kanzleisprache des 16. Jh. durch eine konsequente Verwendung von sichtbar wird. Von größter Bedeutung für die weitere Entwicklung der schwachtonigen Vokale ist die von König Gustav Vasa angeregte und 1540/41 erschienene Bibelübersetzung. Hierfür wurde entgegen dem lautlichen Zusammenfall bewußt ein etymologisierendes Schriftbild in Anlehnung an die mittelalterliche Schreibtradition verwendet. Dabei griff man aber auf eine Stufe zurück, bei der und auch nach kurzer Wurzelsilbe verwendet wurde. Da zu dieser Zeit -or und -er vielerorts zu -er zusammengefallen waren, erhielt das biblische Schriftbild eine Differenzierung, die der mittelschwed. Aussprache des 16. Jh. nur bedingt entsprach. Damit war eine wichtige Voraussetzung für die erst Jahrhunderte später eintretende Ausspracherestitution der Nominalflexion geschaffen. Die Schreibung der Bibel setzte sich allmählich durch und verbreitete sich im ganzen Land. Im Laufe des 18. Jh. beeinflußten die Schriftstrukturen die gepflegte Umgangssprache der Stockholmer Oberklasse zunehmend. Infolge schulischer Ausspracheübungen erfaßte diese Varietät immer mehr Sozialschichten und Textsorten. Mit dem Prestige der Leseaussprache =[e] bzw. =[o] im Schwachton war ein weiterer Schritt zu einer phonologischen Restitution getan. Am Ende dieses Prozesses, der sich im Spannungsfeld zwischen muttersprachlicher Mundart und mehr oder weniger fremdsprachlicher Standardlautung abspielte, steht das heutige Schwed. mit der restituierten Endung =[-or] wie z.B. in tungor 'Zungen'. Daneben findet sich, stilistisch etwas abgestuft, auch die ältere frühneuzeitliche Aussprache [-er], die volkstümlich oft als eine "falsche, moderne" Reduktion von [-or] angenommen wird (zu schriftinduzierten morphologischen Restitution im Isl. vgl. Ottósson 1987). In einigen wenigen nicht verdrängt: =[ vga:te-] =[- v 6ure] etili salu>=[- 'sœle]

Fällen mit kurzer Wurzelsilbe hat die Endung ursprüngliches 'Imbißbude' 'aus Fichte' 'zum Verkauf

vgl. =[ v gaita - "gartor] 'Straße: Sg. - PL' vgl. =[ v &ura - "ftiiror] 'Fichte: Sg. - PL'

Der Vergleich von =[ vΫTO] mit =[ v furar] zeigt eine Aussprachedifferenzierung, die rein lautgesetzlich nicht zu erklären ist. Sie läßt sich nur über eine divergent verlaufene graphemische Restitution, die sich auf die phonologische Struktur durch eine Leseaussprache ausgewirkt hat, nachvollziehen. Die orthographische Koppelung von mit den Schwachdruckvokalen [ο, θ] bedarf daher einer eingehenderen Analyse. Während die Restitution bei =[t > rd] durch eine Übertragung der regulären GPKen =/r/ und =/d/ auf die Graphemverbindung erfolgte, war dies bei nicht möglich; die Schwachdruckvokale u, o, e waren weitgehend zu [e] zusammengefallen, so daß sich für restituiertes kein anderer Schwachdruckvokal anbot. Um bei einer Leseaussprache die graphemische Differenzierung auch auf die gesprochenen Schwachdruckvokale übertragen zu können, mußte auf die regulären GPKen der Hauptdruck vokale zurückgegriffen werden. Dieser

84 Vorgang steht in enger Verbindung mit zwei Lautwandelphänomen: der schwed./norw. Vokalverschiebung und dem quantitativen Ausgleich der Wurzelsilbenstruktur. Aschwed. δ hatte schon zu Beginn des 15. Jh. seine geschlossene Aussprache [u:] bekommen, so daß das Graphem nunmehr den Buchstabennamen "[u:]" bekam und bei phonetischer Länge auch diesen Vokal verschriftete; vgl. aschwed. sät > neuschwed. =['surt] 'Ruß'. Da aber für einen Schwachdruckvokal nur eine Kürze in Frage kommt, setzte sich für in Schwachdrucksilben die kurze Entsprechung zu [us], nämlich [o], durch (vgl. aschwed. bondi > [-u:-] > neuschwed. =[ v bonde] 'Bauer' und Bergman 21988: 109). Bei der heutigen Endung =[-e] konnte dagegen direkt auf haupttoniges =[e] (< aschwed. u) zurückgegriffen werden. Daß bei der Leseaussprache von Vokalgraphemen in Schwachdruckposition auf Hauptdruckvokale zurückgegriffen wurde, zeigt die Aussprache von -or in Mundarten, die von der Abschwächung der Endsilbenvokale nicht betroffen waren. Im Finnlandschwed. wird noch heute gator mit [o] gesprochen (d.h. nur mit Ausgleich der Vokalbalance). Anders als im Standardschwed. wäre hierfür eine hypothetische Schreibung denkbar. Man vergleiche hiermit die lautgesetzlich reguläre Aussprache von lingon 'Preiselbeere' mit [o]. Das standardschwed. Inventar an Schwachdruckvokalen enthält demnach eine Besonderheit: In Schwachdruckstellung wird das Graphem diachron gesehen mit dem Hauptdruckvokal [o] ausgesprochen. Da keine Vokalverschiebung in Schwachdruckstellung eingetreten ist, handelt es sich bei [Q] um keine lautgesetzlich "korrekte" Restitution von aschwed. [o]. Die Korrespondenz =[oa] in z.B. tungor erweckt somit den etymologisch falschen Eindruck, daß die Vokalverschiebung auch bei den Schwachdruckvokalen eingetreten wäre. Anhand der restituierten Oppositionen , , wurde somit lediglich die Tatsache dreier phonologischer Oppositionen im Inventar der Schwachdruckvokale, jedoch nicht die Vokalqualität selbst restituiert. Damit ist ein zweiter Fall entsprechend Abb. 4/16c gegeben. Nur wenn die schriftinduzierte Restitution vor der Vokalverschiebung stattgefunden hätte, wäre auch eine vollständige phonetische Restitution eingetreten; d.h. die Schwächung [o > e/a] hätte sich über die graphemische Restitution von =[e/a] zu =[o] rückentwickelt. Die Übertragung der Hauptdruckkorrespondenz =[e>] auf die Schwachdruckvokale hat sogar bewirkt, daß ein noch älterer Lautstand "restituiert" wurde, als der, der im 16. Jh. intendiert worden war: Die Vokalqualität von [ω] in der neuschwed. Schwachdruckkorrespondenz =[G>] ist fast identisch mit dem frühaschwed. Schwachtonvokal u. Dieser Umstand geht auf eine Interferenz lautlicher mit schriftlicher Strukturveränderungen zurück. Zuerst wirkten die spätaschwed. Vokalverschiebung [o: > w] und die darauf folgende Silbenbalance [u: > ω]. In einem zweiten Schritt wurde die so entstandene Korrespondenz =[o] aus dem Hauptdruck- ins Schwachdruckinventar übertragen. Deswegen korrespondiert heute in Schwachdrucksilbe mit einem Vokal, der eher mit einem frühaschwed Lautstand vor der Senkung u > o (Vokalbalance) übereinstimmt: aschwed. -ur ~ neuschwed. [-or]. Die restituierte Schreibung von bei Schwachdruckvokalen führt somit zur Restitution eines Lautstands, der älter ist als der in der mittelalterlichen Schreibung durch das Graphem abgebildete. Abb. 4/19 gibt den gerade beschriebenen Prozeß - samt einigen Hyperkorrekturen - wieder.

85 Finnlandschwed. Hauptt.: =[ui]/[o] mài] Schwächt.: >=[o]J

Vokalverschiebung Silbenbalance

Mundarten

)

Hauptt.: =[oi] Schwächt.: =[e/a]|

Hauptt.: =[o:] Schwächt.: =[e/a]

Íli5

Spätaschwed.

=[o:j] Hauptt.: Schwächt.

Schwachtonsilben· Schwächung mit • neuer Schreibung [Zeit]

Abb. 4/19: Entstehung von standardschwed. =[-or]. Wie Abb. 4/19 zu entnehmen ist, wurden einige Wörter mit ursprünglicher Pl.-Endung -or nicht restituiert, vielmehr weisen sie entsprechend des Zusammenfalls [o, e] > [e] noch heute die frühneuzeitliche Endung -er auf; so z.B. neuschwed. =[Taeij/vfceijer] (vgl. den aschwed. on-Stamm fœrgha/fcerghor). Obwohl bis ins 19. Jh. hinein auch hier graphemisch restituierte/konservative Pl.-Formen wie fdrgor existierten, setzte sich keine phonologische Restitution durch. Vielmehr lag die Aussprache mit [o > e] der heutigen Schreibung mit zugrunde. Der endungslose Sg. ist in Analogie zu den femininen i-Stämmen entstanden; vgl. fœrp/fœrper 'Fahrt'. Zu dieser Gruppe nicht restituierter Wörter mit Akzent Π im PI. zählt auch neuschwed. gräns/gränser, das früh aus nd. grensze entlehnt und zunächst phonisch und morphologisch als gränsa/gränsor integriert wurde, bevor sich die heutige Form durchsetzen konnte. Umgekehrt fanden einige graphemische und folglich auch phonologische Hyperkorrekturen Eingang in die moderne Standardsprache wie beispielsweise der neuschwed. Pl. =[vsbom©r] 'Spähne' (vgl. den aschwed. «-Stamm spän/späner). Analog zu neuschwed. kula/kulor 'Kugel: Sg./Pl.' wurde hierfür ein neuer, synchron regulärer Sg. auf -a geschaffen:

86 =[ "sboina] 'Span'. Der alte endungslose Sg. spân ist als Neutrum (!) vor allem noch in Wortbildungen wie z.B. hyvelspän 'Hobelspäne' erhalten. Die oben diskutierte Vokalbalance wirkte auch im palatalen Zweig. Wie bei den aschwed. Schwachdruckallophonen u und o waren ebenfalls i und e nach der Länge der vorangehenden Wurzelsilbe zunächst komplementär distribuiert. Daraufhin fielen i und e stets zugunsten von e zusammen, was auch der heutigen Standardlautung entspricht; vgl. aschwed. synir (kurze Wurzelsilbe), gcestir (lange Wurzelsilbe) > neuschwed. =[ v s0aier, v jesder] 'Söhne, Gäste'. In einem Bereich ist das i jedoch erhalten geblieben. Bei den Supinum- und Prät.Part.-Formen der starken Verben wechseln bis in die Neuzeit Formen mit und ohne i wie z.B. burit/buret bzw. burin/buren 'getragen' (vgl. Platzack 1981). Erst Anfang des 19. Jh. setzte sich die moderne Verteilung burit bzw. buren in der normierten Schreibung durch. Die heutige Distribution von [i] und [e] in der Standardlautung ist somit schriftinduziert. Nur in wenigen anderen Fällen wie gárdfarihandlare 'Hausierer' hat sich das i mit vermutlich restituierter Aussprache erhalten. In der Bibel von 1540/41 wurde die Dat.Sg.-Endung der kurzsilbigen Wurzeln in Übereinstimmung mit der Aussprache konsequent zugunsten von ersetzt. Nur bei gupi '(dem) Gott' blieb die Schreibung mit stehen - schon damals wohl entgegen der primären Mündlichkeit. Diese Singularität hat bis heute in der festen (sehr gehobenen) Wendung Gudi behaglig 'Gott wohlgefällig' überlebt.

4.5.3.2. Norwegische (Nynorsk) Endsilbenvokale Durch eine graphemische Restitution gelang es den schwed. Bibelübersetzern des 16. Jh., die Standardlautung der Endsilbenvokale entscheidend zu lenken. Ähnliches versuchte auch der Norweger Ivar Aasen (*1853/1985) mit seinen Pr0ver afLandsmaalet i Norge8. Jedoch folgte auf restituierte graphemische Differenzierungen wie nyn. 'Lied - Lieder' keine Ausspracherestitution der vielerorts zusammengefallenen Endsilbenvokale. Einer der Hauptgründe hierfür ist, daß sich mit dem neu geschaffenen nyn. Schriftbild keine normalisierte Standardaussprache durchsetzen konnte (als "Schreibtischprodukt" existiert eine solche jedoch; vgl. Beito 1986: §§ 9-19). Während im Schwed. die auf aschwed. -or zurückgehenden, geschwächten Endungen in fdrger/regler Ausnahmen blieben, mußte im Nyn. doch eine konsequente Schreibung entsprechend dem Zusammenfall der Endsilbenvokale eingeführt werden wie . Lediglich für die Verschriftung konservativer Mundarten, in denen die Endsilbenvokale ohnehin nicht zusammenfielen, werden noch Cvisa - visor> als graphemische Nebenformen in den Wörterbüchern aufgeführt

8

Dt.: Beispiele für die Landessprache/Sprache auf dem Lande in Norwegen.

87 4.5.3.3. Färöische Endsilbenvokale Eine Restitution, die an die von schwed. -or erinnert, vollzieht sich heute im Fär. Während die afär. Endsilbenvokale i und u in den meisten Mundarten wortauslautend zu [e] zusammengefallen sind, traten bei den Endungen -ir/-ur kompliziertere, mundartlich unterschiedliche Neuerungen auf. Nur in Teilen von Eysturoy blieb die afár. Distribution von -ir/-ur erhalten. In einigen Mundarten fielen -ir/-ur zu [-u] (Noröuroyar, Süd-Streymoy), in anderen zu [-ui] (Suöuroy) zusammen. Darüber hinaus sind in einigen Mundarten -ir/-ur nach grammatischen Kategorien distribuiert. So wird nördlich von Suöuroy [-u] oft als Pl.-Endung bei femininen Substantiven ohne Umlaut verwendet wie z.B. =['komu] 'Frauen, Nom.Pl.' (Bsp. von Fuglafj0röur/Eysturoy). Diese mundartliche Differenzierung löst sich aber seit einiger Zeit auf. Eine der wichtigsten Ursachen hierfür ist die Ende des 19. und im 20. Jh. eingeführte Orthographie. Ihre stark etymologisierende Schreibung bildet nämlich die in den Mundarten kaum mehr vorhandene afär. Distribution von -ir/-ur ab. Da aber viele großen Wert darauf legen, "richtiges" Fär. nicht nur zu schreiben, sondern auch zu sprechen, wirken sich graphemische Distinktionen auf die Lautung restituierend aus. Die in vielen Mundarten sprachhistorisch korrekte Aussprache von konur als ['koinu] ergibt im Vergleich mit der Schreibung eine irreguläre Endsilben-GPK =/i/. Dieser Umstand führt vielfach zu einer schriftinduzierten Restitution [Tcoinui]. Neben den unrestituierten (und stilistisch minderwertigen) Fortsetzungen von afär. -ir/-ur stehen deshalb auch komplizierte Strukturen mit Teilrestitutionen und Hyperkorrekturen. Statt [Teau] 'Fahrten, Nom.Pl.', das mundartlich genuin und ebenso mit der Standardschreibung im Einklang ist, entsteht gelegentlich die hyperkorrekte Aussprache ['feuuj], die auch zu einer graphemischen Hyperkorrekte * führen kann (vgl. Hagström 1967: 164-171; 1989: 447-449).

4.5.3.4. Der bestimmte Artikel vom Typ schwedisch häst-ar-na Schon die frühesten Belege für den enklitischen bestimmten Artikel weisen phonologische Reduktionen auf. So entsteht aus runenschwed. hcest-aR-niR 'die Pferde' durch Schwund des inlautenden R (< germ, ζ) frühneuschwed. hœstani(r) (vgl. Wessén 1970, Bd. I: §§ 30, 111.2). In der unbestimmten Form setzte sich indes auslautendes R als r fort: hcestar 'Pferde' Dem entspricht auch die heutige Flexion in bokm. hester/hestene und nyn. hestar/hestane. Das Schwed. des 16. Jh. flektiert genau so (vgl. Wessén 1970, Bd. I: § 178): Indef. Def. Sg. hcest-0-0 hasî-0-en PI. hcest-ar-0 hast-ane/ana (< NomVAkk.) Durch eine Gegenüberstellung z.B. der beiden Sg.-Formen kann der Wortstamm hast- synchron ermittelt werden. So läßt sich auch die Numerusopposition bei Indefinitheit durch 0/-ar und die Definitheitsopposition des Sg. durch 0/-en ausdrücken. Die Pl.Def.-Endung -ane läßt sich jedoch nicht, entsprechend dieser morphologischen Struktur als {Pl.}+{Def.} segmentieren. Die Pl.Def.Endung -ane (Φ-ar-en) ist ein Portmanteau-Morphem Im heutigen Standardschwed. ist hingegen

88 eine Segementierung der Pl.Def.-Endung denkbar, so daß sich der Plural (zumindest graphemisch und in der phonologisch zugrundeliegenden Form) agglutinierend verhält: Indef. Def. Sg. häst-0-0 häst-0-en PI. häst-ar-0 häst-ar-na [ > -ai^a] Die heutige Flexion häst-ar-na hält Haugen (1984: 375) für eine phonologische Restitution. Strukturell stimmt häst-ar-na zwar mit runenschwed. hcest-aR-niR gut überein, doch war diese Ähnlichkeit nicht intendiert, als sich die Endung -ama Ende des 16. und Anfang des 17. Jh. herausbildete. Vielmehr handelt es sich hier um eine synchrone Analogiebildung, die nur zufällig zu einem mit dem Runenschwed. vergleichbaren Ergebnis geführt hat. Ein in der Pl.Def.-Form analogisch eingeführtes r findet man in Uppland-Mundarten des 16. Jh. Allerdings steht hier das r immer wortauslautend, wie z.B. hast-anar/aner. Inlautendes r, das eine Segmentierung der Pl.Def.-Endung als {Pl.}+{Def.} ermöglicht, entstand hingegen zunächst im Geschriebenen (vgl. Wessén 1970, Bd. I: § 178 samt dem Zitat von Hesselman in Fußnote 3). Folgende Empfehlung aus Samuel Columbus' En swensk ordeskötseP aus den 1670er Jahren bringt diesen Zustand mit graphemischer Agglutination und phonetischer Flexion [-ane] auf den Punkt: "skrijf Hästame, drängiarne, säg. drängiane, Hästane", d.h. 'Schreibe (die neuen Formen) , sage (die alten Formen) ['dreq(g)-iane, 'hesd-ane]' (Columbus 1963: 79, Zeile 17).

Die neue, zunächst rein schriftliche Form setzte sich bald durch und war bereits in der Bibel Karls ΧΠ. (1703) konsequent durchgeführt worden (dies war eine der wichtigsten Veränderungen gegenüber der Bibel von 1541). Damit war die Voraussetzung für eine schriftindu9

Dt.: Eine schwedische Wortpflege.

89 zierte Restitution gegeben, bei der die morphologische Struktur von ( schied allmählich aus) in das mündliche Medium übertragen wurde. In den Mundarten mit inlautendem RSchwund blieb dagegen die ältere Form -ane - sofern sie nicht dem Druck der gesprochenen Schriftsprache wich - erhalten. Diese Entwicklung führte somit nur zu einer indirekten "Restitution" des Runenschwed., da ihr kein etymologiserender Einfluß, sondern ein graphemischer Paradigmenausgleich des Frühneuschwed. zugrunde liegt; vgl. Abb. 4/20.

4.5.4. Typologie der Restitution Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, daß eine prototypische, schriftinduzierte Restitution von vier Bedingungen abhängt: (i) Diachrone Identität. Die graphemischen Strukturen der Schreibung müssen eine Vorstufe genau der Sprache abbilden, welcher der schriftinduzierte Wandel ausgesetzt ist. Bei der Restitution von isl. flámceli ist die diachrone Identität bewahrt, da sich der Wandel in einem Spannungsfeld zwischen der Standardlautung und den Anfängen einer regionalen Ausdifferenzierung dieser Standardlautung bewegt. Bei der sprachlichen Svezisierung der ostdän. Provinzen im 17. und 18. Jh. gilt dies hingegen nicht. Die hier eingeführte Standardsprache basierte auf mittelschwed. Mundarten, während die Bevölkerung ostdän. Mundarten sprach. (ii) Historizität der Sprachwandelumkehrung. Schriftinduzierte Analogiebildungen stellen synchrone, jedoch nicht zwingend restituierende Prozesse dar. Bei prototypischer Restitution wird der Sprachwandel ohne Abwandlungen oder Zusätze vollständig rückgängig gemacht. Der Grad an Historizität der Sprachwandelumkehrung wird somit durch das Verhältnis zwischen dem senkrechten und dem waagerechten Pfeil in Abb. 4/16c ermittelt. (iii) Konzeptionelle Mündlichkeit. Die schriftinduzierte Analogiebildung darf am Ende nichts mehr an konzeptioneller Schriftlichkeit aufweisen, sondern soll auch in schriftungebundener Rede (z.B. in der Umgangssprache) geläufig sein. Allgemein treten solche Analogien anfangs immer in Form einer stark schriftgebundenen Mündlichkeit auf. Erst allmählich erhält die so entstandene Aussprache zunehmend primär-mündlichen Charakter. (iv) Etymologisierende Echtheit. Eine prototypische Restitution muß etymologisierend sein, d.h. Übereinstimmungen mit älteren Sprachstrukturen dürfen nicht zufällig durch rein synchrone Analogisierungsprozesse entstehen. Die Restitution von isl .flámceli führt zu einer hochgradig etymologisierenden Echtheit, während die strukturelle Gleichheit der schwed. Pl.Def.Endung -ar-na mit runenschwed. -aR-niR eher zufällig entstand.

4.5.5. Theoretischer Stellenwert von Graphem-Phonem-Korrespondenzen 4.5.5.1. Standardschreibung, Standardlautung und Restitution Standardschreibungen gehen oft auf einen Ausgleich verschiedener Schreibdialekte zurück. Dabei bilden sich graphemische und graphotaktische Strukturen heraus, die nur teilweise aus der Phonemik und Phonotaktik der entsprechenden Mundarten ableitbar und somit als schriftautonom an-

90 zusehen sind (vgl. Besch 1983; Raible 1991a; 1991b). Derartige Schriftstandards sind in der Regel weit verbreitet und überlagern somit mehrere Mundarten. Allerdings ist das Schriftbild zunächst nicht immer mit einer standardisierten Lautung verbunden, so daß man beim Vorlesen auf die eigene Mundart (oder eine ihr nahestehende Ausdrucksform) zurückgreifen muß. In gewisser Hinsicht ist damit eine Sonderform von Diglossie gegeben, bei der die unverschrifteten Mundarten zunächst einem eher fremdsprachlichen Schriftbild ohne Standardlautung gegenüberstehen. Durch den schulischen "Muttersprachenuntenicht" wird dann oft eine Aussprache geübt, bei der graphemische und graphotaktische Strukturen auf der Grundlage der eigenen Mundart lautlich umgesetzt werden. Dieses Sprechverhalten läßt sich mit den beiden Parametern Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit und Grad an Unabhängigkeit von Graphemik/Graphotaktik erfassen. Der erste Parameter stuft die Aussprache in das stilistische Spannungsfeld zwischen "Sprache der Nähe" und "Sprache der Distanz" ein (vgl. Abb. 2/1 in Kap. 2.4), während der zweite Parameter angibt, wie stark man auf Schriftstrukturen zurückgreifen muß, um ein bestimmtes Stilniveau einzuhalten. Je nach Aussprachebeherrschung ist ein gleich hoher Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit durch unterschiedliche Grade an Unabhängigkeit von der Graphemik/Graphotaktik zu erreichen. Z.B. gibt es Leute, die eine gepflegte Standardlautung souverän beherrschen, während andere dazu nur unter starkem Bezug auf die graphemischen Strukturen fähig sind. Die beiden Parameter sind somit voneinander unabhängig. Vor allem die Anfänge der schwed. und dän. Standardlautung sind durch eine Aussprache charakterisiert, die in hohem Maße konzeptionell schriftlich ist und stark von der Graphemik/Graphotaktik abhängt (vgl. (c) unten in Abb. 4/21). Bereits bei etwas mehr Unabhängigkeit von den Schriftstrukturen machen sich in der Regel mundartliche/umgangssprachliche Interferenzen stark bemerkbar. Das entspricht einer Bewegung von (c) nach (b) auf der unteren Sprachbeherrschungskurve (1) in Abb. 4/21. Weil selbst eine geringfügige Loslösung von der Graphemik/Graphotaktik zu einer großen Abweichung von der gehobenen Standardlautung führt, repräsentiert die Sprachbeherrschungskurve (1) eine schlechte Beherrschung der Standardlautung. Zu diesem Modell vgl. Lindqvist 1997: 199f.

J

, [Grad an Unabhängigheit von Graphemik/Graphotaktik]

Leseaussprache

freies Sprech

G υ

/ A/ ^ ^ ^

^ Q

[Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit der medial mündlichen Ausdrücke]

Umgangssprache - Standardlautung - gehobene Standardlautung

""

Abb. 4/21: Drei Sprachbeherrschungskurven und ein ausspracheregularisierender Zyklus.

91 Insbesondere die schulischen Ausspracheübungen zielen oft darauf ab, daß die gehobene Standardlautung selbst unabhängig von der Graphemik/Graphotaktik beherrscht wird. In Abb. 4/21 entspricht diesem Bestreben ein Sprung von Kurve (1) auf Kurve (2). Wenn man von (c) zu (a) in Abb. 4/21 geht, bedeutet dieser Sprung, daß eine gehobene Standardlautung auch ohne starken Rückgriff auf die Schriftlichkeit beherrscht wird. Bei einer solchen Emanzipation von der Leseaussprache ist aber immer mit "Rückfällen" in eine stärker mundartlich/umgangssprachlich gefärbte Diktion zu rechnen. Sie werden durch die Verschiebung von (a) nach (b) und somit auch auf Kurve (1) mit einer geringeren Aussprachebeherrschung markiert. In (b) wird die angestrebte Standardlautung nicht erreicht. Solchen "Rückfällen" kann man gezielte textnahe Übungen der gehobenen Standardlautung entgegensetzen, was einer Rückversetzung zu Punkt (c) entspricht. Von dort aus kann man sich wieder von der Graphemik/Graphotaktik loslösen, was einer erneuten Verschiebung zu (a) auf Kurve (2) entspricht. Die Bewegung (c) —> (a) —> (b) —» (c) in Abb. 4/21 bildet somit einen ausspracheregularisierenden Zyklus. Dieser ermöglicht es, auf höher gelegene SprachbeheiTSchungskurven zu springen - und auch dort zu bleiben. Durch diesen Prozeß löst sich eine ursprüngliche Leseaussprache von ihrem schriftlichen Ursprung allmählich ab. Das Resultat ist eine mehr oder weniger regional gefärbte Variante der Standardlautung. Mit der größeren Aussprachebeherrschung geht einer größeren Unabhängigkeit von der Graphemik/Graphotaktik einher. Je höher die Sprachbeherrschungskurve in Abb. 4/21 liegt, um so weniger vermögen die schriftlichen Strukturen auf die Mündlichkeit korrektiv einzuwirken; vgl. Kurve (3). Dadurch wird ein Sprachwandel, der dem nicht-verschrifteter Sprachen ähnlich ist, immer wahrscheinlicher. Ein Beispiel hierfür ist der Lautzusammenfall bei is\. flâmœli; vgl. Kap. 4.5.2.1. Dieser Entwicklung konnte indes durch eine schriftinduzierte Analogiebildung restituierend entgegengewirkt werden. Durch Ausspracheübungen in den isl. Schulen ließen sich die graphemischen Oppositionen und auf das Gesprochene übertragen. Erst nachdem diese stark schriftinduzierte Restitution erfolgreich abgeschlossen war, konnte die Aussprache von den Schriftstrukturen wieder entkoppelt, d.h. es konnte auf eine höher gelegene Sprachbeherrschungskurve gesprungen werden. Ein zweites Beispiel ist die schriftinduzierte Entstehung der schwed. Verbindung [rd], die sich in erneuter Unabhängigkeit von den Schriftstrukturen zu [cjj entwickelte; vgl. Kap. 4.5.2.2. Der Zyklus in Abb. 4/21 vermag den Umfang einer Restitution nicht zu erfassen. So hatte sich das isl .flâmœli auf breiter Front durchgesetzt, ehe es gebremst und rückgängig gemacht werden konnte. In anderen Fällen ist die Restitution aber nicht so offensichtlich. Dabei läßt die restituierende Kraft der Schriftlichkeit den Wandel kaum zu und verhindert ihn schon in seinen Ansätzen. Die Restitution erfolgt noch bevor der Wandel sich richtig entfalten und etablieren kann. Schließlich gibt es solche "Restitutionen", die den Sprachwandel grundsätzlich unterbinden. Da sie kaum in Erscheinung treten, sind sie nur schwer zu entdecken. Die konservierende Kraft der Schriftsprache einerseits und schriftinduzierte Restitutionen andererseits sind somit nur zwei Extreme des gleichen Prinzips; vgl. Abb. 4/22a-d.

92 TS

Sprachwandel

13

•s Λ

f

I CO

1 t CO

Schritt des Sprachwandels

CO

"S 'jcea > 'jce:] (vgl. Malmberg 1971: 91). Eine Phonemanalyse auf dieser Grundlage führt zu einem anderen Ergebnis als vorhin. Die Phone [0:] und [ce:] erweisen sich jetzt als nicht mehr komplementär distribuiert, da sie beide wortauslautend vorkommen; vgl. =['joe:] mit =['fj0:] 'See'. Allerdings ergeben weder *['j0:] noch *['Çce:] sçhwed. Wörter, so daß sich keine minimale Ausdrucksopposition [0: -ce:] bilden läßt (bei niedrigfrequentem =['ljce:r] 'spröde' findet auf dieser Ebene kein [r]-Schwund statt). Die phonetische Opposition [0: -ce:] wird folglich funktional nicht beansprucht. Obwohl [0:] und [ce:] eine vergleichbare Distribution haben, lassen sie sich nicht eindeutig zwei verschiedenen Phonemen zuordnen. Bei noch mehr Unabhängigkeit von der Graphemik/Graphotaktik sieht die Situation wiederum anders aus. Erst hier ist auch der "unverfälschte" Gegenstand phonologischer Betrachtungen gegeben, nämlich völlig schriftunabhängige Mündlichkeit. Dabei erweist sich der Schwund eines postvokalischen [r] im Auslaut als relativ häufig. Er erfaßt nicht nur =['jce:r > 'joe:], sondern auch =['hoea· > 'hoe:] 'hör-, Präs.Ind./Imp.'. Ein Vergleich mit dem Wort =['h0:] 'Heu' ermöglicht sogar die Bildung des Minimalpaares ['hoe: - 'h0:]. Damit treten [0:] und [oe:] nicht nur im gleichen phonotaktischen Kontext auf, sondern werden auch funktional-kommunikativ für eine minimale Ausdrucksopposition genutzt; die beiden Phone sind eindeutig zwei verschiedenen Phonemen zuzuordnen. Das stumme =0 impliziert somit eine systematische l-»2-GPK ->{/[0:]/, /[ce:]/}, die mit keiner strukturellen Biautonomie behaftet ist. Eine Artikulation von hör mit eindeutigem [r] gehört oft einer Stilschicht an, bei der sich die Schreibung mit auf die Lautung auswirkt. Gemessen an der unmarkierten Standardlautung kommt diese Aussprache einer übergeneralisierten Verwendung von =/r/ gleich; der Geltungsbereich von =/r/ umfaßt nämlich nicht den graphemischen Kontext "wortfinal nach Vokalgraphem bei hochfrequenten Wörtern". Eine Lautanalyse, die [0:] und [ce:] dem gleichen Phonem zuordnet, erweist sich somit als schriftabhängig. Diese drei Analysen des gleichen Sprachmaterials bei unterschiedlich viel Unabhängigkeit von der Graphemik/Graphotaktik bestätigen Hansens (1991: 102f.) Beobachtung, daß eine abnehmende Schriftabhängigkeit der phonologischen Strukturen mit immer größer werdenden Abweichungen vom orthographischen 1«->1-Prinzip korreliert; vgl. Abb. 4/23.

10

Hier wird von seltenen Fällen wie =['mce!r - 'm0ir] 'mürbe - Jungfern' abgesehen; vgl. Kap. 2.5.1.

95 A

[Grad an Unabhängigkeit von Graphemik/Graphotaktik]

o-

Umgangssprache -

Standardlautung - gehobene Standardlautung

Abb. 4/23: GPK-Strukturen in Relation zur Unabhängigkeit von Graphemik/Graphotaktik. Die in Abb. 4/23 erfaßte Entwicklung wirkt sich auch auf die prinzipielle Beurteilung von phonologischen Untersuchungen verschrifteter Standardsprachen aus. Es ist damit zu rechnen, daß die phonologischen Strukturen von den graphemischen stets abhängen - wenngleich in den entsprechenden Untersuchungen kein einziges Mal die schriftinduzierten Interferenzen explizit erwähnt sind (so werden schwed. [0:] und [ce:] traditionellerweise dem gleichen Phonem zugeordnet, ohne daß die Rolle der korrespondierenden Graphotaktik erwähnt wird). Dabei wird deutlich: Die Praxis, gepflegte Standardlautung Schriftsprache zu nennen, verfehlt zwar das Medium, doch erweist sie sich mit Blick auf den Einfluß, den die Graphemik/Graphotaktik auf die Phonologie ausübt, als sehr treffend. Gerade wegen dieses Einflusses unterscheiden sich viele Standardlautungen von unverschrifteten Sprachen. Wäre die phonologische Struktur einer Standardlautung von der graphemischen völlig unabhängig, hätte man es auch nicht mit einem medial mündlichen Korrelat einer Standardschreibung zu tun. Entsprechend unangebracht wäre es, GPKen aufzustellen. Das theoretische Konzept der GPK ist somit paradoxerweise nur dann sinnvoll, wenn es bis zu einem bestimmten Grad durch strukturelle Tautologie gekennzeichnet ist. Damit ist eine der grundlegendsten Eigenschaften alphabetisch organisierter Orthographien angesprochen: - Wo orthographische GPKen besonders relevant erscheinen (gepflegte Standardaussprache), sind sie hochgradig strukturtautologisch. - Wo aber die Mündlichkeit keine Spuren von graphemischen/graphotaktischen Strukturen aufweist, sind die GPKen zwar hochgradig biautonom, doch erfassen sie nicht das Verhältnis zweier nur medial unterschiedlicher Existenzformen der selben Sprache zueinander.

96 Die Kurve in Abb 4/24 veranschaulicht diese orthographische Unschärferelation (vgl. auch Abb. 4/21 und 4/23). ι [Grad an Unabhängigkeit von Graphemik/Graphotaktik] /"ideale^

c JB 8 Ü c« M υ

typische Λ GPK der

*

.Forschung/ /



£

•Η

M Γtheoretisch1?

ft

3

denkbare VGPKen

J

Umgangssprache

Κ

stnjJaurtaiit

uPKen

"'""---v [Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit der medial mündlichen Ausdrücke]

- Standardlautung - gehobene Standardlautung

"

Abb. 4/24: GPKen im Spannungsfeld zwischen struktureller Biautonomie und struktureller Tautologie. Abb. 4/24 verdeutlicht, daß "ideale" GPKen, die das Verhältnis zwischen der Graphemik und einer hiervon unbeeinflußten phonologischen Struktur reflektieren, nicht vorzufinden sind. Alle in der sprachlichen Praxis ermittelbaren GPKen sind auf der Kurve lokalisiert. Dem Ideal kann man sich aber durch eine gesteigerte Beherrschung der Aussprache annähern (vgl. den Sprung von Kurve (1) auf Kurve (2) in Abb. 4/21). Diese Einsicht bringt die Orthographieforschung in ein Dilemma: Auf welchen Punkt der Kurve in Abb. 4/24 soll sich das wissenschaftliche Interesse vornehmlich richten? Das Kreuz auf der Kurve deutet die Lage eines für die heutige Orthographieforschung typischen GPK-Typus an. Gelegentlich werden auch GPKen behandelt, die etwas weiter links oben einzuordnen sind. Dadurch ergeben sich GPKen mit etwas komplizierteren (und theoretisch ergiebigeren) Strukturen. Bei der orthographischen Analyse von Fremdsprachen tendiert die Forschung eher dazu, sich nach rechts unten auf der Kurve zu bewegen. Die meisten Aussprachewörterbücher sind auch auf eine gepflegte schriftnahe Lautung ausgerichtet. Das Aussprachewörterbuch von Brink et al. (1991) ist hier eine erfreuliche Ausnahme, da es eine moderne dän. Aussprache dokumentiert, ohne von den sonst leider so üblichen sprachpflegerischen Idealen beeinflußt zu sein.

5. Orthographische Ikonizität

5.1. Terminologie

Bevor auf schwed. skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen eingegangen werden kann, müssen einige Grundfragen geklärt werden. Man kann die Frage stellen, inwiefern die Graphemformen selbst artikulatorische oder auditive Merkmale abbilden. Z.B. läßt sich die Form des als eine Ikonisierung der Lippenrundung von [o:] deuten. Man könnte aber auch meinen, daß das auditive Erlebnis eines [o¡] in irgendeinem ästhetischen Sinne besser mit der Form eines korrespondiert als mit der eines (was ein wortwörtlicher Fall von Lautmalerei wäre). Bei solchen Überlegungen ist jedoch zu berücksichtigen, daß bei einem Inventar von rund 30 Graphemen rein statistisch gesehen eher ein Erklärungsbedarf entstünde, wenn derartige Relationen zwischen Graphemformen und ihren phonetischen Korrelaten nicht rein zufällig vorkämen. Weitaus sinnvoller ist es zu fragen, ob bestimmte graphemische Unterschiede mit etwa gleich großen morphologischen oder phonologischen Unterschieden systematisch korrespondieren. Hierbei spielt die invariante Schreibung (vor allem) lexikalischer Morpheme - auch "Morphemkonstanzschreibung", "Schemakonstanz-" oder "Stammwortschreibung" genannt - eine große Rolle. Sie ist in zweifacher Weise zu erreichen: (i) Die Schreibung des Wortstammes bleibt gleich, auch wenn dieser bei verschiedenen Wortformen unterschiedlich gesprochen wird. Folgende Reihe mit phonetisch immer unähnlicheren Wortformen zeigt, wie dadurch Abweichungen vom orthographischen 1:1-Prinzip entstehen: schwed. cvärka - värkte> fvserka - "vaerkte] 'schmerzen: Inf. - Prät.Ind.'; isl. crœna - rsenti> ["ra'ina - 'ra'ndi] 'rauben: Inf. - l./3.Prät.Ind.'; fär. cbarnid - barns> ["bacini - 'bans] 'das Kind - (des) Kindes'; dän.

[*koU3 - Ireôda] Tcochen: Inf. - Prät.Ind.'. (ii) Reguläre GPKen können aber auch zu einer hochgradigen Morphemkonstanzschreibung beitragen, ohne deswegen vom orthographischen l:l-Prinzip unmittelbar abzuweichen; vgl. schwed. =['man: - 'men:] "Mann - Männer'. Bei dem morpho-graphemischen Wechsel handelt es sich um zwei verschiedene Grapheme, wie sie vom Phonologischen her erforderlich sind. Da sich die Graphemformen bei und jedoch sehr ähnlich sind, entsteht auch ein hochgradig invariantes Schriftbild. Die Korrespondenzen zwischen graphemischen, phonetischen/phonologischen und morphologischen Ähnlichkeitsgraden werden im folgenden als unterschiedliche Ikonizitätsgrade aufgefaßt. Das Ausmaß, in dem der graphemische und der phonetische Ähnlichkeitsgrad zweier Wörter übereinstimmen, wird grapho-phonetischer Ikonizitätsgrad genannt. Da in folgender Beispielreihe

98 die Wortstämme phonetisch immer unähnlicher werden, ihre Schreibung jedoch invariant bleibt, nimmt der grapho-phonetische Ikonizitätsgrad ab: schwed. ['fun - fiait] 'fein: Utr.Sg. - Neutr.Sg.'; schwed. ['log - 'loikt] 'tief: Utr.Sg. - Neutr.Sg.'; fär. ['dearvui - 'da£)s] 'Tag: Nom.Sg. - Gen.Sg.'. Ein weitaus höherer grapho-phonetischer Ikonizitätsgrad ist für fär. ['deaivuj - 'daôs] möglich, wenn ein Schriftsystem mit geringerer orthographischer Tiefe angesetzt wird wie etwa (so in den Liederaufzeichnungen aus dem 18. Jh., die der Färinger Jens Christian Svabo (1746-1824) erstellt hat; vgl. Matras 1939). Dieses Beispiel zeigt zwar eine große graphemische Unähnlichkeit, doch korreliert diese mit der etwa gleich großen phonetischen Unähnlichkeit, so daß der grapho-phonetische Ikonizitätsgrad hoch ausfällt. Analog zur grapho-phonetischen Ikonizität lassen sich je nach verwendeter phonologischer Theorie die Termini grapho-taxonomisch-phonologische Ikonizität und grapho-generativ-phonologische Ikonzität bilden. Dabei gilt im allgemeinen, daß der Ikonizitätsgrad in folgender Reihe nicht abnimmt (vgl. Abb. 2/2 mit darauffolgender Diskussion): grapho-phonetischer Ikonizitätsgrad grapho-taxonomisch-phonologischer Ikonizitätsgrad grapho-generativ-phonologischer Ikonizitätsgrad Auch das Verhältnis zwischen den Graphemformen und der semantischen Verwandtschaft zweier Wörter gestaltet sich je nach theoretischer Perspektive anders. Dabei erweist sich der geläufige Terminus "Morphemkonstanzschreibung" als zu unpräzise. Das gleiche gilt für die etwas elaboriertere Variante "Grad an Morphemkonstanzschreibung". Daher wird künftig der Terminus graphomorphologischer Ikonizitätsgrad verwendet. Er meint das Ausmaß, in dem der graphemische und der semantische Ähnlichkeitsgrad zweier Wörter übereinstimmen. In den folgenden zwei Beispielreihen nimmt der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad zu, da die Wortpaare stets eine etwa gleich hohe semantische Verwandtschaft aufweisen, während die graphemischen Wortstämme ähnlicher werden: dän. schwed. isl. dän.

cheröar - herti>

schwed. schwed. schwed.

'sein: Präs.Ind. - Prät.Ind.'; 'verkaufen: Präs.Ind. - Prät.Ind.'; 'härten: 3.Sg.Präs.Ind. - 3.Sg.Prät.Ind.'; 'kochen: Präs.Ind. - Prät.Ind.'; 'klein: Pl.- Neutr.Sg.'; 'gut: PI. - Neutr.Sg.'; 'fein: PI. - Neutr.Sg.'.

