Sinnkritisches Philosophieren 9783110296679, 9783110296631

In current philosophy, increasing attention is being devoted to a way of doing philosophy which is critical of sense, me

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German Pages 402 [404] Year 2012

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Table of contents :
Einleitung
Teil 1: Gott und Sinn
Die Möglichkeit Gottes. Ein religionsphilosophischer Versuch
Endlichkeit, wirklicher Sinn, Gott. Zur Konstitution der Transzendenz im Blick auf Stekeler-Weithofers Sinnanalyse
Was heißt ,religiöse Erfahrung‘?
Teil 2: Handlung und das Gute
Some post-Davidsonian elements of Hegel’s theory of agency
Handeln als innerer Zweck des Handelns
Tatsachen, Werte und Praktische Argumentation: Was ist verkehrt am „naturalistischen Fehlschluss“?
Vernunft ohne „Gespenst in der Maschine“? Überlegungen zu und im Anschluss an Ryles Handlungslehre
Techniken der Subjektivierung. Bemerkungen zur aktuellen Debatte im Ausgang von Hegel
Teil 3: Logische Notation
Models and perspicuous representations
Das Segeltuchmodell
Propositional attitudes and propositional nexuses. A hieroglyphical elucidation
Teil 4: Sprache und Praxis
Sprache, Gründe, Handeln. Sprachphilosophie in anthropologischer Perspektive
Die Praxis der Idee
Inferentially conservative extension and conceptual innovation
Gibt es Zufälle?
Teil 5: Wahrnehmung und Wahrheit
Ontogenetic precursors of assertion and denial
Anschauung bei Husserl
Wahrnehmung als Erkenntnisvermögen
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Sinnkritisches Philosophieren
 9783110296679, 9783110296631

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Sinnkritisches Philosophieren

Sinnkritisches Philosophieren Herausgegeben von Sebastian Rödl und Henning Tegtmeyer

ISBN 978-3-11-029663-1 e-ISBN 978-3-11-029667-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung

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Teil 1: Gott und Sinn Holm Tetens Die Möglichkeit Gottes Ein religionsphilosophischer Versuch

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Thomas Rentsch Endlichkeit, wirklicher Sinn, Gott Zur Konstitution der Transzendenz im Blick auf Stekeler-Weithofers 39 Sinnanalyse Hans J. Schneider Was heißt ‚religiöse Erfahrung‘?

51

Teil 2: Handlung und das Gute Robert Brandom Some post-Davidsonian elements of Hegel’s theory of agency Sebastian Rödl Handeln als innerer Zweck des Handelns

63

83

Geert-Lueke Lueken Tatsachen, Werte und Praktische Argumentation: Was ist verkehrt am „naturalistischen Fehlschluss“?

101

Frank Kannetzky / Claudia Henning Vernunft ohne „Gespenst in der Maschine“? Überlegungen zu und im Anschluss an Ryles Handlungslehre Christoph Hubig Techniken der Subjektivierung Bemerkungen zur aktuellen Debatte im Ausgang von Hegel

129

167

VI

Inhalt

Teil 3: Logische Notation Vojtěch Kolman Models and perspicuous representations Boris Hennig Das Segeltuchmodell

185

213

Michael Thompson Propositional attitudes and propositional nexuses 231 A hieroglyphical elucidation

Teil 4: Sprache und Praxis Christoph Demmerling Sprache, Gründe, Handeln Sprachphilosophie in anthropologischer Perspektive Christian Schmidt Die Praxis der Idee

251

275

Peter Grönert Inferentially conservative extension and conceptual innovation Peter Heuer Gibt es Zufälle?

311

Teil 5: Wahrnehmung und Wahrheit Henrike Moll Ontogenetic precursors of assertion and denial Henning Tegtmeyer Anschauung bei Husserl

347

Andrea Kern Wahrnehmung als Erkenntnisvermögen

369

337

295

Einleitung In den vergangenen Jahrzehnten ist es still geworden um das Projekt philosophischer Sinnkritik. Schien es doch, als sei dieses Projekt zu sehr gebunden an die Sprachphilosophie des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus. Sinnkritik war die spezielle Wendung, welche die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts dem modernen Projekt der Metaphysikkritik gegeben hatte. Eine entsprechende Dringlichkeit konnte hier die Aufgabe gewinnen, Sinnkriterien zu fixieren, mit deren Hilfe sich sinnvolle von sinnlosen Aussagen unterscheiden lassen sollten. Rudolf Carnap etwa glaubte bekanntlich, auf diese Weise metaphysische Rede insgesamt als sinnlos ausweisen und so Metaphysik überwinden zu können (Carnap 1932). Für dieses Projekt spielte die Formalisierung und Mathematisierung der Logik durch Frege und Russell eine wichtige Rolle. Fast noch wichtiger aber waren bestimmte Vorstellungen davon, welchen Kriterien die Bedeutungsfestlegungen für das nichtlogische Vokabular genügen sollten, mit dem den logischen Formeln Gehalt, Bedeutung und Weltbezug zu sichern war. Wie mussten die Definitionen akzeptabler Begriffe aussehen, damit sie der sprachphilosophischen Sinnkritik standhalten konnten? Klar schien zu sein, dass die Kriterien schärfer sein mussten als in der traditionellen Definitionslehre, z. B. in der aristotelischen Logik. Dem Wiener Kreis und dem Logischen Empirismus schien eine Einschränkung zulässiger nichtlogischer Termini auf empirische, d. h. empirisch kontrollierbare Bedeutungen sinnvoll. Aus der historischen Distanz zeigt sich deutlich das Eigentümliche dieses Projekts der Sprach- und Sinnkritik. Manche Autoren haben versucht, eine Verwurzelung des Logischen Empirismus in der klassischen Philosophie der Neuzeit, vor allem der Aufklärung nachzuweisen. Farhang Zabeeh (1960) und Barry Stroud (1981) wollten zeigen, dass David Hume ein Wegbereiter der metaphysikkritischen Sprachphilosophie ist; Peter Strawson (1966) unternahm einen analogen Versuch mit der theoretischen Philosophie Kants. Und zweifellos gibt es Parallelen zwischen der metaphysikkritischen Haltung Humes und Kants einerseits, der Ablehnung von Metaphysik im Logischen Empirismus andererseits. Aber weder Hume noch Kant wäre es eingefallen, metaphysische Rede als sinnlos und sprachwidrig zu kritisieren. Es ist eine Sache, der Metaphysik die Überschreitung von Erkenntnisgrenzen vorzuhalten, wie es Hume und Kant tun. Eine ganz andere Sache ist es, ihr Sinnwidrigkeit vorzuwerfen. Humes und Kants Kritik respektiert zumindest das metaphysische Anliegen; der Logische Empirismus leugnet dessen Berechtigung im Ansatz. Vorläufer einer derart radikalisierten Metaphysikkritik finden sich weniger in der klassischen neuzeitlichen Philosophie als vielmehr im radikalen Nominalismus des 19. Jahrhunderts, bei Max Stirner, Friedrich Nietz-

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Einleitung

sche, Fritz Mauthner und Ernst Mach. Was den Wiener Kreis und den Logischen Empirismus aber wiederum von den genannten Autoren trennt, ist der durchgehende Szientismus und Technizismus, der Glaube an die allein Welt erschließende und Welt verändernde Macht der modernen Naturwissenschaften, namentlich der Physik, und der naturwissenschaftlich gestützten Technik. Dass der Logische Empirismus auf ganzer Linie gescheitert ist, ist bekannt und wurde oft genug beschrieben. Bereits in der Spätphase des Wiener Kreises zeichnete sich ab, dass sich das Verhältnis von einzelnen empirischen Beobachtungssätzen zu allgemeinen theoretischen Sätzen nicht befriedigend würde aufklären lassen, wie die so genannte Protokollsatzdebatte ergab. Hinzu kam eine Krise des Wahrheitsverständnisses, da einerseits kohärentistische und konsensualistische Wahrheitskonzeptionen zu schwach sind, um den als Theoriebasis angesehenen Beobachtungssätzen Wahrheit zu sichern, und da andererseits ein stärkerer Wahrheitsbegriff, der Wahrheit als Übereinstimmung mit dem, was ist, bestimmt, als metaphysisch abgelehnt werden musste. Unabhängig davon geriet der Logizismus in die Krise, ausgelöst durch Schwierigkeiten mit der Reduktion der Mathematik auf Logik, deren Durchführbarkeit der Logische Empirismus voraussetzen muss, wenn er die nichtempirische Wissenschaft der Mathematik überhaupt als Wissenschaft anerkennen will. Und weiter erwies sich die Unterscheidung zwischen analytischen, auf Definitionen bzw. Bedeutungskonventionen beruhenden, und synthetischen, durch Beobachtung und Erfahrung zu stützenden Sätzen bzw. Aussagen als problematisch. Doch die wohl härteste Kritik des Logischen Empirismus liegt in dem Vorwurf, dass das empiristische Sinnkriterium selbst den Sinnkriterien des Empirismus nicht genügt, da es sich dabei weder um eine logisch-analytische Wahrheit handelt – die logischen Gesetze schweigen über den Gehalt der in die logischen Formen eingehenden Begriffe – noch um eine empirisch überprüfbare Wahrheit. Dass sprachlicher Sinn an empirische Prüfbarkeit gebunden sein soll, ist vielmehr eine Setzung, eine nicht begründete Konvention oder, drastischer ausgedrückt, ein Glaubenssatz. Das bedeutet, dass die Sinn- und Metaphysikkritik des Logischen Empirismus auf einer empiristisch nicht zu begründenden Voraussetzung beruht, d. h. auf einem Prinzip, das selbst metaphysisch im Sinne des Logischen Empirismus ist. Aus dieser tiefen Krise des Logischen Empirismus haben Empiristen ganz verschiedenartige Auswege gesucht. Eine mögliche Konsequenz ist die Flucht in den Skeptizismus, ein anderer, sehr viel häufiger gewählter Weg ist die dezisionistische Anerkennung des glaubensartigen Charakters des Empirismus und ein nicht mehr oder nur noch pragmatisch gerechtfertigtes Bekenntnis zu Physikalismus und Naturalismus. Das ist der Weg, den Quine und viele andere gegangen sind. Ein dritter Weg ist ein affirmativ vorgetragener Theorierelativismus in der

Einleitung

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Nachfolge Kuhns, Feyerabends und Rortys. Jeder dieser drei Standardauswege ist dabei stets vom Kollaps in einen der beiden anderen bedroht. Der Naturalismus Quines hat seine skeptische und relativistische Kehrseite, während ein Relativist wie Rorty immer wieder naturalistische Bekenntnisse vorträgt. Beobachtungen wie diese wecken Zweifel daran, dass es sich hier um echt alternative Wege handelt. Eine ganz andere Strategie bestünde darin, das Projekt der Sinnkritik von Empirismus und Szientismus zu entkoppeln und damit auch von allzu engen empiristischen Sinnkriterien. An die Stelle der empirischen Verifizierbarkeit könnte ein radikales pragmatisches Kriterium treten, nämlich ein Kriterium der Verwurzelung sprachlicher Bedeutungen und theoretischer Aussagen in gemeinsamer menschlicher Praxis. Die lebensweltliche Bedeutsamkeit eines Begriffs, einer Unterscheidung oder einer These wäre dann als genuine Quelle sprachlichen Sinns anzuerkennen. Das war bereits ein Grundgedanke des so genannten Erlanger Konstruktivismus um Paul Lorenzen und Wilhelm Kamlah; er verbindet diese Schule mit dem (Neo‐)Pragmatismus von Autoren wie etwa Hilary Putnam und Hubert Dreyfus. Die Anregungen dazu entstammten der Philosophie des späten Edmund Husserl und Martin Heideggers, wurden hier aber mit der Logik und Sprachphilosophie Freges verbunden. Der Erlanger Konstruktivismus ist gewissermaßen als Parallelaktion zum Projekt des Wiener Kreises durchgeführt worden, mit dem er nicht nur den sprachund metaphysikkritischen Impetus teilt, sondern auch die praktisch-politische Ausrichtung auf sozialtechnische Reformen. Vieles davon erscheint heute seiner Zeit geschuldet und veraltet. Systematisch gescheitert ist der Erlanger Konstruktivismus aber an theoretischen Problemen, die denen des Logischen Empirismus ganz analog sind. Der Versuch einer methodischen Rekonstruktion des Aufbaus der Philosophie, einschließlich der Ethik, und der Wissenschaften insgesamt erwies sich als ebenso großer Dogmatismus wie der Versuch einer empiristischen Rekonstruktion der Wissenschaften, weil die methodischen Prinzipien dieser Rekonstruktion nicht ihrerseits konstruktiv gerechtfertigt werden konnten. Nahezu sämtliche Einwände gegen den Logischen Empirismus lassen sich mutatis mutandis auch gegen den Erlanger Konstruktivismus richten. Damit ist aber die Idee einer breiter angelegten,weniger dogmatisch verengten Sinnkritik noch keineswegs desavouiert; ja die Idee der Sinnkritik könnte sich als das eigentliche Vermächtnis einer ansonsten gescheiterten Richtung der Gegenwartsphilosophie erweisen. Das ist jedenfalls einer der Grundgedanken Pirmin Stekeler-Weithofers, dem die in diesem Band versammelten Beiträge gewidmet sind. Stekeler-Weithofer, der als Schüler Friedrich Kambartels den Zusammenbruch des Erlanger Konstruktivismus erlebt und nachvollzogen hat, hat die Sinnkritik zu seinem philosophischen Projekt gemacht, angefangen mit dem Werk

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Einleitung

Grundprobleme der Logik (1986) über die Sinnkriterien (1995) bis hin zu der Monographie Sinn (2011). Dabei bleibt es bei der im Erlanger Konstruktivismus vollzogenen Bindung der Sinnkritik an die Sphäre menschlicher Praxis; ja dieser pragmatische Zug wird durch eine explizite Philosophie der Praxis und ihrer Formen theoretisch vertieft. Mit der Betonung der Praxis als Voraussetzung von Philosophie und Wissenschaft tritt dieses Denken in unmittelbare Nähe zum gegenwärtigen Neo-Pragmatismus, namentlich zu Robert Brandom. Doch die Befreiung von den Kerndogmen des Logischen Empirismus erlaubt nun auch eine Erweiterung der Sinnkritik zur Szientismus- und Wissenschaftskritik. Der Erlanger Konstruktivismus hat bereits Ansätze dazu formuliert, die aber erst hier zu einer radikalen Kritik des Physikalismus und Szientismus als modernen metaphysischen Dogmen weiterentwickelt werden können. Nicht mehr so sehr Theorieaufbau als vielmehr Kritik ist das Hauptgeschäft dieser Philosophie. Mit der Emanzipation vom Logischen Empirismus ist eine neue Hinwendung zu den großen Denkern der Philosophiegeschichte verbunden, deren Beiträge zum sinnkritischen Philosophieren nun erneut geprüft und gewürdigt werden. Für Stekeler-Weithofer sind das vor allem Platon und Hegel. Jedem von beiden hat er zahlreiche, zum Teil ausgesprochen kontrovers diskutierte Werkinterpretationen gewidmet (vgl. etwa Stekeler-Weithofer 1992, 2005). Daneben treten Parmenides, Heraklit und Aristoteles, Descartes, Spinoza und Leibniz, Berkeley und Hume, Kant und Frege, William James und Martin Heidegger. Hinzu kommen aber auch Denker aus dem weiteren Umkreis des Logischen Empirismus und der daraus hervorgegangenen Sprachphilosophie, die größere Distanz zu deren Dogmen gewahrt haben und gerade deswegen heute bedeutsamer und aktueller erscheinen als die eigentlichen Protagonisten dieser Bewegung. Zu nennen sind hier zum einen Ludwig Wittgenstein und seine Schüler, namentlich Elizabeth Anscombe und Peter Geach, zum anderen Gilbert Ryle und Peter Strawson. Alle genannten Denker sind Stichwortgeber und Wegbereiter einer modernen, undogmatischen sinnkritischen Philosophie und werden in den Beiträgen zu diesem Band entsprechend diskutiert. In systematischer Perspektive kann philosophische Sinnkritik ihr Verhältnis zur Metaphysik nicht mehr im Sinne einer vollständigen Zurückweisung derselben bestimmen, sondern muss diese differenzierter betrachten. Erscheint es unter den geänderten Vorzeichen doch möglich, Metaphysik ihrerseits auf ihre sinnkritischen Potentiale hin zu befragen. Dies gilt namentlich für den traditionell Natürliche Theologie genannten Bereich der speziellen Metaphysik, der sich mit (der Rede über) Gott bzw. mit dem (Fragen nach einem) Absoluten befasst. Nicht nur geht es nicht an, den Gebrauch von Ausdrücken wie ‚Gott‘ oder ‚das Absolute‘ aus der Philosophie zu verbannen; vielmehr lässt sich zeigen, dass derartige Termini eine unverzichtbare kritische Rolle für die philosophische und wissenschaftliche

Einleitung

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Reflexion spielen. Analoges lässt sich über den Begriff der Person mit all seinen metaphysischen Konnotationen sagen. Noch viel weniger als diese Kern- und Zielbegriffe der speziellen Metaphysik lässt sich dagegen die Ontologie als Kernprojekt der allgemeinen Metaphysik pauschal unter Sinnlosigkeitsverdacht stellen, zumal wenn man einsieht, dass die Fragen der Ontologie nicht allein naturwissenschaftlich geklärt und beantwortet werden können. Diese Neupositionierung philosophischer Sinnkritik wirft nun eine ganze Reihe von systematischen Fragen auf. Sinnkritische Praxisphilosophie muss ihre Stellung in den verschiedenen Feldern systematischen Philosophierens neu bestimmen, und nicht immer ist die Positionierung selbstverständlich und alternativlos. Verschiedene Möglichkeiten müssen erwogen und geprüft werden. Dazu leisten die hier versammelten Texte einen Beitrag. Dabei beschränkt sich der vorliegende Band auf grundlegende Bereiche systematischer Philosophie: in der speziellen Metaphysik auf die Auseinandersetzung mit der philosophischen Theologie, in der Logik auf den Zusammenhang von Bedeutung und Wahrheit, in der Handlungstheorie und Praxisphilosophie auf die Frage nach dem für den Menschen Guten und für den Bestand der Praxis Wichtigen, in der Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie auf den Zusammenhang von Denken, Sprechen, Wahrnehmen und Erkennen. Die thematische Reichweite sinnkritischer Praxisphilosophie ist erheblich größer, als hier dokumentiert werden kann. Aber Metaphysik, Logik, Erkenntnistheorie und Ethik gehören zu ihrem Kern; andere Disziplinen wie die Wissenschaftsphilosophie, die Geschichtsund Rechtsphilosophie oder die Philosophie der Ökonomie gruppieren sich darum herum. Doch anders als man im Wiener Kreis annahm, lässt sich dieser disziplinäre Kern nicht mehr auf eine Grunddisziplin reduzieren; Metaphysik, Logik, Erkenntnistheorie und Ethik gehen auf je originäre Weise aus menschlicher Praxis hervor. Man könnte es im Anschluss an Heidegger so formulieren: Wenn Philosophie ihrem Wesen nach die Frage nach dem Grund ist, dann nimmt diese Frage in der Logik, der Metaphysik, der Erkenntnistheorie und der Ethik eine je spezifische und originäre Bedeutung an. Die Beiträge des Bandes ordnen sich in fünf Teile. Teil 1 greift den Gegenstand der letzten Monographie Stekeler-Weithofers, Sinn, auf. Denn in der philosophischen Theologie kann sich Sinnkritik nicht mit der Destruktion theologischer Rede begnügen, zumal dann nicht, wenn die Grundlagen eines solchen Vorgehens so fragwürdig sind wie im Logischen Empirismus oder im gegenwärtigen ‚Neuen Humanismus‘. Ganz im Gegenteil, theologische Rede kann selbst als Form praktisch fundierter Sinnkritik verstanden werden. Dabei ist strittig, wie eine an diese Beobachtung anknüpfende positive Aufhebung theologischen Denkens aussehen kann. Die Autoren des vorliegenden Bandes, die sich dieser Frage zuwenden, Tetens, Rentsch und Schneider, zeigen auch die Fruchtbarkeit der philosophie-

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Einleitung

geschichtlichen Vertiefung der sinnkritischen Reflexion, die Stekeler-Weithofer wie kein anderer vorgeführt hat, indem sie an Kant, Schelling und James anknüpfen. Teil 2 geht auf einen Kernbegriff sinnkritischen Philosophierens, den Begriff des Handelns. Wenn nämlich die Sinnkritik die Quelle jeden Sinns in der durch diesen bestimmten menschlichen Praxis aufsucht, dann ist eine Klärung eben dieses Begriffs, des Begriffs der Praxis und zugehörig des Begriffs des Handelns, seines Zwecks und seines Werts, eine zentrale und grundlegende Aufgabe sinnkritischen Philosophierens. Das erklärt, weshalb eine Reihe von Beiträgen (von Brandom, Rödl, Lueken, Kannetzky&Henning, Hubig) das menschliche Handeln und die ihm innewohnende Vernunft zu artikulieren suchen. Stekeler-Weithofers Arbeiten zu Kant wie zu Hegel hatten die Tür aufgestoßen, diesen Gegenstand mit den Mitteln der klassischen deutschen Philosophie anzugehen. Diesem Weg folgen die hier versammelten Aufsätze, die auf Hegel und Aristoteles ebenso wie auf die Quellen der anglophonen Handlungstheorie in Ryle und Anscombe zurückgreifen und auf diese Weise das sinnkritische Unternehmen in weitere philosophische Traditionszusammenhänge stellen. Was das menschliche Denkvermögen als solches angeht, so ist es sicher wegweisend, die Logik mit Aristoteles, Kant, Husserl, Brandom und vielen anderen als dessen Organ und damit als Ausdruck menschlichen Selbstbewusstseins zu verstehen. Damit ist aber zunächst nur ‚das Logische‘ in einem allgemeinen Sinn erfasst. Durchaus offen ist noch, welche Stellung das Projekt einer theoretisch explizierten formalen Logik in dieser Sphäre des Logischen und damit des Denkens überhaupt einnimmt. Stekeler-Weithofer hat in seinem bahnbrechenden Werk Grundprobleme der Logik die Möglichkeiten und Grenzen formaler reglementierter Notationen zur Darstellung umgrenzter Sprachbereiche diskutiert. Der damit geöffneten Fragestellung gehen die Beiträge in Teil 3 von Kolman, Hennig und Thompson nach, die der Bedeutung formaler Notation im Allgemeinen am Beispiel musikalischer Notationen nachgehen, nach dem die antike Logik anleitenden Verständnis der logischen Form einfacher prädikativer Sätze fragen und mit einer Ideographie experimentieren, die die logische Form erst- und zweitpersonaler Aussagen durchsichtig macht. Der Beitrag von Schmidt ist allgemeiner, indem er den Versuch einer praxisformtheoretischen und dabei historisch reflektierten Rekonstruktion der Genese der formalen Logik aus dem Geist der Mathematik unternimmt. Logischer Empirismus und Konstruktivismus waren Agenten des sogenannten linguistic turn; auf verschiedene Weise glaubten sie, in der Sprache die grundlegende Wirklichkeit des Denkens zu erkennen. Das war einerseits mit einem Empirismus verknüpft, indem Sprache, im Unterschied zum Denken, etwas Handgreifliches, sinnlich Faßbares schien, andererseits mit dem Interesse am

Einleitung

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Handeln, da Sprache ursprünglicher als Denken im Handeln der Menschen zu liegen schien. Mit dem Ende der bezeichneten philosophischen Tendenzen, zu dem die Arbeiten von Stekeler-Weithofer nicht unwesentlich beigetragen haben, ist ein Vorrang der Sprache aus den genannten Gründen nicht mehr zu rechtfertigen. Das bedeutet aber nicht, dass nicht daran festgehalten werden kann oder sogar muss, dass Sprache die wesentliche Form ist, in der Denken wirklich ist. Das verlangt dann aber, über ein empiristisches oder pragmatistisches Verständnis der Sprache hinauszugelangen. Diesem Interesse folgen die Beiträge von Demmerling, Grönert und Heuer im vierten Teil des vorliegenden Bandes. Teil 5 bezieht sich auf die Frage nach den Quellen des Sinns, insofern sie in der sinnlichen Anschauung und im sprachlichen Verhalten des Menschen liegen. Der logische Empirismus wie der Konstruktivismus waren vom Gedanken eines vernünftigen Aufbaus beseelt, in dem komplexe Aussagen, Begriffe, Vermögen auf eine Anordnung oder Verknüpfung einfacherer zurückgeführt werden. Die unterste Ebene ist je die, auf der sich ein Subjekt direkt auf die sinnliche Wahrnehmung bezieht, in „Beobachtungssätzen“ oder „Sortierhandlungen“. Die Rückbesinnung auf Platon wie auf Kant aber, die in Stekeler-Weithofers Werk breiten Raum einnimmt, veranlasst zu fragen, wie weit eine vorgeblich grundlegende Ebene von Anschauung und Wahrnehmung und zugehörigen vorsprachlichen Formen des Verhaltens von den vorgeblich späteren Vermögen der Erkenntnis und des Urteilens unabhängig ist. Und so hat Stekeler-Weithofer immer wieder die Frage bewegt, wie menschliche Anschauung einerseits ein Grund begrifflichen Denkens und doch andererseits in ihrem Wesen durch die spezifisch menschlichen und also vernünftigen Vermögen bestimmt sein kann. Das ist auch deshalb notwendig, da erst Klarheit in diesem Punkt das sinnkritische Philosophieren wirklich von den szientistischen und empiristischen Dogmen unabhängig machen kann, die es zurecht in Misskredit gebracht haben. Die genannte Frage greifen Moll, Tegtmeyer und Kern aus unterschiedlichen Richtungen auf. Sie schreiben alle der Anschauung und vorsprachlichen Formen des Verhaltens eine grundlegende Bedeutung für die Möglichkeit – und die Möglichkeit der Entwicklung – höherer menschlicher Vermögen zu, aber so, dass sie in diesen jedoch zugleich eine genuin menschliche Form des Verhaltens und der Sinnlichkeit sehen, die durch ihre innere Beziehung zum Vernunftvermögen bestimmt sind. Die versammelten Beiträge und ihre Autoren, das ist unsere Überzeugung, legen ein wirksames Zeugnis ab von der Tiefe und Weite sinnkritischen Philosophierens und damit von der Wirkung des Werks Stekeler-Weithofers, den sie mit diesem Band ehren wollen.

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Einleitung

Literatur Carnap, Rudolf (1932) „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, Erkenntnis 2, S. 219 – 241. Stekeler-Weithofer (2005) Philosophie des Selbstbewußtseins: Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Stekeler-Weithofer (1992) Hegels analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn: mentis. Strawson, Peter (1996) The Bounds of Sense, London: Routledge. Stroud, Barry (1981) Hume, London: Routledge. Zabeeh, Farhang (1960) Hume, Precursor of Modern Empiricism, M. Nijhoff: The Hague.

Teil 1: Gott und Sinn

Holm Tetens

Die Möglichkeit Gottes Ein religionsphilosophischer Versuch¹ Wie vernünftig ist es, religiös an Gott zu glauben? Das ist eine besonders wichtige Frage der Religionsphilosophie.² Lässt sich beweisen, dass Gott existiert, und

1 Die nachfolgenden Überlegungen sind ganz wesentlich provoziert durch das Buch über Sinn von Pirmin Stekeler-Weithofer (2011). Das Buch enthält kluge und bedenkenswerte Überlegungen zur Religion in Hülle und Fülle. Kritisch herausgefordert haben mich allerdings die schroffen Rügen, mit denen Stekeler-Weithofer den Erlösungsglauben ohne viel Federlesens in den Bereich eines vermeintlich kindlich naiven Wunschdenkens verweist. In einem Buch, das ansonsten so bemüht ist, der Religion gegen den philosophisch vorherrschenden Zeitgeist Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, verwundert ein solcher Umgang mit dem Erlösungsglauben ein wenig. Der ist nämlich alles andere als eine Marginalie des Christentums. Er bildet im Gegenteil sein Herzstück. Dieser Glaube an eine Erlösung verbindet sich im Christentum (und auch in den beiden anderen Offenbarungsreligionen des Judentums und des Islam) mit den weiteren Aussagen, dass wir Menschen uns nicht selbst erlösen können und dass wir nicht Gott sind (und den Versuch zu unterlassen haben, uns an Gottes Stelle zu setzen). Für die beiden Aussagen „Wir Menschen können uns nicht selbst erlösen“ und „Wir Menschen sind nicht Gott“ bringt StekelerWeithofer, so will mir scheinen, zu wenig wohlwollendes Verständnis auf. Den ersten Satz spielt er dadurch herunter, dass er Erlösung von vornherein nicht als ein sinnvolles Ziel in Betracht zieht. Angesichts der Übel und Leiden in der Welt, denen gegenüber wir uns machtlos zeigen, plädiert er ausschließlich für lebenskluge Gelassenheit. Das scheint ihm zu reichen (übrigens auch als Antwort auf das weiterhin vertrackte Theodizee-Problem). Da er die Rede von Gott als eine teils idealisierende, teils metaphorische Rede über erfahrungsimmanente menschliche Verhältnisse rekonstruiert, muss er den zweiten Satz, dass wir nicht Gott sind, auf jeden Fall metaphorisch verstehen. Denn von Gott zu reden heißt bei Stekeler-Weithofer immer, letzten Endes nur von uns zu reden. In den nachfolgenden Überlegungen versuche ich hingegen, die aufgeführten beiden Aussagen so stark wie möglich zu machen, jedenfalls so stark, dass sie als wörtlich gemeinte Aussagen zu deuten sind, so wie Christen sie gemeinhin verstehen. Das alles läuft auf ein Argument für die Vernünftigkeit des Erlösungsglaubens hinaus. Ich stehe natürlich erst einmal hinter diesem Argument, sonst würde ich es nicht vorbringen. Trotzdem habe ich weiterhin große Schwierigkeiten mit dem christlichen Erlösungsglauben. Das ist keine Inkohärenz. Religionsphilosophie, wie ich sie verstehe, leistet einen Beitrag zur vernünftigen Verständigung zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Da darf es unerheblich bleiben, auf welcher Seite der Philosophierende selber steht. Es ist ein Markenzeichen der Philosophie, dass in ihr ein (tendenzieller) Atheist (wie ich) den Gottesglauben verteidigen kann. Dass uns konsequentes Philosophieren unserer bequemen Scheuklappen und unserer unreflektierten Vorurteile beraubt, gleichgültig, zu welcher Auffassung man selber tendiert, dafür ist nicht nur das jüngste Buch „Sinn“ von Stekeler-Weithofer, sondern sein gesamtes

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Holm Tetens

welche Eigenschaften Gottes lassen sich beweisen? So hingegen fragt die „natürliche“ Theologie. Man sollte sie besser „rationale“ Theologie nennen. Der Gott der rationalen Theologie ist der metaphysische Gott der Philosophen.³ Ein religiöser Mensch glaubt nicht rein doxastisch an Gott, zuallererst hofft und vertraut er in seinem Leben auf Gott, er betet zu ihm, dankt ihm, lobt ihn. Philosophen tun das mit ihrem Gott nicht. Das ist nur konsequent. Denn man muss nicht auf etwas hoffen, dessen Existenz sich beweisen lässt, erst recht nicht, falls es sich a priori beweisen lässt. Auf etwas Beweisbares hat man sich schlicht nur einzustellen, im Positiven wie im Negativen. Es ist irrational, an Bewiesenes nicht zu glauben, und rational, es zu tun. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Somit würde sich mit einer positiven oder negativen Antwort auf die Frage der rationalen Theologie die religionsphilosophische Frage nach der Vernünftigkeit des religiösen Glaubens an Gott gleich mit beantworten lassen. Wer jedoch hofft, weiß um nicht mehr als eine Möglichkeit. Ein Hoffender vertraut in seinem Leben auf die Wirklichkeit einer solchen Möglichkeit.⁴ Die einschlägige Modalität rationaler Theologie und ihrer Gottesbeweise ist bis zum heutigen Tage hingegen die Notwendigkeit: Der Gott der Metaphysik existiert notwendigerweise und besitzt notwendigerweise bestimmte Eigenschaften. Schon an dieser Modalitätsdifferenz lässt sich ablesen, dass rationale Theologie und Religionsphilosophie nicht in eins fallen. Die nachfolgenden Überlegungen gehen dem Projekt rationaler Theologie bis auf einige eher skeptische Andeutungen nicht nach.⁵ Vielmehr versuche ich, ein komplexes Argument für die These zu skizzieren,wonach es jedenfalls keineswegs

Wirken als philosophischer Autor und Lehrer ein eindrückliches Beispiel. Von daher scheint mir der Versuch eines Gegenarguments gegen eine steile These von Stekeler-Weithofer ein angemessener Dank an diesen überaus anregenden und wichtigen philosophischen Kollegen und Freund zu sein. 2 Natürlich ist nicht jeder religiöse Glaube ein Glaube an Gott. Ich konzentriere mich hier auf die monotheistischen Religionen, für die sich die Fragen nach Gott und die Vernünftigkeit des Gottesglaubens in jedem Falle stellen. Wie die nachfolgenden Überlegungen unschwer verraten, habe ich jedoch vor allem das Christentum im Blick. Mit ihm bin ich einfach am besten vertraut. 3 Philosophiehistorisch und systematisch Erhellendes zum Gegensatzpaar „Gott der Philosophen/Gott des Glaubens“ bietet der Aufsatz von Cramer (1999). 4 Vgl. den trefflichen Titel „Die Wirklichkeit des Möglichen“ eines der religionsphilosophischen Bücher von Dalferth (2003). 5 Einen bemerkenswerten Versuch rationaler Theologie hat kürzlich Henning Tegtmeyer in seiner bisher unveröffentlichten Habilitationsschrift „Gott, Geist, Vernunft. Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie“ vorgelegt. Was rationale Theologie auf einem sehr hohen Niveau rationaler Argumentation sein kann, illustriert eindrucksvoll auch Hermanni (2011).

Die Möglichkeit Gottes

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unvernünftiger ist, in seinem Leben auf Gott zu hoffen und zu vertrauen, als es nicht zu tun. Religionsphilosophie ist etwas anderes als eine Apologetik religiösen Glaubens. Sie ist zum Beispiel keine „christliche“ Philosophie, wenn es so etwas überhaupt gibt. Religionsphilosophie dient in erster Linie dem verständigen Streitgespräch zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Den Gläubigen erinnert sie daran, dass eine Hoffnung vernünftig oder auch in höchstem Maße unvernünftig sein kann. Religiöser Glaube kann gute Gründe nicht entbehren. Um solche Gründe bemüht sich die Religionsphilosophie. Geht sie solchen Gründen nach, wird die Religionsphilosophie dem Nicht-Gläubigen zumindest eine klare Idee davon vermitteln können,worauf der Gläubige eigentlich hofft,vertraut dieser auf Gott. Sodann könnte sie den Nicht-Gläubigen erkennen lassen, warum er zwar weiterhin bei seinem Nicht-Glauben bleibt, während der Gläubige sein Leben auf eine Möglichkeit hin wagt, für die trotzdem Gründe sprechen, die der NichtGläubige selber keineswegs restlos überzeugend entkräften kann. Nun ist die Dialektik religionsphilosophischer Überlegungen an sich symmetrisch. Es kann auch der Gläubige sein, dem die Religionsphilosophie zu der Einsicht verhilft, dass der Nicht-Gläubige in einer Perspektive lebt, die der Gläubige für sein eigenes Leben zwar ausschließt, für die sich jedoch Gründe ins Treffen führen lassen, die auch ein Gläubiger nicht zu widerlegen vermag. Allerdings leben wir schon seit längerem in einer kulturellen Situation⁶, in der die Gläubigen die Legitimität, nicht an Gott zu glauben, in aller Regel zugestehen, ja zugestehen müssen, während sehr viele Nicht-Gläubige den Gottesglauben schlicht für so irrational erachten, dass sie auf ihn keinen Gedanken verschwenden mögen. In der gegenwärtigen kulturellen Situation sagt die Religionsphilosophie somit dem Gläubigen vielleicht nicht viel Neues. Spannender dürfte sie für die vielen „Verächter“ des Glaubens sein. Natürlich kann und will Religionsphilosophie niemanden bekehren. Bekehrung ist niemals das Geschäft seriöser Philosophie. Trotzdem kann ein religionsphilosophisches Argument zum Stachel im Fleisch des Nicht-Gläubigen werden. Den kann sich der Nicht-Gläubige selber setzen, einfach indem er gründlich religionsphilosophisch nachdenkt. Wir werden sehen.

6 Zur philosophischen Aufklärung über unsere kulturelle Situation in religiöser Hinsicht trägt Stekeler-Weithofer (2011) ungemein Erhellendes bei. Im Mittelpunkt steht dabei, wie ein Naturalismus, den viele Philosophen heutzutage für so selbstverständlich halten, dass sie ihn noch nicht einmal mehr angemessen philosophisch reflektieren, sich völlig blind macht für das Vernünftige und Berechtigte am religiösen Glauben. Der philosophisch unreflektierte Naturalismus kann dem religiösen Glauben nur ein dogmatisches „Nein“ entgegensetzen.

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Holm Tetens

1 Kants Vernunftglaube an Gott Das Argument, das ich entwickeln möchte, orientiert sich an einer zentralen Überlegung Kants. Es wird oft wenig gewürdigt, wie sorgfältig und überlegt Kant die Frage aufnimmt, was wir hoffen dürfen. Er versucht, sie genauso sorgfältig zu beantworten wie die beiden Fragen danach, was wir wissen können und was wir tun sollen. Nach Kant sollen wir hoffen, dass der moralisch Glückswürdige am Ende auch glückselig wird. Das ist, recht besehen, nichts anderes als die Hoffnung, dass die Übel und Leiden nicht obsiegen werden, und insofern handelt es sich um eine Erlösungshoffnung.⁷ Nur Gott kann sie erfüllen. Das sieht Kant nicht anders als die christliche Tradition, von der er sich in dieser Hinsicht nicht distanziert. Und deshalb sind wir, wenn wir uns nur ernsthaft als moralische Personen begreifen, nach Kant verpflichtet, auf Gott als Urheber der Natur und als Erlöser zu hoffen. Kants Argument möchte ich in folgender Weise zusammenfassen: Reine praktische Vernunft hat prima facie keine guten Gründe, das höchste Gut nicht zu wollen.⁸ Das höchste Gut bedeutet: Indem man alle seine moralischen Pflichten erfüllen will und auch tatsächlich erfüllt,wird man des Glücks würdig und ist dann auch tatsächlich glücklich. Von Natur aus harmoniert der moralische Wille kei-

7 Der Glückswürdige ist glückselig, das heißt: Derjenige, der das moralisch Gebotene will und ohne Wenn und Aber tut, ist von physischen und moralischen Übeln nicht mehr betroffen und muss daher nicht mehr leiden. Das soll für alle Glückswürdigen gelten. Insofern denkt Kant unter dem Titel „das höchste Gut“ eine Welt, in der für die Glückswürdigen alles Leiden und alle Übel verschwunden sind. In dieser Welt sind die Glückswürdigen erlöst. Letztlich schränkt das Christentum die Erlösung nicht auf die Glückswürdigen ein. Unter anderem auf die Aufhebung dieser Einschränkung läuft ja die paulinische Rechtfertigungslehre hinaus. Aber das ist für unseren Zusammenhang jetzt nicht weiter wichtig und zu diskutieren. Wichtig ist allein, dass Kant wie das Christentum Erlösung selbstverständlich durch Abwesenheit von Leiden und Übeln bestimmt und dass Kant mit dem Christentum darin einig ist, dass sich Menschen, ja noch nicht einmal die Glückswürdigen am Ende selbst erlösen können und auch nicht von Natur aus erlöst werden, sondern allein durch Gottes Hilfe. 8 Bei dieser ersten Prämisse lässt uns Kant leider ein wenig im Stich. Er schwankt zwischen verschieden starken Formulierungen. Nach der stärksten Formulierung ist es ein Gebot der reinen praktischen Vernunft, das höchste Gut zu wollen. So äußert sich Kant meines Erachtens vor allem in der „Kritik der praktischen Vernunft“, etwa wenn er dort schreibt: „Das Bewirken des höchsten Guts in der Welt ist das notwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ (Kant 2003, A 219). An anderen Stellen sind seine Formulierungen vorsichtiger. Ich wähle hier schon mit Blick auf das eigene, von mir vertretene Argument eine vergleichsweise schwache Formulierung, die aber immer auch noch von Kant unterschrieben werden könnte und die zusammen mit den übrigen Formulierungen zumindest die gewünschte Konklusion liefert.

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neswegs immer mit den natürlichen Bedürfnissen, Neigungen und Interessen, und auch der Mensch kann diese Harmonie nicht herbeiführen. Dies ist allein Gott vorbehalten, insofern dessen heiliger Wille, unfehlbarer Verstand und unendlich vollkommene Vernunft letzter Grund der Natur sind. Diese Annahme, dass die Natur letztlich in Gott gründet, kann nicht definitiv widerlegt werden, auch nicht durch die Wissenschaften. Deren Wissen ist auf die Welt der Erscheinungen begrenzt. Es ist vernünftig, auf etwas zu hoffen, falls Vernunft das Erhoffte nicht nicht wollen kann, vorausgesetzt, es kann nicht definitiv als unmöglich erwiesen werden. Also ist es vernünftig, darauf zu hoffen, dass Gottes heiliger Wille, unfehlbarer Verstand und vollkommene Vernunft letzter Grund der Natur sind.⁹ Wenn ich es richtig sehe, stand Kants Argument noch nie in hohem Ansehen unter Philosophen. Schmeckt es nicht allzu sehr nach Wunschdenken?¹⁰ Natürlich, Wunschdenken ist zu kritisieren. Doch mir will scheinen, dass Kants Argument besser und stärker ist, als sein schlechter Ruf unter Philosophen vermuten lässt, und dass insbesondere Kant nicht Wunschdenken vorzuwerfen ist. Ich werde freilich diesen Vorwurf nicht direkt für Kants Argument entkräften. Denn Kants

9 Einschlägig für unseren Kontext ist auch Kants Vernunftglaube an die Unsterblichkeit der Seele. Hier das Argument in einer Lesart, wo die erste Prämisse stärker formuliert ist als in meiner Darstellung des Arguments für den Vernunftglauben an Gott. 1. Prämisse: Es ist ein Gebot der praktischen Vernunft, das höchste Gut zu wollen. 2. Prämisse: Das höchste Gut zu wollen, heißt, nur das zu wollen, was reine praktische Vernunft zu wollen gebietet, mithin einen heiligen Willen zu haben. 3. Schlussprinzip: Wenn reine praktische Vernunft X zu wollen gebietet, X zu wollen aber notwendigerweise einschließt, Y zu wollen, so ist es ein Gebot der reinen praktischen Vernunft, Y zu wollen. 4. Folgerung: Also ist es ein Gebot der praktischen Vernunft, einen heiligen Willen haben zu wollen. 5. Prämisse: Heiligkeit des Willens ist nicht in der empirischen Welt möglich, sondern nur, wenn man sich der Heiligkeit des Willens über das empirische Dasein hinaus in einer zukünftigen nicht-empirischen Form des Daseins immer weiter annähert. 6. Schlussprinzip des Vernunftglaubens: Wenn X moralisch aus einsehbaren Gründen geboten und Y eine notwendige Bedingung ist, damit X sinnvoll getan werden kann, dann ist es vernünftig, darauf zu hoffen, dass Y auch tatsächlich der Fall ist, es sei denn, mit Gründen, die von der normativen Begründung für X unabhängig sind, kann Y definitiv als unmöglich bewiesen werden. 7. Prämisse: Die Annahme, dass jede Person ihr empirisches Dasein in einer nicht-empirischen Welt fortsetzt, die Seele also unsterblich ist, kann nicht widerlegt werden, auch nicht durch die Wissenschaften, deren Wissen auf die Welt der Erscheinungen begrenzt ist. 8. Konklusion: Also ist es vernünftig, auf die Unsterblichkeit der Seele zu hoffen. 10 Man nehme eine Formulierung von Kant wie die folgende: „… zugestanden, dass das reine moralische Gesetz jedermann, als Gebot (nicht als Klugheitsregel) unnachlaßlich verbinde, darf der Rechtschaffende wohl sagen: ich will, dass ein Gott, dass mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch dass meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen.“ (Kant 2003, A 258).

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Argument dient mir nur in wesentlichen seiner Grundzüge zum Vorbild für ein ähnliches Argument, das ich systematisch zu verteidigen versuche. Ausschließlich im Zusammenhang mit diesem Argument werde ich das Wunschdenken als Standardeinwand gegen einen religiösen Erlösungsglauben thematisieren. Kant präsentiert ein Argument, das in mehreren Hinsichten stark ist. Ich werde sie nacheinander in den nachfolgenden Abschnitten für mein Argument aufgreifen. Überzeugend und angemessen ist zunächst einmal, dass Gott bei Kant kein Gegenstand metaphysischer Existenzbeweise ist, sondern Gegenstand einer Hoffnung. Kants Argument zielt auf eine Möglichkeit, nicht auf etwas, das sich als etwas Notwendiges erweisen ließe, und sie zielt auf eine lebenstragende Möglichkeit, die Kant selber als das Zusammenfallen von Moralität und Glückseligkeit des Menschen bestimmt. Der Ausdruck „Gott“ in Kants Argument bezeichnet eine erfahrungstranszendente Macht, ohne die Glückseligkeit für den „moralisch Glückswürdigen“ zufällig bleibt.¹¹ Mit dieser Rede von „Gott“ ist Kant ganz nahe beim Gott des religiösen Glaubens, so nahe, dass man im Grunde genommen nur noch den Begriff „Harmonie von Moralität und Glückseligkeit“ bzw. „höchstes Gut“ durch den Begriff „Erlösung von den Übeln und Leiden in der Welt“ ersetzen muss und kann.¹² Ich will mein Argument mit dieser Ersetzung beginnen lassen.

2 Der Beginn einer religionsphilosophischen Rede von „Gott“ Unübersehbar sind die zahlreichen Leiden und Übel, die in jedem Augenblick in der Welt anzutreffen sind. Jeder von uns ist in diese Leiden und Übel in der Welt verstrickt, und wir sind es als Opfer und Täter. Deshalb bedarf jeder Mensch immer wieder des Trostes, vor allem aber bedarf er immer wieder der Vergebung. Freilich, es liegt weder in der Macht eines einzelnen Menschen noch in der Macht des Menschheitskollektivs, die Leiden und Übel jemals endgültig aus der Welt zu schaffen. Erlösen können wir uns selber nicht. Gleichwohl sind das menschliche Leben und die Welt an sich erlösungsbedürftig. Das vermag jeder mit einiger-

11 Ich hatte das ursprünglich unspezifischer als Unmöglichkeit formuliert. Auf die Kontingenz der Glückseligkeit des Glückswürdigen abzuheben, ist sicher dichter an Kants Überlegung. Diesen Hinweis verdanke ich Sebastian Rödl. 12 Siehe erneut Fußnote 7.

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maßen offenem und sensiblem Blick zu erkennen und anzuerkennen, auch jeder „religiös Unmusikalische“.¹³ Menschen sind schon immer sehr unterschiedlich mit dieser grundlegenden Conditio humana umgegangen. Unter diesen höchst unterschiedlichen Antwortversuchen spielt die Hoffnung auf eine endgültige Überwindung der Leiden und der Übel in der Welt eine sehr prominente Rolle, und zwar bis zum heutigen Tag. Diese Hoffnung steht im Zentrum aller Hochreligionen. Deren zentrale Botschaft lässt sich daher, so scheint mir, in dem einen Satz zusammenfassen: Die Übel und das Leiden in der Welt sind nicht das letzte Wort in der Sache.¹⁴ Wer auf eine endgültige Erlösung von den Übeln und Leiden dieser Welt hofft und zugleich weiß, dass wir uns nicht selbst werden erlösen können, der hofft auf eine Macht, die nicht die Macht von Menschen ist. Diese Macht wurde schon immer „Gott“ genannt. So lässt sich das Wort „Gott“ überhaupt einführen: „Gott“ heiße die Macht, deren Wirklichkeit jemand konsequenterweise unterstellen muss, der auf eine endgültige Erlösung von den Leiden und Übeln hofft. In einem ersten Schritt so von Gott zu reden, ist für die religionsphilosophische Frage nach der Vernünftigkeit des religiösen Gottesglaubens angemessen und vorteilhaft. Man greift den, in meinen Augen, zentralen Kontext religiöser Rede von „Gott“ (Gott als erlösende Wirklichkeit) auf. Zugleich gefährdet man nicht von vornherein die Verständigung zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Denn jemand muss nicht religiös sein und kann trotzdem die vorgeschlagene Einführung des Wortes „Gott“ nachvollziehen.¹⁵ Er weiß, wovon die Rede ist, wenn von „Gott“ die Rede ist. Er kann und sollte daher jemanden, der in der beschriebenen Weise von Gott redet, auch nicht entgegenhalten, er wisse gar nicht,

13 An dieser Stelle begnüge ich mich mit einer Andeutung dieser grundlegenden Conditio humana. Hierzu wäre eigentlich sehr viel mehr zu sagen. Eine ausführliche Darlegung unserer unaufhebbaren Verstrickung als Opfer und Täter in die Leiden und Übel der Welt liefe auf nichts anderes als eine Rekonstruktion biblischer Rede von der Sünde hinaus. Etwas ausführlicher zu dieser Problematik äußere ich mich in Tetens (2010); kluge Überlegungen zum Sündenbegriff finden sich in Rentsch (2011). 14 Für das Christentum scheint mir diese Feststellung in besonderer Weise gültig zu sein. Sie ist eine Erlösungsreligion par excellence. Diese Beurteilung des Christentums durch theologische und religionsphilosophische Literatur zu belegen, ist überflüssig, denn dieser Befund wird von keinem christlichen Theologen und von keinem Religionsphilosophen im Ernst bestritten. Eine auch philosophisch sehr aufschlussreiche und anregende Auseinandersetzung mit dem Christentum, die die Erlösung von den Übeln und Leiden in den Mittelpunkt stellt, findet sich in Berger (2006). 15 Genauso wie ein Physiker den Ausdruck „Perpetuum mobile erster Art“ versteht, wenn definiert wird: Ein Perpetuum mobile erster Art ist ein physikalisches System, das mehr Energie erzeugt, als es selber verbraucht. Physiker bestreiten nur, dass es solche Systeme gibt.

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was jener mit dem Wort „Gott“ meine. Er kann ihm freilich entgegenhalten, er glaube nicht an Gottes Existenz, weil er Erlösung als unmöglich betrachte und deshalb auch eine erlösende Macht. Schließlich verführt die obige Einführung des Wortes „Gott“ nicht dazu, bereits aus der bloßen Bedeutung des Ausdrucks „Gott“ irgendwie auf die notwendige Existenz des so Bezeichneten (oder auch auf dessen Nicht-Existenz) zu schließen. Der Streit um die Vernünftigkeit des religiösen Glaubens an Gott lässt sich niemals durch Definitionen beilegen.¹⁶ Unsere religionsphilosophische Ausgangsfrage darf und muss man jetzt freilich erst einmal ohne den Ausdruck „Gott“ formulieren: Wie vernünftig ist es, auf eine endgültige Überwindung von den Übeln und Leiden in der Welt zu hoffen? Das ist keine nebensächliche Frage, es ist eine Frage, die uns „unbedingt angeht“, um mit Paul Tillich zu sprechen. Und insofern ist es eine Frage, auf die so oder so Gläubige wie Nicht-Gläubige antworten, wenn auch nicht immer explizit.

3 Die „frohe Botschaft“ des Naturalismus Eine Hoffnung kann vernünftig oder gänzlich unvernünftig sein, und eine Hoffnung kann vernünftiger als eine andere sein.Wie steht es in dieser Hinsicht um die Erlösungshoffnung? Ohne Abstriche unvernünftig wäre die Hoffnung auf Erlösung, ließe sich beweisen, dass keine erfahrungstranszendente Macht die Übel und Leiden in der Welt beseitigen kann, schlicht deshalb, weil es nur die Erfahrungswirklichkeit gibt. Genau das behauptet der Naturalismus. Der Naturalismus identifiziert die Wirklichkeit mit der Erfahrungswelt, wie sie durch die Erfahrungswissenschaften beschrieben wird und oder jedenfalls prinzipiell beschrieben werden kann.¹⁷

16 Diese Bemerkung zur dialektischen Situation zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen berührt natürlich das überaus komplexe Problemfeld um Sinn oder Unsinn des ontologischen Gottesbeweises. 17 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wenn hier von „Naturalismus“ gesprochen wird, ist nicht nur ein harter reduktionistischer Physikalismus gemeint, sondern auch viel weichere Lesarten, die etwa eine Reduktion von Aussagen über Seelisches und Geistiges auf Aussagen über Physisches für unmöglich halten. Solange eine Deutung der Welt im Ganzen und der Stellung des Menschen in ihr daran festhält, dass es allein die Erfahrungswelt gibt, wie sie durch die Wissenschaften beschrieben werden, handelt es sich um Naturalismus. Zu der Frage, warum man trotzdem sinnvollerweise auch bei nichtreduktionistischen Varianten von Naturalismus reden kann (vgl. Tetens 2000).

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Warum schließt der Naturalismus eine endgültige Erlösung von den Leiden und Übeln in der Welt aus?¹⁸ Man schaue sich nur einmal zentrale Auskünfte der Wissenschaften über die Stellung des Menschen in der Welt an. Danach war es höchst unwahrscheinlich, dass wir Menschen überhaupt eines Tages im Universum auftreten würden. Der Mensch ist nicht nur „5 Minuten vor Zwölf“ erst im Universum erschienen, er wird nach allem, was die Wissenschaften über das Universum wissen, auch nach einer kosmisch kurzen Zeit wieder aus dem Universum verschwunden sein. Der Mensch ist als Individuum wie als Gattung eine vorübergehende, randständige, zufällige Erscheinung in einem an sich fast vollständig lebensfeindlichen Universum. Jederzeit kann ein Mensch durch Zufälle wie einen Unfall, eine Stoffwechselerkrankung, ein übermäßiges Zellwachstum usw. aufhören, ein selbstbewusstes, erlebnisfähiges Ich zu sein, und vegetiert dann nur für eine gewisse Zeit als ein Stück immer noch hochorganisierter Materie vor uns hin. Und irgendwann tritt für jedes Individuum unwiderruflich der Hirntod und damit sein Ende als individuelle selbstbewusste Person ein. Nichts, rein gar nichts von dem, was uns an uns selber lieb und teuer ist, lässt sich über die unvermeidliche Auflösung unseres Organismus hinüberretten. Nach der Auskunft der Wissenschaften sind wir Menschen vermutlich die einzigen Wesen im Universum, die in der Lage sind, etwas vom Schönen, Erhabenen des Universums ebenso zu erkennen wie auch von dem Sinnlosen, Hässlichen, Bösen, das in ihm anzutreffen ist. Wenn wir eines Tages als Menschheit nicht mehr existieren werden, dann wird alles in der Welt von niemandem mehr erlebt und erkannt, dann wird alles, was Menschen im Guten wie im Bösen erlebt haben,vergessen sein, als ob sich das alles niemals ereignet hätte. Unentdeckt und von niemanden gewürdigt „wabert“ nur noch tote Materie ewig vor sich hin. Der Naturalismus hält noch eine besondere moralische Zumutung bereit: Von all denjenigen Menschen, die in ihrem Leben von unsäglichen Übeln und unsäglichem Leid heimgesucht wurden, müssen wir im Lichte des Naturalismus sagen, dass sie leider Pech gehabt haben, ohne dass sich daran noch etwas ändern und es sich nachträglich noch wieder gut machen ließe. Naturalisten können von

18 Es ist ein sehr wichtiger Aspekt unserer gegenwärtigen kulturellen Situation, dass der Naturalismus zwar die Weltanschauung sehr vieler Menschen ist, dass aber nur die wenigsten die Konsequenzen des Naturalismus für die Stellung des Menschen im Ganzen des Universums zu Ende denken. Vielleicht deshalb, weil diese Konsequenzen doch sehr deprimierend sind? Zwei Philosophen, die überzeugte Naturalisten sind und trotzdem die anthropologisch düsteren Aussichten des Naturalismus nicht herunterspielen oder schönreden, sind Wetz (1994) und Kanitscheider (1995).

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Glück sagen, dass ihnen erspart bleibt, so etwas den unzähligen Opfern in der Geschichte der Menschheit direkt ins Gesicht sagen zu müssen. Die Botschaft der Wissenschaften über die Welt im Ganzen und die Stellung des Menschen in ihr kann niemanden befriedigen. Sehr viele finden das wissenschaftliche Weltbild großartig, und als intellektuelle Leistung und in manchen inhaltlichen Aspekten ist es das auch. Trotzdem werden mit schöner Regelmäßigkeit wesentliche, aber für uns eigentlich inakzeptable Inhalte ausgeblendet. Mir scheint das nichts als Selbstbetrug zu sein. Er lässt sich durch ein Gedankenexperiment sofort aufdecken. Wenn die Auskünfte der Wissenschaften über das Universum im Ganzen und die Stellung des Menschen in ihm wirklich und durchgängig akzeptabel, ja sogar zu begrüßen wären, dann müsste jemand sagen können: „Ja, es ist nicht weiter schlimm, sondern es ist letztlich gut so, dass nichts und niemand in diesem an sich weitgehend lebensfeindlichen Universum uns Menschen will, dass wir Menschen nur zufällig und ohne Sinn und Absicht im Universum entstanden sind, dass wir eines Tages aus diesem Universum wieder verschwunden sein werden. Sicher, es ist bedauerliches Pech, wie unsäglich viele Menschen in ihrem Leben leiden müssen; aber es ist doch am Ende gut, dass wegen des großen Vergessens, in das das Universum zur Gänze versinken wird, diese Leiden eines Tages so gleichgültig geworden sein werden, als ob sie nie geschehen wären. Auch wenn es an sich nicht gut ist, dass immer wieder Menschen für das unvorstellbare Leid, dass sie anderen Menschen antun, nie zur Rechenschaft gezogen werden, so ist es doch wenigstens gut, dass ihre bösen und verwerflichen Taten eines Tages ungesühnt vergessen sein werden.“ Nein, niemand, der noch ganz bei Trost ist, wird so etwas im Ernst sagen. Aus der Sicht des Naturalismus sind die Übel und das Leiden in der Welt nur in dem Sinne nicht das letzte Wort in der Sache, als leidensfähige Menschen, die Übel als Übel erfahren können, eines Tages erinnerungs- und spurlos aus dem Universum verschwunden sein werden.¹⁹

19 Der Naturalismus ist so etwas wie die offizielle Weltanschauung der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation. Die basiert meines Erachtens auf zwei fundamentalen Prinzipien: 1. Die Annahme vom exklusiven Zugang der Wissenschaften zur Wirklichkeit: Es sind die Wissenschaften und nur die Wissenschaften, die uns die Wirklichkeit immer besser erkennen und verstehen lassen. Demgegenüber verfehlen magische, mythische, religiöse und metaphysisch-philosophische Weltzugänge, wie sie auch in der Kulturgeschichte aufgetreten sind, die eigentliche Realität. 2. Das Weltperfektionierungspostulat: Indem wir die Ergebnisse wissenschaftlicher Welterkenntnis technologisch anwenden und unter Bedingungen kapitalistischer Produktion von Waren und Dienstleistungen ökonomisch nutzen, schaffen wir eine immer bessere Welt, in der immer mehr Übel und Leiden aus ihr verschwinden. Das zweite Prinzip deutet darauf hin, dass auch die säkularisierte Moderne nicht ganz ohne Erlösungsvorstellungen auskommt, nur dass die Moderne ein gigantisches

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4 Ist die Erlösungshoffnung nichts als Wunschdenken? Befriedigend, um es wirklich sehr zurückhaltend auszudrücken, sind die Auskünfte des Naturalismus über die Welt im Ganzen und unsere Stellung in ihr nicht. Aber wenn der Naturalismus wahr ist, werden wir ihn wohl oder übel akzeptieren müssen. Allein, ist der Naturalismus wahr? Gerne wird behauptet, für den Naturalismus spräche sehr viel, für seine Negation so gut wie nichts. Aber was ist es denn, was für den Naturalismus spricht und gegen Positionen, die ihn negieren? Hartnäckig hält man dem Naturalismus immer wieder ein erkenntnistheoretisches Plus zugute: Die Erfahrungswelt kennen wir mehr oder weniger, von einer erfahrungstranszendenten Wirklichkeit wissen wir gar nichts. Aus diesem nicht ganz falschen Hinweis wird freilich erst dann ein Argument, wenn man zugleich behauptet, die einzelwissenschaftlichen Erfahrungen kumulierten zu einer immer besseren Bestätigung des Naturalismus. Davon jedoch kann keine Rede sein. Jedes einzelwissenschaftliche Resultat beweist nur: Es gibt die Erfahrungswirklichkeit, in der unter anderem das jeweils angeführte Resultat vermutlich²⁰ der Fall ist. Dass es eine Erfahrungswirklichkeit gibt und wir sehr viel von ihr wissen, wer bezweifelt das? Die These des Naturalismus ist das nicht. Der Naturalismus behauptet, dass es nichts anderes als die Erfahrungswirklichkeit gebe. Ersichtlich kann man jedoch mit den Methoden der Erfahrungswissenschaften nicht beweisen, dass es nichts gibt, was sich nicht mit den methodischen Mitteln der Erfahrungswissenschaften erkennen lässt. Natürlich, erst recht nicht lässt sich der Naturalismus durch einzelwissenschaftliche Resultate widerlegen. Das ist erkenntnistheoretisch vollends trivial. Zugegeben, der Naturalismus könnte wahr sein. Und insbesondere ist er nicht schon deshalb falsch, weil seine Auskünfte über die Übel und Leiden in der Welt deprimierend sind. Es wäre wirklich Wunschdenken, in dieser Weise nach der

Selbsterlösungsprogramm ins Werk setzen will. Das entspricht natürlich den Überlegungen im Abschnitt 5 „Erlösungshoffnung und vernünftige Autonomie“, wonach die Hoffnung auf eine immer besser werdende Welt konstitutiv ist, um sich überhaupt als vernünftige Person verstehen zu können. Es ist ein reizvolles religions- und technikphilosophisches Projekt, die Moderne einmal unter dem Gesichtspunkt kritisch zu beleuchten, dass die Moderne, um Nietzsche zu zitieren, „Gott getötet hat“, um nun in Wissenschaft und Technik selber Gott zu spielen. Der Erlösungsgedanke ist der aufgeklärten Moderne jedenfalls wesentlich weniger fremd, als die weit verbreiteten Polemiken gegen religiöse Erlösungshoffnungen Glauben machen, und das sowohl wegen, als auch trotz der existenziell schockierenden Inhalte des wissenschaftlichen Weltbildes. 20 Vermutlich deshalb, weil Erfahrungsurteile ja prinzipiell revidierbar sind.

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Maxime zu argumentieren, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber auch nur in diesem Falle wäre allein der Wunsch Vater des Gedankens. Denn den Naturalismus deshalb oder gar allein deshalb für wahr zu halten, weil seine Falschheit eine hoffnungsvollere Perspektive auf die Übel und Leiden in der Welt zumindest nicht völlig aussichtslos erscheinen lässt, ist nur die ebenso inakzeptable pessimistische Kehrseite eines optimistischen Wunschdenkens.²¹ Wo kämen wir hin, hielten wir das Gute und Schöne per se für unmöglich? Der Naturalismus beinhaltet also keine erfahrungswissenschaftliche Tatsache, sondern eine philosophische Auskunft über die Wirklichkeit im Ganzen und die Stellung des Menschen in ihr. In diesem Sinne ist der Naturalismus eine metaphysische Position. Als Metaphysik konkurriert er mit anderen metaphysischen Weltauffassungen und muss sich dem Wettbewerb von Gründen und Gegengründen stellen, die sich allein für oder gegen eine metaphysische Deutung der Wirklichkeit ins Feld führen lassen. Einzelwissenschaftliche Resultate zählen nicht zu diesen Gründen. Die metaphysischen Debatten für und wider den Naturalismus können und müssen wir jetzt nicht aufrollen. Für unsere weiteren Überlegungen ziehen wir aus dem Streit der Philosophen das Fazit, dass der Naturalismus weder definitiv bewiesen, noch definitiv widerlegt werden kann.²² Doch wenn insbesondere gewöhnliche oder wissenschaftliche Erfahrungen nicht entscheiden können, ob der Naturalismus wahr ist, bleibt er für unser Leben dann nicht folgenlos? Sollte man sich deshalb nicht agnostisch zu ihm einstellen? Lassen sich die Übel und Leiden in der Welt endgültig überwinden oder nicht? Es soll für unser Leben keinen Unterschied ums Ganze machen, ob wir diese Frage bejahen oder verneinen? „Aber doch nicht für unser Leben in dieser Erfahrungswelt“, mag man einwenden.Warum diese Einschränkung auf unser Leben in den „Grenzen der Erfahrungswelt“? Weil es ein anderes Leben oder eine solche andere Dimension unseres Lebens nicht gibt? Nun, dann hat man sich auf die Seite des Naturalismus geschlagen und hat die Möglichkeit einer endgültigen Erlösung

21 Tugendhat (2007) argumentiert allen Ernstes auf diese Weise. In Tugendhat (2007a) wendet er diese fragwürdige Überlegung mit Verve gegen die Religionen und deren Erlösungshoffnungen. Tugendhats Überlegungen werden klug kritisiert von Olaf Müller (2009). 22 Dass der Naturalismus enorme Probleme hat, dass er insbesondere bis zum heutigen Tage keine überzeugende Antwort auf das Körper-Geist-Problem zu geben vermag, soll hier nicht im Geringsten bestritten werden. Aber diese Schwierigkeiten widerlegen den Naturalismus nicht. Es würde zu weit führen, das hier im Detail auszuführen, weil es uns in die grundsätzliche metaphilosophische Problematik führen würde, wie mit philosophischen Weltanschauungen wie dem Idealismus, dem Materialismus und dem Dualismus umzugehen ist (vgl. Tetens 2010a).

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bereits definitiv verneint. Der Naturalismus muss die endgültige Überwindung der Übel und Leiden verneinen, das ist eine seiner wichtigen Konsequenzen. Die These vom erfahrungstranszendenten Erlösergott bejaht sie. Beide Antworten haben je verschiedene Konsequenzen für unser Leben. Im Falle der theistischen Antwort sind es Konsequenzen für ein Leben, das nicht mit unserem Leben in der Erfahrungswelt zusammenfällt. Aber ist das ein Einwand? Nur, wenn der Naturalismus definitiv wahr wäre. Doch bewiesen ist der Naturalismus nicht, es ist nur möglich, dass er wahr ist. Mehr wissen wir nicht. Trotz allem, ist es am Ende nicht vernünftiger, uns in unserem Leben darauf einzustellen, dass uns nichts und niemand erlösen wird?²³ Diese Frage zieht, wie wir gesehen haben, die Frage nach sich: Ist es nicht vernünftiger, mit der naturalistischen Weltsicht zu leben, statt auf eine nicht-naturalistische zu bauen?

5 Erlösungshoffnung und vernünftige Autonomie Kants Argument für einen Vernunftglauben an Gott ist um folgende Überlegung zentriert: Auf einen Sachverhalt, ohne den wir uns schwerlich als autonome

23 Pirmin Stekeler-Weithofer kritisiert den Erlösungsglauben und lobt die Gelassenheit. Wer eine endgültige Überwindung der Übel und Leiden für unmöglich hält, aus was für Gründen auch immer, mag für Gelassenheit plädieren. Allerdings vermag ich nicht nachzuvollziehen, wie man Gelassenheit Menschen empfehlen könnte, deren Leben durch natürliche Übel oder durch moralische Übel so zerstört wird, dass nur der Tod sie daraus „erlösen“ kann. Konfrontiert mit den zum Teil unvorstellbaren und massenhaften Leiden und Übeln in der Welt scheint mir Ratlosigkeit, Entsetzen und Fassungslosigkeit erst einmal eine mindestens ebenso angemessene Haltung zu sein. Natürlich, es ist richtig, dass es niemanden nützt, wenn man angesichts der Leiden und des Bösen in der Welt den Kopf verliert. Helfen kann nur, wer trotz allem eine gewisse Ruhe bewahrt, umsichtig und klug zu Werke geht und unterscheidet, wo er helfen kann und wo er mit seinem Latein am Ende ist. Man darf das Gelassenheit nennen. Und wie gesagt, lassen sich die Übel und Leiden in der Welt tatsächlich nicht endgültig überwinden, mag man denjenigen, die bisher halbwegs glimpflich davongekommen sind, Gelassenheit anempfehlen. Trotzdem ändert das nichts daran, dass Gelassenheit nur dann eine Alternative zur Erlösungshoffnung ist, wenn schon entschieden ist, dass die Erlösungshoffnung auf etwas Unmögliches setzt oder sonst wie unvernünftig ist. Umgekehrt schließt Erlösungshoffnung ja Gelassenheit nicht aus, sondern ein, es sei denn, man verwechselt eine echte Erlösungshoffnung mit einer Karikatur des christlichen Glaubens, nämlich einem Quietismus, der einfach nur auf das Eingreifen höherer Mächte wartet. Eine überzeugende Haltung im Leben, die die Erlösungshoffnung vollständig verwirft, hat meines Erachtens in beeindruckender Weise Weischedel (1976) philosophisch auf den Begriff gebracht. Weischedels Überlegungen zeigen, dass Gelassenheit zwar ein genuiner Bestandteil einer Lebenshaltung ohne Erlösungshoffnung ist, aber angesichts der Übel und Leiden eingebettet sein muss in noch ganz andere Haltungen.

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Vernunftwesen begreifen und ernst nehmen können²⁴, dürfen wir hoffen, es sei denn, wir können definitiv wissen, dass der Sachverhalt nicht besteht oder bestehen kann. Für die Frage, wie vernünftig oder unvernünftig die Erlösungshoffnung ist, werde ich ähnlich wie Kant argumentieren. Erneut beginnen wir mit einem weiteren fundamentalen Strukturmerkmal des menschlichen Lebens. Wir müssen handeln. Das ist ebenso gewiss wie die Tatsache, dass Menschen das Allerwenigste von dem, was sie zum Leben, gar zu einem guten Leben benötigen, durch individuelles oder kooperatives Handeln mit anderen herbeizwingen und garantieren können. Selbst das Handeln, individuelles wie kollektives, gelingt nur, wenn eine nicht zu überschauende Fülle von Bedingungen erfüllt ist. Diese Bedingungen ihrerseits lassen sich prinzipiell oder jedenfalls im Augenblick des Handelns nicht durch weiteres Handeln sicherstellen. Die allermeisten kennen wir noch nicht einmal genau und vermögen nicht, sie vorherzusehen. So müssen wir in unserem Handeln und Leben vielfältige Bedingungen des Gelingens in Anspruch nehmen, obwohl wir über sie handelnd oder erkennend nicht im Geringsten verfügen. Trotzdem handeln wir und versuchen, unser Leben vernünftig zu gestalten. Dadurch tun wir kund, wie sehr wir darauf hoffen und vertrauen, dass die unzähligen Bedingungen des Gelingens, obwohl unverfügbar, gleichwohl realisiert sind. Das Vertrauen und Hoffen auf unverfügbare Bedingungen des Gelingens ist eine Bedingung der Möglichkeit vernünftigen Handelns und einer vernünftigen Gestaltung des eigenen Lebens.²⁵ Wo wir auf ein Gelingen hoffen, müssen wir uns sehr oft über eigene oder von anderen in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen des Scheiterns hinwegsetzen. Zwar lernen wir selbstverständlich auch aus der Vergangenheit für die Zukunft, sodass uns bestimmte Fehler und Misserfolge nur einmal unterlaufen. Gleichwohl scheitern wir oftmals, ohne jemals hinreichend zu durchschauen, warum, und müssen trotzdem erneut wagen, womit wir schon Schiffbruch erlitten haben. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass uns beim erneuten Versuch nun doch ein Erfolg beschieden sein wird. Mithin sieht sich das Hoffen auf ein Gelingen immer wieder auch durch gegenteilige Erfahrungen bedrängt, über die es sich trotzdem riskant hinwegsetzt, ja hinwegsetzen muss. Ohne die Hoffnung auf ein Gelingen, immer wieder auch eine Hoffnung gegen mehr oder weniger massive Erfahrungen aus der Vergangenheit, können wir uns nicht als vernünftige Personen verstehen und können wir nicht entsprechend leben. Doch wie weit reicht diese Hoffnung? Müssen wir sogar hoffen, dass sich

24 Das ist wieder eine schwache Lesart von Kants Überlegungen zu den Postulaten der reinen praktischen Vernunft; vgl. erneut Fußnote 8. 25 Das Hoffen auf ein Gelingen ist, so darf man auch sagen, ein Existenzial vernünftiger Autonomie.

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unsere Verstrickung als Täter und Opfer in die Übel und Leiden dieser Welt endgültig auflösen wird, wenn auch nicht allein durch unsere eigene Tat? Können wir uns, darauf läuft die Frage hinaus, ohne Hoffnung auf Erlösung im Ernst als vernünftige Personen verstehen? Wissen wir im Vorhinein von einer Handlung oder einer Lebensweise, dass sie früher oder später in ein bestimmtes Leiden oder Übel münden wird, werden wir sie vernünftigerweise gar nicht erst wollen. Vernünftig können wir uns nur für solche Handlungs- und Lebensweisen entscheiden, von denen wir bis zum stets nachträglichen Beweis des Gegenteils unterstellen dürfen, dass sie uns nicht unabänderlich am Ende schuldig werden und uns und andere nicht leiden lassen. Wir unterstellen damit aber auch, dass uns die betreffenden Handlungen oder Lebensweisen nicht unweigerlich in Situationen bringen werden, in denen wir nur noch so weiter handeln und leben können, dass wir notgedrungen leiden oder schuldig werden. Wir müssen es also zumindest für möglich halten, dass wir beginnend mit der fraglichen Handlungs- oder Lebensweise und daran anschließend auch mit den weiteren Lebensvollzügen keine neuen Leiden und Übel verursachen und somit nun immer stärker aus unserer Verstrickung in die Übel und Leiden herausfallen werden. Wenigstens als Ziel, dem wir uns immer weiter annähern können, kommt Erlösung unweigerlich in den Blick, sobald wir uns ernsthaft als vernünftige Personen verstehen. Sicher, Erlösung ist nicht dasselbe wie ein beharrlicher Fortschritt.Wird es mit Blick auf die Leiden und Übel in der Welt allmählich immer besser, muss die Welt trotzdem niemals irgendwann in der Zukunft endgültig perfekt geworden sein. Fortschrittshoffnung ist somit bescheidender als Erlösungshoffnung. Ist es deshalb klarerweise ausschließlich vernünftig, an den Fortschritt zu glauben, und unvernünftig, eine Erlösung zu erwarten? Bescheidenheit ist nur dann eine echte Tugend, falls der Fortschrittsglaube realistisch oder realistischer als die Erlösungshoffnung wäre. Wen sollen wir als Kronzeugen in der Frage anrufen, was realistisch ist und was nicht? Den Naturalismus? Der jedenfalls kann beides nicht in Aussicht stellen. Der Naturalismus schließt nicht nur ein endgültiges Verschwinden aller Übel und Leiden aus, sondern auch ein ungehemmtes Fortschreiten zum immer Besseren hin.²⁶ Die Auskünfte des Naturalismus über die

26 Diese These dürfte besonders umstritten sein. In dem hier entwickelten Argument für die Vernünftigkeit des Erlösungs- und damit des Gottesglaubens kommt ihr allerdings die Rolle einer zentralen Prämisse zu. Natürlich wäre auch sie ausführlicher zu begründen. Zwei in meinen Augen sehr wichtige Gründe will ich wenigstens andeuten: Nach den Auskünften der Naturwissenschaften ist es naturgesetzlich unvermeidlich, dass die Menschheit eines Tages aus dem Universum wieder verschwinden wird. Deshalb werden sich für die Menschheit langfristig die Bedingungen des Lebens nicht immer weiter zum Besseren hin fortentwickeln,

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Leiden und Übel in der Welt sind viel prekärer, als dies die meisten wahrhaben wollen. Um uns als vernünftige Personen verstehen und ernstnehmen zu können, müssen wir, wie wir gesehen haben, zumindest die Möglichkeit des Fortschritts unterstellen. Doch schon damit setzen wir uns in Widerspruch zum Naturalismus. Recht besehen können wir uns auf dem Boden des Naturalismus nicht als vernünftige Personen verstehen. Das ist eine starke Behauptung, in der Tat, und die Naturalisten weisen sie regelmäßig entrüstet weit von sich. Inhaltlich ungewöhnlich allerdings ist sie nicht. Viele Philosophen argumentieren mit Vehemenz für diese These. Zum Beispiel Kant. Ungewöhnlich ist bestenfalls, die Unvereinbarkeit von Naturalismus und vernünftiger Autonomie aus der Hoffnung auf Fortschritt als Existenzial vernünftiger Autonomie herzuleiten. Freilich, so ungewöhnlich ist selbst das nicht, denn schon Kant versucht mit seinen Postulaten der reinen praktischen Vernunft sehr Ähnliches. Wir sehen jetzt: Als vernünftige Personen müssen wir zumindest an der Möglichkeit festhalten, sich einer Welt ohne Leiden und Übel immer besser anzunähern. Das zu unterstellen, was wir unterstellen müssen, um uns ernsthaft als vernünftige Personen verstehen zu können, darf man selber vernünftig nennen. Die Hoffnung auf eine immer bessere Annäherung an die Erlösung ist daher vernünftig. Kippt es nun auf einmal in Unvernunft um, geht man noch einen Schritt weiter und rechnet sogar über die Fortschrittshoffnung hinaus mit der Möglichkeit einer endgültigen Erlösung? Nein, denn das Einzige, was ernsthaft der Erlösung widerspricht, ist der Naturalismus. Doch den muss man schon preisgeben, um selbst den Fortschritt nicht von vornherein auszuschließen. Also ist die Erlösungshoffnung nicht erkennbar unvernünftiger als die Hoffnung auf ein allmähliches Besserwerden der Welt. Dann aber dürfen wir sagen: Die Erlösungshoffnung ist vernünftig und auf keinen Fall unvernünftiger, als auf die Wahrheit

sondern irgendwann unvermeidlich schlechter werden. Damit werden Leiden und zumindest physische Übel in der Welt zunehmen. Außerdem ist die durchgängig dialektische Struktur der Wirklichkeit in Rechnung zu stellen. Sie besagt, richtig ausbuchstabiert, dass es langfristig für den Menschen unmöglich ist, bestimmte Übel und Leiden abzuschaffen, ohne zugleich an anderer Stelle neue Übel und neues Leiden zu erzeugen. Historisch lässt sich diese Einschätzung außerordentlich gut belegen. Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie sich die großen Selbsterlösungsbewegungen in der Menschheitsgeschichte in die Dialektik von Übelbeseitigung und Übelerzeugung verheddert haben, mit katastrophalen Folgen. Aber über die Empirie der Geschichte hinaus gibt es für die eher fatale Dialektik von Übelerzeugung und Übelbeseitigung sogar systematische Gründe, die mit der Endlichkeit des Menschen und seiner Welt zu tun haben. Diese These habe ich in Tetens (2010) etwas ausführlicher angedeutet. Aber diese These wirklich systematisch zu entwickeln und zu begründen, steht als theoretische Aufgabe sicher aus.

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des Naturalismus hin zu leben, in dessen Perspektive wir uns nicht mehr uneingeschränkt und ernsthaft als vernünftige Personen begreifen können.

6 Ein religionsphilosophisches Argument Wir können unsere Überlegungen in einigen wenigen Sätzen zusammenfassen. (1) Jeder Mensch ist in die Leiden und die Übel der empirischen Welt als Opfer und Täter verstrickt. (2) Menschen können sich weder als Individuen noch als Kollektiv selber endgültig aus dieser Verstrickung befreien, und auch sonst hat nichts Innerweltliches die Macht, das Leiden und die Übel endgültig zu überwinden. (3) Eine endgültige Überwindung der Leiden und Übel (= Erlösung) ist zwar nicht definitiv zu beweisen, aber verstehen wir uns selber ernsthaft als vernünftige Personen, so ist die Erlösungshoffnung auf keinen Fall unvernünftig und schon gar nicht unvernünftiger, als in seinem Leben von der Wahrheit des Naturalismus auszugehen. (4) „Gott“ heiße die Macht, deren Wirklichkeit jemand konsequenterweise unterstellen muss, der auf eine Erlösung hofft und im Vertrauen auf sie lebt. (5) Es ist nicht unvernünftiger, auf Gott als Erlöser von den Leiden und Übeln zu hoffen, als es in naturalistischer Perspektive nicht zu tun (folgt aus (3) und (4)). Religiös an Gott zu glauben, heißt aber wesentlich, in seinem Leben auf Gott als den Erlöser von den Übeln und Leiden in der Welt zu hoffen und zu vertrauen.²⁷ Mithin antwortet Satz (5) auf die religionsphilosophische Frage nach der Vernünftigkeit des religiösen Glaubens. Das angekündigte religionsphilosophische Argument besteht in seinem Kern in dem Schluss von den Prämissen (3) und (4) auf die Konklusion (5).²⁸

27 Nur eine einzige religionstheoretische Andeutung: Gottesglaube gründet sich nach unseren Überlegungen auf die Unmöglichkeit einer Selbsterlösung des Menschen. An dieser Frage scheiden sich auch die Religionen voneinander. Der immer wieder als „Religion ohne Gott“ ins Spiel gebrachte Buddhismus beinhaltet konsequenterweise und charakteristischerweise die Selbsterlösung des Menschen. Daran ändert zum Beispiel die Helferrolle der Bodhisattvas im Mahayana-Buddhismus nichts. 28 Natürlich ist das Argument, wie oben auch schon gesagt, komplex. Denn es war viel zu sagen, bis die Prämissen (3) und (4) auch nur halbwegs einsichtig und plausibel werden. Und eigentlich müsste zu den Prämissen noch sehr viel mehr gesagt werden. Ich betone abermals, dass das Argument nur skizziert werden kann.

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Ganz anders als in der rationalen Theologie, die beansprucht, wenn nicht sogar a priori, so doch zumindest induktiv²⁹ Gottes Existenz zu beweisen, legen unsere religionsphilosophischen Überlegungen nur die Möglichkeit Gottes als Gegenstand einer vernünftigen lebenstragenden Hoffnung dar. Freilich muss man bei dieser Überlegung nicht stehen bleiben. Die Sätze (1) bis (5) lassen sich als grundlegende Prinzipien verstehen, um philosophisch über die monotheistischen Offenbarungsreligionen des Judentums, des Christentums und des Islam nachzudenken. An die religionsphilosophischen Sätze (1) bis (5) lassen sich philosophische Betrachtungen über alle religionsphilosophischen Themen im Zusammenhang mit den genannten drei monotheistischen Religionen anschließen.³⁰ Das kann in diesem Aufsatz nicht geschehen. Nachfolgend möchte ich nur zwei Konsequenzen der Sätze (1) bis (5) verdeutlichen. Einerseits geht es um die Rede von Gott, andererseits um die überaus heikle erkenntnistheoretische Problematik der Transzendenz Gottes.

7 Die Rede von Gott Nach Paul Tillich ist menschliche Rede von Gott durchgängig keine wörtliche Rede. Tillich nimmt davon nur den Satz „Gott ist das Sein-Selbst“ aus (vgl. Tillich 1987, besonders S. 277– 380). Mir scheint das Letztere fraglich, aber das wollen wir hier nicht erörtern. Richtig jedoch ist, dass Tillich von der nicht-wörtlichen Rede über Gott ausdrücklich eine Ausnahme zulässt. Es ist unmöglich, von einem Gegenstand nur in nicht-wörtlicher, in übertragener Weise zu reden. Man könnte nie verstehen, über welchen Gegenstand überhaupt geredet wird, und man könnte deshalb auch niemals beurteilen, ob die nicht-wörtliche Rede angemessen oder unangemessen ist. Dann aber ließe sich über den Gegenstand alles und nichts sagen. Die Rede über den vermeintlichen Gegenstand würde sich in haltloses und beliebiges Gerede verwandeln. Satz (4) unserer religionsphilosophischen Prinzipien führt den Ausdruck „Gott“ ein. Die Sätze (1) bis (3) explizieren den Kontext genauer, in welchem eine Rede von Gott gemäß der fundamentalen Verwendungsregel (4) sinnvoll sein soll.

29 So ist insbesondere der teleologische Gottesbeweis ein Schluss auf die beste Erklärung und daher kein deduktives Argument. 30 Insbesondere wäre es sehr interessant, auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen das Theodizee-Problem aufzugreifen. Mir will scheinen, dass die hier angestellten religionsphilosophischen Erörterungen es in einem neuartigen Licht erscheinen lassen. Leider ist für eine solche Analyse hier kein Platz.

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Erinnern wir uns erneut daran, dass der Naturalist keine Veranlassung hat, von Gott zu reden. Er kann sich darauf beschränken, die Rede der Gläubigen von Gott zu zitieren. Gleichwohl versteht auch er, dass für die Gläubigen der Satz (6) „Mit dem Ausdruck ‚Gott‘ ist der Erlöser von allen Übeln und Leiden in der Welt gemeint“ Gott in grundlegender Weise bestimmt. Und an dieser Bestimmung ist nichts Metaphorisches. Man hat sie wörtlich zu verstehen. Ich schlage nun vor, sie tatsächlich als definitorische Bestimmung des Ausdrucks „Gott“ anzusehen, und zwar als einzige definitorische Bestimmung. Freilich darf man dann auch alle Sätze über Gott, die ohne problematische Zusatzprämissen aus den Sätzen (1) bis (6) folgen, wortwörtlich zu verstehen. Einige solcher Sätze will ich hier kurz anführen. Es sollte nicht schwer fallen zu erkennen, dass sie sich tatsächlich im Wesentlichen allein aus den Sätzen (1) bis (6) ergeben. Gott ist der Erlöser von den Übeln und Leiden in der Welt. Menschen sind nicht Gott und können es auch nicht werden.³¹ Gott ist kein empirisches Objekt unter anderen empirischen Objekten. Er ist insbesondere kein Objekt erfahrungswissenschaftlicher Forschung. Gott ist erfahrungswissenschaftlich unerkennbar und überhaupt nicht direkt erfahrbar. In diesem Sinne ist Gott gegenüber der Erfahrungswelt transzendent. Welche Arten von Prädikaten kommen prinzipiell für Gott noch in Frage, welche auf keinen Fall? Begriffe, unter die Gegenstände nur fallen, insofern sie materielle Körper sind oder zumindest untrennbar mit einem solchen verbunden, lassen sich von Gott nicht prädizieren. Gott ist, heißt das, kein materielles, kein körperliches Wesen. Auch Prädikate für abstrakte Gegenstände passen nach (1) bis (6) nicht auf Gott. Übrig bleiben höchstens Prädikate für Mentales, so weit sie

31 Der Satz „Menschen sind nicht Gott und können es niemals werden“ ist einer der religionsphilosophisch folgenreichsten Sätze über Gott. Nicht wenige Religionsphilosophen tendieren dazu, die Rede über Gott nur als eine metaphorische, kontrafaktische, idealisierende Rede über den Menschen und das menschliche Leben in seiner empirischen Dimension zu rekonstruieren. Ein Beispiel dafür ist Kambartel (1971), und ähnliche Tendenzen sehe ich auch in Stekeler-Weithofer (2011). Aber wenn wir eigentlich nur über uns und unser Leben in seinen Erfahrungsdimensionen reden wollen, dann können wir das tun, ohne das Wort „Gott“ in den Mund zu nehmen. Wir sollten das dann auch tun, denn der Gebrauch des Wortes „Gott“ provoziert meines Erachtens immer Missverständnisse, wenn es eigentlich nur um Aspekte des menschlichen Lebens in den Grenzen der Erfahrungswelt geht. Außerdem wird eine solche Rekonstruktion der Rede von Gott der wichtigen Aufgabe der Religionsphilosophie nicht gerecht, zu einem verständigen Streit zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen beizutragen, denn Gläubige finden sich in Rekonstruktionen der Rede von Gott, die vollständig übersetzt werden kann in eine erfahrungsimmanente Rede über menschliche Verhältnisse, bestenfalls teilweise wieder.

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keinen Bezug auf körperliche Eigenschaften einschließen. In diesem Sinne ist Gott ein rein geistiges Wesen. Diese Aussage steht allerdings schon auf der Schwelle zu einer nicht-wörtlichen Rede über Gott. Wir wollen und können uns hier auf eine metaphorische Rede über Gott beschränken, die in einer fundamentalen Analogie³² gründet.³³ Metaphorische Rede über Gott ist sicher dann besonders angemessen, wenn sie sich einer Analogie verdankt, die ihrerseits direkt auf den obigen Sätzen (1) bis (6) basiert. Gott erlöst von den Übeln und Leiden in der Welt. Diese Rolle definiert ihn gewissermaßen. Selbstverständlich versuchen Menschen, wie unvollkommen auch immer, die Übel und Leiden in der Welt zu bewältigen und, wo immer es möglich ist, zu überwinden. Von daher darf alles über Gott gesagt werden, was von Menschen im Zusammenhang mit deren Bemühungen, die Übel und Leiden in der Welt zu bekämpfen, gesagt wird, es sei denn, die Übertragung der Aussagen von den Menschen auf Gott widerspricht begrifflich den Sätzen (1) bis (6). Was lässt sich metaphorisch von Gott sagen? Wieder führe ich einige wichtige Aussagen an, wobei ich auch die zugrunde liegende Analogie andeute. Alle Aussagen sind aus dem Kontext der drei monotheistischen Religionen wohlbekannt, und auch aus der rationalen Theologie. Gerade wenn Menschen die Übel und Leiden in der Welt auf die eine oder andere Weise gemeinsam zu überwinden versuchen, anerkennen sie sich wechselseitig als Personen. Menschen helfen und trösten einander in Not und Leid, und dann nennen wir sie barmherzig und gütig. Aber Menschen müssen auch Unrecht als „Unrecht“ beurteilen und Recht sprechen, ebenso wie sie einander immer wieder vergeben müssen. Menschen sind Richter und, üben sie dieses Amt angemessen aus, als solche bemüht, gerecht zu sein und doch auch gnädig. Das alles dürfen wir analogisch von Gott aussagen: Demnach ist Gott eine Person. Er ist gerecht, barmherzig, gnädig und gütig ist. Er ist Richter und Tröster. Er ist wie ein

32 Ich bin mir bewusst, dass ich gerade ein riesiges Fass aufmache. Dass unser Erkennen und Reden von Gott in Analogien gründet, dass in christlicher Perspektive das Verhältnis zwischen Gott und Mensch durch Analogien charakterisiert ist („Gottesebenbildlichkeit des Menschen“), gehört mit zu den am meisten diskutierten Themen der Theologie und der Religionsphilosophie. Ich kommentiere meine knappen Bemerkungen zur analogischen Rede über Gott in diesem Text nicht weiter. Der Text enthält, wie ich schon mehrfach betont habe, nur die Skizze eines Arguments. Vieles bedarf gründlicher Ausarbeitung. Die Betrachtungen zur analogischen Rede von Gott gehören allemal dazu. 33 Metaphern, die in einer zutreffenden Strukturanalogie zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen gründen, sind oftmals besonders gut, weil sie die Erkenntnis einer Sache fördern. Es soll damit jedoch nicht behauptet werden, auch nicht für die analogische Rede über Gott, sinnvolle Metaphern verdankten sich ausschließlich einer zutreffenden Strukturanalogie.

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guter Vater oder wie eine gute Mutter zu uns. Im Gegensatz zu uns Menschen verneinen die Sätze (1) bis (6) für Gott jede Grenze bei der Überwindung von Leiden und Übeln. Deshalb dürfen wir Gott analogisch auch vollkommen gerecht, vollkommen barmherzig und allgütig nennen. Da Menschen in Not und Leid einander nur beistehen und helfen können, wenn sie Not und Leid und deren Gründe und Ursachen kennen und anerkennen, ist Gott analogisch ein wissendes und erkennendes Wesen. Erneut aber ist Gottes Wissen im Gegensatz zu unserem grenzenlos. Deshalb ist Gott allwissend. Kein Mensch kann jederzeit überall sein. Es sind unter anderem Raum und Zeit, die die Möglichkeiten von Menschen beschränken, Übel und Leiden zu überwinden. Raum und Zeit beschränken Gott in seinem Erlösungswerk nicht. Deshalb darf man Gott analogisch allgegenwärtig nennen. Menschen sind gegenüber bestimmten Leiden und Übeln machtlos. Gott solche Grenzen zuzusprechen, widerspräche seiner definitorischen Bestimmung als Erlöser von allen Übeln und Leiden. Deshalb ist Gott, analogisch geredet, allmächtig. Menschen sind gegenüber Übeln und Leiden oftmals deshalb machtlos, weil sie so viele Bedingungen, die das menschliche Leben beeinflussen, weder technisch noch theoretisch beherrschen. Als Erlöser von allen Übeln und Leiden gibt es nichts, was Gott nicht erzeugen und ändern kann.³⁴ Analogisch gesprochen ist Gott daher der Schöpfer der Welt. Die analogische Rede über Gott lässt sich in dem einen Satz zusammenfassen, dass Gott dasjenige Wesen ist, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann. Das ist vielleicht die bekannteste Bestimmung Gottes. Die abendländische Metaphysik hat sie immer wieder als Definition Gottes akzeptiert. Jede Version des ontologischen Gottesbeweises muss auf sie zurückgreifen. Folgt man den obigen Überlegungen, definiert die anselmsche Gottesbestimmung den Ausdruck „Gott“ nicht. Sie gehört zur metaphorischen Rede über Gott, und als metaphorische Rede taugt sie von vornherein nicht, aus ihr die notwendige Existenz Gottes rein begrifflich herausdeduzieren zu wollen. Mir scheint diese Deduktionssperre ein Vorteil, kein Nachteil zu sein. Wenn die voranstehenden Überlegungen richtig sind, erweist sich die (religiöse) Rede von Gott eigentlich nicht als grundsätzlich problematisch und semantisch undurchsichtig. Warum stellen Philosophen sie immer wieder als so problematisch hin?³⁵

34 Es sei denn, es ist logisch unmöglich. 35 Ich weiß, wieder eine starke Behauptung. Trotzdem: Von einem logischen und semantischen Standpunkt aus unterscheidet sich die Rede von Gott meines Erachtens erst einmal nicht grundsätzlich von der Art und Weise, wie in den Wissenschaften, etwa in der Quantenmechanik Ausdrücke für so genannte nicht direkt beobachtbare theoretische

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8 Die Transzendenz Gottes Von Gott sagen wir nicht-metaphorisch, dass er ein gegenüber der alltäglichen und wissenschaftlichen Erfahrung transzendentes Wesen ist. Wer naturalistisch die Wirklichkeit mit der Erfahrungswelt identifiziert, wird spätestens an dieser Stelle aus den hier vorgetragenen religionsphilosophischen Überlegungen und aus der hier rekonstruierten Rede von Gott aussteigen. Das ist vom Standpunkt des Naturalismus nur konsequent. Und dieser Standpunkt bleibt in dem Sinne möglich, als ja der Naturalismus nicht definitiv theoretisch, genauer: erkenntnistheoretisch widerlegt ist.³⁶ Das ist das Mindeste, was der Gläubige an der Überzeugung eines Nicht-Gläubigen anzuerkennen hat.³⁷ Aber hat der Naturalismus nicht erkenntnistheoretisch alle guten Gründe auf seiner Seite? Bringt die Transzendenz Gottes den Gläubigen nicht in eine un-

Entitäten eingeführt werden. Das so zu sagen, impliziert nicht, dass das mit der Rede von Gott Gemeinte auch nur in die Nähe einer theoretischen Entität kommt. Wie auch immer, jedenfalls erscheinen mir die ansonsten durchaus bedenkenswerten Ausführungen in Rentsch (2005), besonders S. 78 – 94 über den Ausdruck „Gott“ unnötig skrupulös. Völlig daneben sind hingegen zum Beispiel Carnaps Einlassungen zur Rede über Gott (vgl. Carnap 2004). 36 Aus der Warte der praktischen Vernunft darf der Naturalismus mit folgendem Argument als widerlegt gelten: Aus der Perspektive praktischer Vernunft müssen wir uns als vernünftige Personen verstehen und erstnehmen. Das können wir jedoch nur, wenn wir die Möglichkeit ausdrücklich einräumen, dass wir uns einer Elimination der Übel und Leiden in der Welt immer weiter annähern. Der Naturalismus, der theoretisch nicht zwingend bewiesen werden kann, schließt diese Möglichkeit aus. Was theoretisch nicht zwingend zu beweisen ist, jedoch dem widerspricht, was wir aus praktischer Vernunft unterstellen müssen, ist aus der Perspektive praktischer Vernunft widerlegt. Also ist der Naturalismus aus der Perspektive praktischer Vernunft widerlegt. Natürlich bedarf es eigentlich einer längeren metaphilosophischen Überlegung, wie sich Nichtbeweisbarkeit und Nichtwiderlegbarkeit deskriptiver metaphysischer Positionen aus Gründen theoretischer Vernunft zu ihrer Widerlegbarkeit aus Gründen praktischer Vernunft genau verhalten. Das kann hier nicht geleistet werden. Jedenfalls scheint es mir offensichtlich, dass für den Gläubigen der Naturalismus erledigt ist, auch wenn er ihn theoretisch nicht zwingend widerlegen kann. Das eben skizzierte Argument stellt eine Möglichkeit dar, wie der Gläubige seine Ablehnung des Naturalismus begründen kann. 37 Die Haltung des Naturalisten lässt sich nachvollziehen, auch unbeschadet der Tatsache, dass sich der Naturalist mit dem gewichtigen Einwand wird auseinandersetzen müssen, ob und wie er sich auf dem Boden des Naturalismus ernsthaft als vernünftige Person verstehen kann. Der Einwand, ein Naturalist missverstehe sich selbst, insofern dieser selbstverständlich auch für sich reklamiert, eine vernünftige Person zu sein (und von Nicht-Naturalisten natürlich auch als eine solche anerkannt und behandelt wird), wird, wie schon erwähnt, auch außerhalb der Religionsphilosophie gegen Naturalisten erhoben. Hier wird nur ergänzend dafür argumentiert, dass sich dieser Vorwurf in einer religionsphilosophischen Variante vorbringen lässt.

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haltbare Lage? Muss sich nicht zumindest indirekt etwas über Gott erfahren lassen? Bekunden und bekennen Gläubige nicht auch, dass sie Gott in ihrem Leben immer wieder erfahren haben? Wie lässt sich das mit der Transzendenz Gottes vereinbaren? Zunächst gilt es hier, die Dinge ungeschminkt und unumwunden beim Namen zu nennen. Gott ist ein erfahrungstranszendentes Wesen. Und das bedeutet unter anderem: Wir stoßen in der Erfahrungswelt auf nichts, was unzweideutig und zwingend auf Gott und sein Wirken schließen lässt. Wäre es anders, gäbe es so etwas wie eine hinreichend starke empirische Evidenz für Gott und sein Wirken und er wäre kein erfahrungstranszendentes Wesen. Das schließt auch Wunder aus.Wunder sind einmalige empirische Ereignisse, die nicht anders erklärt werden können als durch das Wirken einer Macht, die dabei Naturgesetze und andere gut gestützte Erfahrungsregeln außer Kraft setzt.³⁸ Wunder würden dann im Sinne dieser Definition unzweideutig auf Gottes Wirken verweisen. Die Erlösungshoffnung ist in diesem Sinne kein Wunderglaube.³⁹ Das, was in der Erfahrungswelt auf Gott hindeutet, ist vor allem und in erster Linie die Tatsache, dass es Menschen gibt, die ausdrücklich bekennen und ihr Leben so führen, dass sie auf eine endgültige Überwindung der Leiden und Übel in der Welt durch Gottes Hilfe hoffen.⁴⁰ Selbstverständlich weisen diese Glaubenszeugnisse ebenso wenig eindeutig und unbezweifelbar auf Gott wie alles andere in der Erfahrungswelt.⁴¹ Trotzdem, für Gläubige ist ihre Hoffnung auf eine endgültige

38 Humes im Grunde genommen transzendentales Argument gegen Wunder als Ausnahmen von den Naturgesetzen innerhalb der Erfahrungswelt scheint mir immer noch schlagend. Ich verstehe es im Kern so: Statt anzunehmen, dass bei einem Ereignis Naturgesetze und andere Erfahrungsregeln verletzt sind, ist es immer möglich, dass wir das Ereignis fehlerhaft oder unvollständig beobachtet haben oder es bisher unbekannte Kausalfaktoren gibt, die sich am Ende doch unter ein Naturgesetz subsumieren lassen. Und Erklärungen dieser Art liegen nach erklärungstheoretischen Maximen immer näher und sind immer plausibler als die Annahme, mindestens ein Naturgesetz sei ausnahmsweise in einem einzigen Falle verletzt. 39 Das ist natürlich religionswissenschaftlich, theologisch und vom Wortlaut der biblischen Texte her strittig. Mir scheint aber religiös motivierter Wunderglaube so hinreichend irrational zu sein, dass er zum Beispiel für ein aufgeklärtes und „mündiges“ Christentum (vgl. dazu die klugen Überlegungen in Kutschera (2008)) nicht ernsthaft in Betracht kommt. Die Theologie und die theologische Auslegung der biblischen Texte sind ohnehin voll von guten Beispielen, wie man auf den Wunderglauben verzichten kann, ohne dem eigentlichen Inhalt der biblischen Texte hermeneutische Gewalt anzutun. 40 Das müsste und könnte ein Ausgangspunkt für eine religionsphilosophische Rekonstruktion der Rede von einer Offenbarung und Selbstoffenbarung Gottes sein. 41 Naturalistisch orientierte Religionskritik präsentiert ja bis zum heutigen Tag empirische Erklärungen für den Glauben von Menschen an einen Erlösergott. Ob naturalistisch orientiert oder nicht, Religionskritik ist selbstverständlich legitim und auch notwendig, kennt doch die

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Erlösung durch Gottes Wirken selber eine Erfahrung Gottes und damit für sie geradezu ein untrüglicher Hinweis auf Gottes Wirken. Für Naturalisten ist das freilich alles eine einzige Provokation. Vermutlich nicht nur für Naturalisten. Werden hier nicht noch die letzten minimalen Standards der Rationalität verletzt? Immunisiert sich der Erlösungsglaube hier nicht gegen jede Kritik? Man denke an einen Dialog, wie den folgenden: G: Ich glaube, dass Gott uns Menschen von allen Übeln und Leiden erlöst. K: Warum glaubst du, dass es Gott gibt, der die Macht hat, uns und die Welt zu erlösen? G: Weil es Gott ist, der mir diese Hoffnung geschenkt hat. Hat der Wahnsinn bekanntlich nicht Methode? Besitzt dieses Frage- und Antwortspiel nicht alle Merkmale einer Verrücktheit, einer fixen Idee? Erweist sich nicht spätestens hier, wie hoffnungslos unvernünftig jede theistische Erlösungshoffnung ist? Jeder, auch der Nicht-Gläubige, muss zugeben: Gäbe es einen Erlösergott, die Erfahrungswelt und das Leben erschiene auf einmal in einem völlig anderen Licht. Wäre eine Erlösung durch Gott eine Tatsache, so wäre sie so eminent bedeutsam, dass alles im Lichte dieser Tatsache zu deuten und zu erklären wäre. Der Gläubige weiß um die endgültige Überwindung aller Übel und Leiden in der Welt nicht als eine Tatsache, aber er hofft auf sie, er vertraut auf sie so stark, als ob sie eine Tatsache wäre. Und deshalb deutet er alles, was ihm in seinem Leben begegnet und widerfährt, im Lichte der Heilswirksamkeit Gottes. Nun kann man sich bestenfalls begrenzt, wenn überhaupt, willentlich dazu entschließen, auf etwas zu hoffen und zu vertrauen, was man nicht beweisen kann. Auf jemanden zu hoffen und zu vertrauen, ist mehr oder weniger ein Widerfahrnis. Der Gläubige deutet das Widerfahrnis seines Glaubens bereits als Wirken und Gnadengeschenk Gottes. Aus dem Inhalt seiner Erlösungshoffnung und ihrer überragenden Bedeutung für sein gesamtes Leben heraus darf man diese Selbstdeutung des eigenen Glaubens durch den Gläubigen immanent konsequent nennen. Erkenntnistheoretisch gesprochen hat der Satz „Gott erlöst uns Menschen und die Welt von allen Übeln und Leiden“ den Status einer transzendentalen Rahmenannahme⁴², also einer fundamentalen Annahme, die bestimmte Erfahrung erst ermöglicht, indem man alles im Lichte dieser Annahme beschreibt und deutet, und bestimmte Erfahrungen gerade erst dadurch macht, dass man an

Religionsgeschichte unzählige Beispiele für Menschen und Menschen in institutionalisierten religiösen Zusammenhängen, die zwar die Rede von einem Erlösergott mit dem Brustton der Überzeugung im Munde führen, ansonsten aber Dinge tun und sagen, die auf alles Mögliche, nur nicht auf einen barmherzigen Erlösergott schließen lassen. 42 Man darf solche Rahmenannahmen auch getrost und ohne jeden kritischen Unterton als metaphysisch bezeichnen.