Abweichungen von einem hohen grapho-phonetischen Ikonizitätsgrad und somit vom orthographischen l:l-Prinzip sind vor allem dann relevant, wenn sie (im Sinne des Universalen Verschriftungsprinzips) den grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad erhöhen. Entsprechend wird schwed. =['loikt] 'tief, Sg.Neutr.' wegen der Utr.Sg.-Form =['loig] nicht mit , sondern mit geschrieben (vgl. schwed. =['rœk - "raikt] 'gerade: Sg.Utr. -

99 Sg.Neutr.'). Vor allem viele dän. und fár. Lexeme unterliegen in diesem Punkt einer besonderen Spannung zwischen der grapho-phonetischen und der grapho-morphologischen Ikonizität: dän. cbager - bagte> ['bçiee - Îta^ds] 'backen: Präs.Ind. - Prät.Ind.'; fär. ['dea^uj - 'da^s] 'Tag: Nom.Sg. - Gen.Sg.'; (vgl. mit der Svabo-Schreibung). Allerdings besitzt ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad nicht immer die höchste sprachplanerische Priorität. So hat man in Schweden 1906 die Schreibung =['gu:d 'got:] 'gut: Sg.Utr. - Sg.Neutr.' zur seitdem regulären Schreibung reformiert. Diese Veränderung hat den grapho-phonologischen Ikonizitätsgrad auf Kosten des grapho-morphologischen Dconizitätsgrades erhöht.

5.2. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen

5.2.1. Graduelle graphemische Ähnlichkeit Wie in Kap. 3 und 4 soll nun anhand von schwed. skära und seinen Entsprechungen in den anderen nord. Sprachen eine theoretische Perspektive eröffnet werden, die in den folgenden Unterkapiteln vertieft wird. Schwed. 'schneid-: Präs.Ind. - Prät.Ind.' weist eine ausdrucksseitige Ähnlichkeit auf, die weitaus größer ist als beim phonetischen Korrelat ['fjaeir - 's{|air]. Dieser Umstand ist einerseits darauf zurückzuführen, daß mit =[fj - sk] verschiedene Konsonanten identisch geschrieben werden. Andererseits ist bei =/e/ und =/a/ eine graphemische Ähnlichkeit gegeben, die sich phonologisch nur bedingt motivieren läßt (vgl. Kap. 4.1). Um zwei verschiedene Phoneme wie /a/ und /ε/ adäquat abzubilden, genügt es, zwei unterschiedliche Grapheme zu benutzen wie z.B. und hypothetisches *. Gegen ließe sich anführen, daß die große Ähnlichkeit bei die graphemische Diskriminierbarkeit beeinträchtigt. Aus dieser Perspektive wäre z.B. 'hier - hab-, Präs.Ind.' wünschenswerter als die korrekte Schreibung . Da aber und relativ häufig eine morpho-graphemische Beziehung eingehen, ermöglicht anders als * einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad. (Man merke jedoch, daß er bei höher ist als bei der regulären Verschriftung !). Vergleicht man das Verhältnis zwischen dem Präs.- und dem Prät.-Stamm bei schwed. mit dem bei dän. , bokm. , nyn. und isl./fär. , lassen sich unterschiedliche Grade an graphemischer Ähnlichkeit beobachten. Im Schwed. unterscheiden sich und minimal durch die -Punkte stellen ein Zusatzzeichen dar, das die

100 lineare Zeichensequenz als eine zusammenhängende Teilmenge von invariant beläßt. Bei dän. ist dagegen das graphemische Material in zwar eine Teilmenge von ; allerdings bleibt diese nicht zusammenhängend. Der -Teil des Ligatur- teilt nämlich in zwei nicht zusammenhängende Worthälften auf; vgl. Abb. 5/1. In isl./fár. ist die graphemische Ähnlichkeit noch geringer, da sie sich auf die Konsonantengrapheme beschränkt. Bei fällt sie so gering aus, daß sich diese Graphemformen nicht wie bei " = + " in ein additives Verhältnis zueinander setzen lassen; vgl. Abb. 5/1. Beim Pl.Prät.-Stamm kommt (wegen des Numerusablauts) zusätzlich ein akuter Akzent hinzu. Die Ab- und Anwesenheit des Akzents bei isl./far. drückt somit eine Numerusopposition in ähnlicher Weise aus, wie die Tempusopposition bei schwed. durch die An- und Abwesenheit der

'schneid-, ohne Tempus' + 'Präs.Ind.' + 'schneid-, ohne Tempus' + 'Prät.Ind.' Weder links noch rechts vom Doppelpfeil "«-»" ist eine linear-segmentale Zerlegung gegeben. Graphemisch erfolgt diese rechtwinklig zur Schreibrichtung, wobei 'Präs.Ind.' vs. 'Prät.Ind.'. Eine solche Analyse würde aber auch bedeuten, daß die Prät.-Form mit der lexikalischen Bedeutung 'schneid-, ohne Tempus' gekoppelt wäre. Um dem zu entgehen, bietet sich folgende alternative Analyse an:

«-» 'schneid-, ohne Tempus'



·ρΓ28.'

«

'Prat.'

Demnach setzt sich die Präs.Ind.-Form aus dem graphemischen Stamm und einem Nullelement zusammen, wohingegen die Prät.Ind.-Form aus dem gleichen graphemischen Stamm, aber ohne die Punkte gebildet wird. Das Prät. wird somit dadurch markiert, daß ein Teil des graphemischen Stamms fehlt (vgl. Lüdtke 1980: 227). Für diese negative Zuordnung wird die Notation < f ( < - > 'Prät.' eingeführt (wobei "—," das logische Zeichen für die Negation ist). Abb. 5/3 zeigt die Konstruktion des grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades samt der Bewertung von schwed. . [Grad an graphemischer ' Ähnlichkeit]

! 'schneid-: Präs.Ind. - Prät.Ind.'

! 1 [Grad an morphoAbb. Ikonizitätsgrad. ^ r 5/3: ^ Grapho-morphologischer

+ logischer Ähnlichkeit]

103 Die schräge, fettgedruckte Linie in Abb. 5/3 gibt die maximale grapho-morphologische Ikonizität an. Je entfernter ein Beispielpaar von der Linie einzuordnen ist, um so geringer ist der entsprechende Ikonizitätsgrad. Hieraus wird auch ersichtlich, daß eine hochgradige grapho-morphologische Ikonizität nur dann mit einer hochgradigen Morphemkonstanzschreibung zusammenfällt, wenn der morphologische Verwandtschaftsgrad groß ist. Vor allem in Kap. 5.6 werden die Vorteile der grapho-morphologischen Ikonizität gegenüber dem Terminus der Morphemkonstanzschreibung deutlich. Anhand von Abb. 5/3 soll nun mit der hypothetischen Schreibung und ihrer geringen orthographischen Tiefe verglichen werden. Eine konsequente Verwendung von *=/fj/ und *=/ε/ hätte viele Vorteile. Dadurch ergäben sich eine 1=1-GPK =/fj/, eine 1->1-GPK ->{/fj/}, eine 1->1-PGK /fj/->{} samt einer hochgradigen grapho-morphologischen Ikonizität bei 'Ursache - Schale'. Mit * und * lägen auch zwei völlig neue Grapheme vor, die zudem den grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bei drastisch senken würden (gestrichelte Linie in Abb. 5/3).

5.2.4. Orthographische Ikonizität und graphemische Diskriminierbaikeit Da der Wechsel schwed. oft morpho-graphemisch relevant ist, während er bei so gut wie nie eintritt, geht der hohe grapho-phonologische Ikonizitätsgrad bei =/a - ε/ und der geringe bei =/e - e/ meistens mit einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad einher. Bei einer hypothetischen Schreibung wie etwa =/a - ε/ bzw. =/ε - e/ käme es nie dazu. Um die grapho-phonemischen Eigenschaften von =/a - ε - e - i/ präzise einzuordnen, sollen einige hypothetische Schreibungen mit einem sehr hohen grapho-phonologischen Ikonizitätsgrad durchgespielt werden. Durch eine anschließende kontrafaktische Argumentation treten die Vorteile der regulären Verschriftung besonders deutlich hervor. Zunächst wird die Anzahl diakritischer Punkte als Anzeiger für den Palatalitätsgrad konsequent eingeführt. Dadurch erreicht man einen grapho-phonologischen Ikonizitätsgrad, der erheblich höher ist als bei =/a - ε - e - i/, ohne daß auf einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bei der Verschriftung von /a - eJ verzichtet werden muß: -Punkte mit dem Merkmal der Palatalität korrespondieren: stehen für Vokale, die palataler sind als die durch abgebildeten Vokale (vgl. Kap. 4.1). Außerdem korrespondiert die Graphemähnlichkeit bei nicht nur mit dieser phonologischen Regularität, sie trägt auch zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bei. Die Schreibung =[au/oy] in z.B. Baum/Bäume bewirkt ebenso einen hohen graphomorphologischen Ikonizitätsgrad, doch geht er konsequent mit einem relativ geringen graphophonologischen Ikonizitätsgrad einher. Das Bigraphem wird im Gegensatz zu fast ausschließlich zum Zweck eines hohen grapho-morphologischen Dconizitätsgrades benutzt. Sonst wird im Dt. [oV ] regulär mit geschrieben (Ausnahmen sind ). Im Gegensatz zu fehlen bei alternative Grapheme für solche Wörter, die in keiner morphologischen Relation zu einem Wort mit stehen; vgl. dösen, Hölle, öl, Öse und für, müde, Tür. Dafür erhält man hier einfache l->l-PGKen: dt. /ce/-»{}, /0;M{}, / Y / - > { < Ü > } , /y:/->{} (von Fremdwörtern wie Milieu wird hier abgesehen). Bei verfährt man teilweise nach demselben Prinzip wie bei . Da sich [ε] regulär durch sowohl als auch verschriften läßt, ist eine konsequente Schreibung mit in all den Fällen möglich, bei denen kein morphologisch enges Verhältnis zu einem Wort mit besteht wie z.B. hell, Welt, denn. Bei statt der theoretisch möglichen Schreibung * handelt es sich um eine Ausnahme. Bei Äsche/Esche, Lärche/Lerche leistet die Schreibung mit eine Homonymiedifferenzierung. Diese ist jedoch entbehrlich, da der Kontext (außer möglicherweise bei sehr konstruierten Beispielen) immer disambiguieren würde. Für das lange [œ:] gibt es hingegen keine Alternative zur Schreibung mit ; vgl. träge, während. Diese Beispiele machen deutlich, daß folgende fünf Prinzipien entsprechend dem Universalen Verschriftungsprinzip in einer Spannung zueinander stehen: "Homonymiedifferenzierung", "1-»1PGKen", "hoher grapho-phonologischer Ikonizitätsgrad", "hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad", " müssen in einer morpho-graphemischen Relation zu sein". Um das skand. Material im Bereich von aufzubereiten, wird

108 folgendes allgemeine strukturale Ikonizitätsprinzip angesetzt:

(kurz: SIP) als idealtypische Vergleichsbasis

(i) (ii)

hoher grapho-phonologischer Ikonizitätsgrad beim Einzelwort; hoher grapho-moiphologischer Ikonizitätsgrad beim Einzelwort (laut Kap. 5.6 wird damit ebenso die Homonymiedifferenzierung abgedeckt); (iii) Kriterium (i) soll für den ganzen Wortschatz gelten; (iv) j e häufiger eine morpho-graphemische Relation ist, um so ähnlicher sollen die betreffenden zwei Grapheme sein; (v) j e häufiger eine moipho-graphemische Relation ist, um so einheitlicher soll das graphemische Bildungsmusters sein (z.B. -Punkten" bzw. "durchgestrichenes " zu interpretieren, denn (g) als "(u) plus (J-Häkchen" aufzufassen (vgl. auch Kap. 3.2). Das Dän. kennt nur wenige Wortpaare, wo die Opposition mit einer hochgradigen morphologischen Verwandtschaft korrespondiert. Deswegen bringt es insgesamt keinen größeren "Verlust" an grapho-morphologischer Ikonizität mit sich, wenn sich die Allographe von und zugunsten einer größeren Diskriminierbarkeit nicht zu sehr ähneln. Da das Graphem selten mit morpho-graphemisch wechselt, entspricht der Graphunterschied vom Typ (u - y) SIP-Kriterium (iv) besser als Paare vom Typ (u - g). Hypothetisches (u - *ü) würde somit für das Dän. anders als für das Dt. mit SIP-Kriterium (iv) schlecht übereinstimmen. Dän. ung - yngre/yngst 'jung - jünger/am jüngsten' ist eines der wenigen Wortpaare, wo (u - y) doch zu einem höheren Grad an grapho-morphologischer Ikonizität führt als (u - y) und somit SIP-Kriterium (ii) besser entspricht. Deswegen erfüllt im Dän. SIP-Kriterium (iv) etwa ebenso gut wie im Dt.

110 Verglichen mit treten und verhältnismäßig oft in morpho-graphemischen Relationen mit auf. Unten sind einige der vielen Beispiele aufgeführt: Stadt - Städte' stad - stceder fa(de)r -fœdre

Vater - Väter'

lang - lœngereâœngst lang - länger/am längsten' beere - bar - bäret

tragen - trug - getragen'

gâs - gœs

Gans - Gänse'

ade - äd

fressen - fraß'

fä - fœrre/fœrrest

'wenig - weniger/am wenigsten'

tà - tœer

'Zehe - Zehen'

stjœle - stjal - stjâlet

'stehlen - stahl - gestohlen'

fod -f0dder

'Fuß - Füße'

bonde - bander

'Bauer - Bauern'

Auch in der Wortbildung finden sich einige Wortpaare: 'Arm - Armel'

arm - œrme bàre - bœre

'Bahre - tragen'

väben - vœbne

'Waffe - bewaffnen'

dont - dtfmme

'Urteil, urteilen'

ost - 0St

'Ost - Osten'

sove - s0vn

'schlafen - Schlaf

fiild -fylde

'voll - füllen'

guld - gylden

'Gold - golden'

tung - tynge - tyngde

'schwer - schwer sein - Gewicht'

ung - yngling

'jung - Jüngling'

Anders als schwed. ermöglicht dän. auch gegenüber einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad. Eines der seltenen Beispiele hierfür ist dän. evaegt - veje> 'Gewicht wiegen'. Im Dän. steht in vielen Wörtern, ohne daß ein morpho-graphemischer Wechsel mit gegeben ist. Bei diesen Wörtern beeinträchtigt die graphemische Ähnlichkeit bei die Diskriminierbarkeit. Vor allem Minimalpaare wie dän. 'hab-, Präs.Ind. - Haare - Heer', 'umherwühlen - rote, PI.' sind hiervon betroffen. Da die große graphemische Ähnlichkeit schlecht mit der geringen morphologischen Verwandtschaft korrespondiert, ist der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad dieser Minimalpaare trotz ihres hohen grapho-phonologischen Ikonizitätsgrades gering. Das SIP-Kriterium (ii) ist somit kaum erfüllt, während dem SIP-Kriterium (i) weitgehend entsprochen wird. Weil im Dän. und oft keinen morpho-graphemischen Wechsel mit bzw. aufweisen, wäre SIPKriterium (iv) besser erfüllt, wenn und optisch-kognitiv nicht so deutlich als Teilmengen von bzw. erschienen. Dennoch bewirken und keine gravierende Abweichung von SIP-Kriterium (iv), da bei vielen anderen Wortpaaren und zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad beitragen. Dän. weicht somit weit weniger von SIP-Kriterium (iv) ab als ein hypothetisches dän. .

Ill Die vielfache Verwendung von dän. , ohne daß ein morpho-graphemischer Wechsel zu besteht, erfüllt auch SIP-Kriterium (v) sehr gut. Hier gibt es drei verschiedene Bildungsmuster: bei eine Ligatur mit , bei eine schräge Durchstreichung und bei eine (fakultative) Transformation (u -» v) samt Hinzufügung eines Häkchens. Für das Dän. mustereinheitliche Grapheme wie die hypothetischen Reihen *, *, * oder gar * zu benutzen, wäre mit Blick auf SIP-Kriterium (v) daher keineswegs vorteilhaft. Gerade weil dän. nach einem uneinheitlichen Verfahren gebildet werden, besitzen sie weitgehend den Status eigenständiger gestalthafter Grapheme. In bezug auf SIP-Kriterium (v) ist diese Struktur günstig. Die Graphemformen ergeben somit im Sinne des SIP einen sehr guten Kompromiß für die dän. Orthographie. Dän. werden im Gegensatz zu dt. vielfach ohne einen morpho-graphemischen Wechsel mit verwendet. Deswegen entsprechen trotz ihres heterogenen Bildungsmusters dem Kriterium (v) des SIP etwa genauso gut wie im Dt. Damit wird ferner deutlich, daß das Parameterbündel des SIP als ein Fall des Universalen Verschriftungsprinzips (vgl. Kap. 4.1) anzusehen ist.

5.4.3. Schwedisch Das Schwed. stimmt erheblich weniger mit dem SIP überein als denzen bei sind SIP-relevant:

[ v eita] 'essen' [ "lyida] [ v ekta] 'echt' [ "nYtia] [ "fjasira] 'schneiden' ['aerm] 'Ärmel' [ v lo:na] ['groti] [ v s0ila] 'besudeln' f'h0st] 'Herbst' [ vhce:ra] 'hören' ['fœn] 'früher'

das Dän. Folgende Korrespon'horchen' 'Nutzen' 'leihen' 'grau, Neutr.Sg.'

Unten sind einige der vielen Beispiele aufgeführt, bei denen zu

112 son - söner 'Sohn - Söhne' tung -tyngre/tyngst 'schwer - schwerer/am schwersten' ung - yngre/yngst 'jung - jünger/am jüngsten' Aus dem Bereich der Wortbildung kommen folgende Beispiele: 'Arm - Armel' 'Waffe - bewaffnen' 'gab - Geschenk' 'schneiden - Kerbe' 'tragen - Bahre' 'Urteil - urteilen' 'Osten - Osten' sova/somna - sömn 'schlafen/einschlafen - Schlaf full - fylla 'voll - füllen' guld - gyllene 'Gold - golden' ljus - lysa 'Licht - leuchten' tung - tynga/tyngd 'schwer - schwer drücken/Gewicht' ung - yngling 'jung - Jüngling' arm-ärm vapen - väpna gav - gäva skära - skära bära-bär dom - döma ost - öst

Im Vergleich zum Dan. gibt es mehrere Unterschiede. Zum einen werden weniger Laute mit verbunden. Die Laute innerhalb der jeweiligen GPKen liegen zum anderen im Vokalviereck enger beisammen. Wegen der schwed./norw. Vokalverschiebung bilden und außerdem nicht mehr loi bzw. /u/, sondern hauptsächlich /[ui, ca]/ bzw. /[«ι, e]/ ab (vgl. Werner 1994: 131136). Weil /u/ und /0/ unterschiedliche Öffnungsgrade haben, ist die in Kap. 4.1 ermittelte Korrespondenz, wonach die ="palataler" drückt somit das Verhältnis zwischen und/u - 0/ wesentlich schlechter aus als etwa bei dt. =/o'Jo - 0'Jce/ oder dän. =/o'Jo - 0i/0/ce .../. Demnach ist der grapho-phonologische Ikonizitätsgrad (SIP-Kriterium (i)) bei schwed. =Vu - 0/ geringer als in den entsprechenden dän. und dt. Fällen. Der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad bleibt hiervon unberührt, da er nicht von phonologischen Strukturen abhängt; vgl. schwed. cbonde - bond e r s ["bonde - linder] und dän. cbonde - b0nder>=[IbDna - ΤΧΕΠ'Ε] 'Bauer - Bauern' mit gleich hohem grapho-morphologischem, aber unterschiedlich hohem grapho-phonologischem Ikonizitätsgrad. Die mangelnde Übereinstimmung von schwed. =/[u:, o]/ mit SIP-Kriterium (i) relativiert sich teilweise dadurch, daß auch die Korrespondenz schwed. =/[o:, o]/ vorkommt (vgl. SIPKriterium (ii)). Die Beispiele schwed. =["sorva - "somna] 'schlafen - einschlafen' hängen auch morphologisch eng mit schwed. =['s0mn] 'Schlaf zusammen, so daß hier sowohl ein hoher grapho-morphologischer als auch ein hoher grapho-phonologischer Ikonizitätsgrad gegeben sind. Schwed. =[o;] geht in der Regel auf kurzes aschwed. o zurück. Die Vokale in schwed. =[w/e - yi/γ] haben nicht nur unterschiedliche Öffnungsgrade; [e] ist zudem ein halboffener Mittelzungenvokal und [«] ein halbgeschlossener, palataler Vokal, dessen Lippenrundung sich von der bei [y:, 0:] stark unterscheidet (hierzu vgl. Malmberg 1966:

113 99-102; 4 1971: 63-66; Korlén/Malmberg 1979: 42f). Die Verschiebungen aschwed. [u:/u] > [iu/e] haben somit phonetische Unterschiede mit sich gebracht, die der Graphemunähnlichkeit bei besser entsprechen als der bei . Deswegen stimmen nicht nur dt. =[u: - y:], sondern auch schwed. =[«: - yi] mit SIP-Kriterium (i) besser überein als dän. =[u¡ y:]. Wie im Dän. stehen schwed. und relativ selten in einem morpho-graphemischen Verhältnis; vgl. jedoch schwed. ung - yngre/yngst 'jung - jünger/am jüngsten'. Das Graphempaar trägt somit seltener zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bei als . Umgekehrt bewirkt der relativ große Unterschied zwischen und einen hohen Grad an Diskrimierbarkeit dort, wo in keinem morpho-graphemischen Verhältnis zu steht. Demnach korrespondieren beispielsweise nicht nur 'Kiefer - Vier' besser mit SIPKriterium (ii) als eine hypothetische Schreibung ; schwed. erfüllt auch SIPKriterium (iv) besser als hypothetisches . Durch die Senkung aschwed. y > φ werden morpho-phonemische Beziehungen, die auf aschwed. [u: - y] zurückgehen, heute mit verschriftet; vgl. schwed. =['mtus - 'm0sL, 'las - l0si] 'Maus - Mäuse, Laus - Läuse'. Dadurch wird der graphomorphologische Ikonizitätsgrad gesenkt (SIP-Kriterium (ii)). In diesem Zusammenhang vergleicht Hultman (1972: 145) schwed. =['kamp - v çempe] 'Kampf - Kämpfer' mit =['mais - 'm0s:]. Synchron ist die Schreibung von mit nur durch einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad zu rechtfertigen, da aus rein phonologischer Sicht eine Schreibung mit genauso möglich wäre; d.h. * (vgl. die 1-»2-Korrespondenz [e]-»{, }). Nach Hultman könnte dieses Argument ebenso bei angewendet werden, um so eine hypothetische Schreibung des Plurals als * zu motivieren. Diesem Vergleich ist jedoch nicht zuzustimmen, weil er eine ususregulierte l-»2-GPK —>{/y/, */0/} impliziert. Die GPK =/0/ konsequent durch *=/0/ zu ersetzen, würde unter anderem zu homographen Heterophonien führen wie z.B. crysta - *rysta>=[ v rvsda - v r0sda] statt korrekt 'schütteln - wählen'. Die l->2GPK ->{/e/ vor mit Φ , sonst /ε/} läßt sich dagegen laut Abb. 4/3 allein aufgrund der Phonotaktik disambiguieren: Die Phoneme /e/ und /ε/ stehen nämlich nur bei phonetischer Länge in minimaler Opposition; vgl. =['hed - 'heil] 'ganz - Ferse'. Eine entsprechende Ambiguität kann aber bei der GPK —>{/e/ vor mit * , sonst /ε/} nicht eintreten, da /e/ hier immer als kurzes [e] realisiert wird. Außerdem würde eine konsequente Verwendung von *=/0/ oft den morpho-graphemischen Ikonizitätsgrad senken wie in =[ "dotier - "d0trar] statt korrekt 'Tochter - Töchter'. Sogar wenn man *=/0/ nur dort zuließe, wo heutiges in einem morpho-graphemischen Verhältnis zu steht, wäre die l-*2-GPK ->*{/y/, /0/} lediglich über morphologisches Wissen zu disambiguieren; vgl. die hypothetische homographe Heterophonie bei =['l«js'/l0s2 - '1YS¡] statt korrekt 'Laus/Läuse horche! (veraltet)'. Hultmans Gedankenexperiment führt somit zu GPKen, die der heutigen l->2GPK ->{/e/ vor ...} unterlegen sind. Erfüllen die schwed. Oppositionen SIP-Kriterium (iv) relativ gut, so schneiden sie hinsichtlich SIP-Kriterium (v) schlechter ab als dt. und dän. . Verglichen mit dem Dt. stehen im Schwed. (wie im Dän.) die "UmlaufGrapheme oft in keinem morpho-graphemischen Verhältnis zu . Entsprechend SIP-Krite-

114 rium (iv) wäre demnach für das Schwed. (wie für das Dan.) ein uneinheitliches graphemisches Bildungsmuster besser als . Da das diakritische Zeichen -Punkten, was eine gesteigerte graphemische Diskriminierbarkeit mit sich brachte; vgl. schwed. = ['go:s jes:, 'hoir - 'haerr] 'Gans - Gänse, Haar - hier'. Im Druck treten die Allographe (ä) bzw. (ö) zunächst in der Antiquaschrift um 1730 auf; in der Frakturschrift folgen sie etwa hundert Jahre später. Für eine selbständige Entstehung des spricht auch folgender Parallelfall. Das Monophthongprodukt von lat. [ae > sei] wurde statt (se) auch mit (ç) verschilftet, sog. e caudata (vgl. Benediktsson 1972: 108-111; Haugen 1984: 248f.). Graphiegeschichtlich geht das (J-Häkchen auf ein ohne "Dach" zurück (vgl. hierzu auch das Iota subscriptum im Griech.). Als das Nordische mit lat. Buchstaben verschilftet wurde, verwendete man , um die i-Umlaute von ä und α wiederzugeben (vgl. Benediktsson 1965: 45, 57-59). Dabei signalisierte das ( J-Häkchen, daß mit einem a-haltigen, d.h. offenen e-Laut zu verbinden war. Daß das (J-Häkchen so verstanden wurde, belegt das neu entstandene Graphem für das u-Umlautprodukt von a. So bilden und systematisch zwei Laute ab, die beide auf a zurückgehen und hinsichtlich ihres Öffnungsgrades zwischen α und e bzw. zwischen a und o liegen. Diese Einsicht ist keineswegs neu, sondern findet sich bereits im Ersten Grammatischen Traktat (vgl. Benediktsson 1972:

211). Während bei =[e: - 0:] das Basisgraphem völlig erhalten bleibt, wurde es bei =[e(i) - o] zum Häkchen reduziert. Dieses Verhältnis zwischen Basisgraphem und Zusatzzeichen ist bereits mit der Entlehnung von dt. =[ε:] und lat. =[ae:] gegeben. Die orthographische Übertragung auf die velaren Vokale [o:] und [o] ist hingegen in beiden Fällen eine nordische Neuerung.

5.4.4. Norwegisch Das Bokm hat mit die gleichen Grapheme wie das Dan. Phonologisch gesehen steht das Bokm. dem Schwed. dagegen sehr nahe. Daraus ergibt sich hinsichtlich SIP-Kriterium (i) eine große Ähnlichkeit mit dem Schwed. Anstatt der -Punkte des und den -Teil des als merkmalmodifizierendes Zeichen für "palataler" zu interpretieren, ist im Isl. nur beschränkt möglich, u.a. weil aisl. a? zu [a'(:)] diphthongiert wurde. Die Diphthongierung von aisl. ά zu [a u (:)J hat den grapho-phonologischen Ikonizitätsgrad weiter gesenkt. Dadurch weisen die durch , und verschrifteten Laute jedoch eine gewisse Systematik auf: [a(:)], [a u (:)] bzw. [a'(¡)] fangen alle mit einem [a]-Laut an, was den grapho-phonologischen Ikonizitätsgrad etwas erhöht. Bei ist dagegen der grapho-phonologische Ikonizitätsgrad im Sinne der Korrespondenz < ">="palataler" etwas höher; vgl. =['bai - 'loeai] 'Aufhören - länglicher Heuhaufen'. Die Situation ist ähnlich, wenn vor stehen und Diphthonge abbilden wie z.B. in =['bi:jim - Ί0'φη] 'die Ramme - die Gesetze'. Was für gilt, ist aber nicht 1

In der isl. Phonotakük gilt für auslautendes [ai] (sowie für alle auf [i] ausgehenden Laute im Auslaut), daß es am Artikulationsende zu einem [j] verengt wird, das gleich danach den Stimmton verliert. Dieses wird mit [jï] notiert.

118

auf «5 - ö> übertragbar, da aisl. ó zu =[o u (:)] diphthongiert ist; vgl. =['lo u :n 'laem] 'Lagune - länglicher Heuhaufen'. Wie im Festlandskand. tragen die isl. Grapheme zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bei (vgl. SIP-Kriterium (ii)): ràda - rceöur 'raten: Inf. - 2./3.Sg.Präs.Ind.' punnur - pynnri 'dünn - dünner' snúa - snyr 'wenden: Inf. - 3.Sg.Präs.Ind.' hlaupa - hleypur 'laufen: Inf. - 2./3.Sg.Präs.Ind.' Die Grapheme und bewirken im Isl. selten einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad. Die Ähnlichkeiten bei und werden sogar nie zwecks eines hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades ausgenutzt. Umgekehrt kommen und oft im morpho-graphemischen Wechsel mit u.a. bzw. vor. Sehr früh ist urn. ç (< i-umgelautetes α) mit e zusammengefallen und wie dieses mit verschriftet worden. Für das heutige Isl. ergibt sich daraus ein morpho-graphemischer Wechsel wie in ctafl - tefla>=['t h abl - t h ebla] (< *tafljan) 'Schachbrett - Schach spielen'. Deswegen tritt die Opposition nie in morpho-graphemischer Funktion auf. Der Wechsel ist dagegen relativ häufig wie z.B. in . Das phonetische Korrelat zu geht in diesem Fall auf ein i-umgelautetes urn. Λ zurück. Im Gegensatz zu ç fand hier kein Lautzusammenfall statt, so daß für aisl. é ein eigenes Graphem phonologisch motiviert ist. Der Wechsel taucht im Neuisl. kaum auf, zum einen, da urn. o selten ist (wegen ie. o > germ, α) und zum anderen da i-umgelautetes urn. ο > φ meist zu aisl. e entrundet und mit verschriftet wurde; vgl. neuisl. 'kommen: Inf. - 2.Sg.Präs.Ind.' (< kemr < ktfmr < urn. *komiz). Ansonsten verschilftet einen auf κ-umgelautetes a > q zurückgehenden Vokal, der nur gelegentlich, und zwar in der 3. Ablautreihe mit o morpho-phonemisch wechselt (stökkva/stokkinn 'springen/gesprungen' mit ie. e > i > e > aisl. φ). Der Wechsel «5 - ö> findet sich gelegentlich in der 6. Ablautreihe (tokum/tókum '(wir) nehmen/nahmen' und bei den ehemals reduplizierenden Verben (höggva/hjö 'hauen/(ich) hieb'). Der Graphemwechsel beruht auf phonetischem und graphemischem Wandel; vgl. isl. =['douanYr - 'da'ima] 'Urteil - urteilen'. In diesem und analogen Fällen ist [a':] zwar das Ergebnis eines /-Umlautes, jedoch nicht ausgehend von urn. α, sondern von urn. δ. Neuisl. =[a':] geht nämlich sowohl auf aisl. as < α als auch auf aisl. œ < δ zurück. Aisl. «5 ce> in z.B. entspricht somit den SIP-Kriterien (ii) und (iv) besser als neuisl. . Die isl. Grapheme und stehen relativ oft in einem grapho-morphologischen Wechsel, z.B. in cpröngur - prengri> 'eng - enger'. Dabei ist von einem ννα-Stamm *prangw- auszugehen. Bei verschilftet den Reflex eines w-umgelauteten um. a > q, das bereits im klassischen Aisl. mit Φ zusammenfiel. Das in verschilftet hingegen ein i-umgelautetes urn. α, das mit aisl. e zusammengefallen ist. In diesem Beispiel verschilften somit neuisl. und Laute, die beide auf um. a zurückgehen. In bezug auf die SIP-Kriterien (iv) und (v) zeichnet sich insgesamt folgendes Bild für das Isl. ab: Isl. stehen relativ selten in einem morpho-graphemischen Verhältnis zu . Deswegen erfüllt die relativ große Unähnlichkeit bei SIP-Kriterium (iv) gut. Bei

119 und < 0 / 6 - ö> würde dagegen eine noch größere Unähnlichkeit SIP-Kriterium (iv) besser entsprechen. Bei handelt es sich außerdem um ein sehr heterogenes Bildungsmuster. Dadurch sind die Formen von relativ eigenständig, was sich auf SIPKriterium (v) sehr vorteilhaft auswirkt (einheitliches wäre wesentlich ungünstiger).

5.4.6. Färöisch Das Fär. verwendet seit seiner Neuverschriftung im 19. Jh. die Grapheme und . Einerseits tragen diese mittelalterlichen Zeichen (anders als ) zur schriftbildlichen Ähnlichkeit mit den awestnord. Schriftdenkmälern bei; andererseits lag es auch aus drucktechnischen Gründen nahe, auf diese dän. Grapheme zurückzugreifen. Im Fär. wurde auch eine Zeitlang verwendet, doch konnte sich gegenüber kaum durchsetzen. (Im Dän. wurde im 19. Jh. gelegentlich für offenes [oe(ö] verwendet; d.h. dän. =['{|ceiK3- Ϊ 0 » 3 ] 'machen fahren'.) Heute findet sich fär. nur noch in einigen Eigennamen. Für das Fär. sind im wesentlichen folgende Korrespondenzen bei möglich:

['lahta>j] 'leicht' ['sisdu] 'Schwester'

['meau] ['jçiast]

'mir' 'ängstlich sein'



['dienmui] ['nest] ['hoiua] ['joipd]

'Traum' 'Bootshaus' 'hören' 'Erfahrung'



als auch bei phonetischer Kürze [ce] abbilden können, verstärkt diesen ersten Eindruck hinsichtlich SIP-Kriterium (i). Wie im Isl. ist lediglich bei der Opposition < 0 - 0> ein relativ hoher grapho-phonologischer Ikonizitätsgrad möglich; vgl. fär. =['soua - 's0ua] 'zerschlagen - leer, Fem.Akk.Sg.'. In diesem Fall läßt sich der Querstrich von mit dem merkmalmodifizierenden Korrelat "palataler" koppeln. Es finden sich aber auch Beispiele, wo nicht einmal die Opposition < 0 - 0> einen hohen grapho-phonologischen Ikonizitätsgrad impliziert; vgl. fär. =['juia - J0:a] 'rot scheinen (von der Sonne) Rede'. Die Zuordnung [u:] geht darauf zurück, daß [o:] vor [a] (afär. ö ist in roöa getilgt) zu [u:] gehoben wird. Laut Lockwood (31977/1955: 11) gilt diese Regel jedoch nicht überall auf den Färöern, auch =['jo:a] ist zu hören. Insgesamt werden somit die Ähnlichkeiten bei hinsichtlich der SIP-Kriterien (i) und (iii) wenig ausgenutzt. Etwas anders verhält es sich mit der grapho-morphologischen Ikonizität. Hier stimmt das Fär. weitgehend mit dem Isl. überein; vgl. isl./fär. 'raten: Inf. - 2./3.Sg.Präs.Ind.', isl. vs. fär. 'dünn - dünner'. Da aber im Fär. der Wandel φ > é

120 nicht eingetreten ist, stehen fär. «5> und auch dort in einem morpho-graphemischen Verhältnis zueinander, wo das Isl. den Wechsel < ό - a e > aufweist: isl. fär. dómur - dama dómur - d0ma 'Urteil - urteilen' stórur - stani stórur - st0rri 'groß - größer' bók - bcekur bók - bjkur 'Buch: Nom./Akk./Dat.Sg. - Nom./Akk.Pl.' Weitere fär ./isl. Unterschiede finden sich dort, wo im Isl. mit wechselt. Das aus urn. a durch «-Umlaut entstandene ç fällt im Fär. außer vor Nasal mit φ zusammen. In dieser Position gilt fär. q > o, so daß mit wechselt: fär. isl. s0gn - sagnir sögn - sagnir 'Sage: Nom./Akk./Dat.Sg. - Nom./Akk.Pl.' aber land- lond land - lönd 'Land: Nom./Akk.Sg. - Nom./Akk.Pl.' tonn - tenn tönn - tennur 'Zahn: Nom./Akk./Dat.Sg. - Nom./Akk.Pl.' Es gibt auch einige wenige Fälle, wo die Entsprechungen zum isl. Wechsel als fär. erscheinen. Diese bessere Übereinstimmung mit den SIP-Kriterien (ii) und (iv) wird durch die Senkung awestnord. é > afär. é verursacht. Deshalb ist auch im fär. Grapheminventar nicht enthalten. Bei an. Paradigmen mit dem Wechsel aJâ - é erhöht diese Senkung den grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad: fär. gráta - greet vs. isl. gráta - grét 'weinen: Inf. - l./3.Sg.Prät.Ind.' (vgl. auch schwed. gräta - grät 'weinen - weint-, Prät.Ind.') Insgesamt tragen die Ähnlichkeiten bei fär. öfter als im Isl. zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bei. Außerdem stehen fär. seltener in einem morpho-graphemischen Verhältnis zu . Somit erfüllen fär. SIP-Kriterium (iv) besser als isl. .

5.4.7. Die nordischen Sprachen im SEP-Vergleich Abschließend sind die nord. Sprachen miteinander zu vergleichen. Da sich die SIP-Kriterien (i) und (ii) auf das Einzelwort(paar) beziehen, kommen bei einer Gegenüberstellung der orthographischen Systeme nur die Kriterien (iii)-(v) in Frage. Abb. 5/8 zeigt, daß Form und Distribution der dt. "Umlaut"-Grapheme dem SIP-Ideal sehr nahekommen. Auch die dän. "Umlaut"-Grapheme entsprechen dem SIP relativ gut, obwohl sie anders aussehen und heterogener gebildet werden als im Dt. Da die dän. "Umlauf-Grapheme im Wortschatz anders distribuiert sind, erfüllt ihr heterogenes Bildungsmuster SIP-Kriterium (v) gut. Die isl. und fär. "Umlaut"-Grapheme stehen vom SIP dagegen sehr entfernt, weil sie im Vergleich zum Dt. - trotz ihrer Häufigkeit - nur selten zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad beitragen. Das Schwed. und Norw. nehmen Mittelpositionen ein.

121 [Kriterium (iii): Grad an Einhaltung eines hohen grapho-phonologischen Dconizitätsgrades im Wortschatz]

/X

Isl. Fár.

Schwed.

_

[Kriterium (iv):Grad an Übereinstimmung zwischen dem Ähnlichkeitsgrad zweier morphologisch wechselnder Grapheme und der relativen Häufigkeit dieses Wechsels] [Kriterium (v): Grad an Übereinstimmung zwischen der Einheitlichkeit eines Bildungsmusters für morphologisch wechselnde Grapheme und der relativen Häufigkeit dieses Wechsels] ^ Norw. Dän. Dt.

Abb. 5/8: SIP-Vergleich der nord. Sprachen im Bereich der "Umlaut"-Grapheme.

5.5. Divergenzen zwischen geschriebener und gesprochener Grammatik

5.5.1. Einleitung Beim Vorlesen werden textuelle Großstrukturen wie Bandzählung, Kapiteleinteilung und Absatzgliederung unter anderem als Pausen und Intonation in die Mündlichkeit übertragen. Bis hin zum syntaktischen und lexikalischen Aufbau lassen sich viele Texteinheiten problemlos ohne Umstrukturierungen direkt mündlich übernehmen. Diese Übereinstimmung zwischen medialer Schriftlichkeit und Mündlichkeit gilt meistens auch für die Morphologie. So stimmt die Gliederung von schwed. mit ['f]0ni - 'fj0:n+t] 'schön: Sg.Utr. - Sg.Neutr.' gänzlich überein. Erst bei den Graphem- und Phoneminventaren fehlt vielfach eine konsequente Strukturgleichheit. Diese Divergenz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache zieht sich bis in den morphologischen Bereich hinein. Bekannte Beispiele hierfür sind die frz. Nullkorrespondenzen =0 in Wortformen wie =['beÖBB, 'besd] 'besser, am besten' ergäbe einen Parallelfall. Bei diesem Wort ist es jedoch angemessener, eine leicht suppletive Komparation bereits in der zugrundeliegenden Form anzusetzen. Die graphemische Invarianz des Wortstammes

125 in cvide - vidste> findet daher weder synchron noch diachron eine mündliche Entsprechung. Das in ist eine neuzeitliche Schreibanalogie ohne phonologische Grundlage. Die Fälle vom Typ dän. =['öo:'ö > 'flo' - '{pd], wo die Schreibung flexivisch verfährt, das mündliche Korrelat hingegen schwach suppletive Strukturen aufweist, haben im Neudän. deutlich zugenommen. Dabei ist oft zu überlegen, ab welchem Punkt des Wandels schwach suppletive Strukturen auch in der zugrundeliegenden Form relevant werden. Inwiefern ist eine Tilgungstransformation "löl->0" sinnvoll, wenn sie nicht generell, sondern nur bei bestimmten (vor allem hochfrequenten) Wörtern und in einigen Fällen sogar nur auf bestimmten Stilniveaus in bestimmten Kommunikationssituationen gültig ist? Während beispielsweise dän. β ο ' ] inzwischen die unmarkierte Normalform der Standardaussprache darstellt, ist ['floi'ö] eher als eine stark schriftgebundene, und somit gehobene Leseaussprache anzusehen, die keine primärmündliche phonologische Basis hat und hauptsächlich durch eine Mißachtung der Regel "=0 im Auslaut hochfrequenter Wörter" entsteht. Man vgl. dazu Brink et al. (1991: 559), wo ['{|o(i)'ö] entweder als "h0jstemt" gilt - was fast immer schriftnah heißt - oder aber in der Bedeutung 'selbstlos' verwendet wird. Bei dem polysemen Wort god zeichnet sich eine Lexemspaltung ab, indem sich die hochfrequenten Lesarten durch irreguläre Reduktionen abkoppeln. Im Vergleich dazu tritt bei =[Vi'ö] 'weiß, Utr.Sg.' die Kurzform ['vi'] nur gelegentlich, vor allem bei erhöhtem Sprechtempo auf.

5.5.5. Grammatische Divergenzen beim dänischen Infinitiv und Präsens Indikativ Indem sich urn. *göpaz/*göpu - *göpat zu dän. =['{|oi'ö > 'ήο' - ï p d ] entwickelte, wurde der rein flexivische Charakter zugunsten schwacher Suppletion abgebaut. Das Dän. entwickelt sich aber auch zu einem eher isolierenden Sprachbau, weil der Lautwandel grammatische Oppositionen abbaut. Dieser Fall tritt bei der [»]-Vokalisierung ein, insbesondere wenn dabei benachbarte Schwas assimiliert werden. So werden im modernen Standarddän. h0re 'hören' und h0rer 'hör-, Präs.Ind.' homophon als ['h0(:)e] realisiert, was in der Schule zu etlichen Rechtschreibfehlern führt (vgl. Andersen et al. 1992: 40f.). Die zwei Varianten ['h0re] und ['h0c] korrespondieren nicht mit der Opposition 'Inf. - Präs.Ind.'; allenfalls ist beim frequenteren Präs.Ind. die kürzere Variante etwas häufiger als beim Inf. Ein Wandel, der auf eine grammatische Distinktion anhand der Vokalquantität hinausläuft, scheint nicht stattzufinden. Lediglich bei stark schriftgebundener Artikulation wird noch durch Übergeneralisierung regulärer GPKen zwischen ['htfara] und [ΊΙ0:ΚΒ(/-3Β)] differenziert. Solche Leseaussprachen werden im folgenden nicht behandelt, wenngleich sie im Fremdsprachenunterricht eine verhältnismäßig große Rolle spielen und somit einen falschen Eindruck nicht nur von der Aussprache des Dän, sondern auch von seiner gesprochenen Grammatik erwecken; vgl. folgende Angaben zu beere - bœrer 'tragen: Inf. Präs.Ind.':

126 ['bere - "bere ('beae')]2 [ΐιεικβ - "beiBSK]3

Brink et al. 1991: Stichwort beere-, Meissner-Andresen 1988: 32,36 (= Langenscheidts 30 Stunden Dänisch).

Bei Meissner-Andresen stimmt die Struktur der geschriebenen mit der Struktur der gesprochenen Grammatik noch überein (d.h. "invarianter Stamm+Flexiv"), weil die Aussprache durch eine übergeneralisierte (oder sehr veraltete) Verwendung der regulären Korrespondenzen =[s] und =[Β] generiert wird. Im modernen Dän. wäre I"berna - demani allenfalls als zugrundeliegende Form denkbar. Die phonetischen Angaben in Brink et al. haben hingegen weitreichende Konsequenzen: Sie implizieren nicht nur irreguläre GPKen; weil der Inf. und der Präs.Ind. zusammengefallen sind, ist eine grammatische Struktur entstanden, die mit der Segmentierbarkeit von + nicht mehr strukturgleich ist. Dieser morpho-phonemische Wandel vollzieht sich nicht im gleichen Tempo in der Lexik. Vor allem bei frequenteren Lexemen ist er weiter vorangeschritten. Deshalb sind und bei schwachtonigen Flexiven je nach Gebrauchsfrequenz des lexikalischen Stammes mit unterschiedlichen Phonemen zu koppeln. Diese allgemeine Feststellung soll nun anhand der dän. Flexive 'Inf.' und 'Präs.Ind.' an einigen repräsentativen Lexemen näher erörtert werden. Dabei werden zunächst Phonotaktik, Satzbetonung, Sprechtempo, Sprecheralter, Stilistik, Gesprächssituation, Regionalität und Soziolekt konstant gehalten und individuelle Varianten ausgeschlossen. Lediglich die beiden Parameter Gebrauchsfrequenz und Phonotaktik sollen nicht fixiert werden. Dieses Verfahren läßt nicht nur die Einwirkung der variablen Parameter auf die Sprachstruktur besonders deutlich hervortreten; dadurch lassen sich ebenso eventuelle Korrelationen zwischen ihnen als Kausalverbindungen interpretieren. Gerade für das Dän. ist eine solche methodische Eingrenzung erforderlich, da hinsichtlich der hier fixierten Parameter eine wesentlich größere Variation besteht als etwa im Schwed. Außerdem werden im folgenden nur Wörter betrachtet, deren Stämme auf frühneudän. Langvokal plus Einfachkonsonanz zurückgehen. Folgendes standardsprachliche Material mit Inf.- und Präs.Ind.-Formen liegt der nachfolgenden Theorie zugrunde (dabei handelt es sich immer um die jeweils geläufigste Variante nach Brink et al. 1991):



['k0re - 1C0B] ['smœre - 'smogç'] ['viga - VÌ'B] ['sira - 'si§] ["blira - "bliç']

'fahren: Inf. - Präs.Ind.' 'schmieren: Inf. - Präs.Ind.' 'weichen: Inf. - Präs.Ind.' 'sagen: Inf. - Präs.Ind.' 'werden: Inf. - Präs.Ind.' 'schreiben: Inf. - Präs.Ind.' 'reißen: Inf. - Präs.Ind.'

2 3

['SFINIVA - 'S^BIU'B]

['»iiva - 'BÌU'B]

Die Notation wurde in Standard-IPA übersetzt. Die Notation wurde in Standard-IPA Ubersetzt.

127



'fühlen: Inf. - Präs.Ind.' 'sprechen: Inf. - Präs.Ind.' '(sich) besudeln: Inf. - Präs.Ind.' 'kaufen: Inf. - Präs.Ind.' 'gießen: Inf. - Präs.Ind.'

[Ϊ0!ΐ3 - f0'lB] ['tçda - tç'le] ['S0Ü3 - 'S0I1B] ['k0:ba - TÍ0UB]

['sd0ib3 - 'sd0:bB]

Diese Wörter werden zunächst in bezug auf den Sonoritätsgrad des Stammauslautes geordnet, wobei die entsprechende frühneudän. Form als Ausgangspunkt dient (senkrechte Skala in Abb. 5/9). Außerdem sind die geschriebenen und gesprochenen Flexive im Frühneudän. weitgehend strukturgleich; d.h. Korrespondenzen wie etwa =[-a] 'Inf.' bzw. =[-su] 'Präs.Ind.' sind anzunehmen. Im folgenden soll gezeigt werden, wie der Wandel bei den Inf.- und Präs.Ind.-Ausdrücken je nach Phonotaktik und lexikalischer Gebrauchsfrequenz nicht nur die GPKen irregularisiert, sondern auch die gesprochene von der geschriebenen Verbalmorphologie entfernt hat.

i [Ö]

M

[Sonoritätsgrad des frühneudän. Wortstammauslautes] 1

2

[LI'FE]

['LIITE - 'ÜÖ'B]

['smceiB - 'smqfa']

1 ['Ii']

['k0ie - lc0e]

['viije - 'VÍ'B]



['»UVA - 'HÍU'Β]

['sflBiiva - 'S^KIU'B]

[1]

['s0ile - 's0dß]

['f0de - 'f0'lB]

[b]

['sd0:b3 - 'sd0:tm]

[j/v]

['h0IB - 'h0B]

['siia - 'sig]

["bliis - "blig']

[tçds - 'tç'te]

["k0:ba - 1C0UB]

[Gebrauchsfrequenz] Abb. 5/9: Gebrauchsfrequenz und stammauslautender Sonoritätsgrad einiger dän. Inf.- und Präs.Ind.-Ausdrücke. Abb. 5/9 erfaßt nicht nur eine Tendenz des Lautwandels, sondern auch seine Auswirkung auf die entsprechenden GPKen. Bei niedriger Frequenz und insbesondere bei geringem Sonoritätsgrad sind verhältnismäßig wenig Neuerungen eingetreten. Ein typisches Beispiel hierfür ist =['sd0:ba - 'sd0:bu]. Der lexikalische Stamm ist im Inf. und im Präs.Ind. seit frühneudän. Zeit unverändert geblieben. Die Präs.Ind.-Endung von sttfber hat hingegen eine [u]-Vokalisierung samt [a]-Assimilation erfahren. Aus generativer Sicht bereitet dieser Fall keine Schwierigkeiten; ein gemeinsamer Stamm und zwei Flexive L-al bzw. I-SBI lassen sich auch weiterhin in der zu-

128 grundeliegenden Form ansetzen, so daß mit der Schreibung eine morphologische Kongruenz besteht. Die Aussprache läßt sich problemlos durch Transformationen ableiten. Aus der Perspektive einer Phonemanalyse führt die Assimilation [-au > -e] in der Präs.Ind.Endung dagegen zu einer neuen Struktur. Durch die Opposition ['sd0:b3 - 'sd0:be] läßt sich zunächst ein gemeinsamer Stamm ['sd0:b-] identifizieren. Hinsichtlich der Flexion stimmen Schreibung und Lautung indes nicht mehr überein. Die Flexive [-a] und [-B] bilden eine minimal ausdrucksunterscheidende Opposition, so daß sie zwei verschiedenen Phonemen zuzuordnen sind. Bei =/-a, -B/ ist die Flexion in der Phonemsequenz daher anders strukturiert als in der Graphemsequenz. Während es für Schwachdrucksilben bei dem einen Vokalgraphem geblieben ist, hat das entsprechende Phoneminventar seit dem Frühneudän. um die Einheit Ivi zugenommen. 4 Je mehr man sich in Abb. 5/9 von ['scriba - 'sd0:bB] entfernt, um so mehr weichen die lexikalischen und grammatischen Strukturen des Mündlichen von denen der Schreibung ab. Als Konsequenz hiervon werden die orthographischen Korrespondenzen immer komplexer. Ein Beispiel hierfür ist =["k0:b3 - k0ue], wo phonetisch gesehen zwei verschiedene Wortstämme vorliegen. Vergleicht man dieses Beispiel mit ['sd0:ba - 'sd0:be], so tut sich aus generativer Sicht ein Problem auf. Möchte man auch bei ['k0iba - k0ue] einen invarianten Wortstamm in der zugrundeliegenden Form ansetzen, so sind unterschiedliche Transformationsregeln erforderlich, um ['sd0ib3 - 'sd0:be] und ["k0ibe - k0ue] abzuleiten. Somit wäre bereits in der zugrundeliegenden Form zwischen zwei Verbklassen zu unterscheiden: ["k0:ba - k0ue] repräsentiert eine Klasse, bei der die Transformationsregel Ibi—»-[u] gilt, während ['sd0iba - 'sd0:bc] einer anderen angehört, bei der diese Regel nicht angewandt wird. Bei =['s¿)BÍIV3 - 'SÒBÌU'E] und =['BÍ:v3 - 'BÍU'B] wechseln in ähnlicher Weise [v] und [u]. Strebt man in der Sprachbeschreibung eine zugrundeliegende Form an, deren morphologische Struktur mit der des Geschriebenen übereinstimmt, so hat dies folgende Konsequenz: Je weiter man sich nach oben rechts in Abb. 5/9 bewegt, um so mehr Verbklassen mit unterschiedlichen Transformationsregeln werden nötig. Alternativ kann die generative Analyse auf eine morphologische Segmentierbarkeit in der zugrundeliegenden Form verzichten und statt dessen eine generellere Gültigkeit der Transformationsregeln anstreben. Demnach wäre für ["k0:ba - k0uu] eine schwach suppletive und für [ΊΙ0(:)Β] 'hören' und [ΊΙ0(Ζ)Β] 'hör-, Präs.Ind.' eine homophone zugrundeliegende Form anzusetzen. In beiden Fällen wäre keine prototypische Flexion mehr gegeben; vielmehr käme dieses Beispiel bereits phonologisch einem isolierenden Sprachtypus nahe. Je mehr man sich in Abb. 5/9 nach oben rechts bewegt, um so eher trifft diese Feststellung zu. Wie Abb. 5/9 zeigt, bilden sich suppletive und homophone Formen nach einem relativ einheitlichen Muster heraus. Dabei sind vor allem die Gebrauchsfrequenz und der Sonoritätsgrad des 4

Eine ähnliche Entwicklung findet sich auch im Standarddt., wie z.B. =['gelbe 'gelba] zeigt. Dt. [-β] und [-b] sind - entgegen der graphemischen Struktur - minimal ausdrucksunterscheidend und somit zwei verschiedenen Vokalphonemen zuzuweisen; vgl. Lindqvist 1997. Bei gelber von einer Phonemfolge /-ar/ auszugehen, ist streng genommen nur im Rahmen einer generativen Phonologie möglich (fUr eine Gegenmeinung vgl. Schmidt 1993: 164). Eine Aussprache wie etwa ['gelban] tritt im modernen Gegenwartsdeutsch nur regional oder als Leseaussprache auf.

129 Stammauslauts entscheidende Faktoren, die sich folgendermaßen auf die GPKen auswirken: Je weiter man sich in Abb. 5/9 nach oben rechts bewegt, um so stärker weicht die gesprochene von der geschriebenen Verbalmorphologie ab. Deshalb sind die invariant geschriebenen Wortstämme samt ihrer einheitlichen Rexion ( 'Inf.' bzw. 'Präs.Ind.') als eine schriftautonome grammatische Struktur anzusehen. Der dadurch bewirkte hohe grapho-morphologische Ikonizitätsgrad geht weit über das phonologisch Motivierbare hinaus. Außerdem steht der Einheitlichkeit der geschriebenen Morphologie eine immer größer werdende Vielfalt mündlicher Allomorphe gegenüber. Insgesamt zeigt Abb. 5/9 eine außergewöhnlich komplizierte Strukturdivergenz im Spannungsfeld zwischen dän. Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Regularisierungen durch eine "flachere" Verschriftung finden sich fast nur bei sehr frequenten Wörtern; hierzu in Kap. 4.4.2. Das orthographische Spannungsfeld in Abb. 5/9 läßt sich mit Skalen ergänzen, die die unterschiedlich große Übereinstimmung zwischen geschriebener und gesprochener Grammatik anzeigen. Abb. 5/10 wiederholt Abb. 5/9, jedoch ohne Beispiele, um die Skalen deutlicher hervortreten zu lassen (die Zahlen in Abb. 5/10 werden unten erklärt). [Sonoritätsgrad des frühneudän.

AWortstammauslautes] [ö] M [j/v]

[l] [b]

φ [GebrauchsT frequenz]

Abb. 5/10: Divergierende Entwicklungen gesprochener und geschriebener Grammatik beim dän. Inf. und Präs.Ind. In dem durch (1) bezeichneten Bereich in Abb. 5/10 divergieren geschriebene und gesprochene Sprachstrukturen besonders stark; vgl. 1 =['li'] oder =['sig]. Hier handelt es sich bei den Nullkorrespondenzen =0 und =0 um orthographische Singularitäten. Je mehr man sich vom (l)-Bereich entfernt, d.h. je weiter man sich entlang der Progression (1) (2) (3) -> (4) bewegt, um so mehr nimmt die orthographische Regularität zu und um so besser stimmen geschriebene und gesprochene Rexion überein. Dabei passiert man unter anderem folgende Typen orthographischer Korrespondenzen (vgl. die Zahlen in Abb. 5/10): (2) ususregulierte GPKen wie z.B. ->{/b/, /u/,...}; (3) kontextuell disambiguierbare GPKen wie z.B. ->{/d/ wortinitial, /ö/ zwischen Vokalgraphemen,...} ; (4) kontextunabhängige, immer gültige, reguläre GPKen wie z.B. -»{/1/}.

130 Der Autonomiegrad der geschriebenen Grammatik verhält sich somit umgekehrt zum orthographischen Regularitätsgrad. Diese Feststellung gilt jedoch nicht uneingeschränkt für das schwarze, elliptische Segment ganz oben rechts in Abb. 5/10. Durch Schreibreformen wird hier, wo maximal irreguläre Korrespondenzen zu erwarten sind, gelegentlich orthographische Regularität (wieder-)hergestellt. Dabei werden die Irregularitäten der gesprochenen Verbalmorphologie auf die Schreibung übertragen, so z.B. bei =['ha(')] 'hab-, Präs.Ind.' (vgl. aber =['hç'] 'haben'). Bei den Substandardschreibungen finden sich weitere orthographische Anpassungen; vgl. =['si: - 'sig] 'sagen: Inf. - Präs.Ind.', ctage - tager -» ta' - ta'r>=['tae, 'tç' - 'ta'] 'nehmen: Inf. - Präs.Ind.'. Die Schreibung dän. Kurzverben (s. Kap. 4.4.2) erweist sich somit als ein extremer Sonderfall des orthographischen Spannungsfeldes in Abb. 5/10. Abb. 5/10 faßt eine sehr charakteristische Eigenschaft der dän. Orthographie und Grammatik zusammen, bei der die Fremdsprachendidaktik besonders gefordert ist. Da man hierbei traditionellerweise vom Schriftbild ausgeht, wird die gesprochene Grammatik ausschließlich mittels GPKen aus der teilweise sehr andersartigen geschriebenen Grammatik abgeleitet. Deswegen gewinnt man zunächst den Eindruck, daß die dän. Grammatik zwar einfach, die Aussprache jedoch nur mit viel Mühe zu bewältigen ist. Werden aber die oben beschriebenen Irregularitäten der gesprochenen Verbalflexion im Inf./Präs.Ind.-Bereich nicht mehr in Gestalt singulärer, ususregulierter und unterschiedlich komplexer GPKen "verborgen", sondern unabhängig von der Schreibung erkannt und gesondert gelernt, so erscheint die dän. Aussprache weniger kompliziert. Was bisher Gegenstand der Ausspracheübung war, wird statt dessen Teil der gesprochenen Verbalflexion. Mit einer größeren Sprachbeherrschung erfolgt das laute Lesen außerdem zunehmend durch indirekten phonologischen Zugriff (Schriftbild Bedeutung -» Lautung), so daß die mitunter große Divergenz zwischen gesprochener und geschriebener Grammatik als orthographisches Problem teilweise umgangen wird. Hiervon sind insbesondere die hochfrequenten Wörter mit ihren vielen orthographischen Singularitäten betroffen. Leider findet sich kein Lehrbuchmaterial, das die im Mündlichen vorhandene unregelmäßige Morphologie schwacher Verben entsprechend behandelt. Aus synchroner Sicht ist =["kou3 - ki^da] Tcochen: Inf. - Prät.Ind.' im Mündlichen sogar suppletiver als manch starkes Verb. An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Vergleich mit dem Fär. In dieser Sprache gehen die komplexen orthographischen Verhältnisse auf eine reiche Allophonik und Allomorphik zurück. Umfangreiche, im Gegensatz zum Dän. jedoch meist sehr reguläre GPKen ermöglichen es fast immer, die Aussprache eindeutig aus dem Schriftbild abzuleiten. Aus der Perspektive der generativen Phonologie divergieren somit geschriebene und gesprochene Grammatik wesentlich weniger als im Dän. Vor- und Nachteile einer dän. Reform, bei der neue Schreibweisen auf Grundlage regulärer GPKen einzuführen wären, wurden bereits bei der Behandlung der Kurzverben in Kap. 4.4.2 angesprochen. Im folgenden werden einige weitere Argumente angeführt, die gegen eine orthographische Regularisierung der Bereiche (l)-(3) in Abb. 5/10 sprechen. Demnach erscheint auch ein fortschreitendes Divergieren geschriebener und gesprochener Morphologie noch als relativ unproblematisch:

131 (i) (ii)

(iii)

(iv)

(v)

Eine orthographische Regularisierung würde die grapho-morphologische Ikonizität stark beeinträchtigen. Die geschriebene Rexion im Präs.Ind. ließe sich zwar der Lautung anpassen, doch würde man die entsprechenden regulären l:l-GPKen dadurch erkaufen, daß die einfache Flexion des Geschriebenen zugunsten der komplizierten und allomorphreichen des Gesprochenen aufgegeben würde. Eine orthographische Regularisierung entsprechend der Standardlautung hätte weiterhin zur Folge, daß die Schreibung auch etwas gehobenere Wortformen, die der stilistisch unmarkierten Standardlautung relativ nahe stehen, nicht mehr abdecken würde (vgl. Kap. 4.4.2 zur Verschriftung des dän. Variantenkontinuums ['tae 'tç' { vor Adj./Adv.-Endung bei wortfinalem in der Grundform,...}. Eine Schreibung mit =/k/ konsequent einzuführen, würde zwar die PGKen regularisieren, aber auch den grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad senken (vgl. =['lo:g - 'loikt]). Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wieso viele moderne Schriftsprachen einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad auf Kosten regulärer l:l-GPKen favorisieren. Die Untersuchungen zu synchronen, ahistorischen Analogieschreibungen wie dän. =['öo(i)'(ö), 'äoö' - 'öod] 'gut: Sg.Utr. - Sg.Neutr' und cvide - vidste>=['viiöa- 'vescto] 'wissen; Inf. - Prät.Ind.' haben zudem gezeigt, daß irreguläre bis hin zu singulären GPKen ge7

Reformierte Schreibung.

136 duldet werden, um den grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad zu steigern (vgl. Kap. 5.5). Das Prinzip des hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades läßt sich somit weder als orthographischer Historismus noch als das Ergebnis von Lautwandel bei konstant gebliebenem Schriftbild hinreichend erklären. Ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad scheint vielmehr das Orthographiesystem synchron zu steuern. Die eher philologisch ausgerichtete Orthographieforschung ging bisher oft davon aus, daß ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad vor allem in lesestrategischer Hinsicht vorteilhaft sei - so auch in der amtlichen Regelung zur reformierten dt. Rechtschreibung (vgl. Deutsche Rechtschreibung 1996: 11). Bei direkter Bedeutungszuordnung (Schriftbild -> Bedeutung) sei es lesestrategisch wünschenswert, daß der Wortstamm unabhängig von der Aussprache eine invariante Schriftform habe. Entsprechend wären auch Schreibungen wie dän. und cvide vidste> zu erklären. Viele Ergebnisse der Leseforschung, die bereits seit den 1970er Jahren zugänglich sind, stellen diese These jedoch in Frage. Sie legen eher nahe, daß unter bestimmten Bedingungen ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad durchaus entbehrlich ist, ohne daß es von lesestrategischem Nachteil wäre (Kap. 5.7.4). Um die lesestrategische Bedeutung des grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades angemessen beurteilen zu können, müssen zunächst einige Ergebnisse der Leseforschung vorgestellt werden (Kap. 5.7.2). Diese zielen auf folgende Frage: Inwiefern korrespondieren die in Kap. 3 bis 5.6 erarbeiteten orthographischen Strukturen mit physiologischen und psychologischen Vorgängen beim Lesen/Schreiben (kritisch hierzu bei vor allem Henderson 1982: Part Π, aber auch Äugst 1986: 30; Coltheart 1986: 331; Frost 1992). Vor diesem Hintergrund untersucht Kap. 5.7.3 das Verhältnis zwischen graphemischer Flexion und grapho-morphologischer Ikonizität bei unterschiedlichen Lesestrategien anhand sprachstatistischer Daten. Leider gibt es zu den nord. Sprachen sehr wenig Leseforschung. Viele Ergebnisse vor allem zum Chin., Engl., Hebr., It., Jap. und Serbokroat. sind jedoch derart allgemeingültig, daß sie sich auch auf die nord. Sprachen übertragen lassen.

5.7.2. Einige Ergebnisse der experimentellen Leseforschung Seit den 1970er Jahren wird die experimentell fundierte Leseforschung intensiv betrieben (vgl. die Übersichten in McCusker et al. 1981; Scheerer 1983a; 1983b; zur älteren Forschung vgl. Huey 1908; Wundt 6 1911:573-503; Meumann 2 1914: 443-530). Diese Arbeiten untersuchen eine ganze Reihe von Parametern, die das Leseverhalten beeinflussen können. Die häufigste Methode besteht im wesentlichen darin, zunächst alle Parameter außer zwei konstant zu halten. Stellt sich heraus, daß die zwei frei variierenden Parameter miteinander statistisch signifikant korrelieren, kann man mit einer gewissen Sicherheit auf eine Kausalverbindung schließen. Vor allem die folgenden Parameter sowie ihre Interdependenzen sind dabei bedeutsam Wie unterscheidet sich das Lesen (1) bei Sprachen mit unterschiedlich großer phonologischer Tiefe? (2) bei Sprachen mit unterschiedlich komplexer Flexion/Derivation? (3) bei Sprachen, die das gleiche Verschriftungsprinzip unterschiedlich umsetzen? Hier ist das Serbokroat. methodisch bedeutsam, da diese Sprache sowohl mit lateinischen als auch mit

137

(4) (5) (6)

(7)

(8) (9) (10) (11) (12)

(13)

(14)

(15)

kyrillischen Buchstaben geschrieben wird. Äußerem sind die Graphemformen der beiden Alphabete teilweise identisch, so daß einige Wörter - wenn vom weiteren Kontext isoliert nicht immer eindeutig einem der Alphabete zuzuordnen sind. bei unterschiedlicher graphemischer und phonologischer Wortlänge? bei unterschiedlicher Lesekompetenz? Dabei ist auch das Studium des Schriftsprachenerwerbs zu beachten. bei unterschiedlichen Sprachstörungen des Hirns (z.B. Dyslexie, Dysgraphie) oder der Sinnesorgane (bis hin zu Stummheit, Blindheit und Taubheit)? Hieraus auf die ungestörte Verarbeitung beim Lesen zu schließen, kann jedoch problematisch sein; bei Sprachstörungen arbeitet das Hirn möglicherweise mit kompensatorischen Strategien, die bei intakter Lesekompetenz nicht aufkommen (vgl. Günther 1987: 61). bei Wörtern, PseudoWörtern und NichtWörtern? Dabei sind die Fälle in Abb. 5/14 zu berücksichtigen (dt. Beispiele). Phonetische Wörter, die anhand regulärer GPKen falsch geschrieben sind, werden Pseudohomophone genannt wie z.B. dt. *=['ka'n] statt . bei unterschiedlicher Wortfrequenz? bei unterschiedlichem Regularitätsgrad der GPKen? bei unterschiedlicher lexikalischer Steuerung. Wird z.B. auf schneller reagiert, wenn das Wort gleichzeitig mit statt mit erscheint? bei Wörtern, die im Geschriebenen und Gesprochenen eine unterschiedlich große morphologische Transparenz aufweisen (vgl. engl. =['biekfœst] 'Frühstück'). bei rein phonetischen und rein orthographischen Reimen? So sind z.B. im heutigen Dän. cbage - tage>=["bçe3 - 'tç'] 'backen - nehmen' und =['fl0cb- 'hyda] '(ver)rücken - Hütte' rein orthographische Reime, =['dena - 'nena 's^ena] 'diese(r) - rinnen - schänden' hingegen rein phonetische Reime. bei Schriften, die unterschiedlich viel Information über die Aussprache kodifizieren. Folgende Reihe erstreckt sich von einer rein phonemischen bis hin zu einer hochgradig logographischen Schrift: Finn., Schwed., Dan., Engl., Chin. beim gleichen Wort, wenn es mit Großbuchstaben, Kleinbuchstaben oder gemischt geschrieben wird (z.B. dt. . Dabei werden auch g e m i s c h t e Schriftzeichensätze benutzt (vgl. Sanocki 1987). bei Wörtern mit unterschiedlich vielen sogenannten "Nachbarn" (vgl. Grainger 1992; Henderson 1986). Ein Nachbar zu ist ein Wort, das sich nur durch ein Graphem unterscheidet wie z.B. (sie bilden alle Minimalpaare mit ). Dt. hat dagegen keine Nachbarn. Darüber hinaus werden Nachbarn unterschiedlichen Grades definiert, je nachdem ob sich die Wörter durch zwei, drei oder mehr Grapheme unterscheiden ( wäre ein Nachbar zweiten Grades zu ).

Zu diesem Parameterkatalog kommen Aufgaben an die Versuchspersonen hinzu wie z.B.: (16) Die Anzahl der Phone in homophonen Wörtern mit unterschiedlicher Graphemzahl bestimmen. (17) Zunächst falsch/richtig gelesene Wörter in einem zweiten Versuch nach Diktat schreiben.

138

Graphotaktik richtig

falsch * *['sdlunk]

* ['sduil]

* •[•sdYldsa]

* *['lad]

* Wörter, die im Schriftlichen existieren

• Wörter, die im Mündlichen existieren

Abb. 5/14: Typologie der in der Leseforschung verwendeten Wörter, Pseudowörter und NichtWörter. Bei den Experimenten wird meist die Reaktionsgeschwindigkeit auf unterschiedliche Reize gemessen. Dabei kann es sich um das Aussprechen einer Graphemfolge handeln, oder die Versuchspersonen müssen durch ja/nein entscheiden, ob ihnen ein Wort oder ein Nichtwort gezeigt wird. Aufgrund der erzielten Ergebnisse sind im wesentlichen folgende drei Hypothesen über die kognitiven Leseprozesse aufgestellt worden: (i)

Schrifteinheiten werden phonologische Einheiten zugeordnet, woraufhin die Bedeutung abgeleitet wird (d.h. direkter Ausdruckszugriff und indirekter Bedeutungszugriff). Dabei müssen aber weder die schriftlichen Einheiten Einzelgrapheme noch die phonologischen Einheiten Einzelphoneme sein. Ebenso kommen Graphemverbindungen (die mehr als einem Phonem entsprechen können), graphemische Silben, Morpheme, Wörter oder sogar Wortgruppen in Frage. Die in gewisser Hinsicht minimal gehaltenen GPKen der traditionellen Linguistik machen somit nur eine unter vielen Möglichkeiten dieses Prozesses aus. Henderson (1982: 26-63, 133-141) und Seidenberg (1985: 2) weisen zu recht darauf hin, daß es gerade für die Verwendung von GPKen beim Lesen die wenigsten Hinweise gibt. Die Vorstellung vom indirekten Bedeutungszugriff ist traditionsreich und wird bereits von Aristoteles in seiner logischen Schrift PeriHermeneias8 erwähnt (für eine alternative Meinung zu Aristoteles' Theorie vgl. Günther 1983: 17-26; 1987: 151-153). Um die Position des indirekten Bedeutungszugriffs zu untermauern, wird angeführt, daß sich auch Pseudowörter vorlesen lassen. Da diese nichts bedeuten, sei ein indirekter Ausdruckszugriff nicht möglich. Die Tatsache, daß sich ein Pseudowort wie dt. * nicht nur korrekt als ['JbR0dsn], sondern auch schneller als ein Nichtwort wie * lesen läßt, bedeutet jedoch nicht zwingend, daß der Ausdruckszugriff direkt erfolgt. Pseudowörter können in Analogie zu richtigen Wörtern lautlich realisiert werden, deren Aussprache wiederum auf einen indirekten Ausdruckszugriff zurückgeht. Demnach ließe sich *['JbR0dsn] in Analogie zum indirekten Ausdruckszugriff auf und ermitteln (vgl.

8

Dt.: Über die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken.

139 Henderson 1982: 133-141 und Glushko 1981). Auch die abweichende Graphotaktik bei NichtWörtern kann in regulär vorkommende Graphemverbindungen zerlegt werden. Außerdem würde ein tatsächlich nachweisbarer, direkter Ausdruckszugriff bei Pseudowörtern und NichtWörtern keineswegs heißen, daß auch richtige Wörter in dieser Weise gelesen werden. Die Tatsache, daß Taube ohne Kenntnis des phonologischen Kodes lesen können (und somit keine Zuordnungen von lautlichen und schriftlichen Einheiten verwenden), zeigt, daß ein indirekter Bedeutungszugriff nicht zwingend ist. (ii) Auch eine prinzipiell andere Lesestrategie ist denkbar. Dabei wird dem geschriebenen Morphem eine Bedeutung direkt und unabhängig vom Phonologischen zugeordnet (direkter Bedeutungszugriff). Erfolgt eine lautliche Realisierung erst danach, ist sie sekundär (indirekter Ausdruckszugriff). Hierbei muß aber die kognitive Struktur des indirekt ermittelten Ausdrucks nicht notwendigerweise mit einer linearen Abfolge segmental-phonologischer Einheiten strukturgleich sein. Die Ergebnisse der nicht-segmentalen Phonologie, wie sie seit Anfang der 1970er Jahre betrieben wird, weisen auf Fakten hin, die sich angemessener erfassen lassen, wenn man nicht apriori von einer linear-segmentalen phonologischen Struktur ausgeht (vgl. z.B. Anderson 1974: 274; Browman/Goldstein 1986: 219-223; Giegerich 1992: 313-323; Liberman et al. 1967: 25 und Kap. 9). Bei Schriften, die die Ausdrucksseite des Gesprochenen abbilden, ist der direkte Bedeutungszugriff meist möglich, dennoch nicht zwingend (so bereits Erdmann/Dodge (1898: 141-202) und Huey (1908: 177f.); vgl. auch Cattell (1885)). Schriften, die die sprachliche Inhaltsseite abbilden, lassen sich hingegen nur durch direkten Bedeutungszugriff lesen. Allerdings durchbrechen die sogenannten Rebuswörter diese Lesestrategie, da sie auf Homophonien basieren. (Bei einer piktographischen Verschriftung des Dt. wäre es demnach möglich, das Zeichen < ® > nicht nur für die Bedeutung 'Rad', sondern auch für 'Rat' zu verwenden.) Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der indirekte Bedeutungszugriff tatsächlich erfolgt. Ein Modell ordnet die Wörter in Familien. Beim Lesen eines Wortes wird diesem Modell zufolge zunächst die Wortfamilie lokalisiert und erst danach die Wortbedeutung selbst ermittelt. Entsprechend dem Abstand eines Wortes zum Kern der Wortfamilie variiert die Lesegeschwindigkeit (für Diskussion vgl. MacCann 1987; Besner 1984; Günther 1989a; 1989b). (iii) Schließlich wird die Position vertreten, daß die Lesestrategien (i) und (ii) kombiniert auftreten. Einige repräsentative Vertreter dieser drei Positionen werden von Gfroerer (1984) zusammenfassend erwähnt. Seit Mitte der 1980er Jahren konzentriert sich die Forschung hauptsächlich auf Untersuchungen entsprechend Position (iii). Folgende Arbeiten (mit weiterer Literatur) bieten einen guten Überblick: Coltheart 1984; 1986; Seidenberg et al. 1984; Seidenberg 1985; 1992; Seidenberg/McClelland 1989; Feldman 1991; Paap/Noel 1991; Paap et al. 1992. Besonders beliebt ist ein Modell, das beim Lesen eine gleichzeitige parallele Aktivierung sowohl des direkten als auch des indirekten Bedeutungszugriffs vorsieht (so z.B. Coltheart 1978 und Sartori/Masutto 1982). Je nachdem, welcher Weg am schnellsten ist, erfolgt ein direkter bzw. indirekter Bedeutungszugriff. Allerdings wurde gegen diese Vorstellung oft eingewandt, daß es nicht besonders effektiv sei, jedesmal zwei Prozesse zu aktivieren, wenn am Ende nur das

140 Ergebnis eines davon für den Bedeutungszugriff verwendet wird. Hinzu kommt, daß in Sprachen wie dem Dan. oder Engl, der Weg des indirekten Bedeutungszugriffs wegen der vielen irregulären und singulären GPKen oft erfolglos ist. Da die Effektivität des indirekten Bedeutungszugriffs von der orthographischen Tiefe abhängt, wäre bei einem Vergleich einer flachen mit einer tiefen Orthographie (wie z.B. Bokm. vs. Fär.) folgende Fragestellung zu bedenken: Führt ein unterschiedlich großer Transformationsaufwand dazu, daß bei einer flachen Orthographie der direkte und bei einer sehr tiefen Orthographie der indirekte Bedeutungszugriff meist unnötigerweise aktiviert wird? Unter anderem wegen dieser Kritik hat Seidenberg (1985) das Modell in Abb. 5/15 vorgeschlagen, das auch die Abhängigkeit der Lesegeschwindigkeit von der Frequenz der Wörter erfaßt. [Analysezeit]

Abb. 5/15: Das lesestrategische Modell von Seidenberg (1985). Abb. 5/15 zeigt, daß bei direktem Bedeutungszugriff ein trilaterales lexikalisches Zeichen vorauszusetzen ist. Entscheidend sind bei Seidenbergs (1985) Modell die Analysemechanismen, die nach der optischen Aufnahme einer Schrifteinheit die weitere Lesestrategie steuern ("Analyse-Kästchen" links in Abb. 5/15). Die Analyse des optischen Reizes wird bereits dann abgebrochen, wenn genügend Kriterien erfüllt sind, die einen erfolgreichen direkten Bedeutungszugriff wahrscheinlich machen. Das kann sehr früh, sogar vor der Identifikation einzelner Grapheme geschehen (bei (a) in Abb. 5/15). So erklärt sich auch, warum das Korrekturlesen eine andere Lesestrategie erfordert als normales, nur auf die Bedeutungszuordnung ausgerichtetes Lesen (vgl. hierzu Frith 1983: 126130, aber auch Besner 1984; Günther 1986: 363). Der Weg des direkten Bedeutungszugriffs kann

141 auch viel später eingeschlagen werden, sogar nachdem die ganze graphemische Struktur erkannt worden ist (bei (c) in Abb. 5/15). Schließlich kann der Fall eintreten, daß nach vollständiger Analyse der graphemischen Struktur der Weg des direkten Bedeutungszugiiffs nicht gewählt wird. Dann wird die Schrifteinheit mit lautlichen Einheiten verbunden (bei (d) in Abb. 5/15), die indirekt zur Bedeutung führen. Dieses Modell ist nicht nur mit den meisten Ergebnissen der Leseforschung konsistent; es hat auch den großen Vorteil, daß es ohne Parameter auskommt, deren nähere Spezifikation von den Ergebnissen selbst abhängt - der Falsifizierbarkeitsgrad ist hoch, um mit K. Popper (1994: §§31, 42f.) zu sprechen. Folgende experimentelle Beobachtung ist bedeutsam: Nur bei Wörtern mit mittlerer bis niedriger Gebrauchsfrequenz korreliert der Irregularitätsgrad der GPKen mit der Reaktionszeit zwischen optischem Reiz und Artikulation. Bei hoher Gebrauchsfrequenz beeinflußt der Irregularitätsgrad der GPKen dagegen die Reaktionszeit kaum. Mit Blick auf Abb. 5/15 würde das bedeuten, daß eine hohe Gebrauchsfrequenz den direkten, von GPKen unabhängigen Bedeutungszugriff auslöst. Erfolgt in diesen Fällen eine lautliche Realisation (als "innere Stimme" oder durch Vorlesen), so geht sie auf einen indirekten Ausdruckszugriff zurück. Diese Art des Lesens unterscheidet sich nicht wesentlich vom Lesen einer logographischen Schrift (vgl. Seidenberg et al. 1984; Koriat 1985; Seidenberg 1985: 6; Frost 1992: 109). Mit anderen Worten: Bei hochfrequenter Lexik beeinträchtigen irreguläre bis hin zu singulären GPKen die Lesbarkeit der Schrift nicht (was jedoch nicht beim Lesenlernen zutrifft). Die wortmedial irreguläre Korrespondenz =0 in dän. =['vçsçb] 'wissen, Prät.Ind.' ermöglicht somit einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad (vide/vidste), ohne die Bedeutungszuordnung zu erschweren. Daß bei hoher Wortfrequenz die Lesestrategie von der orthographischen Tiefe unabhängig ist, hat eine weitere Konsequenz: Sowohl bei der relativ flachen Orthographie des Schwed./Bokm. als auch bei der transformationellen des Fär. unterscheidet sich hier das Lesen nicht wesentlich vom Lesen eines logographischen Textes. Fragen nach einer möglichen Koppelung von Lesegeschwindigkeit und orthographischer Tiefe sind lediglich bei mittel- bis niedrigfrequenten Wörtern sinnvoll zu stellen (vgl. MacCusker et al. 1981; Frost/ Katz/Bentin 1987). Demnach wäre unter anderem zu untersuchen, ob sich beim Fär. im Vergleich mit dem Schwed./Bokm. eine signifikant geringere Lesegeschwindigkeit eher bei mittel- bis niedrigfrequenten Wörtern als bei hochfrequenten feststellen läßt. Da die meisten Texte zum großen Teil aus hochfrequenten Wörtern bestehen, unterscheidet sich das Lesen von Texten verschiedener Schriftsysteme weitaus weniger, als ihre jeweiligen Verschriftungsprinzipien zunächst nahelegen. Den statistischen Beleg dafür liefert die Tabelle in Abb. 5/16. Abb. 5/16 zeigt, daß mit den 10 häufigsten Wörtern rund ein Fünftel und daß mit nur 250 Wörtern mehr als die Hälfte eines Zeitungstextes abgedeckt ist. Im Dt. werden hierfür etwas weniger Wörter als im Schwed. und Bokm. gebraucht. Ursache dafür ist vor allem, daß der hochfrequente bestimmte Artikel im Dt. graphemisch als eigenes Wort zählt, wohingegen er in den nord. Sprachen sehr oft flexivisch auftritt. In bezug auf die lesestrategische Effektivität macht Abb. 5/16 folgendes deutlich: Der durch indirekten Bedeutungszugriff gelesene Textanteil läßt sich auf etwa die Hälfte verringern, wenn bei nur ein paar hundert Wörtern ein direkter Bedeutungszugriff verwendet wird! Der Übergang von

142 indirektem zu direktem Bedeutungszugriff auch bei wenigen sehr frequenten Wörtern verändert daher das Leseverhalten insgesamt grundlegend. Dieser Umstand relativiert sich etwas dadurch, daß die frequentesten Wörter häufig einen geringen semantischen Gehalt besitzen. Einsilbige Wörter wie dt. der, die, und, ist, hat usw. sind zwar sehr häufig, dienen aber eher der syntaktischen Organisation vollsemantischer Wörter, als daß sie wesentlich zum Textinhalt im engeren Sinn beitragen. Obwohl 150-200 Wörter etwa die Hälfte eines Textes abdecken, hat man damit den Textinhalt keineswegs zur Hälfte erschlossen.

In Zeitungstexten ...

... machen die χ gewöhnlichsten Wörter ...

... y % des Textes aus.

5 10 50 100 199 249 502 998 1966 4 933 10 604 19 797

y = 10.9 17.5 35.9 42.3 48.2 50.0 55.7 61.5 67.3 73.7 82.4 87.9

bokm Texte (Heggstad 1982: 8)

10 150 200

19.9 50.0 52.4

dt. Texte (Rosengren 1977: 353)

5 100 115

20.2 48.9 50.1

schwed. Texte (Allén 1970: 1038-1047)

χ=

Abb. 5/16: Textanteil der gewöhnlichsten Wörter im Schwed., Bokm. und Dt.9 Die Extensivität des direkten Bedeutungszugriffs ist von Leser zu Leser sehr verschieden. Je geübter ein Leser ist, um so mehr Wörter (mit niedrigerer Gebrauchsfrequenz) dürfte er durch direkten Bedeutungszugriff erfassen. Bei den "besten" Lesern gilt, daß sie niedrigfrequente Wörter mit irregulären GPKen sogar schneller lesen als ungeübte Leser hochfrequente Wörter mit regulären GPKen (vgl. Seidenberg 1985: 19). Dieses Ergebnis hat Konsequenzen für das Verhältnis zwischen strukturalistisch ermittelten GPKen und ihrer kognitiven Repräsentation. Werden nämlich hochfrequente Wörter, bei denen irreguläre bis singuläre GPKen besonders häufig sind, konsequent durch direkten Bedeutungszugriff gelesen, braucht die kognitive Repräsentation der GPKen nur den mittel- bis niedrigfrequenten und unter orthographischen Gesichtspunkten regulä9

Zur dän. und isl. Sprachstatistik vgl. Bergenholtz 1992 bzw. Pind/Magnússon/Briem 1991.