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dieser Annahme festhält, selbst wenn scheinbar Erfahrungen ihr zuwiderlaufen. Einem Philosophen sollte so etwas nicht prinzipiell unvertraut sein. Auch dem Naturalismus liegt eine solche fundamentale Rahmenannahme zugrunde: „Es gibt nur, was intersubjektiver Erfahrung auf der Grundlage von Beobachtungen zugänglich ist, und damit gibt es nur materielle Sachverhalte und solche Sachverhalte, die untrennbar an materielle Prozesse gebunden sind“. Aber, so wird man einwenden, es gibt vernünftige und unvernünftige Annahmen, und unvernünftige Annahmen taugen nun einmal nicht als transzendentale Rahmenannahmen, um Erfahrung allererst zu ermöglichen. Richtig. Nur lässt sich das gegen den Erlösungsglauben nicht einwenden. Denn wir haben oben dafür argumentiert, dass es respektable Gründe gibt, die Möglichkeit einer endgültigen Überwindung der Übel und Leiden in der Welt zu unterstellen. Diese Annahme ist nicht per se unvernünftig. Warum sollte sie als Teil eines transzendentalen Rahmenwerks von vornherein ausscheiden? Zumal dann, wenn sie vor allem mit dem Naturalismus konkurriert, der ebenfalls gar nichts anderes als eine transzendentale Rahmenannahme ist. Auch der Naturalismus lässt sich nicht beweisen, und auch der Naturalismus schützt sich, wie man leicht zeigen kann, gegen mögliche Einwände durch dieselbe Strategie, die wir eben am Erlösungsglauben illustriert haben. Ein wunderschönes Beispiel liefert der so genannte „transzendentale“ Naturalismus eines Colin McGinn. Bekanntlich hat der Naturalismus erhebliche Schwierigkeiten, zu erklären und verständlich zu machen, wie neuronale Prozesse phänomenales Bewusstsein kausal hervorbringen können. Colin McGinn zieht daraus aber nicht die Konsequenz, den Naturalismus preiszugeben, sondern er hält am Naturalismus durch die erkenntnistheoretische These fest: Gerade weil der Naturalismus wahr ist und wir mit all unseren Fähigkeiten nur Teil der natürlichen, an materielle Prozesse gebundenen Welt sind, vermögen wir die Wahrheit des Naturalismus nicht direkt und vollständig zu erkennen und zu verstehen.⁴³ In beiden Fällen, beim Naturalismus und beim Erlösungsglauben verbietet es sich, diese Vorgehensweise als eine Immunisierung gegen widerstreitende Erfahrungen und gegen Kritik zu brandmarken. Der metaphilosophische Grund dafür sei kurz angedeutet: Ist irgendein Sachverhalt q der Fall, so darf man nicht

43 Vgl. McGinn (1996). Wenn man den Satz „Auf Gottes Wirken in der Welt verweist gerade der Umstand, dass er in Menschen die Hoffnung auf seine Erlösungstat weckt“ als erkenntnistheoretisch irrational geißelt, sollte man das wenigstens fairerweise auch im Falle von McGinn so handhaben. Doch, in Wahrheit ist an beiden Sätzen nichts zu kritisieren. Solche Sätze wie die von McGinn oder den über den Erlösungsglauben als „Gnadenerweis“ Gottes erinnern nur daran, dass wir es mit transzendentalen Rahmenannahmen zu tun haben.

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ohne weiteres darauf schließen, dass eine Person P wahrnimmt, glaubt, denkt, dass q der Fall ist. Und umgekehrt, nimmt eine Person P wahr, glaubt sie, denkt sie, dass q der Fall ist, so darf man nicht ohne weiteres darauf schließen, dass q tatsächlich der Fall ist. Man kann in vielen Kontexten die epistemischen und die ontischen Sachverhalte unabhängig voneinander betrachten. Das ändert sich, sobald man als Philosoph mit dem Ganzen der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen in ihr befasst ist. Dann muss man ontische und epistemische Sachverhalte im Zusammenhang betrachten. Denn der Philosoph muss jede Antwort auf die ontologische Frage, was es gibt, kohärent zusammendenken mit der Tatsache, dass er mit Gründen seine betreffende Antwort auf die ontologische Frage als wahr behauptet. Jede Antwort auf die ontologische Frage muss mit der erkenntnistheoretischen Frage, was wir von der Welt wahrnehmen, denken, glauben, wissen, so zusammenstimmen, dass die Einheit der Wirklichkeit weiterhin verständlich bleibt. Und das zwingt dazu, über metaphysische Rahmenannahmen ein Überlegungsgleichgewicht herzustellen zwischen ontologischen Erklärungen, was wirklich der Fall ist, und erkenntnistheoretischen Erklärungen, was wir von der Wirklichkeit erkennen können. Das Erkennbare manchmal an das für wirklich Gehaltene und das Wirkliche an das für erkennbar Gehaltene anzugleichen, ist, metaphilosophisch betrachtet, innerhalb legitimer transzendentaler Rahmenannahmen seinerseits selber legitim. Genau das geschieht im Satz „Auf Gottes Wirken in der Welt verweist gerade der Umstand, dass er in Menschen die Hoffnung auf seine Erlösungstat weckt“ genauso wie in dem Satz „Gerade weil der Naturalismus wahr ist und wir mit all unseren Fähigkeiten nur Teil der natürlichen, an materielle Prozesse gebundenen Welt sind, vermögen wir die Wahrheit des Naturalismus nicht direkt und vollständig zu erkennen und zu verstehen“. Beide Sätze sind erkenntnistheoretisch keineswegs so zu beanstanden, wie es in der Philosophie und nicht zuletzt in der Religions- und Theologiekritik immer wieder geschieht.⁴⁴ Brechen wir an dieser Stelle unsere Betrachtungen ab. Ich habe versucht, die prinzipielle Vernünftigkeit des religiösen Glaubens an Gott zu verteidigen. Natürlich könnte sich der Erlösungsglaube am Ende doch noch als unvernünftig erweisen. Denn es bleiben viele Fragen. Vielleicht die wichtigste: Wie lebt man im Lichte der Erlösungshoffnung angemessen?⁴⁵ Eine Antwort⁴⁶ entscheidet mit

44 Hier deute ich die Überlegungen nur notdürftig an. Sie müssten ausführlicher begründet werden, und das könnte etwa durch eine kritische Auseinandersetzung mit der erkenntnistheoretischen Grundlegung des christlichen Glaubens in Hübner (2001), besonders S. 1 – 24 und mit der Auffassung von Metaphysik in Kutschera (2006), besonders S. 262 – 271 geschehen. 45 Würde man die Überlegungen zur Vernünftigkeit des Erlösungsglaubens fortsetzen, wäre meines Erachtens eine besonders schwierige Hürde erst noch zu nehmen. Erlösungshoffnung

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darüber, wie vernünftig oder unvernünftig der Erlösungsglaube ist, aber sie steht auf einem anderen Blatt als diesem.⁴⁷

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ohne die Hoffnung darauf, dass der Tod nicht das endgültige Ende einer um sich selbst wissenden Person ist, scheint mir nicht möglich. Kant hat diesen unauflöslichen Zusammenhang, den ja bekanntlich im Rahmen des Christentums am deutlichsten Paulus formuliert hat, sehr deutlich gesehen und in seine Lehre von den Postulaten der reinen praktischen Vernunft konsequent mit dem Vernunftglauben an die Unsterblichkeit eingearbeitet. Aber wie vernünftig ist die Unsterblichkeits- oder die Auferstehungshoffnung (was nicht dasselbe ist)? 46 Eine Antwort kann, so scheint mir, nicht mehr generell gegeben werden, sondern müsste sicher Spezifika der verschiedenen Offenbarungsreligionen einbeziehen. 47 Anna Wehofsits, Sebastian Rödl und David Löwenstein danke ich für ihre anregende und kluge Kritik an einer Vorfassung dieses Textes.

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Thomas Rentsch

Endlichkeit, wirklicher Sinn, Gott Zur Konstitution der Transzendenz im Blick auf Stekeler-Weithofers Sinnanalyse Das zentrale Problem ist die volle Anerkennung der Endlichkeiten, insbesondere der endlichen Zeitlichkeit des Lebens. Pirmin Stekeler-Weithofer

Im Folgenden trete ich in eine Diskussion ein, die mit Stekeler-Weithofers Buch Sinn ¹ eröffnet wird und die starke Thesen zur Möglichkeit lebensweltlich-praktischer Sinnkonstitution für den Menschen entwickelt. Mein Beitrag besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil beziehe ich mich auf die von Stekeler-Weithofer ausgeführte Analyse von Endlichkeit und Sinn, im zweiten Teil auf seine Analyse der Rede von Gott in Religion und Theologie. Um in ein vertieftes Gespräch zu kommen, referiere ich jeweils zunächst kurz die Position Stekeler-Weithofers nach meinem Verständnis, um sie dann zu reflektieren.

I Sinn 1. Dezidiert analysiert Stekeler-Weithofer zunächst den immanenten, individuellen Lebensbezug der so verbreiteten Frage nach dem „Sinn“. Sinn ist im Leben selbst, im Hier und Jetzt, im Einzelnen, in der Gegenwart zu verorten, nirgendwo sonst (4, 7, 8 f.). Es geht um die „Einsicht in die Immanenz jeden Sinns“, „das Primat des Lebensvollzugs“, kurz um „die Absolutheit des Daseins hier und jetzt“ (35). Auch die „Würde der Person“ „über den Tod hinaus“ ist auf die Endlichkeit zu beziehen (9). In diesem Zusammenhang erfolgt auch eine kühne Umkehrung der von Hans Blumenberg analysierten Säkularisierungsprozesse seit der Kopernikanischen Wende. Während bei Blumenberg die Relativierung, die Randständigkeit, die Marginalisierung des Menschen durch die Aufklärungsprozesse (auch noch durch Darwin und Freud) stark akzentuiert wird, hebt Stekeler-Weithofer die Entwicklung von Descartes bis zu Kant positiv hervor, die Blumenberg letztlich verfehle. Denn wir sind es, die die kosmologischen, die evolutionsbiologischen und die psychoanalytischen Untersuchungen durchführen, und niemand sonst.

1 Stekeler-Weithofer, Pirmin (2011): Sinn. Berlin, Boston: De Gruyter. Seitenangaben in Klammern ohne weitere Spezifikation nehmen auf diesen Titel Bezug.

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Deswegen ist auch die Person „das Göttliche ‚in uns‘ und nichts sonst“ (33). Es erfolgt gerade keine Dezentrierung, wie in Blumenbergs Denken, sondern wir, die Menschen, bleiben die Mitte der Welt und der Wirklichkeit, ob wir nun wollen oder nicht. Durch diesen Lebens- und Praxisbezug bedingt, ergibt sich die methodologische Kernthese, dass eine „sinnkritische Metaphysik“ pragmatisch sein muss (40), von einem transzendenten zu einem transzendentalen Ansatz zu gelangen ist (44 f.). Die Wahrheit der Transzendentalphilosophie besteht darin, „dass jede Sinngebung […] an ihr Ende kommt“ (45). Diese endliche Kontextualität und Praxisbezogenheit zeigt sich auch darin, dass Ideen – zum Beispiel die Idee des Guten – nur relational verstehbar sind, bezogen auf konkrete Praxisformen. So lässt sich „Sinn“ „durch die Idee des guten Lebens“ bestimmen. Diese Idee lässt sich jedoch nicht ontisch hypostasieren, sondern sie weist nur in eine bestimmte Richtung (49). Jegliche Reifikation verkennt und verfehlt die Offenheit der Idealbegriffe (50). Diese „dichten“ normativen Begriffe sind daher Reflexionsbegriffe im Kontext unserer endlichen Praxis (55, 60). Im Blick auf das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz (Kap. 2) zeigen sich so auch die „begrifflichen Grenzen von Sinnfragen“ (2.5). Näherhin zeigt die Analyse, dass wir es sind, die jeweils das Hier und Jetzt, auch unsere Leiblichkeit gedanklich, seelisch-geistig, transzendieren (115). „Kants große Einsicht ist, dass jede Transzendenz immanent aus dem realen Leben heraus und für das menschliche Leben zu begreifen ist“ (116). „Die Lehre von der Unsterblichkeit ist also eigentlich […] Lehre von der Subjekttranszendenz jedes Sinns, jedes Wissens und jeder Wahrheit“ (117). So lässt sich auch die Dialektik der Trinität als Modell der endlichen Sinnkonstitution vernünftig verstehen, das einzelne Individuum bildet hier die Mitte, die „Verleiblichung der Idee“ (134 ff.). Der erkenntniskritische Endlichkeitsbezug wird in der Analyse der Idee der Seele (Kap. 6) weiterentwickelt. „Die Seele ist das Lebewesen selbst, als beseeltes. Die Seele des Einzelnen ist das einzelne lebende Wesen selbst“ (153). 2. Mein Kommentar zu dieser Analyse der irreduziblen Verklammerung von Endlichkeit und Sinn ist zunächst völlig zustimmend. In der Tat ist die Endlichkeit, die Begrenztheit, die Diskursivität, die Angewiesenheit auf die Sinnlichkeit, die Zeitlichkeit, die Sterblichkeit, damit noch radikaler verbunden die Gegenwärtigkeit, die Augenblicklichkeit, die unhintergehbare Individualität und Einzigkeit (Heidegger: Jemeinigkeit) unseres Lebens und unserer Erfahrung für das Verständnis von Sinn Bedingung der Möglichkeit schlechthin. Und dieser Befund ist, wie auch Stekeler-Weithofer immer wieder zu Recht betont, keineswegs ein Lehrstück, das dem modernen Existentialismus entstammt, sondern eine Grundeinsicht, die die Geschichte der Philosophie seit ihrem Beginn prägt. Die Todesreflexion des Sokrates steht an ihrem Beginn, und – um nur ein zentrales weiteres Beispiel zu nennen, das auch für Stekeler-Weithofer ganz wichtig ist – die

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Zöglinge des Tübinger Stifts haben je auf ihre Weise Transformationen der Trinitätstheologie in philosophisch-anthropologische Konstitutionsanalysen der menschlichen Individualität und Endlichkeit vollzogen. Bei Hegel wird die Trinität dialektisch-begrifflich rezipiert, die Menschwerdung Gottes ist die Geistwerdung bzw. die Begeistung des endlichen Menschenwesens. Sein Kommen-zu-sich als Kommen zur Vernunft in der Endlichkeit, die dadurch intern unendlich wird, ist Transzendenz in der Immanenz des vernünftigen Selbstbewusstseins. Die Trinität wird Paradigma, Modell der menschlichen Vernunftgeschichte in der zeitlichen Endlichkeit. Der empirische Tod ist für Hegel notwendige Bestätigung der vernünftigen Allgemeinheit. Für Schelling ist ebenfalls eine verzeitlichend-verendlichende Transformation der Trinitätstheologie leitend. Die Personen der Trinität werden zu den Ekstasen der Zeitigung der Zeitlichkeit – so nimmt Schelling Heidegger vorweg. Das Absolute verendlicht sich in die Endlichkeit von unvordenklicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so in den Weltaltern, Vorgestalt der Theorien von Darwin und Freud. Auch hier ist die Verendlichung des Absoluten schlechthin Paradigma der Sinnkonstitution. Entgegen Hegels Ansatz der Gegenwärtigkeit des Geistes als der Gegenwart des Absoluten ist Schelling insofern christlicher – wenigstens in der Sicht einiger Interpreten – als er die eschatologische Dimension der heilsgeschichtlichen Zukunft stark in seine Analyse der weltgeschichtlichen Sinnkonstitution einbezieht (vgl. Rentsch 2010b). Hölderlins dichtenden Entwurf einer neuen Religion der „Anerkennung der Endlichkeit“, der „Betonung der Gegenwart“ und der „Absage an alle Unsterblichkeit“ interpretiert Stekeler-Weithofer selbst eindrucksvoll und mit Bezug auch auf Nietzsche und die Interpretationen des späten Heidegger (77– 90). Analysieren wir die zeitliche Endlichkeit des Lebens genauer, so können wir die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit, die Unumkehrbarkeit der sterblichen Lebensbewegung, die Unvermeidlichkeit der zukünftigen Situationen, die Endgültigkeit und Irreversibilität allen Geschehens, die Unvordenklichkeit der Anfänge sinnhaften und bewussten Lebens und die Unvorhersehbarkeit seines Endens aufweisen. All diese Aspekte prägen ständig unsere Lebenspraxis. Das heißt: In der lebensweltlichen Praxis sind Endlichkeit und Sinn unlöslich verbunden (vgl. Rentsch 2010b). Die starke Akzentuierung dieser unlöslichen Verbundenheit darf allerdings nicht verdecken, dass auch und gerade diese existentielle Endlichkeit einbezogen, ermöglicht und konstituiert wird durch die kommunikativen Modi und Praxisformen der Interexistentialität. Ich habe diesen Aspekt der Konstitution der humanen Welt intensiv untersucht, um einer „thanatologischen Engführung“ zu entgehen, wie sie sich unter anderem in Heideggers Sein und Zeit findet (vgl. Rentsch 1989). Bei aller Kritik am Cartesianismus und an der Subjektzentriertheit der klassischen Transzendentalphilosophie gelingt es

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Heidegger nicht, diesen Subjektivismus zu überwinden. Nach der Kehre (die sich in Wirklichkeit bereits vor Sein und Zeit ankündigte²) wird die Destruktion des Subjektivismus in Richtung des „Seins“ wiederum überboten. Demgegenüber habe ich im Rekurs insbesondere auf Wittgensteins Kritik der Privatsprache eine alltagspraxisbezogene Interexistentialanalyse entwickelt, die der sinnkonstitutiven Interexistentialität und ihren kommunikativen Formen gerecht zu werden versucht (vgl. Rentsch 1999). Bereits Hannah Arendt hatte zum Beispiel die Natalität, das Geborenwerden als erste sinnkonstitutive Begrenztheit und Lebensbeginn dem „Vorlaufen in den Tod“ zur Seite gestellt. Bereits bevor wir existieren und zu leben beginnen, sind wir einbezogen in das Leben der Anderen, die uns ermöglichen: Zeugung, Elternschaft, das Geborenwerden, die Existenz als hilfloses Kleinkind – alle diese fundamentalen Aspekte unseres Lebens sind interexistentiell konstituiert. Wir dürfen die Verklammerung von Endlichkeit und Sinn nicht subjektivistisch und gar thanatologisch engführen. Vielmehr ist unsere Subjektivität, Personalität und Individualität a primis fundamentis intersubjektiv und kommunikativ verfasst. Und nur so ist uns auch – bei aller einzigartigen Individualität – Sinn jeglicher Art überhaupt zugänglich. Auch unsere Endlichkeit ist a priori in gemeinsame Lebens- und Praxisformen einbezogen. Der Tod der Anderen dient nicht nur zur Verdrängung der eigenen Sterblichkeit, wie Heidegger nahelegt. Der Tod naher Angehöriger, Verwandter und Freunde wird in einer Kultur des Umgangs mit endgültigem Verlust, Abschied und Trauer, Erinnerung und Gegenwärtighalten sozial gestaltet und bewältigt. Meine genuine Endlichkeit zeigt sich gerade und vor allem in dem, was wir die Transzendenz der Anderen nennen können (vgl. Rentsch 2011, 2010a). Kommunikative Interexistentiale wie zum Beispiel Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauen, gegenseitige Hilfe, Bemühen um Klarheit haben ihren Ort an der Basis einer vernünftigen Praxis. Unsere Endlichkeit im Leben zeigt sich in der unhintergehbaren Angewiesenheit auf diese – uns nicht verfügbaren – Sinn allererst eröffnenden und ermöglichenden Lebensformen. Insofern ist sogar die Zuspitzung auf die je eigene Individualität der Sinnorientierung ermöglicht durch interexistentielle Transzendenz, letztlich durch die Weltgeschichte und die in ihr geleisteten Sinnentwürfe und Sinnstiftungen. Diese und die Modi ihrer immanenten Transzendenz lassen sich nur überaus differenziert in ihrer internen Komplexität begreifen. Ihnen eignet eine primäre Ferne, die wir durch Verstehen und Aneignung in Nähe transformieren können. Wir leben von dieser interexistentiellen Transzendenz des Sinns, religiös, ethisch, politisch, rechtlich, wissenschaftlich, künstlerisch und in vielen anderen Bereichen. Selbst die freie Indivi-

2 Wie Gadamer in einem Gespräch anmerkte.

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dualität als Mitte der humanen Welt mit der personalen Menschenwürde als ihrem irreduziblen normativen Grund verdankt sich der weltgeschichtlichen religiösen Praxis, wie Hegel unmissverständlich deutlich macht. Diese den Einzelnen erst ermöglichende immanente, interexistentielle, kulturelle Transzendenz geschichtlichen Sinns gilt es, gegen eine zu subjektive Sinnanalyse geltend zu machen. Trotzdem kann mir (jedem Menschen) niemand die Aneignung des kommunikativ eröffneten Sinns abnehmen. Und: Dass Stekeler-Weithofers Analyse die Perspektive der kommunikativen, interexistentiellen Transzendenz einbeziehen will, ist klar,wenn er schreibt „Faith oder der Glaube ‚an Gott‘ ist am Ende in seinem wirklichen oder eigentlich relevanten Sinn nicht mehr zu unterscheiden von einer nicht nachlassenden Hoffnung, auf diesem Wege voranzukommen, und zwar im Modus der ‚Liebe‘ zu den Menschen und zur Welt, welche die vertrauensvolle Solidarität im guten Zusammenleben ebenso enthält wie die Freude des Enthusiasmus in einer guten Gemeinschaft. Enthusiasmus ist dabei ein Ausdruck, der für die im Grunde religiöse Haltung stehen könnte, dass wir teilnehmen an einem ‚göttlichen‘ Leben oder an der Praxis des Guten, Wahren und Schönen und dass in diesem Sinn das Göttliche in uns ist und wir im Göttlichen sind“ (91). Mir ging es darum, die Dimension der kommunikativen, interexistentiellen Transzendenz gegenüber der Endlichkeit der lebenspraktisch-individuellen Sinndimension stärker zu machen. Auch diese Transzendenz ist „immanent“ im schlichten Verständnis. In ihr zeigt sich aber – im Blick auf die Weltsinngeschichte – durchaus die von Hegel so genannte innere, interne Unendlichkeit.

II Gott 1. Zunächst muss klar sein, dass der vehemente, kathartische Zugriff StekelerWeithofers auf die Gottesfrage bewusst in der Tradition philosophischer Theologie „der säkularen theologischen Metaphysik bei Descartes, Spinoza, Leibniz und Hegel“ (107) steht. Ausgestattet mit diesem ehrwürdigen Hintergrund, fällt er allerdings apodiktische Urteile, von denen er selbst weiß, dass sie zunächst in vielen Rezipienten Erstaunen wecken werden: „Der unerhörte, scheinbar paradoxe, Kernsatz, der explizit anzuerkennen wäre, lautet: Wahre Religion ist immer in einem gewissen Sinn atheistisch. Wahre Theologie kann keinen ‚Glauben an Gott‘ predigen. Sie hat vielmehr für eine Haltung vertrauensvoller Hoffnung zu werben, besonders im Umgang mit anderen Menschen“ (9).Viele werden dieses Diktum so verstehen wie „wahre Theologie gibt es nicht“. Aber Stekeler-Weithofer vertritt durchaus einen Theismus, er redet philosophisch weiter von Gott, allerdings so: „Gott ist die Welt“ (106).Viele weitere Passagen kritisieren übliche Reden von Gott und jegliche „ontische“ Vorstellungen von Gott (141).

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2. Das Problem des Ansatzes von Stekeler-Weithofer sehe ich systematisch in dem ungeklärten Verhältnis von konventioneller religiöser Rede und der Tradition der Reflexion philosophischer Theologie, einer bestimmten Tradition zumal, die sich zum einen in Spinoza und Leibniz verdichtet, zum anderen in der Kantischen sinnkritischen Transformation der theoretischen Metaphysik in Praxis und in der dialektischen, anthropologisch-begriffskritischen Rekonstruktion der Trinitätstheologie durch Hegel. Gerade weil Stekeler-Weithofer einen so starken Akzent auf den klärenden Praxisbezug der traditionellen Metaphysik und Religion legt, muss meines Erachtens hermeneutisch-sinnkritisch viel vorsichtiger und genauer mit der konventionellen (überlieferten) religiösen Rede, zum Beispiel mit der Gebetssprache umgegangen werden. Ich möchte diese alternative Perspektive systematisch mit Wittgenstein entwickeln. Zunächst ist die soziale Tatsache zu berücksichtigen, dass wir gemeinhin und üblicherweise die religiöse Rede (und ihren Praxisbezug) als Kinder lernen – soweit dies möglich ist. Denn, wenn diese frühe Einübung nicht erfolgt, dann ist es später, als Erwachsener, schwer, noch einen Zugang zu dieser Rede zu finden. Die weit verbreitete Areligiösität in der ehemaligen DDR zeugt davon. So wählen etwa 80 % der Schülerinnen und Schüler nicht den Religions-, sondern den Ethikunterricht als Wahlpflichtfach. Ebenso verlieren heute viele Menschen ihre religiöse Lebensperspektive, wenn sie ihren Kinderglauben verlieren. Eine religiöse Aufklärung und Weiterbildung für Erwachsene ist nicht hinreichend entwickelt, der religiöse Diskurs der Öffentlichkeit bewegt sich auf schlichtem, unreflektiertem Niveau (zum Beispiel auch in den USA). Insbesondere sind die großen Traditionen der philosophischen Theologie nahezu unbekannt. Etwas bekannter sind die Standardparadigmen der Religionskritik: Religion als Entfremdung, Gott als Projektion menschlicher Wunschvorstellungen. Verbreitet ist (auch in der Medizin) ein vages „naturwissenschaftliches“ Weltbild mit kosmologischen („Urknall“) und evolutionsbiologischen („Der Mensch stammt vom Affen ab“) Vorstellungen. An der Stelle religionsphilosophischer Aufklärung oder nicht mehr verstehbarer traditioneller religiöser Sprache setzen nun breitenwirksam eine Vielzahl von Substituten und Surrogaten an, von Esoterik und Ayurveda bis zu Sport und Unterhaltungsindustrie als Religionsersatz (vgl. Rentsch 2005). Insofern sind Aspekte der Kulturkritik, wie sie Adorno und Horkheimer früh entwickelten, weiterhin, mitunter sogar gesteigert, zutreffend (Vgl. Adorno/Horkheimer 1947). Jedenfalls ist der öffentliche Diskurs nicht in der Lage, die religiöse Sprache und Praxis im Kern kritisch zu reflektieren. Auch diejenigen, die die religiöse Rede weiter verwenden, verfügen nicht zusätzlich über die Möglichkeit, diese Rede sprachkritisch insbesondere hinsichtlich ihrer ontisch-ontologischen Implikationen zu reflektieren. Ebenso ist der durchschnittliche Areligiöse und Atheist dazu nicht in der Lage. Vielmehr bewegt sich die allgemeine Wahrnehmung eher

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auf der Ebene der von Zeit zu Zeit vom Spiegel durchgeführten Umfrage, in der man die Frage „Existiert Gott?“ mit dem Ankreuzen des Feldes „Ja“ oder „Nein“ beantworten soll. Was „Existenz“ bedeutet, bleibt natürlich völlig offen. Aufgrund der skizzierten gesellschaftlichen Diskurssituation scheint mir eine rigide Zugangsweise zur Gottesfrage mit bestimmten philosophisch-theologischen Prämissen hermeneutisch zu kurz geschlossen zu sein. Die „durchschnittlichen“ Theisten und Atheisten können diese philosophischen Rationalitätsstandards auch nicht in einem Crash-Kurs erwerben. Mit Wittgenstein kann daher der Blick auf die Praxis der Glaubenden und der weniger oder gar nicht Glaubenden zur weiterreichenden Klärung dienen. Und hier scheint mir bei aller expliziten, theoretischen Unklarheit die konkrete Bedeutung des mit dem Gottesbezug vernünftigerweise verbundenen Sinns doch, vielfach latent, unreflektiert, bewusst zu sein. In der Tat: Ohne Hoffnung, Liebe und Glaube im alltäglichen Leben, wie eingeschränkt diese auch sein mögen, ist eine tragfähige Lebensorientierung nicht denkbar. Es kann nun durchaus sehr oft der Fall sein, dass sich diese Lebensorientierung in ontisch-thetischen Sätzen artikuliert, in Sätzen, die von der Existenz Gottes, von seinem Wirken und seinem Willen, vom Himmel, vom Jenseits sprechen. Nehmen wir die irreduzibel sinnkonstitutive Verklammerung von Sprachpraxis und Lebensform ernst, dann kann die aus philosophischer Sicht vorerkenntniskritische Ausdrucksform sehr wohl mit einem authentischen Lebensverständnis verbunden sein. Ein elementares Beispiel ist die Rede religiös erzogener Kinder von ihnen nahestehenden Verstorbenen: „Oma ist jetzt im Himmel“. Diese Ausdrucksweise impliziert ein ehrendes Angedenken an die Großmutter, die intuitive Anerkennung ihrer durch den Tod nicht tangierten, insofern ewigen Menschenwürde, einen fortdauernden, liebenden Einbezug des Guten, das sie verkörperte und vermittelte und das durch ihren Tod nicht vernichtet ist, sondern ganz konkret weiterwirkt. Die Großmutter beurteilt sogar weiter das eigene Handeln des Kindes, sie „sieht vom Himmel herab zu“. Eindeutig artikuliert sich in der Rede des Kindes ein wahrhaftiges existentielles Selbstverständnis und ein authentisches interpersonales Verhältnis zur Verstorbenen. Zudem ist dem Kind klar, dass man nicht „oben im Himmel nachgucken kann“, ob die Oma auch wirklich dort ist. Würde man das Kind fragen, ob „oben im Himmel“ dasselbe bedeute wie zum Beispiel „im Flugzeug auf dem Flug nach Teneriffa“, so würde es dies verneinen. Das heißt, dass die religiöse Rede einen anderen Status hat als andere übliche Sprachformen, ist auch intuitiv bewusst. Hinzu kommt: Es gibt für die in dieser Sprache zum Ausdruck kommende, authentische, praktische Transzendenzdimension in der uns vertrauten soziokulturellen Alltäglichkeit keinen Ersatz. Die philosophische Erläuterungssprache, die ich zur Sinnexplikation der Rede des Kindes verwendet habe, steht dem Kind nicht und seinen Erziehern ebenfalls nicht so zu Verfügung, dass sie die traditionelle religiöse

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Sprache ersetzen könnte. Religiöse Erziehung aber muss früh einsetzen, um wirklich tragfähig zu sein und später auch in aufgeklärten und säkularen Kontexten tragfähig zu bleiben. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: der der kulturellen Tradition. So ist uns die authentische praktische Transzendenzdimension in unserer abendländischchristlichen Kultur im Wesentlichen überliefert und vermittelt durch die etwa dreitausendjährige Tradition von Bibel-Exegese, katholischer und evangelischer Theologie und Dogmatik unter Einschluss aller kritischen, aufklärenden und säkularisierenden Ansätze. Es ist kein reaktionärer Traditionalismus, darauf hinzuweisen, dass die authentische praktische Bedeutung der christlichen Transzendenzbezüge in ihrer Tiefendimension ohne die Sprache des Alten und Neuen Testaments, die Gebetssprache, die Liturgik unter Einschluss der großen Leistungen der geistlichen Musik schwer vermittelbar sein dürfte. Auch die vernünftige, erkenntniskritisch-praktische, philosophische Rekonstruktion der christlichen Kerngehalte durch Kant, Hegel und andere setzt zunächst ein Vorverständnis der religiösen Rede voraus. Was Bilderverbot, Menschwerdung und Tod Gottes auch heute noch in einer kritischen Vernunftperspektive praktisch bedeuten können, wie die Trinitätstheologie anthropologisch-praktisch und dialektisch rekonstruiert werden kann, das setzt diese über Jahrtausende tradierte, kommunizierte und reflektierte Sprach- und die damit verbundene Lebenspraxis voraus. Was am Beispiel des Kindes vielleicht noch einfacher nachvollziehbar ist, gilt nach meinem Urteil daher auch für traditionelle und gegenwärtige onto-theologische, metaphysische und theologisch-dogmatische Sprachpraxen. Losgelöst von ihrer sehr komplexen kulturellen Kontextualität sind sie hermeneutisch unzugänglich. Beziehen wir sie aber auf den Kontext der mit ihnen verbundenen Praxisformen, so werden sie zugänglich. Analoges gilt für den Buddhismus und andere Religionsformen. Alle diese Sprach- und Praxisformen sind selbstverständlich kritisierbar, transformierbar, möglicherweise ersetzbar oder aufzugeben, und diese Prozesse der Kritik, Transformation und Aufhebung prägen auch die gesamte Geschichte. Aber wir verfügen auch in der Philosophie nicht über eine allen anderen Sprachen überlegene Metasprache der „reinen“ Vernunft, mit der wir ein Instrument hätten, alle anderen Sprachen zu beurteilen und zu kritisieren. Daher mündet meine Kritik an der Religions- und Theologiekritik Stekeler-Weithofers in der Forderung, die eigene Methodologie stets selbst wiederum kritischhermeneutisch zu reflektieren. Der Status der eigenen Sinnexplikationssprache muss daher stets als problematisch bewusst sein. So ist, um das grundlegende Beispiel der Tradition einzubringen, die Bedeutung der Rede von der „Existenz Gottes“ keineswegs klar, auch in der großen Reflexionstradition nicht. In der Tradition gibt es den Ansatz, die Rede vom Sein Gottes als unsinnig zu kritisieren,

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da Gott auch das Sein, alles, was ist, geschaffen habe. Dem entspricht noch das Diktum Luthers hinsichtlich der Frage, was Gott vor der Schöpfung getan habe: Er sei an die Elbe gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu prügeln, die solche Fragen stellen. Auf der Ebene des Anrennens gegen die Grenzen der Sprache ist die Rede vom „Überseienden“ (hyperousios, supereressentialis) im Neuplatonismus zu verorten. Die rational-mystischen Traditionen der negativen Theologie haben nie leichtfertig von der Existenz Gottes gesprochen. In dieser Tradition stehen im 20. Jahrhundert zum Beispiel noch Paul Tillich, der gegen falsche objektivierende Gottesvorstellungen die Rede vom „Gott über Gott“ einsetzt, und das bekannte Diktum Dietrich Bonhoeffers: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ An diesen Beispielen wird deutlich, dass die religiöse Sprache (seit dem Bilderverbot) und auch die theologische Reflexionssprache reich und komplex ist, keineswegs ein triviales ontisches Seins- und Existenzverständnis voraussetzt und vielmehr im Kern oft schon das zu artikulieren versucht, was Kant dann als transzendentale Dialektik entfaltet, und eben das, was Wittgenstein das „Anrennen“ nennt. Wir haben es in den Religionen bereits von Beginn an mit den sinnkonstitutiven Grenzen unseres Welt- und Selbstverständnisses und unserer gesamten Praxis zu tun (vgl. Rentsch 2011). Ebenso darf eine erkenntnis-, sprach- und metaphysikkritische Perspektive nicht die Möglichkeit unterlaufen oder gar ausschließen, es könne in den religiösen Traditionen nicht noch verborgene oder vergessene Sinnpotentiale geben, die wir erneut aktualisieren oder allererst entdecken können bzw. müssen. So kann es nach meinem Urteil sehr wohl sein, dass ein ökologisches Bewusstsein von der „Geschenktheit“ der natürlichen Ressourcen und unserer bleibenden Angewiesenheit auf diese angesichts unserer bleibenden Endlichkeit in alten Kulturen bereits erheblich weiter entwickelt war als nun in unserer technischen Zivilisation. Ebenso könnte eine Vertiefung des praktischen, existentiellen Selbstverständnisses des spätmodernen Menschen durchaus mit einer neuen Aneignung und vernünftigen Rekonstruktion solcher religiöser Grundbegriffe wie „Schöpfung“ und „Gnade“ verbunden sein. Es ließe sich somit zeigen, dass der Fortschrittsprozess in der Weltgeschichte keinesfalls linear verläuft, sondern viel komplexer, zeitlich versetzt, mit Rückfällen und Fehlentwicklungen verbunden ist. Es ist keineswegs so, wie ein oberflächliches Aufklärungsverständnis es sich wünscht, dass ein Verlauf vom Mythos über die Religion bis zur wissenschaftlichtechnischen Zivilisation und zur praktischen Autonomie des Menschen objektivierbar ist. Vielmehr können vernünftige Lebens- und Praxisperspektiven schon sehr früh in Mythos, Religion und traditioneller Philosophie und Theologie angelegt und expliziert worden sein, während Technik und Wissenschaft auf der bloßen Verstandesebene in extreme Fehlentwicklungen führten und weiter führen

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können, insbesondere, wenn sie sich mit irrationalen säkularen Ideologien oder funktionalisierten Religionen verbinden. Mit drei Thesen will ich meine kritischen Bemerkungen abschließen. Erstens. Bei aller Zentriertheit der Sinndimension auf die einzigartige, existentielle Individualität muss gleichwohl die interexistentielle wie auch die weltgeschichtliche und die onto-kosmologische Dimension sinnkonstitutiver Transzendenz bewusst sein, um einen Subjektivismus bzw. Solipsismus zu vermeiden. Je ich beziehe mich, recht verstanden, nur ermöglicht sowohl durch das Wunder aller Wunder, dass Seiendes ist (Heidegger) als auch durch die gesamte Weltsinngeschichte, selbst auf Sinn. Ferner wird mir Sinn nur interexistentiell erschlossen, traditionell durch den Geist, den logos, die Sprache, jedoch ebenfalls ganz konkret leiblich durch meine Geburt und mein mir nur durch die Mitmenschen ermöglichtes Werden zu mir selbst. Die interexistentielle Transzendenz ist schlechthin sinnkonstitutiv. Aber noch fundamentaler für alles, was Menschen überhaupt sind und tun können, ist die onto-kosmologische Transzendenz, wie auch immer wir sie dann artikulieren. Die Existenz des Universums ist schlechthin unverfügbare und unhintergehbare Möglichkeitsbedingung allen Sinns (vgl. Rentsch 2005). Auch wenn wir die Sinnerfahrung und Sinnorientierung noch so existentiell-individuell analysieren (wie dies Stekeler-Weithofer zu Recht tut), so bleiben diese anderen, „großen“ Aspekte der Transzendenzdimension doch irreduzibel vorgängig. Die traditionelle Rede von Gott versuchte insbesondere, diese Dimension stark zu akzentuieren und bewusst zu machen, und zwar sowohl in der Verkündigungssprache als auch in der theologischen und metaphysischen Reflexionssprache. Zweitens. Obwohl die Philosophie keineswegs leichtfertig von Gott und seiner „Existenz“ sprechen kann, so ist eine kathartische Negation der Existenz ebenso problematisch. Vielmehr ist der Begriff „Gott“ im Sinne eines kritisch-hermeneutischen Differentialismus wie zum Beispiel auch die Begriffe „Individuum“, „Person“, „Würde“, „Freiheit“, „Wahrheit“ und „Vernunft“ ein offener Reflexionsbegriff mit möglichen, noch nicht erschlossenen Sinn- und Bedeutungspotentialen, die unser Welt- und Selbstverständnis in seiner Tiefe betrifft (vgl. Gabriel 1972). (Mit der absoluten Metapher der Tiefe versuche ich, die Dimension der Transzendenz in der Immanenz anzuzeigen.) Aufklärung und Vernunftgeschichte sind Prozesse mit offener Zukunft. Wir arbeiten weiter an ihrem Verständnis und ihrer Klärung. Immer wieder kann etwas Wichtiges verloren gehen. Es gilt – ich denke an Leipzig und Ernst Bloch – systematisch das Prinzip Hoffnung. Drittens. Methodologisch und bezogen auf die philosophischen Metasprachen der Sinnexplikation gilt es, das systematische Grundproblem ihres Status und ihres Verhältnisses zueinander kritisch-reflexiv bewusst zu halten. In welchem Verhältnis stehen Sprachphilosophie und Sprachkritik zur Hermeneutik und zur

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Phänomenologie (vgl. Rentsch 2003)? Wie verhalten sie sich zur traditionellen Ontologie und Metaphysik? Wie lassen sie sich zurückbeziehen auf die Sprachen der Transzendentalphilosophie und der Dialektik (vgl. Stekeler-Weithofer 1992, 2005)? Die traditionellen Ansätze der Onto-Theologie, der negativen Theologie und auch der rationalen Mystik weisen Sinnpotentiale auf, die durchaus ein offenes Problem ihrer erneuten Rekonstruktion und Aneignung stellen. Ein Beispiel ist der Transzendentalthomismus. Mit Wittgensteins pragmatischem Genauigkeitszugriff wäre auch eine solche erneute Rekonstruktion denkbar. In seinen späten Analysen ist hier ein blinder Fleck hinsichtlich seiner eigenen Erläuterungssprache zu verorten. In der Konstanzer Tradition ginge es um ein kritischreflexives Verhältnis zur eigenen Sinnexplikationssprache, der Parasprache.

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Hans J. Schneider

Was heißt ‚religiöse Erfahrung‘? In seinem Buch Sinn (2011) erörtert Pirmin Stekeler-Weithofer eine Fülle wichtiger Themen in einem weit ausgreifenden philosophiegeschichtlichen Zusammenhang; ich habe viel daraus gelernt. Er lässt seine Leser nicht im Zweifel darüber, zu welchen Auffassungen ihn sein Nachdenken jeweils gebracht hat, er ist sich aber im Klaren, dass der Ton apodiktischer Entschiedenheit, zu dem er immer wieder greift, auf manche Rezipienten abstoßend wirken könnte. Dem setzt er die Erwartung entgegen, dass seine klaren Stellungnahmen der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit besser dienen werden als permanent mitgeführte Selbstrelativierungen, jedenfalls dann, wenn dadurch Dialoge entstehen, in denen beide Teilnehmer bereit sind, Gegenreden zu formulieren, anzuhören und zu erwägen. Dieser Beitrag wird eine solche Gegenrede führen. Er bezieht sich auf zwei (ich möchte sagen) freundschaftliche Rippenstöße in Richtung meines Religionsbuches (Schneider 2008). Beide Bemerkungen sind eher beiläufig, und beide sind in dem wohlwollenden Ton gehalten, den man für eigentlich hoffnungsvolle Autoren hat: …leider auch noch bei Schneider… An beiden Stellen handelt es sich nach meinem Urteil aber um Missverständnisse, denn der These Stekeler-Weithofers, die Religion habe es mit etwas Über-Individuellem zu tun, nicht mit den „Stimmungen“ (Stekeler-Weithofer 2011, S. 37) oder „Erfüllungsgefühlen“ (StekelerWeithofer 2011, S. 45), die bei einzelnen Menschen in prinzipiell angebbaren Zeitspannen als so genannte „mental events“ auftreten können, stimme ich nicht nur zu, sondern ich habe sie auch selbst mehrfach ausgesprochen (vgl. Schneider 2008, S. 15, 55, 162, 184 f., 206, 214). Überhaupt meine ich, dass unsere Auffassungen zum Thema in weiten Teilen und gerade auch im Grundsätzlichen übereinstimmen. Das Terrain ist allerdings so unübersichtlich, dass mir der Versuch sinnvoll erscheint, durch erläuternde Bemerkungen auch für andere Leser mehr Klarheit in die Sache zu bringen als dies meine früheren Formulierungen offenbar vermocht haben.

1 Empfindung, Erlebnis, Erfahrung Es geht um die Frage, was der Ausdruck „religiöse Erfahrung“ bedeuten soll, an dessen Legitimität Stekeler-Weithofer zweifelt (2011, S. 38), und die Schwierigkeit ist aus meiner Sicht die folgende: Was er selbst uns als die richtige Sicht auf die condition humaine und die richtige Haltung zu ihr in immer neuen Anläufen nahezubringen versucht, muss ja wohl auf seinen eigenen Lebenserfahrungen

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beruhen; es darf nicht ausschließlich auf die Lektüre philosophischer Klassiker zurückgehen, über deren Meinungen er in seinem Buch dann nur auf neutrale Weise informieren würde. Transzendentalphilosophische Analysen können zwar eine wichtige Hilfestellung sein, sie müssen dem jeweiligen Leser aber als Analysen seiner eigenen Lage so einleuchten wie dies bei ihren ursprünglichen Verfassern einmal der Fall war. So wie Stekeler-Weithofer selbst mit Entschiedenheit beansprucht, die angemessenen von den fehlgehenden Analysen unserer Lage unterscheiden zu können, so differenzieren wir als Leser seines Buches ganz selbstverständlich zwischen denjenigen seiner Lagebeschreibungen, die wir für unsere eigene Situation als zutreffend akzeptieren können, und solchen, für die das nicht der Fall ist. Wir tun dies als Betroffene, die eine mehr oder minder ausgearbeitete und reflektierte Sicht auf ihre Lage immer schon mitbringen, wenn sie die Lektüre eines philosophischen Werkes beginnen, und diese mitgebrachte Sicht stammt auch auf unserer Seite aus unseren jeweiligen Lebenserfahrungen. Lektüre kann diese Sicht zwar verändern, aber nur in dem Maße, in dem es dem Leser gelingt, das Gelesene auf die Erfahrungen zu beziehen, die er in seinem eigenen Leben gemacht hat. Diese Überlegung zeigt, dass wir ein Verständnis des Ausdrucks „Erfahrung“ benötigen, das es gestattet,von den persönlichen Erfahrungen (eines Autors, eines Lesers) zu sprechen, ohne durch diese Ausdrucksweise schon in den Bereich der bloß individuellen Stimmungen und Gefühle zu geraten – was auch dem Wortgebrauch in der Alltagssprache nicht ganz entsprechen würde. Wer von einer Erfahrung berichtet, der beansprucht etwas anderes als derjenige, der von sich berichtet, er hätte jüngst in dieser oder jener Situation ein „komisches Gefühl“ gehabt. Wenn dann ein solcher über-individueller Erfahrungsbegriff bestimmt ist (der sich am Begriff der Lebenserfahrung zu orientieren hat, nicht am erkenntnistheoretischen Begriff des Empirischen (vgl. Schneider 1987)), kann in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob er eine Spezifizierung zulässt, die es gestattet, unter den Erfahrungen solche zu bestimmen, die religiös zu heißen verdienen. Zunächst scheint mir klar, dass eine Erfahrung der Art, wie sie im Kompositum „Lebenserfahrung“ angesprochen wird, keine spezifische Empfindung sein kann, nichts von der Art einer „Nervenreizung“. Wer z. B. sagt, seine Lebenserfahrung habe ihn gelehrt, dass der Lehrer in der Sonntagsschule (gegen die Kindermeinung seines damaligen Zöglings) doch im Recht gewesen sei, dass nämlich tatsächlich das Geben seliger sei als das Nehmen, der sagt etwas kategorial anderes als derjenige, der von einer im Dunkeln ergriffenen Frucht sagt, sie führe in seinen Fingern zu einer Empfindung, wie er sie vom Berühren von Pfirsichen kenne. Und so lässt sich als erster Punkt in meiner Gegenrede formulieren: Ich habe so wenig wie der von Stekeler-Weithofer im selben Zusammenhang genannte Charles Taylor versucht, einen Zugang zur Religion „mit der bloß subjektiven Empfindungsper-

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spektive des Einzelnen“ anzufangen (Stekeler-Weithofer 2011, S. 45). Für Taylor gilt sogar, dass er im Gegenteil diese „Empfindungsperspektive“ als gescheiterten Ansatz einer atomistischen Erkenntnistheorie überzeugend kritisiert hat (vgl. Taylor 1995). Vielleicht ist das Wort „Empfindung“ von Stekeler-Weithofer hier aber nur ungeschickt gewählt, und er wollte es an dieser Stelle gar nicht atomistisch verstanden wissen. Das Gewicht seiner Formulierung läge dann nicht auf dem Substantiv „Empfindung“, sondern auf dem Wort Beiwort „subjektiv“. Es gibt tatsächlich auch einen Sprachgebrauch, bei dem das Wort „Empfindung“ auf einer höheren Ebene Anwendung findet als der einer spezifischen, auf ein einzelnes Organ beziehbaren Sinneswahrnehmung. Wenn wir uns z. B. Ausdrucksweisen vor Augen halten wie „er empfand meine Bemerkung als verletzend“ oder „ich habe den Aufenthalt im Zen-Garten als eine Wohltat empfunden“, dann sehen wir, dass es in diesen Fällen nicht um isolierte Wahrnehmungen geht, die auf einen spezifischen Reiz zurückgehen, sondern um solche, die die jeweilige Lage des ‚ganzen Menschen‘ in einer sozial oder kulturell geprägten und von ihm auch so aufgefassten Situation betreffen.Wer eine Bemerkung als verletzend empfindet, hat nicht nur eine Sprache so gut erlernt, dass er die Nuancen der sozialen Beziehungen erkennt, die im Verlauf der Gesprächsbeiträge der involvierten Personen erzeugt, aufrecht erhalten oder verändert werden. Er hat auch eine Auffassung von der Geschichte seiner Beziehung zur sprechenden Person, und demgemäß hat er eine Meinung dazu, welche Arten von Äußerungen dieser bisherigen Geschichte angemessen sind und welche ihr eine neue, z. B. von Konkurrenz oder Feindschaft geprägte Wendung geben würden.¹ Eine solche atomistisch nicht fassbare Einbettung gibt es auch im zweiten Beispiel: Wer sein Verweilen in einem Zen-Garten als Wohltat empfindet, wird sich vermutlich Teile der entsprechenden chinesischjapanischen Kulturtradition angeeignet haben oder zumindest eine Bekanntschaft mit anderen Gartenformen haben, die ihn empfänglich macht für Besonderheiten gerade dieses für ihn neuartigen Gartens. Wenn man in solchen Fällen trotz ihres ganzheitlichen Charakters von Empfindungen sprechen will, dann ist das damit Gemeinte den Gefühlen und Stimmungen näher, die ebenfalls einen umfassenderen Charakter haben als einzelne Sinnesempfindungen und ebenfalls Urteilsmomente enthalten können. Deshalb ist an dieser Stelle zu fragen, ob Stekeler-Weithofers Vorbehalt vielleicht in der These besteht, ich würde, wo es um religiöse Erfahrungen gehe, zwar nicht von einzelnen Sinneswahrnehmungen, wohl aber von Gefühlen und Stimmungen

1 Diese Meinung kann in dem Sinne implizit sein, dass ihr Träger sie erst dann bemerkt, wenn sein Gegenüber eine Äußerung macht, die seinen Erwartungen nicht entspricht.