143 rer organisierten Bereich der Lexik zu erfassen. In der kognitiven Repräsentation lägen damit wesentlich regulärere und einfachere orthographische Verhältnisse vor als bei den rein strukturalistisch ermittelten GPKen. Folgende Formalisierung deckt eine weitere Konsequenz des direkten Bedeutungszugriffs auf. (1) und (2) unten sind strukturalistisch ermittelte GPKen, die sich dadurch unterscheiden, daß q > n, d.h. (2) komplexer als (1) ist. (1) θ ] - > { / / ] , / / 2 , . . . , //nlstruk. ^ (2) 2->{//i, Hl, • •., //qJstnik. ^ t

den den

irregul. Korrespondenzen i->{// m + i,..., // n } str uk. irregul. Korrespondenzen < > 2 ^ { / / p t i , . . · , //q}struk.

Als Beispiel für (1) kann die schwed. GPK —»{/g/, /q/, /j/, lyj, 0 } mit η = 5 angeführt werden (von Fremdwörtern, die gesondert zu behandeln sind, wird abgesehen). Hier sind die drei ersten Korrespondenzen (n = 1, 2, 3) regulär; vgl. schwed. =['go:, Vaqn, 'je:] 'gehen, Wagen, geben'. Die zwei letzten Korrespondenzen (n = 4,5) sind hingegen irregulär; vgl. =[ v sej:a, 'ja:] 'sagen, ich'. Viele irreguläre Korrespondenzen beziehen sich auf hochfrequente Wörter und sind beim Lesen durch direkten Bedeutungszugriff kognitiv irrelevant. Beim Lesen sind daher nur solche TeilGPKen erforderlich, die fur mittel- bis niedrigfrequente Wörter verwendet werden. Beim Lesen ist nur die Teil-GPK —>{/g/, /q/, /j/} kognitiv relevant. In allgemeiner Form ist dieser Umstand folgendermaßen auszudrücken: (1') i->{//i, Hl' ···. //mJkogn. (wobei m < η) (2') 2-»{//l, 111, .... //plkogn. (wobei ρ < q) Besondere Aufmerksamkeit verdienen nun die Sonderfälle mit ρ < m (< n); vgl. Abb. 5/17.

η

q

[Komplexitätsgrad der strukturalistischen GPK]

[Komplexitätsgrad der entsprechenden kognitiven GPK] Abb. 5/17: Komplexitätsgrad der strukturalistischen und kognitiven Repräsentation zweier GPKen mit ρ < m (< η). Abb. 5/17 zeigt vor allem folgendes: Von dem Komplexitätsgrad zweier strukturalistisch ermittelter GPKen kann man nicht mit Sicherheit auf den Komplexitätsgrad der entsprechenden kognitiven GPKen schließen. Mit Blick auf Orthographiereformen bedeutet das, daß strukturalistische Aussagen über lesestrategische Eigenschaften der GPK-Systeme nur unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sind - insbesondere muß die Implikation (q > n) => (p > m) gelten.

144 5.7.3. Rexion und ihr Verhältnis zur grapho-morphologischen Ikonizität bei verschiedenen Lesestrategien Die bisherigen Überlegungen zu den Lesestrategien sollen nun auf das Verhältnis zwischen grapho-morphologischer Ikonizität und Flexion in den nord. Sprachen bezogen werden. Kap. 5.7.2 weist insbesondere auf folgende Tatsache hin: Für die Wahl zwischen einer Lesestrategie mit direktem oder einer mit indirektem Bedeutungszugriff gibt in erster Linie nicht der grapho-moiphologische Ikonizitätsgrad, sondern vielmehr die lexikalische Gebrauchsfrequenz den Ausschlag. In der folgenden Reihe mit hochfrequenten Wörtern nimmt der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad ab; dennoch ist ein direkter Bedeutungszugriff in etwa gleichermaßen wahrscheinlich: dän.

'gut: Sg.Utr. - Sg.Neutr.'; fär./isl. 'gut: Sg. Mask.Nom. - Sg.Neutr.Nom./Akk.'; fär./isl. 'Mann, man: Sg.Nom. - Pl.Akk.'; dän.

'sein: Präs.Ind. - Prät.Ind.'. Ein niedriger grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad, sei er suppletiv oder durch eine flache Verschriftung bedingt, verhindert eine Lesestrategie mit direktem Bedeutungszugriff also nicht grundsätzlich. In diesem Zusammenhang sind Sprachen, die durchgehend flach verschriftet sind, obwohl ihre phonologische Struktur weitaus tiefere Züge enthält, aufschlußreich. Insbesondere das Schriftbild des Finnischen verzichtet - im Gegensatz zu den nord. Sprachen - zugunsten einer flachen Verschriftung konsequent auf einen sonst leicht zu erreichenden höheren grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad; vgl. finn, sulkea/suljen 'schließen - ich schließe'. Daraus wird ersichtlich, daß phonologische Tiefe zwar eine orthographische Tiefe ermöglicht, eine flache Verschriftung aber nicht bloß eine theoretische Alternative bietet, sondern durchaus als nationale Standardsprache vorkommt (vgl. hierzu Kap. 7.5, das die kulturgeschichtlichen und -politischen Entstehungsbedingungen der fär. Orthographie behandelt). Vergleicht man die flache Orthographie des Finn, mit schwed. =['lo:g - loikt] 'tief: Sg.Utr. - Sg.Neutr.', so wird ersichtlich, daß die Orthographie des Schwed. anders verfährt. Auch hier befinden sich das orthographische 1:1-Prinzip und die grapho-morphologische Ikonizität in einem Konflikt zueinander, der jedoch anders als im Finn, gelöst wird. Auch die anderen nord. Sprachen verfahren prinzipiell wie das Schwed.; nur im Fär. und im Dän. sind die phonologische und orthographische Tiefe im allgemeinen größer. Diese Beispiele führen zu einer zentralen Frage: Unter welchen lesestrategischen Bedingungen bietet ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad derart große Vorteile, daß durch ihn bedingte Komplikationen und Irregularitäten der GPKen aufgewogen werden? Eine mögliche Antwort soll anhand von Kap. 5.7.2 sowie einiger Ergebnisse der Sprachstatistik ermittelt werden. Die folgenden Überlegungen gehen vom Sg. der schwed. Adjektivflexion aus. Bei der graphemischen Bildung der Sg.Neutr.-Form wird dem lexikalischen Stamm (der zugleich die Sg.Utr.-Form ist) ein hinzugefügt; d.h. + -> 'tief, Neutr.Sg.'. Beim Lesen dieses Wortes durch direkten Bedeutungszugriff sind zwei verschiedene Strategien möglich, die jeweils eine andere kognitive Repräsentation der Schriftbildgestalten voraussetzen. Entweder sind und trotz ihrer prinzipiellen Zerlegbarkeit als zwei eigenständige, ganzheitliche Schriftbildgestalten repräsentiert, oder aber der Stamm und die Endung sind separat

145 repräsentiert. Im ersten Fall wird der ganzheitlichen Schriftbildgestalt unmittelbar durch direkten Bedeutungszugriff die Bedeutung 'tief, Sg.Neutr.' zugeordnet (im folgenden Ganzheitsstrategie genannt). Gleichermaßen wird nach der Ganzheitsstrategie die Bedeutung 'tief, Sg.Utr.' zugeordnet. Sind aber der Stamm und die Endung separat repräsentiert, entspricht dies einer Lesestrategie, bei der zuerst in die zwei Komponenten und zerlegt wird, ehe diesen die Bedeutungen 'tief bzw. 'Sg.Neutr.' durch direkten Bedeutungszugriff zugeordnet werden (im folgenden Zerlegungsstrategie genannt). Die Zerlegungsstrategie setzt somit den hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bei voraus, doch führt er nicht zwangsläufig zu ihrer Anwendung. Unabhängig davon, ob der direkte Bedeutungszugriff entsprechend der Ganzheitsstrategie oder der Zerlegungsstrategie erfolgt, sind in der kognitiven Repräsentation zwei Schriftbildgestalten anzusetzen: und bzw. und . Bei der Zerlegungsstrategie ist eventuell auch mit einer 0-Endung für den Sg.Utr. zu rechnen. Betrachtet man nur ein einziges Lexem mit zwei Wortformen, ist nicht zu entscheiden, welche der beiden Strategien hinsichtlich der Größe des Schriftbildgestalteninventars ökonomischer ist. Vor dem Bedeutungszugriff ist die Zerlegungsstrategie sogar etwas aufwendiger als die Ganzheitsstrategie. Wird nun die Anzahl schwed. Adjektive berücksichtigt, ergibt sich folgendes: Schon bei zwei Adjektiven macht sich ein kleiner Unterschied zwischen der Ganz-heits- und der Zerlegungsstrategie bemerkbar. Nach der Ganzheitsstrategie müssen bei zwei Adjektiven vier ganzheitliche Schriftbildgestalten kognitiv repräsentiert werden, wohingegen die Zerlegungsstrategie mit drei auskommt. Die Tabelle in Abb. 5/18 zeigt, wie sich dieser Unterschied zwischen den Strategien je nach Anzahl der Adjektive auf die Größe des Schriftbildgestalteninventars auswirkt (die Zahlen in Klammem berücksichtigen die Existenz einer Nullendung).

Anzahl Adjektive

Größe des Schriftbildgestalteninventars bei Ganzheitsstrategie

Größe des Schriftbildgestalteninventars bei Zerlegungsstrategie

1 2 3

2

2 3

10 η

4 6

4

20

11

2n

n+1

(3) (4) (5) (12) (n+2)

Abb. 5/18: Größe des Schriftbildgestalteninventars bei Ganzheits- und Zerlegungsstrategie. Bei hohem η führt somit die Ganzheitsstrategie annähernd zu einem doppelt so großen Inventar von Schriftbildgestalten wie die Zerlegungsstrategie. Man muß aber davon ausgehen, daß nicht beliebig viele Schriftbildgestalten mühelos kognitiv repräsentiert werden - ab einem gewissen Punkt wird ein indirekter Bedeutungszugriff verwendet. Es gibt somit eine höchste Zahl N, die je nach Lesestrategie die maximale Anzahl Adjektive, die durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden, auf N+2 bzw. N-l (bei existenter Nullendung: N-2) begrenzt. Ist Ν = 500 bedingt die Ganzheitsstrategie einen direkten Bedeutungszugriff bei 500+2 = 250 Adjektiven, während die

146 entsprechende Zahl bei der Zerlegungsstrategie mit 500-1 = 499 (bzw. 500-2 = 498) fast doppelt so hoch ist. Geht man davon aus, daß Lesen durch direkten Bedeutungszugriff grundsätzlich effektiver ist als durch indirekten, kommt man zur folgenden Schlußfolgerung: Eine Orthographie, die der Zerlegungsstrategie entgegenkommt, ermöglicht ein effektiveres Lesen. Eine solche Orthographie zeichnet sich vor allem durch einen konsequent eingesetzten, hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad aus. Die begrenzte Kapazität, durch direkten Bedeutungszugriff zu lesen, wird maximal durch die Vorzüge der Zerlegungsmethode ausgenutzt. Das folgende Beispiel soll das anhand der starken Adjektivflexion im Isl. veranschaulichen. Bei zwei Numeri, drei Genera und vier Kasus sind theoretisch 2*3*4 = 24 verschiedene Flexive denkbar. Das Paradigma ist jedoch nicht gleichmäßig mit Ausdrucksoppositionen besetzt; z.B. Dat.Pl. durchgehend -um, Gen.Pl. durchgehend -a (für eine funktionale Erklärung dieser Asymmetrie vgl. Werner 1990). Immerhin weist das Isl. 13 verschiedene Flexive der starken Deklination auf, so daß bei η Adjektiven die Zerlegungsstrategie ein Inventar von n+13 Schriftbildgestalten und die Ganzheitsstrategie ein Inventar von 13n Schriftbildgestalten voraussetzt. Damit die gleiche Anzahl flektierter Wortformen durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden kann, impliziert daher bei großem η die Ganzheitsstrategie etwa 13 Mal so viele Schriftbildgestalten wie die Zerlegungsstrategie. Für α verschiedene Wortformen bei η Lexemen verlangt die Ganzheitsstrategie a*n, die Zerlegungsstrategie hingegen nur n+a Schriftbildgestalten. Damit die gleiche Anzahl flektierter Wortformen bei beiden Lesestrategien durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden kann, muß die Ganzheitsstrategie etwa α Mal so viele Schriftbildgestalten wie die Zerlegungsstrategie vorsehen. Aus diesem Ergebnis darf aber nicht voreilig geschlossen werden, daß die Zerlegungsstrategie auch in bezug auf die lesestrategische Effektivität der Ganzheitsstrategie im gleichen Maße überlegen ist. Anhand der Daten in Abb. 5/16 läßt sich die tatsächliche Überlegenheit der Zerlegungsstrategie errechnen. Da laut Kap. 5.7.2 vor allem hochfrequente Wörter durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden, maximiert die Zerlegungsmethode den durch direkten Bedeutungszugriff gelesenen Textanteil. Werden z.B. nur die 250 gebräuchlichsten schwed. Wörter durch direkten Bedeutungszugriff gelesen, deckt dies laut Abb. 5/16 bereits etwa 50% des Textes ab. Allerdings wird es immer schwieriger, den durch direkten Bedeutungszugriff gelesenen Textanteil zu vergrößeren, je mehr Wörter nach dieser Methode gelesen werden. Eine Aufstockung von 250 auf die 500 häufigsten schwed. Wörter steigert den Textanteil mit nur 5,7 Prozentpunkten: 50%+5,7% = 55,7%. Will man ausgehend von 10 000 Wörtern eine in Prozentpunkten gleich große Steigerung erreichen, müssen nicht weniger als rund 10 000 weitere Wörter durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden. Laut Abb. 5/16 ergeben 82,4% bei 10 604 Wörtern und 87,9% bei 19 797 Wörtern eine Steigerung von 5,5 Prozentpunkten. Jede Verdoppelung der Anzahl von Wörtern, die durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden, steigert den Textanteil um etwa 6,0 Prozentpunkte (ß = 2 impliziert k « 6,0 in Abb. 5/19 unten). Ebenso führt eine Verdreifachung der Anzahl von Wörtern, die durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden, immer zu einer konstanten Erhöhung des Textanteils um nur 9,6 Prozentpunkte (ß = 3 impliziert k « 9,6 in Abb. 5/19). Die Tabelle in Abb. 5/19 zeigt eine entsprechende Auswertung von Alléns (1970: 1038-1047) Statistik.

147 ß-malige Vervielfachung der Anzahl durch

konstante Steigerung des Textanteils

direkten Bedeutungszugriff gelesenen Wortformen in Prozentpunkten

ß= 2

ß=

9

k =

6,0

k = 19,1

ß= 3 ß= 4

ß = 10

k=

9,6

k « 20,1

ß = 13

k = 12,1

k = 22,3

ß=5

ß = 15

k « 14,0

k = 23,6

ß= 6 ß= 7

ß = 20

k = 15,6

k « 26,1

ß = 25 ß = 30

k = 17,0

k = 28,1

k = 18,1

k = 29,7

ß= 8

Abb. 5/19: Steigerung des Textanteils bei ß-maliger Vervielfachung der Anzahl durch direkten Bedeutungszugriff gelesenen Wortformen.10 Die Daten in Abb. 5/19 sind nun für die oben besprochene Tatsache, daß für α verschiedene Wortformen bei η Lexemen die Ganzheitsstrategie a*n, die Zerlegungsstrategie hingegen nur n + a Schriftbildgestalten impliziert, zu verwerten. Damit die gleiche Anzahl flektierter Wortformen durch direkten Bedeutungszugriff gelesen werden kann, müssen bei der Ganzheitsstrategie (α*η)+(η+α) mal so viele Schriftbildgestalten kognitiv repräsentiert sein wie bei der Zerlegungsstrategie; ist η viel größer als α, so gilt (α*η)+(η+α) = α. Bei 1 000 kognitiv repräsentierten Schriftbildgestalten impliziert die Ganzheitsstrategie laut Abb. 5/16 einen Textanteil von 61,5%. Bei einer Zerlegungsstrategie ermöglichen hingegen 1 000 kognitiv repräsentierte Schriftbildgestalten in etwa 5*1 000 = 5 000 Wortformen, aber nur einen Textanteil von 73,7%. Obwohl sich mit der Zerlegungsstrategie viel mehr Wörter durch direkten Bedeutungszugriff lesen lassen, erhöht sich der gelesene Textanteil um lediglich 12,2 Prozentpunkte. Die Überlegungen, die zu Abb. 5/19 hinführten, haben gezeigt, daß dieses Ergebnis von der Anzahl kognitiv repräsentierter Schriftbildgestalten unabhängig ist. Bei jeder anderen Anzahl kognitiv repräsentierter Schriftbildgestalten ist die Zerlegungsstrategie demnach bei α = 5 ebenso um 12,2 Prozentpunkte besser als die Ganzheitsstrategie. Unabhängig von der Größe des Inventars an kognitiv repräsentierten Schriftbildgestalten gilt somit α = β = 5. Abb. 5/19 zeigt auch, daß für α = β = 5 der Textanteil durchschnittlich nicht um 12,2, sondern um k(a = β = 5) = 14,0 Prozentpunkte erhöht wird. Die Konstante k(a = ß) drückt somit die lesestrategische Überlegenheit der Zerlegungsstrategie in Prozentpunkten des gelesenen Textanteils aus. Diese sprachstatistischen Schlußfolgerungen wirken sich auf die Bewertung des Verhältnisses zwischen Flexion, grapho-morphologischer Ikonizität und direktem Bedeutungszugriff aus. Vor allem muß man berücksichtigen, daß die Flexionsparadigmen der meisten Sprachen nicht immer die gleiche Anzahl flektierter Wortformen enthalten. So liegen bei der schwed. Adjektivflexion in 10

Nennt man den Textanteil in Prozenteinheiten χ (mit O á x í 100) und die Anzahl der häufigsten Wörter in Bild 5/17 f(x), liegt es nahe, eine Exponentialfunktion vom Typ f(x) = Ce a x anzunehmen (C und a sind Konstanten). Eine genaue statistische Aufarbeitung vom Material in Allén (1970: 1038-1047) bestätigt diesen Eindruck und gibt den Wert a k = 20.1 mit k = 12.1). Jedoch bedeutet eine Verdoppelung von â nicht, daß die Überlegenheit der Zerlegungsstrategie gegenüber der Ganzheitsstrategie doppelt so hoch ausfällt (vgl. Abb. 5/19). Die Höhe des grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades und somit auch die Möglichkeit, die Vorteile der Zerlegungsstrategie beim Lesen auszunutzen, hängen oft eng mit der orthographischen Tiefe zusammen. Jedoch impliziert die Verschriftung der zugrundeliegenden Form nicht immer einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad und somit auch kein zerlegungsstrategisches Lesen. In Sprachen mit großer phonologischer Tiefe (wie dem Fär.) würde in vielen Fällen auch eine geringe orthographische Tiefe einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad und somit die Verwendung der Zerlegungsstrategie gestatten. Mit anderen Worten: Oft läßt sich die Zerlegungsstrategie auch dann anwenden, wenn ein phonologisch tiefes Sprachsystem flach verschilftet wird. Die zugrundeliegende Form statt der phonetischen Repräsentation zu verschriften, bedeutet lediglich, daß die bereits bei geringer orthographischer Tiefe häufig einsetzbare Zerlegungsstrategie in einem etwas größeren Umfang anwendbar ist. Nach Abb. 5/19 fällt die damit verbundene lesestrategische Effektivitätssteigerung - gemessen an dem Textanteil, der durch direkten Bedeutungszugriff gelesen wird - gering aus. Abb. 5/20 drückt in Form von "quasimathematischen" Quotienten die Verhältnisse zwischen der orthographischen Tiefe und der lesestrategischen Effektivität bei einer phonologisch tiefen Sprache aus (">" ist als hier "größer als" zu lesen).

149 orthographische Tiefe:

groß gering

Frequenz eines hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades: oft relativ oft

Frequenz der Einsetzbarkeit der Zerlegungsstrategie: sehr oft oft

lesestrategische Effektivität:

sehr gut „ j beinahe sehr gut

Abb. 5/20: Relaüo η zwischen orthographisieher Tiefe und lesestrate »ischer Effektivität bei einer phonologisc ι tiefen Sprache. Selbst eine große Veränderung der orthographischen Tiefe wirkt sich daher kaum auf die lesestrategische Effektivität aus. Außerdem werden vor allem hochfrequente Wörter durch direkten Bedeutungszugriff gelesen. Diese sind aber oft suppletiv organisiert, so daß auch eine große orthographische Tiefe keinen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad gewährt und eine Zerlegungsstrategie somit nicht zuläßt. All diese Faktoren führen zu folgendem überaus wichtigen Ergebnis:

Gemessen an dem Textanteil, der durch direkten Bedeutungszugriff gelesen wird, hängt die lesestrategische Effektivität nur geringfügig von der orthographischen Tiefe ab (dies gilt sogar bei großer phonologischer Tiefe).

Bei einer phonologisch tiefen Sprache bedeutet das, daß sich der Übergang von einer flachen zu einer tiefen Verschriftung zwar auf den grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad auswirkt, was jedoch die lesestrategische Effektivität nur unbedeutend steigern kann. Bei der Frage nach der "besten" Verschriftung einer phonologisch tiefen Sprache läßt sich die Erhöhung der lesestrategischen Effektivität somit nicht als Argument für eine große und gegen eine geringe orthographische Tiefe anführen (vgl. Tauli 1977: 25f.). An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, daß die bisherigen Überlegungen lediglich zeigen, daß die lesestrategische Effektivität (im oben verwendeten Sinn) von der orthographischen Tiefe weitgehend unabhängig ist. In Kap. 7.5 wird sich herausstellen, daß es noch andere orthographische Parameter gibt, die in hohem Maße von einer tiefen Orthographie profitieren können. Die bisherigen Überlegungen erlauben daher nicht die Schlußfolgerung, daß eine flache Orthographie einer tiefen immer vorzuziehen ist. Die bisher erarbeiteten Ergebnisse sind in einigen Punkten zu relativieren, vor allem was die Gleichsetzung von lesestrategischer Effektivität mit der bloßen Reaktionsgeschwindigkeit beim Bedeutungszugriff isolierter Wörter betrifft. Es bleibt noch ungeklärt, ob die beim Einzelwort erzielten Resultate der Leseforschung auch auf den kognitiven Aufbau der Gesamtbedeutung eines längeren Textes übertragbar sind. Dabei ist mitunter das Verhältnis zwischen Einzelwortsemantik, syntaktischen Strukturen, individuell unterschiedlichem Vorwissen u. dgl. bedeutsam. Die

150 Gesamtbedeutung eines Textes ist bekanntlich nicht ohne weiteres mit der Summe der einzelnen Wortbedeutungen gleichzusetzen. Indem sich die Leseforschung auf Experimentsituationen beschränkt, die stark auf den Aufbau von Bedeutungen im Kurzzeitgedächtnis ausgerichtet sind, erhebt sie die Reaktionsgeschwindigkeit auf graphemische Reize zum Maßstab für die lesestrategische Effektivität. Eine Orthographie, die bei der Bedeutungszuordnung eine kürzere Reaktionsgeschwindigkeit impliziert, muß nicht unbedingt das Speichern von Textbedeutungen im Langzeitgedächtnis gleichermaßen begünstigen. Es gilt noch zu klären, ob sich eine gewisse orthographisch bedingte Verlangsamung des Bedeutungszugriffs möglicherweise auf den Aufbau eines komplexen Textinhalts im Langzeitgedächtnis günstig auswirkt. M.W. finden sich keine Untersuchungen, die diesen Aspekt der lesestrategischen Effektivität untersucht.

5.7.4. Einflüsse von Lese- und Schreibstrategien auf die grapho-morphologische Ikonizität In älterer Zeit wurde das Schriftbild oft lautlichen Veränderungen angepaßt - auch auf Kosten des grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades - , und zwar vor allem dann, wenn der Lautwandel lediglich eine synchron veränderte Distribution bereits vorhandener Phoneme bewirkt hatte. Damit ließ sich das Prinzip regulärer Irl-Korrespondenzen weiterhin einhalten. Ein Beispiel für eine solche graphemische Anpassung ist die Entstehung der wortinitialen Schreibung von schwed. =[ v jenta] 'Mädchen'. Bei spätaschwed. genta 'Mädchen' erfolgte nach der Palatalisierung [g > j] eine graphemische Anpassung, so daß das Wort auch heute mit =[j] geschrieben wird (im Gegensatz zu z.B. =['je:t] 'Ziege' mit etymologisierendem ; vgl. dt. Geiß). Die modernen nord. Sprachen weisen aber auch viele Schreibungen auf, die vom prototypischen Irl-Prinzip abweichen, dafür aber mit einer Phonemanalyse früherer Sprachstadien gut übereinstimmen. So kann man ausgehend von schwed. =[ v j«:ga] 'lügen' durch eine übergeneralisierte Verwendung der regulären GPK =/1/ leicht auf einen aschwed. Anlaut [lj-] schließen (d.h. die Ausnahme "=0 vor " wird mißachtet). Dieses Beispiel erweckt den Eindruck, daß derartige Abweichungen vom l:l-Prinzip dadurch zustande gekommen sind, daß das Schriftbild trotz Lautwandel unverändert geblieben ist. Daß aber ein etymologisierendes Schriftbild auch ohne eine konservative Schreibtradition entstehen kann, zeigt die moderne fär. Schriftsprache. Hier wurde Ende des 19. Jh., nachdem das Fär. rund vier Jahrhunderte unverschriftet war, eine etymologisierende Schreibung eingeführt, die im wesentlichen mit einer Phonemanalyse des Afär. übereinstimmt. Das Fär. hat demnach ein etymologisierendes Schriftbild, das aber auf keine konservative Schreibtradition zurückgeht. Ein weiteres Beispiel für graphemische Anpassung ist die Auslassung von stummen, tilgbaren Graphemen. Entsprechend dem sog. Dreikonsonanten-Gesetz schwindet bei der Neutr.-Form iœmnt zu aschwed. iœmn 'eben' in frühneuschwed. Zeit das n: -mnt > -mt. Im Frühneu schwed. wird das stumme in Analogie zur Utr.-Form wieder eingeführt, so daß der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad erhöht wird: cjämn - jämnt>=['jemn - 'jemt]. Durch eine übergeneralisierte Verwendung der regulären GPK =/n/ tritt gelegentlich auch eine restituierte Aussprache ['jemnt] mit [n] auf (d.h. die Ausnahme "=0 zwischen und " wird mißachtet). Ein analoges Beispiel ist frühneuschwed. neuschwed. cnämna -

151 nämnde>= [ v nemna - v nemde] 'nennen: Inf. - Prät.Ind.' (nur sehr gehoben durch Übergeneralisierung: ["nemnde]). Schwed. jämn -jämnt enthält neben dem stummen ein weiteres Rechtschreibproblem. Mit dem semantischen Wandel des aschwed. Adv. iœmnt > iœmt 'eben, gleich' > neuschwed. jämt 'immer' brach die ursprüngliche Zusammengehörigkeit mit dem aschwed. Adj. icemn ab. Wegen dieser Lexemspaltung konnte hier kein stummes analogisch eingeführt werden; so stehen sich im heutigen Schwed. die heterographen Homophone cjämnt - jämt>= ['jemt - 'jemt] 'eben, Sg.Neutr. - immer' einander gegenüber (vgl. auch schwed. jämföra 'vergleichenjäm(n)god 'gleich gut'). Entsprechend ist eine okkasionelle Lautrestitution nur bei jämnt möglich. Bei aschwed. Schreibungen wie 'gut, Sg.Nom.Mask. Sg.Nom./Akk.Neutr.' (statt regulär ) wird ebensowenig restituierend auf ältere Schreibformen zurückgegriffen. Vielmehr entsteht die Schreibung von durch einen rein synchronen Bezug auf das Schriftbild des Stammes . In ähnlicher Weise wurde die lautlich angepaßte Schreibung in aschwed. hßgher - htfxter mit =[ks] zu neuschwed. =['h0ig - 'h0kst] 'hoch - am höchsten' regularisiert. Die Korrespondenz =[ks] ergibt sich aus der Erhöhung des grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades, was jedoch bei Wörtern wie =['laks] 'Lachs' nicht möglich war. Hieraus wird folgendes ersichtlich: (i)

Bei einer ununterbrochenen Schrifttradition können ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad und eine starke Etymologizität aus einem Schriftbild, das den Lautwandel unberücksichtigt läßt, hervorgehen. (ii) Eine starke Etymologizität kann aber auch ein Nebeneffekt frühneuzeitlicher Erneuerungen sein, die lediglich auf einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad zielen. (iii) Schließlich kann eine starke Etymologizität auch das primäre Ergebnis einer bewußten Bezugnahme auf alte Schreibungen ausmachen. In einem solchen Fall ergibt sich ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad als ein Nebeneffekt. Die Etymologizität eines konservativen Schriftbilds ist somit rein synchron nicht von einer erst später, durch graphemischen Wandel entstandenen Etymologizität zu unterscheiden. Es ist daher unangemessen, ausschließlich eine konservative Schrifttradition für den hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad z.B. des Schwed. oder Isl. verantwortlich zu machen. In beiden Fällen ist eher von mittelalterlichen Schreibungen auszugehen, die zugunsten des 1:1-Prinzips gerne auf einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad verzichten. Erst seitdem im 18. Jh. eine moderne verbindlich(er)e Schriftnorm auf der Basis sprachwissenschaftlicher Untersuchungen geschaffen wurde, treten graphemische Analogisierungen verstärkt auf. Warum wird nun der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad auf Kosten einfacher GPKen erhöht? Folgende drei Antworten sind denkbar: (1) Ursacheßr eine Erhöhung des grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades ist die Steigerung der lesestrategischen Effektivität Diese Antwort läßt sich bereits durch die Ergebnisse von Kap. 5.7.3 weitgehend entkräften. Dort wurde nämlich gezeigt, daß ein erhöhter grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad (und somit ein extensiverer Einsatz der Zerlegungsstrategie beim direkten Bedeutungszugriff) die lesestrategische Effektivität nur geringfügig steigert.

152 Da bis in die frühe Neuzeit hinein weitgehend durch indirekten Bedeutungszugriff - entweder laut, murmelnd oder auf eine "innere Stimme" hörend - gelesen wurde, hat die Zerlegungsstrategie und somit der geringfügige Vorteil eines hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades bei den meisten Lesern lange Zeit keine große Rolle gespielt (vgl. Balogh 1927; Saenger 1982). Bei indirektem Bedeutungszugriff bringt ein konsequent erhöhter grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad daher keine lesestrategischen Vorteile mit sich. Er wäre im Gegenteil kontraproduktiv, da er oft auf Kosten der GPK-Regularitäten erfolgt. Allerdings ist einschränkend zu vermerken, daß ein direkter Bedeutungszugriff bei einigen geübten Lesern im Mittelalter nicht auszuschließen ist. In solchen Fällen entstand das Murmeln oder die "innere Stimme" durch indirekten Ausdruckszugriff. In der neuzeitlichen Gesellschaft wurde das Schreiben und Lesen nicht nur in breiteren Bevölkerungsschichten üblicher, auch die individuelle Lesekompetenz steigerte sich qualitativ; als Folge nahm das Lesen durch direkten Bedeutungszugriff zu. Neue Schreibungen mit einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad wie bei schwed. ließen sich nun - trotz ihrer irregulären GPKen - durch die Anwendung der Zerlegungsstrategie verwerten. Hierin kann die Ursache für graphemischen Wandel vom Typ cjämn - jämt> -> cjämn - jämnt> gesehen werden. Die eben skizzierte Argumentation läßt Bedenken aufkommen. Diese zeigen sich, wenn man die einzelnen Schritte beim Übergang von einem niedrigen zu einem höheren grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad näher betrachtet. Zunächst weist das entsprechende Schriftbild auch bei einer geringen orthographischen Tiefe oft einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad auf (das gilt sogar bei Sprachen mit großer phonologischer Tiefe). Nur in den restlichen Fällen kann eine tiefere Verschriftung den grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad tatsächlich erhöhen. Da aber ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad oft bereits bei geringer orthographischer Tiefe vorliegt, bedeutet ein derartiger Wandel nicht die Einführung eines neuen schriftbildlichen Prinzips; ein bereits vorhandenes wird lediglich generalisiert Welche Konsequenzen hat es, wenn man die wenigen Vorteile der Zerlegungsstrategie beim direkten Bedeutungszugriff doch als Ursache für diesen Wandel annimmt? Eine entsprechende Argumentation muß zunächst davon ausgehen, daß die Leser - bewußt oder unbewußt - die Geschwindigkeit des Bedeutungszugriffs steigern möchten. Dabei ist ganz allgemein zu überlegen, inwiefern ein derartiges, rein quantitatives Effektivitätsprinzip universale Gültigkeit besitzt (und nicht einer kulturspezifischen Fortschrittsmentalität entspricht). Demnach darf das Effektivitätsprinzip nicht ohne weiteres auf die Lesebedürfnisse des Mittelalters und der frühen Neuzeit übertragen werden. Sieht man auch von dieser Komplikation ab, muß einer lesestrategischen Optimierungstendenz folgendes Prinzip zugrunde liegen: Wo ein hoher grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad bereits bei einer flachen Verschriftung vorhanden ist, gestaltet sich das Lesen beim direkten Bedeutungszugriff effektiver als bei den Wörtern, wo die GPKen der flachen Verschriftung nur einen geringen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad ermöglichen. Damit diese Beobachtung auch eine Erhöhung des grapho-morphologischen Bconizitätsgrades auslösen kann, muß sie sich auf das ScArei'fcverhalten der auf Effektivität bedachten Leser auswirken. Als Schreiber müssen sie außerdem (diesmal eher bewußt als unbewußt) das gleiche Bedürfnis nach lesestrategischer Effektivität bei ihren Lesern voraussetzen. Damit stiege die Wahrscheinlichkeit, daß ein höherer grapho-morphologischer Ikonizitätsgrad auf Kosten einfacher GPKen entstünde. Daß Schreiber zusätzliche Arbeit auf sich nehmen, um den Bedürfnissen ihrer

153 Leser (und Abschreiber) entgegenzukommen, ist ein bekanntes Phänomen. So wird die Entstehung des Spatiums zwischen den Wörtern, oder genauer gesagt des graphemischen Wortes, meist erklärt (zum Prinzip des rezipientenbezogegenen Schreibens vgl. Raible 1991a; 1991b und Saenger 1982). Die Frage nach der Abgrenzung des graphemischen Wortes ist noch heute bei der Verschriftung von Klitika wie z.B. in dän. Semikommunikation noch mehr beeinträchtigen als die dän.—»schwed.

164

6.2. Ostnordische Expansion: Die Wirkung mundartenüberlagernder Herrschaftssprachen

Im Jahre 1380 gelangte Norwegen (samt Island und den Färöem) und mit der Kalmarer Union 1397 auch Schweden unter dän. Henschaft. Durch diese politische Einigung wurde ganz Skandinavien durch das Dän. als Sprache der Rechtsprechung, der Verwaltung, der Kirche, der Literatur, der Schule, der höheren Bildung und der Wissenschaften überlagert. Insbesondere die Reformation und ab 1665 auch der monarchische Absolutismus stärkten das Dän. außerhalb des Mutterlandes. Diese Union und ihre allmähliche Auflösung, die bis ins 20. Jh. reicht, hat die Entwicklung der nationalen Schriftsprachen stark beeinflußt. Auch Schweden betrieb eine expansive Politik, die vergleichbare sprachliche Konsequenzen mit sich zog. Das betrifft vor allem die Eroberung der dän. Provinzen östlich des Öresunds im 17. Jh. sowie die sprachpolitische Stellung des Finnlandschwed.

6.2.1. Das Schwedische in den ostdänischen/südschwedischen Provinzen Wie in Kap. 6.1 erwähnt, werden mit der paradigmenexternen schwed. Wortüberdachung keine Mundarten, sondern regionale Varianten der Standardlautung überdacht. In diesem Zusammenhang interessiert insbesondere, wie sich in den ostdän. Provinzen, die im 17. Jh. von Schweden erobert wurden, eine südliche Regionalvariante des Standardschwed. herausbildet (Friede zu Roskilde 1658; Friede zu Kopenhagen 1660 nach einem mißlungenen schwed. Versuch, ganz Dänemark zu erobern; Friede zu Lund 1679 nach einem mißlungenen dän. Rückeroberungsversuch). Nachdem die ostdän. Provinzen endgültig erobert waren, wurden sie allmählich ins schwed. Reich eingebunden. Diese Integration wurde unter Leitung Rutger von Aschebergs mit viel Geschick und teilweise auch Respekt vor der kulturellen Eigenart der Ostdänen/Südschweden durchgeführt (vgl. Ohlsson 1978/79 und Âberg 1994 mit weiteren Literaturhinweisen); die ostdän. Bevölkerung orientierte sich in politischer, wirtschaftlicher, kultureller und somit auch in sprachlicher Hinsicht zunehmend nach Stockholm. Seit der Gründung der Universität zu Lund 1668 war zudem eine höhere Bildung nach schwed. Idealen auch im eroberten Gebiet möglich. Mit der Zeit entwickelte sich statt einer östlichen Regionalvariante des Standarddän. eine südliche Regionalvariante des Standardschwed. Abb. 6/9 zeigt, daß seit dem Ende des 17. Jh. Mundartgruppengrenze und Staatsgrenze nicht mehr zusammenfallen. Da aber zwischen Seeland und Smâland ein Mundartengebiet mit graduellen Übergängen liegt, ist der Verlauf einer solchen Mundartgruppengrenze nicht a priori gegeben. Je nach politischer Situation ließe sich im Prinzip jede Isoglosse zum ausschlaggebenden Kriterium einer Mundartgruppengrenze küren. Die Mundartgruppen"grenze" in Abb. 6/9 ist daher als ein sprachideologisches Konstrukt zu verstehen. Durch die Einverleibung der ostdän. Mundarten wurde die vom Standardschwed. überlagerte Mundartenlandschaft zwar größer, aber kaum noch heterogener: Die südschwed. Mundarten stehen dem Standardschwed. wesentlich näher als etwa eine konservative Mundart aus Dalarna.

165

dän. Standard-Λ spräche }

standardsprachlichey \ Überlagerung fschwed. Standard-Λ \sprache J

standardsprachliche Überlagerung

(

•• I

regionale standardsprachliche Variante

S».

regionale standard- ^f ostdän. standardsprachliche Variante/^_sgradüidM_Variante (Mundart m ) . . M j + 2 ^ Mj+ l J ^ M j )

... ( M2^(MT

Staatsgrenze = Mundartgruppen"grenze" r 1679 standardsprachliche dän. Standard-Λ Überlagerung

C

Sprache

J

]L

*

(

regionale standardsprachliche Variante,/

Beseitigung der ostdän. standardsprachlichen Variante und Aufbau einer stldschwed.

ct^nAnrAc^r^Mir-h^ Überlagerung /schwed. Standard-N ' \sprache J regionale standardsprachliche Variante

) ( Mundart n)

Staatsgrenze nach Eroberung

standardsprachliche

C

dän. Standard-^überlagenmg spräche )

(

Mundartgruppen"grenze"

standardsprachliche Überlagerung

regionale standardsprachliche Variete, ^^prachliche_Vam

Variante

(Mundart m ) .. J^ Mj+2^( Mj+i

^2eit]

Staatsgrenze

...

( Mundartn)

Mundartgruppen"grenze"

Abb. 6/9: Herausbildung der südschwed. Variante des Standardschwed. Mit der neuen hochsprachlichen Überlagerung war die Grundlage für eine südschwed. geprägte Variante des Standardschwed. gelegt, die sich allmählich im Spannungsfeld zwischen der neuen Herrschaftssprache und den überlagerten ostdän. Mundarten herausbildete. Diese Entwicklung ging über mehrere Stufen. Zunächst wurde das Standardschwed. als eine nah verwandte Fremdsprache anhand der Schreibung gelernt. Mit der Zeit etablierte sich eine immer schriftunabhängigere schwed. Aussprache (vgl. Kap. 4.5.5), die auf Kosten der ostdän. Mundarten auch als

166 Muttersprache gelernt wurde. Andererseits entstand in den mittelschwed. Familien, die in die neuen Südprovinzen versetzt wurden, um Kirche, Verwaltung und Bildungswesen an die neue Hauptstadt zu binden, eine siidschwed. geprägte Form der Hochsprache, die sich als regionale Herrschaftssprache bezeichnen läßt. Die siidschwed. Variante des Standardschwed. ging letztlich aus einer gegenseitigen Beeinflussung von fremdsprachlich gelernter Hochlautung und regional gefärbter Herrschaftssprache hervor. Die folgenden Kap. 6.2.2 und 6.2.3 zeigen, daß die südschwed. Variante des Standardschwed. den typologischen Anfangspunkt einer Entwicklung markiert, die beim Finnlandschwed. weiter vorangeschritten ist und schließlich in der Abspaltung des norw. Bokm. vom Standarddän. ihren Endpunkt findet. Zu einer mit Norwegen vergleichbaren partikularistischen Nationalsprachenbewegung fehlen jedoch in Südschweden die kulturpolitischen Bedingungen. Daß diese Überlegung dennoch nicht ganz ohne Relevanz ist, zeigt die Propaganda der Stiftelsen Skänsk Framtid (SSF) 1 : Schonen hat "en egen historia, ett eget historiskt sprâk och en existerande specifik sprâkton, ..." 2 (zit. nach Linde-Laursen 1995: 199f.). Vorläufiges Ziel der SSF ist die Anerkennung Schonens als einer Region (im Sinne der EU) mit Sonderstatus. In der Praxis reicht die südschwed. "Nationalidentität" indes selten über selbstgenügsame Buchtitel wie etwa Skânes litteraturhistoria hinaus (vgl. Vinge 1996-97). Eine schriftsprachliche Partikularisierung wurde nie ernsthaft erwogen.

6.2.2. Das Schwedische in Finnland und das Finnlandschwedische Ab Mitte des 12. Jh. wurde Finnland von Schweden aus schrittweise erobert und christianisiert. 1809 mußte Schweden das Land im Frieden von Fredrikshamn an Rußland abtreten. Als russisches Großfürstentum erhielt Finnland weitgehende Autonomie, so daß sich das Schwed. als Sprache der Obrigkeit und der Bildung erhalten konnte. Mit dem Sprachreskript von 1863, das das Finn, und Schwed. als gleichberechtigte Sprachen festlegt, wurde zwar die Bedeutung des Finn, dokumentiert, allerdings erlangte die Sprache als Identitätsmerkmal erst später ihre kulturpolitische Bedeutung. So ist auch bezeichnend, daß sich vor 1880 keine offizielle Sprachstatistik über die Verteilung des Schwed. und Finn, findet (vgl. Engman 1995: 191). Seit 1902 ist das Finn, in den Gerichts- und Verwaltungsbehörden mit dem Schwed. gleichgestellt, und mit der Verfassung von 1919 wurden beide Sprachen als Nationalsprachen anerkannt. Das setzt eine Trennung zwichen Muttersprache und Nationalismus voraus - eine in der Nationalromantik zunächst unmögliche Idee, die aber Ende des 19. Jh. unter angelsächs. Einfluß an Bedeutung gewann (zum identitätsstiftenden Potential des Finnlandschwed. siehe auch Andersson/Reuter 1997). Im Spannungsfeld zwischen den finnlandschwed. Mundarten und dem Standardschwed. entstand das Finnlandschwed als eine östliche Regionalvariante. Diese diachrone Tatsache wird von vielen Finnlandschweden synchron reinterpretiert. Obwohl sie großen Wert auf den Kontakt mit der reichsschwed. Schriftkultur legen, heben sie die Anerkennung des Finnlandschwed. als einer 1 2

Dt.: Die Stiftung der Zukunft Schonens. Dt.: ... eine eigene Geschichte, eine eigene historische Sprache und einen existierenden spezifischen Sprachton, ...".

167 eigenen Nationalsprache Finnlands hervor. Das gilt insbesondere für das politische Lager des sogenannten Kulturschwedentums (kultursvenskhet), das die schwed. Sprache als Vermittler von Impulsen aus dem westeuropäischen Kulturkreis betont. Im Gegensatz dazu steht das Heimatschwedentum (bygdesvenskhet), das eher die geographische Abgrenzung der schwed. Volkskultur gegenüber den finn. Gebieten betont (vgl. Engman 1995: 198). Zum Finnlandschwed. als Identitätsmerkmal vgl. die Beiträge in Stählberg 1995. Weil sich das Finnlandschwed. gegen das Standardfinn. behaupten muß, erhält diese östliche Regionalvariante des Standardschwed. einen anderen und prestigevolleren Status als etwa die südund nordschwed. Regionalvarianten, die vor allem der mittelschwed. Prestigelautung gegenüberstehen. Diese Aufwertung des Finnlandschwed. zielt jedoch nicht darauf ab, ein spezifisch finnlandschwed. Schriftbild zu etablieren. Nur gelegentlich erheben sich radikalere Stimmen, die das Finnlandschwed. vor allem aufgrund phonologischer und lexikalischer Besonderheiten als eine separate Sprache hervorheben wollen (vgl. Reuter 1992: 112). Abb. 6/10 veranschaulicht die alternativen Perspektiven der paradigmenextemen Wortüberdachung.

Eine finnlandschwed. Bevorzugung der zweiten Interpretation in Abb. 6/10 läßt sich auch sprachpolitisch begründen. Indem das Finnlandschwed. nicht mehr diachron als ein Ableger des Standardschwed., sondern synchron als eine eigene, auf Teile Finnlands begrenzte Nationalsprache verstanden wird, tritt das Verständnis vom Schwed. als ehemaliger Herrschaftssprache in den Hintergrund. Vor allem die Bezeichnung des Standardschwed. als reicfaschwed. Schriftsprache ist kritisch - eine reichsschwed. Überdachung der Finnlandschwed. sprechenden Gebiete ist natürlich keine politisch erwünschte Perspektive. Sieht man das Finnlandschwed. nicht mehr als eine Regionalvariante des Standardschwed., sondern als eine nationale Angelegenheit Finnlands an, lassen sich sprachpolitische Forderungen zugunsten des Schwed. in Finnland besser artikulieren - ohne daß der Verdacht allzu schwedenfreundlicher Gesinnungen aufkommt. Dadurch

168 läßt sich die Pflege der schwed. Sprache und Kultur in Finnland als ein von Schweden unabhängiges, nationales Anliegen behaupten. In politischer Hinsicht ist somit das Finnlandschwed. wesentlich stärker vom Standardschwed. abgekoppelt als die in Kap. 6.2.1 besprochene siidschwed. Regionalsprache.

6.2.3. Das Dänische in Norwegen und das Bokmâl In Norwegen, das von 1380 bis 1814 unter dän. Herrschaft stand, wurde das dän. Rigsmâl als einzige Verwaltungs-, Rechts-, Kirchen- und Unterrichtssprache bis ins 19. Jh. hinein verwendet. Durch die allgemeine Schulbildung nahm der dän. Einfluß weiterhin zu, so daß um die Mitte des 19. Jh. die Dänischkenntnisse der Norweger ihren Höhepunkt erreichten. Daß sich keine norw. Standardsprache auf rein muttersprachlicher Basis entwickelte, lag indes nicht nur am dän. Einfluß. Bereits im Spätmittelalter hatte sich die gesprochene Sprache von der konservativen anorw. Schreibung so weit entfernt, daß die endgültige Übernahme der dän. Schriftsprache im 15. Jh. als ein orthographischer Befreiungsschlag empfunden worden sein muß (vgl. Groenke 1998: 87f.). Diese Umstände trugen dazu bei, daß sich in den norw. Städten regional geprägte Varianten des Standarddän. entwickelten, wovon vor allem die ostnorw. Variante an Prestige gewann. Im 18. Jh. konnte sogar eine ostnorw. gefärbte Rigsmäl-Aussprache als besonders gepflegtes Dän. gelten. Auch die Sprache der dän. Beamten blieb vom Norw. nicht unbeeinflußt. So weit ist die Situation mit den Verhältnissen in Südschweden vergleichbar. Im Gegensatz zur südschwed. Bevölkerung betrachteten große Teile der norw. Gesellschaft ihre Regionalvarianten des Standarddän. jedoch zunehmend als Glieder einer eigenen, typisch norw. und nicht mehr dän. Sprache (vgl. Jahr 1989: 36f.). Seit diesem - auch sprachpolitisch in Anspruch genommenen Perspektivenwechsel galt aus norw. Sicht, daß das dän. Schriftbild nicht mehr Regionalvarianten einer einzigen Sprache, sondern zweier verschiedener Nationalsprachen paradigmenextern überdachte. Dieser Schritt stimmt typologisch mit der Aufwertung des Finnlandschwed. von einer östlichen Regionalvariante des Standardschwed. zu einer Nationalsprache Finnlands überein (vgl. Abb. 6/10). Damit waren die Weichen für die spätere Entstehung des norw. Riksmâl (seit 1929 Bokmâl genannt) gestellt. Zu dieser Entwicklung hat auch beigetragen, daß sich die norw. Regionalvarianten des Standarddän. mehr von jeder dän. Regionalvariante unterscheiden als es die norw. und dän. Regionalvarianten untereinander tun. An dieser Stelle muß aber auch betont werden, daß eine klare Abgrenzung der überlagerten Mundarten keineswegs vorhanden ist. Wie bei der ostdän./südschwed. Mundartenlandschaft gehen auch die dän. und norw. Mundarten graduell ineinander über. Demnach stehen die Mundarten an der norw. Südküste den dän. relativ nahe beispielsweise werden postvokalisches p, t, k zu b, d, g in "den bl0de kyststribe"3. (Deshalb mußte Ivar Aasen diese Mundarten bei der Konstruktion seines "genuin" norw. Landsmaal unberücksichtigt lassen.) Die Mundartgruppen"grenze" in Abb. 6/11 ist daher (wie in Abb. 6/9) als ein sprachideologisches Konstrukt zu verstehen. Auch war der Abstand der überlagerten norw. 3

Dt.: ... im weichen KUstenstreifen. Korrektes Bokm.: den bl0te kyststripe.

169 Mundarten zum Standarddän. kaum größer als das bei vielen jütländischen Mundarten bereits der Fall ist - und hier denkt niemand an einen nationalen Alleingang der festlanddän. Gebiete. Ansätze zu einer standardsprachlichen : f Ansätze zu einerx Überlagerung , I dan. Standard- lspräche J

Ansätze zu einer standard... -v , f Ansätze zu einen tl. . sprachlichen Überlagerung^ _ í n o r w _ S t a n d a r d _ norw. Standardsprache J

S

( Mundart m)

Í

... ( m ^ M ^ X m Í ) ^

. . . ( M n ^ X M n - l ^ Mundärtn)

Staatengrenze = Mundartgruppen"grenze" 1380

Γ l ä n . Standard^spräche

standardsprachliche Überlagerung

Λ

regionale standardsprachliche Variante

^Mundartm)

... Ç M4

yregionale R i k í \

lA^málvariante 1 J



' M3)

Γ

... V

regionale Riksmálvariante ρ

J

... ( M g - 2 ^ M n - l X Mundart η)

Mundart gruppen"grenze' ' - 1907

c

dän. Standard-

\

J

Vispraye

standardsprachliche Überlagerung

standardsprachliche Überlagerung

(

bokm.

Standardsprache J regionale Bokmálvariante ρ

( Mundart ni)

[Zeit]

A

1

...

...

J

M n - 2 ^ M n - i X Mundart n)

Staatengrenze = Mundartgruppen"grenze"

Abb. 6/11: Herausbildung des Bokm. Nach der Übergabe Norwegens an Schweden 1814 (Friede zu Kiel) konnte sich eine eigenständige (innen-)politische und nationale Kultur relativ frei entfalten (unter anderem mit einer weitaus moderneren Verfassung als der damaligen in Schweden). Ebenso erlebte Norwegen ab Mitte des 19. Jh. einen großen wirtschaftlichen Aufschwung, der wesentlich zur Entwicklung eines nationalen Selbstbewußtseins beitrug. Vor diesem Hintergrund (und spätestens seit der Auflösung der

170 norw./schwed. Union 1905) verstärkte sich in Norwegen der Wunsch, die national-staatliche Eigenständigkeit auch schriftbildlich zu manifestieren (vgl. Kap. 7.3). Konkret äußerte sich dieser Wunsch in einer Reihe von norw. Reformen des ursprünglich dän. Schriftbilds (in den Jahren 1862, 1907, 1910, 1917, 1938, 1959, 1981). Mit dem Modell in Abb. 6/2 stellt sich diese Entwicklung wie in Abb. 6/12 dar.

Indem das bokm. Schriftbild von seinem dän. Ursprung abrückte, entstand eine Konkurrenzsituation, die - zumindest rein theoretisch - bis heute andauert. Obwohl eine neue Überdachung durch das Riksmâl/Bokmâl hinzugekommen ist, überdacht das dän. Schriftbild die norw. Regionalvarianten des Riksmâl/Bokmâl nach wie vor. Dieser Umstand wird jedoch nicht nur aus inner-, sondern vor allem aus außersprachlichen Gründen anders bewertet. Seit den Reformen von 1907 und 1917 fällt die bokm. Überdachung in linguistischer Hinsicht zweifellos besser aus als die dän. Außerdem wurde die Aussprache des norw. Riksmâl über Knud Knudsens Ideal von der "dannede Dagligetale" 4 hinaus norvagisiert. Nicht minder wichtig als diese innersprachlichen Umstände ist jedoch die Tatsache, daß Norwegen von Dänemark unabhängig ist; eine auf Norwegen übergreifende Wortüberdachung durch das Dän. ist gerade deswegen ein sprachpolitisches Tabu. Das Gebiet der Wortüberdachung hat aus ideologischen Gründen an der Staatsgrenze halt zu machen, obwohl es innersprachlich gesehen größer sein könnte (vgl. Gundersen 1977; 1983). Die Entstehung des Bokm. und sein Verhältnis zum Dän. zeigen sich deutlich an der Orthographie eines norw. Kriminalromans von Olaf Bull (1883 - 1933) (vgl. Jahr 1989: 45). Die erste Auflage erschien 1913 in Kristiania (heute Oslo) mit dem Titel Mit navn er Knoph. Das Buch berücksichtigt die Schreibung, die bei der norw. Riksmäl-Reform 1907 eingeführt wurde. Als es 4

Dt.: ... von der "gepflegten Alltagssprache" ...

171 1919 in Kopenhagen in einer zweiten Auflage erschien, gab es zwei Ausgaben. Die erste war lediglich ein Nachdruck der ersten. Die zweite war aber ins Dan. umgesetzt - oder wenn man so will - übersetzt. Diese Umsetzung ins dän. Rigsmál bestand im wesentlichen darin, daß die Veränderungen der Reform von 1907 rückgängig gemacht wurden. Die dritte Auflage berücksichtigte auch die Reform von 1917, was schon aus dem leicht veränderten Titel Mitt navn er Knoph hervorgeht; erst seit 1917 wurden wortfinale Geminaten konsequent benutzt (Ausnahmen finden sich typischerweise bei einigen hochfrequenten Wörtern wie at, som, til). Die Reform von 1907 sah zwar auch wortfinale Geminaten vor, jedoch nur, um heterophone Homographien zu vermeiden wie z.B. 'Dach - Dank'. In den vielen bokm. Orthographiereformen manifestiert sich ein grundlegender Unterschied zum Finnlandschwed.: Im Gegensatz zur partikularisierenden Entwicklung des ursprünglich dän. Schriftbilds in Norwegen zielt die Aufwertung des Finnlandschwed. zu einer auf Finnland beschränkten National spräche nicht darauf ab, die nationalstaatliche Grenze durch ein spezifisch finnlandschwed. Schriftbild zu unterstreichen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß das Finnlandschwed. hauptsächlich von einer sprachlichen Minderheit schwed. Abstammung gesprochen wird, während sich das Bokm. zur Muttersprache einer ursprünglich norw. Bevölkerung entwickelt hat. Die Kap. 6.2.1-6.2.3 bilden eine Sprachenreihe mit steigender sprachnationaler Selbständigkeit: südschwed. Regionalvariante des Standardschwed., Finnlandschwed., norw. Riksmâl, norw. Bokmâl.

6.2.4. Das Dänische in Schweden Anfang des 16. Jh. löste sich Schweden als erstes Land endgültig aus der 1397 eingegangenen Kalmarer Union (Krönung von Gustav Vasa 1523). Der damalige dän. Einfluß auf das Schwed. war indes sehr gering und keineswegs mit der Svezisierung der ostdän. Provinzen ab dem 18. Jh. und schon gar nicht mit der zum Bokm. führenden Norvagisierung des Dän. vergleichbar. Möglicherweise sind die Schwächung und der Zusammenfall der schwed. Schwachdruckvokale a, e, i, o zu e im 16. Jh. auf einen dän. Einfluß zurückzuführen; vgl. aschwed. handinna, kalladho > handenne, kalladhe 'der Hand (Gen.Sg.), riefen (Prät.Pl.)'. Dieser Wandel läßt sich aber auch auf das von der dominanten Hanse ausgehende Nd. zurückführen. In Kap. 4.5.3.1 wurde gezeigt, wie diese Veränderungen durch Rückgriff auf eine ältere Schreibung restituiert wurden, so daß sich im heutigen Standardschwed. nur ein sehr begrenzter dän./nd. Einfluß nachweisen läßt.

6.2.5. Das Dänische im Inselnordischen Die Entstehung des Bokm. aus einem norvagisierten Dän. markiert in mancher Hinsicht den Endpunkt einer Entwicklung, die auch im Inselnord, angelegt ist, aber auf Island früh abgebrochen und auf den Färöern über ein anfängliches Stadium nicht hinausgegangen ist. Als der dän. Einfluß auf den westnord. Inseln am stärksten war, müssen insbesondere die Menschen, die den intensivsten Kontakt mit den Dänen pflegten (vor allem Kaufleute und

172 Beamte), mitunter stark vom Dan. beeinflußte Sonderformen des Isl. bzw. Fär. gesprochen haben (vgl. Grundtvig 1 1845/1978: 37, 86; Hamre 1944: 10, 20f.). Umgekehrt bildeten sich (zunächst ähnlich wie in Norwegen) typisch isl. bzw. fär. Sonderformen des Dän. heraus. In der Regel handelte es sich um vereinfachte Hilfssprachen, die nie als Muttersprache gelernt wurden. Während sich in Norwegen gerade eine solche Sprachform weit über den Status einer reinen Hilfssprache hinaus entwickeln konnte, um schließlich auch zur nationalen Muttersprache aufzusteigen (Riksmâl Bokmâl), fand im Inselnord, keine solche Aufwertung statt Auf Island existiert heute so gut wie kein islandisiertes Dän. mehr. Hier wird Dän. als eine, wenngleich relativ vertraute Fremdsprache gelernt vor allem neben dem Engl. Nach einem isl. "Bókmál" bestand auch nie ein Bedarf. Auf Island gibt es seit der literarischen Blütezeit im Mittelalter eine ununterbrochene volkssprachliche Schrifttradition, die sich - im Gegensatz zum Anorw. - als Ausgangspunkt für die Schaffung einer modernen nationalen Schriftsprache eignete. Dabei wurde ein historisierendes Schriftbild festgelegt und der relativ große dän. Lehnwortschatz weitgehend beseitigt. Trotz der puristischen Sprachplanung hat das Isl. noch heute einige Danizismen, die aber wegen vollständiger schriftbildlicher Integration kaum augenfällig sind; vgl. dän. vœrsâgod/vcersgo > isl. veskú 'bitte sehr1. Auf den Färöern brach die volkssprachliche Schrifttradition zwar im Spätmittelalter ab, doch bedeutete das keineswegs, daß es keine Schriftkultur gegeben hätte, bis die moderne fär. Orthographie Ende des 19. Jh. eingeführt wurde. Auch auf den Färöern besteht eine ununterbrochene Schrifttradition, die jedoch nicht volkssprachlich, sondern dän. war. Dieser Umstand trug wesentlich dazu bei, daß sich eine typisch fär., nicht aber als Muttersprache gelernte Regionalvariante des Dän. etablieren konnte. Noch heute fällt diese Sprachform als eine besondere (für Ausländer angenehm verständliche) Variante des Standarddän. auf. Trotz der abgebrochenen fär. Schrifttradition und der national eigenständigen Züge des fär. gefärbten Dän. ging die Sprachentwicklung in eine andere Richtung als beim norw. Bokmâl. Rein theoretisch wäre eine zunehmende "Färoisierung" und eine damit einhergehende "Entdanisierung" durchaus vorstellbar, so daß am Ende ein muttersprachlich gelerntes fär. "Bókamál" entstanden wäre. Ansätze hierzu waren durchaus vorhanden (vgl. Hagström 1984; Poulsen 1993). Statt dessen etablierte sich Ende des 19., Anfang des 20. Jh. eine fär. Schriftsprache, die in immer mehr bisher dän. dominierte Bereiche Eingang gefunden hat Diese Feststellungen zum Isl.und Fär. gelten nicht für die südlich davon gelegenen nord. Sprachgebiete. Bis in die Neuzeit wurden norw. Nachfolgemundarten, das sogenannte Norn, vor allem auf den Shetland- und Orkneyinseln gesprochen. Hier setzte sich aber frühzeitig das schottische Engl, als überlagernde Herrschaftssprache entweder vollständig durch, oder aber es bildeten sich engl. Mundarten mit stark nordischem Einschlag heraus; vgl. die Grammatik von Graham/Robertson 1991. Die kulturpolitischen Voraussetzungen für ein sich daraus entwickelndes "Búgmál" waren nie gegeben (awestnord. ó,k> shetlandnorn. ú, g).

173

6.3. Westnordische Introspektion: Die Unwirksamkeit der Mundartenüberdachung

6.3.1. Färöischer Abschied von der orthographischen Überdachung Für das Schwed., Bokm. und Dan. konnte festgestellt werden, daß sich die paradigmenexterne Wortüberdachung auf regionale Varianten einer Standardsprache bezieht. Wie gezeigt, beruht dieses Ergebnis auf einer Wechselwirkung zwischen der Standardsprache und den überlagerten Mundarten. Die paradigmenexterne Wortüberdachung im Fär. geht hingegen auf keine solche Entwicklung zurück. Die Ende des 19. Jh. eingeführte Orthographie hat eine graphemische Struktur, die weitgehend mit dem Phonemsystem des Afär. übereinstimmt. Das gewährleistet neben einer großen diachronen Tiefe auch, daß sich die fär. Mundarten trotz ihrer Verschiedenheit vom gleichen Schriftbild überdachen lassen. Das Ergebnis ist eine Orthographie mit einer hochgradig diachronen, paradigmeninternen und paradigmenexternen Wortüberdachung. Einige der wichtigsten Mundartenunterschiede, die damit überdacht weiden, finden sich im haupttonigen Vokalismus (für weitere Details vgl. die Untersuchungen von Werner 1968a; 1968b; 1970b; 1987b; Küspert 1988: 192-213,373-379; Rischel 1992): (i)

Nur auf Suöuroy fielen an. é, e, œ zu [e¡/e] zusammen und entwickelte sich an. a zu [eai/a]. Sonst fielen an. é, œ, a zu [ea^a] zusammen und entwickelte sich lediglich an. e zu [ei/ε]. Die heutigen Phoneminventare sind in diesem Bereich somit identisch, wenngleich die einzelnen Phoneme je nach Gegend in der Lexik unterschiedlich verteilt sind. (ii) Auf den Noröoyar, Eysturoy, Vágar, Mykines und Streymoy (außer Süd-Streymoy) entwickelte sich an. 6 zu palatalen Vokalen wie etwa [ceui/œ] (auf Vágar [εικ/œ]), während im restlichen südlichen Gebiet außer Hestur und Süd-Streymoy an. 6 zu [oui/o] wurde. Dabei bilden Hestur und Süd-Streymoy ein "Mischgebiet" mit der Länge [oui] aus dem Süden und der Kürze [œ] aus dem Norden. (iii) Auf den Noröoyar, Eysturoy und Streymoy (außer Süd-Streymoy) fielen die langen Reflexe von an. ei und 0y zu [oc] zusammen. Sonst sind sie noch als [au] bzw. [DU] getrennt. (iv) Außer auf Suöuroy ist eine Monophthongierung der Kurzdiphthonge häufig. Die fär. Orthographie ermöglicht aufgrund ihrer linguistischen Eigenschaften eine theoretisch gleichwertige Stellung der einzelnen Mundarten. Im Gegensatz zu einer mundartenüberiagemde« Hochsprache entfällt bei der nmndarteniïberdachenden fär. Orthographie die Frage nach einer Aussprachenorm vollends. Diese Überlegung spielte auch bei der Einführung der fär. Orthographie im 19. Jh. eine gewisse Rolle. Entsprechend der nationalromantischen Sprachideologie und ihrer Vorstellung von der "Ursprünglichkeit" und "Echtheit" der "organisch gewachsenen" Mundarten galt es zum einen als wünschenswert, keine bestimmte Mundart vorzuziehen; und zum anderen sollte ihre "natürliche" Entwicklung nicht durch Aussprachenormierung "gestört" werden. In der Praxis sieht die Situation auf den Färöern anders aus. Vor allem an den Endungsvokalen wird deutlich, daß sich die Mundartenüberdachung nicht immer aus der empirischen Realität ergibt. Wie Hagströms (1967) detaillierte Untersuchungen zeigen, lassen sich die Endungsvokale

174 der einzelnen Mundarten nicht einmal aus generativer Sicht auf einen gemeinsamen synchronen Nenner bringen. Die orthographische Unterschiedung zwischen ist daher eine rein schriftspezifische Frage. Während das Awestnord. zwischen /a/, /i/ und IvJ unterscheidet, ist auf den drei nordöstlichsten Inseln (Viöoy, Svinoy, Fugloy) Ν durch IvJ restlos ersetzt worden; hundin (A.Sg.Def.) und hundum (D.P1.) lauten auf [-en] aus. Auf Suöuroy wird zwar zwischen [i, e] und [υ, ω, θ] phonetisch unterschieden, allerdings sind awestnord. Iii und lui hier zu Allophonen eines Phonems Iii geworden. Im ungedeckten Auslaut stehen die palatalen und im gedeckten Auslaut die velaren Varianten; tungi/tungu lauten auf [-e] und hundin/hundum lauten auf [-en] aus. (In der Pänultima steht ein zentralisiertes Schwa [a]; hundinum/hundunum mit [-anen].) Selbst dort, wo die drei awestnord. Endungsvokale noch als getrennte Phoneme erhalten sind, lassen sich Lautung und Schreibung nicht sinnvoll aufeinander beziehen. Hiervon ist ein großes zentrales Gebiet, das Eysturoy, Vágar, Sandoy und Streymoy nördlich von Kaldbak umfaßt, betroffen. Beispielsweise hat Sandoy durchgehend /-ir/ als Pl.- und /-ur/ als 2./3.-Sg.Präs.Ind.Endung. Die Flexive /-ir/ und /-ur/ sind somit nach grammatischen Kategorien komplementär distribuiert (was jedoch Minimalpaare nicht ausschließt: /-ur, -ir/ 'passiert, Hände'). Die orthographisch gleichwertige Stellung der einzelnen Mundarten ist auch in anderer Hinsicht gefährdet. Vor allem extreme Aussprachevarianten der dünner besiedelten Randgebiete - wie z.B. langes [ai] auf den nordöstlichsten Nordinseln - werden soziolinguistisch abgewertet. Hagström (1967: 165) berichtet von Färingem, die ihre Aussprache der Tórshavner Mundart anpassen, wenn sie sich außerhalb ihres eigenen Mundartgebietes befinden. Umgekehrt genießt die dominierende Stadtmundart von Tórshavn (die im 19. Jh. als besonders verdorben galt) ein zunehmend höheres Ansehen. Hier zeichnen sich die soziolinguistischen Anfänge einer mundartenüberZagernden Standardlautung ab (vgl. O'Neil 1963: 394; Djupedal 1964: 185; Werner 1968b: 467-469). Dieser Prozeß geht nicht nur auf das 1952 eingeführte fär. Radio (Útvarp F0roya) zurück. Er fängt schon im 19. Jh. an, als die selbstversorgende Landwirtschaft der weitgehend isolierten Dörfer zugunsten einer stark expandierenden Fischerei-Industrie zurücktrat. Auf den Booten waren erstmals Sprecher mehrerer Mundarten für längere Zeit zusammen. Zwangsläufig hatte die Aussprache des dicht besiedelten Süd-Streymoy oft ein rein zahlenmäßiges Übergewicht. Die paradigmenexterne Wortüberdachung im Fär. und Schwed. sind sich typologisch ähnlich: Im Fär. überdacht die Orthographie ebenso wie die im Schwed. eine Anzahl regionaler Aussprachevarianten, wobei eine einen besonders hohen Stellenwert besitzt und als Hochlautung gilt (die Tórshavner Stadtmundart bzw. die mittelschwed. Variante der Standardsprache). Zum typologischen Zusammenfall der fär. Mundartenüberdachung mit der schwed. Überdachung standardsprachlicher Regionalvarianten tragen außerdem folgende Umstände bei: Zum einen sind die ursprünglichen schwed. Mundarten in vielen Gegenden entweder ganz verschwunden oder stark im Rückgang begriffen, und zum anderen ist der Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit bei den Regionalvarianten des Standardschwed. inzwischen relativ gering geworden. Lediglich diachron ist der Unterschied feststellbar, daß im Fär. die Regionalvarianten "genuine" Mundarten sind, während sie im Schwed. auf mundartlich gefärbte Varianten der Standardsprache zurückgehen.

175 6.3.2. Isländische Absage an die orthographische Überdachung Wie im Fär. sind auch im Isl. regionale Ausspracheunterschiede festzustellen. Jedoch fallen diese wesentlich geringer aus als in den fär. Mundarten. Grob gesagt läßt sich das isl. Sprachgebiet in zwei Gegenden einteilen: harömceli im Norden (aisl. p, t, k haben ihre Aspiration überall beibehalten) und linmœli im Süden (aisl. p, t, k sind nur lexemanlautend aspiriert). Weitere Unterschiede sind (vgl. Ámason 1987; Benediktsson 1961; Kuhn 1935; Küspert 1988: 177-191): (i) Im Nordisl. sind δ, m, η vor p, t, k stimmhaft, wie auch l vor ρ, k- standardsprachlich dagegen =['ma0§Yr, 'lambí, 'vanda; 'ha u l§a] 'Wurm, Lampe, fehlen; Glätte'. Entsprechend wird ng vor t und k im Norden sth. [q] gesprochen - standardsprachlich dagegen cbanka - langt>=["bauf)ôa- 'la u qt] 'klopfen - lang, Nom./Akk.Sg.Neutr.'; (ii) rn bleibt im Südosten erhalten - standardsprachlich dagegen cparna - korn>=['0a(r)dna •ko(r)dn] 'dort - Korn'; (iii) Die Vokale e, ö, a bleiben in den Westfjorden vor ng, ng, nnk monophthongisch - standardsprachlich dagegen =['dreiq£)Yr - 'lœyqô - 'fauqôJ 'Junge - lang, Nom.Sg.Fem. - Fang'; (iv) hv- wird in Teilen des Südens (außer Reykjavik) [xw] gesprochen - standardsprachlich dagegen =['kvisla] 'flüstern'; (v) [ii] und [y:] sind im Osten und Westen (außer in den Westfjorden) gesenkt und fallen mit [ε:] bzw. [ce:] zusammen. Dieser Wandel wurde jedoch weitgehend restituiert (vgl. Kap. 4.5.2.1 zu flâmœli/réttmœli). Auch die isl. Orthographie ermöglicht rein theoretisch eine paradigmenexteme Wortüberdachung, indem je nach Aussprache andere orthographische Regeln angewandt werden. So gesehen wäre eine Mundartenüberdachung wie im Far. gegeben (zur Frage, ob der Terminus Mundart mit Blick auf die isl. Aussprachevariation angemessen ist vgl. Benediktsson 1961: 109). Anders als auf den Färöern wird dieses orthographische Potential im Isl. unterdrückt, da eine Gleichstellung der regionalen Aussprachevarianten sprachplanerisch - zumindest was flámceli betrifft - unerwünscht ist. Als normbildend und schriftsprachlich gilt allein die südisl. Aussprache, wie sie von etwa zwei Dritteln der Bevölkerung gesprochen wird. Die regionalen und somit nicht hochsprachlichen Varianten gelten als unverschriftete Mündlichkeit.

6.3.3. Nynorsk in der Zange zwischen Mundartenüberlagerung und Mundartenüberdachung 6.3.3.1. Nynorsk als Konkurrent zumBokmâl Auch im Norwegen des 19. Jh. war der Ruf nach kultureller, wirtschaftlicher und politischer Eigenständigkeit mit Sprach- und somit Orthographiefragen gekoppelt. Wie auf Island und den Färöern wurde auch hier eine Standardsprache auf einer volkssprachlichen Grundlage entwickelt, die als direkter Nachfolger des Anorw. weitgehend vom Dan. unbeeinflußt geblieben war. Nach seinem Begründer Ivar Aasen (1813-1896) sollte dieses Landsmâl eine unverkennbar norw. Nationalsprache werden (vgl. die Monographien von Venâs (1996) und Walton (1996)). Hierfür

176 studierte Aasen während längerer Reisen die ländlichen Mundarten im Westen und Südwesten Norwegens (die nördlich von Rana sowie die im Osten blieben weitgehend unberücksichtigt). Die Bezeichnung Landsmâl wurde oft - sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern - als die Sprache des Landes im Gegensatz zur Sprache der Stadt verstanden. Diese Definition dürfte jedoch kaum mit Aasens eigener Einstellung übereinstimmen. Wie das Riksmâl sollte sein Landsmâl eine "Sprache für das ganze Land Norwegen" sein. Die Folge dieser Ambivalenz war eine unglückliche Koppelung von Landsmâl mit der "ungebildeten" Bauern- und Fischergesellschaft, während das Riksmâl mit dem Ansehen der städtischen Kultur, der akademischen Bildung und des internationalen Austausche verbunden wurde. Unter anderem um diese Konnotationen zu vermeiden, wurden Landsmâl und Riksmâl 1929 zu Nynorsk bzw. Bokmâl umbenannt. Die Wortbildung Nynorsk beansprucht außerdem, die "unverfälschte" Nachfolge des Gammelnorsk (Anorw.), d.h. der prestigevollen hochmittelalterlichen Kultur- und Literatursprache Norwegens zu sein. Damit sind einige Gründe angesprochen, weshalb sich das Nyn. - anders als das Isl. und Fär. - bis heute gegen die lokale Regionalvariante des Dän., nämlich das Riksmâl/Bokmâl, nur beschänkt durchzusetzen vermochte. Während sich auf Island und den Färöern Muttersprache stets als die historisch gewachsene Volkssprache verstehen ließ, war es nie das Monopol des Landsmäl/Nynorsk, die nationale Eigenständigkeit durch das Schriftbild sichtbar zu machen. Das Landsmäl/Nynorsk mußte sich von Anfang mit dem Riksmâl/Bokmâl als konkurrierender Nationalsprache auseinandersetzten (für einen sozialhistorischen Vergleich der beiden Sprachen vgl. Jahr 1989 und Haugen 1966a). 5 Die große Ähnlichkeit mit dem Bokm. ist ein weiteres Problem für das Nyn. Im Gegensatz zum Fär. und vor allem dem Isl. konnten Wortbildungen auf anorw. Basis selten mit einer besonders hohen Akzeptanz in der Bevölkerung rechnen. Statt dessen werden Wörter aus dem Bokm. oder durch das Bokm. vermittelte Internationalismen ins Nyn. aufgenommen. Dieser Umstand verringert die Möglichkeit für Nynorsk, sich gegenüber Bokm. zu profilieren; vgl. norw. elektrisitet mit isl. rafmagn 'Bernsteinkraft = Elektrizität'). Andererseits hat die stetige Norvagisierung des Riksmâl/Bokmâl dazu geführt, daß sich das Nyn. nur durch konservative Formen, die die Bevölkerung ebenso wenig akzeptiert, absetzen konnte. Unter anderem aus diesen Gründen hat das Nyn. bis heute nicht die Funktion einer national sammelnden Schriftsprache erfüllen können. Die innernationale Auseinandersetzung findet - gemessen an der Benutzerzahl - zudem zwischen zwei ungleich großen Schriftsprachen statt: Der nyn. Anteil beträgt kaum mehr als 8-20% 6 (zum nyn. Anteil in Schule und Verwaltung vgl. Vik0r 1995: 96). Die zunehmende Urbanisierung der norw. Gesellschaft in den letzten 40 Jahren hat diese Tendenz verstärkt. Aus dieser Sicht stellt sich die Frage, ob das Nyn. langfristig eine Zukunft hat. Andererseits besitzt es als Literatursprache - auch wegen seiner Opposition zur städtischen Bokmäl-Kultur - poetische Möglichkeiten, die den meisten anderen Nationalsprachen abgehen; man denke nur an die Dichtung von Olav Aukrust, Taijei Vesaas und Eldrid Lunden.

5

6

Zum Nyn. vgl. auch Aasen 1853/1985; 31965, Beito 1970; 1972; 1974; Beito/Hoff 1973, Walton 1984. Die große Variation dieser Angabe korreliert mit den individuellen Sprachpräferenzen der jeweiligen Statistiker.

177 Die folgenden Überlegungen zeigen, daß es für die geringe Akzeptanz des Nyn. auch tieferliegende Gründe gibt, die das phonologische System selbst und die Art der paradigmenexternen Wortüberdachung betreffen.

6.3.3.2. Nynorsk als mundartenüberlagernde Standardsprache Die Kap. 6.3.1-2 haben gezeigt, daß die orthographischen Systeme des Isl. und Far. eine soziolinguistische Ambivalenz besitzen: Beide lassen sich je nach ideologischer Präferenz sowohl mundartenüber/agernrf als auch mundartenüberdocAertif aktivieren. Demnach stellt das Isl. mit seiner ausgeschalteten Überdachung den Endpunkt einer skalaren Typologie dar, auf den das Fär. seit einiger Zeit zusteuert: Durch die Aufwertung der Tórshavner Mundart wird das mundartenüberdachende Potential allmählich zugunsten des mundartenüberlagernden aufgegeben. Während die orthographischen Verhältnisse im Isl. und Fär. relativ klar sind, gestalten sie sich im Nyn. wesentlich verzwickter. Auch hier kann die Orthographie sowohl mundartenüberlagernd als auch mundartenüberdachend eingesetzt werden. Allerdings wurden die sprachsoziologischen Weichen in dieser Hinsicht nie eindeutig gestellt. Das erklärt auch, weshalb die nyn. Orthographie in der Forschung uneinheitlich bewertet wird. Braunmüller (1999: 198) weist auf das mundartenüberdachende Potential hin, während Beito (1986) die Grammatik einer mundartenüberlagernden Hochsprache vorstellt (freilich erkennt er auch, daß seine Aussprachenorm allenfalls bei hochgradig konzeptioneller Mündlichkeit Anwendung findet (§ 2) und daß normalerweise Mundart gesprochen wird). Aasen hat mit seinem Landsmâl eine Art Synthese der westlichen und südwestlichen Mundarten Norwegens zu ermitteln versucht. Diese Synthese sollte alle Mundarten standardsprachlich als eine gemeinsame Nationalsprache überlagern und in etwa die gleiche Funktion erfüllen wie die Standardsprachen in Schweden und Dänemark. Als Aasen (31965: 5-21) sein Vokalsystem Mitte des 19. Jh. aufstellte, gab es zwar keine Phonemtheorie im heutigen Sinne; da er aber vielfach Minimalpaare angegeben hat, läßt sich auf ein Vokaldreieck mit den Phonemen in Abb. 6/13 schließen.

178 Dieses Vokalsystem ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: (i) Abb. 6/13 ist für die heutigen norw. Mundarten keineswegs typisch. Laut Hoff (1966: 141) findet sich dieses System nur in einigen wenigen Mundarten wieder, wozu auch Aasens eigene von 0rsta in Sunnm0re gehört (und selbst hier sind nicht anorw. é und ó monophthongisch geblieben, sondern haben sich zu [?'(:)] bzw. [çu(i)] entwickelt). (ii) Obwohl sich die heutigen Mundarten weitaus einfacher gestalten als in Abb. 6/13, läßt sich dieses Vokalsystem als ein kleinster gemeinsamer Nenner sämtlicher Vokalsysteme der (west)norw. Mundarten ansehen: Es ist im wesentlichen die Vereinigungsmenge der vielen mundartlichen Vokalsysteme. (ili) Ulvestad (1966: 43) weist auf eine alternative Möglichkeit, Abb. 6/13 zu verstehen. Demnach wäre sie als eine von Aasen idealisierte Rekonstruktion eines spätanorw. Vokalsystems zu verstehen, die als moderne Standardlautung verwendet werden sollte (zu dieser kontroversen Meinung vgl. Küspert 1988: 262-278). Der Unterschied zum klassischen Anorw. geht vor allem auf folgende Veränderungen zurück: Senkung der offenen und halboffenen anorw. Kürzen, die schwed./norw. Vokalverschiebung samt Entstehung neuer Längen und Kürzen aus den alten Kürzen und Längen durch die Quantitätsumlegung der Wurzelsilbenstruktur (zum westnorw. Vokalismus überhaupt vgl. Küspert 1988: 214-324). (iv)

Das von Aasen ( 3 1965: 5-21) aufgestellte Vokalsystem besitzt 15 Monophthonge. Berücksichtigt man außerdem, daß diese entsprechend der Quantitätsregelung als Kürze und Länge realisierbar sind, liegen insgesamt nicht weniger als 30 Monophthonge vor. Dabei fällt vor allem der palatale Zweig mit insgesamt sechs Stufen auf: [i(i), i(i), e(:), ç(:), ε(:), a(:)]. Bedenkt man, daß rein artikulatorisch der Abstand [ai - ui] kürzer ist als [a: - ii], so ist auch der velare Zweig mit "nur" vier Stufen eng besetzt. Die frühneuzeitliche Entwicklung dieses Systems überrascht daher nicht: In den Mundarten fielen die aus den gesenkten anorw. Kurzvokalen neu entstandenen Längen und Kürzen in regional unterschiedlicher Weise mit den alten nicht gesenkten Längen und Kürzen bald zusammen. Das "Gedränge" bei den Monophthongen wurde teilweise auch durch Diphthongierungen abgebaut.

(v)

An der divergierenden Vokalentwicklung der spätanorw. Mundarten zeigt sich, daß das Vokalsystem in Abb. 6/13 extrem instabil und deshalb für eine mundartenüberlagernde Standardlautung denkbar ungeeignet ist. Gerade hierfür ist ein robustes, d.h. zeitlich und räumlich beständiges Lautsystem besonders wünschenswert. Das Problem der Aussprachestabilität spitzt sich vor allem dann zu, wenn das Vokalsystem in Abb. 6/13 Mundarten überlagert, die bereits genau diese Instabilität beseitigt haben. Die dadurch entstehenden Spannungen und Interferenzen dürften einem Vokalsystem wie dem von Aasen vorgeschlagenen nicht sonderlich zuträglich sein. Eine standardisierte nyn. "normaluttale", wie sie in Abb. 6/13 dargestellt wird, muß den norw. Mundartsprechern als höchst anomal vorkommen.