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sprechen und würde so zwar etwas Ganzheitliches erörtern (eine Gesamtstimmung, keine Einzelempfindung), das aber gleichwohl im Bereich des PersönlichIndividuellen (des Subjektiven) bleibe, wo es doch nach seiner Meinung in der Religion um etwas Überpersönliches gehen müsse. Und in diesem Sinne würde ich mich eines Kategorienfehlers schuldig machen. Auch in dieser Lesart sehe ich aber ein Missverständnis. Jedenfalls war es nirgendwo meine Absicht, den Begriff der religiösen Erfahrung als gleichbedeutend mit Ausdrücken wie „religiöses Gefühl“ oder „religiöse Stimmung“ zu gebrauchen. Stimmungen und Gefühle stoßen uns zu, sie kommen und gehen. Der junge Mann im Zen-Garten kann sich wünschen, seine Reisegefährtin würde die friedlich-gelassene Stimmung, in die ihn die Umgebung versetzt hat, mit ihm teilen, und sie würde seine liebevollen Gefühle erwidern. Es gibt aber keinen Grund für die Erwartung, dass die Stimmungen der beiden Personen übereinstimmen; vielleicht fühlt sich die Begleiterin gelangweilt, oder sie erlebt die ihr fremde Gartengestaltung als ähnlich abstoßend („zu viele Steine“) wie das sentimentale Gehabe ihres Begleiters. Dessen Hochstimmung wiederum kann schnell verfliegen, wenn er seine Selbsttäuschung über ihre Gefühle bemerkt. Um die subjektive von einer trans-subjektiven Dimension einer Episode unterscheiden zu können, möchte ich innerhalb des Bereichs der jetzt thematisierten ganzheitlichen Fälle für die subjektive Seite das Wort „Erlebnis“ reservieren (vgl. Schneider 2004). Jeder hat zunächst einmal seine Erlebnisse; die Gleichheit der (äußeren) Situationen ist mit einer Verschiedenheit der Erlebnisse (ihrer inneren Seiten) durchaus vereinbar. Das Wort „Erfahrung“ soll dann, in Abgrenzung dazu, auf diejenigen Fälle bezogen werden, in denen der Bericht über eine erlebte Episode mit dem Ansinnen verbunden wird, der Zuhörer könne aus ihm auch etwas für das Verständnis seiner eigenen Lage lernen, denn es gehe auf der gewählten Beschreibungsebene um eine Situation oder Lage, die beiden gemeinsam sei. Auf das oben genannte Beispiel bezogen: Wer von sich sagt, er habe die Erfahrung gemacht, das Geben sei tatsächlich seliger als das Nehmen, der beansprucht mit seinem Bericht mehr als nur die Schilderung eines Erlebnisses. Es geht ihm nicht um eine Episode, in der es ihm z. B. einen besonderen „Spaß gemacht hat“, etwas zu verschenken. Es geht nicht um seine eigenen „mental events“, sondern er möchte seinem Zuhörer seine Sicht als eine vermitteln, die dieser für sich selbst übernehmen könnte und sollte. Ich möchte diesen Unterschied durch die folgende Aussage präzisieren: Nur manche unserer Erlebnisse werden zu Bestandteilen von Erfahrungen, und zwar dadurch, dass wir sie auf eine bestimmte Weise verarbeiten. Diese besteht darin, das fragliche Erlebnis in unsere Sicht auf den jeweiligen Lebensbereich so zu integrieren, dass das Resultat dieser Integration unser Verständnis dieses Le-

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bensbereichs entscheidend prägt. Dieses Verständnis wiederum halten wir, wo es um Erfahrungen geht, für verallgemeinerbar.² Daraus wird bereits ersichtlich, dass eine gelungene Integration dieser Art sich auf unsere Einstellung zu dem auswirkt, was uns in diesem Bereich begegnet; es bestimmt die Weise, in der wir in Zukunft damit umgehen. Da nun die Sicht auf einen Lebensbereich mehr oder minder angemessen sein kann (was dann auch für die Einstellung zu dem gilt, was uns in ihm begegnet und entsprechend für unseren Umgang damit), entsteht hier die Möglichkeit, dass die Erfahrungen eines bestimmten Menschen (so wie sie in seinem Bericht artikuliert werden) auch für andere Menschen eine Bedeutung haben. Durch den Erfahrungsbericht eines anderen können wir unsere bisherige Sicht auf den fraglichen Lebensbereich korrigieren oder ergänzen. Berichte einer Person über ihre Empfindungen und Erlebnisse beanspruchen dies nicht. Sie können diese Relevanz für andere aber z. B. indirekt bekommen, durch vermittelnde Schritte: Die Schmerzempfindung meiner Partnerin bedeutet für mich, dass ich zur Apotheke gehe, nicht aber, dass ich selbst ihr Medikament einnehme. Man könnte deshalb sagen, jede potentielle Erfahrung fange zwar als Erlebnis an, aber das, was wir dann schließlich als Erfahrung bezeichnen, bleibe auf dieser individuellen, für andere nicht unmittelbar relevanten Ebene, auf der auch die Stimmungen und Gefühle angesiedelt sind, nicht stehen. Aus einem Erlebnis wird also erst durch einen bestimmten Kontext, insbesondere durch das, was nachher geschieht (durch die Auswirkungen des Erlebnisses), eine Erfahrung. Anders als ein Erlebnis und eine Stimmung ist eine Erfahrung daher kein zeitlich begrenztes Vorkommnis, das wie ein Fieberanfall kommt und geht. Unsere Erfahrungen formen unsere Identität vielmehr auf nachhaltige Weise. Wie die erworbenen Falten unserer Gesichtszüge gehören sie zu uns als Personen; wir tragen sie mit uns herum wie unsere angeborene Konstitution. Sie prägen unsere Einstellung zu den einschlägigen Bereichen des Lebens und damit auch unsere zukünftigen Handlungsweisen.

2 Religion In meinen eigenen Klärungsbemühungen habe ich den Begriff der Religion inhaltlich so bestimmt, dass der Bereich des Lebens, von dem eben die Rede war, in 2 Dies findet sich ausführlicher erörtert in meinem Aufsatz „‚Erfahrung‘ in Wissenschaft und Alltag“ (Schneider 1987). Dort wird an der Erzählung Nach dem Balle von Tolstoi gezeigt, was es heißt, dass ein verwirrendes Erlebnis von einem jungen Mann zu einer Erfahrung verarbeitet wird, die ihn davon abhält, eine militärische Laufbahn einzuschlagen.

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ihrem Fall das ganze Leben ist. Eine Religion als Institution ist für mich eine Artikulations- und Praxisform, die eine wahrhaftige Einstellung zum Leben zugleich artikuliert und ihren Angehörigen praktisch ermöglicht (vgl. Schneider 2008, S. 13).³ Ich habe den Eindruck, dass Stekeler-Weithofer dieser Bestimmung, was den Aspekt der Artikulation angeht, folgen könnte. Wie er es mit der praktischen Ermöglichung einer Einstellung hält, die ich für die differentia specifica der Religion halte (als Institution, im Unterschied z. B. zur akademischen Philosophie), wird mich gleich noch beschäftigen. Wenn wir nun fragen, ob wir manche Erfahrungen religiös nennen dürfen, bekommt diese Frage im Licht der hier angestellten Überlegungen die Gestalt: Kann es bestimmte episodenhafte Lebenserfahrungen geben, die das Leben als Ganzes (die unser Verständnis der condition humaine) betreffen und nachhaltig beeinflussen? William James hatte diese Frage bejaht und sich dabei auf eine Fülle persönlicher Zeugnisse vieler verschiedener Menschen gestützt (vgl. James 1979). Ich hatte auf der von ihm angebotenen Basis versucht, den systematischen Kern seiner Überlegungen durch vier Merkmale der religiösen Erfahrung zu fassen, nämlich (1) sie betrifft die Haltung zum Ganzen des Lebens, (2) darin ist speziell die leidhafte Seite eingeschlossen, (3) die Integration dieser Seite gelingt durch die Aufgabe von Beherrschbarkeitsphantasien, und (4) der in der religiösen Erfahrung vollzogene Wandel ist nachhaltig; er zeigt sich in einer bleibenden seelischen Standfestigkeit. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass keine dieser Bestimmungen auf der Ebene von Merkmalen religiöser Empfindungen oder Erlebnisse angesiedelt ist. Vielmehr sollten diese vier Charakteristika, in denen es (wie besonders das letzte deutlich macht), um eine in der betreffenden Person fest verankerte und zeitlich sich weit erstreckende Haltung geht, erkennen lassen, wie weit die religiöse Erfahrung in meinem Sinne (ob nun in Übereinstimmung mit James oder in Abwandlung seiner Gedanken) von dem entfernt ist, was oben unter den Begriffen „Empfindung“, „Stimmung“, „Gefühl“ und „Erlebnis“ erörtert wurde. Welche Haltung jemand zum Ganzen seines Lebens hat und welchen Grad an Nachhaltigkeit diese Haltung hat, lässt sich nicht an seinen einzelnen Empfindungen oder Stimmungen ablesen. Bei Empfindungen wäre dies von vornherein widersinnig, weil sie sich nicht auf das Ganze einer Situation beziehen können, bei Stimmungen und ‚Lebensgefühlen‘ ist diese Art eines Ganzheitsbezugs zwar gegeben, aber diese Ganzheit ist nicht die des ganzen Lebens und gerade sie sind durch 3 Das Wort „wahrhaftig“ in dieser Bestimmung meint übrigens nicht ‚unwahr, aber subjektiv ehrlich‘, sondern es soll auf das Ziel verweisen, gemeinsam eine Sicht auf das Leben zu gewinnen, das von allen jeweils bisher erkannten Selbsttäuschungen frei ist. Die Verfolgung dieses Ziels verlangt interreligiöse Kommunikation.

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Wechselhaftigkeit bestimmt, sie bestehen nicht in einer sich durchhaltenden Standfestigkeit und dürfen daher nicht Haltungen genannt werden. Und auch der Rekurs auf ein Erlebnis ist (wie oben ausgeführt) nicht für sich genommen schon der Bezug auf eine Erfahrung. Worum es hier geht lässt sich vielleicht durch die Beantwortung der Frage deutlicher machen, ob es im Sinne von William James wäre, auch von religiösen Empfindungen, Stimmungen, Gefühlen und Erlebnissen zu sprechen, ob es nicht sogar angemessener gewesen wäre, wenn er seinem Buch den Titel gegeben hätte „Die Vielfalt religiöser Erlebnisse“, denn es scheinen ja gerade die Erlebnisse zu sein, die voneinander äußerst verschieden sein können, auch wenn James selbst auf der Basis der von ihm zitierten Erlebnisberichte auf eine abstrakte Ebene wechselt und von „der“ religiösen Erfahrung im Singular spricht.⁴ Wenn z. B. ein Katholik die Hostie auf seiner Zunge spürt, wenn er einem Gottesdienst beiwohnt und ihn als besonders bedeutsam erlebt, wenn er eine Pilgerfahrt macht – wird man ihm dann nicht religiöse Empfindungen, Gefühle und Erlebnisse zuschreiben wollen? Eine solche Zuschreibung kann in der Tat sinnvoll und zutreffend sein, allerdings ist zu beachten, welche Umstände dafür vorliegen müssen. Hier ist einer der Orte, an dem es darauf ankommt, die Illusionen des von Taylor kritisierten erkenntnistheoretischen Atomismus zu vermeiden. So wenig, wie wir sagen können, ein Kleinkind, das einen Turm auf dem Schachbrett seines Vaters packt und nach dessen Protest (wie wir bemerken: an etwas anderer Stelle) wieder absetzt, habe dem Vater dadurch Schach geboten, so wenig lässt sich von einem isolierten Seelenzustand (wenn wir ihn denn vor uns bringen und einvernehmlich über ihn sprechen könnten) sagen, er sei eine religiöse Empfindung. Empfindungen, Erlebnisse, etc. können Teile von Episoden sein, die wir (wenn sie die oben angeführten Merkmale tragen) als ganze religiöse Erfahrungen nennen. Unter der Bedingung, dass sie in dieser Einbettung stehen, können dann auch die Erlebnisse in einem abgeleiteten Sinne religiöse Erlebnisse heißen. Demnach ist es der Kontext, der bestimmt, ob einer Empfindung, einem Gefühl oder einem Erlebnis die Bestimmung „religiös“ zugesprochen werden kann. Es ist nicht ein isoliert feststellbares Merkmal von einzelnen Empfindungen und Erlebnissen (wie z. B. eine ungewöhnliche Helligkeit in der Wahrnehmung, ein „überirdischer Glanz“), das sie als religiös auszeichnet und das es dann sekundär gestatten würde, auch den ganzen Komplex (die Episode und ihre Verarbeitung) religiös zu

4 Diese Differenzierung zwischen Erlebnis und Erfahrung scheint man im Englischen allerdings nicht mit einem gängigen einzelnen Wort ausdrücken zu können, das sich dem Ausdruck „experience“ gegenüberstellen ließe.

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nennen. Das Abhängigkeitsverhältnis ist umgekehrt: Nur was im Kontext einer religiösen Erfahrung auftritt, kann (als Empfindung, Stimmung, Gefühl oder Erlebnis) wegen dieses Kontextes religiös heißen. Dem steht nicht entgegen, dass Empfindungen und Erlebnisse, die erst später durch eine reflektierende Vergewisserung über ihren Kontext und durch die positive Beantwortung der Frage, ob und wie sie dauerhafte Folgen zeitigen, als religiöse ausgewiesen werden, schon zur Zeit ihres Auftretens von der betroffenen Person selbst als bedeutsam empfunden und wertgeschätzt werden können; ihr religiöser Charakter kann sich für den Betroffenen schon abzeichnen oder ihm von Anfang an als unzweifelhaft gewiss erscheinen. Ihre Funktion für die Person kann z. B. darin liegen, dass sie den überkommenen religiösen Formen, die sie pflegt, neue Energie zuführen, aber auch darin, dass sie von ihnen zu Zweifeln an solchen Formen geführt wird (vgl. Wohlrapp 2010). Es kann aber auch sein, dass die Besonderheit solcher Empfindungen in einem bestimmten Fall in nichts anderem als ihrem „aufregenden“ oder „faszinierenden“ Charakter besteht. Sie haben mit dem Bereich der Religion vielleicht gar nichts zu tun und werden nach ihrem Abklingen schnell vergessen. Aus den genannten Gründen erscheint es mir angemessen, den Begriff der religiösen Erfahrung so zu bestimmen, dass eine intersubjektive Vergewisserung dazugehört, wie klein oder groß der Kreis derer auch sein mag, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt zu vergewissern suchen, und ganz unabhängig davon, wie sicher der Betroffene selbst sich zur Zeit seines Erlebnisses in der Einschätzung seiner Bedeutsamkeit fühlte. Etwas „bloß Subjektives“, das dauerhaft subjektiv bleibt, sollte nicht Erfahrung sondern Erlebnis heißen, – aber gerade darin, so denke ich, bin ich mit Stekeler-Weithofer einig.

3 Die praktische Ermöglichung einer Einstellung Ich komme abschließend auf die Frage zurück, ob das, was ich im praxisbezogenen Teil meiner Religionsdefinition ausdrücken wollte, im Denken StekelerWeithofers so abwesend sein kann, wie es das Engagement im Ausdruck seiner Vorbehalte gegen religiöse Empfindungen, Gefühle und Erlebnisse könnte vermuten lassen. Ich hatte oben davon gesprochen, dass er an seine Leser das Ansinnen stelle, ihre Lage auf eine bestimmte, von ihm als angemessen herausgestellte Weise zu sehen, und dass die von ihm dabei abgegebene Beurteilung auf seiner eigenen Lebenserfahrung beruhen müsse. Aber er geht weiter. Nicht nur verlangt er von seinen Lesern, Fakten zur Kenntnis zu nehmen, Illusionen abzulegen, und begriffliche Zusammenhänge zu durchschauen. Er legt uns darüber hinaus nahe, dies in einer Haltung der Dankbarkeit und des Feierns zu tun; die

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Gelassenheit, zu der er uns als Autor offenbar verhelfen möchte, soll eine heitere sein (vgl. Stekeler-Weithofer 2011, S. 82, 90). Hier ist das angesprochen, was ich selbst als Einstellung diskutiert habe und was bei ihm (mit guten philosophiehistorischen Gründen) meist Haltung heißt. An dieser Stelle geht er über den Bereich des Kognitiven hinaus, denn Dankbarkeit und der heitere Geist einer „Feier des Lebens“ lassen sich aus philosophischer Lektüre allein nicht gewinnen. Auch ein zu scharfsinnigen transzendentalen Analysen fähiger Philosoph kann griesgrämig an seinem Schreibtisch hocken und wünschen, er wäre nie geboren. Lässt sich hierzu philosophisch etwas sagen? Kann oder muss an dieser Stelle die „subjektive Empfindungsperspektive des Einzelnen“ erörtert werden, auch wenn es (wie ich hier zeigen wollte) dabei bleibt, dass diese Empfindungsperspektive nicht hinreicht, um den Begriff der religiösen Erfahrung zu bestimmen? Bezogen auf meine eigene Religionsdefinition lautet die Frage: Wie kann durch Artikulations- und speziell durch Praxisformen eine Einstellung im angedeuteten, mehr als nur kognitiven Sinne begünstigt und aufrecht erhalten werden, und welche Rolle spielen dabei subjektive Erlebnisse? Ich hatte mit James die religiöse Erfahrung als die Erfahrung beschrieben, trotz der Anerkennung der leidhaften Seiten des Lebens nicht ins Bodenlose zu fallen. Man kann das (in Anknüpfung an die Wortwahl Stekeler-Weithofers) emphatischer ausdrücken durch die Bestimmung, die religiöse Erfahrung erkenne man auf der philosophisch zugänglichen Ebene vor allem an ihren Folgen, sie sei die Erfahrung, dass es möglich sei, eine heitere, dankbare, feiernde Einstellung zum Leben zu gewinnen und (aufs Ganze gesehen, trotz immer wieder auftauchender Anfechtungen) aufrecht zu erhalten (vgl. Schneider 2008, S. 45, 173). Mir scheint nun, dass Stekeler-Weithofers Buch, indem es diese Haltung als die richtige herausstellt, implizit auch die Behauptung mitführt, diese Haltung sei für den Leser erreichbar; es sei möglich, eine solche Haltung, wenn man sie nicht ohnehin schon habe, zu gewinnen und sie sich zu eigen zu machen. Nach meinem Verständnis gehört es allerdings zu den Aufgaben der Religionen als Institutionen, ihren Anhängern dabei eine praktische Hilfestellung zu geben, d. h. den Betroffenen die Erreichbarkeit dieser Haltung plausibel zu machen und sie dann auch miteinander (im Kreise der „Gemeinde“) praktisch einzuüben. Dabei wird, ähnlich wie bei der Psychotherapie, wohl auch über Empfindungen, Stimmungen, Gefühle und Erlebnisse gesprochen werden. In diesem Punkt geht die Religion als Institution aber über die Philosophie hinaus, denn diese würde sich, übernähme sie die genannte Zielsetzung für sich selbst, damit sowohl überfordern als auch einer Grenzverletzung schuldig machen. Eine Seelsorge dieser Art ist kein Bestandteil des akademischen Ausbildungsvertrags. In seiner Erzählung Die Marquise von O… findet Heinrich von Kleist für die plötzliche, entschieden vollzogene Abreise seiner Titelfigur aus dem Elternhaus,

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bei der sie ihre Verwirrung hinter sich lässt und zu sich selbst zurückfindet, die Worte: „Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.“ (Kleist 1964, 114.) Es gibt tatsächlich Anstrengungen, die uns mit uns selbst und unserer Lage bekannt machen können, auch in dem umfassenden Sinn von „Lage“, um den es in den Religionen geht. Es überschreitet die Kompetenz des Philosophen nicht, in diesem Zusammenhang auf die Existenz von Praxisformen zu verweisen, die über eine „Anstrengung des Begriffs“ hinausgehen. Ich hatte in meinem Kapitel über den Buddhismus die ZenMeditation als ein mögliches Hilfsmittel für die Veränderung einer Haltung zum Leben als Ganzem genannt. Dies war ein Verständnisvorschlag für die Einordnung einer überlieferten Praxis; er enthielt keine theoretischen Aussagen über kausale Wirkungsmechanismen oder über die Beweiskraft subjektiver Empfindungen für besondere religiöse Wahrheiten. Ob ein bestimmter solcher Weg sich für eine bestimmte Person für die Gewinnung der von ihr angestrebten Haltung oder Einstellung als der richtige erweisen wird, kann nur sie selbst herausfinden, indem sie diesen Weg geht. Keine philosophische Analyse und kein Erlebnisbericht können ihr „diese schöne Anstrengung“ abnehmen.

Bibliographie Kleist, Heinrich von (1964): Die Marquise von O…. In: Kleist: Erzählungen. Herausgegeben als Bd. 4 der Gesamtausgabe von Helmut Sembdner (Hrsg.). München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 94 – 130; hier: S. 114. Schneider, Hans J. (1987): „‚Erfahrung‘ in Wissenschaft und Alltag“. In: Universitas 42. S. 44 – 55. Schneider, Hans J. (2004): „Erfahrung und Erlebnis. Ein Plädoyer für die Legitimität interaktiver Erfahrungen in den Naturwissenschaften“. In: Reinhold Esterbauer/Elisabeth Pernkopf/Mario Schönhart (Hrsg.): Spiel mit der Wirklichkeit. Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften. Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 231 – 248. Schneider, Hans J. (2008): Religion. Berlin: De Gruyter. Stekeler-Weithofer, Pirmin (2011): Sinn. Berlin, Boston: De Gruyter. Taylor, Charles (1995): „Overcoming Epistemolgy“. In: Charles Taylor: Philosophical Arguments. Cambridge Mass.: Harvard University Press, pp. 1 – 19. Wohlrapp, Harald (2010): „Eine pragmatische Definition der Religion“. In: Stefan Tolksdorf/Holm Tetens (Hrsg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können. Berlin: De Gruyter, S. 379 – 407.

Teil 2: Handlung und das Gute

Robert Brandom

Some post-Davidsonian elements of Hegel’s theory of agency 1 Hegel offers us strong statements of two views about action that starkly contrast and stand in at least apparent tension with one another: a broadly behaviorist, externalist view, which identifies and individuates actions according to what is actually done, the performance that is produced (cf. Anscombe’s: “I do what happens”), and an intentionalist, internalist view, which identifies and individuates actions by the agent’s intention or purpose in undertaking them. According to the first view, the inner can only be understood in terms of its outer expression, so that it makes no sense to think of intentions as states whose content is related only contingently to, and so can diverge radically from, that of the performances to which they give rise. “Action simply translates an initially implicit being into a being that is made explicit…Consciousness must act merely in order that what it is in itself may become explicit for it…An individual cannot know what he is until he has made himself a reality through action.” (Phenomenology, §401).¹ “The deed [Tat] is the actual self” (Phenomenology, §464), the agent “only gets to know…his End, from the deed” (Phenomenology, §401). “The deed does away with the inexpressibility of what is ‘meant’.” (Phenomenology, §322) If the content of the inner intention is settled by what is true of the actual external performance that expresses it, then it is epistemically available, even to the agent, only retrospectively. Therefore, feelings of exaltation or lamentation, or repentance are altogether out of place. For all that sort of thing stems from a mind which imagines a content and an in-itself which are different from the original nature of the individual and the actual carrying-out of it in the real world. Whatever it is that the individual does, and whatever happens to him, that he has done himself, and he is that himself. He can have only the consciousness of the simple transference of himself from the night of possibility into the daylight of the present, from the abstract in-itself into the significance of actual being. (Phenomenology, §404) The analysis of this being into intentions and subtleties of that sort, whereby the actual man, i. e. his deed, is to be explained away again in terms of a being that is only ‘meant’, just as the individual himself even may create for himself special intentions con-

1 By using “Phenomenology”, I refer to Hegel’s Phenomenology of Spirit.

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cerning his actuality, all this must be left to the laziness of mere conjecture. (Phenomenology, §322)

A final index passage expressing this perspective explicitly maintains that the point is not affected by acknowledging the possibility of vulgar failure: From what has now been said, we may learn what to think of a man who, when blamed for his shortcomings, or, it may be, his discreditable acts, appeals to the (professedly) excellent intentions and sentiments of the inner self he distinguishes therefrom. There certainly may be individual cases where the malice of outward circumstances frustrates well-meant designs, and disturbs the execution of the best-laid plans. But in general even here the essential unity between inward and outward is maintained. We are thus justified in saying that a man is what he does; and the lying vanity which consoles itself with the feeling of inward excellence may be confronted with the words of the Gospel: ‘By their fruits ye shall know them.’ That grand saying applies primarily in a moral and religious aspect, but it also holds good in reference to performances in art and science… if a daub of a painter, or a poetaster, soothe themselves by the conceit that their head is full of high ideals, their consolation is a poor one; and if they insist on being judged not by their actual works but by their projects, we may safely reject their pretensions as unfounded and unmeaning. (Encyclopedia, §140)²

Hegel wants to bring into view a sense in which a bad painting, poem, or novel cannot be understood as the botched execution of a fine aim or plan, but must be understood rather as showing exactly what its creator actually intended—however it might seem to its author.³ Just how we are to understand this in the light of the acknowledged possibility of such contingencies as slips of the brush remains to be seen. But the perspective Hegel seeks to put in place here is not just a casual literary flourish or a mistake we are eventually to see through. It is an absolutely central and essential feature of the model of expression—making the implicit explicit—that plays such a crucial role in structuring his understanding of the relations between the subjective and the objective in both action and cognition. It is also clear, however, that it is not the whole story. There are “two aspects possessed by the practical consciousness, intention and deed (what is ‘meant’ or intended by the deed and the deed itself)” (Phenomenology, §319), and each must be given its due. It is the right of the will to recognize as its action [Handlung], and to accept responsibility for, only those aspects of its deed [Tat] which it knew to be presupposed within its end, and

2 By using “Encyclopedia”, I refer to Hegel’s Encyclopedia of the Philosophical Sciences. 3 Robert Pippin offers a nice discussion of this perspective in Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life.

Some post-Davidsonian elements of Hegel’s theory of agency

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which were present in its purpose [Vorsatz]—I can be made accountable for a deed only if my will was responsible for it—the right of knowledge. (Philosophy of Right, §117)⁴

Elsewhere⁵ Hegel makes the same point under the heading of the “right of intention”: So far as the action comes into immediate touch with existence, my part in it is to this extent formal, that external existence is also independent of the agent. This externality can pervert his action and bring to light something else than lay in it. Now, though any alteration as such, which is set on foot by the subjects’ action, is its deed [Tat], still the subject does not for that reason recognize it as its action [Handlung], but only admits as its own that existence in the deed which lay in its knowledge and will, which was its purpose. Only for that does it hold itself responsible. (Encyclopedia, §504)

Indeed, distinguishing within the action some elements for which the agent is responsible from others for which the agent is not responsible is one of the achievements of modernity: The heroic self-consciousness (as in ancient tragedies like that of Oedipus) has not yet progressed from its unalloyed simplicity to reflect on the distinction between deed [Tat] and action [Handlung], between the external event and the purpose and knowledge of the circumstances, or to analyse the consequences minutely, but accepts responsibility for the deed in its entirety. (Philosophy of Right, §118 Z)

The distinction between Tat and Handlung is the distinction between what is done as an actual event, performance, or (as we’ll see is most important to Hegel) process—something that happens—and those features in virtue of which it is a doing—something normatively imputable to the agent. This latter is what Hegel calls “the first determinate characteristic” of an action: that “in its externality it must be known to me as my action” (Philosophy of Right, §113). What makes what is done (the deed) mine, that is, an action, rather than just something that happens, is its relation to a purpose. For the concept of action includes “the right that the content of the action as carried out in immediate existence shall be in principle mine, that thus the action shall be the purpose [Vorsatz] of the subjective will” (Philosophy of Right, §114). The passages concerning the identity of content of the outer deed and the inner state it expresses rehearsed above invoked the intention [Absicht] expressed, rather than the pur-

4 By using “Philosophy of Right”, I refer to Hegel’s Elements of the Philosophy of Right. 5 Encyclopedia §505. See also Philosophy of Right, §120. For my purposes here the difference between the right of knowledge and the right of intention do not matter.

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pose. So corresponding (at least roughly) to the Tat/Handlung distinction in Hegel’s account is an Absicht/Vorsatz distinction.⁶ The content of the feature of an action that Hegel calls its ‘purpose’ need not extend to everything the developed deed contains, while the content of the feature of an action that Hegel calls its ‘intention’ does extend to everything the developed deed expressing it contains. The distinction among features of the deed that is induced by the purpose is what determines the deed as the agent’s doing, in the normative sense of being something the agent is responsible for. What the agent thereby becomes responsible for (doing) is the whole deed (what is done). And that fully developed deed reveals an intention that extends beyond what is merely ‘meant’ or purposed.

2 What has been said up to this is a sketch of some of the most general features of the idiom Hegel develops to talk about practical agency. It is not yet an attempt to say how we should understand these distinctions and claims and what might entitle one to talk that way. It will be best to elaborate in stages this complex view of agency as a process of expression, development, and objective actualization, in terms of which we are to understand Hegel’s distinctive notion of the content that action ‘translates’ from a subjective to an objective form. At the most basic level, I think it ought to be understood as having a Davidsonian structure.⁷ There are five basic elements of Davidson’s theory of action that seem to me helpful in beginning to understand Hegel’s. Davidson starts by developing

6 The passage from Philosophy of Right, §114 just quoted continues, laying out the general outlines of the claims that must be interpreted to make sense of the Vorsatz/Absicht distinction, connecting it with the further notions of welfare (das Wohl) and the good (das Gute): “(b) The particular aspect of the action is its inner content (α) as I am aware of it in its general character; my awareness of this general character constitutes the worth of the action and the reason I think good to do it—in short my Intention. (β) Its content is my special aim, the aim of my particular, merely individual, existence, i. e. welfare. (c) This content (as something which is inward and which yet at the same time is raised to its universality as to absolute objectivity) is the absolute end of the will, the Good—with the opposition in the sphere of reflection, of subjective universality, which is now wickedness and now conscience.” 7 Cf. the first five essays in Essays on Actions and Events, especially “Actions, Reasons, and Causes”. A Davidsonian take on Hegel on agency is developed in Michael Quante and Dean Moyar, Hegel’s Concept of Action.

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a way of talking about events (such as the performances that result from exercises of agency) according to which: 1) One and the same event can be described or specified in many ways. Further, 2) One important way of identifying or singling out an event is in terms of its causal consequences. Thus moving one’s finger, flipping the switch, turning on the light, and alerting the burglar can all count as specifications of one single event. As the effects of an event unfold, each new concentric ripple surrounding it makes available new ways of specifying it by the causal contribution it made to the occurrence of those later events. It is simply not settled yet whether the investment I made yesterday will eventually be identifiable as “the wisest financial decision I ever made”, or “the most foolish…”, or (more probably), something less dramatic in between. We’ll just have to await the results. Davidson calls the way the potential descriptions of an event expand with the passage of time “the accordion effect.” 3) Some, but not all, of the descriptions of an action may be privileged in that they are ones under which it is intentional. Flipping the switch and turning on the light were intentional, while alerting the burglar (of whom I was unaware) was not. Buying a bond issued by company XYZ was intentional, while buying a bond issued by a company that would go bankrupt the following week, which might be a description of the very same event, would not have been intentional. 4) What makes an event, performance, or process an action, something done, is that it is intentional under some description. Alerting the burglar and buying the bond of a soon-to-be-bankrupt company are things genuinely done, even though they were not intentional under those descriptions. For they were intentional under other descriptions of the same event: turning on the light and buying an XYZ bond. The performance is an action under all its descriptions and specifications, including all the distant, unforeseeable, consequential ones that come in under the accordion principle. But what makes it an action is that it was intentional under some such specifications. 5) What distinguishes some descriptions as ones under which a performance was intentional is their role as conclusions in processes of practical reasoning.

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Turning on the light and buying an XYZ bond were things I had reasons to do, provided by ends, purposes, or goals I endorse, commitments I acknowledge, or values I embrace. Those reasons in the form of ends, purposes, goals, commitments, or values provide premises for potential pieces of practical reasoning justifying the practical conclusion that I ought to bring about an event satisfying a description such as being a turning on of a light or a buying of an XYZ bond—but not being an alerting of a burglar or a buying of a bond of an incipiently bankrupt company. That securing the applicability of those descriptions is in this way practically justifiable is what makes them the ones under which what I go on to do is intentional, and hence counts as an action. The structure of this account is quite different from one that identifies three distinct kinds of events standing in sequential causal relations: prior internal intentions or states of intending, actions, and consequences of those actions. The place of distinct occurrences of intendings and consequences has been taken by different descriptions of the one thing done: intentional and consequential ways of picking out the same doing. That is why it makes no sense to talk about an intention apart from what was done intentionally.⁸ What qualifies an occurrence as an action—something an agent is responsible for—is the existence of a privileged subset of specifications. And they are privileged precisely by their normative relation to the agent. Specifically, they are justified by practical reasons whose normative force or validity the agent acknowledges.

3 My first interpretive suggestion is that Hegel’s ‘Tat’ refers to the deed done, with all of its accordioned descriptions, and that his ‘Handlung’ is that same deed as the agent’s doing, that is, as specifiable by the restricted set of descriptions under which it is intentional, and hence something done at all. Here is a crucial passage of Hegel’s that puts together a number of the Davidsonian theses: Action has multiple consequences in so far as it is translated into external existence; for the latter, by virtue of its context in external necessity, develops in all directions. These consequences, as the shape whose soul is the end to which the action is directed, belong to the action as an integral part of it. But the action, as the end translated into the external world, is at the same time exposed to external forces which attach to it things quite different from what it is for itself, and impel it on into remote and alien consequences. The will thus has

8 “[W]e ought to will something great. But we must also be able to achieve it, otherwise the willing is nugatory. The laurels of mere willing are dry leaves that never were green.” (Philosophy of Right, §124 Z)

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the right to accept responsibility only for the first set of consequences, since they alone were part of its purpose [Vorsatz]. (Philosophy of Right, §118)

Endorsement of the accordion principle, and so of the Davidsonian principles (1) and (2), is implicit in saying that the action’s consequences, the action as an external existence developing in all directions, are an integral part of the action.⁹ This deed is what the action is in itself. But what the action is for itself is determined by the subjectively envisaged end or goal it serves, the purpose for which it is performed. In Davidsonian terms, the purpose settles the specifications under which it is intentional (principle (3), which are the ones in virtue of which the deed is recognizable as the agent’s (principle (4)), in the sense that they are the ones in virtue of which the agent is responsible for what is done. (This is the “right of knowledge” distinctive of modern conceptions of agency, by contrast to those presented in ancient tragedy, adverted to in the passages further above.) Thus considerations of responsibility induce a distinction within the consequential specifications of the actual performance produced. The end or purpose endorsed (principle (5)) is translated into the external world in the shape of the deed in the sense that the purpose it justifies provides descriptions of the very same deed that also has consequential descriptions under which it is not intentional. The deed posits an alteration to this given existence, and the will is entirely responsible [hat Schuld] for it in so far as the predicate ‘mine’ attaches to the existence so altered…But responsibility involves only the wholly external judgment as to whether I have done something or not; and the fact that I am responsible for something does not mean that the thing can be imputed to me. (Philosophy of Right, §118 and §118 H)

The deed is what I do under all its descriptions. I am responsible for it in the sense that it is ‘mine’: I did it. But it is imputed to me only under the intentional descriptions: the ones appearing in a specification of my purpose, the descriptions that specify the deed as something I had reason to do. Indeed, it is just the failure to appreciate this point about the necessary unity of action—the expression (translation) of the inner in the outer as the actualization of the purpose in that intentional specifications and unintentional conse-

9 Very much the same language is used at Phenomenology §642: “Action, in virtue of the antithesis it essentially contains, is related to a negative of consciousness, to a reality possessing intrinsic being. Contrasted with the simplicity of pure consciousness, with the absolute other or implicit manifoldness, this reality is a plurality of circumstances which breaks up and spreads out endlessly in all directions, backwards into their conditions, sideways into their connections, forwards in their consequences.”

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quential ones specify the same actual deed—that characterizes the defective forms of practical self-consciousness rehearsed in the Reason chapter: Consciousness, therefore, through its experience in which it should have found its truth, has really become a riddle to itself: the consequences of its deed are for it not the deeds themselves. What befalls it is, for it, not the experience of what it is in itself, the transition is not a mere alteration of the form of the same content and essence, presented now as the content and essence, and again as the object or [outwardly] beheld essence of itself. (Phenomenology, §365)

For the consequences of the deeds to be the deeds themselves is just for the accordion principle to apply. For what befalls consciousness (the consequential specifications of its deed under which it is not intentional) to be for consciousness what consciousness is in itself is for the specifications under which the deed is intentional (specifications in terms of its endorsed purpose, expressing the agent’s taking of responsibility for a doing) to be acknowledged as specifications of the very same deed that also has external consequential descriptions.

4 Hegel calls the unity that action exhibits as concept and content the “Sache selbst”, which Miller translates as “the very heart of the matter”¹⁰ The concept of action, the norm according to which it is assessed as such, when adequately conceived is the concept of a unified content that is expressed in action, not only in spite of the disparity of form between the action as implicit in thought or intended and as explicit in actuality or accomplished, which is what is meant by the contingency of action, but as itself consisting in the relation between those disparate moments. The Sache selbst is only opposed to these moments in so far as they are supposed to be isolated, but as an interfusion of the reality and the individuality it is essentially their unity. It is equally an action and, qua action, pure action in general, hence just as much an action of this particular individual; and this action as still his in antithesis to reality, is a purpose.

10 For instance: This unity is the true work; it is the Sache selbst which completely holds its own and is experienced as that which endures, independently of what is merely the contingent result of an individual action, the result of contingent circumstances, means, and reality. (Phenomenology, §409).

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Equally, it is the transition from this determinateness into the opposite, and, lastly, it is a reality which is explicitly present for consciousness. The Sache selbst thus expresses the spiritual essentiality in which all these moments have lost all validity of their own, and are valid therefore only as universal, and in which the certainty consciousness has of itself is an objective entity, an objective fact for it, an object born of self-consciousness as its own, without ceasing to be a free object in the proper sense. (Phenomenology, §410)

The unity or identity of content in contingent action that is the Sache selbst is not the identity of something that is what it is independently. It is a unity forged out of moments of independence and moments of dependence. Contingency, the manifestation of the dependence of the action on the circumstances of the performance and the talents and material means available is somehow to be incorporated integrally into the unity that is the Sache selbst. The “distinction that action implies” is “that between what is purposed and what is accomplished in the realm of existence” (Philosophy of Right, §114 Z). More specifically, when we look at the internal articulation of the process that in its unity we identify as an action: The simple original nature now splits up into the distinction which action implies. Action is present at first…as End, and hence opposed to a reality already given. The second moment is the movement of the End…hence the idea of the transition itself, or means. The third moment is…the object, which is no longer in the form of an End directly known by the agent to be his own, but as brought out into the light of day and having for him the form of an ‘other’. (Phenomenology, §400)

The broadly Davidsonian understanding of this “splitting up” of the action can be exploited so as to explain how the deed, unfolding consequentially beyond the ken or compass of the purpose of the agent, can nevertheless be acknowledged by the agent as the agent’s doing—so that the agent does not in its practical activity “become a riddle to itself”.

5 How does Hegel understand the difference between the different kinds of what I have been calling ‘descriptions’ or ‘specifications’ of the deed? The short version of the answer I will offer here is, first, that it is a distinction of social perspective, between the agent, who acknowledges a specifically contentful responsibility, and an audience, who attributes and assesses it. Second, that difference of social perspective is a normative one in a dual sense. What they are perspective on is a normative status: a question of the imputation of a specific responsibility. And the perspectives are defined by distinct seats of authority concerning the charac-

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terization of what the agent is responsible for. Third, the ultimate determinate identity (unity) of the content of the action—what we should understand as common to its inner (in the Hegelian sense of implicit, rather than the Cartesian sense of epistemically transparent) form and the outer (in the Hegelian sense of explicit, rather than the Cartesian sense of epistemically opaque) form that translates, actualizes, and expresses it—is the product of a process of reciprocal specific recognition, in which the competing complementary socially distinct authorities negotiate and their claims are adjudicated and reconciled. These are all claims in which Hegel moves far beyond anything implicit in Davidson’s views. The distinction that action implies is, on the Davidsonian line being pursued, a distinction between intentional and consequential characterizations of one and the same deed. We can already see in this way of setting things out the basis for Hegel’s claim that ethical theories that assess the rightness of actions exclusively on the basis of the intentions with which they were performed and ethical theories that assess the rightness of actions exclusively on the basis of the consequences to which they give rise are equally ‘one-sided’. The two sorts of assessments ought rather to be seen as two sides of one coin, at least in the sense of being reciprocally sense dependent. We are now asking after the nature of the whole that necessarily comprises these two aspects of practical activity. The essentially social character of that distinction shows up if we think about who is in a normative position—who has the authority—to offer specifications of the two sorts. To say that the deed or work is actual is to say that it is public, available to all. The truth of the performance, what it is in itself, is expressed in all of the descriptions of what is actually achieved, all the specifications of the content in terms of its consequences. These descriptions are available in principle to anyone in the community to recognize the performance under or to characterize its content. “The work is, i. e. it exists for other individualities.” (Phenomenology, §405). For others, who witness or hear about my action (coming to know about it in any of the various ways we come to know about actual occurrences), what my deed is can be said of it (cf. Phenomenology, §401). Actualization is…a display of what is one’s own in the element of universality whereby it becomes, and should become, the affair of everyone. (Phenomenology, §417)

The consequential descriptions specify what the action is for others, and for the agent qua other, that is as recognizing and assessing his own action via his empirical consciousness of it as an actuality. The work produced is the reality which consciousness gives itself; it is that in which the individual is explicitly for himself what he is implicitly or in himself, and in such a manner

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that the consciousness for which the individual becomes explicit in the work is not the particular, but the universal, consciousness. (Phenomenology, §405)

The universal consciousness is that of the community, as opposed to the individual agent. The other members of the community can describe what it is that I have done; they can specify what I have achieved or accomplished. Accordingly, the distinction between what I intended and what I accomplished, between what the performance is for me and what it is in itself, takes the form of the distinction between what it is for me and what it is for others. The actuality available to all is the explicit form of the commitment the agent has undertaken in acting. But what makes the commitment, and so the action, the agent’s (the moment of certainty) is his acknowledgment of it as such. And for that the specifications under which the agent endorses it have special authority, not shared by those who merely observe the results of that endorsement. These are the specifications under which it is intentional. We can look at this notion in terms of its circumstances and consequences of application. What in this distinctive way privileges the association of some descriptions of the deed with the doer is that they are the ones that appear as conclusions of processes of practical reasoning endorsed by the agent. For example: It is dark; I need to see; Turning on the light will enable me to see; Flipping the switch will turn on the light; So I shall flip the switch. The agent’s endorsement of such practical reasoning may have been explicitly attached to its actual rehearsal as part of an antecedent process of deliberation leading up to the performance, or it may be implicit in a disposition to trot it out when challenged to give reasons for the performance. The consequences of application of the concept description under which the performance is intentional are that these specify the content of the commitment the agent takes himself to be acknowledging in producing the performance. The performance is intentional under those descriptions the agent is prepared to acknowledge himself as responsible for it under, apart from any knowledge of the descriptions that become available only with its being actualized, specifically, descriptions of it in terms of its consequences. These are the descriptions under which the agent is petitioning the community to be specifically recognized as responsible for the performance.

6 Both of these socially distinguished recognitive elements—the descriptions under which the agent specifically recognizes or acknowledges himself as responsible, and those under which the community specifically recognizes the

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agent as responsible—are essential to the unity and identity of the action. Hegel discusses this sort of identity-in-difference, this socially articulated reciprocal specific recognitive achievement, under the rubric of the “Sache selbst.”¹¹ The concept of action being invoked, is the concept of a unified content that is expressed in action, not only in spite of the disparity of form between the action as implicit in thought or intended and as explicit in actuality or accomplished, but as itself consisting in the relation between those disparate moments induced by the process of reciprocal specific recognition (acknowledgement and attribution of a determinately contentful commitment). The Sache selbst is present as the in-itself or the reflection into itself of consciousness; the supplanting of the moments by one another finds expression there, however, in their being established in consciousness, not as they are in themselves, but only as existing for another consciousness. One of the moments of the content is exposed by it to the light of day and made manifest to others; but consciousness is at the same time reflected back from it into itself and the opposite is equally present within consciousness which retains it for itself as its own. (Phenomenology, §416)

It is doings that one is responsible for. Something must be done for it to be intentional under any description. (So: no deed, no intention, i. e. nothing intentional.) What is done is exposed to the light of day (actualized, expressed, made explicit) in the sense of existing for other consciousnesses, being made manifest to others. The result is that the agent is specifically recognized by those other subjects. The deed is attributed to the agent under consequential descriptions as the explicit expression of a determinately contentful implicit commitment. “What the deed is can be said of it”, and the ones for whom it is something that can be said of it are others, for whom it is something actual and observable, like any other fact.(Phenomenology, §322). The content is what is both acknowledged by the agent and attributed by the community: the product of a process of recip-

11 See for instance Phenomenology, §409: “This unity is the true work; it is the Sache selbst…” and Phenomenology, §410: “The Sache selbst is only opposed to these moments in so far as they are supposed to be isolated, but as an interfusion of the reality and the individuality it is essentially their unity. It is equally an action and, qua action, pure action in general, hence just as much an action of this particular individual; and this action as still his in antithesis to reality, is a purpose. Equally, it is the transition from this determinateness into the opposite, and, lastly, it is a reality which is explicitly present for consciousness. The Sache selbst thus expresses the spiritual essentiality in which all these moments have lost all validity of their own, and are valid therefore only as universal, and in which the certainty consciousness has of itself is an objective entity, an objective fact for it, an object born of self-consciousness as its own, without ceasing to be a free object in the proper sense.”

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rocal specific recognition. The content of my action accordingly does not depend on me alone. It is not just what I take it or make it to be, but depends as well on its determinate acknowledgment by others who attribute to me responsibility for the performance specified in ways that go beyond those in terms of which I made it mine. Consciousness experiences both sides as equally essential moments, and in doing so learns what the nature of the Sache selbst really is, viz. that it is neither merely something which stands opposed to action in general, and to individual action…Rather is its nature such that its being is the action of the single individual and of all individuals and whose action is immediately for others, or is a Sache and is such only as the action of each and everyone: the essence which is the essence of all beings, viz. spiritual essence. (Phenomenology, §418)

The spiritual [geistig], in Hegel’s usage, is the normative substance that is socially synthesized by a process of reciprocal specific recognition (which shows up not only as ‘action’ and ‘work’, but also as ‘experience’). The recognitively constituted character of the determinately contentful practical commitments whose intentional and consequential specifications (subjective and objective forms) are said to stand in relations of ‘translation’, ‘actualization’, and ‘expression’ is explicitly acknowledged by (and forms the principal progressive insight of) the phenomenal form of understanding of agency that Hegel discusses under the heading of ‘conscience’: The existent reality of conscience, however, is one which is a self, an existence which is conscious of itself, the spiritual element of being recognized and acknowledged. The action is thus only the translation of its individual content into the objective element, in which it is universal and recognized, and it is just the fact that it is recognized that makes the deed a reality. The deed is recognized and thereby made real because the existent reality is directly linked with conviction or knowledge; or, in other words, knowing one’s purpose is directly the element of existence, is universal recognition. (Phenomenology, §640)

The Sache selbst is a spiritual expression of individuality, compounded out of the moment of independence displayed by the particular deliberating self-consciousness in privileging some specifications of its responsibility as the descriptions under which the performance is intentional, and the corresponding moment of dependence on the universal or assessing consciousness in characterizing in consequential terms the achievement and so what one has actually accomplished and so is responsible for in that sense. Contingency, the manifestation of the dependence of the action on the circumstances of the performance and the talents and material means available, is to be incorporated integrally into the unity that is the Sache selbst.

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7 Hegel’s resituating of a generally Davidsonian approach to intentional agency by placing it in the context of a socially perspectival normative process of reciprocal recognition lets us see how to satisfy one of the principal criteria of adequacy he articulates for such an account: bringing together into an intelligible whole two aspects of the concept of intentional action that stand in at least apparent tension with one another. These are the unity of an action, as it develops from envisaged purpose to completed performance, and “the distinction and dichotomy that lie in action as such and so constitute a stubborn actuality confronting action” (Phenomenology, §793). The ‘unity and necessity’ of an action are what constitute its identity. The necessity of the action consists in the fact that purpose is related simply to actuality, and this unity is the Notion of action. (Phenomenology, §408) Action alters nothing and opposes nothing. It is the pure form of a transition from a state of not being seen to one of being seen, and the content which is brought out into the daylight and displayed is nothing else but what this action already is in itself. (Phenomenology, §396) Action simply translates an initially implicit being into a being that is made explicit…. (Phenomenology, §401)¹² The Notion of this sphere requires that these various aspects be grasped in such a way that the content in them remains the same without any distinction, whether between individuality and being in general, or between End as against individuality as an original nature, or between End and the given reality; or between the means and that reality as an absolute End, or between the reality brought about by the agent as against the End, or the original nature or the means. (Phenomenology, §400). This unity is the true work. (Phenomenology, §409).

On the other hand, Consciousness…in doing its work, is aware of the antithesis of doing and being…This disparity between Notion and reality, which lies in its essence, is learnt by consciousness from experience in its work; in work, therefore, consciousness becomes what it is in truth…this [is the] fundamental contradiction inherent in work…. (Phenomenology, §406 – 7)

12 Phenomenology §401. See also Philosophy of Right, §109, where “the will is the struggle to transcend this barrier [Schranke], i. e. it is the activity of translating this content in some way or other from subjectivity into objectivity. The simple identity of the will with itself in this opposition is the content which remains self-identical in both these opposites and indifferent to this formal distinction of opposition.”

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The simple original nature now splits up into the distinction which action implies. Action is present at first…as End, and hence opposed to a reality already given. The second moment is the movement of the End…hence the idea of the transition itself, or means. The third moment is…the object, which is no longer in the form of an End directly known by the agent to be his own, but as brought out into the light of day and having for him the form of an ‘other’. (Phenomenology, §400) Consciousness, therefore, through its experience in which it should have found its truth, has really become a riddle to itself, the consequences of its deed are for it not the deeds themselves. What befalls it is, for it, not the experience of what it is in itself, the transition is not a mere alteration of the form of the same content and essence, presented now as the content and essence, and again as the object or [outwardly] beheld essence of itself. (Phenomenology, §365)

The concept [Begriff—Miller’s ‘Notion’] of action, as Hegel is presenting it, requires something that persists self-identically through it: what he in these passages calls its ‘content’ [Inhalt]. It is the content that moves from a state of not being seen to one of being seen, that is initially implicit and later translated into something explicit, that remains the same without any distinction, unaltered and unopposed, altering only in its form. “Action itself is a content only when, in this determination of simplicity, it is contrasted with its character as a transition and a movement.” (Phenomenology, §396) The concept of action is also structured equally essentially by the distinction and difference between not being seen and being seen, being implicit as purpose and explicit as achievement, and of the transition or movement by which the content develops from one such state or form to the other. The moments of identity and difference, the unity and the disparity that action involve, are both crucial aspects of the concept of agency.

8 One natural way to think about the aspects of unity and disparity that action essentially involves is in terms of the distinction between success and failure. Judgment and belief essentially involve the acknowledgment of responsibility to how things actually, objectively are. Apart from their liability to normative assessment as to their correctness in the sense of truth or error, states and performances are not intelligible as cognitively significant. Intention exhibits the complementary direction of normative fit. For it essentially involves the assertion of authority over how things actually, objectively are to be. Apart from their liability to normative assessment as to their correctness in the sense of success or failure, states and performances are not intelligible as practically significant

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Practically sorting performances into successful and unsuccessful doings is implicitly acknowledging the two aspects of the concept of action. The distinction that action implies, between purpose and achievement is in play because these are the elements one must compare in order to assess success or failure. And the unity essential to the concept of action—the fact that endorsing a purpose, adopting it as one’s own is committing oneself to a norm according to which the achievement ought to be what one intends—is just what sets the normative standard for success.¹³ Disparity of purpose and achievement is failure (in accomplishing what one intended to accomplish); identity of purpose and achievement is success (in accomplishing what one intended to accomplish). Since one cannot understand what intentional action is without understanding that such actions are essentially, and not just accidentally, subject to assessment as successful or failed, it follows that one cannot grasp the concept of intentional action without implicitly acknowledging the two aspects of that concept that Hegel distinguishes. On a familiar way of rendering these claims, the relations between the aspects of unity and difference that the concept of action involves has it that the question of whether those aspects are realized is to be answered differently for each particular performance. That is to say that the relation between the aspects is understood as local, contingent, and disjunctive. It is local in that the assessment of success or failure is made for each action, one by one. It exhibits identity of (content of) purpose and achievement in case it succeeds, and difference of (content of) purpose and achievement in case it fails. The possibility of disparity and the ideal of identity of content between purpose and achievement are universal, but those features are each actualized only in some actions. It is contingent whether any particular action succeeds or fails—for instance, whether, as I intended, the ball goes through the hoop. And the two aspects are disjunctively related (indeed, related by exclusive disjunction) because for any given action either the action succeeds, and so exhibits identity of content of purpose and content of achievement, or it fails, and so exhibits their disparity. I’ll call this sort of account an “LCD” view of the identity-in-difference that structures the concept of action. The LCD account is so commonsensical that it can be hard so much as to conceive of an alternative to it. Nonetheless, I do not believe that it is a view of this shape that Hegel is expressing. According to the post-Davidsonian way

13 For the moment I will speak indifferently of ‘purpose’ and ‘intention’. When we later look at the details of Hegel’s approach, these will need to be distinguished, corresponding to his uses of ‘Vorsatz’ and ‘Absicht’ in the Philosophy of Right (beginning at §114).

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of thinking about agency I have been attributing to Hegel, the identity-in-difference that structures the concept of action is rather global, necessary, and conjunctive. Assessment of success or failure in the ordinary sense—what I’ll tendentiously call “vulgar” success or failure—is, if not completely irrelevant to understanding the unity and disparity that action involves¹⁴, at any rate something that comes into the story only much later. According to a GNC account, every action (‘globally’), as an action (‘necessarily’) both (‘conjunctively’) simply translates something inner or implicit into something outer or explicit, hence exhibiting the unity of action and the identity of content in two different forms, and necessarily involves an actual disparity between purpose and achievement (“the distinction that action involves”).