(vi) Hinsichtlich des Vokalsystems in Abb. 6/13 ergeben sich auch orthographische Probleme, die für das Nyn. spezifisch sind. Es besteht nämlich keine l:l-Entsprechung zwischen Graphemik und Phonemik, weil viele Grapheme mit zwei verschiedenen Vokalqualitäten verbunden werden. So steht das gleiche Graphem sowohl für Phoneme, die auf gesenkte ehemalige Kürzen zurückgehen, als auch für die Reflexe der ehemaligen Längen. Z.B. werden /i(:)/ bzw. /i(:)/ gleichermaßen mit verschriftet. In seinem Ordbog over det

179 norske Folkesprog7 versucht Aasen (1850: xii) diesem Problem beizukommen, indem er Auskunft über die Vokalqualität gibt: Wenn nach einem Wort, das mit geschrieben wird, die Bezeichnung "(ii)" steht, ist der Vokal geschlossen als /i(:)/ zu sprechen, während die Bezeichnung "(i')" die etwas offenere Artikulation /i(:)/ signalisiert (vgl. auch die Bezeichnungen in Aasen 1848; 1864; 1873). Für gewöhnliche Gebrauchstexte ist aber keine entsprechende Differenzierung im Nyn. vorgesehen. Dieser Umstand äußert sich konkret in Form heterophoner Homographe. So wäre '(die) Leiter' (< anorw. stigi) laut Abb. 6/13 mit [κ] zu sprechen, 'steigen' (< anorw. stiga) hingegen mit [i:]. Die Korrespondenz -»{[i:], [ii], [i], [i]} läßt sich somit weder durch die Schreibung noch durch Rückgriff auf die eigene Mundart disambiguieren (die Vokalquantität ergibt sich jedoch meistens eindeutig durch die nachfolgenden Konsonantengrapheme). Bei der Erlernung phonemischer Unterschiede einer überlagernden Standardlautung sind entsprechende graphemische Differenzierungen von größter Bedeutung. Im Nyn. fehlt diese wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche mundartenüberlagernde Verbreitung des Vokalsystems in Abb. 6/13. Im Zusammenhang mit der sprachplanerischen Beseitigung von isl.flámceli in Kap. 4.5.2.1 kam dieser Umstand besonders deutlich zum Ausdruck, (vü) Die Standardlautung des Nyn. erweist sich wie das Standardschwed. als eine Synthese von Mundarten. Beim Schwed. geht die überlagernde Hochlautung vielfach auf eine mittelschwed. Leseaussprache zurück, die zudem einer politisch und kulturell dominanten Gegend entstammt. Zwischen den überlagerten Mundarten Schwedens und der überlagernden Standardlautung besteht somit ein sprachliches Spannungsfeld, das mit einem politischen und kulturellen Gefalle korreliert. Das Lautsystem in Abb. 6/13 ist aber mit keiner solchen politischen und kulturellen Dominanz verbunden, da es im wesentlichen einen gemeinsamen Nenner der zu überlagernden Mundarten darstellt. Auch dieser Umstand stand dem Erfolg einer entsprechenden nyn. Aussprachenorm bis heute entgegen, (viii) Hinzu kommt, daß Mundarten einen hohen Stellenwert in der norw. Gesellschaft haben. Das zeigt sich unter anderem darin, daß auch viele Bokmäl-Schreiber hauptsächlich Mundart sprechen. Sowohl bei Bokm. als auch bei Nyn. ist es überaus üblich, daß die Standardsprache lediglich als geschriebene Varietät verwendet wird. Dabei besteht aber ein wichtiger Unterschied zwischen Bokm. und Nyn. Obwohl viele Bokmäl-Schreiber hauptsächlich Mundart sprechen, existiert eine muttersprachliche, in Ostnorwegen relativ weit verbreitete Standardlautung des Bokm. Das nyn. Vokalsystem in Abb. 6/13 ist hingegen auf dem Stadium eines Schreibtischprodukts geblieben.

Vor diesem Hintergrund wundert es, daß der angesehene Nynorsk-Grammatiker Beito (1986: § 13) im wesentlichen Aasens Vokalsystem übernimmt (im Gegensatz zu Aasen rechnet er jedoch mit nur einem Phonem/0/ und beachtet auch ostnorw. Züge). Beito (1986: 22) muß sich mit der Feststellung begnügen, daß mundartspezifische Züge wie Retroflexe und mouillierte Konsonanten bei gehobener Rede zunehmend vermieden werden. Allerdings findet damit keine Annäherung an seine Standardlautung statt, sondern eher an eine gepflegte Osloer (Bokmâl-)Aussprache, die auf einem vierstufigen System mit neun Phonemen basiert. Für eine Art nyn. Leseaussprache reicht 7

Dt.: Wörterbuch liber die norwegische Volkssprache.

180 dieses System aus. Diese Lautung wird vornehmlich als Theatersprache und im Rundfunk und Fernsehen benutzt (hierzu vgl. Midttun 1960; Fjeld Halvorsen, 1997:55,70; Sandfly 1992: 270).

6.3.3.3. Nynorsk als mundartenüberdachende Standardsprache Oben wurde Nyn. im Sinne einer mundzrtenilberlagernden Standardlautung behandelt. Wie gesagt, läßt sich das Schriftbild des Nyn. aber auch als die Grundlage für eine Mundarteniifeerdachung ansehen. Hierbei wird die Aussprache der einzelnen Mundarten ausgehend von ihrem gemeinsamen Schriftbild durch teilweise unterschiedliche Regeln abgeleitet. Aus dieser Perspektive entfällt die Frage nach der Standardlautung, da sämtliche Mundarten (wenigstens phonologisch, wenn auch nicht soziolinguistisch) gleichberechtigt sind. Im Gegensatz zu der fär. Überdachung stellen sich indes bei den norw. Mundarten einige Probleme ein. Die Reduktion des spätanorw. Vokalsystems in Abb. 6/13 ist in allen Mundarten nicht nach dem gleichen Muster erfolgt, sondern hat zu einer mundartlichen Differenzierung geführt. Eine mundartenüberdachende Orthographie, die eine eindeutige Ableitung der Aussprache aufgrund der Schreibung ermöglichen soll, muß diesen Umstand berücksichtigen. Das gilt auch dann, wenn der divergierende Lautwandel in den überdachten Mundarten zum gleichen Phonemsystem geführt hat; aus der Identität der Phonemsysteme folgt ja nicht zwingend, daß die lexikalische Verteilung der einzelnen Phoneme gleich geblieben ist Eine mundartenüberdachende Orthographie der (west)norw. Mundarten ist weitgehend zu erreichen, wenn die phonologische Struktur des spätanorw. Vokalsystems synchron als ein kleinster zugrundeliegender Nenner der unterschiedlichen mundartlichen Verhältnisse angesehen wird. Konkret geht es darum, das System in Abb. 6/13 durch ll-GPKen abzubilden. Ein Muster hierfür liefern bereits moderne Arbeiten zum Nyn. Hier werden die Phonembezeichnungen durch Akut- und Gravisakzent folgendermaßen unterschieden: Den Bezeichnungen !U und Γι! entsprechen bei Beito (1986: 34) die Phoneme Γϋ bzw. Ν in Abb. 6/13 (bei den nicht geschlossenen Vokalen lai, /œ/, /0/, lèJ entfällt diese Angabe selbstverständlich). Um die phonologische Struktur von Abb. 6/13 zu verschriften, ist aber eine analoge Verwendung sowohl von Akut- als auch von Gravisakzent redundat. Es würde z.B. reichen, nur die gesenkten ehemaligen Kürzen orthographisch hervorzuheben: , d.h. =/i(:), i(:)/ usw. Damit entstünde aber die bedenkliche Situation, daß man für alle überdachten Mundarten eine phonologisch Tiefe ansetzen würde, die sich kaum synchron aus ihren Lautsystemen, sondern allein aus dem Bestreben nach orthographischer Überdachung ergäbe. Allerdings wäre diese Auffälligkeit keine Besonderheit der nyn. Orthographie; das gleiche gilt auch für einige Bereiche der fär. Orthographie. Nur im Falle des Nyn. fällt es als systematischer Zug der Orthographie wesentlich stärker auf. Der Einsatz von Gravisakzenten ist in der nyn. Orthographie nicht vorgesehen, was die mundartenüberdachende Kapazität des nyn. Schriftbilds stark beeinträchtigt: Ohne Akzent bleibt dieses Schriftsystem zu flach, um eine Überdachung sämtlicher Mundarten zu leisten. Für Mundarten, in denen [c] und [il] (< anorw. i bzw. i) nicht zusammengefallen sind, geben daher homographe Schreibungen wie '(die) Leiter - steigen' (anorw. stigi bzw. st(ga) keinen Hinweis darauf, wann mit Iii bzw. Iii zu verbinden ist. Lediglich für Mundarten, in denen [ii] und [ii]

181

zusammengefallen sind, ist die homographe Schreibung problemlos. Ein hypothetisches Schriftbild wäre dagegen tatsächlich mundartenüberdachend: (a) ->{[i:],...} und ->{[u],...} (wenn [u] * [i:] erhalten), (b) -»{[ii],...} und-»{[i:],...} (wenn [π] mit [ù] zusammengefallen), (c) ->{[es],...} und->{[i:],...} (wenn [n] mit [e:] zusammengefallen). Im Isl. wird auch in dieser Weise differenziert, nur entspricht hier ein akuter Akzent dem alten Langvokal; vgl. isl. =[n - ix] '(die) Leiter - steigen'. Die Fälle (b) und (c) oben zeigen, daß ein mundartenüberdachendes Schriftbild auch dann zwischen , und graphemisch differenzieren müßte, wenn sämtliche Mundarten das [κ] beseitigt hätten, d.h. nur [i:] und [e:] aufwiesen und somit phonemisch identisch wären. Trotz der gleichen phonemischen Struktur hat der Lautwandel zu einer unterschiedlichen Verteilung von [i:] und [e:] in der Lexik geführt; vgl. die Entwicklung von an. (, i, é in an. hvit(r), vita, bréf weiß, wissen, Brief > nyn. =[lcviit, "viite/"verte, "breiv] (hinzu kommen die auf -a auslautenden Varianten des "kl0yvd infinitiv": veta/vita). Selbst bei Mundarten mit einem Vokalinventar von nur neun Phonemen reichen daher die Phoneme nicht für eine disambiguierbare Überdachung aus. Weil die nyn. Orthographie auf eine Schreibung verzichtet, muß sie die zwei mundartlich distribuierten Schriftbilder bzw. aufnehmen. Die Abwesenheit einer graphemischen Differenzierung zwischen den Reflexen der an. Längen und der gesenkten an. Kürzen führt zwangsläufig zu solchen orthographischen Abweichungen vom mundartenüberdachenden Prinzip. Deshalb hat das Nyn. so viele graphemische Varianten des gleichen Lexems. Einem mundartenüberdachenden Schriftbild stehen aber noch größere Probleme im Wege, als den divergierenden Zusammenfall der gesenkten an. Kürzen zu überdachen: Die norw. Mundarten weisen ein ganzes Spektrum von Unterschieden auf, die teilweise bis ins Urn. zurückverfolgt werden müssen. Hier eine Auswahl der wichtigsten: (1) unterschiedlich weit durchgeführte Vokalverschiebung im velaren Zweig, (2) unterschiedlich durchgeführte Vokalharmonie, (3) unterschiedlich durchgeführte Quantitätsregelung der Wurzelsilbe (sog. Silbenbalance), (4) unterschiedlich durchgeführte Brechung, (5) unterschiedlich durchgeführte Umlaute, (6) unterschiedlich veränderter Schwachdruckvokalismus. Um ein tatsächlich mundartenüberdachendes Schriftbild zu erreichen, müßte beispielsweise das ù in smùlt 'Schmalz' anders verschriftet werden als das ù in skùld 'Schuld', obwohl beide ù-Laute auf ein gesenktes spätanorw. [u > U] zurückgehen. In anderen Mundarten kommen nämlich die Formen smòlt (mit α-Umlaut) und skyld (mit ¿-Umlaut) vor. Ein mundartenüberdachendes Schriftbild hätte somit folgende theoretische Kombinationen zu berücksichtigen: smùlt/skàld, smùlt/skpld, smòlt/skùld und smòlt/skyld. Da die a- und i-Umlaut auslösenden Vokale nicht erhalten sind, läßt sich diese mundartliche Differenzierung nicht durch unterschiedliche Graphotaktik erfassen. Um eine graphemische Mundartenüberdachung zu erreichen, wären hypothetische Schreibungen wie etwa * nötig, wobei die Zusatzzeichen < k > und < > die einzelmundartlich bedingte Möglichkeit der Senkung ù > ò bzw. der Palatalisierung ù > y ortho-

182 graphisch anzeigen würden. Allerdings verfährt die nyn. Orthographie anders. Ins Lexikon werden ziemlich lautgetreue Verschriftungen unterschiedlicher Aussprachevarianten des gleichen Etymons aufgenommen: bzw. ( verschilften die Formen mit a- bzw. /-Umlaut). Verglichen mit diesem relativ einfachen Fall bietet lysfljos 'Licht' mit der Anlautvariation [l-/j-] eine noch größere Herausforderung für eine streng mundartenüberdachende Orthographie. Auch hier weicht das Nyn. auf mundartlich distribuierte Schreib varianten aus. Diese Überlegungen zeigen, daß sich die norw. und die fär. Mundartenlandschaft erheblich unterschieden. Zwar sind im Fär. die mundartlichen Unterschiede mitunter relativ groß, doch lassen sie sich wesentlich leichter auf eine gemeinsame zugrundeliegende Form zurückführen als die norw. Deshalb eignet sich die Architektur einer mundartenüberdachenden Orthographie rein linguistisch besser für die fär. Mundarten als für die norw. Angesichts all dieser Schwierigkeiten, die sich bei einem mundartenüberdachenden nyn. Schriftbild auftun, könnte man glauben, daß die nyn. Orthographie nicht als MundartenÜberdachung leistendes Schriftsystem angesehen wird. Dem ist aber nicht so (vgl. Braunmüller 1999: 198). Wie oben festgestellt, hat sich eine standardisierte nyn. Aussprache nicht durchsetzen können, weshalb alle NynoTsiaschreiber Mundartsprecher sind. Angesichts einer solchen Situation stellt sich die Frage, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, GPKen für das Nyn. aufzustellen. Es liegt folgendes theoretische Problem vor: Wie schlecht muß die Mundartenüberdachung funktionieren, bis man es typologisch gesehen eher mit einer bivalenten Sprache zu tun hat, bei der sich Schreibung und Lautung nicht mehr sinnvoll in Beziehung zueinander setzen lassen? Anders als im Fär. kann von einer gut funktionierenden mundartenüberdachenden nyn. Orthographie keineswegs die Rede sein. Vielmehr zeigt sich, daß das Schriftbild beim indirekten Bedeutungszugriff allenfalls eine gewisse Orientierung bereitet. Die fär. GPKen sind dagegen sehr systematisch organisiert.

6.3.3.4. Lexik und Mundartenüberdachung im Nynorsk Oben wurde gezeigt, daß sich die Probleme, die bei einer strengen Mundartenüberdachung entstehen, teilweise durch mundartlich distribuierte, lautnahe Schreibvarianten lösen lassen. Allerdings bedeutet das keineswegs eine Individualverschriftung einzelner Mundarten; die im Lexikon verzeichneten Lexemvarianten werden meistens für die Verschriftung mehrerer Mundarten verwendet. Abb. 6/14a-c schildert diese Situation mengentheoretisch in einem Fall von drei Mundartengruppen. Bei prototypischer Mundartenüberdachung wird für die mundartliche Vielfalt ein einheitliches Lexikon L mit ausschließlich gemeinsamen Schriftbildern verwendet (Abb. 6/14a). Je nach Mundart werden die durch ein Pluszeichen "+" symbolisierten Lexikoneinträge mit unter Umständen verschiedenen Aussprachen versehen. Beim Hauptdruckvokal in nyn. =[ Vvirta/e, V veia/e] funktioniert das nicht. Um eine Aussprache [ V ve:ta/e] abzuleiten, leistet das in nicht einmal eine gute Orientierungshilfe, weswegen eine Schreibvariante mit eingeführt wurde. Dieser Fall wird verallgemeinernd in Abb. 6/14b dargestellt. Hier liegen für drei Mundartengruppen drei orthographisch verschiedene Lexika LI, L2 und L3 vor. Dabei leistet jedes für sich das gleiche wie L in

183 Abb. 6/14a: d.h. LI, L2 und L3 sind mundartenüberdachend. Außerdem überlappen sich LI, L2 und L3 derart, daß sich eine große gemeinsame Schnittmenge ergibt (mit Pluszeichen in Abb. 6/14b L l n L 2 n L 3 ) . Darüber hinaus entstehen weitere Überlappungen, die aber nur zwei der drei Lexika betreffen (mit Minuszeichen L3n(Ll\L2), mit Punkten L2n(L3\Ll), mit senkrechten Apostrophen Lln(L2\L3)). Abb. 6/14b, die prinzipiell die Verhältnisse der nyn. Orthographie darstellt, gibt somit eine andere Art von Mundartenüberdachung wieder als Abb. 6/14a, die eher für das Fär. gilt. Andererseits weist die nyn. Orthographie keine strenge Aufteilung der drei Mundartengruppen in drei Mengen mit je einer großen Eigenlexik (Abb. 6/14c) auf. Dem Nyn. entspricht eher Abb. 6/14b, in der die mit einem "x", "y" und "z" gekennzeichneten Teilmengen (d.h. Ll\(L2uL3), L2\(LluL3), L3\LluL2)) klein sind. Abb. 6/14b zeigt somit, wie die nyn. Orthographie eine Stellung zwischen reiner Mundartenüberdachung (Abb. 6/14a) und Individualverschriftung einzelner Mundartengruppen (Abb. 6/14c) einnimmt. [Abweichung von prototypischer Wortüberdachung] Τ

^

L = L1 =L2 = L3

fär. Orthographie (a)

nyn. Orthographie (b)

(c)

Abb. 6/14a-c: Nyn. zwischen Mundartenüberdachung und Einzelmundartverschriftung. Die typologischen Verhältnisse in Abb. 6/14b gelten nicht nur für die Mundartenüberdachung im Nyn. Mit ihnen läßt sich auch die Semikommunikation zwischen dem Schwed., Bokm. und Dan. teilweise erfassen. Der Unterschied in der lexikalischen Variation zwischen der dän/bokm./schwed. Semikommunikation einerseits und der nyn. Mundartenüberdachung andererseits ist somit nicht typologischer, sondern quantitativer Art: Bei der dän./bokm./schwed. Semikommunikation ist die Schnittmenge L l n L 2 n L 3 kleiner als bei der nyn. Mundartenüberdachung. Dieser typologischen Identität trägt Karkers (1976) Vorschlag zur Vereinheitlichung der dän., bokm., und schwed. Verschriftungsprinzipien besonders Rechnung. Die Umsetzung seines Vorschlags impliziert im großen und ganzen eine quantitative Annäherung der dän./bokmVschwed. Semikommunikation an die Situation der nyn. Mundartenüberdachung. Ein Beispiel hierfür wäre eine vereinheitlichte Schreibung der Verbalstämme in dän./bokm./schwed. 'kennen' als festlandskand. . Die Inf.-Endungen dän./bokm. bzw. schwed. wären dann im gemeinsamen festlandskand. Wörterbuch als regionale Besonderheit anzugeben. Damit zeigt sich erneut, wie wenig sich mundartliche und nationalsprachliche Divergenzen im Festlandskand. typologisch unterscheiden. Es ist lediglich eine politische Frage, inwiefern eine

184 paradigmenexterne Überdachung Semikommunikation oder Mundarteniiberdachung genannt wird. Ähnliche Feststellungen trafen bereits bei der Reanalyse der norw. gefärbten Regionalvariante des Reichsdän. zu einer norw. Nationalsprache zu. Beim Fär./Isl. zeigt sich diese typologische Ähnlichkeit zwischen Mundartenüberdachung und internord. Semikommunikation gleichfalls. Es fehlt nicht viel, und man könnte die schriftliche isl/fär. Semikommunikation rein orthographisch als eine inselnord. Mundartenüberdachung bezeichnen. Aus far. Perspektive berührt diese Meinung indes ein sprachpolitisches Tabu. Diese Tatsache spielt auch in der fär. Sprachplanung eine gewisse Rolle. Wenn Neologismen auf der Basis des awestnord. Erbwortschatzes (als puristischer Ersatz für dän. Lehnwörter) eingeführt werden, tritt zwangsläufig eine Islandisierung des fär. Schriftbilds ein. Dieser Nebeneffekt ist nicht immer erwünscht (vgl. Clausén 1978a: 13). Bei den schriftlichen Varianten im Nyn. kommt noch ein anderer Umstand hinzu, der die bereits durchgeführte Entfernung von einer prototypischen Mundartenüberdachung (Abb. 6/14a -> 6/14b) zusätzlich verstärkt. Die schriftlichen Varianten stehen nämlich nicht immer gleichberechtigt nebeneinander. Bei 'Verstand' und 'Glück' liegen jeweils zwei gleichwertige sogenannte Hauptformen vor, wohingegen bei 'Durchfall' und 'Rodung' der Haupt- eine Nebenform in eckigen Klammem gegenübersteht. Das Prinzip der Schriftvariation wird somit nicht nur verwendet, um eine Mundartenüberdachung behelfsmäßig aufrechtzuerhalten; mit der Differenzierung zwischen Haupt- und Nebenformen werden außerdem Prioritäten entsprechend der standardisierten Aussprache des Nynorsk gesetzt. Somit mischen sich hier zwei Prinzipien der Standardsprachlichkeit: schriftbildliche Mundartenüberdachung (mit graphemischer Variation) einerseits und standardaussprachliche Mundartenüberlagerung andererseits. Ein Blick in das Standardwerk Nynorskordboka - Definisjons- og Rettskrivningsordbok zeigt außerdem, daß neben der Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenformen eine weitaus differenziertere, wenngleich etwas versteckte Setzung von Variantenprioritäten existiert. Es findet sich eine gelenkte Verweisstruktur. Statt unter den beiden Hauptformen und die gleichen Beispiele und grammatischen Angaben aufzuführen, wird von der einen Hauptform auf die andere verwiesen. Im Fall von findet sich lediglich ein Verweis auf den Eintrag . Unter wird hingegen als alternative Hauptform aufgeführt. Bei anderen Hauptformen erfolgt kein solcher Verweis. Unter findet man zwar die alternative Hauptform , doch sucht man nach dem Eintrag vergebens. Es kommen folgende Verweistypen vor, wobei " 0 -»" die Abwesenheit eines Verweises symbolisiert: bzw. < 0 -> lukke, lukke/lykke>. Durch diese gelenkte Verweisstruktur entsteht eine Hierarchie der Hauptformen. Folgende Reihe gibt die abnehmende Verweispriorität an: dukke, vett, vit, lykke>. Bei den Nebenformen in und sind die Verhältnisse vergleichbar: bzw. < 0 -> skunde, skunde/[skynde]>. Die entsprechende Hierarchie der Verweisstruktur ist hier . Die beiden Wortreihen können zu einer einzigen zusammengefaßt werden, wobei eine Hauptform ohne Nebenform eine höhere Priorität hat als eine mit Nebenform. Nimmt man eine Hauptform wie 'gehen' hinzu,

185 die weder eine alternative Haupt- noch eine Nebenform hat, ergibt sich folgende neunstufige Hierarchisierung der Lexik (mit abnehmender Verweispriorität): .

6.4. Internordische Semikommunikation und paradigmenexterne Wortüberdachung

Es finden sich Beispiele mit einer hochgradigen zwischensprachlichen Wortüberdachung, die sogar sämtliche nord. Schriftsprachen erfaßt wie z.B. der Prät.(Sg.)-Stamm 'schnitt'. In diesem Fall ist das Schriftbild für Leser aller sechs Sprachen verständlich. Gibt es viele solche Übereinstimmungen, ist eine Verständigung, bei der jeder nur die eigene Sprache verwendet, möglich. Hierfür hat Haugen (1966c) den Terminus internord. Semikommunikation eingeführt. Bei sechs Sprachen ergeben sich theoretisch 15 Paare, wovon aber 8 ausscheiden, da eine Semikommunikation zwischen dem Insel- und dem Festlandnord, kaum möglich ist. Die Verständigung bei den restlichen 7 Sprachpaaren erfolgt indes nicht in beiden Richtung gleich gut, so daß 14 Kombinationen zu berücksichtigen sind. Wird außerdem zwischen mündlicher und schriftlicher Semikommunikation unterschieden, erhöht sich diese Zahl auf insgesamt 28. Daß diese beiden Typen von Semikommunikation nicht immer gleich gut funktionieren, zeigt der Vergleich von bokm./dän. ["Jsira/'sàeiB] mit . (1) Inselnord. Semikommunikation. Berücksichtigt man sowohl die mündliche als auch die schriftliche Semikommunikation, sind vier Fälle denkbar. Weil das isl. und das fär. Schriftbild hochgradig übereinstimmen, ist eine relativ gut funktionierende schriftliche Verständigung möglich. Im Mündlichen ist eine Semikommunikation dagegen nur beschränkt erreichbar, was vor allem auf den im Vokalismus stark divergierenden Lautwandel zurückgeht. Außerdem sind die Verhältnisse asymmetrisch. Da die isl. Orthographie relativ flach ist, erleichtern eher Kenntnisse der fär. Schreibung die passive Beherrschung des gesprochenen Isl. als umgekehrt. Hinzu kommt, daß sich die Isländer mit einer fär. Mundartenlandschaft konfrontiert sehen, während die Färinger es mit einem relativ einheitlichen Isl. zu tun haben. Probleme bei der Semikommunikation ergeben sich auch wegen des unterschiedlichen Umgangs mit Lehnwörtern. Hier sind nun die Isländer im Vorteil. Bei einem Beispiel wie fär. telefon vs. isl. sími 'Telefon' können Isländer den fär. Internationalismus meistens aufgrund ihrer Englischkenntnisse entschlüsseln. Isl. simi ist hingegen für Färinger völlig unverständlich. Diese Asymmetrie der Semikommunikation korrespondiert allerdings nicht mit den Lesegewohnheiten der fär. und isl. Bevölkerung. Es sind eher die Färinger, die isl. Texte lesen als umgekehrt. Die isl. und fär. Schriftbilder sind außerdem mit normalisierten aisl. Texten weitgehend identisch. Diese konsequente diachrone Wortüberdachung ermöglicht eine Art diachroner Semikommunikation. Entsprechend kann die fär. Bevölkerung dank ihrer etymologisierenden Orthographie die Ausgaben der aisl. Sagas lesen (hier erübrigt sich zudem das Lehnwortproblem). Dieses Leseverhalten ist jedoch nicht erst mit der modernen fär. Orthographie entstanden; bereits

186 vor ihrer Einführung existierte bei gebildeten Färingern ein solches fär. Vorlesen isl. und aisl. Texte (vgl. Grundtvig 1 1845/1978: 73, 105; Djupedal 1964: 161). (2) Festlandnord.

Semikommunikation.

Hier sind ganze 24 Fälle zu beachten, die vor allem

Maurud (1976) und Börestam Uhlmann (1994) ausgiebig untersucht haben. Bedenkt man die teilweise sehr fortgeschrittene mundartliche Differenzierung im Festlandnord. - man vgl. etwa eine jütländische Mundart mit einer aus Dalama - , so ist einschränkend zu vermerken, daß die Semikommunikation vor allem die Standardsprachen betrifft. Es waren eben nicht die "extremen" Mundarten, die die Basis für die Standardsprachen abgaben. Als vielleicht wichtigster Grund für die große Ähnlichkeit der festlandnord. Standardsprachen ist der nd. Einfluß auf den Wortschatz zu nennen. Der nd. Einfluß ist auch eine der wichtigsten Ursachen dafür, daß eine internord. Semikommunikation zwischen d e m festlandnord. und dem lexikalisch konservativen inselnord. Raum kaum möglich ist. Neben d e m Extremfall der innernorw. Semikommunikation zwischen Bokm. und Nyn. funktioniert auch die b o k m / d ä n . sehr gut, was vor allem daher kommt, daß sich das norw. Bokm. aus d e m dän. Rigsmâl entwickelt hat. Fast reibungslos ist die bokm./schwed. Semikommunikation. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß das Bokm. wie das Schwed. einen weitgehend ostnord. Wortschatz besitzt. Außerdem ist die bokm. Standardlautung ostnorw. geprägt und hat somit viele gemeinsame Züge mit d e m Schwed. Die bokm./schwed. Semikommunikation zeichnet sich durch eine soziolinguistische Asymmetrie aus: Die Norweger gehen eher auf die Schweden ein als umgekehrt. Solch ein ungleiches Verhalten äußert sich konkret darin, daß Norweger öfter als Schweden Faux amis sowie andere, kommunikationsbehindernde Sprachunterschiede vermeiden. Als gleichfalls unproblematisch erweist sich die schriftliche schwed./dän. Semikommunikation. Im Mündlichen macht sich dagegen seit einiger Zeit eine "Schmerzensgrenze" bemerkbar: In der Praxis funktioniert die schwed./dän. mündliche Semikommunikation nicht immer besonders gut. Statt dessen greift man oft auf die engl. Sprache zurück, die vor allem die jüngere Generation sehr gut beherrscht. Dieser Umstand ist von gewisser sprachpolitischer Brisanz. Es gehört nicht nur z u m guten skand. Umgangston, die reibungslose Semikommunikation zu behaupten; auch von staatlicher Seite wird darauf großer Wert gelegt. 8 Eine semikommunikative Ausnahme bildet die südschwed. Bevölkerung, die mit der inseldän. Aussprache meistens weniger Schwierigkeiten hat (vgl. Teleman 1987). Umgekehrt bereitet das Dän. vielen Finnlandschweden und erst recht den Finnen, die Schwed. als Fremdsprache gelernt haben, oft unüberwindbare Probleme. Die dän./schwed. Verständigungsschwierigkeiten werden weitgehend durch den rapiden dän. Lautwandel der letzen 50 Jahre verursacht. Da aber das dän. Schriftbild konstant und somit d e m schwed. ähnlich geblieben ist, erweist sich das Verhältnis zwischen der dän.-^schwed. und der schwed.->dän. Verständigung als asymmetrisch. Für Dänen ist vorteilhaft, daß die schwed. Aussprache den dän. Schriftstrukturen und entsprechenden leseaussprachlichen/hyperkorrekten Maximalformen relativ nahe steht. Schweden fallt es wegen der stark verkürzten dän. Wörter 8

Der Roman Brandbilen som försvann von Sjöwall/Wahlöö (1969: 158f.) bringt die sprachlichen und kulturellen Tücken der dän.-schwed. Zusammenarbeit denkwürdig auf den Punkt.

187 hingegen oft schwer, auf das entsprechende Schriftbild zu schließen; vgl. dän./schwed. =["bç:EB ÎÇB] mit schwed. = [ v ba:g are ] 'Bäcker'. Um den Grad an Semikommunikation genauer festzustellen, ist eine Reihe von Parametern zu berücksichtigen. Die wichtigsten werden hier an Beispielen der schriftlichen dän./schwed. Semikommunikation aufgeführt: (1)

Graphische Ähnlichkeit. Der Beitrag zur schriftlichen Semikommunikation ist bei dän./schwed. 'schneiden' größer als bei dän./schwed. 'Segel'. Eine gemeinsame Schreibung nach dem etymologischen Prinzip kann, wie folgendes Beispiel zeigt, eine hochgradige zwischensprachliche Wortüberdachung bewirken. Bei schwed. =[ v fjaeaia] 'Stern' gibt es keinen anderen innersprachlichen Grund als das etymologische Prinzip, die Schreibung mit für /fj/ beizuhalten. Rein innersprachlich wäre schwed. * synchron einwandfrei. Aus der Perspektive der Semikommunikation liefert der Vergleich mit dän. =['sdjçan3] 'Stern' aber ein synchrones Argument für schwed. =/fj/.

(2)

Unterschiede in der grapho-morphologischen Ikonizität. Als 1906 die flache Schreibung von schwed. =['goti] 'gut, Sg.Neutr.' statt eingeführt wurde, wurde nicht nur die grapho-morphologische Ikonizität gesenkt; dadurch verschlechterte sich auch die dän./schwed. Semikommunikation asymmetrisch. Zwar ist dän. für schwed. Augen heute ein fremdes Wort, sein graphemischer Stamm ist jedoch mit schwed. leicht zu identifizieren. Ebenso ist aus dem Schwed. als Adjektivendung bekannt. Mit dän. ist daher ein auch sonst im Schwed. vertrautes Bildungsprinzip gegeben. Für dän. Leser bleibt dagegen schwed. unter Umständen ein Rätsel. Sieht man von den kontextuellen Disambiguierungsmöglichkeiten ab, liefert schwed. wenige Hinwiese auf den Stamm und die lexikalische Bedeutung 'gut'. Aus dän. Perspektive steht schwed. genauso entfernt von wie schwed. 'Los' von 'Lot'.

(3)

Semantische Ähnlichkeit. Der Beitrag zur Semikommunikation ist bei dän./schwed. 'schneiden' größer als bei dän./schwed. 'ruhig/spaßig', da letzteres Beispiel keine semantische Ähnlichkeit aufweist. Dazwischen ist dän./schwed. 'fressen/essen' einzuordnen. Hier entstehen eher stilistische Fehlinterpretationen, wenn man die genauen Bedeutungen bei dän. spise/œde 'essen/fressen' und schwed. äta 'essen, fressen' nicht kennt.

(4)

Wortfrequenz in der semi-fremden Sprache. Zwar sind sich dän./schwed. graphemisch relativ unähnlich. Hat man aber erkannt, daß sie die gleiche Bedeutung haben, deckt man mit diesem Wissen einen weitaus größeren Textanteil ab als mit den niedrigfrequenten und identischen Wörtern dän./schwed. 'Rausch'.

(5)

Bekanntheitsgrad des gleichen Etymons in der eigenen Sprache. Z.B. ist der Beitrag zur schriftlichen Semikommunikation bei dän./schwed. 'fragen' für einen Dänen größer als für einen Schweden, da schwed. spörja veraltet und weniger bekannt ist. Anstelle von spörja wird heute fast ausschließlich das aus dem Nd. entlehnte Wort frága verwendet (die Wortbildung schwed. spörsmäl kommt gelegentlich vor, muß aber als inzwischen nicht mehr semantisch transparent gelten). Umgekehrt hat der dän. Leser nicht so viel von diesem Vorteil, da schwed. spörja selten ist (was aber Parameter (4) betrifft).

188 (6) Das Informationsgewicht der Morpheme. Daß die Inf.-Endungen in dän./schwed. unterschiedlich sind, beeinträchtigt die Semikommunikation weniger als Unterschiede beim informationsintensiveren lexikalischen Stamm in dän./schwed. 'zeichnen'. (7) Graphotaktische Position der Unterschiede. Wortinitiale Unterschiede wiegen schwerer als wortfinale; vgl. dän./schwed. 'acht', das vor allem wegen und weniger wegen problematisch sein kann. Hiervon ausgenommen sind stumme wortinitiale Grapheme wie das in dän./schwed. 'wer'. (8) Die Systematizität der graphemischen Unterschiede. Hat man unter anderem anhand von dän./schwed. 'kochen - laufen - suchen' den systematischen dän./schwed. Unterschied " nach Vokalgraphem" intemalisiert, lassen sich bei vielen anderen Wörtern die korrekten Äquivalente in der eigenen Sprache gezielt erraten. Bei unsystematischen Irregularitäten wie dän./schwed. in ist das nicht möglich. (9) Lautliche Ähnlichkeit trotz graphemischer Unähnlichkeit. In einigen Fällen sind die Wortbilder unähnlicher als eine Leseaussprache der semi-fremden Schreibung; vgl. dän./schwed. -> dän./schwed. ['vessel, -l/'veksel] 'Wechsel'. Lautes Vorlesen nach muttersprachlichen GPKen kann die graphemische Differenz überbrücken. (10) Überlappung der Morpheminventare. Bei dän./schwed. 'schneiden' und 'fressen/essen' ist - wenngleich mit teilweise unterschiedlicher Bedeutung - das selbe Etymon gegeben. Die Anzahl dän./schwed. Wortpaare, bei denen das gleiche Etymon vorkommt, ist für die Semikommunikation entscheidend. Z.B. können Dänen mit dem Erstglied in schwed. 'Bernstein' wenig anfangen, da dieses Etymon im Dan. nicht vorkommt. Umgekehrt haben Schweden mit dän. 'Bernstein' entsprechende Schwierigkeiten. Bei schwed. 'Bernstein' weiß der dän. Leser jedoch, daß es sich um irgendeinen Stein handelt, während der schwed. Leser ohne einen Kontext mit wenig anfangen kann (es sei denn seine Mundart kennt dieses Lexem). (11) Abstand zwischen der semi-fremden Hochsprache und der eigenen Mundart. Südschwed. Mundartsprecher verstehen Dän. besser als etwa die finnlandschwed. Bevölkerung. (12) Fremdsprachenkenntnisse. Ein Wissen um dt. kann dän. Lesern eine Hilfe beim Lesen von schwed. geben. Entsprechendes gilt nicht für schwed. Leser bei dän. . (13) Schließlich spielen Ähnlichkeiten und Unterschiede in Syntax und Phraseologie eine gewisse Rolle. Neben diesen sprachsystematischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Semikommunikation spielen vor allem Motivation und Kreativität eine sehr große Rolle. Durch Offenheit und etwas Übung läßt sich die semikommunikative Kompetenz vor allem im Schriftlichen erheblich steigern.

189 6.5. Typologie der paradigmenexternen Überdachung

Die paradigmenexterne Wortüberdachung der nord. Sprachen läßt sich im Rahmen einer allgemeinen Typologie zusammenfassen; vgl. das Flußdiagramm in Abb. 6/15 unten. Dabei sind die fünf orthographischen Grundtypen (A), (B), (C), (D) und (E) als Fixpunkte mit prototypischem Charakter anzusehen. Diese stehen aber nicht isoliert, sondern in einem graduellen Spannungsverhältnis zueinander (vgl. die Erläuterungen nach Abb. 6/15).

Anhand von Abb. 6/15 läßt sich die Entwicklung vom Urn. bis hin zu den heutigen Schriftsprachen folgendermaßen zusammenfassen: (i) Die dän. und schwed. Schriftsprache. Ausgangspunkt bildet der Typ (D) mit einem relativ einheitlichen spätosturn. Dialektraum (2), der runisch verschilftet wurde (1), sich dann aber in eine Vielzahl von Mundarten auffächerte (2 3). Die Kopenhagener Hochsprache (3a) bzw. die Synthese mittelschwed. Mundarten (3b) sind hierbei von politischer und kultureller Dominanz. Deren Verschriftungen (3a, b 1) überlagern als Standardsprachen zwei getrennte Mundartgebiete (3a, b -> 4a, b), die im wesentlichen mit den Staatsgebieten zusammenfallen (E). Durch mundartliche Interferenzen entwickeln sich relativ weiträumige Regionalvarianten der Standardlautung (4a, b -> 6a, b), die von der Schreibung überdacht werden (B). Da die politisch dominanten Synthesemundarten relativ ähnlich sind (gemeinsamer spätosturn. Ursprung) und zunächst in etwa nach den gleichen orthographischen Prinzipien verschriftet wurden, entstanden auch entsprechend ähnliche Schriftbüder (4a, b -> 5a, b). Dadurch entstand eine hochgradige zwischensprachliche Überdachung, was neben der mündlichen auch eine schriftliche Semikommunikation (C) ermöglicht.

190 (ii)

Die Svezisierung der ostdänJsUdschwed. Provinzen. Durch die schwed. Eroberung der ostdän. Provinzen im 17. Jh. verschob sich die politische Grenze zwischen Dänemark und Schweden südwärts nach Öresund. Die Ansätze zur Herausbildung einer Regionalvariante des Standarddän. (3a 4a 6a) wurden durch Einführung der schwed. Standardsprache unterdrückt (3b 4b 6b). Statt einer Regionalvariante des Standarddän. (6a) ist Typ (B) für Südschweden eine Regionalvariante des Standardschwed. (6b). (iii) Die boktn. Schriftsprache. Die Überlagerung Norwegens durch die dän. Standardsprache ist mit der Überlagerung Südschwedens durch die schwed. Standardsprache typologisch vergleichbar. Die norw. Regionalvariante des Standarddän. (3a -> 4a -> 6a) beanspruchte für sich - u.a. aus politischen und kulturgeschichtlichen Gründen - , mehr als eine Variante des Standarddän., nämlich eine eigene nicht-dän. Nationalsprache zu sein. Diese Abspaltung des norw. Riksmâl/Bokmâl (7a' -> 8a') hatte zur Folge, daß es zu einer zwischensprachlichen Überdachung kam (C). Die diachron unterschiedlichen Wege, die zu einer dän./bokm. und einer dänVschwed. zwischensprachlichen Überdachung (5a/8a') bzw. (5a/5b) geführt haben, weisen im synchronen Ergebnis eine typologische Identität (C) auf. (iv) Die far. Schriftsprache. Auf den Färöern waren es westnorw. Mundarten (2 -> 3), die den Ausgangspunkt für das Afär. (3b) bildeten und verschilftet wurden (1). Jedoch konnte sich eine fär. Schrifttradition nicht durchsetzten, da die dän. Schrift auf den Färöern eine Vormachtstellung erlangte. Seit dem Mittelalter fächerte sich das verhältnismäßig homogene Afär. in eine nicht mehr (oder nur spärlich) verschriftete Mundartenlandschaft (3b 2 3) auf. Etwa gleichzeitig wurden die fär. Mundarten vom Dän. überlagert (3a 4a), und es entstand auf den Färöern eine Regionalvariante des Standarddän. (4a -» 6a). Ende des 19. Jh. wurde eine fär. Schriftsprache eingeführt, die eine Mundartenüberdachung (A) leistet und somit eine schriftgeschichtliche Kontinuität vom Afär. (D) zum Neufär. (A) "simuliert". Da aber auf den Färöern die Tórshavner Mundart zunehmend dominiert und in Schweden die Mundarten allmählich schwinden, liegt aus synchroner Sicht eine typologische Annäherung von far. (A) und schwed. (B) vor. (v)

Das Finnlandschwed. Bei der schwedischsprachigen Bevölkerung Finnlands hat sich eine östliche Regionalvariante des Standardschwed. herausgebildet (3b 4b 6b). Typologisch erinnert dieser Prozeß an die standardschwed. Überlagerung in Südschweden und an die standarddän. in Norwegen. In Südschweden besteht immer noch der Typ (B), während in Norwegen eine Abspaltung vom überdachenden Dän. hin zum Typ (C) erfolgte. Wie in Kap. 6.2.2 gezeigt, ist die finnlandschwed. Situation typologisch ambivalent. Obwohl keine schriftsprachliche Abspaltung eingetreten ist, finden sich - je nach kulturpolitischer Präferenz - sowohl für Typ (B) als auch für Typ (C) Argumente. (vi) Die finn. Schriftsprache. Aus dem Urfinn. entsteht (wie auf den Färöern) eine nicht verschriftete Mundartenlandschaft (2 -» 3). Eine dieser Mundarten (3a), etwa um Äbo, wurde im 16. Jh. Grundlage für eine Verschriftung (1). Diese finn. Standardsprache überlagerte die anderen Mundarten (3a -» 4a), wodurch überregionale Varianten des Standardfinn. entstanden (4a 6a). Wie im Dän. und Schwed. verlief die Entwicklung über die Typen (D), (E), (B). Im 19. Jh. beeinflußten die ostfinn. Mundarten die Standardsprache lexikalisch (10). (vii) Die isl. Schriftsprache. Auf Island konnte sich keine isl. gefärbte Variante des Standarddän. etablieren. Die typologische Stufe (B) mit einer Entwicklung des Dän. über (3a -> 4a 6a)

191 wurde mit anderen Worten auf Island nie erreicht. Die Entstehung der isl. Schriftsprache setzt ein relativ einheitliches Westum, voraus. Nachdem eine geringfügige mundartliche Differenzierung entstanden war (2 -> 3), wanderte in der Wikingerzeit viele nach Island aus. Danach ist auf Island mit einem mundartlichen Ausgleich zu rechnen (3 -> 2), so daß die Verschriftung des Aisl. im wesentlichen nach (1) erfolgen konnte (D). Im Laufe der Zeit trat nicht nur eine gewisse regionale Differenzierung des Isl. ein (2 3), die Schrift wurde auch in vielen Punkten an die neue Aussprache angepaßt. Dies wurde im 19. Jh. rückgängig gemacht. Damit waren auch die isl. "Mundarten" überlagert (E). Da sich keine regionalen Varianten des isl. Standards entwickelt haben, wurde der Typus (B) nicht erreicht. Theoretisch ließe sich die isl. Orthographie auch als ein Beispiel des mundartüberdachenden Typs (A) betrachten. Zur Zeit wird aber eindeutig Typ (E) bevorzugt. Aus dieser Perspektive ist nur die isl. Standardaussprache verschriftet, wohingegen die regionalen Abweichungen als unverschriftete Varietäten gelten. Während im Festlandnord, die Überdachung von regional gefärbter Standardsprache (B) und die zwischensprachliche Überdachung (C) einander typologisch nahe stehen, sind es im Inselnord, die Mundartenüberdachung (A) und die zwischensprachliche Überdachung (C), die Affinitäten aufweisen. Sowohl im Fär. als auch im Isl. wird nämlich auf ein Schriftbild zurückgegriffen, das den gemeinsamen awestnord. Ursprung in vieler Hinsicht flach verschriftet. Dieses Verhältnis zwischen der isl. und fär. Orthographie äußert sich konkret in einem hohen Grad an zwischensprachlicher Überdachung (IIa, b). Schriftgeschichtlich führt (1 la/llb) - neben (5a/5b) und (5a/8a') - als ein dritter Weg zum synchronen Typ (C). (viii) Die nyn. Schriftsprache. Den typologisch kompliziertesten Fall stellt schließlich das Nyn. dar. Wie die fär. will auch die nyn. Orthographie eine ununterbrochene volkssprachliche Schrifttradition "simulieren". Das nyn. Verfahren ist jedoch teilweise anders. Ausgangspunkt für das Nyn. ist das relativ einheitliche Spätwestanorw. (2) und dessen Verschriftung (1). Mit dem dän. Einfluß verebbte die norw. Schrifttradition, so daß weder Typ (A) noch Typ (E) wie im Isl. entstehen konnte. Völlig ausgeschlossen war eine Weiterentwicklung zu (B) wie im Dän. und Schwed. Soweit sind die fär. und nyn. Verhältnisse vergleichbar. Anders als im Fär. sollte mit dem Landsmâl ein rekonstruierter spätwestanorw. Lautstand, wie er vor der darauffolgenden mundartlichen Differenzierung (2 3) ausgesehen haben muß, wiederbelebt und als Standardlautung einführt werden. Diese Konstruktion "simuliert" mit anderen Worten die Entwicklung von Typ (D) zu (E). In Kap. 6.3.3 wurde erwähnt, daß sich die nyn. Orthographie auch als eine Art von Mundartenüberdachung auffassen läßt. Typologisch entspricht das wie im Fär. der "Simulation" eines Übergangs von Typ (D) zu (A).