9 The disparity that action necessarily involves is the social-perspectival distinction of loci of authority that distinguish between Handlung and Tat: the endorsed acknowledged purpose that the agent is authoritative about, in virtue of which what happens is an action at all, and the consequential specifications that necessarily outrun any specification of purpose available in advance of the actual doing. This is the distinction between what one intended that one do, and what one thereby intended of that one do that. The unity that action necessarily involves is the unity of content that takes these two forms. “Action itself is a content only when, in this determination of simplicity, it is contrasted with its character as a transition and a movement.” (Phenomenology, §396). In intending in actual circumstances that one make true the claim that p, there is always something of which one thereby intends to do that. These are two normative perspectives on one action: the intentional and the consequential.¹⁵ The content of the action can be specified either de dicto (‘that’), in terms of the purpose that authorized it, or de re (‘of’), in terms of what was thereby in fact authorized. Understanding the concept of action requires understanding actions as unities that necessarily involve this distinction of perspective, and understanding those perspectives as perspectives on one content. The content of the intention, in Hegel’s

14 The word ‘Erfolg’ (success) occurs only three times in the Phenomenology, never in connection with the theory of action, and of its six occurrences in the Philosophy of Right, only one is an action-theoretic use (in a comment on a comment on the crucial §118), appearing under the heading “Dramatic Interest”. 15 Cf. “the two aspects possessed by the practical consciousness, intention and deed.” (Phenomenology, §319)

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use of ‘Absicht’, is the content of the action. The intention that, as a norm, governs the process of achieving an end can be thought of as a universal content discernible in all phases of that process, from implicit initial subjective endorsing of the end to its explicit objective achievement. The purpose and the accomplished deed are then two perspectives on that content. The deed is not, except in the most degenerate cases, a punctiform, momentary event such as a muscle twitch. (And this is not because its consequential descriptions unfold into an indefinite future; that much is so even of achievements that are all there at a single time.) Writing a book, teaching a student, building a house, putting on a dinner party…, these better, more representative, examples of actions are all processes with a rich temporal—indeed, more specifically historical—structure. It is the TOTE structure of a cycle of action in which the plan in force at any given time (endorsed as the current expression of a practical commitment) changes from stage to stage. At each time-slice in the evolution of the action, the then-operative plan stands to the purpose as the concrete, worked-out, contingency-incorporating, determinately contentful practical norm for actualizing that abstractly envisaged end. The content of the intention should then be understood as standing to the whole process, in relation to the guiding purpose, as the plan adopted at any one stage is to that time-slice of the process, in relation to that same purpose. It is the concrete, worked-out, contingency-incorporating, determinately contentful practical norm for actualizing that abstractly envisaged end, regarded as something whose content does not change as its instantiation in the form of plans does change.¹⁶ This Vorsatz/Absicht distinction gives Hegel a theoretical way of saying what vulgar success and failure of actions consists in. An action succeeds in this sense if the consequential descriptions that are true of it include the purpose whose achievement is the endorsed end in the service of which all the other elements of the intention-plan function as means. An action fails in this sense if, although some things are done intentionally, i. e. as part of the plan, the purpose is not achieved, because the means adopted do not have the consequences envisaged. 16 “Action is present at first…as End, and hence opposed to a reality already given. The second moment is the movement of the End…hence the idea of the transition itself, or means. The third moment is…the object, which is no longer in the form of an End directly known by the agent to be his own, but as brought out into the light of day and having for him the form of an ‘other’. The Notion of this sphere requires that these various aspects be grasped in such a way that the content in them remains the same without any distinction, whether between individuality and being in general, or between End as against individuality as an original nature, or between End and the given reality; or between the means and that reality as an absolute End, or between the reality brought about by the agent as against the End, or the original nature, or the means.” (Phenomenology, §400)

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Even an action that fully succeeds in this sense—in which the actual process unfolds through the successive realization of subsidiary ends serving as means to the realization of the final purpose exactly according to plan (i. e. as intended)—still necessarily exhibits “the disparity that action involves”. For even in such a case, there remains the distinction between Handlung and Tat: between the plan-structured instrumental constellation of realized descriptions under which what is done is intentional and the deed, comprising the whole panoply of consequential descriptions, unfolding to the infinite future, which, whether originally envisaged or not, were not elements of the intention structure, but are elements of what one did in realizing that intention. So at this point we can see the rationale behind the “GNC” (for global, necessary, conjunctive) reading of the structure of identity-in-difference characteristic of agency on Hegel’s view: the claim that that every action, whether a success or a failure in the vulgar sense that the motivating purpose or end aimed at was realized or not, exhibits both the unity and the disparity that action, by its very concept, involves. For at this point it should be clear how the combination of the Davidsonian reading of the Tat/Handlung distinction and a rendering of the distinction between success and failure in terms of the plan-structure understanding of the Vorsatz/Absicht distinction together underwrite the claim that even fully successful actions necessarily exhibit the “disparity that action involves.” Conversely, even an action that fails in the vulgar sense exhibits the socially instituted normative unity of action: the determination of a content. Regarded prospectively, from the point of view of the initially endorsed purpose, the move from implicit to explicit is one of change. The content of the intention evolves and develops, becoming more definite and determinate under the influence of the actual circumstances in which the intention is realized, as plans are formulated, implemented, amended, or replaced. Regarded retrospectively, from the point of view of the finally achieved result, the move from implicit to explicit is one of revelation of the content of an intention that was all along present, albeit in some sense (visible only retrospectively) implicitly. Finally, this account enables us to understand the intimate connection Hegel asserts between intentional agency and the constitution of individual selves. The development of an intention by the alteration of a plan involves sacrificing some commitments—to the rejected plan, perhaps to some of the sub-goals it endorsed—and thereby identifying with others. The process by which self-conscious individual selves constitute themselves (in a recognitive community) is a process of relinquishing or altering, in general sacrificing some commitments in favor of other, incompatible ones, which one thereby counts as identifying with. We are now in a position to see that intentional action is a process that has just this selfconstituting structure. The process of carrying through an intention is a process

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of self determination or self-constitution: making oneself into a (more) determinately contentful self by identifying with some commitments and rejecting others. That is why “what the subject is, is the series of its actions” (Philosophy of Right, §124), “individuality is the cycle of its action” (Phenomenology, §308), and “an individual cannot know what he is until he has made himself a reality through action” (Phenomenology, §401). The very same process that is the exercise of intentional agency is at the same time the expression of self-conscious individuality. “[T]he essential nature of the work… is to be a self-expression of… individuality.” (Phenomenology, §403) The unity of the action is the unity of the self.

Bibliography Davidson, Donald (22001): Essays on Actions and Events. Oxford: Oxford University Press. Hegel, G. W. F: Elements of the Philosophy of Rights. Cambridge: Cambridge University Press 1991. Hegel, G. W. F.: Encyclopedia of the Philosophical Sciences. Oxford: Oxford University Press. Part I: 1975, Part III: 1970. Hegel, G. W. F: Phenomenology of Spirit. Oxford: Oxford University Press 1979. Moyar, Dean/ Quante, Michael (2007): Hegel’s Concept of Action. Cambridge: Cambridge University Press. Pippin, Robert (2008): Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life. Cambridge: Cambridge University Press.

Sebastian Rödl

Handeln als innerer Zweck des Handelns Der Begriff des Zwecks wird in der zeitgenössischen Literatur oft verwendet, um Handeln, das auf einen Zweck abzielt,von einem zu unterscheiden, das durch eine Maxime bestimmt ist.¹ Letzteres erscheint dann als zwecklos oder gar zweckwidrig. Und daß es gefordert sein könnte, zweckwidrig zu handeln, scheint paradox. So gibt es das „deontological paradox“. Der Begriff des Zwecks wird oft verwendet. Er wird selten untersucht.² Wir werden sehen, daß das,was heute vor allem „Zweck“ genannt wird, äußerer Zweck ist, daß aber äußere Zwecke nur durch innere möglich sind und Zweck also in erster Linie innerer Zweck ist. Weiter werden wir sehen, daß Handeln, insofern es durch eine Maxime bestimmt ist, ein innerer Zweck ist. Wenn Handeln grundlegend so zweckmäßig ist, daß es an sich selbst Zweck ist, kann es nicht einmal scheinen, als gäbe es ein „deontological paradox“. Ich gehe in drei Schritten vor. Ich erläutere den Begriff des Zwecks, dann den des inneren Zwecks und schließlich das Handeln nach Maximen als inneren Zweck. Wenn wir den Begriff des inneren Zwecks des Handelns gebildet haben, löst sich uns das „deontological paradox“ auf.

1 Zweck Der Begriff des Zwecks bestimmt das, was unter ihn fällt, nach seiner logischen Form. In einer wesentlichen Verwendung bezeichnet er eine Art der Bewegung, der kinesis. Diesen Begriff sehen wir uns zuerst an. Aristoteles definiert kinesis durch eine Form der Prädikation. Die Form ist die, die progressiven und perfektiven Aspekt einander entgegensetzt. Einige Beispiele: Ein Schneebrett rutscht den Hang hinab (ist dabei hinabzurutschen, rutscht gerade hinab). Ein Schneebrett ist den Hang hinabgerutscht (und hat das Dorf im Tal unter sich begraben).

1 Michael Ridge erklärt: „We are assuming all reasons are teleological and hence always involve an end“, und, „Suppose one embraces the tempting view that all reasons for acting must be teleological in form, which is to say that any principle underwriting a reason for acting must individuate actions in terms of the states of affairs that they promote.“ (Ridge 2011) Das „end“ (der Zweck) eines Handelns ist also ein „state of affairs“ (ein Zustand oder eine Lage), den dieses Handeln „promotes“ (befördert). 2 The Stanford Encyclopedia of Philosophy hat keinen Eintrag „end“, noch einen Eintrag „telos“.

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Das Eis auf dem See schmilzt in der Sonne. Das Eis ist geschmolzen. Die Zelle teilt sich. Sie hat sich geteilt. Frederik liest ein Gedicht vor. Er hat es vorgelesen. Wir stellen diese Form der Prädikation durch ein Schema vor: x tut gerade A, x hat A getan.Wir können „tun“ als Schema verwenden, weil es selbst den Aspektkontrast aufweist. (Das unterscheidet es von „sein“.) Eine progressive Prädikation stellt vor, daß sich etwas auf ein Ende hin bewegt, die perfektive, daß es dieses Ende erreicht hat.³ Beide schließen einander aus: Solange etwas das Ende, auf das es sich zu bewegt, noch nicht erreicht hat, bewegt es sich, und solange es sich bewegt, hat es das Ende noch nicht erreicht. Da die Zelle sich teilt, hat sie sich noch nicht geteilt, und da sie sich geteilt hat, teilt sie sich nicht mehr. Sobald also eine Bewegung ihr Ende erreicht hat, ist sie nicht mehr. Es ist dann etwas anderes als sie, ihr Resultat. Indem progressiver und perfektiver Aspekt einander gegenüberstehen, stehen Bewegung und Resultat einander gegenüber. Das Schneebrett ist hinabgerutscht; es rutscht jetzt nicht mehr; es liegt im Tal. Eine Bewegung ist also in dem Sinn endlich, daß sie nichts anderes ist als dies, sich zu Ende zu bringen. Eine kinesis ist, so hat Aryeh Kosman das ausgedrückt, „on a suicide mission“. X tut gerade A ist keine einfache, sondern eine gegliederte Wirklichkeit.Wenn x gerade A tut, hat es etwas getan; nicht A – das tut es noch –, aber etwas anderes, sagen wir, A’. Da es A tut, hat es A’ getan; aber darin erschöpft es sich nicht. Es steht noch etwas aus, womit x, wenn es das getan hat, A getan haben wird. Da das Eis gerade schmilzt, ist eine Schicht geschmolzen. Aber damit ist das Eis noch nicht geschmolzen; das ist es erst, wenn es sich ganz aufgelöst hat. Da das Schneebrett den Hang hinabrutscht, hat es sich gelöst und ist etwas gerutscht.

3 Wir verwenden eine Prädikation der fraglichen Form, um diese Form vorzustellen: Es bewegt sich dorthin, Es hat sich dorthin bewegt. Das ist immer so, wenn man eine logische Form artikuliert. Wie Wittgenstein bemerkt, kann „Es verhält sich so und so“ nur deshalb die allgemeine Satzform vorstellen, weil es selbst ein Satz ist. Und „ist“ oder „esti“ kann nur deshalb den formalen Charakter der finiten Verbform, die Prädikation als solche, ausdrücken – wie es das bei Aristoteles tut –, weil es selbst eine finite Verbform ist. Daher ist eine Erklärung wie die eben – die progressive Prädikation stellt vor, daß sich etwas auf ein Ende hin bewegt, die perfektive, daß es dies erreicht hat – nur ein Wink. Sie weist auf die allgemeine Form hin, die die Beispiele miteinander teilen. Sie weist auf sie hin und stellt sie nicht für sich vor, denn sie gibt nur ein weiteres Beispiel, eines, dessen Inhalt wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht, die sich daher auf die Form richtet. Es ist wichtig, den begrenzten Nutzen solcher Winke zu bemerken und damit die begrenzte Bedeutung der Worte, die sie verwenden. Wenn man etwa die logische Kategorie der Kausalität untersucht, sollte man sich an Aussagen orientieren wie „Die Sonne wärmt den Stein“ – das ist Kants Beispiel –, nicht an Aussagen wie „dies verursacht jenes“.

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Aber es ist noch nicht hinabgerutscht, sondern erst, wenn es im Tal aufgeschlagen hat. Daß etwas geschieht, das ist etwas, das stets das überragt, was schon geschehen ist. Kosman sagt, eine kinesis sei „on a suicide mission“. Den suicide haben wir besprochen. Daß eine kinesis auf einer „mission“ ist, ist das Bild dafür, daß sie über das, was je geschehen ist und vorliegt, hinausreicht. Da x A tut, hat es A’ getan. Das heißt nicht nur, daß es A tut und A’ getan hat. Es heißt: Daß es A tut, liegt unter anderem darin, daß es A’ getan hat. Daß es A tut, ist darin wirklich und verwirklicht, daß es A’ getan hat. Um diese logische Beziehung zu bezeichnen, verwenden wir das Zeichen „indem“: x tut gerade A, indem es A’ getan hat. Der durch „indem“ bezeichnete Nexus gehört zur kinesis als ihre innere Gliederung. Es gibt unbestimmt viele Aussagen x hat A’ getan, die mit einer gegebenen Aussage x tut A in der fraglichen Weise verknüpft sind. Die Beziehung ist also eine des Allgemeinen zum Besonderen. Denn das ist der allgemeine Begriff des Allgemeinen: das Allgemeine ist eine Einheit von unbestimmt Vielem. Der Form der Prädikation der kinesis entspringt eine Art des Allgemeinen. Im einfachsten Fall unterscheiden sich A und A’ nicht in ihrer begrifflichen, sondern nur in ihrer räumlichen Bestimmung. Ein Stamm, der den Strom hinabtreibt, ist bis hier getrieben und treibt weiter. Ein Holzscheit, das abbrennt, ist bis hier verbrannt und brennt weiter. Das Eis auf dem See ist bis hier abgeschmolzen und schmilzt weiter. Weiter legt im einfachsten Fall die begriffliche Bestimmung keine räumliche fest, sondern die hängt von äußeren Umständen ab. Der Stamm treibt bis zur Talsperre, dort kommt er nicht weiter. Das Holzscheit brennt, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Das ist der einfachste Fall. Die logische Beziehung aber, die wir durch „indem“ anzeigen und die zur kinesis als ihre innere Gliederung gehört, ist ihrerseits eine Gattung von Arten. Und also ist kinesis eine Gattung von Arten: Bewegungen unterscheiden sich als Bewegungen, nämlich in der ihnen als Bewegung eigenen inneren Gliederung. Eine besondere Art der Bewegung treffen wir in Lebensvorgängen an. (Wir nehmen wahr, daß es Lebensvorgänge sind. Später werden wir sagen, weshalb das so ist.) Nehmen wir die DNA-Replikation.⁴ Da die DNA sich repliziert, geschehen eine Reihe von Dingen, gleichzeitig und nacheinander, etwa: Die DNA repliziert sich, indem Helicase den Doppelstrang aufwindet.

4 Die DNA repliziert sich. Hier ist das „sich“ des Lebens: Die Zelle teilt sich, die Blüte öffnet sich, der Muskel zieht sich zusammen, usw. Wir werden den logischen Charakter, den dieses „sich“ bezeichnet, gleich beschreiben.

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Hier sind A und A’ in ihrer begrifflichen Bestimmung verschieden. Und wenn räumliche Bestimmungen eintreten, sind sie durch die begriffliche Bestimmung festgelegt. Die Doppelhelix wird aufgewunden; die Basenpaare werden eines nach dem anderen getrennt. Dieser Vorgang ist abgeschlossen, nicht wenn, wie es sich fügt, kein Basenpaar mehr da ist, sondern wenn das Chromosom vollständig repliziert ist. Vorher wird ein schon replizierter Teilstrang nicht aufgewunden.⁵ Die DNA repliziert sich, indem Helicase den Doppelstrang aufwindet. Das „indem“ zeigt an: Es ist nicht nur so, daß sich die DNA repliziert und Helicase den Doppelstrang aufwindet. Sondern daß sich die DNA repliziert, liegt unter anderem darin – es ist darin wirklich und verwirklicht –, daß Helicase den Strang aufwindet. Weiter aber, und das zeichnet diese Art der kinesis aus, verstehen wir, warum das geschieht, indem wir es dem, was darin wirklich ist, einordnen.Warum windet Helicase den Doppelstrang auf? Wir antworten: Die DNA repliziert sich, und Helicase trennt die Stränge, damit an jedem eine Kopie des je anderen synthetisiert werden kann. Die DNA repliziert sich, indem Helicase die DNA aufwindet, und das so, daß Helicase die DNA aufwindet, weil sich die DNA repliziert. Unser „indem“ bezeichnet eine Spezies des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem. Hier haben wir eine Spezies dieser Spezies. Die logische Beziehung ist hier zugleich erklärend: Das Besondere fällt nicht nur unter das Allgemeine, sondern dieses erklärt jenes, und das charakterisiert die Weise, in der es unter das Allgemeine fällt. Der Begriff des Zwecks ist ein logischer Begriff. Um ihn zu erläutern, müssen wir die logische Form beschreiben, die er bezeichnet. So haben wir den Begriff der kinesis erläutert: indem wir die logische Form beschrieben haben, die ihn definiert. Im Fall der kinesis ist diese Form eine Art der Einheit von Begriffen im Urteil, eine Art der Prädikation. Im Fall des Begriffs des Zwecks ist sie eine Art der Einheit von Urteilen. Die fragliche Einheit ist die, die wir beschrieben haben: x tut gerade A, indem x A’ tut, und das so, daß x A’ tut, weil es A tut. Diese logische Form definiert den Begriff des Zwecks: Er bezeichnet das, was links vom „indem“ und rechts vom „weil“ auftritt. Der korrelative Begriff des Mittels bezeichnet, was auf der je anderen Seite steht. Die DNA repliziert sich, das ist der Zweck; daß Helicase den Doppelstrang aufwindet, ist das Mittel dazu. Und so sagten wir schon: Helicase windet die DNA auf, damit an jedem Strang eine Kopie des je anderen synthetisiert werden kann.

5 Das Werk der Helicase unterscheidet sich also formal von dem des Feuers: Das Feuer brennt, solange etwas da ist, das brennt. Die Helicase aber trennt nicht DNA-Doppelstränge, solange welche da sind. Sondern solange, bis das Chromosom repliziert ist. Aristoteles hat das bemerkt (und so erklärt, weshalb die Seele nicht Feuer ist): Im Unterschied zum Feuer sind Lebensvorgänge durch einen Begriff bestimmt. (Aristoteles, De Anima 416a15 – 18.)

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Der Begriff des Zwecks ist eine Spezies einer Spezies des Allgemeinen: Das Besondere fällt hier so unter das Allgemeine, daß dieses es erklärt. Der Zweck, allgemein definiert, ist das Allgemeine, insofern es das, was unter es fällt, worin es wirklich und verwirklicht ist, erklärt. Und das ist Kants Definition des Zwecks: „Zweck [ist] der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird; und die Kausalität eines Begriffs in Ansehung seines Objekts ist die Zweckmäßigkeit.“ (Kant 2001, AB 32) Und: „der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält, [heißt] der Zweck“ (Kant 2001, B XXVIII).⁶ Wir haben den Begriff des Zwecks entwickelt, indem wir eine logische Form alltäglicher und wissenschaftlicher Aussagen beschrieben haben und damit die Form derjenigen Wirklichkeit, die in solchen Aussagen erkannt ist. Wir setzen voraus, daß diese Aussagen Erkenntnis artikulieren, genauer und schwächer, daß Aussagen dieser Art fähig sind, Erkenntnis zu artikulieren. Es ist für uns unwichtig, ob DNA sich repliziert, indem Helicase die Stränge aufwindet. Vielleicht geht es anders vor sich. Eine Revision dieser Theorie aber würde Aussagen derselben Form treffen. Wenn wir von der Möglichkeit eines allgemeinen Skeptizismus absehen, erkennen wir also, wie wir den Begriff des Zwecks entwickeln, eben darin die Wirklichkeit der Kausalität nach Zwecken, ihre Wirklichkeit in dem, was die fraglichen Aussagen beschreiben. Man findet in der Literatur die Meinung, eine Kausalität nach Zwecken könne nicht wirklich sein. Da jede biologische Abhandlung vom ersten bis zum letzten Satz von teleologischer Rede voll ist und niemand gerne a priori zu erkennen behaupten möchte, daß die Biologie im ganzen keine Wahrheit hat, wird diese Meinung zum Motiv für den Versuch, die Kausalität nach Zwecken auf eine andere,

6 Um völlig allgemein zu sein, beschreibt Kant das höchste Genus der fraglichen Spezies: Er möchte so sprechen, daß nicht nur ein Handlungsbegriff ein Zweckbegriff sein kann, sondern ebenso ein Artefaktbegriff, und so, daß die Definition Naturzwecke wie Vernunftzwecke einschließt. Daher verwendet er „Gegenstand“ und „Begriff“ so allgemein, daß sie nichts bezeichnen als die Beziehung des Allgemeinen zu dem, was unter es fällt. In den zitierten Passagen nennt Kant einmal den Begriff den Zweck, das andere Mal den Gegenstand. Das liegt daran, daß er den Zweck einmal als wirksam betrachtet, das andere Mal als erreicht. Da die Helicase dabei ist, den Doppelstrang aufzuwinden, können wir fragen, Was ist der Zweck?, und antworten, DNA-Replikation. Hier ist der Zweck das Allgemeine, der Begriff. Wenn alles gut geht, der Vorgang an sein Ende gelangt und die DNA repliziert ist, verstehen wir eben dies, daß sich die DNA repliziert hat, als den Zweck dessen, was dazu geführt hat. Daß sich die DNA repliziert hat aber, ist ein Gegenstand, ein Fall des Begriffs der DNAReplikation. Korrelativ zum Begriff des Zwecks definiert Kant die Zweckmäßigkeit als Kausalität eines Begriffs in Ansehung seines Gegenstands: Was durch das Allgemeine, unter das es fällt, also durch seinen Begriff, erklärt wird, ist eben darin zweckmäßig oder Mittel.

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die der wirkenden Ursachen, die teleologische auf die mechanische Kausalität zurückzuführen. Wir können dazu zweierlei sagen. Zum einen glaubt man, eine Kausalität nach Zwecken könne nicht wirklich sein, weil man meint, sie sei die Kausalität von etwas, das in der Zukunft liegt und also noch nicht ist und etwas hervorbringt, was ihm zeitlich voraus liegt. Das ist in der Tat unverständlich. Und niemals hat jemand, der bei Verstand war, gedacht, etwas, das nicht ist, wäre die Ursache von etwas, das ist. Die Kausalität nach Zwecken ist die Kausalität des Allgemeinen hinsichtlich dessen, was unter es fällt, die Kausalität des Begriffs in Ansehung seines Gegenstands. Und darin beweist sich die Wirklichkeit dieses Allgemeinen, das keine äußerliche Klassifikation und Zusammenstellung ist, sondern Prinzip und Ursache. Die Kausalität nach Zwecken führt nicht Gegenwärtiges auf Zukünftiges zurück und damit Wirkliches auf nicht Wirkliches, sondern Besonderes auf Allgemeines und also Wirkliches auf Wirkliches. Zum anderen ist es widersinnig, die Kausalität nach Zwecken auf die Kausalität wirkender Ursachen zurückführen zu wollen. Denn die teleologische Kausalität steht nicht neben der mechanischen. Sie steht über ihr; die mechanische Beziehung ist in ihr enthalten als ihr untergeordnet. Das liegt daran, daß die Tauglichkeit des Mittels ein Zusammenhang wirkender Ursachen ist. Wir sagen, Helicase windet die DNA auf. So beschreiben wir die mechanische Kausalität der Helicase: Sie bricht die Basenpaare auf. Zugleich sagen wir, daß sie das tut, weil sich so die DNA repliziert. Wir können das so ausdrücken, daß der Begriff, der Zweck, die wirkende Ursache zur Kausalität bestimmt. (So drückt es Kant aus.) Die Helicase ist die wirkende Ursache; sie wirkt so, daß sie die Basenpaare trennt, das ist ihre Kausalität. Zu dieser wird sie bestimmt durch den Zweck; der bestimmt sie, eben so zu wirken: Helicase trennt die Basenpaare, weil sich die DNA repliziert. Dasselbe gilt für die Ursachen aller Wirkungen, durch die sich die DNA repliziert; es gilt für diese, weil es für alle, und für alle, weil es für jede gilt. Denn der Zweck, haben wir gesehen, ist das wirksame Allgemeine und ist also wirksam als allgemein. Ein Zweck steht also nicht auf einer Ebene mit wirkenden Ursachen; er regiert sie, stellt sie zusammen, setzt sie ein. Kausalität nach Zwecken ist dies, daß eine Einheit mechanischer Wirkungen, welche der fragliche Begriff bestimmt (im Beispiel der Begriff der DNA-Replikation), eine Totalität wirkender Ursachen zur Kausalität bestimmt. Eine wirkende Ursache aber ist keine Einheit wirkender Ursachen. Die Kausalität nach Zwecken auf die Kausalität wirkender Ursachen reduzieren zu wollen, ist so vernünftig, wie das Allgemeine auf das Besondere reduzieren zu wollen.

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2 Innerer Zweck Wir haben den Begriff des Zwecks allgemein bestimmt. Es unterscheidet sich aber der innere vom äußeren Zweck. Jener ist in erster Linie Zweck. Eine kinesis ist, wie Kosman sagt, „on a suicide mission“; sie ist eben dies, sich zu Ende zu bringen. Da sie ihr Ende erreicht hat, ist sie, die kinesis, nicht mehr, sondern ihr Resultat. Da sich die Zelle geteilt hat, teilt sie sich nicht mehr, und nun liegt dies vor: Die Zelle ist geteilt. Das ist die logische Form der kinesis, die Form der Prädikation, die dem progressiven den perfektiven Aspekt entgegensetzt. Da eine Bewegung so da ist, daß sie ihrem Resultat Platz macht, ist sie nicht an sich Zweck, sondern durch ihr Resultat. Sie ist Zweck als Mittel zu ihrem Resultat, das in erster Linie Zweck ist. Nun ist das Resultat einer kinesis von ihr nicht nur verschieden, sondern beide können nicht zugleich wirklich sein. Das Resultat einer Bewegung ist daher äußerer Zweck; es ist dem äußerlich, dessen Zweck es ist, nämlich der Bewegung, die ein Mittel zu ihm ist. Die Äußerlichkeit des Zwecks einer kinesis gründet darin, dass progressiver und perfektiver Aspekt einander entgegengesetzt sind. Damit ist der Bewegung ihr Resultat, dem Mittel sein Zweck äußerlich.Wenn es einen inneren Zweck gibt, wird seine Prädikation eine andere Form aufweisen. Aristoteles unterscheidet kinesis von energeia und definiert jene wie diese durch eine Form der Prädikation: Die fragliche Form ist dadurch bestimmt, daß der progressive Aspekt den perfektiven in sich schließt (vgl. Aristoteles, Metaphysik 1048b18 – 34). Das ist die Prädikation eines inneren Zwecks. Denn daß der progressive Aspekt den perfektiven in sich einschließt, bedeutet, daß das Mittel den Zweck in sich einschließt und also das Mittel intern zweckmäßig ist und der Zweck innerer Zweck. Wir bezeichnen die fragliche Form der Prädikation durch ein Schema und differenzieren dazu „tun“ in „kinein“ und „energein“. Auf deutsch können wir „tun“ und „tätigsein“ verwenden. Die Wörter sind ohne Belang. Ihre Bedeutung liegt in der bezeichneten logischen Form. Neben x kinei A tritt also x energei H, neben x tut A tritt x ist tätig in der Weise H.Wir entwickeln den Begriff der energeia, des inneren Zwecks, zunächst formal und geben dann Beispiele. Im Fall einer energeia schließt der progressive den perfektiven Aspekt in sich. Die Prädikation hat also den Charakter der progressiven Aussage; sie weist die den progressiven Aspekt definierende logische Gliederung auf. x energei H, indem x kinei A. Wie im Fall der kinesis ist diese Verknüpfung kein äußerer Zusammenhang, sondern ihre in der Form der Prädikation gründende innere Gliederung. Wie oben zeigt „indem“ an, daß nicht nur x energei H und auch x kinei A. Sondern daß x

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energei H, liegt darin – x energei H ist darin wirklich und verwirklicht –, daß x kinei A. Weiter schließt der progressive Aspekt den perfektiven ein. X ist tätig H verwirklicht sich nicht so, daß es einem Ende zustrebt, das von ihm verschieden ist und mit dem zusammen es nicht wirklich sein kann. Sondern x ist tätig H verwirklicht sich so, daß es darin stets bei sich selbst bleibt und sich in sich selbst erhält. Ein Tätigsein hört nicht auf, Bewegungen zu erklären, in denen es sich verwirklicht, oder wenn es aufhört, dann per accidens. Ihm ist nicht wie einer Bewegung ein Ende einbeschrieben. „Indem“ in x energei H, indem x kinei A bezeichnet eine teleologische Gliederung; die logische Beziehung ist ebenso erklärend. Also ist eine energeia Zweck. Während der Zweck einer kinesis ihr von ihr verschiedenes Resultat ist, ist eine energeia an sich selbst Zweck. Ein Tätigsein ist sein eigener Zweck, der nicht als etwas anderes noch aussteht, sondern immer schon erreicht ist, solange sich das Tätigsein vollzieht. Ein Tätigsein ist ein innerer Zweck. So haben wir den inneren Zweck vom äußeren unterschieden. Der innere Zweck aber steht nicht neben dem äußeren. Wie die Kausalität nach Zwecken die Kausalität wirkender Ursache in sich enthält und ihr zugrunde liegt, so enthält der innere den äußeren Zweck und liegt ihm zugrunde. Wir sehen das, wenn wir fragen, was eine zweckmäßige Bewegung erklären kann. Damit fragen wir, wie das Resultat einer Bewegung Zweck sein kann. Was nämlich eine zweckmäßige Bewegung erklärt, ist das, kraft dessen ihr Resultat Zweck ist. Eine zweckmäßige Bewegung hat keine mechanische Ursache. Die müßte die Ursache ihrer Zweckmäßigkeit sein. Sie müßte der Grund dafür sein, daß eine Einheit wirkender Ursachen deren Kausalität erklärt, und so erklären, daß das Resultat der Bewegung ein Zweck ist. Das ist nicht möglich. Eine mechanische Ursache kann einer zweckmäßigen Bewegung nur als Mittel untergeordnet sein. So können wir fragen,Warum winden sich die Doppelstränge auf?, und antworten, Weil die Helicase die Basenpaare voneinander trennt. Wenn nichts schief gegangen ist, geschieht das, weil sich die DNA repliziert. Wenn wir weiter fragen, Warum repliziert sich die DNA, werden wir wirkende Ursache angeben, die diesen Vorgang auslösen. Aber die stehen nicht für sich. Sofern nichts schief gegangen ist, sind sie als Mittel einer übergreifenden kinesis eingeordnet. Wir werden die Kausalität der fraglichen wirkenden Ursachen damit erklären, daß sich die Zelle teilt, was verlangt, daß sich ihr Kern teilt,was verlangt, daß sich die DNA repliziert, weshalb das geschieht, was diesen Vorgang auslöst, was immer das sei.⁷

7 Hier ist nicht der Ort, das näher auszuführen, aber wir sehen, daß die Vorstellung, die Wahrnehmung des Tiers sei ein input und seine Bewegung ein output und also die

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Einer Weise, eine zweckmäßige Bewegung zu erklären, sind wir schon begegnet, denn sie ist in der Bewegung als ihre innere Gliederung enthalten: x tut A’, weil x A tut. Eine zweckmäßige Bewegung wird durch eine sie übergreifende erklärt. Da diese Zweck ist, erklärt sie, wie die ihr untergeordnete Bewegung und deren Resultat Zweck sein kann, nämlich als Mittel zur übergeordneten Bewegung. Die Helicase windet die DNA auf; das ist eine zweckmäßige kinesis. Ihr Resultat – die Stränge sind getrennt – ist Mittel zu einer übergeordneten kinesis: Die DNA repliziert sich. Diese kinesis und ihr Resultat sind erneut Mittel zu einer übergeordneten: die Zelle teilt sich. Und so weiter. Eine zweckmäßige kinesis kann durch eine übergeordnete erklärt werden. Das aber kann nicht die einzige Form der Erklärung sein. Sonst käme die Erklärung an kein Ende, und dann finge die Reihe der Erklärungen nicht an.Wenn es nichts gibt, was von der Art ist, daß darin die Frage nach dem Grund einer zweckmäßigen Bewegung zur Ruhe kommen könnte, dann ist nichts ein Schritt auf dem Weg zu einer Antwort auf diese Frage. Würde also – per impossibile – eine zweckmäßige Bewegung nur durch eine andere erklärt, verstünden wir keine solche Erklärung, und der Begriff des äußeren Zwecks wäre leer. Eine zweckmäßige Bewegung kann nicht durch eine wirkende Ursache erklärt werden, sondern nur durch einen Zweck. Sie kann durch einen äußeren Zweck erklärt werden, aber das ist nicht die einzige Weise. Eine zweckmäßige Bewegung wird letztlich durch einen inneren Zweck erklärt, durch ein Tätigsein. Da ein innerer Zweck ein Zweck ist, erklärt er die zweckmäßige Gliederung; er erklärt, warum das Resultat der fraglichen kinesis Zweck ist. Da er ein innerer Zweck ist, wirft er die Frage nach dem Grund, die er beantwortet, nicht erneut auf. Die logische Form, die der zweckmäßigen kinesis zugrunde liegt und sie möglich macht, ist also die, die der Begriff des inneren Zwecks bezeichnet und für die Aristoteles das Wort „energeia“ verwendet. Der Begriff des äußeren Zwecks enthält den Begriff des inneren Zwecks als seinen Grund, der Begriff der zweckmäßigen Bewegung den des Tätigseins. Wir können den Begriff des inneren Zwecks näher bestimmen, indem wir erläutern, wie er den Regreß der äußeren Zwecke verhindert. Man möchte denken, ein Regreß würde vermieden, indem an den Anfang oder das Ende der Reihe ein

Wahrnehmung wirkende Ursache der Bewegung, widersinnig ist, weil die fragliche Bewegung zweckmäßig gegliedert ist, weshalb keine wirkende Ursache sie erklären kann. Wahrnehmung ist vielmehr der formale Charakter einer Spezies zweckmäßiger Gliederung, einer Spezies des Zwecks und der Zweckmäßigkeit.

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fabelhaftes Glied tritt, in dem das Fortschreiten auf fabelhafte Weise zur Ruhe kommt. Das ist nie so. Ein Regreß entsteht, wenn die Form der Verknüpfung der Glieder einer Reihe deren logische Form ist, welche Form daher das Weitergehen verlangt. So enthält die zweckmäßige kinesis kraft ihrer logischen Form eine Verknüpfung äußerer Zwecke: x tut A, indem B indem C indem D. Kraft eben dieser Form verweist jede kinesis, an der eine solche Reihe hängen kann, auf etwas anderes als sich selbst als ihren Grund. Wenn immer es einen Regreß gibt, ist ein Glied der Reihe seiner logischen Natur nach unfähig, ihn zu beenden. Ein Regreß wird statt dessen so vermieden, daß die Einheit einer Reihe der Totalität ihrer Glieder und deren Verknüpfung zugrunde liegt. Wir haben gesehen, wie die Kausalität nach Zwecken die Kausalität wirkender Ursachen in sich enthält und ihr zugrunde liegt: Ein Zweck ist eine Einheit von Wirkungen wirkender Ursachen, und diese Einheit ist keine äußerliche Zusammenstellung, sondern Prinzip: sie erklärt das, was unter ihr versammelt ist. In eben dieser Weise enthält der innere den äußeren Zweck: Er ist eine Einheit äußerer Zwecke, die keine äußerliche Zusammenstellung ist, sondern Prinzip: der Grund der unter ihr versammelten äußeren Zwecke. Ein Tätigsein ist ein Zweck, also ein Allgemeines, das wirksam ist und daher als allgemein wirkt. Es erklärt eine zweckmäßige Bewegung, indem es eine Totalität solcher Bewegungen erklärt. Indem diese Totalität eine Totalität zweckmäßiger Bewegungen ist, hat ihre Einheit eine bestimmte Form. Wir haben die teleologische Verknüpfung von Bewegungen bisher progressiv vorgestellt: Die DNA repliziert sich gerade, indem die Helicase die Stränge trennt. Ebenso aber gilt allgemein: DNA repliziert sich so, daß zuerst die Helicase die Stränge trennt. Das Tätigsein, also die zugrunde liegende Einheit der Reihe der zweckmäßigen Bewegungen, liegt in diesem Allgemeinen. Nun scheint auch die allgemeine teleologische Verknüpfung endlos fortzugehen, und dann wäre sie keine Einheit und kein Tätigsein. Diese Reihe aber, da sie allgemein ist, ist keine zeitliche Folge. Und deshalb kann sie in sich selbst zurücklaufen. Die Frage, Was ist früher, die Henne oder das Ei?, hat keine Antwort, weil sie allgemein fragt. Diese Henne ist früher als dieses Ei, sie hat es gelegt, und dieses Ei ist früher als jene Henne, sie ist ihm entschlüpft. Aber die Henne und das Ei haben keinen zeitlichen Ort. Daher kann die Henne für das Ei da sein und das Ei für die Henne, und so die Henne für die Henne und das Ei für das Ei. Da die Reihe allgemeiner teleologischer Verknüpfung in sich selbst zurückläuft, ist jedes ihrer Glieder sowohl Mittel wie Zweck.⁸ Die logische Form, die der

8 Der Begriff der Reihe ist hier abstrakt zu nehmen. Es kann ein Netz und ein Kreis von Kreisen sein.

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Begriff der energeia bezeichnet und in der der progressive den perfektiven Aspekt in sich schließt, ist also näher diese logische Form: ein teleologisches System, in dem jedes Glied Mittel und Zweck jedes anderen ist. Ein Tätigsein ist die Einheit einer Totalität zweckmäßiger Bewegungen. Indem diese Totalität eine Einheit aufweist, sind alle ihr zugehörigen Bewegungen grundlegend dasselbe, nämlich das eine Tätigsein, das in ihnen wirklich und verwirklicht ist. Dieses Tätigsein ist in und durch unbegrenzt viele Bewegungen stets dasselbe; es bleibt in ihnen bei sich selbst und erhält sich in ihnen als es selbst. Der Begriff, der vorstellt, was stets dasselbe ist, ist das beschriebene teleologische System. Ein energeia-Begriff enthält als seine logische Form die Vorstellung eines solchen Systems. Aristoteles unterscheidet Arten der energeia, die eine Stufenleiter bilden: dzen, aisthanestai, dialegein, noein; leben, wahrnehmen, urteilen, denken. Indem wir den Begriff der energeia aus dem der zweckmäßigen kinesis entwickelt haben als den Begriff, der diesem zugrunde liegt und ihn möglich macht, haben wir die erste dieser Arten bestimmt: dzen. Ein bestimmter energeia-Begriff dieser Art bezeichnet ein bestimmtes Leben, eine Weise zu leben oder eine Lebensform. Wir können für x energei H schreiben x lebt H, wobei „H“ ein bestimmtes Leben bezeichnet, also etwa x lebt das Efeuleben, das Meisenleben, das Eselleben, oder x meisen-lebt, efeu-lebt, etc. Die inhaltliche Bestimmung eines energeia-Begriffs ist die empirische Erkenntnis einer Weise zu leben. Mag die fragliche Erkenntnis auch bruchstückhaft sein, die Vorstellung einer Totalität von Bewegungen, die alle Mittel und Zweck aller sind, ist ihre Form. Erinnern wir uns an unser Beispiel. Die Helicase windet die Stränge auf. Dazu wird sie bestimmt durch das Allgemeine, das darin wirklich und verwirklicht ist: Die DNA repliziert sich.Wenn wir der Reihe der teleologischen Verknüpfungen folgen, werden wir finden, daß sie zu etwas führt, das dafür sorgt oder dazu beiträgt, daß geschieht, was geschehen muß, damit die Helicase an dem Ort ist, an dem sie sein muß, und das tut, was sie tun muß, um die Basenpaare zu trennen. Die Reihe der Zwecke, der das Tun der Helicase als Mittel untergeordnet ist, trifft auf eben dieses Tun der Helicase. Nur so ist es kein Zufall, daß geschieht, was geschehen muß, damit die Helicase tut, was sie tun muß. Und nur wenn das kein Zufall ist, ist ihr Tun eine zweckmäßige Bewegung. Was immer also in einer Reihe zweckmäßiger Bewegungen Mittel und Zweck ist, ist es so, daß es einer Totalität eingeordnet ist, in der alles Mittel wie Zweck ist. Und diese Totalität ist sich selbst Zweck. Wir haben oben bemerkt, daß die zweckmäßig gegliederten Bewegungen, die wir zunächst antreffen, Lebensvorgänge sind. Jetzt verstehen wir, warum das so

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ist. Zweckmäßige Bewegungen sind äußere Zwecke; die sind nur möglich durch einen inneren Zweck; dessen erste Art ist Leben.⁹ Wir können eine zweckmäßige Bewegung erklären, indem wir sie auf eine weitere Bewegung beziehen oder indem wir sie auf das ihr zugrunde liegende Tätigsein beziehen. Im ersten Fall erscheint die Bewegung als äußeres Mittel und äußerlich zweckmäßig. Ihr Zweck ist nicht sie selbst, sondern ihr Resultat. Im zweiten erscheint sie als inneres Mittel und innerlich zweckmäßig. Ihr Zweck ist nun sie selbst, nämlich das Leben, das in ihr wirklich und verwirklicht ist. Die zweite Betrachtung ist die tiefere; sie zeigt den tieferen Grund. Der innere Zweck ist die Wahrheit des äußeren.

3 Gutes Handeln Die kinesis ist eine Spezies der logischen Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen: x tut A, indem x A’ getan hat. Die zweckmäßige kinesis eine Spezies dieser Spezies: Die bezeichnete logische Beziehung ist als solche erklärend. Das vernünftige Handeln ist eine Spezies dieser Spezies. Vernünftiges Handeln ist Handeln nach einer begrifflichen Vorstellung. Eine begriffliche Vorstellung, nach der ihr Subjekt handelt, ist ein Wollen. Es gibt die Meinung, ein Wollen sei eine wirkende Ursache des ihm gemäßen Handelns. Man kann auf tausenderlei Weise sehen, daß das falsch ist.Wir sehen es hier, indem wir bemerken, daß eine zweckmäßige Bewegung als solche keine wirkende Ursache hat, vernünftiges Handeln aber zweckmäßig ist. Das Wollen, das keine wirkende Ursache sein kann, bestimmt statt dessen die Art der zweckmäßigen Gliederung des vernünftigen Handelns. Vernünftiges Handeln weist die innere Gliederung der Bewegung auf: Hans tapeziert das Zimmer, indem er eine Tapetenbahn mit Kleister einseift. Die Gliederung ist zweckmäßig: Hans seift die Tapetenbahn ein, weil er das Zimmer tapeziert. Weiter besteht die logisch-kausale Beziehung nur so, daß sie der, der handelt, versteht. Sie wird als solche von ihm vorgestellt; sie ist, wie ich in meinem Buch sage, formal vorgestellt (formally represented), womit ich meine, daß es ihre Form charakterisiert, vorgestellt zu sein (vgl. Rödl 2011, Kapitel 2). Hans, der die Tapete einseift, weil er das Zimmer tapeziert, versteht, dass er sie einseift, weil er tapeziert. Daß er das versteht, ist nichts,was zu dem,was er versteht, hinzutritt, als

9 Es ist daher nicht erhellend, Leben durch die teleologische Gliederung der Lebensvorgänge zu definieren. Denn die ist zunächst nur eine äußere Zweckmäßigkeit. Die ihr zugrunde liegende innere Zweckmäßigkeit aber ist gar nichts anderes Leben, so daß eine solche Definition im besten Fall Leben als Leben definiert.

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sei es ohnehin so, daß er die Tapete einseift, weil er das Zimmer tapeziert, was er dann glücklich ist, noch zu bemerken. Nein, sondern nur indem er versteht, daß er die Tapete einseift, weil er tapeziert, verhält es sich so. Die Gliederung des vernünftigen Handelns ist also nicht nur logisch (kinesis, die Gattung), nicht nur logisch-kausal (eine Art dieser Gattung: zweckmäßige kinesis), sondern logischkausal-verstanden (eine Art dieser Art: vernünftiges Handeln). Der, der die Tapete einseift, weil er das Zimmer tapeziert, versteht, daß er die Tapete einseift, weil er tapeziert. Und da er den Zusammenhang als teleologischen versteht, stellt er Tapezieren als Zweck und Einseifen als zu diesem Zweck taugliches Mittel vor. Das erste ist ein Wollen, das zweite ein Urteil. In seinem Handeln, in seiner logisch-kausal-verstanden gegliederten Bewegung, sind also sein Wollen und sein Urteil zusammengebracht. Das Handeln ist die selbst verstandene Einheit beider, seines Wollens und seines Urteils. Da allgemein gesprochen ein Schluß nichts anderes ist als ein Zusammenvorstellen zweier begrifflicher Vorstellungen, zweier logoi, und zwar so, daß dieses Zusammenvorstellen hinreichend ist für eine dritte Vorstellung,¹⁰ können wir sagen: Ein Handeln ist ein Schluß, dessen Prämissen ein Wollen (des Zwecks) und ein Urteilen (über die Mittel) sind. Es liegt nahe, einen solchen Schluß einen praktischen Schluß zu nennen. Das ist vernünftiges Handeln als Spezies der zweckmäßigen Bewegung. Wir können ebenso eine vernünftige Spezies des Tätigseins einführen. Das vernünftige Tätigsein ist eines, dessen Beziehung zu den Bewegungen, in denen es wirklich ist, nur so besteht, daß sie verstanden ist. Die innere Gliederung der vernünftigen energeia ist also wie die der vernünftigen kinesis nicht nur logisch-kausal, sondern logisch-kausal-verstanden. Aristoteles’ Worte für vernünftige kinesis und energeia sind poiesis und praxis. Das dem vernünftigen Handeln zugehörige energeia-Verb ist also nicht allgemein dzen, sondern spezifisch prattein oder eu prattein. Das „eu“ macht explizit, dass prattein, als Spezies der energeia, innerer Zweck ist. Denn „gut“ bezeichnet den Zweck, insofern er vernünftig vorgestellt wird.¹¹ Das erklärt, weshalb sich vernünftiges Handeln sub specie boni vollzieht. Das ist keine psychologische Aussage, die durch empirische Beobachtung der Depraviertheit menschlicher Motive widerlegt werden könnte.¹² Sie beschreibt die logische Form, die der Begriff des

10 Vgl. Aristoteles’ Definition des syllogismos. 11 Deshalb nennt Kant das Lebewesen Naturzweck, aber nicht Naturgut, denn der innere Zweck, der ein vernunftloses Lebewesen ist, ist nicht in der Weise Zweck, daß er verstanden ist. 12 Dieses irrige Verständnis der Art der Aussage, mit der sie es zu tun haben, liegt der in jüngerer Zeit geäußerten Kritik an ihr zugrunde.

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vernünftigen Handelns bezeichnet. Sie erklärt, daß er ein Tun – Bewegung oder Tätigsein – beschreibt, dessen zweckmäßige Gliederung so besteht, daß sie verstanden ist. Praxis ist energeia, die nicht nur als energeia für sich selbst Zweck ist, sondern die als vernünftige energeia so in sich Zweck ist, daß sie sich durch die Vorstellung ihrer selbst als Zweck, und zwar als innerer Zweck, vollzieht. Ein Subjekt vernünftiger energeia hat daher als solches den Begriff des Selbstzwecks und genauer den Begriff des für sich selbst zweckmäßigen Tätigseins. Es hat ihn eben durch dieses Tätigsein. Der erste energeia-Begriff ist x lebt H, wobei H eine Weise zu leben bezeichnet. Wir bestimmen einen solchen Begriff näher, indem wir erkennen: x lebt so, daß …, und die Leerstelle mit Beschreibungen füllen, die angeben, wie sich das fragliche Leben vollzieht. Der Begriff vernünftiger energeia oder praxis ist x handelt E, wobei „E“ eine Weise zu handeln bezeichnet. Wir bestimmen den Begriff näher in x handelt so, daß ….Wie praxis eine Spezies der energeia ist, ist Handeln eine Spezies von Leben. Wir geben keinen Inhalt an für x handelt E und x handelt so, daß …, denn uns interessiert allein die Ordnung der logischen Begriffe. Wenn einer das Zimmer tapeziert, indem er die Bahn einkleistert, weiß er, daß er kleistert, weil er tapeziert, und darin liegt, daß er das Zimmer zu tapezieren als Zweck vorstellt. Nun ist das Zimmer zu tapezieren eine poiesis und ein äußerer Zweck, und also stellt er es als äußeren Zweck vor, als etwas, das insofern gut ist, als sein Resultat gut ist, das tapezierte Zimmer. Dasselbe gilt mutatis mutandis für praxis.Wenn einer so handelt, daß …, und zwar, indem er seinem Freund hilft, den Fahrradreifen zu flicken, weiß er, daß er hilft, weil er so handelt, daß…, und darin liegt, daß er so zu handeln als Zweck vorstellt. Und da so zu handeln eine praxis und innerer Zweck ist, stellt er es als inneren Zweck vor und sein Handeln als in sich selbst Zweck. Einen energeia-Begriff, der als Zweck vorgestellt und also ein praxis-Begriff ist, nennt Kant Maxime. Eine Maxime kann in der ersten wie in der dritten Person vorgestellt werden: Ich handle so, daß …, Er handelt so, daß …. Da sie aber dem durch sie bestimmten Handeln intern ist, ist es ihr wesentlich, in der ersten Person vorgestellt zu werden. In einer Maxime bestimmt ein Subjekt seinen Begriff des eu prattein, des guten Handelns. Insofern man ein Handeln auf die ihm zugrunde liegende praxis, das ist auf seine Maxime, bezieht, betrachtet man es als Zweck an sich. Denn eine praxis ist ein innerer Zweck. Wenn man dagegen ein Handeln auf seine Folgen bezieht, stellt man es als kinesis und spezifisch als poiesis vor: als etwas, das darin besteht, sich zu Ende zu bringen und seinem Resultat Platz zu machen. So betrachtet ist es nicht an sich selbst Zweck, sondern Mittel zu diesem Resultat.

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Eine poeisis, als extern zweckmäßig, ist nicht an sich gut, sondern durch ihr Resultat. Also ist eine poiesis nicht unbedingt gut, sondern unter der Bedingung, daß ihr Resultat gut ist. Wenn die ethische Qualität des Handelns darin liegt, daß es unbedingt gut ist, hat also ein Handeln diese Qualität nicht als poiesis, nicht kraft seiner Folgen. Eine praxis, als intern zweckmäßig, kann an sich selbst gut sein. Sie hat dafür die richtige logische Form. Also kann sie unbedingt gut sein. (Ebenso kann sie unbedingt schlecht sein.) Die ethische Qualität des Handelns kommt ihm als praxis zu, durch seine Maxime. Es gibt die Meinung, poiesis und praxis seien in der Weise verschieden, daß entweder dies vor sich geht oder jenes. Nun gibt es Vollzüge, die praxis sind, ohne poeisis zu sein, etwa die gemeinsame Gesetzgebung. Es steht aber nichts im Wege, daß etwas, das poeisis ist, ebenso praxis ist. Im grundlegenden Fall, in dem nämlich, da sie einen hinreichenden Grund hat, ist eine poiesis ebenso praxis. Denn poiesis und praxis sind kinesis respektive energeia, nämlich vernünftige kinesis und energeia. Wenn wir das, was vor sich geht, durch einen kinesis-Begriff bestimmen, fassen wir es als kinesis auf: Die DNA repliziert sich. Der letzte Grund einer solchen kinesis ist aber die energeia, die in ihr wirklich ist. Die Meise meisenlebt, indem sich ihre DNA repliziert. Jetzt begreifen wir,was vor sich geht, nicht nur durch einen kinesis-Begriff, sondern durch einen energeia-Begriff, meisen-leben, und fassen es also als energeia auf. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen poiesis und praxis. Wenn ich deinen Reifen aufpumpe, weil du nicht genug Kraft hast, ist mein Handeln einerseits poiesis: Es zielt auf ein Resultat, den aufgepumpten Reifen. Andererseits ist es praxis: Indem ich den Reifen aufpumpe, handle ich nach einer Maxime, so zu handeln, daß …. Der Unterschied wird besonders sichtbar, wenn mein Handeln als poiesis scheitert.Wenn ich zu ungeschickt mit der Pumpe bin, sie gar versehentlich unbrauchbar mache, habe ich schlecht gepumpt; unter diesem, einem poiesis-Begriff und als poiesis ist mein Handeln schlecht.¹³ Des ungeachtet kann es sein, daß ich gut handle und gut gehandelt habe; die ethische Qualität meines Handelns kann tadellos sein, wenn seine Maxime es ist. Daß für die ethische Qualität des Handelns die Folgen irrelevant sind, bedeutet daher nicht, daß der, der gut handelt, nicht an den Folgen seines Handelns interessiert ist. Denn das Handeln, in dem die praxis wirklich ist, ist poiesis. Ich handle gut, indem ich deinen Reifen aufpumpe, was einschließt, daß ich deinen Reifen aufpumpen will und also Interesse daran nehme, daß er schließlich aufgepumpt sein wird. Wir können den Konsequentialismus dadurch charakterisieren, daß er Handeln allein als poiesis betrachten will, als äußerlich zweckmäßig, als Mittel zu

13 Ich verdanke das Beispiel Anselm W. Müller. Vgl. seinen Aufsatz „Acting Well“.

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einem Resultat. Als poiesis aber ist ein Handeln nicht unbedingt gut. Also hat der Konsequentialismus keinen Begriff der ethischen Qualität des Handelns, die darin liegt, daß das Handeln unbedingt gut ist. Ebenso aber hat er keinen Begriff eines äußerlich zweckmäßigen Handeln. Denn der äußere Zweck setzt den inneren voraus und ist nur durch ihn möglich. Wir verstehen das äußerlich zweckmäßige Handeln nur als solches, wenn wir verstehen, wie sein Resultat ein Zweck sein kann. Das können wir erklären, wenn wir es einer übergreifenden poiesis einordnen. Aber das kann nicht die einzige Weise sein. Ein Resultat kann nur Zweck sein, indem es in ein Tätigsein eingeht, das in sich selbst Zweck ist. Das sogenannte „deontological paradox“ entsteht, indem man annimmt, eine Maxime beschreibe ein Handeln als eines, das einem äußeren Zweck dient. Denn man kann stets Bedingungen erdenken, unter denen ein Handeln gemäß der Maxime den vorgestellten äußeren Zweck hemmt. Wenn man z. B. meint, die Maxime „Handle so, daß du keinen Unschuldigen tötest“ empfehle ein Handeln, dessen Zweck es ist, daß möglichst wenige Unschuldige getötet werden, wird man sich Situationen ausdenken können, in denen man diesen Zweck erreichen kann, indem man einen Unschuldigen tötet. Das zeigt nicht, daß es paradox ist, gutes Handeln durch Maximen zu bestimmen, sondern daß der Konsequentialismus nicht über den Begriff des unbedingt guten Handelns verfügt. Wenn daher von konsequentialistischen Systemen der Ethik gesprochen wird, ist das eine contradictio in adjecto. Der Begriff des guten Resultats, sofern er selbständig sein soll und nicht dem Begriff des guten Tätigseins untergeordnet ist, ist leer. Ebenso leer sind daher alle Begriffe einer vorgeblichen Erkenntnis eines solchen Gutseins, etwa der einer Intuition von Werten. Man sieht das, wenn man sich vor Augen führt, was es bedeutet, daß die Charakterisierung des Resultats als gut von der Verwendung von „gut“ in „gut handeln“ unabhängig ist. Um diese Unabhängigkeit festzuhalten, verwenden wir anstelle von „gut“ den Buchstaben F. Der Konsequentialismus erklärt dann, ein Handeln sei unbedingt gut, wenn es etwas hervorbringt, das F ist. Es ist der letzte Zweck des Menschen, Fs hervorzubringen, Fs zu maximieren. Es ist offensichtlich, daß jemand, der seinem Leben eine Maxime dieser Form zugrunde legt, an einer krankhaften Obsession leidet. Das ist so aufgrund der Form der Maxime. Es ist nicht so, daß die Maxime keine Obsession anzeigt, wenn der Inhalt mit dem Wort „gut“ belegt wird, sondern umgekehrt erscheint dann das Gute statt als innerer Zweck als Gegenstand einer krankhaften Obsession. Es ist eine weitere Aufsteigerung der Konfusion, wenn man dann die Neigung spürt, dieser Obsession zu entkommen, und fragt, ob es nicht zu viel verlangt ist, stets nur Fs produzieren zu sollen, und ob man nicht auch einmal etwas anderes tun darf, vielleicht, weil man sonst auseinander fällt. Das ist die sogenannte „Overdemandingness Objection“ gegen den Konsequentialismus, auf deren Formulierung wie auf deren

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Zurückweisung großer Scharfsinn gewendet wird. Das Problem des Konsequentialismus ist aber nicht, daß er zuviel verlangt, sondern daß er die logische Form des Handelns als die des äußeren Zwecks und also die praktische Existenz des Menschen als Mittel zu einem Zweck bestimmt. Das ist nicht falsch, sondern sinnlos.

Bibliographie Aristoteles (1995): De Anima. Hamburg: Meiner. Aristoteles (1989): Metaphysik. Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel (2001): Kritik der Urteilskraft. Hamburg: Meiner. Müller, Anselm W. (2004): „Acting Well“. In: Anthony O’Hear (Hrsg.): Modern Moral Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press, S. 15 – 46. Ridge, Michael (2011): „Reasons for Action: Agent-Neutral vs. Agent-Relative“. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. (http://plato.stanford.edu/entries/reasons-agent/) Rödl, Sebastian (2011): Selbstbewusstsein. Berlin: Suhrkamp.

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Tatsachen, Werte und Praktische Argumentation: Was ist verkehrt am „naturalistischen Fehlschluss“? Der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie entsprechend pflegen wir üblicherweise auch zwischen theoretischer und praktischer Argumentation zu unterscheiden. Der Unterschied wird gewöhnlich an der Art der These (oder Konklusion) einer Argumentation festgemacht: Handelt es sich dabei um ein theoretisches oder praktisches Urteil? Ist die These theoretisch, so liegt eine theoretische Argumentation vor. Ist die These ein praktisches Urteil, so liegt eine praktische Argumentation vor. Was aber ist der Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Urteilen? Das wird gemeinhin folgendermaßen erklärt: Ein theoretisches Urteil stellt fest, was der Fall ist.Wenn die Feststellung zutrifft, ist es ein wahres Urteil, trifft sie nicht zu, ist das Urteil falsch. Ein praktisches Urteil dagegen bewertet, was der Fall ist, oder fordert, was der Fall sein sollte.Werturteile oder Forderungen können berechtigt oder unberechtigt, richtig oder falsch sein, aber nicht wahr oder falsch – jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es theoretische Urteile, also Urteile über Faktisches sein können.¹ Ein Urteil allein macht noch keine Argumentation. Eine Argumentation liefert mindestens einen Grund, also ein weiteres Urteil, das für (oder gegen) eine These spricht. Und so sehen nicht wenige einen wesentlichen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Argumentation darin, dass theoretische, also wahrheitsfähige Urteile zwar hinreichende Gründe für eine theoretische These abgeben können, aber niemals für eine praktische These. Eine praktische These, so meint man, könne nur hinreichend begründet werden, wenn sich unter den Gründen mindestens ein praktisches Urteil findet, auf das sich die in der These enthaltene Wertung (oder Aufforderung) stützen kann. Fehlt unter den Gründen ein praktisches Urteil, ein praktischer Grund, so ist nach dieser verbreiteten Ansicht die praktische Argumentation auf eine charakteristische Weise fehlerhaft. Der Fehler hat bekanntlich einen Namen: naturalistic fallacy. Dies wäre ein fehlerhaftes Argumentations-

1 Hier führt die Frage nach dem Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Urteilen zur Frage nach dem rechten Verständnis von „wahr“. Greifen wir hier auf die Formel vom Wahrsein als Übereinstimmung mit den Tatsachen zurück, so bleibt immer noch die Frage, ob es nicht auch objektive Werte und moralische Tatsachen gibt, mit denen (gültige) praktische Urteile übereinstimmen müssten.

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muster, das nur bei praktischen Argumentationen, nicht bei theoretischen auftreten kann. Noch tiefer erscheint die Differenz zwischen theoretischer und praktischer Argumentation, wenn man annimmt, dass der Wille, die Wünsche und die subjektiven Einstellungen in praktischen Argumentationen eine entscheidende Rolle spielen, während sie in der theoretischen Argumentation überhaupt keine Rolle spielen. Zu den Gründen, so meint man, muss bei einer praktischen Argumentation immer noch etwas hinzu kommen, das im Subjekt liegen soll. Der sogenannte „zwanglose Zwang“, mit dem „gute Gründe“ zur vernünftigen Einsicht in die Geltung einer These führen sollen, reicht nach dieser Ansicht im Falle praktischer Argumentation nicht aus. Bei einer Divergenz der Einstellungen oder des Willens, so meint man, sei es stets möglich, allen vorgelegten guten Gründen zum Trotz die so begründete These abzulehnen. Philippa Foot nennt diese Auffassung treffend die „‚Zusammenbruch‘-theorie“ der moralischen Argumentation (vgl. Foot 1974). Die Lehre vom naturalistischen Fehlschluss und die »Zusammenbruch«theorie liefern ein Bild von praktischen Argumentationen, dem zufolge sich theoretische und praktische Argumentation wesentlich unterscheiden. Das ist nun, wie mir scheint, weniger das Resultat einer Untersuchung der Weise, wie wir in der tatsächlichen Praxis argumentieren, gute von weniger guten Gründen unterscheiden und zu vernünftigen Urteilen und Entscheidungen kommen, sondern eher Resultat von theoretischen Konstruktionen, die auf einer Reihe von Unterscheidungen beruhen, die als Dichotomien verstanden werden: Wert und Tatsache, Sein und Sollen, natürlich und nicht-natürlich, wahrheitsfähig und nichtwahrheitsfähig, deskriptiv und normativ, kognitiv und non-kognitiv. Diese Unterscheidungen werden als exklusiv und erschöpfend aufgefasst. Dem tatsächlichen Gebrauch unserer Wörter, etwa „beschreiben“, „sollen“, „gut“ oder „Tatsache“, entspricht das nicht. Stephen Toulmin und Kurt Baier haben das sehr schön für den Ausdruck „beschreiben“ gezeigt (vgl. Toulmin/Baier 1969). Und Philippa Foot weist darauf hin, dass im normalen Sprachgebrauch „das Wort ‚gut‘ ein deskriptives Wort“ ist, und sie fährt fort: „In dem üblichen Sinne von ‚Tatsache‘ sagen wir, dass es eine Tatsache sei, dass der und der ein guter Mensch ist.“ Im üblichen Sprachgebrauch können „die beiden Kategorien ‚Tatsache‘ und ‚Wert‘“ durchaus koinzidieren. Wenn solche Redeweisen manchen Philosophen als Kategorienfehler erscheinen, so liegt das nach Foots Diagnose einfach daran, dass sie „‚faktisch‘ oder ‚deskriptiv‘ gerade durch die Absonderung vom Bereich der Werte definiert“ haben (Foot 1974, S. 249). Durch diese Absonderung entsteht das Bild einer „Großen Trennlinie“ (Toulmin/Baier), einer Grenze, die die Welt der Tatsachen, der Natur, der Dinge, die sich beschreiben lassen, sorgfältig abtrennt von allem, was nicht-natürlich, was Wert, Sinn oder Zweck ist. Die Metaphysik einer Welt ohne Wert erzeugt das Bild eines Außerhalb der Welt, das sich nicht

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oder nur mittels eines besonderen, von allen anderen Erkenntnisvermögen verschiedenen, Erkenntnisvermögens erkennen und beschreiben lässt. Dieses Außerhalb der Welt ohne Wert mag als eine übernatürliche Superwelt oder als eine subjektive Innenwelt gedacht werden, entscheidend ist, dass sie jenseits der Grenze, der Großen Trennlinie liegt.

1 Die fixe Idee einer Welt ohne Wert In den Principia Ethica (1903) geht George Edward Moore der Frage nach dem Sinn oder der Bedeutung des Ausdrucks „gut“ nach. Dabei geht es ihm ausdrücklich nicht um all die Bedeutungen, in denen dieses Wort tatsächlich verwendet wird. Er versucht vielmehr die spezielle Bedeutung von „gut“ zu isolieren, die nach seiner Auffassung für die Ethik die einzig relevante ist. Nach Moores Auffassung bezeichnet das Wort „gut“ in dieser speziellen moralischen Bedeutung bekanntlich eine einfache („primitive“) und nichtnatürliche Eigenschaft, die sich nicht analysieren und nicht definieren lässt. Um die besondere Bedeutung von „gut“ im moralischen Sinne herauszustellen, arbeitet Moore also mit einer dichotomen Unterscheidung von „natürlich“ und „nicht-natürlich“. An einer Stelle erläutert Moore, mit „Natur“ meine er „immer das, was Gegenstand der Naturwissenschaft und auch der Psychologie ist. Man kann sagen, dass Natur alles, was in der Zeit existiert, existiert hat oder existieren wird, umfasst.“ (Moore 1996, S. 78) Dass die Eigenschaft, die „gut“ bezeichnet, „nicht-natürlich“ ist, bedeutet nach Moore zwar nicht, dass sie natürlichen Gegenständen nicht zukommen könne, wohl aber, dass ihr Vorliegen nicht durch die Naturwissenschaft erkannt werden kann. Wenn das Gutsein von etwas erkannt werden kann, dann aufgrund eines speziellen Erkenntnisvermögens, das auch als „Intuition“ bezeichnet wird. Nach Moores Auffassung ist also die natürliche Welt nicht ohne Wert, aber das Gutsein der natürlichen Dinge liegt nicht in ihren natürlichen Eigenschaften und kommt ihnen auch nicht auf dieselbe Weise zu wie diese. Aber ich will hier nicht weiter den metaphysischen Ansichten Moores nachgehen. Ein Vertreter der Idee einer Tatsachen-Welt ohne Wert war sicherlich der frühere Ludwig Wittgenstein. Im Tractatus hört sich das so an: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Und: „die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist.“ (1.12) Weiter: „Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen“ (6.41) Schließlich: „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.“ (6.42) Und:

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„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ An diesen hinlänglich bekannten Sätzen aus dem Tractatus sieht man, wie ich meine, recht deutlich, wie die Absonderung von Welt und Wert quasi durch Setzung erzwungen wird: Es gibt in der Welt keinen Wert – wenn es einen Wert in der Welt gäbe, so hätte er keinen Wert, d. h. es wäre kein Wert. Die Absonderung von Wert und Welt erfolgt durch gegenseitigen Ausschluss. Dazu liefert Wittgenstein im Tractatus zwar Erläuterungen, aber keine weiteren Argumente. Im „Vortrag über Ethik“ hat Wittgenstein hinsichtlich Wert und Tatsache im Wesentlichen dieselbe Botschaft wie im Tractatus, versucht diese aber durch Beispiele oder Gedankenexperimente argumentativ zu stützen. Dabei geht er zunächst von Moores Definition der Ethik als „allgemeine Untersuchung dessen, was gut ist“ aus, erweitert diese dann aber, indem er „eine Reihe mehr oder weniger synonymer Ausdrücke“ vorlegt, die man an die Stelle der Definition von Moore setzen könnte, etwa dass die Ethik die Untersuchung dessen sei, „was Wert hat“, „was wirklich wichtig ist“, was der „Sinn des Lebens“ ist, „was das Leben lebenswert macht“ oder was „die rechte Art zu leben“ ist.² Jeder dieser Ausdrücke, so Wittgensteins These, werde „eigentlich in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen verwendet“, einer relativen und einer absoluten Bedeutung. Entsprechend unterscheidet Wittgenstein zwischen relativen und absoluten Werturteilen. In der Ethik haben wir es nach Wittgenstein mit dem Gutsein, dem Wert oder dem Sinn (der Welt, des Lebens) nicht im relativen, sondern allein im absoluten Sinn zu tun. Die Thesen, auf die Wittgenstein mit dieser Unterscheidung hinaus will, formuliert er folgendermaßen: Alle relativen Werturteile sind zwar, wie sich zeigen lässt, bloße Aussagen über Faktisches, doch keine Faktenaussage kann je ein absolutes Werturteil abgeben oder implizieren. (Vortrag, S. 12)

Mit anderen Worten: Es gibt erstens nur Tatsachenurteile (relative Werturteile eingeschlossen) und (absolute) Werturteile. Und zweitens können Tatsachenurteile weder Werturteile sein, noch können Werturteile aus ihnen folgen. Hier haben wir wieder die wechselseitige Exklusion von Wert und Tatsache.

2 Dass Wittgenstein hier ausdrücklich von „mehr oder weniger synonymen“ Ausdrücken spricht, ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen, weil die Rede von Synonymie voraussetzt, dass diese Ausdrücke überhaupt Sinn oder Bedeutung haben – was Wittgenstein am Ende aber gerade bestreiten will. Und zum zweiten, weil die Rede von „mehr oder weniger“ nahelegt, dass der Sinn dieser Ausdrücke sozusagen teilweise gleich und teilweise verschieden ist, was einschließt, dass der unterstellte Sinn jedes dieser Ausdrücke nicht einfach, sondern komplex ist – was jedenfalls Moores Rede vom Gutsein als primitiver Eigenschaft widerspricht.

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Wittgenstein führt den Unterschied von relativen und absoluten Werturteilen anhand von Beispielen ein, um daran Kriterien dieser Unterscheidung festzumachen. Zunächst gibt er ein paar Beispiele für die Verwendung von „gut“ oder „richtig“ im relativen Sinn: „Dies ist ein guter Stuhl“, „Dieser Mann ist ein guter Pianist“, „Es ist wichtig für mich, keinen Schnupfen zu bekommen“ und „Dies ist die richtige Straße nach …“ Und er konstatiert: Im Grunde bedeutet das Wort »gut« im relativen Sinne schlicht das gleiche wie: einem vorher festgelegten Maßstab gerecht werden. (Vortrag, S. 11)

Im Blick auf die genannten Beispiele bleibt allerdings zu fragen: Was heißt hier jeweils „Maßstab“? Ist es eine ‚Tatsache‘, dass etwas ein Maßstab ist? Und wovon oder wofür ist es ein Maßstab? Wodurch und in welchem Sinne ist der Maßstab ‚vorher festgelegt‘? Inwiefern hängt das von der beurteilten Sache ab? Oder von den Zielen? Oder vom Willen desjenigen, der das Urteil fällt? Wittgenstein konfrontiert dann folgende Dialoge, um zu zeigen, wie sich absolute von relativen Werturteilen unterscheiden: Angenommen, ich könnte Tennis spielen, und einer von Ihnen beobachtete mich beim Spiel und sagte: »Na, Sie spielen aber ziemlich schlecht«, und ferner angenommen, ich erwiderte: »Das weiß ich, ich spiele schlecht, aber ich will gar nicht besser spielen«, dann bliebe dem anderen gar nichts anderes übrig als zu antworten: »Schon recht, dann ist ja alles in Ordnung.« Aber denken wir uns, ich hätte einen von Ihnen aberwitzig angelogen, und nun käme er auf mich zu und sagte: »Sie benehmen sich abscheulich.« Wenn ich darauf erwiderte: »Ich weiß, dass ich mich schlecht benehme, aber ich will mich gar nicht besser benehmen«, könnte der andere dann antworten: »Schon recht, dann ist ja alles in Ordnung.«? Nein, das ginge bestimmt nicht, sondern er würde sagen: »Na, dann sollten Sie sich aber besser benehmen wollen.« Hier haben wir es mit einem absoluten Werturteil zu tun, während der erste Fall ein Beispiel für ein relatives Werturteil war. (Vortrag, S. 11/12)

Mit den beiden Dialogbeispielen will Wittgenstein offenbar paradigmatisch den Unterschied zwischen relativen und absoluten Werturteilen zeigen, und es ist offensichtlich, dass er »Na, dann sollten Sie sich aber besser benehmen wollen«, also sozusagen den dritten Zug im zweiten Dialog als absolutes Werturteil abheben will. Was aber genau ist es, das diesen Zug von den anderen Zügen in den beiden Dialogen unterscheidet? Ein Unterschied, der sofort ins Auge springt, ist der Nachdruck, der in diesem Urteil auf dem Ausdruck „sollte“ liegt. Allerdings dürfte auch dieser Ausdruck eine relative und eine absolute Bedeutung haben. Und das Beispiel soll uns wohl eine Verwendung von „sollte“ mit absoluter Bedeutung zeigen. Das,was dieses Urteil zu einem absoluten macht, kann also nicht allein am „sollte“ liegen, sondern an seiner speziellen Verwendung in diesem Urteil. In dieser speziellen Verwendung geht es darum, das, was jemand tatsächlich will,

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nach einem Maßstab dafür zu beurteilen, was er wollen sollte. Dies dürfte dann allerdings kein „vorher festgelegter Maßstab“ sein. Es müsste ein ‚absoluter‘ Maßstab sein, wenn »Na, dann sollten Sie sich aber besser benehmen wollen« als absolutes und nicht als relatives Werturteil von der Art »Wenn Sie ein anständiger Mensch sein wollen, dann sollten Sie sich aber besser benehmen wollen« verstanden werden soll. Ein absolutes Werturteil ist, wie Wittgenstein später sagt, ein Urteil, dem man, unabhängig von seinen Vorlieben und Neigungen, „mit logischer Notwendigkeit“ folgen oder sich schämen bzw. schuldig fühlen müsse (Vortrag, S.14). Ein solches Urteil wäre jedoch ein „Hirngespinst“. Aber wie kann es dann überhaupt ein Beispiel dafür geben? So wie Wittgenstein die beiden Dialoge einführt und kommentiert, sind die beiden ersten Züge jeweils gleich. Im ersten Zug hält der eine Dialogpartner A dem andern B vor, sein Handeln sei schlecht. Im zweiten Zug übernimmt B dieses Urteil und fügt hinzu, er wolle gar nicht besser handeln. Der wesentliche Unterschied der beiden Fälle zeigt sich dann im dritten Zug: Im ersten Fall bleibt A „gar nichts anderes übrig als zu antworten: »Schon recht, dann ist ja alles in Ordnung«“, während er im zweiten Fall diese Antwort „bestimmt nicht“ geben könnte. Im ersten Dialogspiel (um ein relatives Werturteil) muss B gewinnen, im zweiten (wo es um ein absolutes Werturteil geht) gewinnt A. Aber muss das so sein? Nehmen wir an, A sei der Tennislehrer oder Tennispartner von B. Dann wäre B’s Antwort: »Ich will gar nicht besser spielen« ziemlich unangebracht (wenn nicht unverschämt), und A könnte sehr wohl erwidern: »Na, dann sollten Sie aber besser spielen wollen«. Es mag Fälle geben, bei denen man in einem entsprechenden Dialog „nicht anders kann“ als zu sagen, dann sei ja alles in Ordnung. Aber es ist es keineswegs so, wie Wittgenstein mit dem Kontrast von Tennisspieler und aberwitzigem Lügner nahelegt, dass es uns bei relativen Werturteilen immer freisteht, den entsprechenden Maßstäben entsprechen zu wollen oder eben nicht. Hätte Wittgenstein statt des guten Pianisten oder des schlechten Tennisspielers Beispiele wie etwa die des guten Arztes oder der schlechten Mutter gewählt, wäre diese Suggestion nicht so leicht gelungen. Wittgenstein behauptet, zeigen zu können, dass alle relativen Werturteile bloße Aussagen über Faktisches sind. Was aber zählt als „Aussage über Faktisches“? Aussagen über Faktisches sind für Wittgenstein Aussagen über Bewegungen von Körpern und Aussagen über Bewusstseinszustände von Menschen – sonst nichts (vgl. Vortrag, S. 12). Sind relative Werturteile eigentlich Aussagen über Faktisches, dann müssen sie sich auch so ausdrücken lassen, dass sie „auch der Form nach nicht mehr wie ein Werturteil“ erscheinen. Für eine entsprechende Umformung relativer Werturteile in Tatsachenaussagen liefert Wittgenstein zwei Beispiele:

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Anstelle des Satzes »Dies ist der richtige Weg nach Granchester« hätte ich ebensogut sagen können: »Dies ist der richtige Weg, den Sie nehmen müssen,wenn Sie in möglichst kurzer Zeit Granchester erreichen wollen«; »Dieser Mann ist ein guter Läufer« bedeutet schlicht und einfach, dass er soundso viele Meilen in soundso viel Minuten zurücklegt, usw. (Vortrag, S. 12)

Wittgensteins Beispiele legen nahe, relative Werturteile könnten ohne Verlust umgeformt werden in Aussagen über Tatsachen hinsichtlich messbarer Wege und Zeiten (sowie psychologischer Zustände, etwa dem Willen, in kürzester Zeit nach Granchester zu gelangen). Aber ist es wirklich einleuchtend, dass „richtiger Weg“ dasselbe bedeutet wie „kürzester Weg“? Und bedeutet „guter Läufer“ nichts weiter als „Läufer, der eine bestimmte Strecke in einer bestimmten Zeit zurück legt“? Und denken wir etwa an relative Werturteile über Pianisten und Tennisspieler, über Liebhaber, Väter und Polizistinnen, so sind Zweifel angebracht, ob sich diese in Aussagen über Bewegungen von Körpern in der Welt und über Bewusstseinszustände umformen lassen. Damit will ich nicht sagen, dass wir das, was wir mit einem Urteil der Art „NN ist ein guter Mensch“ ausdrücken, nicht als eine Tatsache in einem normalen Sinn verstehen können, sondern nur, dass wir es wohl nicht als Tatsache in dem engen Sinn, in dem Wittgenstein von Tatsachen spricht,verstehen können. Um uns ein Bild von seiner Tatsachen-Welt ohne Wert zu geben, fordert Wittgenstein uns auf, uns einen Allwissenden vorzustellen, der „alles,was er weiß, in ein großes Buch eintrüge“, so dass „dieses Buch die gesamte Beschreibung der Welt“ enthielte. Qua Voraussetzung enthielte dieses Buch, wie gesagt, nur Aussagen über Bewegungen von Körpern und Aussagen über Bewusstseinszustände von Menschen. Das Buch der Welt, das unser Allwissender schreibt, enthielte die gesamte Beschreibung der Welt, aber, darauf besteht Wittgenstein immer wieder, nichts „was wir ein ethisches Urteil nennen würden, bzw. nichts, was ein solches Urteil logisch implizierte.“ Wittgenstein bringt hier wieder ein Beispiel: Wenn wir z. B. in unserem Welt-Buch die Schilderung eines Mordes mit sämtlichen physischen und psychischen Einzelheiten lesen, wird die bloße Beschreibung dieser Fakten nichts enthalten,was wir als ethischen Satz bezeichnen könnten. Der Mord wird auf derselben Ebene stehen wie jedes sonstige Ereignis, etwa das Fallen eines Steins. Gewiss, es kann sein, dass die Lektüre dieser Schilderung Kummer oder Zorn oder sonst ein Gefühl in uns hervorruft, oder es wäre möglich, dass wir etwas über den Kummer oder den Zorn lesen, die durch diesen Mord bei anderen hervorgerufen wurden, als sie davon hörten, doch das sind bloß Fakten, Fakten und nochmals Fakten, aber keine Ethik. (Vortrag, S. 12/13)

Wittgenstein versetzt uns mit seinem Gedankenexperiment mit dem Welt-Buch in eine Position außerhalb der Welt. Der rhetorische Effekt bei der Schilderung des Mordes ergibt sich daraus, dass wir zwar weiter über moralische Begriffe wie den des Mordes verfügen und auch um die moralische Verwerflichkeit eines Mordes

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wissen, der allwissende Verfasser des Welt-Buches aber soll gerade über dieses Wissen nicht verfügen. Er ist, so könnte man sagen, begrifflich arm und moralisch blind. Genau genommen kann sein Welt-Buch gar keine Schilderung eines Mordes enthalten, sondern allenfalls die Schilderung von Tötungen. Aber nicht alle Tötungen sind Morde. Und ein Mord kann keine Tatsache im Sinne Wittgensteins sein. Wir sollen die (wertfreie) Schilderung sämtlicher an einem Tötungsvorgang beteiligten „physischen und psychischen Einzelheiten“ als Schilderung eines Mordes auffassen und zugleich von all dem absehen, was eine Tötung überhaupt erst zu einem Mord macht.Wittgenstein mobilisiert unser begriffliches Wissen um den Zusammenhang von Mord, Vorsatz, Heimtücke und Verwerflichkeit, um es dann zu zerteilen in ein mögliches Wissen über physische und psychische Vorgänge und ein Element der Beurteilung, das qua Voraussetzung kein Wissen sein kann und dann als von außen an die Tatsachen herangetragen erscheint. Dass ethische Urteile nach Wittgensteins Auffassung keine möglichen oder wirklichen Sachverhalte ausdrücken und insofern sprachlicher Unsinn sind, ist klar. Bemerkenswert aber ist, dass und wie Wittgenstein dann weiter einzukreisen versucht, was wir mit absoluten Werturteilen (vergeblich) auszudrücken versuchen. Er spricht von einer bestimmten Art von Erlebnissen, von Bewusstseinszuständen und Gefühlen und er nennt das Staunen über die Existenz der Welt, das Erlebnis, sich in absoluter Sicherheit zu fühlen, und das Schuldgefühl als typische Beispiele. Bisher hatte Wittgenstein Bewusstseinszustände und Gefühle – man denke an das „nicht besser spielen wollen“ oder an den Kummer und Zorn im Zusammenhang mit einem Mord – stets als psychologische Tatsachen dargestellt. Hier, bei den Erlebnissen, Bewusstseinszuständen und Gefühlen, deren Wert wir nach seiner Ansicht mit absoluten Urteilen auszudrücken versuchen, sieht Wittgenstein offenbar nicht die Möglichkeit, diese bloß als psychologische Tatsachen zu verstehen.Warum aber sollte der Kummer oder Zorn über einen Mord bloß eine psychologische Tatsache sein, das Schuldgefühl des Lügners oder Mörders aber nicht? Einen Grund dafür gibt Wittgenstein nicht. Und obwohl er es für völlig aussichtslos hält, beteiligt er sich an dem Versuch, etwas (vermeintlich ‚Höheres‘) zum Ausdruck zu bringen, was nur durch einen „Missbrauch der Sprache“ zum Ausdruck gebracht werden kann, wie er nach seiner Ansicht für die ethische und religiöse Rede charakteristisch ist. Wittgensteins Argumentation im Vortrag kann insgesamt als eine Art reductio ad absurdum aufgefasst werden: Angenommen, es gibt neben den Faktenaussagen eine weitere Art von Aussagen, die Werturteile. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder diese Werturteile sind doch nur eine Art von Aussagen über Faktisches – dann sind es eigentlich keine Werturteile. Oder die Werturteile sind nicht auf Aussagen über Faktisches reduzierbar – dann sind es eben überhaupt keine Aussagen, keine Werturteile. Ergebnis: Es gibt keine Werturteile, nur Fak-

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tenaussagen. Diese reductio ad absurdum funktioniert allerdings nur, wenn man schon voraussetzt, dass Sätze nur Faktisches ausdrücken können und dass es in der Welt der Tatsachen keinen Wert gibt. Die Argumentation ist also eine petitio principii (vgl. Raatzsch 2008, S. 123). Bezogen auf die Frage nach dem Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Urteilen bzw. theoretischer und praktischer Argumentation ist die Konsequenz, dass es einen solchen Unterschied einfach deshalb nicht gibt, weil es eigentlich keine praktischen Urteile geben kann. Die Unterscheidung wird in einen Unterschied zwischen Sinn und Unsinn aufgelöst, wobei allerdings schon vorher feststand, dass nur Urteile über Faktisches Sinn haben und wahr oder falsch sein können. Der spätere Wittgenstein hat sich bekanntlich wenig, und wenn, dann eher beiläufig zur Ethik oder zu ethischen Urteilen geäußert. Allerdings hat sich bei ihm das Bild vom Wesen der menschlichen Sprache und von den Grenzen des sprachlichen Sinns geändert. Sinn oder Unsinn eines Ausdrucks hängt nicht mehr davon ab, ob der Ausdruck eine mögliche Tatsache abbildet. Ob ein sprachlicher Ausdruck sinnvoll oder unsinnig ist, hängt nun davon ab, ob und in welchem Sprachspiel er verwendet wird und wie er dabei mit Tätigkeiten verbunden ist. Das gilt dann auch für ethische Ausdrücke, sofern es für solche Ausdrücke in einem Sprachspiel einen tatsächlichen Gebrauch gibt. Die Große Trennlinie gibt es beim späteren Wittgenstein nicht mehr, vielmehr eine Vielfalt von Differenzen und Ähnlichkeiten des Gebrauchs von Ausdrücken in der Sprache. Unsinn entsteht, wenn ein Ausdruck in einem Sprachspiel verwendet wird, in dem er nicht ‚arbeitet‘, so dass ‚die Sprache feiert‘.

2 Der „naturalistische Fehlschluss“ – ein logischer Fehler? Der Ausdruck naturalistic fallacy stammt von Moore. Und er verwendet ihn, um naturalistische, hedonistische und auch metaphysische Ethiken zu kritisieren.Wie er später einräumt, hat er dabei den Ausdruck naturalistic fallacy in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen verwendet (vgl. Moore 1996, S. 372 ff.) Nach Moores Auffassung ist es jedenfalls ein Irrtum, die nicht-natürliche Eigenschaft des Gutseins mit einer natürlichen Eigenschaft (oder einem Bündel natürlicher Eigenschaften) zu identifizieren, und es ist ein Fehler, das Wort „gut“ überhaupt zu definieren, denn es bezeichnet eine primitive Eigenschaft. Die fallacy, um die es bei Moore geht, betrifft also in erster Linie die Bestimmung der Bedeutung von „gut“.³ 3 Die übliche Übersetzung als „naturalistischer Fehlschluss“ ist dabei übrigens ein wenig

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Anders als der Ausdruck „gut“ spielt der Ausdruck „sollen“ in Moores Untersuchungen keine prominente Rolle. In der Diskussion um die naturalistic fallacy dagegen schon. Häufig wird dabei nämlich die naturalistic fallacy mit dem von Hume beanstandeten Übergang von „ist“ zu „sollte“ gleichgesetzt. Man spricht deshalb auch vom „naturalistischen Fehlschluss“ als dem „Sein-Sollen-Fehlschluss“. Zwar ist, was Hume beanstandet, nicht genau dasselbe wie das, was Moore als naturalistic fallacy brandmarkt. Dass es aber Zusammenhänge zwischen den beiden vermeintlichen fallacies gibt, zeigt sich in Frankenas Diskussion des naturalistischen Fehlschlusses (auf die ich später noch eingehen werde). Die Rede vom naturalistischen Fehlschluss hat mittlerweile Eingang in schulische und akademische Lehrbücher gefunden. Die darin vermittelte Lehre vom naturalistischen Fehlschluss besagt, dass es ein in der praktischen Argumentation charakteristischer logischer Fehler ist, ein praktisches Urteil aus Gründen abzuleiten, die nur Aussagen über Tatsachen enthalten. Eine praktische Argumentation kann nicht gültig sein, wenn sich nicht auch unter den Gründen mindestens ein praktisches Urteil befindet. Die Lehre ist zwar nicht unumstritten – Gegner nennen sie selbst eine fallacy (vgl. Searle 1971, S. 200ff) –, aber sie kann doch als „vorherrschende“ Lehre bezeichnet werden, sofern jedenfalls etliche Lehrbücher den Eindruck vermitteln, es handele sich um gesichertes, allgemein geteiltes Lehrbuchwissen. Als Beispiel sei hier „Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung“ von Holm Tetens zitiert, die aus seinen Lehrveranstaltungen an der FU Berlin hervorgegangen ist: Vom Standpunkt der Logik ist es nun bis auf wenige irrelevante Sonderfälle nicht möglich, logisch schlüssig auf eine normative Aussage zu schließen, wenn nicht schon unter den Prämissen mindestens eine normative Aussage vorkommt. Vom Standpunkt der Logik ist es also ein Fehlschluss, wenn man von deskriptiven Aussagen ohne typisch normatives Vokabular auf eine normative Aussage schließen will. Aus dieser Sicht begeht jemand einen Fehlschluss, der aus dem, was in der Welt der Fall ist, glaubt, direkt herleiten zu können, was in der Welt der Fall sein soll. Es ist der Sein-Sollen-Fehlschluss oder der naturalistische Fehlschluss. (Tetens 2004, S. 142)

In einem hervorgehobenen Merkkasten wird diese Lehre dann noch einmal zusammengefasst:

irreführend, denn es geht bei Moore eigentlich gar nicht um fehlerhaftes Schließen, sondern um fehlerhaftes Definieren.

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Tetens geht hier von einer klaren Trennung von deskriptiven und normativen Aussagen aus, identifiziert den naturalistischen Fehlschluss mit dem Sein-SollenFehlschluss und kennzeichnet diesen Fehlschluss als einen logischen Fehler. Worin genau der Fehler bestehen soll, wird eigentlich nicht erklärt. Es bleibt bei der allgemeinen Bestimmung, dass der naturalistische Fehlschluss schon deshalb ein Fehlschluss ist,weil ein solcher Schluss eben nicht logisch schlüssig ist. Das ist das Kriterium für das Vorliegen einer formal fallacy. Logisch gültig ist ein Schluss, wenn es unmöglich ist, dass die Konklusion falsch ist, solange die Prämissen wahr sind. Sind die Prämissen wahr, so muss auch die Konklusion wahr sein.⁴ Wenn der naturalistische Fehlschluss eine formal fallacy ist, dann bedeutet das, dass es keine Fälle geben kann, bei denen, die Wahrheit der deskriptiven Prämissen gegeben, die normative Konklusion wahr sein muss, dass es vielmehr immer so ist, dass bei unterstellter Wahrheit der deskriptiven Prämissen die normative Konklusion falsch sein kann. Warum aber sollte es keine Fälle von Argumentationen geben, die zugleich das Schema „nur deskriptive Prämissen – normative Konklusion“ erfüllen und logisch gültig sind? Tetens räumt beiläufig ein, dass es solche Fälle gibt, die er aber nicht weiter benennt, sondern als „wenige irrelevante Sonderfälle“ beiseite stellt. Hier wüsste man gerne, in welchem Sinne es sich um Sonderfälle handelt und warum diese irrelevant sein sollen. In jedem Fall bedeutet das Zugeständnis, dass es eben nicht immer, sondern nur normalerweise ein Fehler ist, von deskriptiven Prämissen auf ein Sollen zu schließen, dass es sich bei dem naturalistischen Fehlschluss eigentlich nicht um einen formalen logischen Fehler handeln kann, sondern allenfalls um eine informal fallacy. Nelson führt gegen die Lehre vom naturalistischen Fehlschluss folgendes Gegenbeispiel an: (1) ‘Bertie (morally) ought to marry Madeline’ is one of Aunt Dahlia’s beliefs. (2) All of Aunt Dahlia’s beliefs are true.

4 Ein typisches Lehrbuchbeispiel für ein logisch gültiges Schlussschema ist: Alle A sind B, x ist A, also: x ist B. Ein typisches Beispiel für ein logisch ungültiges Schlussschema ist dagegen: Alle A sind B, x ist B, also: x ist A. Eine Argumentation, die dieses Schlussschema aktualisiert, ist eine formal fallacy: affirming the consequent.

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(3) Therefore, Bertie (morally) ought to marry Madeline. (Nelson 1995, S. 555)

Das Beispiel weist ein bestimmtes Muster auf, das ich als ‚Autoritätsargument mit Zitattilgung‘ bezeichnen würde. Es enthält eine ‚zitierende Prämisse‘ (1) und eine ‚autoritäre Prämisse‘ (2) und kommt dann durch Zitattilgung zur normativen Konklusion (3). Nach diesem Muster lassen sich unzählige Beispiele generieren, etwa: (1) Der Papst sagt: „Die Verwendung von Kondomen ist (moralisch) verboten“. (2) Alles, was der Papst sagt, ist wahr. (3) Deshalb: Die Verwendung von Kondomen ist (moralisch) verboten.

Formal ist an Argumenten dieses Musters nichts auszusetzen. Die Konklusion kann nicht falsch sein, wenn die Prämissen wahr sind. Es liegt ein logisch gültiger Schluss vor. Aber zeigen diese Beispiele, wie Nelson meint, dass es keine logische Kluft zwischen Sein und Sollen gibt? Exemplifiziert dieses Muster tatsächlich zugleich das Muster eines naturalistischen Fehlschlusses? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein. Die Prämissen (1) und (2) sind deskriptive Urteile, und die Konklusion (3) ist ein normatives Urteil. Nelson merkt jedoch redlicherweise an, dass dieses Muster zwar Argumente produziert, die valid, also formal schlüssig sind, es sei damit jedoch noch nicht gezeigt, dass es Argumente nach diesem Muster gibt, die auch sound sind, bei denen also die Prämissen auch wahr sind. Ein Problem mit Gegenbeispielen nach diesem Muster liegt in der Beurteilung von Urteilen des Typs, wie sie hier als Prämisse (2) vorkommen. Die Vertreter der Doktrin vom naturalistischen Fehlschluss könnten sagen, dass solche Prämissen eigentlich gar keine Tatsachenurteile darstellen, sondern Werturteile über die Überzeugungen der Tante oder die Worte des Papstes. Und damit hätten wir hier keine Gegenbeispiele mehr. Die Debatte verschiebt sich auf die Frage, ob Urteile der Art „Tante Ernas Überzeugungen sind immer richtig“ oder „Alles, was der Papst sagt, ist wahr“ als Feststellungen oder Wertungen zu verstehen sind. Ich denke, beide Lesarten sind möglich. In der einen liegt ein Gegenbeispiel gegen die Lehre vom naturalistischen Fehlschluss vor, in der andern nicht. Aber diese Debatte lenkt nur davon ab, was hier eigentlich verkehrt ist. In jedem Fall liegt ein Autoritätsargument vor, die Berufung auf eine Autorität in Sachen Moral und Geltung. Formal gültig oder nicht, das Argumentationsmuster exemplifiziert in jedem Fall eine informal fallacy. Ich will damit nicht sagen, jedes Autoritätsargument sei eine informal fallacy. Ein Autoritätsargument des von Nelson angeführten Typs krankt allerdings daran, dass die ‚autoritäre Prämisse‘ (wegen der All-Quantifizierung) zu stark ist und immer einen Standardeinwand zulässt. Das

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Problem bei Autoritätsargumenten liegt in der Frage, ob und inwiefern ein Urteil dadurch gestützt werden kann, dass man sich darauf beruft, dass dieses Urteil von einer anerkannten Autorität gefällt wird. Manchmal können wir vielleicht vernünftigerweise nichts anderes tun, als uns auf das Urteil von Experten zu verlassen und unsere Entscheidung darauf zu stützen. Aber das kann auch ein Fehler sein. Selbst Autoritäten und Experten können sich irren. Oft ist es ratsam, eine zweite oder dritte Expertenmeinung einzuholen. Diese Erwägungen haben mit der Frage der logischen Schlüssigkeit nichts zu tun. Vielmehr geht es hier um inhaltliche und ‚topische‘ Überlegungen zur Frage, wie stark und auf welche Weise die Gründe die Entscheidung stützen können. Das wohl bekannteste Gegenbeispiel zur Lehre vom naturalistischen Fehlschluss ist die „Ableitung des Sollens aus dem Sein“, die John Searle im Anwendungsteil seines Buchs „Sprechakte“ geliefert hat. Die Ableitung will ich hier nur grob wieder geben. Sie beginnt mit der Feststellung, dass ein Sprecher namens Jones geäußert hat »Ich verspreche, x zu tun« und führt über einige Schritte zu dem Urteil, dass Jones das Versprochene tun sollte: 1. 2. 3. 4. 5.

Jones hat geäußert, »Hiermit verspreche ich, dir, Smith, fünf Dollar zu zahlen«. Jones hat versprochen, Smith fünf Dollar zu zahlen. Jones hat sich der Verpflichtung unterworfen (sie übernommen), Smith fünf Dollar zu zahlen. Jones ist verpflichtet, Smith fünf Dollar zu zahlen. Jones muss Smith fünf Dollar zahlen.

Searle bemüht sich zu zeigen, dass bei den einzelnen Begründungsschritten keinerlei Wertaussagen, moralische Prinzipien oder irgendetwas dergleichen in Anspruch genommen werden, sondern lediglich die grammatischen und institutionellen Regeln, die für den Gebrauch des Ausdrucks „Versprechen“ und für den Vollzug eines Sprechakts des Versprechens konstitutiv sind. Er spricht in diesem Zusammenhang von „institutionellen Tatsachen“. Auch an Searles Argument ist nach meinem Verständnis weniger interessant, ob es ihm mit Mitteln seiner Sprechakttheorie gelungen ist, eine formallogisch gültige Ableitung zu liefern. Bemerkenswert ist eher, dass Searle Regeln wie „Eine Äußerung der Worte … gilt unter normalen Umständen als Geben eines Versprechens“ oder „Mit dem Geben eines Versprechens geht man eine Verpflichtung ein, es auch zu halten“ oder kurz „Versprechen soll man halten“ als Beschreibung von „institutionellen Tatsachen“ darstellt. Searle scheint „Versprechen soll man halten“ nicht als ein normatives Urteil zu verstehen, sondern als eine Feststellung wie „In England fährt man links“. Wer das nicht anerkennt, versteht entweder nicht, was es heißt,

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ein Versprechen zu geben, oder er möchte die Institution oder Praxis des Gebens von Versprechen in Frage stellen oder aus ihr aussteigen. Aber auch hier könnten die Anhänger der Lehre vom naturalistischen Fehlschluss erwidern: Wenn „Versprechen soll man halten“ als Feststellung zu verstehen ist, dann kann auch „Jones muss Smith fünf Dollar zahlen“ nur eine Feststellung, aber keine normative Sollensaussage sein. Liest man dagegen „Versprechen soll man halten“ und „Jones muss Smith fünf Dollar zahlen“, was näher liegt, als normative Aussagen, liegt wieder kein Gegenbeispiel zur Lehre vom naturalistischen Fehlschluss vor. Anders als Nelson und Searle hat William Frankena kein Gegenbeispiel zur Lehre vom naturalistischen Fehlschluss zu liefern versucht, sondern eines von Moores Standardbeispielen für eine naturalistic fallacy genauer unter die Lupe genommen, nämlich das Beispiel des Epikureischen Arguments für den Hedonismus. Frankena dazu: Lust ist gut, da alle Menschen danach trachten. Hier wird eine ethische Konklusion aus einer nicht-ethischen Prämisse abgeleitet. Und streng wörtlich genommen ist das Argument tatsächlich ein Fehlschluss. Doch es ist nicht deshalb ein Fehlschluss,weil in der Konklusion ein ethischer Ausdruck vorkommt, der in der Prämisse nicht vorkommt. Es ist ein Fehlschluss, weil jedes Argument der Form »A ist B, folglich ist A C«, wenn es streng wörtlich genommen wird, nicht schlüssig ist. Beispielsweise ist das Argument nicht schlüssig, wonach Krösus reich ist, weil er ein großes Vermögen besitzt. Solche Argumente wollen jedoch nicht streng wörtlich genommen werden. Es sind Enthymeme, die eine unterschlagene Prämisse enthalten. Und wenn diese unterschlagene Prämisse explizit gemacht wird, sind sie gültig und involvieren keinen logischen Fehlschluss. Der epikureische Schluss von einem psychologischen auf einen ethischen Hedonismus ist somit gültig, wenn die unterschlagene Prämisse, nach der das gut ist, wonach alle Menschen trachten, hinzugefügt wird. (Frankena 1974, S. 87 f)

Frankena kommt also zu dem Ergebnis, dass bei Moores Standardbeispiel eines naturalistischen Fehlschlusses gar kein Fehlschluss vorliegt. Bei einer nachsichtigen Rekonstruktion wäre die fehlende Prämisse zu ergänzen und dann sieht das Argument so aus: (a) (b) (c)

Alle Menschen trachten nach Lust. Das, wonach alle Menschen trachten, ist gut (Definition). Folglich ist Lust gut. (Frankena 1974, S. 88)

Frankena führt uns hier vor, wie man durch eine nachsichtige Rekonstruktion, die die Möglichkeit unausgesprochener Prämissen und das Verfahren der Prämissenergänzung einbezieht, eine Argumentation, die „streng wörtlich genommen“ eine formal fallacy darstellt, als eine logisch gültige Argumentation darstellen

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kann. In der Tat werden Argumentationen ja meistens in enthymematisch verdichteter Form und nicht als voll ausbuchstabierter Syllogismus vorgebracht. Und bei ihrer Rekonstruktion und Beurteilung tun wir gut daran, implizite oder unausgesprochene Teile mitzudenken, zu erfragen oder nachsichtig zu ergänzen. Bei Prämissenergänzungen stellt sich allerdings immer auch die Frage, welche Prämissen wir zu Recht ergänzen können und dürfen. Ob und unter welchen Bedingungen ist es sinnvoll und angemessen, bei einer gegebenen Argumentation Prämissen zu ergänzen und zu unterstellen, dass diese sozusagen ‚auf das Konto‘ des Proponenten der Argumentation gehen? Das ist aber ein ganz anderes Problem als die Diagnose einer logisch fehlerhaften Schlusses. (Vgl. Lueken 1999.) Im Standardbeispiel von Moore bzw. Frankena scheint die Hinzufügung der Prämisse »Das,wonach alle Menschen trachten, ist gut« allerdings durchaus angemessen zu sein. Frankena legt nahe, dass es sich bei der ergänzten Prämisse (b) um eine Definition handele und dass das, was Moore am Epikureischen Argument auszusetzen habe, eben eigentlich diese Definition sei. Und diese Definition mag ja auch fehlerhaft sein. Es ist aber etwas anderes, jemandem einen Definitionsfehler vorzuhalten, als ihm vorzuwerfen, er schließe fehlerhaft. Und damit wäre ein Standardbeispiel der Lehre vom naturalistischen Fehlschluss zu einem Gegenbeispiel geworden. Es wäre ein Beispiel dafür, dass sich, um Frankenas Ausdrücke zu gebrauchen, „ethische Sätze“ eben doch allein durch „nicht-ethische Sätze“ logisch schlüssig begründen lassen – jedenfalls wenn man akzeptiert, dass die hinzugefügte Prämisse ein nicht-ethischer Satz ist. Eben das aber würden Anhänger der herrschenden Lehre vom naturalistischen Fehlschluss bestreiten und folgendermaßen argumentieren: Wenn das Epikureische Argument durch Prämissenergänzung zu einem gültigen Argument werden soll, so kann das nur durch Hinzufügen einer normativen Prämisse, eines Werturteils gelingen. Nach herrschender Lehre nützt es nämlich rein gar nichts, weitere Tatsachenbehauptungen hinzuzufügen; die implizite Prämisse muss vielmehr selber normativ oder ethisch sein, wenn ihre Hinzufügung das Enthymem zu einem gültigen Argument machen soll. Und so ist es ja auch in unserem Beispiel. Die von Frankena hinzugefügte Prämisse ist eben ein ethischer und kein nicht-ethischer Satz. Er enthält schließlich genau den fraglichen „ethischen“ Ausdruck »gut«, der auch in der zu begründenden These »Lust ist gut« vorkommt. Und damit handelt es sich um ein Werturteil und die herrschende Lehre bliebe bestehen. In der enthymematischen Form, in der das Argument dem Muster eines naturalistischen Fehlschlusses entspricht, ist es ungültig und in der vervollständigten Form entspricht das Argument gar nicht mehr dem Muster, denn es wurde ja eine wertende Prämisse hinzugefügt.