7. Politische und kulturgeschichtliche Einflüsse auf die OrthographieEntwicklung

"Die Sprache des Volkes ist also alles andere als nur ein Instrument der Kommunikation. Sie ist Symbol der Eigenständigkeit und in sie werden Wunschvorstellungen projiziert. Die Sprache wird anthropomorphisiert [...] und ihr werden geistige Kräfte beigemessen. Z.B. macht sie frei." (Coulmas 1985: 70) Die bisher durchgeführten Überlegungen können zur Annahme führen, daß sich die Strukturen eines Schriftsystems im wesentlichen durch rein innersprachliche Argumente erklären lassen. Eine extreme Formulierung dieser Position wäre: Die Schreibung bildet das Sprachsystem ab. Diese Behauptung ist allein deshalb zu relativieren, weil es das Sprachsystem an sich nicht gibt: Je nach theoretischem Ausgangspunkt gestaltet sich das Sprachsystem als sprachphilosophische Abstraktion anders (vgl. hierzu Kap. 9). Die Überlegungen in Kap. 4.5 haben auch gezeigt, daß die diachrone Entwicklung vielfach genau umgekehrt verlaufen ist: Standardlautungen können durch den Einfluß schriftlicher Strukturen auf die gesprochenen entstehen, so daß vielmehr die Phonemik ein Abbild der Graphemik ist als umgekehrt Im folgenden soll an einigen Beispielen explizit gezeigt werden, wie sich auch die politische und kulturgeschichtliche Entwicklung inner- und außerhalb einer Sprachgemeinschaft unmittelbar auf die Orthographie auswirkt.

7.1. Ideologie und Orthographie

7.1.1. Inner- und außersprachlich akzeptable Orthographien Die innersprachlichen Eigenschaften eines Sprachsystems lassen oft mehrere Orthographien zu. Welcher dieser Kandidaten sich tatsächlich behauptet und allgemeine Akzeptanz findet, hängt von außersprachlichen, d.h. kulturgeschichtlichen und -politischen Gegebenheiten ab. Diese Feststellung gilt gleichermaßen für die sprachwissenschaftlichen "Wahrheiten", die in Orthographiediskussionen angeführt werden. Der theoretische Ausgangspunkt dieses Kapitels läßt sich wie in Abb. 7/1 zusammenfassen.

193 ( Sprachsystem(e) des Gesprochenen theoretisch mögliche Orthographien:

ο, | θ 2

O5

θ3 | o 4

···

jOn

'

innersprachlich akzeptable Orthographien: '

1

außersprachlich akzeptable Orthographien: ' vorhandene Orthographie:

1

Abb. 7/1: "Siebmodell" für die Auswahl der Orthographie 0 5 . Unter den innersprachlich akzeptablen Orthographien in Abb. 7/1 kann sich auch eine befinden, die sogar geeigneter ist als sämtliche außersprachlich akzeptablen Orthographien (z.B. könnte 0 3 als innersprachlich geeigneter gelten als O j und O5). Die Wahl von O5 ist unter solchen Bedingungen besonders erklärungsbedürftig. Hierbei gilt selbstverständlich, daß die Notation "geeigneter" von der jeweils zugrundegelegten Sprachtheorie abhängt. Somit beruht auch die innersprachliche Akzeptanz einer Orthographie indirekt auf kulturgeschichtlichen Strömungen und persönlichen sprachphilosophischen Vorlieben der Schriftautoritäten. Sollte die vorhandene Orthographie O5 aufgrund außersprachlicher und/oder innersprachlicher Veränderungen als unzulänglich empfunden werden, können Diskussionen zu Orthographiereformen entstehen. Ebenso können konstant gebliebene innersprachliche Eigenschaften aufgrund der Entwicklung einer neuen linguistischen Theorie - deren ideologische Basis einem kulturgeschichtlichen Wandel unterliegt - neu bewertet werden, so daß die Orthographie reformiert wird. Im Zusammenhang mit den Orthographien der nord. Schriftsprachen haben vor allem folgende außersprachliche Faktoren die Schriftsysteme bis ins allographische Detail geprägt: Reformation, philosophischer Rationalismus, Romantik, Nationalismus, Pan-Skandinavismus und Historismus.

7.1.2. Sprache und Nationalismus Bevor auf einige orthographische Besonderheiten der nord. Sprachen eingegangen wird, soll das gerade für die Orthographie sehr wichtige Verhältnis zwischen Sprache und Nationalismus angesprochen werden. Insbesondere die moderne Soziolinguistik, Politologie, Soziologie, Ethnologie und Anthropologie haben sich entsprechenden Fragestellungen zugewandt, jedoch meistens ohne die orthographischen Auswirkungen explizit nachzuweisen. Kap. 7 setzt sich das Ziel, diesen Nachweis beispielhaft zu liefern. Unter anderem haben sich folgende Arbeiten allgemeiner Art als nützlich erwiesen: Gumperz 1966; Barth 1969; Berlin 1972; Fishman 1972a-d; 1974; 1988; 1989; Seaton-Watson 1977; Gellner 1983; Coulmas 1985; 1992; Smith 1988; Hobsbawm 1990; Anderson 1991; Calhoun 1993; Linde-Laursen 1995.

194 Wenn von Nationalsprache, Nationalliteratur, nationalsprachlicher Identität und dergleichen die Rede ist, geht es allgemein um eine Art ethnischer Grenzziehung. Kulturgrenzen werden oft nicht nur um ihrer selbst willen hervorgehoben, sondern werden zugleich zur politischen Mobilmachung größerer Bevölkerungsgruppen eingesetzt. Ethnische Zugehörigkeit und Abgrenzung sind aber nicht zwangsläufig mit einem a priori gegebenen Merkmal wie etwa einer bestimmten Sprache gekoppelt. Auch andere kulturelle Eigenschaften wie Religion, Hautfarbe, Siedlungsgebiet, Mode, Art des Handels können das Bewußtsein über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe dominieren. Da objektiv vorhandene Kulturunterschiede keineswegs erlebte Kulturgrenzen eindeutig implizieren, ist die Mitgliedschaft zu einer Gemeinschaft als das Bekennen des Einzelnen zu einer kollektiv getragenen Idee zu sehen. Sogar wenn die objektiven Kulturmerkmale konstant bleiben, ist ein Wandel von einer Grenzziehungen zu einer anderen denkbar. Entscheidend ist daher, welche der tatsächlich vorhandenen Kulturmerkmale als ethnisch signifikant erlebt und welche als redundant angesehen werden. Bei einem bestimmten Inventar an kulturellen Merkmalen lassen sich verschiedene Grenzen ziehen. Die Schweiz um die Mitte des 19. Jh. bietet hierfür ein deutliches Beispiel, bei dem ein Wechsel in der Grenzziehung relativ schnell vollzogen wurde. In protestantischen Gebieten war der Katholizismus zunächst verboten (und in den katholischen umgekehrt), während die Sprachverwendung weitgehend eine persönliche Angelegenheit blieb. Nach 1848 wurden die machtpolitischen Territorien nicht mehr nach religiöser Zugehörigkeit, sondern nach Sprachgrenzen neu definiert. Nach dieser politisch motivierten Verlagerung der Grenzen wurde die religiöse Zugehörigkeit zu einer persönlichen Angelegenheit herabgestuft (vgl. Anderson 1991: 137f.). Das Bewußtsein über die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Idee beruht zwar auf objektiv vorhandenen kulturellen Merkmalen, doch müssen diese als Mythos dramatisiert und in Szene gesetzt werden. Die Existenz einer kulturellen Grenze ist demnach in Karl Poppers "Welt 3" anzusiedeln (vgl. Popper/Eccles 1977/1982: 61-77). Eine seit dem 19. Jh. beliebte Bezeichnung für die Entstehung einer ethnischen Grenze ist "nationales Erwachen". Indem eine bis dahin als nicht signifikant angesehene Grenze emotional aufgeladen wird, entsteht der Eindruck, es gehe nur darum, die angeblich schon immer vorhandene nationale Einheit zu "entdecken". Dieses psycho-soziale Täuschungsmanöver umschreibt Coulmas (1985:66) treffend: "Der Nationalismus gründet sich auf die vermeintliche Authentizität einer Nation in der Vergangenheit, bezweckt jedoch deren Modernisierung in der Zukunft". Hieraus lassen sich unmittelbar politische Konsequenzen ziehen, wie sie sich in den 1990er Jahren in beispielsweise den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, der Sowjetunion und ihrer ehemaligen Machtsphäre, aber auch im Europa des 19. Jh. beobachten lassen. Eine besondere Art von ethnischer Grenzziehung ist der aus Europa stammende Nationalismus mit seiner Vorstellung von der Muttersprache als einem entscheidenen Organ völkischer Identität. Die Frage nach der nationalen Gemeinschaft wurde mit der Sprachgemeinschaft beantwortet. Die Ursprünge dieses Konzepts sind teilweise alt, werden aber erst gegen Ende des 18. in Deutschland philosophisch fundiert. Mit der Idee von Volksseele, Nationalgeist, Nationalcharakter, Nationalsprache, Nationalliteratur usw. erlangen sie durch den Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803) eine deutliche Artikulation. Nach ihm sind alle Völker als Ergebnis unterschiedlicher

195 historischer und naturgesetzlich bedingter Entwicklungen gleichberechtigt.1 Für Herder ist zudem das Denken und Empfinden jedes Volkes kultur- und entwicklungsspezifisch engstens mit der Muttersprache als Vehikel der Wahrnehmung gekoppelt (vgl. Herder 1881/83: Brief 57, 107, 116). Mit seinen präromantischen Obertönen bedeutete Herders Historismus auch eine Abkehr vom Rationalismus der Aufklärung, eine Wende, die sich in der dt. Sprachwissenschaft des 19. Jh. nachhaltig niedergeschlagen hat. Vergleichbare Gedanken finden sich bei Wilhelm von Humboldt (1767-1835), für den die Nationalsprache ein organisches Ganzes sei, in dem sich die Weltansicht eines Volkes manifestiere. Die überaus große Durchschlagkraft dieser Nationalsprachenideologie hängt eng mit den politischen Ereignissen um die Jahrhundertwende zusammen. Nach den Kriegen, die 1814/15 zum Zusammenbruch der Napoleonischen Machtsphäre führten, legitimierte es Herders Philosophie, von der nationalen dt. Kultur auf einen historisch definierten Anspruch auf staatliche Einheit und politische Selbstbestimmung zu schließen. Vor allem seine Briefe zur Beförderung der Humanität hatten bereits die ideologische Grundlage für eine Ablehnung des aus Frankreich kommenden politischen, sprachlichen und kulturellen Imperialismus gelegt (vgl. Herder 1881/83: Brief 43, 110, 111). Die von Herder postulierte Koppelung von Nationalismus und Sprache spielte hierbei eine große Rolle. Das wird verständlich, wenn man die religiöse, politische, wirtschaftliche und kulturelle Zersplitterung der dt. Nation zu dieser Zeit bedenkt. Bei der Suche nach einem Nationalsymbol, das eine politische Einigung motivieren und repräsentieren konnte, fand sich in der Sprache ein wichtiger Kristallisationspunkt: Im Geschriebenen lag bereits ein relativ einheitlicher Standard vor, der mit den dt. Klassikern bereits kulturelles Prestige genoß. In bezug auf das Gesprochene verwiesen zudem die großen Fortschritte der diachronen Sprachwissenschaft auf einen gemeinsamen Ursprung der dt. Mundarten und - so die Schlußfolgerung - ihrer Sprecher. Die politische Umsetzung von Herders Kulturverständnis war auch deswegen erfolgreich, weil sie sich zugleich in Oppositionen zu der politischen Ideologie Frankreichs in Szene setzen konnte. Das diachron ausgerichtete Verständnis von Völkern, Kulturen und sprachlich determinierten Weltbildern steht in einem krassen Gegensatz zu den naturrechtlichen Vorstellungen von Menschenwürde und Demokratie der revolutionären, jakobinisch geprägten frz. Ideologie. Diese Art von Nationalismus entspricht eher einem synchron ausgerichten politischen Bekenntnis. Große Verbreitung, Popularisierung und Radikalisierung erlangte die Nationalsprachenideologie durch Ernst Moritz Arndt (1769-1860). Er rief nicht nur zur nationalen Erhebung gegen Napoleon I. auf, sondern vertrat auch entschieden die Meinung, daß vor allem die Sprachgrenzen nationale und somit auch politische Trennlinien bilden sollten. In diesen Zusammenhang fügt sich Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) mit seinen 1807/08 gehaltenen Reden an die deutsche Nation. Auch für Fichte definiert sich das Volk durch die Einheit seiner Sprache. Abschließend ist noch kurz darauf hinzuweisen, daß ethnische Grenzen auch anders zustande kommen können als durch kollektive Projektionen auf ein ideologisiertes Bündel kultureller Merkmale. Wie tief verwurzelt diese Art der ethnischen Grenzziehung beim heutigen Europäer ist, zeigt sich bei der Lektüre aisl. Sagas, die eine Gesellschaft mit uns teilweise fremden Typen von Gemeinschaftsbildung literarisiert. Den meisten fallen die (gemessen an unserem literarischen 1

Dieser emanzipatorische und im Grunde genommen demokratische Leitgedanke sollte trotz seines späteren politischen MiBbrauchs nicht vergessen werden.

196 Erfahrungshorizont viel zu) langen Aufzählungen von Verwandtschaftsverhältnissen auf. Zwar sind sie oft unentbehrlich, um manche Konflikte und Rache-Konstellationen zu verstehen; sie zeigen aber auch, wie wichtig dem mittelalterlichen Publikum die Information war, über welche familiären Relationen sich die literarischen Figuren identifizieren. Wie der moderne Soldat in den Krieg für seine Nation geht, setzen die Krieger der mittelalterlichen Sagas ihr Leben für die Ehre ihres Clans aufs Spiel.

7.1.3. Inkludierende und exkludierende Kulturidentifikation durch Sprache Sprache, vor allem als kulturtragende standardisierte Literatursprache, ist ein ethnisches Merkmal, das bei der Bildung eines national(istisch)en Mythos Signifikanz erhalten und somit ideologisiert werden kann. Daß Sprache keinesfalls mit Notwendigkeit in den Mythos einer nationalen Ideologie Eingang finden muß, zeigte sich, als sich die amerikanischen Kolonien von ihren europäischen Mutterländern lösten. Wie jedem signifikanten Kulturmerkmal kommen auch der Sprache bei der kulturellen Grenzziehung zwei wichtige Funktionen zu. Sprache wirkt inkludierend, indem sie nach innen auf die Gleichartigkeit ihrer Sprecher verweist, und sie wirkt exkludierend, indem sie nach außen hin auf die Andersartigkeit anderer Sprecher aufmerksam macht. Die sprachliche Gleichartigkeit heißt aber nicht, daß eine sprachliche Homogenität gegeben ist. Manchmal reicht es, einige Isoglossen ideologisch aufzurüsten und andere aus dem kollektiven Bewußtsein zu verbannen. Wenn ein politisch kontrolliertes Gebiet eine gewisse Größe erreicht, ist die mündliche Direktkommunikation unzureichend, um eine sprachinkludierende Wirkung entfalten zu können. Damit das Gefühl sprachlicher Gemeinschaft auch großflächig entstehen kann, bedarf es Kommunikationsformen, die in Raum und Zeit eine andere Beständigkeit haben als das gesprochene Wort. Vor dem Radio und dem Fernsehen waren es Bücher, Zeitschriften, Pamphlete, Aufrufe und Flugblätter, die solche Informationsgemeinschaften konstituierten. Vor allem Zeitschriften können durch ihre flächendeckende Berichterstattung eine kollektive Gleichzeitigkeit und einen gemeinsamen Erfahrungshorizont inszenieren, der sonst bei Menschen, die weit auseinander leben oder wenig miteinander zu tun haben, nicht möglich wäre. Erst durch das gedruckte Wort konnten Nachrichten aus allen Gegenden eines Landes nicht nur gleichzeitig und von allen wahrgenommen werden; die unterschiedlichen Landesteile fanden auch ihren Platz im Bewußtsein der Lesenden und wurden zu einem festen Bestandteil ihrer Vorstellung von der Gemeinschaft (hierzu vgl. Anderson 1991: 37-47). Schnelle Vervielfältigung und Distribution sind wichtige Voraussetzungen, damit dem geschriebenen Wort ein solches gemeinschaftstiftendes Potential zukommen kann. Auch die optische Beständigkeit des Geschriebenen hat eine inkludierende Wirkung, an die die akustische Flüchtigkeit des Gesprochenen nicht heranreicht. Auf einen Tippfehler läßt sich der Finger insistierender legen als auf eine von der Standardlautung abweichende Artikulation. Gerade das gedruckte Wort ist der handgeschriebenen Schrift in einem weiteren wichtigen Punkt überlegen: Während die Handschrift mehr oder weniger individuelle Züge trägt und somit stärker personengebunden ist, verkörpert das gedruckte Schriftbild eine entpersonifizierte Anonymität. Damit suggeriert es eine Objektivität, die zur Schaffung eines Kollektivbewußtseins beiträgt.

197 7.1.4. Sprache und Nationalismus in Skandinavien Die von Herder hervorgehobene Kopplung von Muttersprache und nationaler Identität übte auf die politische und kulturelle Entwicklung in ganz Europa einen großen Einfluß aus, einschließlich Skandinavien. Der wohl bedeutendste skand. Vertreter der Nationalsprachenideologie war der Däne Chr. Molbech mit seiner Schrift Om Nationalsprogets Hellighed2 (1815). Eine politische Umsetzung erfuhr das nationalsprachliche Konzept in Svend Hersieb Grundtvigs Dansken paa Farcente. Et Sidestykke til Tysken i Slesvig3 (1845). Gleichfalls von Bedeutung sind Laurids Engelstoft (der Herder in Weimar begegnet war), Peter Erasmus Müller, H. N. Clausen, Nikolai Frederik Severin Grundtvig. Sie legten die geistigen Grundlagen für die sprachnationalen Bewegungen, die von Dänemark aus zur Entstehung der fär., der isl. und der beiden norw. Standardsprachen führen sollten. Die Befreiung Deutschlands von einer äußeren frz. Herrschaft wie auch von der eigenen französisierten Kulturelite ließ sich nämlich leicht auf den dän. Einfluß auf den Färöern, in Island und in Norwegen übertragen. Hier sind der fär. Pfarrer Vencelaus Ulricus Hammershaimb (1819-1909), der isl. Politiker Jón Sigurösson (1811-1879) und der norw. Pfarrer Christopher Bruun (1839-1920; Folkelige Grundtanker 1878) zu nennen. Explizite Untersuchungen zur Bedeutung von politischen und kulturellen Ideologien bei der (Schrift-)Sprachenlegitimation in Skandinavien finden sich bei Gundersen 1977; 1983; Blume 1978; Grünbaum 1978; Vannebo 1979; Moide 1980; Hanto 1986; Karker/Teleman 1986; Teleman 1993; Tägil 1995; Venàs 1995; Teleman/Westman 1997. Von diesem Problemkreis werden letztlich auch Fragestellungen der Sprachplanung und -pflege berührt (vgl. u.a. Haugen 1966a-b; Moide 1978; Pétursson 1980). Orthographisch äußert sich der Nationalismus als Gegenbewegung zur zwischensprachlichen Wortüberdachung. Vor allem die festlandskand. Schriftbilder sind sich wesentlich unähnlicher, als sie es vom Sprachsystem her sein müßten (man vgl. dän. kende, norw. kjenne, schwed. känna hier wäre eine gemeinsame Schreibung des Stammes als kenn- durchaus möglich). Für die Entstehung des Bokm. aus dem Dän. waren entsprechende Bestrebungen sogar von existentieller Bedeutung. Als Gegengewicht zu diesem Ruf nach nationaler Eigenart steht der Pan-Skandinavismus, der die Gemeinsamkeiten des skand. Raumes hervorhebt. Realpolitisch geht dieses ideologische Spannungsfeld zwischen partikularisierendem Nationalismus und integrierendem PanSkandinavismus auf die Kalmarer Union von 1397 zurück, deren allmähliche Auflösung engstens mit der Entstehung der nord. Standardsprachen zusammenhängt. Zunächst schied Schweden 1523 aus der Union aus. 1814 wurde Norwegen nach den Napoleonischen Kriegen von Dänemark getrennt, um unmittelbar darauf eine Personalunion mit Schweden einzugehen, die bis 1905 währte. Auch Island erweiterte schrittweise seine Autonomie: 1843 wurde das Alping als beratende Versammlung wiedereingesetzt, 1875 erhielt es Gesetzgebungskompetenz - nicht von ungefähr genau 1000 Jahre nach dem (offiziellen) Anfang der Besiedlung. 1918 wurde Island als selbständiger Staat anerkannt (jedoch in Personalunion mit Dänemark). Und als Dänemark im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzt war, wurde nach einer Volksabstimmung 1944 die isl. 2 3

Dt.: Über die Heiligkeit der Nationalsprache. Dt.: Das Dänisch auf den Färöern. Das Gegenstück zum Deutschen in Schleswig.

198 Republik ausgerufen. Auch die Färöer genießen seit 1948 weitgehende Selbstverwaltung mit eigenem Parlament (die Autonomie zeigt sich unter anderem darin, daß die Färöer im Gegensatz zu Dänemark kein EU-Mitglied sind). Während in Deutschland unter Preußens Hegemonie eine politische und auch standardsprachliche Vereinheitlichung erfolgte, führte die politische Desintegration in Skandinavien zu einer orthographischen Partikularisierung; eine Tendenz, die sich in Norwegen mit seinen zwei Standardsprachen geradezu überschlägt. Entsprechend verficht Ivar Aasen, der Schöpfer des Landsmäl/Nynorsk, in den Vorworten zu seinen Wörterbüchern und Grammatiken eine sprachliche Absonderung, die weit über rein linguistische Stellungnahmen zur Orthographie und Standardsprachlichkeit hinausgeht (vgl. Aasen 1848; 1886; 1850; 1873). Auch im Falle der Färöer zeigt sich deutlich, daß die Entstehung einer nationalen Standardsprache und die Herausbildung nationaler Identität als zwei einander bedingende und positiv verstärkende Prozesse zu betrachten sind. Anfang des 19. Jh. konkretisierte sich die historische Komponente des in Skandinavien aufkommenden Nationalismus als ein Rückgriff auf die Kulturblüte des Mittelalters und vor allem auf die "glorreiche" Wikingerzeit (fast jede skand. Nationalbewegung hat dieses gemeinsame Erbe für sich beansprucht). Bei den Schriftsprachen zeigt sich das deutlich im etymologischen Schriftprinzip.

7.2. Schwedisch skära und seine Entsprechungen in den anderen nordischen Sprachen

"Det sprâk, som man kallar Svenska, är en idé. Det finnes allenast i böcker och i grammatiskt bildade personers skrifter: sâsom verkligt lefvande sprâk (i tal) gives det deremot icke, om ej i nâgon persons mun, som tillgjordt söker likna skrif-sprâket, riksidiomet, det allmänna."4 (Almqvist 3 1840: 237) Während dän. skcere 'schneiden' mit geschrieben wird, weist das schwed. Äquivalent skära das jüngere Graphem auf. Die graphischen, phonologischen und morphologischen Konsequenzen dieses dän./schwed. Unterschiedes wurden bereits in den Kap. 3.1, 4.1 und 5.2 behandelt. Im mittelalterlichen Schweden wurden wie im restlichen Skandinavien das Ligatur- und das durchgestrichene verwendet. Ende des 15. Jh. traten jedoch typisch schwed. Drucktypen an 4

Dt.: Die Sprache, die man Schwedisch nennt, ist eine Idee. Es gibt sie ausschließlich in Büchern und in den Schriften grammatisch gebildeter Personen: als eine wirklich lebende Sprache (im Mündlichen) gibt es sie hingegen nicht, allenfalls in jemandes Mund, der die Schriftsprache, das allgemeine Reichsidiom, gekünstelt nachzuahmen versucht.

199 die Stelle dieser Graphformen: In Äff dyäfwlsens frästilse (1495) 5 , dem ersten Buch, das in schwed. Sprache gedruckt wurde (1495), kamen (a ) und (o ) erstmals als neue "Umlaut"Allographe vor. Diese Varianten setzten sich allgemein nicht durch. Die endgültige Abkehr von (ae) und (0) fand im Druck 1526 statt, als der Buchdrucker Jörgen Richolff die Schriftzeichen und nach dt. Vorbild in die Königliche Buchdruckerei einführte. Zusätzlich wurde das Graphem statt in die Drucksprache eingeführt (vgl. Kap. 3.2, 3.4 und 5.4.3). Im folgenden sollen mögliche Ursachen für den schwed. Wechsel von den Allographen (ae, 0, aa) zu (a, o, â) diskutiert werden. Dabei ist die Jahreszahl 1526 aus politischen Gründen entscheidend. Mit der Bildung der Kalmarer Union 1397 war eine gesamtskand. Gegenmacht zur mächtigen Hanse entstanden. Bereits ab Mitte des 15. Jh. wies die Hanse aber nicht mehr die gleiche wirtschaftliche Stärke auf wie noch im 14. Jh. Die machtpolitische Konsequenz war, daß die skand. Union für Schweden an Bedeutung verlor. Infolgedessen kam es zu Spannungen innerhalb der Union, wobei vor allem Schweden begann, eine unionsfeindliche Politik zu betreiben. Dennoch gelang es.dem dän. König Christian Π., Schweden 1520 zu unterwerfen. Im Zusammenhang mit seiner Krönung zum schwed. König ließ er die adligen Anführer des antidän. Widerstandes in Schweden hinrichten. Einige, darunter der Edelmann Gustav Eriksson Vasa (1496-1560), konnten jedoch entkommen. Ihm gelang es wenige Jahre später, mit Hilfe der Hansestadt Lübeck die dän. Vormachtstellung zu beenden. Seine Wahl zum König in Strängnäs 1523 markiert das Ende der mittelalterlichen Union mit Dänemark. In dem neuen autonomen Staat wurde nicht nur der antidän. Chauvinismus geschürt, es entwickelte sich auch ein nationaler Mythos über die Umstände, die zur Abkoppelung von Dänemark geführt hatten. (Unter anderem wird Gustav Vasas eigener "Freiheitskampf' von seinem Geschichtsschreiber Peder Svart in dramatischer Form ideologisiert, so daß die schriftliche Überlieferung als historische Quelle nur bedingt zuverlässig ist.) Dieser Mythos vermochte alle Sozialschichten zu verbinden und trug zu einer inneren Verfestigung der neuen politischen Verhältnisse bei. Der neue schwed. Staat stand von nun an mit seiner nationalen, landessprachlichen, protestantischen Staatskirche in einem schroffen Gegensatz zur mittelalterlichen Konzeption eines gesamtskandinavischen Königreichs unter der Schirmherrschaft einer universalen, lateinsprachigen, katholischen Kirche. Dieser Bruch mit dem alten politischen und religiösen Selbstverständnis hat die weitere gesellschaftliche Entwicklung Schwedens bis heute stark geprägt. So erschien 1526, d.h. nur drei Jahre nach Gustav Vasas Krönung, eine schwed. Übersetzung des Neuen Testaments; 1540/41 lag die ganze Bibel in schwed. Sprache vor (vgl. Lindqvist 1918; 1928; Sjögren 1949; Wessén 1968: 117-123; Stähle 1970a; Wollin 1991). Die Bibelübersetzung bedeutete nicht nur die schriftliche Fixierung einer Standardsprache; mit der Autorität der biblischen Verkündigung wurde sie auch flächendeckend im neuen souveränen Staat verbreitet. Die Bibelsprache sollte die Entstehung der schwed. Standardsprache entscheidend mitprägen. In Flexion und Syntax ist die Bibelsprache von 1540/41 eher altertümlich. Man griff auf ältere Wortformen zurück, die durch religiöse Texte aus dem Mittelalter bekannt waren (zur Restitution der Nominalendungen -er/-or vgl. Kap. 4.5.3.1). Dadurch wurde eine als würdig und feierlich 5

Dt.: Von des Teufels Versuchung.

200 empfundene Sprache geschaffen. Die Einführung der neuen Grapheme ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Durch sie ergab sich ein aus Altem und Neuem gemischtes Schriftbild. Diese sprachliche Heterogenität bedarf einer Erklärung, wobei vor allem zu bedenken ist, daß eine schwed. Bibel Anfang des 16. Jh. keineswegs selbstverständlich war. Bis zur Herausgabe der schwed. Übersetzung des Neuen Testaments 1526 wurde zwei Jahre lang die dän. Übersetzung von 1524 verwendet. Unter Hinweis auf die Ähnlichkeiten beider Sprachen hielten viele diese Lösung für problemlos. Linguistisch gesehen ist eine solche Position auch gar nicht so abwegig, wie man vor dem Hintergrund der heutigen Sprachen zunächst meinen könnte. Der schwed. Schreibgebrauch unterschied sich vom dänischen weitaus weniger im Spätmittelalter als heute (im Gesprochenen bestanden jedoch bereits im 16. Jh. einige größere Unterschiede). Die dän. Schrift des 16. Jh. hätte durchaus eine brauchbare Grundlage für eine sprachenüberdachende schwed./dän. Orthographie geboten - allerdings mit für das Schwed. ahistorischen Zügen; so hätte man (wegen der dän. Plosivschwächung) unter anderem wortinitial mit [d], postvokalisch aber mit [t] verbinden müssen; vgl. dän. dag, gade mit aschwed. dagher, gata 'Tag, Straße'. Die Schreibung hätte man für [δ > d] beibehalten müssen, um eine ambige GPK zu vermeiden. Eine solche ahistorische Ausspracheregelung muß aber im 16. Jh. nicht notwendigerweise als ein schwerwiegender Nachteil empfunden worden sein. Hinzu kommt, daß eine Plosivschwächung bei Wörtern wie frühneuschwed. udi, udöffuer 'draußen, darüber hinaus' (< aschwed. üt- ) nicht unbedingt auf dän. Einfluß zurückgeht; hier steht nämlich ud- in schwachtoniger Satzposition (vgl. Svensson 1981: 127f.). An dieser Stelle ist ein Vergleich mit Norwegen aufschlußreich. Hätte sich Schweden erst im 19. Jh. aus der Union mit Dänmark gelöst, wäre ein svezisiertes Dän. - ähnlich dem norw. Riksmâl - womöglich ein denkbarer Kandidat für eine Nationalsprache gewesen, vielleicht sogar mit einer schriftinduzierten Plosivschwächung. Das Bedürfnis nach einer schwed. Bibelübersetzung war nicht ausschließlich sprachlicher Natur. Mit der Verbreitung einer schwed. Bibelübersetzung wurden vor allem politische Ziele verfolgt. In sämtlichen Gemeinden sowie im Bildungswesen und allmählich auch in der Verwaltung wurde die Sprache der neuen Bibel verwendet. Die Bibelsprache war mit ihrer Syntax und Morphologie zwar altertümlich und feierlich, aber auch un-, wenn nicht sogar antidän., was die sorgfältige Vermeidung vieler Danizismen bestätigt (vgl. Lindqvist 1928: 226f.). In dieses Bild paßt die Einführung der neuen Schriftzeichen : Die Mischung aus Altem und Neuem verlieh dem Schriftbild der Bibel nicht nur ein unverwechselbar schwed., sondern auch ein undän. Gepräge (vgl. Vik0r 1995:49). Dadurch entstand eine Orthographie, die für die Leser und Schreiber mit eindeutig schwed. Konnotationen gekoppelt war. So erhielt der dän./schwed. Sprachunterschied eine politische Signifikanz: Er wurde hervorgehoben und über das innersprachlich Nötige hinaus am Schriftbild verstärkt, (vgl. Karker 1983: 285; Torp/Vik0r 1993: 137; Westman 1995: 34f.). Die so ermöglichte Abhebung der schwed. Bibelsprache von der dän. verstärkte das Zugehörigkeitsgefühl zur schwed. Landeskirche und zu dem schwed. Staat und schuf die Grundlage für eine spezifisch schwed. Literatur-, Lese- und Schreibgemeinschaft (vgl. Haugen 1984: 416). Und umgekehrt trat die Fremdartigkeit des dän. Schriftbilds um so deutlicher zutage. Insgesamt lieferte die Bibelsprache einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines kulturgeschichtlichen Klimas, das später im Nationalismus des 19. Jh. dann seine Bestätigung fand.

201 Völlige Klarheit darüber, wer im einzelnen an der Übersetzung beteiligt war, herrscht zwar nicht, doch gilt als sicher, daß unter anderem Gustav Vasas Kanzler Laurentius Andrae sowie Olaus Petri, der von Gustav Vasa zum Prediger in der bedeutenden Storkyrkan ("Große Kirche") ernannt wurde, die Übersetzung des Neuen Testaments 1526 leiteten. Olaus Petris sonstige Reformationsschriften zeichnen sich nicht nur durch eine antikatholische Haltung aus, sondern förderten auch das neue nationale Bewußtsein gegen die mittelalterliche Tradition. Die Verquickung von Kirche und Bibelübersetzung mit der Politik zeigte sich ebenso auf dem Reichstag 1527 in Västeräs, als sich Gustav Vasa zum faktischen Herrscher der protestantischen Staatskirche machte. Die ganze Bibel (1540/41) wurde unter Leitung des Erzbischofs Laurentius Petri übersetzt, der die Reformierung der alten Kirche ganz nach Wunsch seines Königs steuerte. Sein Bruder Olaus - bereits mit Übersetzungserfahrung - war sicherlich gleichfalls an der Arbeit beteiligt. Die kirchenpolitischen Positionen der Bibelübersetzer bestätigt die Annahme, daß der Wahl von gegen die spätmittelalterliche Tradition mit < a e , 0, aa> eine staatsideologische Funktion zukommt. Die schriftbildliche Abgrenzung vom Dän. setzte sich im 17. Jh. fort. Bis dahin hatte man - wie auch im Dän. - die Infinitivendung häufig mit (< aschwed. -α) geschrieben; vgl. z.B. frühneuschwed./dän. 'schreiben'. In einigen Mundartgebieten findet sich auch eine entsprechende Aussprache mit [-e] oder gar [-a] (Wessén 1948: Karte 5; Svensson 1981: 92-96). Die Frage, ob diese Aussprache auf dän. oder nd. Einfluß zurückging oder eventuell Ausdruck einer allgemein ostnord. Entwicklung war, wurde im 17. Jh. kaum gestellt. Allein die synchrone Ähnlichkeit mit dem Dän. reichte aus, um in einen dän. Zug der schwed. Sprache zu sehen. Gemäß dem Bestreben nach einem undän. Schriftbild wurde Anfang des 17. Jh. in der Kanzleisprahe eine "Reform" beschlossen, die eine graphemische Restitution der älteren - und als undän. empfundenen - Infinitivendung vorsah (vgl. Svensson 1981; Santesson 1986: 186-225; Vik0r 1995: 49; Westman 1995: 35; Pettersson 1996: 143). Das Ergebnis dieses politisch/sprachpflegerisch motivierten Eingriffs in die Schreibung kommt im heutigen Standardschwed. nicht nur in der Schreibung zum Ausdruck (z.B. ), es hat auch die Entwicklung der Standardlautung entgegen der mundartlichen Tendenz gelenkt: Infinitivendung [-a] statt [-e/a]. Wird sie dennoch als [-e/a] gesprochen, gilt das heutzutage uneingeschränkt als mundartlich. Selbstverständlich wurden die politischen und kulturellen Partikularisierungsbestrebungen im 16. Jh. noch nicht in dem Maß vom sprachlichen Nationalismus beherrscht wie im 19. und 20. Jh. Es wirkten eher pragmatische und staatspatriotische Vorstellungen von administrativer Konsolidierung gegenüber Dänemark, als daß Wahrnehmung und Weltbild - wie in der nationalistischen Sprachideologie - eine muttersprachliche Bedingtheit zugesprochen wurden. Ein ähnliches, pragmatisches Verständnis von einheitlicher Staatssprache herrschte in den ostdän. Provinzen Schonen, Blekinge und Hailand vor, nachdem Schweden sie 1658 endgültig erobert hatte (vgl. Kap. 6.2.1 und Ohlsson 1978/79). Auch hier ging es weniger darum, eine nationalistische Sprachideologie zu verbreiten, als vielmehr die neue Bevölkerung in den schwed. Staat politisch einzubinden - was selbstverständlich mit einer Abgrenzung gegenüber Dänemark einherging. Das belegt ein Vergleich mit den Verhältnissen in Nordschweden. Bei den finnischen und samischen Bevölkerungsgruppen, die auch im damaligen schwed. Reich lebten, unterblieb zunächst jeglich sprachliche Svezisierung. Statt dessen lernten christliche Missionare im 16. und

202 17. Jh. Samisch, um ihre Botschaft verbreiten zu können. Dem schwed. Staat - repräsentiert durch die Missionare der Staatskriche - erschien eine sprachliche Einbindung nicht erforderlich. Auch gab es keinen konkurrierenden Staat mit Finnisch oder Samisch als Staatssprache. Ab dem 19. Jh. gestaltete sich die sprachpolitische Situation vor allem auf Kosten der samischen Sprachkultur leider anders.

7.3. Die Abspaltung des norwegischen Riksmâl/Bokmâl vom Dänischen

"... der findes en hemmelighedsfuld Sammenhaeng mellem et Folks Tungemaal og dets dybeste Liv. Og derfor er det ogsaa saa, at Sproget afspeiler Folkets inderste og fineste Eiendommelighed."6 (Bruun 1878: 305f., zit. nach Nymes 1985: 54)

7.3.1. Entwicklungen vor 1917 Die Entstehung des Bokm ist ein langer Prozeß, der 1814 mit Norwegens Austritt aus der Union mit Dänemark einsetzte. Obwohl Norwegen dadurch keine staatliche Souveränität erhielt, sondern in eine neue Union mit Schweden (bis 1905) wechselte, erlangte das Land - auch in sprachpolitischer Hinsicht - eine vollständige innere Autonomie. Zu dieser Zeit machte sich die Nationalromantik auch in Norwegen allmählich bemerkbar. Ihr wichtigster Vertreter war Henrik Wergeland (1808-45). Als Dichter vermißte Wergeland eine typisch norw. Schriftsprache, die norw. Dichtung verkörpern konnte. Im Gegensatz zu Aasen und vielen Landsmâl-Anhängern gehörte er einer Kulturelite an, die sich an Dänemark und vor allem an Kopenhagen orientierte. Aus Wergelands Sicht sollte eine norw. Nationalsprache auf der Basis des ursprünglich dän. Riksmâl geschaffen werden. Entsprechend sind seine Texte in dano-norw. Orthographie verfaßt. Sie enthalten aber viele spezifisch norw. Wörter wie Gut, Gjente und auch wiederbelebte anorw. Wörter wie Frcende 'Verwandter' (Orthographie nach Wergeland). Ebenso trugen die norw. Dichter Bj0mstjerne Bj0msen (1832-1910) und Henrik Ibsen (1828-1906) mit ihren Werken und ihrem Engagement zu einer Norvagisierung des Riksmâl bei. Allerdings ging es ihnen eher um Wortwahl, Syntax und Stilistik als um das orthographische System selbst. Die orthographischen Probleme bei der Norvagisierung des Riksmâl griff vor allem Knud Knudsen (1812-95) auf, der zu diesem Thema mehrere wichtige Arbeiten verfaßte (vgl. die Zusammenfassungen bei Jahr 1989: 30 und Torp/Vik0r 1993: 185). Allerdings vertrat Knudsen 6

Dt.: ... es gibt einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen der Sprache eines Volks und dessen Seelenleben. Und deshalb verhält es sich so, daß die Sprache die innerste und feinste Eigentümlichkeit des Volkes widerspiegelt.