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Es geht damit also um den Status des hier hinzugefügten Satzes »Das, wonach alle Menschen trachten, ist gut«. Und in der Tat lässt sich der Satz auf verschiedene Weise verstehen. In einer Lesart drückt der Satz ein Werturteil über die Ziele des menschlichen Strebens aus. Das,wonach alle Menschen streben, lässt sich wohl in Tatsachenurteilen feststellen. Aber ob das auch gut so ist, ist immer noch eine offene Frage. Und zu sagen, es sei gut, ist ein Werturteil. In der andern Lesart, die Frankena vertritt, drückt der Satz allerdings weder ein Tatsachenurteil noch ein Werturteil aus. Der Satz macht vielmehr explizit, was das Wort »gut« im Kontext dieser Argumentation bedeuten soll. Er bringt eine begriffliche Bestimmung, Regel oder Definition von »gut« zum Ausdruck. Und wenn »gut« soviel bedeutet wie »Das, wonach alle Menschen streben«, dann ist da keine offene Frage: Ist es auch wirklich gut? Dann stellt sich allenfalls die Frage, ob diese begriffliche Bestimmung, Regel oder Definition angemessen ist.Wenn man allerdings wie Moore meint, „gut“ sei eine einfache und daher undefinierbare Eigenschaft, dann stellt sich bei jeder vorgeschlagenen Definition eben diese offene Frage. Frankena zeigt dann sehr schön auf, dass Moore, wenn er den „Definisten“, die „gut“ für definierbar halten, vorhält, sie begingen eine naturalistic fallacy, seinerseits eine petitio principii begeht, indem er voraussetzt, was gerade strittig ist: dass nämlich „gut“ undefinierbar ist. Die Diskussion der von Nelson, Searle und Frankena behandelten Beispiele zeigt, dass das eigentliche Problem des naturalistischen Fehlschlusses jedenfalls nicht in erster Linie darin besteht, ob Werturteile oder Sollenssätze aus Tatsachenurteilen logisch folgen können oder nicht. Vielmehr führt die Diskussion immer wieder zu der Frage nach dem Status gewisser Sätze, die in den Beispielen als Prämisse fungieren. Ist „Alles, was der Papst sagt, ist wahr“ ein (möglicherweise falsches) Tatsachenurteil? Welchen Status haben Sätze wie „Äußerungen der Art x gelten als Versprechen“ oder „Das Geben eines Versprechens schließt das Übernehmen einer Verpflichtung ein“? Soll man sagen, solche Sätze drücken eine besondere Art von Tatsachen aus: institutionelle Tatsachen? Und ist „Gut ist, wonach alle streben“ eine (möglicherweise fehlerhafte) Definition von „gut“ oder eine normative oder deskriptive Beurteilung dessen, wonach alle streben? Die herrschende Lehre vom naturalistischen Fehlschluss scheint uns in jedem Fall eine Entscheidung abzunötigen, ob es sich um ein Tatsachenurteil handelt oder um ein Werturteil. Ein „sowohl, als auch“ wird aufgrund der unterstellten Dichotomien von Wert und Tatsache bzw. von Sein und Sollen ebenso ausgeschlossen wie ein „weder, noch“: tertium non datur.Wenn man so will, wird hier die Große Trennlinie zwischen Wert und Welt zwar nicht, wie beim frühen Wittgenstein, mit der Grenze der Sprache, des sinnvoll Sagbaren identifiziert, aber sie wird sozusagen in der Sprache als eine dichotome Unterscheidung zwischen zwei Arten von Bedeutungen oder Urteilen reproduziert. Aber das führt nicht weiter. Ver-

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nünftiger scheint es zu sein, mindestens begriffliche oder praktische Regeln als ein tertium anzuerkennen. Ob ihre explizite Formulierung dann die Funktion hat, zur Befolgung der Regel aufzufordern oder an das Bestehen der Regel zu erinnern – oder auch beides, das mag sich im jeweiligen Kontext der Argumentation zeigen.

3 Übergänge von Tatsachen zu Entscheidungen Ob die Idee eines logisch gültigen Schlusses, der den Übergang von Prämissen zur Konklusion unabhängig vom Inhalt, sondern allein wegen der Form der beteiligten Urteile quasi erzwingt, in der Praxis vernünftiger Argumentation überhaupt eine nennenswerte Rolle spielt, darf bezweifelt werden. Die interessantere Frage ist, welche Rolle welche Arten von Regeln in der Argumentation spielen. In der Argumentationspraxis finden wir jedenfalls eine Vielzahl von Regeln und Argumentationsmustern, die einen Übergang von Gründen zu Thesen ermöglichen, aber keineswegs erzwingen. Vom rein logischen Standpunkt aus sind das alles fallacies. Sie lassen sich allerdings immer auch durch Prämissenergänzung in formal gültige Schlüsse transformieren. Vom Standpunkt einer Informal Logic dagegen kann eine Argumentation eine informal fallacy sein, obwohl (oder sogar weil) sie ein logisch gültiges Schlussschema aktualisiert. Die petitio principii, wie Frankena sie Moore und den Intuitionisten vorwirft, ist ein solcher Fall. Vorauszusetzen, was gezeigt werden soll, ist kein logischer Fehler. Wenn es eine fallacy ist, dann eine informal fallacy. Umgekehrt muss eine Argumentation, die das Muster einer formal fallacy zeigt – man denke etwa an affirming the consequent – keine fehlerhafte Argumentation sein. Ein „Schluss auf die beste Erklärung“ kann eine durchaus fehlerfreie Argumentation sein, entspricht aber, formal betrachtet, genau dem Muster von affirming the consequent. Unter welchen Bedingungen ein Argumentationsmuster eine informal fallacy darstellt, und das heißt, einem typischen Einwand ausgesetzt ist, ist zu einem Thema der Informal Logic avanciert, das man inzwischen als ein zentrales Forschungsgebiet der Argumentationstheorie bezeichnen kann. Mit seinem Buch über „The Uses of Argument“ (1958) ist Stephen E. Toulmin zum Vorreiter einer Informal Logic geworden. Im Anschluss an den späteren Wittgenstein versucht er darin, sozusagen die ‚logische Brille‘ bei der Analyse und Beurteilung von Argumenten abzunehmen. Dabei knüpft er an seine frühere Untersuchung über „The Place of Reason in Ethics“ (1950) an. In dieser metaethischen Untersuchung geht Toulmin nicht primär der Frage nach der Bedeutung von Wörtern wie „gut“, „richtig“ oder „sollen“ nach, sondern fragt zunächst, was wir denn bei moralischen Urteilen oder Entscheidungen unter „guten Gründen“ verstehen. Damit steht Toulmin, zusammen mit Kurt Baier, für einen good-reasons-

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approach in der metaethischen Diskussion.⁵ Toulmin stellt gleich zu Beginn fest, dass sich in der Praxis des ethischen Argumentierens die guten Gründe aus der Erwägung relevanter Tatsachen ergeben: Whenever we come to a moral decision, we weigh the considerations involved – the relevant facts, that is, so far as we are acquainted with them – and then we have to make up our minds. In doing so, we pass from the factual reasons (R) to an ethical conclusion (E). At this moment, we can always ask ourselves, ‘Now, is this the right decision? In view of what I know (R), ought I to choose in this way (E)? Is R a good reason for E?’ When considering ethics in general, therefore, we shall naturally be interested in the question, ‘What is it that makes a particular set of facts, R, a good reason for a particular ethical conclusion, E? What is “a good reason” in ethics?’ (Toulmin 1950, S. 4)

Wenn dieses Bild vom ethisch-praktischen Argumentieren stimmt, dann tun wir im Normalfall gerade das, was die Lehre vom naturalistischen Fehlschluss verbietet: Wir gehen von einer Reihe von Tatsachenurteilen zu einem Werturteil über. Ob das ein logischer Fehler ist, ist für Toulmin offenbar gar nicht die Frage. Vielmehr ist die Frage, welche Tatsachen relevant oder irrelevant sind und wodurch eine Reihe von Tatsachenurteilen zu guten Gründen für eine praktische Entscheidung oder ein Werturteil werden können. Wenn sich ein Muster auszeichnen ließe, welche Arten von Tatsachenurteilen für welche Arten von praktischen Urteilen irrelevant sind, dann wäre das eine informelle Charakterisierung einer naturalistic fallacy. In „The Uses of Argument“ verallgemeinert Toulmin den good-reasons-approach über die Ethik hinaus auf weitere Felder unserer Argumentationspraxis, auf Felder wie Recht, Politik, Wissenschaft, Literaturkritik etc. Dabei macht er deutlich, dass bei „substanziellen Argumenten“ der inferenzielle Schritt immer auch ein Stück weit „kreativ“ – wir können auch sagen: ‚materialbegrifflich‘ oder ‚synthetisch‘ – ist , also über die als Gründe angeführten Tatsachenurteile hinaus geht. Das, was uns berechtigt, diesen Schritt zu tun, bezeichnet Toulmin jetzt als

5 Dieser good-reasons-approach in der Theorie der praktischen Argumentation kann als ein Vorläufer der Inferenzialistischen Semantik und Normativen Pragmatik eines Robert Brandom verstanden werden, sofern dabei die Bestimmung der Bedeutung von Begriffen und Urteilen über ihre Rolle im Sprachspiel des giving and asking for reasons erfolgt. Für Brandom scheint dieses Sprachspiel allerdings primär ein Diskurs über assertions im Sinne theoretischer Urteile (etwa observation reports und damit verbundener Berechtigungen und Verpflichtungen) zu sein, während Toulmin unter assertions alle möglichen, durchaus verschiedenen ‚Behauptungen‘ versteht, die mit einem Anspruch (claim) verbunden sind, der durch gute Gründe eingelöst werden kann. Dazu zählen dann natürlich auch ‚ethische Behauptungen‘.

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„warrants“.⁶ Warrants sind so etwas wie Erlaubnisse oder Berechtigungen für den Übergang von den Gründen zur Konklusion oder These. Explizit gemacht erscheinen sie als Regeln, die in einem bestimmten Bereich oder Feld prima facie in Kraft sind, unter bestimmten Bedingungen aber auch Ausnahmen zulassen. Zwischen warrants und Gründen besteht so etwas wie eine wechselseitige Abhängigkeit. Welche Tatsachen in einer fraglichen Angelegenheit relevante Gründe abgeben, hängt ebenso von der Regel ab, die in Anspruch genommen wird, wie es von den in der Argumentation angeführten Tatsachen abhängt, ob und welche Regel in Anspruch genommen werden kann. Welche Regeln vernünftigerweise überhaupt in Anspruch genommen werden können, hängt weiterhin vom field oder Bereich ab, zu dem die fragliche Angelegenheit gehört. Dieser stellt den Hintergrund oder Rahmen dar, in dem die Regeln ihren Sitz haben. Toulmin spricht hier vom ‚backing‘, das die warrants stützt. Der Hintergrund oder Rahmen ist, wenn ich Toulmin richtig verstehe, ein mehr oder weniger abgegrenztes Wissensgebiet oder eine mehr oder weniger institutionalisierte Praxis mit mehr oder weniger stabilen Strukturen. Toulmins Unterscheidungen und seine Darstellung des Gebrauchs von Argumenten lassen sich recht gut am Paradigma juristischer Argumentation nachvollziehen, das er selbst auch immer wieder heranzieht. Im Bereich des Rechts haben wir als Hintergrund einen Korpus von Gesetzen und eine institutionalisierte Praxis der Gesetzgebung und Rechtsprechung nach Verfahrensregeln. In einem konkreten Fall geht es dann in den Plädoyers oder bei der Urteilsbegründung darum, die in der Beweisaufnahme vorgelegten Fakten hinsichtlich ihrer Relevanz für oder gegen das geforderte Strafmaß zu beurteilen. Als warrants werden dabei begriffliche Regeln, wie etwa die zur Unterscheidung von Mord und fahrlässiger Tötung, und praktische Regeln, die etwa für Mord ein gewisses Strafmaß verlangen, in Anspruch genommen. Ein Urteil kann schließlich auch zurückgewiesen werden, wenn Verfahrensfehler bei seinem Zustandekommen nachgewiesen werden. Die ethische Argumentation weist gegenüber dem „juristischen Modell“ Besonderheiten auf, die sie von andern Arten der praktischen Argumentation un-

6 Für die deutsche Fassung des Buches ist „warrant“ nicht ganz glücklich mit „Schlussregel“ übersetzt worden, was den Eindruck erwecken mag, wir hätten es in den verschiedenen Gebieten mit einem Satz feststehender expliziter Argumentationsregeln zu tun, die wie logische Schlussschemata funktionieren. Meines Erachtens trifft es die Sache besser, wenn man hier von „Übergangsmöglichkeiten“ oder „inferenziellen Berechtigungen“ sprechen würde, die auf dem Hintergrund eines institutionellen Rahmens oftmals auch nur implizit gegeben sind und gegebenenfalls aufgrund von Einwänden mehr oder weniger explizit gemacht werden können.

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terscheidet. Ethische oder moralische Fragen treten nicht nur in einem bestimmten Wissensgebiet oder einer bestimmten institutionalisierten Praxis wie Politik, Sport, Ökonomie oder Recht auf. Die Ethik ist kein Gebiet neben anderen Gebieten praktischer Argumentation. Ethische Fragen können vielmehr in jedem Gebiet auftreten und dann auch, wenn sich in einer fraglichen Angelegenheit aus der Perspektive verschiedener Gebiete unterschiedliche Antworten ergeben, wenn also etwa in einem Fall aus medizinischer Perspektive etwas geboten ist, was aus rechtlicher Perspektive verboten ist. Und moralische Fragen können sich natürlich in unserer persönlichen und gemeinschaftlichen Lebenspraxis stellen. Als warrants fungieren in der ethischen Argumentation die Regeln, die wir in der Moralphilosophie gewöhnlich Handlungsmaximen und Moralprinzipien nennen, aber auch die Empfehlungen, die sich aus einer Orientierung an einem Konzept des ‚guten‘, gelingenden Lebens ergeben. Im Unterschied zu anderen Arten praktischer Argumentation können sich die warrants in der ethischen Argumentation nicht auf einen institutionalisierten Rahmen stützen. Wird eine als warrant in Anspruch genommene Regel oder Empfehlung grundsätzlich in Frage gestellt, also nicht bloß hinsichtlich ihrer Angemessenheit im fraglichen Fall oder ihres relativen Gewichts gegenüber anderen warrants, die hier eine Rolle spielen mögen, dann ändert sich das Thema der Argumentation. Die ethische Argumentation geht sozusagen in den philosophischen Diskurs der Moralbegründung über. Als backing, also als einigermaßen solide Basis zur Rechtfertigung einer moralischen Regel wird dabei wohl die allgemeine, öffentliche Anerkennung dieser Regel, der Nachweis ihrer Nützlichkeit für die menschliche Kooperation oder ihrer Rolle in einer Konzeption des gelingenden Lebens dienen können. Das backing der moralischen warrants wäre also letztlich die gelebte moralische Praxis.⁷ Wie immer auch die warrants gestützt sein mögen, im praktischen Argumentieren ermöglichen und berechtigen sie den Übergang von den als grounds vorgebrachten Tatsachen zu einem praktischen Urteil oder einer Handlung. Praktische Argumentation und insbesondere ethische Argumentation zielt auf

7 Viele Moralphilosophen, die sich um die Moralbegründung sorgen, dürfte der Rekurs auf die gelebte moralische Praxis einer Gemeinschaft wohl nicht beruhigen. Im Gegenteil, sie würden darin eine Reduktion von Moral auf bloße Konvention und die Gefahr eines Relativismus sehen. Toulmin sieht das gelassener. Er meint: „The differences that exist between the ethical considerations carrying weight in different countries and communities are often exaggerated. In actual practice, a certain central body of ethical ideas, both about right and wrong and about good and bad, are recognized in just about all societies and communities.” (Toulmin et al. 1984, S. 397) Ich würde dem zustimmen, aber nicht bei dieser sozialanthropologischen Auskunft stehen bleiben, sondern fragen, welche ethical ideas diesen Kernbestand ausmachen und welchen Grund das in der menschlichen Lebensform und den facts of life hat.

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eine Entscheidung oder ein Urteil angesichts von Handlungsalternativen, Einwänden oder Meinungsverschiedenheiten ab. Wenn die Umstände klar sind und die Fakten ‚für sich selbst sprechen‘, bedarf es kaum einer Argumentation, um unmittelbar zum Handeln überzugehen. Ein gern bemühtes Beispiel wäre das ins Wasser gefallene Baby, das zu retten prima facie geboten ist. Argumentation kommt erst ins Spiel, wenn etwa die Umstände unklar sind, wenn die Umstände derart sind, dass ein warrant verschiedene Entscheidungen ermöglicht, oder wenn angesichts gegebener Umstände verschiedene warrants in verschiedene Richtungen weisen oder unterschiedliche Entscheidungen gebieten. In ethisch-praktischen Argumentationen wird es also darum gehen, von prima facie-Urteilen zu einer Entscheidung zu gelangen, die möglichst alle relevanten Umstände im Lichte der einschlägigen Regeln berücksichtigt. Dabei sind die Fragen, welche Regeln angesichts der Umstände einschlägig sind und welche Tatsachen oder Umstände relevant sind, gar nicht unabhängig voneinander. Deshalb spricht Toulmin von einer wechselseitigen Abhängigkeit von grounds and warrants. Im Lichte der warrants erscheinen Tatsachen als relevant oder irrelevant und im Lichte der Tatsachen werden warrants einschlägig oder nicht. Gehen wir von diesem, hier in Anlehnung an Toulmin skizzierten Bild ethischpraktischer Argumentation aus, stellt sich die Frage: Lässt sich überhaupt etwas Allgemeines dazu sagen, welche Arten von Tatsachen für die Begründung ethischer Urteile und Entscheidungen relevant sind? Die Frage wird nicht leichter, wenn wir nicht mehr von der Unterstellung einer Dichotomie von zwei Klassen von Urteilen ausgehen, sondern der tatsächlichen Vielfalt der Gebrauchsweisen von Ausdrücken wie „Tatsache“, „beschreiben“ und „gut“ Rechnung tragen wollen. Um hier weiter zu kommen, schlage ich vor, die Unterscheidung von „dichten“ und „dünnen“ Begriffen und Beschreibungen aufzugreifen. Ein Musterbeispiel für einen dünnen Begriff ist der Begriff des Gutseins, den Moore und der frühere Wittgenstein als zentral für die Ethik ansehen. Es geht um das „gut“, wie es in Urteilen verwendet wird, die Wittgenstein „absolute Werturteile“ nennt. Das sind Urteile, die, wenn sie gelten, „unbedingt“ gelten. Ihre Geltung hängt von keiner Bedingung ab. Ist der Begriff des Gutseins dünn, so stellt sich bei dem Urteil „Dies ist gut“ nicht die Frage: „gut wofür, für wen oder was, für welchen Zweck oder unter welcher Bedingung?“. Ja, für ein solches Urteil lassen sich überhaupt keine Gründe denken, die hinreichend wären. Was auch immer man zur Begründung eines solchen absoluten Werturteils anführen wollte, es ließe sich immer der Standardeinwand der „offenen Frage“ vorbringen: Alles, was du zur Begründung von „x ist gut“ über x sagst, mag stimmen, aber ist x wirklich gut (im absoluten, dünnen Sinne von „gut“)? Man sieht hier, dass die Idee absoluter Werturteile von vornherein so angelegt ist, dass solche Urteile nicht argumentationszugänglich sind. So überrascht es auch nicht, dass solche „Urteile“ in unseren tatsächlichen

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ethisch-praktischen Argumentationen so gut wie keine Rolle spielen. Auch der Begriff des moralischen Sollens im Sinne eines absoluten, unbedingten Sollens ist ein dünner Begriff. Es gibt für ihn keine Anwendungsbedingungen, weil das absolut Gesollte eben unter allen Bedingungen gesollt ist. In der ethischen Argumentation werden Sätze, die ein unbedingtes Gebot oder Verbot ausdrücken, etwa „Du sollst nicht lügen – niemals, unter keinen Umständen“, vielleicht manchmal als Regel oder warrant verwendet, dann allerdings eher, um jede Diskussion über möglicherweise relevante Tatsachen auszuschließen. Wird dagegen das Lügenverbot als die Regel verstanden „Du sollst nicht lügen, es sei denn, es gibt gute Gründe, dass Du es in diesem Fall vielleicht doch tun solltest“, dann ist dieses Sollen eben nicht mehr absolut, sondern konditional – der Begriff des Sollens wird nicht mehr dünn verwendet. In der Praxis ethischen Argumentierens spielen dünne Begriffe des Gutseins und des Sollens also aus guten Gründen keine Rolle. Den Ausdruck „gut“ verwenden wir zumeist eher attributiv als prädikativ – und damit in einem relativen Sinne. Wir beurteilen jemanden beispielsweise als einen „guten Vater“, einen „guten Lehrer“, einen „schlechten Liebhaber“ oder „Autofahrer“, und begründen dies nach den Standards oder Normen, die in unserer Lebensform für die Rolle des Vaters, Lehrers, Autofahrers oder Liebhabers gelten. Und auch den Ausdruck „sollen“ verwenden wir kaum in einem dünnen, absoluten Sinn. Wir sagen etwa „Wenn Du ein guter Vater sein willst, solltest du dein Kind zur Einschulung begleiten“. Sicher, wir sagen auch: „Ein Vater sollte ein guter Vater sein wollen.“ Aber das muss nicht heißen, dass wir damit, wie Wittgenstein in seinem „Vortrag über Ethik“ nahelegt, ein absolutes Werturteil fällen. Vielmehr weisen wir damit die Antwort zurück „Ich will aber kein guter Vater sein“ und verlangen eine bessere Begründung, warum er seiner Vaterpflicht, etwa sein Kind zur Einschulung zu begleiten, nicht nachkommen kann oder will. Es gehört zu den Regeln praktischen Argumentierens, dass man einem prima facie begründeten Sollen nicht durch ein trotziges „Ich will aber nicht“ entgehen kann. Man wird schon Gründe anführen müssen, warum unter den gegebenen Umständen beispielsweise die berufliche Pflicht oder der gesundheitliche Zustand einer Erfüllung der Vaterpflicht im Wege steht, und warum diese Gründe schwerer wiegen. In der moralischen Praxis des Bewertens, Begründens und Kritisierens von Personen und Handlungen können Ausdrücke wie „gut“, „richtig“ oder „sollte“ nur dann eine Rolle spielen, wenn sie nicht dünn verwendet werden, sondern in Verbindung mit Anwendungs- und Ausnahmebedingungen, wodurch ihre Verwendung dann relativ und sozusagen „dichter“ wird. Als im engeren Sinne „dichte Begriffe“ werden gemeinhin solche Begriffe bezeichnet, die für Tugenden oder gute Weisen des Vollzugs von Handlungen stehen. Wir beurteilen Handlungen als mutig, feige, grausam, liebevoll, keusch, ehrenhaft, fair, besonnen, voreilig, (un‐)

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zuverlässig etc. Für die Anwendung »dichter« ethischer Begriffe gibt es nun sowohl paradigmatische Fälle als auch einigermaßen klare Anwendungsbedingungen. Die Anwendung dieser Begriffe ist „weltgeleitet und handlungsleitend zugleich“ (Williams 1999, S. 198). Wenn Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Anwendung „dichter“ Wertbegriffe auftreten, so mag das zum einen daran liegen, dass man sich über die Handlungsbeschreibung nicht einig ist. In der einen Beschreibung mag die Handlung die Bedingungen erfüllen, die eine Beurteilung als, sagen wir, „couragiert“ rechtfertigt. In der andern Beschreibung erfüllt sie eher die Bedingungen einer „unklugen“ oder „voreiligen“ Handlung. Meinungsverschiedenheiten mögen auch durch den Wandel unserer normativen Praxen auftreten. Manche Tugendbegriffe verlieren vielleicht an Bedeutung oder verändern ihren Stellenwert. Man denke etwa an den Begriff der »Keuschheit«. Beschreibungen von Tatsachen, Situationen, Erlebnissen, Personen oder Handlungen können in ethisch-praktische Argumentationen vor allem als Gründe eingehen. Autoren wie Toulmin und Baier oder Foot haben darauf aufmerksam gemacht, dass Wertprädikate wie „gut“ oder auch „mutig“ durchaus zu einer Beschreibung von Sachverhalten gehören können, wenn wir „Beschreibung“ und „Tatsache“ nicht schon von vornherein in einem speziellen Sinne definiert haben, der es ausschließt, dass die Beschreibung einer Tatsache wertende Ausdrücke enthalten kann. Die ‚wertfreie‘ Beschreibung einer ‚reinen‘, ‚blanken‘ oder ‚bloßen‘ Tatsache wäre, wenn es so etwas überhaupt gibt, die Benennung eines physischen oder psychischen Ereignisses zusammen mit der Angabe, wann und wo dieses stattgefunden hat, also eine Aussage über Faktisches im Sinne Wittgensteins. Wir können dies nun auch eine dünne Beschreibung nennen und fragen, ob und unter welchen Bedingungen eine solche dünne Beschreibung irgendwelche normativen oder evaluativen Konsequenzen nach sich ziehen kann. Nehmen wir die Beschreibung eines Sinneseindrucks: „Beschreibe einmal, was Du jetzt wahrnimmst.“ „Ich nehme hier und jetzt gelb wahr“. Oder nehmen wir die Beschreibung eines physischen Vorgangs: „Das Augenlid des Probanden bewegt sich rhythmisch auf und ab.“ Es liegt auf der Hand, dass aus solchen dünnen Beschreibungen kaum etwas folgen kann, was praktisch oder gar ethisch relevant wäre. Aus solchen dünnen Beschreibungen ‚reiner‘ Tatsachen allein würde noch nicht einmal etwas folgen, das ‚theoretisch‘ relevant wäre. Relevant werden solche Beschreibungen erst, wenn sie in einem Kontext gesehen werden, der sie ‚dichter‘ macht. Im Kontext einer neurophysiologischen Versuchsanordnung mit bildgebenden Verfahren mag „Hier, jetzt: gelb“ etwa bedeuten, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort eine bestimmte Aktivität in einem bestimmten Hirn einer bestimmten Person stattfindet. „Gelb“ wäre in diesem Zusammenhang nicht mehr bloß ein Wort für eine ‚primitive‘ Eigenschaft, sondern ein ‚theoriebeladener‘ Ausdruck. Ähnlich ist es bei der Beschreibung der Bewe-

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gung eines Augenlids. Ein Nervenarzt könnte möglicherweise ein Nervenleiden benennen, das in der zuckenden Bewegung typischerweise zum Ausdruck kommt, und er würde vielleicht sofort sehen, dass der Zuckende dieses Nervenleiden hat. Diese ‚theoriebeladene‘ Beobachtung mag für den Arzt sogar einen guten Grund abgeben, etwas Bestimmtes zu tun, das er unter solchen Umständen tun sollte, etwa ein Medikament zu verabreichen. Im Unterschied zu bloßen Beschreibungen von Bewegungen sind Handlungsbeschreibungen dichte Beschreibungen. Wenn wir etwa das Verabreichen des Medikaments durch den Arzt nicht bloß als einen physischen Vorgang, sondern als therapeutisches Handeln beschreiben, ist diese Beschreibung dicht. So auch, wenn wir das Zucken des Augenlids als Zuzwinkern beschreiben. Als Bewegungen mögen das Zucken des Nervenkranken und das Zwinkern ununterscheidbar sein. Es ist aber ein himmelweiter Unterschied, ob diese Bewegung als Handlung, also „dicht“, oder bloß „dünn“ als physischer Vorgang beschrieben wird. Der Unterschied ist nun nicht etwa so zu verstehen, dass der Zwinkerer zwei Dinge tut, nämlich sein Augenlid bewegt und ein Zeichen gibt, während der Zuckende nur eines tut, nämlich sein Augenlid bewegt. Der Zuckende tut nämlich eigentlich gar nichts. Das Zucken widerfährt ihm nur. Und der Zwinkerer vollzieht auch keine zwei Handlungen gleichzeitig. Er gibt durch absichtliches Bewegen des Augenlids etwas zu verstehen. Und das kann er nur, solange es einen öffentlichen Code gibt, in dem eben absichtliches Bewegen des Augenlids als Zwinkern gilt, so wie man nur ein Versprechen geben kann, wenn es einen öffentlichen Code gibt, in dem das Aussprechen gewisser Worte als das Geben eines Versprechens gilt. Eine andere dichte Beschreibung der Tatsachen haben wir, wenn wir sehen, dass jemand das Zucken oder Zwinkern eines andern parodiert, etwa um sich darüber lustig zu machen. Wieder mag dieselbe Augenbewegung vorliegen, doch diesmal beschreiben wir die Handlung des Parodierenden so: Er macht sich über das Augenzucken eines andern lustig, indem er es imitiert. (Vgl. Geertz 1987, S. 10 ff.) Dabei ist die dichte Beschreibung des Beobachteten die Beschreibung einer Tatsache, nicht die Interpretation einer Tatsache. Da gibt es nichts zu interpretieren: Die Kollegin hat dem Chef zugezwinkert oder der Freund hat sich über mich lustig gemacht – das sind im jeweiligen Kontext einfach Tatsachen, die in einer praktischen Argumentation relevant sein können. Durch die Beschreibung identifizieren wir Handlungen als Handlungen eines Typs oder einer Form und ordnen sie damit in einen praktischen Zusammenhang ein, der selber eine Form hat. In unseren Praxisformen, Institutionen, öffentlichen Codes haben wir es nun immer auch mit impliziten Regeln zu tun, die eine Beurteilung der Handlungen einschließen, nicht nur eine Beurteilung, um was für eine Handlung es sich handelt, sondern eine Beurteilung, welche Rechte und Verpflichtungen mit der Handlung verbunden sind. Unsere Praxisformen sind

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normativ verfasst. Und das schließt ein, dass Handlungsbeschreibungen eben zumeist mit Werturteilen inferenziell verbunden sind. Wer sich über einen Freund lustig gemacht hat, sollte sich entschuldigen, sonst ist er kein Freund mehr. Wer seine Versprechen nicht hält, gilt als unzuverlässig oder unaufrichtig. Wenn im Bereich menschlichen Handelns angemessene Beschreibungen unvermeidlich „dicht“ sind, so sind sie auch mit normativem, moralischem Vokabular verbunden. Sich Lächerlichmachen oder etwas Vortäuschen sind keine moralisch neutralen Handlungen. So wie Beobachtungen in der Naturwissenschaft „theoriegeladen“ sind, so sind Beobachtungen in der Handlungswelt von vornherein „praxisgeladen“ und d. h. normativ geladen. Handlungsbeobachtung und Handlungsbeschreibung ist nie völlig wertneutral. Wenn die Beschreibungen schon mehr oder weniger normativ geladen sind, und die wertenden Prädikate Anwendungskriterien haben, die sich mehr oder weniger ‚empirisch‘ kontrollieren lassen, dann ist auch nicht mehr ersichtlich, warum ein Übergang von Beschreibungen zu Bewertungen nicht möglich sein soll. Das ganze Problem eines naturalistischen Fehlschlusses scheint zu verschwinden. Was heißt das nun für die Frage nach dem Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Argumentation? Ich schlage vor, diesen Unterschied nicht weiter an der sprachlichen Form von zwei Arten von Urteilen festzumachen oder an formalen Bestimmungen, ob und wie Urteile der einen Art aus Urteilen der andern Art logisch schlüssig ableitbar sind, sondern daran, auf welche Frage eine Argumentation eine Antwort zu geben beanspruchen kann. Geht es um die Frage, was angesichts gegebener Umstände vernünftigerweise zu tun ist, oder ist bloß fraglich, welche Meinung wir vernünftigerweise für wahr halten sollen, ohne das diese Frage schon im Blick auf praktische Konsequenzen für das Handeln gestellt wird. Beide Fragen werden nicht ohne Bezug auf jeweils relevante Tatsachen beantwortet werden können, die dann als Gründe in die Argumentation eingehen. Die dünne Beschreibung physischer Bewegungen und psychischer Ereignisse, also des Faktischen im Sinne Wittgensteins mag in theoretischer Argumentation vielleicht eine Rolle spielen, in praktischer Argumentation, die eine Entscheidung oder Handlung begründen soll, sind diese Fakten in der Regel irrelevant. Und so wäre es auch ein Fehler, in einer praktischen Argumentation allein von dünnen Beschreibungen physischer und psychischer Vorgänge direkt zur (Empfehlung einer) Handlung oder Entscheidung überzugehen. Aber wer würde diesen Fehler schon machen? Und so scheint es mir fraglich, ob dieser Fehler es überhaupt verdient, eine (formal oder informal) fallacy genannt zu werden.

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Frank Kannetzky / Claudia Henning

Vernunft ohne „Gespenst in der Maschine“? Überlegungen zu und im Anschluss an Ryles Handlungslehre

1 Ryle ist vor allem für das Konzept des Kategorienfehlers und dessen Anwendung auf das Geist-Körper-Problem bekannt. Die traditionelle Lehre vom Geist als besondere, vom Körper unabhängige und getrennte Substanz, die das spezifisch menschliche Verhalten beschreiben und erklären soll, charakterisiert er als „paramechanischen Mythos“.¹ Sie schließt die das menschliche Verhalten betreffende Erklärungslücke im „mechanistischen“ Weltbild von Druck und Stoß durch eine besondere Art von Ursachen, nämlich geistige Vorgänge und Ereignisse. Wo sich keine körperliche Ursache findet, so scheint es, muss man eine nicht-körperliche, geistige annehmen.² Geistige Vorgänge sind nicht sichtbar, also müssen sie unsichtbar sein. Die „Paramechanik“ ist die Fortsetzung des mechanistisch-kausalistischen Erklärungsparadigmas im Gebiet menschlicher Lebensäußerungen. Nun wendet sich Ryle nicht nur gegen dualistische (paramechanische) Auffassungen des Geistes, sondern sehr deutlich auch gegen dessen identitätstheoretisch-materialistische Auffassung, gegen den „mechanistischen“ Versuch einer Reduktion des Geistigen auf physische Vorgänge. Cartesianismus und Hobbesianismus sind für Ryle nur zwei Seiten einer Medaille, wobei Ryle das Forschungsprogramm des Descartes hoch achtet, denn immerhin stellt es eine wichtige Frage, wo sonst gar keine Fragen gestellt werden könnten. Zu kritisieren ist daher nicht die Frage, sondern die falsche Art und Weise, sie zu stellen. Die Alternative zur Ablehnung einer immateriellen Substanz namens „Geist“ ist daher nicht die Leugnung der Besonderheit des Geistigen, wie dies der eliminative Materialismus vorschlägt, sondern der Aufweis der faktischen, lebenspraktisch

1 Ryle spricht auch vom „Zweiweltenmythos“ oder dem „Mythos vom Gespenst in der Maschine“. Im deutschen Sprachraum sind Erläuterungen zu Ryle recht dünn gesät. Hervorzuheben sind E. v. Savignys (1969) und A. Kemmerlings (1984) kurze Einführungen in Ryles Philosophie. 2 Vgl. dazu auch Wittgenstein, PU § 36: „Und wir tun hier, was wir in tausend ähnlichen Fällen tun: Weil wir nicht eine körperliche Handlung angeben können, die wir das Zeigen auf die Form (im Gegensatz z. B. zur Farbe) nennen, so sagen wir, es entspreche diesen Worten eine geistige Tätigkeit. Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten läßt, und kein Körper ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist.“

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nachvollziehbaren Unterscheidungen, welche die Begriffe des Geistigen und ihre Einordnung in die „logische Geographie“ der Begriffe bestimmen. Dabei folgt Ryle im Grunde der pragmatischen Maxime, Begriffe dann und so weit zuzulassen, wie sie eine Funktion im Leben erfüllen, d. h. wenn und soweit ihre Verwendung erfahrbare Konsequenzen, einen Sitz im Leben hat.³ Es geht Ryle also nicht darum, den Begriff des Geistes (oder der Seele, des Bewusstseins etc.) zu eliminieren, wie ihm das gelegentlich unterstellt wird, sondern darum, ihren vernünftigen Gebrauch von einem metaphysischen Gebrauch zu unterscheiden. Die Annahme der Existenz eines „immateriellen Geistes“ oder einer „geistigen Substanz“ hat nach Ryle keinen Sitz im Leben, sie ist überflüssig und kann nichts erklären oder uns sinnvoll orientieren, denn sie ist letztendlich nicht verständlich zu machen. Das bedeutet aber nicht, dass die Rede vom Geistigen leer oder unnütz ist – im Gegenteil, sie gehört zur elementaren begrifflichen Grundausstattung jeder Praxis, sofern es einen gravierenden Unterschied macht, ob eine Person intelligent oder automatisch, freiwillig oder unfreiwillig, vorsätzlich oder fahrlässig, aufmerksam oder zerstreut handelt. Ryle vertritt keine eliminative Theorie des Geistes, sondern er transformiert die Rede vom Geist in die Rede über eine Vielzahl von Typen erfahrbarer Tatsachen des menschlichen Tuns und Lassens. Dabei kann er sich auch auf Hume berufen, der den Nutzen eines ganzen Erklärungstypus, nämlich von Erklärungen der Phänomene mittels nichterscheinender, geheimnisvoller, verborgener und daher prinzipiell unerkennbarer Kräfte grundsätzlich bezweifelt (s. Hume 2007, Kap.VII) – was nicht generell gegen Erklärungen spricht, sondern dafür, sich dabei an in der Erfahrung Unterscheidbares zu halten.⁴

3 Ryle illustriert das am Beispiel eines Soldaten, der die abstrakte Idee der Höhenlinie erwirbt. Dass er über diese abstrakte Idee verfügt, heißt, dass er bestimmte „Aufgaben und noch eine unbestimmte Reihe anderer verwandter Aufgaben bewältigen kann, regelmäßig bewältigt oder in diesem Augenblick bewältigt. Die Frage: ‚Wie bildetet er diese abstrakte Idee?‘ verwandelt sich in die Frage: ‚Wie erwarb er diesen besonderen Kunstgriff oder diese besondere Fertigkeit?‘“ (BG, S. 423 f.) 4 Zu unterscheiden sind hier zwei Erfahrungsbegriffe: ein eher Aristotelischer, der sich auf geteilte Unterscheidungen innerhalb vortheoretischer, alltagspraktischer Vollzüge bezieht und als „Wissen des Besonderen“ auch im Falle singulärer Erfahrungen etwas Allgemeines repräsentiert bzw. gemeinsam eingeübte und kontrollierte Unterscheidungen exemplifiziert, und ein eher Galileischer Begriff der technisch herstellbaren, reproduzierbaren Erfahrung im Rahmen einer Theorie. Paradigmatisch für diese aus der Lebenspraxis gelöste „technisch kontrollierte Erfahrung“ ist das Experiment (vgl. Mittelstraß 1974, S. 63 ff.). Ryles Argumente stützen sich eher auf einen Aristotelischen Begriff der Erfahrung, erstens aus dem methodischen Grund, dass die technisch kontrollierte Erfahrung und die ihr entsprechenden

Vernunft ohne „Gespenst in der Maschine“?

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Im Folgenden geht es um den theoretischen Gewinn, den wir aus Ryles Untersuchungen über den Begriff des Geistes mit Blick auf die neuere Handlungstheorie ziehen können. Das liegt nahe, weil Ryle den Begriff des Geistes vor allem mittels Begriffen des sinnvollen Handelns erläutert. Man könnte sagen, dass Ryle die Theorie des Geistes in Handlungslehre transformiert. Denn ohne Bezug auf das faktische Verhalten und Benehmen von Menschen, einschließlich der im üblichen Sprachgebrauch verwendeten Unterscheidungen, bleibt der Begriff des Geistes, so lesen wir Ryle, unverständlich. Das generelle Problem an Ryles Ansatz scheint dann zu sein, dass er erstens unter der Hand doch wieder auf Begriffe zurückgreifen muss, die er vorderhand ablehnt, und dass zweitens zwar zugestanden werden kann, dass Begriffe des Geistigen Dispositionsbegriffe sein mögen, dass damit aber zugleich jeder Begriff von Rationalität ins Leere zu laufen scheint, weil die Orientierung an Üblichkeiten keinen normativen Begriff hergibt.

2 Zwei Grundannahmen kennzeichnen das paramechanische Paradigma: Eine ontologisch-erkenntnistheoretische und eine methodologische. Die ontologische kann man sich an Lockes Frage deutlich machen, was die artikulierten Laute eines Wörter krächzenden Papageien von sinnvoller Rede unterscheidet. Locke antwortet, dass der Papagei nichts damit meint, denn dieser verbinde keine klare und distinkte Vorstellung, keine Idee im Geiste, mit seinem Gekrächz, seine Laute sind sinnlos. Was zum artikulierten Laut hinzukommen muss, so Lockes Erläuterung, ist ein geistiger Akt, der dem Laut Sinn verleiht und ihn so zum Zeichen, zum Wort einer Sprache macht (was von Locke unmittelbar mit dem weiteren geistigen Vorgang der Bildung allgemeiner Wörter durch Abstraktion verbunden wird, denn eine Sprache ohne allgemeine Wörter sei nicht denkbar, s. Locke 1911, S. 1 f.)⁵ Mit dieser Erläuterung wird zugleich eine Erklärung menschlichen (d. h. hier: geistbeseelten, sinnvollen) Verhaltens gegeben: Der Laut zählt als Wort,weil und sofern

Abstrakta letztlich in der lebenspraktischen Erfahrung fundiert sein müssen, weil sie andernfalls unverständlich wären, zweitens aus dem ebenfalls methodischen Grund, dass gerade die alltagspraktischen Unterscheidungen, auf die es einer Theorie des Geistes ankommt, technisch-experimentell nicht reproduzierbar sind. Das wird noch deutlicher anhand der Unterscheidung von intelligentem und automatischem Verhalten. Ersteres scheint sich der Darstellung mittels eines Algorithmus zu entziehen. (Ein weiterer Gewährsmann für die hier relevante Unterscheidung und die Signifikanz des Aristotelischen Erfahrungsbegriffs ist Kant, wenn er die praktische Realität von Freiheit anerkennt, auch wenn Freiheit kein empirischer Begriff und damit der technisch kontrollierten Erfahrung nicht zugänglich ist.) 5 Auch Ryle verwendet Lockes Bild vom Papageien (s. BG, S. 35).

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er mit Geist geäußert wird, d. h. eine geistige Ursache hat, wenigstens in dem Sinne, dass das, was ihm zugrunde liegt, eine geistige Ur-Sache ist, nämlich eine Bedeutung bzw. das Haben einer Bedeutung. Dieses Zugrundeliegende wird aber i.S. einer causa efficiens gedeutet, welche nur den Unterschied von Handlung und Verhalten erklären soll. Als Handlung (einschließlich des Sprechens) gilt nach dieser Theorie eine Körperbewegung aufgrund eines geistigen Vorgangs (etwa des Denkens, Planens, Überlegens, der Willensbildung oder einer Gemütsbewegung). Nach Ryle wird in der traditionellen Theorie des Geistes die Frage, wie sich geistbeseelte, absichtliche Handlungen von bloßen Reflexen und instinktiven Reaktionen, mithin von (quasi‐)mechanischen Vorgängen unterscheiden, in dem Sinne falsch gestellt, dass es keine sinnvolle Antwort darauf geben kann. Denn „die Unterschiede zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen wurden […] als Unterschiede innerhalb des gemeinsamen Rahmens der Kategorien ‚Ding‘, ‚Material‘, ‚Eigenschaft‘, ‚Zustand‘, ‚Vorgang‘, ‚Veränderung‘, ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ dargestellt. Geister sind Dinge, aber Dinge von anderer Art als Körper, geistige Vorgänge sind Ursachen und Wirkungen, aber Ursachen und Wirkungen anderer Art als Körperbewegungen.“ (BG, S. 18) Die Rede vom Geist wird damit in einen kategorial unpassenden Zusammenhang gestellt, und dieser erzwingt es, dass das Geistige zunächst vor allem negativ bestimmt wird. Es ist nicht räumlich und nicht körperlich und unterliegt daher auch nicht den Gesetzen der Körperbewegung. Es ist nicht äußerlich und sichtbar, sondern innerlich und unsichtbar, daher nicht öffentlich, sondern privat. Das, was den Unterschied zwischen Handlung und Körperbewegung ausmacht, sind verborgene geistige Ursachen. Der Geist wird „als zusätzliches Zentrum von Kausalvorgängen dargestellt“ (BG, S. 19). Er wird zum „Gespenst in der Maschine“. Daraus ergeben sich nun verschiedene Folgeprobleme. Erstens das Problem des Verhältnisses von Geist und Körper (also das traditionelle Leib-Seele-Problem): Wenn der Geist unkörperlich ist, wie ist es dann möglich, dass geistige Ursachen in der Körperwelt wirken? Und wenn sie selbst Ursachen sind, müssen sie als Ereignisse dann nicht auch Wirkungen sein? Wie aber wären Selbstbestimmung und Verantwortung möglich, wenn geistige Ursachen selbst verursacht sind? Wie kann man zwischen freien Handlungen und mechanischen Vorgängen und dann auch zwischen intelligenten und dummen Handlungen unterscheiden, wenn die Körperbewegungen in beiden Fällen die gleichen sind? Was heißt es dann, etwas richtig oder einen Fehler zu machen? Ist das Stolpern und Stürzen des Clowns geschickt und absichtlich, also eine Arbeit seines Geistes, oder ein versehentliches Ungeschick? (s. BG, S.38) Und wie kann umgekehrt die Körperwelt auf den Geist wirken? Kurz: Wie sind Handlung und Erkenntnis möglich?

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Zweitens das Problem des Handlungsverstehens und des Fremdpsychischen: Wenn das, was Handlungen von bloßen Körperbewegungen unterscheidet, etwas Geistiges und damit nach der paramechanischen Theorie der Erfahrung „von außen“ prinzipiell unzugänglich ist, wie ist es dann möglich, eine Handlung zu verstehen? Man kann man ja niemandem „in den Kopf schauen“. Woher können wir dann überhaupt wissen, dass andere Menschen Geist haben, wenn seine Manifestation im intelligenten Handeln aus verborgenen Vorgängen und Triebfedern zu erklären ist, zu der doch nur das Bewusstsein des Handelnden selbst Zugang hat? Was könnte hier überhaupt „Manifestation des Geistes“ heißen? Woran erkennt man diese? Der Solipsismus ist unausweichlich, wenn man die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist erst einmal akzeptiert hat. Denn die Sinnbedingung der Klärung des Verhältnisses von Geist und Körper ist, dass Geist und Körper wenigstens in dem Sinne unabhängig voneinander existieren, dass eine Vermittlung notwendig erscheint. Das ist nach Ryle ein Kategorienfehler. Man mag zwar von der Existenz von Geist und Körper sprechen, darf aber nicht übersehen, dass dabei nicht von verschiedenen Arten von Existenz, etwa i.S. der Existenz zweier Substanzen, die Rede ist (so dass man sagen könnte: ‚Geister existieren‘ und ‚Körper existieren‘), sondern dass das Wort „existieren“ in verschiedenen Redekontexten auf unterschiedliche Identitätskriterien verweist (s. BG, S. 23), und diese gilt es jeweils zu klären. Klar ist: Die Identitätskriterien für Geistiges und Körperliches unterscheiden sich, was prima facie heißt, dass wir unterschiedliche Dinge darüber sagen können. Die Kriterien für Körperliches sind, jedenfalls soweit es Ryles Argumentation betrifft,weitgehend unproblematisch, es sind die üblichen Kriterien der Gleichheit und des Unterschieds für Dinge, Vorgänge, Eigenschaften, Veränderungen etc. Aber anhand welcher Kriterien können geistige Vorgänge identifiziert und unterschieden werden? Eine naheliegende Idee wäre zu sagen: Als „geistig“ (oder „intelligent“)⁶ bezeichnen wir ein Handeln (einschließlich des Sprechens), das auf intelligenten

6 Ryle setzt „geistig“ mit „intelligent“ gleich. Das ist insofern unproblematisch, als damit zum einen gerade die (für die angegriffene Theorie des Geistes) modellhaften, paradigmatischen Fälle geistvollen Benehmens ins Zentrum rücken, zum anderen übliche Redeweisen, die wir in vertrauten Kontexten unproblematisch verwenden können, als Vergleichsgegenstand für den Gebrauch von Abstrakta wie „Geist“ zur Verfügung stehen. Man könnte sagen: Die Identifikation von Geist und Intellekt erlaubt Ryle eine Art „Operationalisierung“ des Geistes und seine Verortung in faktischen Handlungsvollzügen, womit gemeinsam kontrollierte Unterscheidungen überhaupt erst möglich werden. Und in welchem Sinne ist Ryles Gleichsetzung problematisch? Nun, es gilt zwar grundsätzlich für alle Manifestationen des Geistigen (nämlich sofern sie eine Form aktualisieren), dass „intelligent“ ein geeignetes Attribut ihrer Beschreibung ist, aber eben nicht für jede einzelne

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geistigen Vorgängen beruht, etwa der Anwendung eines praktischen Syllogismus durch Subsumption der Situation unter eine Regel. Intelligentes Handeln heißt demnach Anwendung von Wissen, man überlegt, was zu tun ist, und handelt dann entsprechend. Der Geist wird dabei nach dem Muster theoretischer Erkenntnis modelliert.⁷ Dieses Modell intelligenten Handels aufgrund intellektueller „Ursachen“ nennt Ryle die „intellektualistische Legende“, die zugleich eine wesentliche Stütze des „paramechanischen Mythos“ darstellt.Vernünftiges Handeln, d. h. Tun, auf welches Intelligenzadverbien anwendbar sind, ist demnach wesentlich theoriegeleitetes Handeln. Die Theorie geht der Praxis, das Denken dem Handeln voran. Die Basis intelligenten Handelns sind intellektuelle Operationen des Erkennens, so dass intelligentes Handeln aus zwei Vorgängen besteht: einem die Identität der Handlung bestimmenden geistigen Vorgang, etwa dem Erfassen einer passenden Regel, und einem als Körperbewegung öffentlich sichtbaren Vorgang des Vollzugs der Handlung nach dieser Regel. Der Handelnde führt eine Art „Doppelleben“: ein inneres, privates des Verstandes und ein äußeres, öffentliches des Körpers. Aber die Annahme (besonderer) geistiger Vorgänge kann nach Ryle nicht die Basis sinnvoller Kriterien der Rede über Geistiges sein, denn sie setzen ja bereits voraus, dass man zwischen (geistiger) Handlung und bloßem Geschehen, zwischen intelligentem und geistesabwesenden Tun, „zwischen Kundgebungen von Intelligenz und Schwachsinn“ (BG, S. 61) unterscheiden kann, und zwar unabhängig von einer Theorie des Geistes. Eine solche Theorie kann diese Unterscheidungen ggf. erklären, aber sie kann sie nicht etablieren. Man muss schon wissen, was es heißt, dass jemand zielstrebig, witzig, geschickt, sorgfältig, hingebungsvoll, unachtsam, engstirnig, absichtlich etc. agiert, ehe man sich daranmachen kann, dies (theoretisch) zu erklären. Unsere üblichen Unterscheidungen werden vortheoretisch getroffen, daher können Kriterien der sinnvollen Rede über Geistiges nicht von einer Theorie des Geistes abhängen. Vielmehr muss sich eine Theorie des Geistes daran messen lassen, ob und in welchem Maße sie den lebenspraktischen, gemeinsam kontrollierten Unterscheidungen gerecht wird, andernfalls wird sie unverständlich. Und genau das attestiert Ryle der „offiziellen Doktrin“ vom „Gespenst in der Maschine“.

– man kann sich auch beim Schachspielen dumm anstellen, was freilich voraussetzt, das Schachspielenkönnen eine Fähigkeit der Intelligenz ist. 7 Es ist kurios, dass neuere Theorien praktischer Rationalität, die sich am Rational-ChoiceModell orientieren, das Praktische gerade dadurch eliminieren, dass sie die Berechenbarkeit der Wahl von Handlungsoptionen postulieren. Genuin praktische Erwägungen bspw. über das Gewicht von Verpflichtungen (vgl. dazu A. Sens berühmten Artikel „Rational fools“ (Sen 1977)) werden ersetzt durch formale Kalkulationen.