203 eine norw. Standardlautung, die dem Dän. wesentlich näher stand als das, was sich zur heutigen Bokmäl-Aussprache entwickelt hat. Sprachpolitisch bedeutsam war für die weitere Entwicklung des norw. Riksmál eine kleine, oft übersehene Reform: 1862 wurden Fremdwortschreibungen mit zu regularisiert7 (vgl. die Wortliste in Sand0y 1997: 28f.). Bei dieser Reform war von entscheidender Bedeutung, daß sie in Oslo und eben nicht in Kopenhagen oder Stockholm beschlossen wurde. Mit ihr manifestierte sich erstmals die sprachpolitische Autonomie Norwegens. Reformen, die die Orthographie und auch die geschriebene Grammatik durchgreifender veränderten, fanden erst nach der Unionsauflösung 1905 statt (1907, 1910, 1917, 1938, 1959, 1981). Vor allem mit der Reform von 1907 kam es zum entscheidenden Bruch mit dem dän. Schriftbild. Allerdings löste sich die dän./norw. Wortüberdachung bereits 1889 in einem Bereich systematisch auf. Die dän. Verbindungen wurden vor durch ersetzt, während es im norw. Riksmál bei der alten Schreibung blieb. Die ehemals innerstaatliche dän./norw. Mundartgruppengrenze erwies sich für Veränderungen der dän. Hochsprache als nicht mehr durchlässig. Dieser erste größere Unterschied zwischen dem norw. und dem dän. Schriftbild erfolgte somit durch eine dän. Reform. Allerdings dürfte es eine bewußte Entscheidung Norwegens gewesen sein, nicht mitzuziehen. Das ist auch in bokm. vor redundant, so daß es kein Problem gewesen wäre, die norw. Orthographie entsprechend der dän. Reform von 1889 zu verändern. Wie im Schwed. wäre bokm. =[j, ç, J] auch vor durchaus möglich (wie das auch vor bokm. bereits der Fall ist). Durch die Beibehaltung des entstand gegenüber dem Dän. ein erster deutlicher Orthographieunterschied, der mit der nationalen Grenze zusammenfiel (vgl. Abb. 6/11 und 6/12) Im folgenden wird ein weiterer Fall vorgestellt, bei dem aber die schriftbildliche Absetzung des Riksmâl/Bokmâl vom Dän. auf einer norw. Initiative beruht.

7.3.2. Die Distribution von und im heutigen Bokmâl Eine selten erwähnte orthographische Neuerung, die mit der Reform von 1917 beschlossen wurde, war die Schreibung von , wo das Riksmál entsprechend seinem dän. Ursprung ein hatte (vgl. Hellevik 1970: 54f.). Folgende Tabelle faßt die Situation bei und im heutigen Bokm. zusammen:

7

Außerdem sah die Refom vor, daß und geminiertc Vokal grapheme als Längczcichcn sowie stummes getilgt wurden; d.h. - » ( steht bis 1907/1938 für [oi]).

204 morpho-graphemischer

morpho-graphemischer

Wechsel mit

Wechsel mit

vor

[«]

sonstiges

sonstiges

vor

sonstiges

fedre/fa(de)r

heve/häv

mer

lese

steder/stad

len/län

sonstiges

vor

fet rev

tre/trä(kk) veve/väd stjele/stjâlet gjeme

[w]

ferd vern er hender/händ gjess/gäs

lengre/lang sprette/spratt

[e]

mesî feste

blest/bläse

[»]

erme/arm

verre

+++

¡erke

verpe/varp

merke [ei]

sœl/salig

vcepne/vâpen

kvœve/kvav

vœte/vàt

heel

mœle/mâl

svœve

trœl

lœte/làte

[«]

beere/bar

===

bœre/bâret

= = =

meele beer

= = =

hœr [e]



+++



sœlde/sâld



ceiling vceske

[β]

+++



feerre/ß



feersk neerme



Der Tabelle sind einige phonemische Regularitäten zu entnehmen: (i) Da [ae] nur vor [r]+AT steht, [e] hingegen nie, sind diese Phone komplementär distribuiert (ii)

und dem gleichen Phonem zuzuordnen (vgl. die gestrichelte Linie: —). Wie cbaer - ber>=["baeir - 'ben-] 'Beere - bete-, Präs.Ind.' zeigt, sind [ae:] und [ei] zwei verschiedenen Phonemen zuzuordnen. Diese Opposition besteht nur vor [r].

Demnach besteht ein phonologisch motiviertes Bedürfiiis nach dem Graphem nur bei phonetischer Länge vor . Diese Fälle werden in der Tabelle mit einem fettgedruckten Rahmen angezeigt. Die Schreibung bildet indes diese Lautstruktur nicht ab. Statt dessen gelten folgende Regeln:

205 (iii) wird nur vor als [ae:] gesprochen. (iv) [e:] vor [r] wird immer geschrieben. (v) Bei der Schreibung mit sind [ei] und [ae:] komplementär distribuiert; wird nur vor als [sei] gesprochen (vgl. = und ). Auch hinsichtlich der grapho-morphologischen Ikonizität ergeben sich einige Regularitäten: (vi) Die Möglichkeit zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad wird nur bei =[œ: - a^o:] und =[ae - ΟΣ] konsequent ausgenutzt (vgl. ===== bzw. +++). (vii) Die Korrespondenz =[e:r, x¡r] steht in keinem morpho-graphemischen Verhältnis zu (vgl. ===). (viii) Die Korrespondenz =[x] steht in keinem morpho-graphemischen Verhältnis zu (vgl. (ix) Die Möglichkeit zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad wird bei =[e/ae - a] konsequent vermieden (vgl. +++). Wie œtling und sœlde/sâld zeigen, ist diese Schreibung unter phonotaktischen Gesichtspunkten nicht zwingend. Nach Torp/Vik0r (1993: 243) wird nur vor oder in Umlautformen, die morpho-graphemisch mit wechseln, verwendet. Daß diese Bedingung weder ein notwendiges noch hinreichendes Kriterium darstellt, belegen Beispiele wie kvœveAvav, œtling, hender/händ. Die Regeln (iii)-(ix) decken nicht alle Fälle der Tabelle ab. Es ist auch mit folgenden Irregularitäten zu rechnen: (x) Vor wird bei phonetischer Länge durch Ususregulierung entweder [ei] oder [»:] gesprochen. (xi) Auch wenn [e], [ae] und [ae:] in keinem morpho-phonemischen Verhältnis zu [a, aj, o, o:] stehen, werden sie ususreguliert entweder mit und mit geschrieben. (xii) Die Möglichkeit zu einem hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad wird mit Ausnahme der Fälle in (vi) nicht konsequent genutzt; vgl. scel/salig mit steder/stad, vœte/vât mit heve/hâv und sœlde/sâld mit hender/händ. Die heutige bokm. Orthographie ist keineswegs "organisch" (oder modern gesprochen: durch das Wirken einer "unsichtbaren Hand"8) entstanden. Sie ist das Ergebnis einer Reihe bewußt durchgeführter Reformen, die ein ursprünglich dän. Schriftbild abgewandelt haben. Dabei gab es genug Gelegenheit, das bokm. Schriftbild systematisch zu gestalten. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, daß und weder für eine konsequent phonemische Schreibung noch für eine konsequente Maximierung der grapho-morphologischen Ikonizität eingesetzt werden. Einige der heutigen Irregularitäten gab es bereits im dän. Rigsmâl, während andere wegen der lautlichen Besonderheiten des Norw. entstehen konnten. Schließlich wurden viele im Dän. bereits vorhandene Regularitäten weder phonemisch noch morphologisch begründbar abgebaut.

8

Vgl. Keller 1994.

206 7.3.3. Umbau der ursprünglich dänischen Distribution von und Im folgenden werden einige Beispiele angeführt, die die relativ stabilen dän. Orthographieverhältnisse mit dem Wandel imBokm. kontrastieren. Während die graphemische Opposition im Dän. bei langem Vokal phonologisch durch /ε: - ei/ motiviert ist, führt eine Beibehaltung von im Bokm. meistens zu einer graphotaktisch nicht disambiguierbaren l-»2Korrespondenz [ei]-»{, }. Diese Ambivalenz wurde nur teilweise behoben, so daß für jedes Wort einzeln gelernt werden muß, ob [ei] mit oder zu schreiben ist: dän. bokm. ['deils] 'teilen' ['leisa] 'lesen' ['he(:)'l] 'Ferse'

[ v deila] [ v le:sa] ['heil]

(dän. erhalten) (dän. durch ersetzt) (dän. erhalten)

Vor [r(:)] ergaben sich bei der Adaption des dän. Schriftbilds besondere Komplikationen, da bokm. [e:] und [ae:] in dieser Position minimal ausdrucksunterscheidend sind (vgl. (ii) oben). Entgegen dieser Tatsache werden diese Phone nicht konsequent durch bzw. abgebildet. So wurde die dän. Schreibung cvaere - er> für die bokm. Aussprache [Vvae:ro - 'aerr] beibehalten. Hier wird also [aei] mit bzw. abgebildet. Bokm. =[ae¡] ist aber keine singuläre Korrespondenz. Folgende Beispiele zeigen, daß diese Abweichung von einer phonemisch basierten Schreibung sogar systematisch herbeigeführt worden ist: dän. bokm. veern fcerd gterde gerne her perle derfra





['vaeajJ ["faesr] ['jaeara] ["jaeiqa] ['haeir] ["paeija] ['daea--]

'Wehr' 'Reise' 'Zaun' 'gern' 'hier' 'Perle' 'davon'

Bei phonetischer Länge wird vor in den meisten Fällen [ae:] gesprochen. Fast nur dann, wenn nicht zum Wortstamm gehört, sondern eine Präs.Ind.-Endung abbildet, wird vor mit [e:] verbunden: ['Jea-] 'passier-, Präs.Ind.' ["bea·] 'bete-, Präs.Ind.'

['tei] 'schein-, Präs.Ind.' Streng genommen könnte auf das Graphem gänzlich verzichtet werden. Bei einer durchgehenden Schreibung mit wäre die Aussprache je nach graphotaktischem und grammatischem Kontext immer eindeutig ableitbar. Lediglich ganz wenige Beispiele wie etwa =['mea'/vmea-3, "flea's] 'mehr, mehr' fügen sich in dieses Muster nicht ein. Bei phonetischer Kürze kennt auch das Dän. mit /e/-»{, } eine ususregulierte PGK. Diese hat sich im Bokm. erhalten, da nur teilweise zugunsten von reformiert wurde:

207 dän. ['mela] 'melden [Îesda] 'Halt/Griff ['vesiia] 'Flüssigkeit'

bokm. ["mei»] ["festa] ["ves£|a]

(dän. erhalten) (dän. durch ersetzt) (dän. erhalten)

Eine Zunahme an homophonen Homographien hat das Bokm. nicht von der Zuordungen =[e, e:] abgehalten. Dabei war die ursprünglich heterographe Schreibung im Dän. nur teilweise phonemisch motiviert: bokm. dän.

['fei-'fe:] 'Fee - Vieh' fe-fce ["festa - "festa] 'ein Fest feiern - Halt/Griff feste - faste

['le: - 'lei] 'lächeln - Windschatten' le - Ice

['reiv - 're:v] 'Riff - Fuchs' rev - rœv ['s^reiv - 'sôreiv] 'schrieb - Schritt (anat.)' skrev - skrav

['trei - 'tre:] 'drei - Baum' tre - tree In anderen Fällen hat man indes die Priorität zugunsten einer heterographen Schreibung homophoner Wörter gesetzt - zum Teil entgegen dem dän. Ursprung: bokm. dän. ["me:la- "meda] 'mit Mehl bestäuben - sprechen' mele - mcele

['he:l - 'hed ('heil)] 'ganz - Ferse' hei - hœl

['se:d - 'se:d] 'Sitte - Samen' sœd - sad

['sed - 'seil] 'Robbe - selig' Sgl - frühndän. sal ["sverva - "sverva] 'schweben - in Schlaf bringen' svgye - 0

["veía - "verta] 'Holzstoß für Feuerzeichen - nässen' 0 (vgl. ved) - vade evaert - vert> ['vaef - 'vaef] 'gewesen - Wirt' vœret - vgrt Die irreguläre Einführung des hat sehr oft zu einer Senkung des Ikonizitätsgrades geführt (vgl. Kap. 5.4.4 und die Tabelle oben): bokm.

['feur-"fe:dra] 'Vater - Väter'

['han: - 'heniar] 'Hand - Hände' ['laq:- 'leqra/'leqst] 'lang - länger/am längsten'

['sta:d-"sde:dar] 'Stadt - Städte'

["sdjeda -'sdjail] 'stehlen - stahl'

grapho-morphologischen dän. fa(de)r -fœdre händ - hander lang - langere/lcengst stad-stader stjale-stjal

In anderen Fällen - vor allem dann, wenn es kein dän. Vorbild gab - bevorzugte man gelegentlich eine Schreibung mit und somit einen entsprechend höheren grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad: bokm. ["lerta - "lorta] 'Stimme - Laut von sich geben' ["seka - 'sol:] 'sieben - Sieb'

208 Die orthographischen Reformen im Bereich von bokm. lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (a) Die Distribution von dän. war im norw. Riksmâl bei Kurzvokalen ususreguliert, was nur teilweise zugunsten einer Regularisierung mit abgebaut wurde. (b) Die Reformen zielten ebensowenig darauf, anhand von die phonemische Opposition /ei - x'J konsequent abzubilden. Auch wurde keine phonetische Schreibung wie etwa =[e:, e - εκ, ae] angestrebt. (c) Dän. wurde oft auf Kosten der grapho-morphologischen Ikonizität durch ersetzt. (d) Wo die Beibehaltung der ursprünglich dän. Opposition eine Heterographie homophoner Wörter bewirkt hätte, wurde inkonsequent zugunsten einer Schreibung mit reformiert. Im Bereich von hat sich die bokm. Orthographie von ihrem dän. Ursprung insofern distanziert, als vielfach durch ersetzt wurde, allerdings nur teilweise und unsystematisch. Deshalb ist die heutige Distribution von und weder phonemisch noch morphologisch konsequent. Bei einer sonst sehr flach verschrifteten Sprache wie dem Bokm. verwundert eine solche Inkonsequenz, zumal es an Reformgelegenheiten nicht gefehlt hat. Die Abwesenheit von orthographischer Regularität bei macht sich auch konkret in Form von Fehlschreibungen bemerkbar: Im Bereich der bokm. Vokalgrapheme liegt nach Wiggen (1982: 44, 98) die Verwechslung von und an der Spitze. Das ist bemerkenswert, da norw. Alleingänge gegen gemeinnord. Schriftbilder oft sozial-pädagogisch rechtfertigt werden (so z.B. Hellevik 1970: 50).

7.3.4. Zum Vergleich: Die Entstehung von /e/-»{ [ε] vs. e > [e]). 10 Ab dem 15. Jh. fand auch hier das neue Graphem Verwendung; allerdings nicht, um phonemische Unterschiede zu verschriften. Der Hauptdruckvokal in nhd. besser, Geschlecht, essen wird in allen drei Fällen mit geschrieben, obwohl er mit drei verschiedenen mhd. e-Phonemen korrespondiert. Die Situation bei ist ähnlich: mhd. nhd. mhd. nhd. bez^er besser geste Gäste vgl. Gq.st geslähte Geschlecht mähtec mächtig vgl. Macht £ζζβη essen dgmerunge Däfrtmerung Das neue Graphem wurde nach einem morphologischen Kriterium eingeführt: Unabhängig vom Öffnungsgrad der kurzen e-Laute galt im wesentlichen die Regel, daß e und ä nur in den Wörtern mit geschrieben werden, die aus Wörtern mit a abgeleitet sind. Weil Gäste und mächtig auf Gast bzw. Macht zurückgehen, wurden sie mit geschrieben (obwohl die mhd. Entsprechungen gqste und mähtec zwei verschiedene Hauptdruckvokale aufweisen). Da die Ausdrucksähnlichkeit von größer ist als die von , erhöhte sich der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad. Die nhd. Schreibung von Dämmerung mit ist eine seltene Ausnahme dieses Wort ist weder diachron noch synchron mit einem Wort mit =[a(:)] verwandt. Zugunsten der morphologischen Strukturierung wurden die lautgesetzlichen Verhältnisse graphemisch verwischt. Dennoch können viele Sprecher im hd. Raum durch Bezug auf ihre eigenen Mundarten die standarddt. Schriftbilder und cmächtig, Geschlecht> lautgesetzlich "korrekt" aussprechen (d.h. zwischen /e/ und /ε/ differenzieren). Im nd. Sprachgebiet, wo die Standardlautung und somit die PGK /e/->{ mhd. helt. Nur im Mittelfränk. fielen e, e, ä zu / ε / zusammen. Im Obd. fiel der Sekundärumlaut dagegen oft mit/a/ zusammen. Eine Zusammenfassung bietet Szulc (1985: 126). Die einzige Ausnahme bilden einige westfälische Mundarten, die ein Zweiersystem haben, was aber an dieser Stelle ohne Belang ist (vgl. Niemann 1974).

210 Daß die dt. Rechtschreibtradition einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bevorzugt, zeigt sich auch in der dt. Orthographiereform von 1998. Die morphologisch bedingte Distribution von und wird hier noch konsequenter durchgeführt. So gibt man wegen die alte Schreibung zugunsten von auf (vgl. Deutsche Rechtschreibung 1996: § 13). Für eine Schreibung konnte man sich allerdings nicht entscheiden. In der heutigen dt. Orthographie wird /e/-»{, } auch häufig verwendet, um homphone Wörter heterograph zu schreiben; vgl. nhd. Esche/Äsche.

7.3.5. Warum verlief die Entwicklung im Bokmâl anders als im Deutschen und Dänischen? Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, daß die dt. und die bokm. Orthographie sehr unterschiedliche Prioritäten setzen. Genau in dem Bereich, wo das Dt. seit dem 15. Jh. einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad konsequent aufbaut, hat ihn das norw. Riksmâl/Bokmâl inkonsequent abgebaut. Mit seiner hochgradigen Morphemkonstanzschreibung und seinen häufigen Heterographien homophoner Wörter hätte das dän. Schriftbild im norw. Riksmâl vielfach beibehalten oder, wo nach dt. Vorbild reformiert werden können. Was aus der Perspektive der dt. Schriftgeschichte als ein "Geschenk" der dän. Orthographie an die Norweger erscheinen muß, wurde vor allem 1917 abgeschafft. Im Falle des Dt. wäre es heute undenkbar, eine norw. "inspirierte" Reform durchzusetzen, bei der die Schreibung beibehalten, aber zu verändert wird. Wie kam es aber dazu, daß eine orthographische Eigenschaft, die im Laufe eines halben Jahrtausends das dt. Schriftbild zunehmend geprägt hat, im Bokm. sehr inkonsequent abgebaut wurde? Gibt es einen außersprachlichen Parameter, der für das Dt. irrelevant ist, der aber im Falle des Bokm. durch einen gesenkten grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad optimiert wird (vgl. Abb. 7/1)? Welche kulturgeschichtlichen oder politischen Vorteile bringt eine Schreibreform e> dem Bokm - Vorteile von denen das Dt. unberührt bleibt? Wer einen hohen grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad für bedeutungsvoll hält, müßte hier ein relativ gewichtiges Argument für die norw. Priorität erwarten. Die Frage nach dem Sinn der Reform e> ist engstens mit der Entstehung und Verbreitung des norw. Nationalismus verbunden. Die politische Loslösung von Dänemark 1814 war keineswegs das Ergebnis eines schon damals blühenden norw. "Nationalbewußtseins" - wenngleich es rückblickend gern so gesehen wird. Die spröden Anfänge des norw. Nationalismus sind erst in der neuen machtpolitischen Situation Europas und Norwegens nach 1814 zu suchen. In den 1830er Jahren faßte die national-romantische Bewegung in Norwegen allmählich Fuß, und eigentlich erst im letzten Drittel des Jahrhunderts kann von einem sich in allen Bevölkerungsschichten voll entfaltenden Nationalismus die Rede sein. Bis in die 1880er Jahre oder sogar noch später war die Vorstellung von sprachlichem Nationalismus weitgehend unbekannt (vgl. Hobsbawm 1990: 4345; Gustafsson 1997: 211). Anders sah es in der Kulturelite aus. Sie faßte zwar das gemeine Volk und insbesondere die bäuerliche Kultur als Träger eines auf die anorw. Großmachtzeit zurückgehenden Nationalerbes auf, verstand aber anfangs nur sich selbst als rechtmäßige Vertreterin der "nationalen Sache". Die

211 "Vertretenen" selber wußten davon zunächt nichts oder konnten mit dem Selbstverständnis ihrer nationalen Führung und deren Ideologie wenig anfangen. Daß Ivar Aasen Mitte des 19. Jh. eine Grammatik und ein Wörterbuch zur norw. Volkssprache veröffentlichte (vgl. Aasen 1848; 1886; 1850; 1873), entsprach keineswegs einem bereits vorhandenen allgemeinen Nationalbewußtsein; vielmehr trug er dazu bei, daß ein solches erst entstehen konnte (vgl. Anderson 1991: 75). Vor allem die Vorworte in Aasens Werken zeigen exemplarisch, wie man dem kulturellen Merkmal "Sprache" zu einer für das Nationalbewußtsein relevanten Bedeutung verhilft. Die in Europa um sich greifende Vorstellung von Sprache als Träger der "Volksseele" und der "nationalen Identität" wurde auch in Norwegen eingesetzt, um die Bevölkerung "national zu erwecken" (vgl. Hanto 1986: 18). Die nationalromantische Ideologisierung von Sprache war die treibende Kraft bei der Entstehung nicht nur des Nyn.; sie prägte ebenso die weitere Entwicklung vom ursprünglich dän. Riksmâl. Nur so sind Reformen verständlich, die synchron innersprachlich nicht motiviert sind (wie die Etymologisierung von 1917). Mindestens ebenso wichtig war die exkludierende Funktion von Sprache als einem ideologisierten Kulturmerkmal: Dän. Züge sollten zugunsten eines unverkennbar norw. Schriftbilds reduziert werden. Eine eigenständige bokm. Orthographie sollte die neugewonnene politische Autonomie sichtbar machen. Indem die Schreibung an die bokm. Aussprache angepaßt wurde, geschah das vielfach zwangsläufig. Allerdings wurden auch Eigenschaften des ursprünlich dän. Schriftbilds geopfert, die in der dt. und schwed. Orthographiegeschichte nicht nur als erhaltungswürdig, sondern oftmals auch als erstrebenswert angesehen wurden. Die schriftbildliche "Entdansierung" ist mit anderen Worten nicht nur ein Nebenprodukt einer ohnehin innersprachlich motivierten Anpassung. Zugunsten der "Entdanisierung" wurden mit der Reform e> auch dort Irregularitäten eingeführt, wo es möglich (und aus dt. Sicht sogar wünschenswert) gewesen wäre, ursprünglich dän. Schreibungen zum Zweck eines höheren grapho-morphologischen Ikonizitätsgrades beizubehalten. Für diesen hat man sich auch bei einigen Wörtern, die im Bokm., aber nicht im Dän. vorkommen, entschieden; vgl. die Überlegungen zu lœteMte, sœlde/sàld in Kap. 7.3.2.

7.4. Isländische Sondergrapheme

"Nú er íslenzkan móflurmál vort, pjóflareinkunn vor, og er óparft afl sk^ra, hvers viröi hún er fyrir pjööina."12 (Nordal 1924: XXXI) Im Gegensatz zu Norwegen und den Färöern konnte sich auf Island die volkssprachliche Schrifttradition trotz des dän. Einflusses bis heute behaupten. Mit der Ausgabe des Neuen Testaments 1540 durch Oddur Gottskálksson und mit der Bibelübersetzung 1584 (der sog. Guöbrandsbiblia) 12

Dt.: Das Isländische ist nun einmal unsere Muttersprache, unser nationales Kennzeichen, und es ist überflüssig zu erläutern, von welchem Wert sie für das Volk/die Nation ist.

212 durch Bischof Guöbrandur Porláksson (1542-1627) setzte auf Island eine erheblich gesteigerte Produktion von vor allem Übersetzungsliteratur ein (vgl. Hermannsson 1918; Helgason 1931a; 1931b). Die Sprache dieser Texte ist nicht nur vom Dan. stark beeinflußt, sie weist auch viele nd. Züge auf. Verglichen mit dem heutigen Isl. finden sich zahlreiche Lehnwörter und -konstruktionen. Abgesehen vom

kommen keine Schrifttypen vor, die nicht für das Dan. erforderlich sind So gibt es die für das heutige Schriftbild so typischen akuten Akzente nicht (vgl. Lindblad 1952; Svensson 1974: 168). Statt der heutigen Grapheme stehen . Insgesamt erhält man für die frühe Neuzeit das Bild von einem Isl., das sich relativ weit von der mittelalterlichen Manuskripttradition entfernt hat. Vor diesem Hintergrund soll nun die Distribution von isl. und [Θ, d, ö] - auch im Vergleich mit den Verhältnissen im Dän., Fär. und Nyn. - untersucht werden (vgl. hierzu Seip 1954: 92,138f.; Bandle 1956: §§ 72-76; Svensson 1974: 169-171).

7.4.1. und [Θ, d, ö] im heutigen Isländisch Die beiden isl. Grapheme

und sind komplementär distribuiert:

tritt fast ausschließlich lexeminitial auf, während nie in dieser Position steht. 13 Laut der Graphemdefinition in Kap. 2.1 ist das aber kein hinreichendes Kriterium,

und zu Allographen des gleichen Graphems abzustufen. Die Grapheme

und sind weitgehend mit den Lautwerten [Θ] bzw. [ö] zu verbinden; vgl. isl. =['9ijö] 'ihr'. Da sich keine Wortpaare mit einer minimalen Opposition [Θ - ö] finden, sind [Θ] und [ö] dem gleichen Phonem /Θ/ = /[Θ], [ö]/ zuzuordnen. Das wird durch die große Ähnlichkeit der beiden Allophone (Unterschied nur im Stimmton) unterstrichen. Im wesentlichen besteht die komplementäre Distribution darin, daß [Θ] nur lexemanlautend und in wenigen Wörtern vor [ή] steht, während [ö] in diesen Positionen nie auftritt. Es besteht somit eine l-»2PGK/0/->{

, }. Wie folgende Beispiele zeigen, hat nicht immer den Lautwert [ö]: (i) ["bisöa] 'warten' (=[ö] in der Regel) (ii) ["i6{|a] 'betreiben' (=[θ] vor ) (iii) ['ha(r)dna] 'hart werden' (=[d] ist nicht-stumm, aber tilgbar in ) (iv) fbraxs] 'Kniffs' ( ist stumm und tilgbar in ) Nordisl. =[1ö{|ha] zeigt, daß in einem regional begrentzen Gebiet auch vor mit [ö] verbunden wird. Damit ist aber keine Mundartenüberdachung in dem Sinne gegeben, daß im Nordisl. die Teilregel "->{[θ] vor }" entfällt. In Kap. 6.3.2 wurde der Grund hierfür erwähnt: Die puristische Sprachplanung auf Island lehnt diese Verwendung der Orthographie ab. Das isl. Schriftbild soll lediglich ein Abbild der südisl. Standardlautung sein, die die Regel "->{[0] vor }" vorsieht. Auch durch ersetzt wird, hätte es aber mit einer anderen Komplikation zu tun, und zwar bei den Großbuchstaben. Vor allem die Ähnlichkeit von und würde die graphemische Diskriminierbarkeit stark beeinträchtigen. Da , p> fast ausschließlich wortinitial stehen, könnte dieses Problem nur am Satzanfang eintreten wie z.B. statt korrekt 'dunkler färben - erkennen'. Dem wäre leicht abzuhelfen, indem man bei den Querstrich ganz durchzöge; d.h. . Andererseits tritt dieser Fall nur selten auf, da zum einen die Opposition im heutigen Isl. funktional kaum belastet ist (es finden sich nicht mehr als etwa 20 Minimalpaare)14; zum anderen stehen viele hiervon betroffene Wörter aus syntaktischen Gründen nur selten am Satzanfang; und zum dritten würde der Kontext stets für Eindeutigkeit sorgen. Würde man statt einführen, entstünden somit nur unwesentlich größere Probleme als die, die bereits bei und vorhanden sind. Weil in der heutigen Orthographie nie wortinitial steht, kommt dieses Graphem ausschließlich in Texten mit nur Großbuchstaben vor. Das dritte Gedankenexperiment geht von der Tatsache aus, daß auch und im Isl. komplementär distribuiert sind. Im wesentlichen gilt folgendes: (v) steht nach , wobei ein Vokalgraphem bezeichnet. Im Wortstamm tritt nur + auf, so daß sich alle anderen Kombinationen bei der schwachen Präteritalbildung ergeben. (vi) steht nie vor , außer in seltenen Komposita wie 'Aufenthalt' Die Distribution von verhält sich komplementär zu (v)-(vi). 15 Aus rein strukturalistischer Sicht ist damit eines der beiden Grapheme und für das heutige Isl. überflüssig. Man könnte daher problemlos auf das nicht-internationale Graphem verzichten. Die Kombination der Ausspracheregeln (i)-(iv) mit den Distributionsregeln (v)-(vi) belegt, daß daraus keine orthographische Ususregulierung entsteht. Minimalpaare wie oka - doka> 'Nebel - kurz warten' zeigen jedoch, daß die Opposition zu

aufrechterhalten werden müßte. Da im Gegensatz zu

nicht nur wortinitial vorkommt, ergibt sich folgende mengentheoretische Darstellung der Distribution von ,

und :

Bemerkenswerterweise korrespondieren die komplementär distribuierten Grapheme und nicht mit zwei komplementär distribuierten Lauten. Folgendes Minimalpaar zeigt, daß isl. [d] und [δ] - wenigstens im Südisl. - minimal ausdrucksunterscheidend sein können: =['buda 14

15

Vgl. . Weitere Minimalpaare kommen hinzu, wenn man auch die flektierten Formen berücksichtigt. Von den ganz wenigen Ausnahmen bei Lehnwörtern wie edik 'Essig' wird abgesehen.

215 - Îiiiôa] "beißen - warten'. Wie aber oben dargelegt, begründet der sich daraus ergebende Phonemstatus von /d/ und /ö/ die Verwendung von sowohl und nicht zwingend. Der Grund dafür ist, daß [d] bei einer minimalen Ausdrucksopposition mit [ö - d] nie mit , sondern stets mit verschriftet wird. In all den anderen Fällen, wo [ö] und [d] durch bzw. verschriftet werden, sind [ö] und [d] komplementär distribuiert. Abb. 7/3 veranschaulicht diesen Ausschnitt der isl. Phono- und Graphotaktik mengentheoretisch.

Abb. 7/3: Distribution von isl. [ö] und [d] sowie von und . Diachron erklärt sich die Situation in Abb. 7/3 folgendermaßen: Die komplementäre Distribution von und deckt sich im wesentlichen mit der der urn. Allophone d und ö.16 Durch Entsonorisierung fiel jedoch urn. d mit intervokalischem /, das im Südisl. unaspiriert ist, zusammen. Deswegen sind [d] und [ö] heute nicht mehr komplementär distribuiert. Folglich ergeben sie nur dann Minimalpaare, wenn [d] mit verschriftet wird. Isl. durch das internationale Schriftzeichen zu ersetzen, würde auch den graphomorphologischen Ikonizitätsgrad erhöhen: Statt 'beten - bat' bekäme man mit der Schreibung eine invariante Schreibung des ganzen Wortstammes (vgl. Kap. 5.3).

7.4.3. Ein Vergleich mit und [ö - d] im Dänischen Daß die isl. Orthographie sehr wohl ohne auskäme, verdeutlicht ein Vergleich mit dem Dän. In diesem Punkt liegen - bei allen sonstigen dän.-isl. Unterschieden - ähnliche Verhältnisse vor; auch das Dän. hat die Korrespondenz ->{/[ö]/, /[d]/,...}. Wie im Isl. existieren keine heterophonen Homographe, da dän. [ö] und [d] nur dann minimal opponieren, wenn [d] mit einem

16

Nach der 1. Lautverschiebung besaß das Germ, zunächst keine Reihe mit sth. Plosiven. Gemeingerm, entwickelten sich aber aus d, ö, j im Wortanlaut und im Wortinlaut nach Nasal die Allophone [b], [d] bzw. [g] (vgl. Noreen 1923: §§ 223, 238). Diese Regel gilt aber nicht uneingeschränkt für alle genn. Sprachen. Im Engl, bleibt wortanlautendes 3 spirantisch; vgl. dt. gelb, gelten mit engl, yellow, yield.

216 anderen Graphem als verschriftet wird. Meistens ist es ein , aber auch und kommen je nach morpho-phonemischer Situation von ['sàejôa - 'suelda] 'Scheide - geschah-, Prät.Ind.';

['maeö - 'inaed] 'Essen - matt';

['leía - 'leide] 'suchen: Inf. - Prät.Ind.'. Anders als im Isl. wird die seltene Gemination im Dan. mit einem Frikativlaut wie z.B. dän. =['heÖ3] 'heißen' verbunden; vgl. mit isl. =['odiYr] 'Spitze'. Aufgrund der dän. Graphotaktik ist daher stets eindeutig zu entscheiden, ob mit [ö] oder mit [d] zu verbinden ist. Nur weil [ö] und [d] zu zwei verschiedenen Phonemen gehören, käme niemand auf die Idee, daß das Dän. unbedingt ein nötig hätte.

7.4.4. Zur Realität der Gedankenexperimente Für die oben besprochenen Reformmöglichkeiten gilt zusammenfassend, daß im Isl. eines der beiden nicht-internationalen Schriftzeichen entbehrlich ist. Ein Verzicht auf entweder

oder würde aus synchroner und rein innersprachlicher Sicht keine wesentlichen Nachteile für die Orthographie mit sich bringen. Es stellte sich im Gegenteil heraus, daß die Verwendung von statt sogar einen höheren grapho-morphologischen Ikonizitätsgrad bedeuten würde. Diese Überlegungen sind keineswegs ausschließlich hypothetischer Natur. Vielmehr finden sie ihre Entsprechungen in der isl. Schriftgeschichte. Wie aus Abb. 3/9 in Kap. 3.2 hervorgeht, hat das Isl. bis etwa zum Jahr 1200 ein Schriftbild entsprechend dem ersten Gedankenexperiment oben:

wurde durchgehend statt verwendet. Von der Mitte des 14. Jh. bis ins 19. Jh. wurde dagegen statt geschrieben (in diesen Zeitraum fällt auch die oben erwähnte Guöbrandsbiblia). Noch Rasmus Rask (1811) verwendet die Korrespondenz =[ö] für das Isl. Mit dem Auftreten des nicht-internationalen Graphems Ende des 18. Jh. sank nicht nur der grapho-morphologische Ikonizitätsgrad, es entstanden auch drucktechnische Komplikationen. Die Einführung von hat sich somit auf zwei orthographische Parameter negativ ausgewirkt, denen sonst ein relativ hoher Stellenwert beigemessen wird. Die kulturpolitische und identitätsstiftende Funktion des Schriftbilds wurde bereits mehrfach angesprochen. Das ist auch der Kontext, in dem sich eine plausible Erklärung dafür findet, wieso im Isl. die ein halbes Jahrtausend währende Schrifttradition mit =[ö] aufgegeben wurde. Obwohl die Korrespondenz =[8] Ende des 18. Jh. geläufig war, wurde das fast in Vergessenheit geratene Graphem wieder eingeführt. Wie bereits erwähnt, war die heutige Distribution von nur in der relativ kurzen Periode von ±1200 bis ±1360 gegeben. Dennoch ist es kein Zufall, daß man Ende des 18. Jh. auf die Graphemik und Graphotaktik gerade dieses Zeitraums zurückgriff. Ins 13. Jh. fällt die literarische Blütezeit der Königs- und Isländersagas, die bereits im späten 17. Jh. zunehmend beachtet wurden. Ab der Mitte des 18. erschien eine ganze Reihe aisl. literarischer Werke. Dieses Interesse für das Hochmittelalter sollte sich im wenige Jahrzehnte später aufkommenden Nationalhistorismus verstärken. Bemerkenswerterweise setzt die Renaissance des mit der Ausgabe einer der bedeutendsten mittelalterlichen Isländersagas ein: Im Jahre 1772 wurde die Njäls saga durch

217 Oláfur Olavius herausgegeben, und nur einige Jahrzehnte später ist die Korrespondenz =[ö] in gedruckten isl. Texten fast völlig durch =[9] ersetzt (vgl. Jons son 1959: 77; Helgason 1931b: 46). Damit ließ sich das isl. Schriftbild, das sich in der frühen Neuzeit relativ weit von der mittelalterlichen Schreibtradition entfernt hatte, archaisieren. Die neuisl. Graphemik/Graphotaktik stimmt mit der aisl. Phonemik/Phonotaktik weitgehend überein. Dennoch liegt mit dem modernen isl. Schriftbild keineswegs eine Schreibung vor, die im Mittelalter fixiert wurde und sich seitdem nicht verändert hat. Vielmehr ist die heutige Orthographie eine Rekonstruktion und Restitution im Sinne des Nationalhistorismus des 19. Jh. Die aisl. Texte in den modernen Ausgaben werden nämlich nach Prinzipien normalisiert, die auch bei den isl. Orthographiebestrebungen im 19. Jh. richtungsweisend waren. Dadurch wurden große Teile der Schriftentwicklung im 15.-18. Jh. revidiert, so daß in anachronistischer Weise eine orthographische Stabilität von der literarischen Blütezeit im Mittelalter bis heute suggeriert wird. Durch diese Illusion sind nicht nur die aisl. Texte für das heutige Publikum zugänglich; ebenso wichtig ist die Tatsache, daß damit der mitunter recht starke dän. Einfluß auf die isl. Sprache rückgängig bzw. unsichtbar gemacht wurde. Die Wiederbelebung des Graphems entspricht diesem Trend ganz und gar. Das isl. Schriftbild besitzt somit als signifikantes Kulturmerkmal eine inkludierende Funktion, die sich durch die Zuwendung zur eigenen Geschichte zeigt. Wichtig war auch die exkludierende Funktion, die dem Schriftbild für eine nationale Abgrenzung vor allem gegenüber Dänemark zukam. Daß der schriftbildliche Brückenschlag in die "glorreiche" Vergangenheit nicht immer höchste Priorität besaß, sondern in einigen Fällen zugunsten einer lediglich synchron erklärbaren "Entdanisierung" geopfert wurde, zeigt der Übergang vom aisl./dän. Graphem zum modernen dt./schwed. . Innersprachlich zwar begründbar, gleichzeitig aber auch "entdanisiernd" wurde die damals im Dän. verwendete Gemination von Vokalgraphemen beseitigt; d.h. isl. statt usw. Daß eine typisch isl. National spräche als notwendig für eine erfolgreiche Loslösung von Dänemark empfunden wurde, dokumentieren die Beiträge in der Zeitschrift Fjölnir Anfang des 19. Jh. Ohne eine eigene Nationalsprache sei man tatsächlich nichts anderes als eine dän. Provinz (vgl. Hermannsson 1919: 38). Dieses Verständnis von Sprache ist ganz im Sinne der Herderschen Sprachideologie. Die Entstehung einer stabilen isl. Orthographie ist somit sowohl Reflex als auch Mittel politischer Bestrebungen. Als Island 1918 als selbständiger Staat (in Personalunion mit Dänemark) anerkannt wurde, existierte bereits eine stabile nationale Literatursprache, die ein unverkennbar isl. Schriftbild abgibt. Die Entwicklung des isl. Schriftbilds ab dem Ende des 18. Jh. ist somit sowohl historisch restituierend als auch synchron partikularisierend. Die "entdanisierende" Mischung aus Altem und Neuem bei isl. erinnert stark an die Überlegungen in Kap. 7.2 zur Sprache der GustavVasa-Bibel. Der skand. Sprachnationalismus legitimierte sich nicht nur durch die eigene Geschichte; in der sprachpolitischen Praxis wurden vor allem solche Elemente des Nationalhistorismus gewählt, die der synchron ausgerichteten antidän. Ideologie dienlich waren. Dieses Muster zeigt sich in den Überlegungen zur far. Schriftgeschichte nochmals deutlich (Kap. 7.5).

218 7.4.5. Ein Vergleich mit dem Färöischen und eine Bemerkung zumNynorsk Diese Überlegungen zum Isl. lassen sich nicht auf das Fär. übertragen. Zunächst ist festzustellen, daß sich wegen des Lautwandels p > fär. t/h kein

im fär. Alphabet findet; vgl. fár. = [ ' t Y u : - ' h E a a ] mit isl. =['0u: - '0aa"] 'du - dort'. Demnach wären nur die Konsequenzen eines Ersatzes von durch zu untersuchen. Dabei sind insbesondere die Verhältnisse bei den schwachen Verben zu beachten. Während im Isl. wurzelfinales rö plus Dentalsuffix flach als verschilftet wird, erhält das fär. Äquivalent die Schreibung mit . Folgende Beispiele zeigen außerdem, daß im Fär. und im Gegensatz zum Isl. nicht komplementär distribuiert sind. Allerdings ist die fär. Opposition nur nach minimal distinktiv: isl. 'gürten: Inf. - l./3.Sg.+3.Pl.Präs.Konj. - l./3.Sg.Prät.Ind.' fär. 'gürten: Inf. - Präs.Konj. - Sg.Prät.' isl. 'hüten: Inf. - l./3.Sg.+3.Pl.Präs.Konj. - l./3.Sg.Prät.Ind.' fär. 'hüten: Inf. - Präs.Konj. - Sg.Prät.' Der Ersatz von durch wäre im Fär. bedenklich, da er bei einigen schwachen Verben mit wurzelfinalem zu einem graphemischen Zusammenfall des Präs.Konj. mit dem Sg.Prät. führen würde. Heute wird nur im Isl. und Fär. verwendet. Laut Torp/Vik0r (1993: 155) hat aber auch Aasen dieses Graphem für das Nyn. erwogen. Anorw. [ö] ist in den meisten norw. Mundarten geschwunden, jedoch nicht in allen. In einigen Gegenden blieb ¿(erhalten und in anderen wurde