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3 Um dem offensichtlichen Einwand gegen das intellektualistische Handlungsmodell zu begegnen, dass man intelligent handeln kann, ohne dass Vorgänge des Planens, Kalkulierens, Abwägens, der Regelwahl etc. bewusst vollzogen werden oder überhaupt bewusst sein müssen oder auch ohne dass der Akteur wenigstens auf Nachfrage die Regeln und Kriterien der Handlung hersagen kann (ein schlagendes Beispiel ist die Beherrschung der Muttersprache), wird von dessen Vertretern behauptet, dass nicht jedes Wissen bewusst sein muss: Wir wenden dann implizites Wissen in impliziten Schlüssen an. Implizites Wissen wird demnach dann angenommen, wenn man intelligente Handlungen als Wirkungen intelligenter Vorgänge betrachtet und zugleich akzeptiert, dass wir oft nicht um die Regeln wissen, denen intelligente Handlungen folgen und solche Regeln oft gar nicht artikuliert werden können. (BG, S. 33) Der Verweis auf unbewusstes oder implizites Wissen kann aber nicht erklären, wie eine intelligente Handlung auch dann möglich sein soll, wenn der Akteur deren Regeln nicht einmal dann versteht, wenn sie ihm vorgelegt werden. Beispiele wären eine Person, die überzeugend argumentieren kann, sich mit formaler Logik aber schwer tut, oder Kinder, die ihre Muttersprache beherrschen, aber dem Grammatikunterricht nicht folgen können. Es bleibt auch unklar, was implizites Wissen und implizites Schließen sein sollen, wenn Regeln und Kriterien für bestimmte Handlungsweisen nicht nur faktisch nicht artikuliert sind, sondern sich gar nicht formulieren lassen, etwa für schlagfertige und witzige Kommentare oder für taktvolles Verhalten. Abgesehen davon würde in solchen Fällen die Konstruktion nach Regeln, ob implizit oder explizit, zerstören, was sie nach Voraussetzung eigentlich erklären soll: Ein mühsam konstruierter Witz ist nicht witzig (wenngleich er Anlass zu unfreiwilliger Komik geben mag), dem taktvollen Benehmen fehlt die entscheidende Qualität, wenn es durch die Erledigung eines Pflichtenheftes überdeterminiert ist. („Es ist meine Pflicht als Freund, dich zu besuchen, wenn du krank bist.“). Der formale Haupteinwand Ryles gegen die Annahme, intelligentem Handeln müsse eine Betätigung des Intellektes in Form der Erwägung von Sätzen, d. h. Regeln und Kriterien, vorangehen, ist ein Regressargument: „Dieses Erwägen von Sätzen ist selbst eine Tätigkeit, die mehr oder weniger intelligent, mehr oder weniger dumm ausgeführt werden kann.“ (BG, S. 34) Es gibt hier im Grunde zwei Regresse (BG, S. 34 f.): Einen Begründungsregress der Regelwahl, d. h. der Festlegung darauf, unter welche Regeln oder Kriterien die Handlung fallen soll. Damit dies keine bloß zufällig richtige Wahl ist, müsste diese selbst wieder einer Regel der richtigen Regelwahl folgen usw. ad infinitum. Analoges gilt von der Regelanwendung, die nach dem intellektualistischen Modell der Handlung selbst

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wieder einer Regel der richtigen Regelanwendung folgen muss ad infinitum – ein Anwendungsregress. Dann aber könnte intelligentes Handeln erstens nie beginnen, und zweitens könnte es anhand des Kriteriums der verstandesmäßigen Erwägung, Wahl und Anwendung einer Regel auch nicht von unintelligentem Handeln unterschieden werden. Da es intelligentes Handeln aber gibt und von unintelligentem Handeln unterschieden werden kann (ansonsten wäre die Debatte um die Erläuterung des Unterschiedes von intelligentem und nicht-intelligentem Handeln gegenstandslos)⁸, ist die Endlosigkeit der Regresse ausgeschlossen.⁹ Eine Anwendung von Regeln und Kriterien richtigen Handelns setzt demnach nicht die vorhergehende Erwägung von Regeln und Kriterien voraus. „Vernünftige Handlungen unterscheiden sich von unvernünftigen nicht durch ihre [geistige – F.K./C.H.] Herkunft, sondern durch ihre [praktische – F.K/C.H] Ausführung“ (BG, S. 35), u. E. genauer: durch die spezifische Form ihrer Ausführung. Die Unterschiede zwischen einem geistesabwesenden Tun und einer absichtlichen, bewussten, gerissenen, sorgfältigen etc. Handlung „bestehen nicht im Vorhandensein oder Fehlen eines stillschweigenden Hinweises auf eine Schattenhandlung, die der offenen im Verborgenen vorangeht. Sie bestehen, im Gegenteil, im Vorhandensein oder Fehlen gewisser Arten von nachprüfbaren Behauptungen, die etwas erklären und zugleich Voraussagen enthalten.“ (BG, S. 27)¹⁰ Eine solche zugleich erklärende und voraussagende Behauptung wäre z. B.

8 Kemmerling macht darauf aufmerksam, dass eine Strategie des Umgangs mit Ryles Argumenten sein könnte, den Begriff „intelligentes Handeln“ neu zu definieren, und zwar so, dass ohne intellektuelle Operationen gar nicht von intelligentem Handeln die Rede sei. Das aber, so Kemmerling, ist ein bloß terminologischer Vorschlag, der als solcher weder wahr noch falsch sein kann, sondern nur nützlich oder unbrauchbar. Da aber der Sprachgebrauch neu geregelt werden soll, um die üblichen Unterscheidungen und damit den üblichen Sprachgebrauch in seinen wesentlichen Zügen zu erfassen, muss diese Strategie wohl eher als nutzlos und unbrauchbar gelten. (Kemmerling 1984, S. 140) Dies ist aber gerade die Strategie der neueren Handlungstheorie, die Handlungen von bloßem Geschehen durch Bezug auf praktische Überlegungen unterscheidet und insofern eine Fortsetzung des „Mythos vom Gespenst in der Maschine“ darstellt. 9 An das Regressargument Ryles, welches Wittgensteins Argumentation zum Regelfolgen gleicht, und an seine Unterscheidung von Intelligenz und Intellekt kann nun die Kritik am vermeintlichen Antiintellektualismus Ryles anknüpfen – Ryles Lehre sei am Ende nichts anderes als Positivismus, weil sie nur die faktischen Beurteilungen und Zuschreibungen von Intelligenz berücksichtige. Dazu später mehr. 10 Analoge Argumente, insbesondere wiederum ein Regressargument, benutzt Ryle zur Widerlegung der Theorie der Willensakte, welche die „äußere“ Handlung als Resultat einer „inneren“ deutet. Hierzu sei angemerkt, dass auch wenn der Terminus „Willensakt“ heute kaum noch Verwendung findet, der Begriff für die Handlungstheorie zentral bleibt. So schreibt bspw. Lumer im Artikel zur Handlungstheorie, der weitgehend der Standardtheorie

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die, dass einer Fußball spielt: Es erklärt, warum er einen Ball tritt, und zugleich sind bestimmte Verhaltensweisen zu erwarten. Eine solche Aussage ist eine Aussage, welche die Form seines Tuns betrifft. Ryles inhaltlicher Einwand gegen die „intellektualistische Legende“ ist die Verkehrung des Verhältnisses von Theorie und Praxis: „Die intelligente Praxis ist nicht ein Stiefkind der Theorie. Im Gegenteil, Theoretisieren ist eine Praxis unter anderen, und man kann sich dabei dumm oder intelligent anstellen.“ (BG, S. 28) Die Voraussetzung des Modells der Erklärung von Handlungen aus intellektuellen Operationen ist, dass deren Regeln im Geist vor und unabhängig von der Praxis bestehen, zu der die fraglichen Handlungen gehören. Das ist aber ein Fehler der methodischen Ordnung: Aristoteles konnte die logischen Regeln des Umgangs mit den Wörtern „alle“, „einige“, „nicht“ und „x ist ein P“ nur aufstellen, weil es die entsprechende Praxis des Argumentierens und Begründens schon gab und man vortheoretisch gute von schlechten Argumenten unterscheiden konnte. Damit ist nicht bestritten, das die Aufstellung, genauer: die Artikulation praxisleitender Normen als explizite Regeln¹¹ Einfluss auf die zugrundeliegende Praxis haben kann. Aber solche expliziten Regeln sind nur verständlich, sofern sie eine vorgängige Praxis artikulieren (oder sich auf eine solche beziehen). Folglich ist es auch nicht so, dass eine Praxis erst aufgrund der Regelartikulation verständlich würde.Vielmehr messen wir die Güte solcher Artikulationen prima facie an einem vortheoretischen, praktischen Verständnis, nicht an intellektuellen Operationen, sondern am praktischen Vollzugwissen. „Erfolgreiche Praxis geht ihrer eigenen Theorie voraus; Methodologien setzen die Anwendung derjenigen Methoden voraus, aus deren kritischer Untersuchung sie hervorgehen.“ (BG, S. 33) Mithin: Die Theorie ist die Theorie ihrer Praxis. Ryle wird nicht müde zu zeigen, dass die Basis der „intellektualistischen Legende“, nämlich die Existenz privater und damit grundsätzlich nicht erkennbarer geistiger Ereignisse des Erkennens, Denkens, Planens, Reflektierens etc., die dem körperlichen Geschehen logisch (und dann auch zeitlich als dessen Ursache) vorgelagert sind und diesem erst die Qualität geistigen, insbesondere intelligenten der Handlung folgt: „Idealtypische Handlungen werden durch aktuelle Absichten ausgelöst.“ (Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, hrsg. von H.-J. Sandkühler, Hamburg: Meiner 2010, S. 971). Diese Formulierung muss nicht verwundern, wenn für die Handlungsbeschreibung und -erklärung ein Modell benutzt wird, welches die Handlung als Resultat einer besonderen Ursache auffasst, die Handlung als Ereignis ontologisch also in den Rahmen kausalen Geschehens eingespannt wird – irgendetwas muss dann die Rolle einer Ursache spielen. Diese systematische Rolle übernehmen die Willensakte, auch dann, wenn man sie nicht so nennt (sondern bspw. von „Entschluss“, „Wahl“, „Absicht“, „Wollen“ etc. spricht). 11 Zum Unterschied zwischen Norm und Regelartikulation s. Stekeler-Weithofer 2005b, S. 141 ff.

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Handelns verleihen, unhaltbar, widersprüchlich und unverständlich ist. In diesem Punkt folgt Ryle Humes Ablehnung der Erklärung mittels verborgener, transzendenter Ursachen (s. dazu Hume 2007, Kap. VII). Die Rede über Geistiges ist, wie letztlich jede sinnvolle Rede, erfahrungsimmanente Rede im Bereich öffentlich kontrollierbarer Unterscheidungen: Es sind keine kategorischen Urteile über grundsätzlich nicht Prüfbares, sondern hypothetische Urteile über öffentlich Prüfbares.

4 Das Hauptargument Ryles gegen die theoretische Strategie der „offiziellen Lehre“ vom Geist ist ein sprachlogisches: Die (immer mögliche und sinnvolle) Frage, warum einer so und so gehandelt hat, wird aufgefasst als Frage nach den Ursachen dieses Handelns. Kausale Erklärungen beziehen sich auf Ereignisse, entsprechend müssten Erklärungen des menschlichen Handelns sich auf geistige Ereignisse beziehen. Aber erstens gibt es nach Ryle keine solchen geistigen Ereignisse, und zweitens und wichtiger, sprechen wir gewöhnlich gar nicht von Ereignissen, auch nicht von verborgenen, wenn vom menschlichen Benehmen die Rede ist, sondern wir benutzen eine dispositionelle Redeweise. Dispositionen werden dabei zunächst negativ bestimmt: Dispositionsausdrücke beziehen sich nicht auf Ereignisse oder Vorgänge (und damit eo ipso auch nicht auf verborgene). (s. BG, S. 153) Der springende Punkt einer Theorie des Geistes ist demnach die Frage nach dem logischen Status ihrer Grundbegriffe. Ryles These ist, dass die Grundbegriffe, mit denen wir menschliches Verhalten beschreiben (etwa „können“ oder „fähig sein“, „streben“, „wissen“, „glauben“, „beabsichtigen“ etc.) nicht Ereignis- sondern Dispositionsbegriffe sind.¹² „Denn der Geist ist, grob gesprochen, etwas, wovon nicht gewisse Klassen unentscheidbarer kategorischer Sätze reden, sondern gewisse Klassen entscheidbarer hypothetischer und halbhypothetischer Sätze.“ (BG, S. 56, s. auch BG, S. 154).¹³ Sätze über menschliches Verhalten werden

12 Das bedeutet nicht, dass wir keine Ereignisbegriffe benutzen, um menschliches Verhalten zu beschreiben. Aber nicht jedes Tätigkeitswort beschreibt eine Episode – und das wird nach Ryle oft übersehen. 13 Ryle wäre nicht Ryle, würde er auf dieser Unterscheidung als strikte Dichotomie bestehen. Die meisten Sätze, die als kategorische einsortiert werden, sind „mischkategorische Urteile“ (vgl. BG, S. 189 f.): Jemanden als „bei der Sache“ oder „interessiert“ zu beschreiben, ist episodisch und dispositional zugleich, es handelt sich nicht um einen starren Gegensatz. Freilich muss man dessen Pole verstanden haben, um von den Zwischengliedern nicht in die Irre geführt zu werden. Ein Beispiel ist der Satz „Der Vogel zieht nach Süden“. Dieser hat eine andere logische Struktur als „Der Vogel fliegt nach Süden“, denn der erste Satz

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oft fälschlich als („kategorische“) Ereignissätze statt als („(halb)hypothetische“) Sätze über Aktualisierungen eines Allgemeinen gedeutet: „Michel will ein Eis“ – also muss es ein Eis-Haben-Wollen-Ereignis geben, das den Satz wahr macht. Da dieses Ereignis aber ein geistiges sein soll, also nicht öffentlich ist, ist der Satz nicht entscheidbar, nicht einmal von dem, der es aus der Perspektive der ersten Person vermeintlich am besten beurteilen kann, weil es gemeinsam kontrollierbare Kriterien für private geistige Zustände nicht geben kann. ¹⁴ Das bedeutet offensichtlich nicht, den Geist zu leugnen. Es bedeutet nur dann eine Leugnung des Geistes, wenn man unter „Geist“ ein besonderes Objekt, die Substanz eines verborgenen Geschehens versteht (das wäre die paramechanische Theorie), welche nur dem privaten Bewusstsein und der Introspektion zugänglich ist. Was Geist und Geistiges ist, wird nach Ryle vielmehr mittels öffentlich beurteilbarer Qualitäten von Handlungen erläutert – wir können unterscheiden, ob eine Handlung bspw. mit Sorgfalt ausgeführt wird oder nachlässig, ob sie geplant oder spontan ist, geschickt oder ungeschickt, mit oder ohne Begeisterung, absichtlich oder versehentlich, ob aufmerksam oder achtlos. Dazu muss man allerdings „über die Handlung hinausblicken“, denn einem kontextfreien Tun kann man diese Adverbien nicht sinnvoll zuordnen. Insofern kann eine adäquate Theorie der Handlung nicht atomistisch aufgebaut sein – die Frage, was ein

beschreibt nicht nur ein Ereignis, sondern er „trägt eine biologische Botschaft“ (BG, S. 190), man darf nämlich folgern, dass es sich um einen Zugvogel handelt, und das impliziert, dass der Vogel, der nach Süden zieht (und nicht nur fliegt) unter eine gesetzesartige Aussage fällt (nämlich dass Zugvögel im Herbst nach Süden ziehen), und diese erklärt den Flug nach Süden dispositional: „Warum zieht der Vogel nach Süden?“ – „Es ist ein Zugvogel“. Analoges gilt für Ausdrücke, die eine Neigung oder ein Interesse feststellen: „Warum liest er das Buch?“ – „Es interessiert ihn.“ Das Interesse kann festgestellt werden (der Leser bleibt dabei, lässt sich nur schwer ablenken etc.), aber zugleich erklärt es das Lesen des Buches dispositional (hier aus einer Neigung). Zusammenfassend heißt das: In unsere Beschreibungen des Benehmens oder Verhaltens sind gewöhnlich schon dispositionale Erklärungen eingelassen. Wir verwenden „dichte“ Begriffe, die auf allgemeine Verhaltensmuster und deren Normen verweisen und Inferenzen zulassen, die rein formal als Schlüsse aus Konstatierungen nicht gerechtfertigt werden könnten, aber mit Blick auf ihren dispositionalen Gehalt als „materialbegriffliche Schlüsse“ (s. Stekeler-Weithofer 2005b, S. 65 ff.) zulässig und notwendig sind. 14 Vgl. hierzu Wittgensteins Privatsprachenargument aus Philosophische Untersuchungen, insbesondere § 258: Der Sprecher einer Privatsprache hätte für die Anwendung von Begriffen seiner Privatsprache nur private Kriterien (x erscheint mir als Y). Private Kriterien sind aber keine Kriterien, denn was immer mir richtig erschiene, wäre nach dem privaten Kriterium richtig. Dann aber gibt es kein richtig oder falsch, mithin kein Kriterium der Anwendung des Begriffs.

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einzelner Akt für eine Handlung sei und aus welchen Gründen sie vollzogen wurde, lässt sich am isolierten Akt nicht beantworten. „Offene intelligente Verrichtungen sind nicht Schlüssel zur Arbeit des Geistes; sie sind diese Arbeit.“ (BG, S. 73) Die Untersuchung des Geistes wird von Ryle in eine Untersuchung des (richtigen) Gebrauchs des Wortes „intelligent“ und anderer Dispositionswörter aus der Familie der Begriffe des Geistigen transformiert. Dieser Gebrauch muss sich auf öffentliche Handlungen beziehen, weil die fraglichen Begriffe, d. h. die Intelligenzadverbien, sonst gar nicht anwendbar wären. Denn worin sollten die Kriterien einer solchen Beurteilung privater, innerer Zustände und Vorgänge sonst fundiert sein? Worauf sonst sollten sie sich beziehen? Die Philosophie des Geistes wird damit zur sprachphilosophischen Handlungslehre, und es geht Ryle nun darum, zu erläutern, nach welchen Kriterien solche Adverbien sinnvoll verwendet werden können.

5 Ryles konstruktive Alternative zur „paramechanischen“ Ereignis-Analyse des Handelns hält sich an hypothetische Behauptungen über das tatsächliche Verhalten: Wir haben öffentliche, d. h. Verhaltenskriterien dafür, dass jemand etwas kann, will, anstrebt, beabsichtigt, weiß, glaubt etc. Freilich sind diese Kriterien fehlbar und daher hypothetisch, zum einen weil wir (oft) nicht genügend über eine Person wissen, um zu beurteilen, was genau sie alles kann und anstrebt, zum anderen, weil sich eine Disposition in einer Vielzahl von Handlungen manifestieren kann. Dispositionsbegriffe zur Kennzeichnung menschlichen Verhaltens sind nur in wenigen Fällen „eingleisig“ in dem Sinne, dass Aktualisierungen dieser Dispositionen immer auf die gleiche Art und Weise erfolgen. Der Raucher raucht, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Rauchen ist also eine solche einspurige Disposition, sie manifestiert sich immer in Verhaltensepisoden einer bestimmten Art bei bestimmten Gelegenheiten, so wie sich die Zerbrechlichkeit des Glases immer darin äußert, bei bestimmten Gelegenheiten zu Bruch zu gehen. Im Bereich menschlichen Verhaltens sind es Gewohnheiten, Reflexe und Automatismen, die sich als einspurige Dispositionen auffassen lassen und es sind häufig einspurige Dispositionen, bei denen das gleiche Wort für Ereignisberichte und dispositionelle Aussagen verwendet wird („Müller raucht“), was nach Ryle ein Grund für den Kategorienfehler der Verwechslung von Dispositions- und Ereignisausdrücken ist.¹⁵

15 Hierin liegt auch ein Grund für die These, dass Ryles Dispositionstheorie der Handlung

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Aber auch wo das gleiche Wort für Dispositionen und für Ereignisse oder Vorgänge verwendet wird, bleibt der logische Unterschied bestehen: Dispositionen bezeichnen Verhaltensmuster oder Regularitäten des Verhaltens und damit etwas Allgemeines, weshalb eine Regularität etwas anderes ist als ein Ereignis. Mittels Dispositionsausdrücken werden Vorgänge in ein Muster eingeordnet. Solche Muster erlauben Schlüsse, so dass die Identifikation eines Verhaltens als Manifestation oder Aktualisierung einer Disposition eine „Schluß-Fahrkarte“ (BG, S. 160) ist, die dazu berechtigt, von Tatsachen auf andere Tatsachen zu schließen, Tatsachen zu erklären, zu prognostizieren und ggf. herbeizuführen, d. h. sie rechtfertigt Verhaltenserwartungen und sorgt so für Verhaltenssicherheit. Wenn „Müller raucht“ als Konstatierung eines Ereignisses aufgefasst wird, folgt daraus nichts. Als Ausdruck einer Disposition dagegen dürfte man kaum überrascht sein, wenn Müller sich nach Verlassen des Hauses eine Zigarette ansteckt. Daher fasst Ryle Dispositionsaussagen als hypothetische, gesetzesartige Aussagen auf (BG, S. 159 f.) – sie können gelten, ohne dass Berichte über Einzelfälle, die unter das Gesetz fallen, wahr sein müssen. Etwas aus Glas ist zerbrechlich, ohne dass es jemals zerbrechen müsste. Die Identifikation von Dispositionen mit einspurigen Dispositionen führt u. a. zu der fehlerhaften Annahme, jeder Disposition entspräche (genau) eine Art und Weise der Realisierung: Wer Raucher ist, raucht (zumindest gelegentlich), was zerbrechlich ist, zerbricht unter passenden Umständen. Das gälte nach der „offiziellen Theorie“ des Geistes nun auch für Intelligenz, deren Manifestationen aus gleichförmigen Vorgängen oder Zuständen, etwa des Denkens und Wissens, aus bestimmten, „Wissensakten und Glaubenszuständen“ zu erklären sei (BG, S. 156). Das ist aber ein logischer Fehler, dessen absurde Konsequenzen Ryle auf die Spitze treibt: „Eine ähnliche Annahme würde zu dem Schluß führen, da Anwalt sein ein Beruf ist, müssen sich berufliche Tätigkeiten des Anwaltens ereignen, und da Anwälte nie bei der Verrichtung dieser einen Tätigkeit ertappt werden, sondern nur bei der Verrichtung vieler verschiedener Dinge, …, so muß ihre charakteristische Berufstätigkeit des Anwaltens etwas sein, was sie hinter verschlossenen Türen tun.“ (BG, S. 157) Die Annahme, jeder Disposition entspräche genau eine Art und Weise der Realisierung, jedem Dispositionsausdruck ein Tätigkeitswort, und die im Folgenden noch zu besprechende Verwechslung von bestimmten und bestimmbaren Dispositionen, sind die logischen Fehler, die nach Ryle der Kate-

nichts weiter als eine Spielart des Behaviorismus ist: Gewohnheiten, Reflexe und Routinen sind „abgerichtete“, quasi-automatische Reaktionen auf bestimmte Reize oder Gelegenheiten – gerade das Gegenteil intelligenten Handelns. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass nur wenige Dispositionsbegriffe einspurig sind, insbesondere die nicht, die wir zur Kennzeichnung intelligenten Verhaltens benutzen.

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gorienverwechslung des „Mythos vom Gespenst in der Maschine“ zugrunde liegen. Die Verwechslung liegt nahe, weil es ja tatsächlich zu vielen Dispositionsausdrücken Tätigkeitswörter gibt. Nur ist es eben auch in Fällen wie dem Kochen oder dem Spielen nicht so, dass diese immer auf dieselbe Art und Weise realisiert werden: Wer eine Suppe kocht, tut etwas anderes, als wer einen Braten macht. Wittgenstein macht daher nicht nur darauf aufmerksam, dass es für all das, was wir Spielen nennen, keine kleinste Menge gemeinsamer Eigenschaften gibt, sondern nur „Familienähnlichkeiten“ bestehen. Das Beispiel des Spiels dient ihm gerade dazu, deutlich zu machen, dass auch Sprache und Sprechen Fähigkeiten bzw. Dispositionen vom Typ der Familienähnlichkeit sind – mithin zum Typ der mehrsprachigen, oder wie Ryle sie nennt, der „bestimmbaren“ Dispositionen gehören. Die meisten Dispositionsbegriffe sind nämlich von anderer, komplexerer Art als die einspurigen Dispositionen. Sie sind „bestimmbare Begriffe“ (BG, S. 156), d. h. es liegt im Unterschied zu den einspurigen Dispositionen bei „mehrspurigen“¹⁶ nicht fest, auf welche Weise und bei welchen Gelegenheiten sie realisiert werden. Daher gibt es meist kein spezielles Wort für die der Disposition entsprechenden Verhaltensepisoden. Dass z. B. jemand eitel ist, kann sich in ganz verschiedenen Verhaltensweisen zeigen: Er mag lange vor dem Spiegel verweilen, große Sorgfalt bei der Auswahl seiner Kleidung zeigen, er mag es übel nehmen, wenn man ihn nicht erwähnt, er mag Kritik ignorieren und dazu neigen, sich durch Herabsetzung anderer zu erhöhen usw. Man kann aber keine Liste notwendiger und hinreichender Bedingungen angeben, die gewährleisten, dass eine bestimmte (Mehrspur‐)Disposition vorliegt (vgl. Kemmerling 1984, S. 161). Das ist klar für hinreichende Bedingungen, weil sich weder aus einer einzelnen Verhaltensepisode noch aus einer Menge von (verschiedenen) Verhaltensepisoden zwingend auf das Vorliegen einer bestimmten Disposition schließen lässt.¹⁷ Dass Müller eine Zigarette geraucht hat, legt nahe, dass er Raucher ist, aber das ist nicht zwingend. Dass sich jemand lange im Spiegel betrachtet, legt dagegen noch nicht einmal nahe, er wäre eitel, vielleicht sucht er nach Symptomen einer Krankheit oder nach einem Splitter im Auge. Dass er seine Kleidung sorgfältig

16 Die Kennzeichnung als „mehrspurig“ stammt von E. v. Savigny 1969, S. 98. 17 Auch die Behauptung, dass es wenigstens bei vielen Einspur-Dispositionen möglich sei, aus Verhaltensepisoden auf die Dispositionen zu schließen, führt in Schwierigkeiten: Dass das Glas zerbrochen ist, bedeutet u. a., dass es zerbrechlich war. Aber: Wenn man ein Stück Eisenblech lange genug biegt, bricht es auch. Darf man schließen, dass Eisen zerbrechlich ist? Die Schwierigkeiten einer formal korrekten und inhaltlich adäquaten Definition von Dispositionsausdrücken verweisen darauf, dass sie sich nicht definieren lassen, ohne materiales, generisches Wissen zu investieren.

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wählt, liegt an seinem Beruf, dass er Kritik ignoriert an einem Mangel an Selbstbewusstsein – und so ließe sich jede bestimmte Verhaltensepisode auch auf andere Weise erklären als aus dem Bestehen einer bestimmten Disposition. Notwendige Bedingungen für das Vorliegen von Mehrspur-Dispositionen lassen sich ebenfalls nicht positiv angeben, weil sich eine Mehrspur-Disposition bei Vorliegen bestimmter Gelegenheiten nicht manifestieren muss. Dass Müller ein guter Schütze ist, heißt nicht, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit schießt. Allerdings wird das Fehlen jeder Manifestation bei typischen Gelegenheiten den Schluss nahe legen, dass die Disposition nicht vorhanden ist: Wer niemals trifft, kann nicht schießen; wer niemals schießt, ist kein Schütze.

6 Zur Beschreibung menschlichen Verhaltens können drei Haupttypen von Dispositionen unterschieden werden: Gewohnheiten, Fähigkeiten (der Intelligenz), Neigungen. Nach Ryle sind die Dispositionen, deren Ausübung intelligentes Handeln ist, „mehrspurige“ Dispositionen, die sich näher als Fähigkeiten charakterisieren lassen, etwas zu tun, Aufgaben auszuführen oder als „sich auf etwas zu verstehen“ – kurz: als Können (knowing how). Etwas-zu-können ist nach Ryle der Bezugspunkt der Rede über Geistiges, die Kriterien des Könnens sind die Kriterien für intelligentes Verhalten. Was also heißt es, etwas zu können? „Teilweise heißt dies: wenn er diesen Beschäftigungen nachgeht, dann führt er sie meistens gut aus, d. h. also richtig oder tüchtig oder erfolgreich. Seine Verrichtungen erreichen ein gewisses Niveau, oder sie genügen gewissen Kriterien. Aber das ist nicht alles. Die gutgehende Uhr zeigt die genaue Zeit an und der gut dressierte Seehund gibt fehlerlose Vorführungen seiner Kunst, und dennoch bezeichnen wir sie nicht als ‚intelligent‘.Wir heben diese Bezeichnung für diejenigen auf, die für ihre Handlugen verantwortlich sind. Intelligent sein heißt nicht bloß, gewissen Kriterien zu genügen, sondern sie anwenden; seine Handlungsweise gut regeln, nicht bloß gut geregelt sein.“ (BG, S. 31) Die Zuschreibung eines Könnens i.S. einer Fähigkeit zu intelligentem Handeln ist also dann falsch, wenn die Person die Standards der Tätigkeit regelmäßig verfehlt, aber auch, wenn sie diese bloß zufällig erfüllt,¹⁸ d. h. nicht in Ausübung eines Könnens (etwa weil sie nicht

18 Die Möglichkeit, dass ein Tun bloß zufällig den relevanten Standards genügt, ist ein Grund, warum in der Standardtheorie der Handlung Gründe als Ursachen aufgefasst werden. Wenn jemand etwas richtig zustande bringt, kann das nur dann als seine Handlung zählen, wenn es ihm nicht einfach widerfährt. Das etwas nicht bloß ein Widerfahrnis ist, wird ausbuchstabiert als: Er kann die Gründe nennen und seine Gründe sind die Ursachen seines

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darüber verfügt), oder wenn sie die Ausübung dieses Könnens nicht den Umständen anpassen, Fehler nicht erkennen oder nötige Korrekturen nicht vornehmen kann. Wenn es aber ein Kriterium der Ausübung intelligenter Fähigkeiten ist, dass sie bestimmten Normen oder Kriterien genügt, dann stellt sich sofort die Frage, ob dies nicht eine Variante der intellektualistischen Legende darstellt: Denn was soll das anderes heißen, als dass sich der Handelnde an bestimmten Normen und Kriterien orientiert? Und wie wäre das anders möglich als durch den Bezug auf Regeln, was wiederum Regelkenntnis, also eine Art deklaratives Wissen-dass voraussetzt? Eine erste Antwort ist: Die Zuschreibung eines Könnens scheitert nicht daran, dass der Handelnde die Regeln seinen Tuns nicht hersagen kann. (s. BG, S. 49) Regelkenntnis heißt primär, die Regel im passenden Kontext richtig anzuwenden, d. h. Regelfolgen ist nicht die Exekution vorgegebener Regeln, sondern eine Praxis, eine Handlungsweise oder Handlungsform, vergleichbar eher einer Technik, die im Gang der Tätigkeiten zur Anwendung kommt, Routinen und Schemata des Handelns enthält und damit wiederholbar, aber auch veränderbar ist. Zweitens muss zwischen Norm und Normartikulation unterschieden werden: Normen bestehen schon dann, wenn man ein Tun, auch ohne Bezug auf explizite Regelausdrücke, korrigieren oder kritisieren kann (z. B. wenn der Trainer die Armstellung beim Werfenlernen manuell korrigiert). Außerdem, so Ryle, ist die Tätigkeit der Befolgung und Anwendung von Regeln von der Tätigkeit der Artikulation von Regeln zu unterscheiden. Beide können relativ unabhängig voneinander ausgeführt werden – ein guter Praktiker muss keine guter Theoretiker sein und umgekehrt. Dennoch bleibt hier die grundsätzliche Frage, wie man sich das Befolgen von Regeln vorzustellen hat, und zwar, da hat Ryle recht, ohne explizit-verbale Regelkenntnis zum Kriterium zu machen.Was heißt es dann, Regeln anzuwenden? Ein wichtiges Moment regelfolgenden, kriterienorientierten Verhaltens ist sicher, Fehler zu bemerken und zu korrigieren. Dass man Fehler erkennen kann, scheint ein reflexives Verhältnis zum eigenen Tun zu implizieren, das dem „unvernünftigen“ Verhalten etwa von Tieren fehlt. Der Seehund „korrigiert“ sich in einem bestimmten Sinn zwar selbst, wenn ihm ein Kunststück misslingt, die zugehörige Belohnung (Fisch) ausbleibt, es aber beim nächsten Mal klappt. Sein Verhalten ist „resultatgesteuert“, die Form seines Verhaltens ist dem Resultat jedoch äußerlich. Der Begriff der Richtigkeit des Verhaltens und daher auch der

Tuns (vgl. etwa Elster 1999, S. 58). Das ist nach Ryle eine Form der intellektualistischen Legende. Ryle beschreibt die handlungstheoretische relevante Akteurskausalität stattdessen mittels des Begriffs der Aufmerksamkeit: bei der Sache sein schließt ein, sagen zu können, was man tut, geht aber darin nicht auf.

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Begriff des Fehlers und der Korrektur kann hier gar nicht angewandt werden, eben weil die Art und Weise, das Kunststück vorzuführen, für den Seehund nicht zählt (sondern nur für den Dompteur und die Zuschauer) – die einzig relevante Größe ist die Realisierung eines in seiner Natur angelegten Strebensziels. (Insofern hat sein Verhalten außerhalb dieses Strebensziels kein Maß.) Es ist, wenn man das so sagen kann, dem Seehund „gleichgültig“ welches Verhalten er zeigen muss, solange er damit Fisch (oder was sonst für Seehunde attraktiv sein mag) bekommen kann. Menschen dagegen korrigieren Fehler (von selbst) oder überspielen sie, in jedem Fall verhalten sie sich dazu (falls sie ihre Fehler bemerken und falls es ihnen wichtig genug ist), und zwar auch dann, wenn das gewöhnlich mit der Handlung angestrebte Resultat trotz dieser Fehler erreicht wird. Im Unterschied zum dressierten Tier, genügt es dazu, dass ihre Ausführung der Handlung fehlerhaft ist, d. h. den Regeln und Kriterien des in der Handlung aktualisierten Könnens nicht entspricht. Das Verhalten von (erwachsenen) Menschen ist, im Unterschied zum Verhalten des Seehundes, daher nicht, oder jedenfalls nicht nur, resultatgesteuert, das Erreichen eines Zieles ist nur eine, und oft nicht die wichtigste Dimension der Handlungsrichtigkeit. Man will z. B. nicht auf jede Weise gewinnen, sondern auf die richtige Art und Weise,wer ins Konzert geht,will keine Tonkonserve vorgespielt bekommen. Ryle hat recht, dass dies nicht von einem Wissen-dass, also explizit verbaler Regelkenntnis abhängen kann, aber worin besteht der Unterschied dann? Um diesen Unterschied zu erfassen, kann man entweder besondere geistige Vermögen der Person postulieren, mit deren Hilfe sie Fehler erkennt und korrigiert. Dieser Weg führt wieder in die intellektualistische Legende in ihrer psychologistischen Version privater intellektueller Fähigkeiten, und Ryle lehnt sie aus den genannten Gründen ab. Oder man hält sich an Verhaltensregularitäten, die durch verschiedene soziale Interaktionen verstetigt werden, wobei man lediglich deren Bestehen konstatieren und ggf. etwas über ihre Funktion sagen kann. Das führt in den Behaviorismus und lässt die Ausgangsfrage nach dem Spezifikum und den Kriterien intelligenten Verhaltens offen und damit auch den Unterschied zwischen (menschlichen) Handlungen und (tierischen) Verhaltungen – das Korrekturverhalten des Menschen wird wie das des dressierten Seehundes über Außenreize erklärt, freilich beim Menschen durch subtilere als beim Seehund. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Annahme, dass menschliches Verhalten eine Form aufweist und im Verhalten dieser Formbezug manifest wird. Vor diesem Hintergrund erscheinen korrigierende Eingriffe und Kritik ebenso wenig willkürlich oder kontingent wie Verhaltensregularitäten und die Mechanismen ihrer Fixierung, Stabilisierung und Tradierung. Verhaltensregularitäten werden dann gedeutet als ein Indikator des Bestehens von (gemeinsamen und gemeinsam kontrollierten) Formen oder Normen. Individuelle Fähigkeiten wären

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ihrem objektiven Gehalt nach also durch die Erfüllungsbedingungen ebenjener Handlungs- und Praxisformen bestimmt, wenngleich sie immer in der Besonderheit des Individuellen realisiert werden. Ryle ist in diesem Punkt nicht sehr klar. Er schließt die erste Möglichkeit aus, bleibt aber mit Blick auf die Alternative zwischen Behaviorismus und Formbezug unbestimmt. Zwar nimmt er den Vorwurf des Behaviorismus vorweg (BG, Kap. 10), aber es wird nicht recht klar, warum er das tun kann. Dennoch sollte man dessen Zurückweisung m. E. als Deutungsmaxime lesen und den Mangel an Explizitheit durch eine „formtheoretische“ Lesart beseitigen, die sich, wie sich zeigen wird, gut auf Ryles Ausführungen stützen lässt. Zunächst ist aber darzustellen, wie Ryle auf das genannte Problem reagiert.

7 Fähigkeiten haben eine Vorgeschichte, und diese Vorgeschichte ist konstitutiv für Fähigkeiten und deren Zuschreibung. Sie sind „eine Frucht der Übung“. (BG, S. 49) Wer nie gelernt hat, Noten zu lesen, kann nicht vom Blatt spielen (und er kann es auch nicht unterlassen). Ryle unterscheidet gewohnheitsmäßiges, automatisches, mechanisches Handeln, welches weder Aufmerksamkeit noch Sorgfalt bedarf, von der Ausübung intelligenter Fähigkeiten, die Achtsamkeit und Kritik erfordern. „Es gehört zum Wesen der bloßen gewohnheitsmäßigen Handlung, daß Einzelverrichtungen der Abklatsch ihrer Vorgänger sind. Es gehört zum Wesen intelligenter Handlungen, daß Einzelverrichtungen durch ihre Vorgänger beeinflusst werden. Der Handelnde lernt immer weiter.“ (BG, S. 50) Entsprechend werden die zwei Arten „zweiter Natur“ auf verschiedene Weisen eingeübt: Gewohnheiten durch Abrichtung und Dressur, d. h. durch Auferlegung von Wiederholungen bis hin zur Automatisierung von Handlungsabläufen (Beispiele sind Lesen, Schreiben, das kleine Einmaleins). Dagegen können intelligente Fähigkeiten nicht durch Dressur erworben werden, sie setzen Einsicht voraus: „Ausbildung schließt die Anregung der Urteilskraft des Schülers durch Kritik und Beispiel ein. Er lernt, wie man etwas denkend macht, so daß jede einzelne Handlung eine Unterweisung bedeutet, wie er es besser machen kann […] Abrichtung verzichtet auf Intelligenz, Ausbildung entwickelt sie.“ (BG, S. 51) Gewohnheiten haben Ursprünge, Fähigkeiten Methoden. (vgl. BG, S. 179) Problematisch ist, dass Ryle das Wort „Gewohnheit“ doppeldeutig verwendet, und das scheint auf die oben genannte Unsicherheit im Verhältnis zum Behaviorismus hinzuweisen. Einerseits benutzt er „Gewohnheit“ zur Bezeichnung eines automatisierten (auch intelligenten) Könnens (das man besser als Routine denn als Automatismus auffasst), andererseits zur Bezeichnung des stabil sich

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wiederholenden Tuns einer Person i.S. eines Habitus, einer verfestigten Verhaltensweise, bei der es gar nicht auf ein Können, sondern auf die Verhaltenstendenzen ankommt, die eine Person zeigt – so wie man sagt, jemand hätte sich angewöhnt, jeden Morgen zu turnen, wobei es unwichtig ist, ob er seine Übungen routiniert oder mit Sorgfalt absolviert. Das Unterscheidungskriterium ist hier lediglich, dass er nicht eigens einen Plan fassen muss, keine besonderen Motive braucht etc. Das Einmaleins hersagen können ist eine Routine, es jedem Morgen auf dem Weg zum Bus zu tun, ein Habitus. Dieser, eigentlich leicht zu durchschauende, Doppelsinn von „Gewohnheit“ gibt nun Anlass zu problematischen Deutungen des Handlungsbegriffs bei Ryle, weil damit Fähigkeiten zum intelligenten Handeln, die routiniert und automatisch ausgeführt werden können, als bloße, unvernünftige Gewohnheiten erscheinen, obwohl sie Fähigkeiten unter Kriterien bleiben, deren Beachtung Handlungsvollzüge von bloßen Geschehnissen unterscheidet. Intelligentes Verhalten, also die Ausübung von intelligenten Fähigkeiten, erscheint dann aufgrund seiner „automatischen“ Ausführung als eine (mehr oder weniger subtile) Art von Dressur und verliert damit seine spezifisch geistige Qualität, um die es Ryle gerade geht. Bestärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Ryles Entgegensetzung von Gewohnheiten bzw. Routinen und intelligenten Fähigkeiten willkürlich erscheint. Insbesondere bleibt unklar, ob sie (i) eine Binnendifferenzierung innerhalb des Bereichs menschlichen Handelns benennen soll oder (ii) den Unterschied zwischen Handeln und „mechanischen“ Abläufen überhaupt. So verwischt der Begriff der Dressur, der für die Einübung von Gewohnheiten (i.S.von Routinen) steht, deren Charakter als Modus menschlichen Handelns. Denn üblicherweise sind Tiere die Gegenstände (und nicht die Adressaten!) von Dressur und Abrichtung. Abgerichtet wird der Hund, nicht das Kind. Worauf Ryle hinaus will ist klar: Es gibt viele Verrichtungen, die automatisch, oder wie man sagt: „ohne Geist“,vollzogen werden – die „geisttötende Routine“ ist eine stehende Metapher, das „kleine Einmaleins“ steht für unabdingbare Elementarkenntnisse und für ein Vollzugswissen, welches blind „sitzen“ muss, um höherstufige oder komplexere Tätigkeiten überhaupt in Angriff nehmen zu können, weil sie andernfalls zu viel Aufmerksamkeit von der eigentlichen Tätigkeit abziehen würden. Solche „basics“ sind Voraussetzung des Gelingens jeder komplexeren Praxis. Daher scheint eine Einteilung der Fähigkeiten in geistlose, d. h. automatische, mechanisch ohne weitere Überlegung ausführbare einerseits, und geistbeseelte andererseits, durchaus sinnvoll zu sein. Aus dieser Perspektive scheint es dann nahe zu liegen, Gewohnheiten aus Dressur hervorgehen zu lassen und entsprechende Verhaltensregularitäten denen der Tiere anzuähneln. Handlungen, die mechanisch oder blind ausgeführt werden, sind nach Ryle gerade keine Manifestation von Geist. Man könnte sagen, dass nach Ryle gewohnheits-

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mäßiges Handeln i.S.von Routinen intelligente Fähigkeiten und Motive absorbiert. Ryle führt hier aber auf eine falsche Fährte: Es scheint so, als sei automatisches Handeln kein Handeln (im Unterschied zur Ausübung intelligenter Fähigkeiten), so dass der Unterschied zwischen Automatismen und intelligentem Handeln als ein kategorialer verstanden werden muss. Anscheinend unterlägen Automatismen keinen Normen und Kriterien, denn alles hängt von der Dressur ab. Damit wäre routinehaftes Handeln kein Handeln im gesuchten Sinne, der Unterschied zwischen Handeln und tierischem Verhalten wäre nivelliert. D.h. Ryle verstände die Absorption des Geistes in der Routine als Verschwinden des Geistes. Diese Lesart ist aber nicht zwingend: Man kann diese Absorption auch als Verobjektivierung des Geistes in den Routinen des Handelns verstehen, so wie Geist in Artefakten und Institutionen verobjektiviert wird. Um ein Bild zu gebrauchen: Wenn ein Schwamm Wasser aufsaugt, dann ist das Wasser nicht verschwunden. Es ist im Schwamm. Und entsprechend sind automatisierte, routinierte Handlungen immer noch „intelligente“ Handlungen, und genauso werden sie im Alltag auch behandelt. Viele Fähigkeiten, die wir mühsam, durchaus vermittels zahlloser Wiederholungen, erlernen müssen (z. B. Lesen und Schreiben), können erst bei hinreichender Übung und nach zahlreichen Korrekturen zur Routine absinken, und bei manchen Menschen tun sie das sogar nie. Gleichgültig, wo man im Einzelfall die Grenze zieht: Es ist nicht nur so, dass im menschlichen Tun beide Typen des Etwas-Könnens eine Rolle spielen, vielmehr kann man sich kaum eine Ausübung intelligenter Fähigkeiten im Ryleschen Sinne vorstellen, die nicht auf Routinen zurückgreifen würde. Das heißt nun aber gerade nicht, dass Routinen per se kein Handeln im genuinen Sinne wären. Denn erstens kann jedes gewohnheitsmäßige Tun auch mit Sorgfalt ausgeführt werden, nach Ryle also als Betätigung einer intelligenten Fähigkeit. Sorgfalt und Aufmerksamkeit können aber nicht das Kriterium der Unterscheidung von automatischen und intelligenten Fähigkeiten sein, sondern allenfalls Indikatoren, denn in den Fokus von Aufmerksamkeit und Sorgfalt kann alles geraten (insbesondere das, was nicht oder nicht hinreichend gut funktioniert). Jedoch können zweitens selbst hochkomplexe intellektuelle Fähigkeiten im gewissen Grade in den Status von Routinen und Automatismen absinken. Der versierte Schachspieler blickt aufs Brett und weiß, in gewisser Weise „automatisch“ und ohne weiteres Nachdenken, wie er ziehen muss – obwohl Schach gemeinhin als das intellektuelle Spiel schlechthin gilt und keinesfalls durch Dressur zu erwerben ist. Derartige Routinen sind offensichtlich „mit Geist voll“. Drittens. Selbst bei weniger anspruchsvollen „automatisierten“ Verrichtungen spricht man zurecht von Handlungen: Dass ich meine Schuhe zubinde, während ich daran denke, wie ich die Bahn noch erwischen kann (und der Knoten meiner

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Aufmerksamkeit vollständig entgeht), bedeutet nicht, dass Schuhezubinden nicht die Ausübung einer (vernünftigen) Fähigkeit, also keine Handlung ist (denn es gibt gute und schlechte Knoten, also Kriterien), auch nicht, dass ich meine Kunstfertigkeit im Knotenmachen nicht verbessern könnte, und auch nicht, dass ich für das Schuhebinden nicht verantwortlich bin. Diese Dinge spielen unter den gegebenen Umständen bloß keine Rolle und entsprechende Fragen stellen sich normalerweise schlicht nicht.¹⁹ Die Unterscheidung von gewohnheitsmäßigem Handeln und der Ausübung von Fähigkeiten der Intelligenz ist demnach keine Unterscheidung, welche die Menge aller Handlungsweisen strikt in zwei distinkte Klassen unterteilt, obwohl das kleine Einmaleins mit Blick auf diese Unterscheidung tendenziell von der Multiplikation großer Zahlen zu unterscheiden ist. Und hier steht Ryle vor dem anderen Horn eines Dilemmas: Wenn automatisches und intelligentes Handeln gleichermaßen Modi oder Pole des menschlichen Handelns sind, die sich nur graduell, aber nicht prinzipiell voneinander unterscheiden, einer dieser Pole, nämlich die ‚geistlose‘ Gewohnheit, aber mit tierischem Können zusammenfällt, dann kann sich auch die komplexeste menschliche Fähigkeit nur graduell von andressiertem Können unterscheiden. Haben die Leugner eines spezifisch menschlichen Geistes also recht? Nein, denn sie übersehen, dass menschliches Können in beiden Modi Kriterien unterliegt,weil es auch im Falle der blindesten Routine (eine) richtige und (viele) fehlerhafte Formen der Aktualisierung gibt. Was hier in die Irre führt, ist Ryles Vermengung zweier Bedeutungen von „Gewohnheit“ – die Marotten, die ich entwickle, haben Ursprünge, keine Kriterien, im Unterschied zu Automatismen und Routinen intelligenter Handlungen. Dass ich beim Uhrablesen nicht (mehr oder noch nicht

19 Ryle meint, dass sich Fragen nach der Absichtlichkeit, der Freiwilligkeit etc. erst im Falle von Abweichungen, Fehlschlägen oder Missverständnissen stellen, um Verantwortung zuzuschreiben. Die Frage nach den Ursachen oder Gründen eines fehlerhaften Handelns sei nur im Falle eines Fehlers sinnvoll. Daher sei es unsinnig, die (nur vermeintlich komplementäre) Frage nach der Ursachen dafür zu stellen, dass einer etwas richtig gemacht hat. (BG, S. 87 ff.). Dafür ist Ryle kritisiert worden, wenngleich vielleicht aus den falschen Gründen. Seine These kann man plausibilisieren, wenn man nicht nur negative, sondern auch positive Abweichungen von den Standards einer Handlungsform in Betracht zieht, die dann nicht getadelt, sondern gelobt werden. Es wäre dann nicht nur die Frage sinnvoll, was zu einer fehlerhaften, sondern auch die, was zu einer außergewöhnlich guten Aktualisierung einer Fähigkeit geführt hat. Im Falle weder lobens- noch tadelnswerter Ausführungen einer Handlung fragt man nun tatsächlich nicht nach Verantwortlichkeiten. Wozu auch? Was Ryle hier aber nicht hinreichend beachtet, ist ein anderer Fragekontext, nämlich dass die Frage nach Freiwilligkeit etc. auch dann gestellt wird, wenn es darum geht, den spezifisch menschlichen Verhaltensmodus bspw. im Unterschied zu einem Geschehen oder Widerfahrnis zu charakterisieren (wie dies bspw. Aristoteles in seiner „Nikomachischen Ethik“ III/1 – 8 tut).

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wieder) besondere Sorgfalt und Aufmerksamkeit walten lassen muss, heißt nicht, dass mein Können sich durch seine „Automatisierung“ jeder Kritik entzieht, so dass ich irgendeine Uhrzeit ansagen könnte und dies immer richtig wäre. Ryles Unterscheidung zwischen Gewohnheiten i.S. von Routinen und Automatismen des Handelns einerseits, Fähigkeiten der Intelligenz andererseits, sollte demnach als eine Binnendifferenzierung im Bereich menschlichen, d. h. intelligenten Handelns aufgefasst werden – entsprechend gibt es nicht zwei grundsätzlich verschiedene Arten der „zweiten Natur“, sondern nur graduelle Unterschiede. Grundsätzlich müssen aber beide erlernt werden, und beide stehen unter Regeln und Kriterien. Weil es eine gewisse Asymmetrie zwischen beiden gibt, insofern die Ausübung intelligenter und sogar im engeren Sinne intellektueller Fähigkeiten zur Routine werden kann, aber umgekehrt Routinen nicht gleichermaßen intellektualisiert werden können, sondern gewöhnlich die Basis höherer Tätigkeiten bilden, sollte als Paradigma menschlichen Handelns daher das betrachtet werden, was Ryle unter der Ausübung intelligenter Fähigkeiten (im engeren, vom automatischen Handeln unterschiedenen Sinn) versteht. Ryle scheint das ebenso zu sehen, zumindest, wenn man dem Umfang der jeweiligen Ausführungen in seinem Buch Gewicht beilegt.

8 Unabhängig davon, ob und über welchem Bereich Ryles Unterscheidung zwischen Gewohnheiten (i.S. von Routinen und Automatismen) und Fähigkeiten der Intelligenz wirklich etwas unterscheidet und ob sie das hinreichend oder zu scharf tut, hat Ryle mit dem gewohnheitsmäßigen Tun einen Typus von Handlungen in der Handlungstheorie verankert, der dem vorherrschenden Paradigma der gewussten und gewollten Handlung aufgrund von Überlegung und Absicht nicht entspricht. Denn mechanisches, routiniertes Handeln ist weder absichtlich, aber auch nicht unabsichtlich, noch muss der Akteur damit einen besonderen Zweck verfolgen, obwohl es gewiss nicht zwecklos ist, wie man schon am Schuhebinden sieht. Aber die Ausübung einer Routine erfordert keinen subjektiven Zweck – vielleicht wäre ohne Schuhe loszulaufen effektiver. Ein Zweck oder eine Absicht, den oder die ich nicht habe, kann aber nach dem Standardmodell mein Tun nicht als das meine und damit gar nicht als eine Handlung erklären. Noch muss das automatische Handeln dem Handelnden bewusst sein, obwohl es natürlich nicht unwissentlich

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stattfindet. Dennoch würde auch im Standardmodell des Handelns²⁰ von einer Handlung gesprochen werden müssen, wenn die Unterscheidung von Handlung und Widerfahrnis nicht ihres Sinnes beraubt werden soll, vielleicht mit dem Zusatz, dass auch das gewohnheitsmäßige Handeln grundsätzlich rationalisierbar ist oder rationale Ursprünge hat. Das steht aber, wie gerade ausgeführt, gar nicht in Frage. Das gewohnheitsmäßige Tun ist als Ausübung eines Könnens an die Person als seinen Ursprung gebunden und daher als deren Handlung verständlich zu machen, auch dann, wenn der übliche Handlungsbegriff gar nicht oder nur mit zusätzlichen Annahmen (etwa über implizites Wissen und unbewusste Ziele) anwendbar ist. Entsprechend führt das gewohnheitsmäßige Handeln in der Standardtheorie der Handlung eine Randexistenz, obwohl Routinen im Alltag, wenn schon nicht dominieren, so doch eine notwendige Bedingung komplexerer Tätigkeiten darstellen (etwa indem sie den Handelnden entlasten). In Ryles Modell der Handlung als Ausübung oder Aktualisierung eines Könnens hat dagegen auch das gewohnheitsmäßige Handeln einen rechtmäßigen Platz – freilich können dann, anders als Ryle sich das dachte, Sorgfalt und Aufmerksamkeit weder das Kriterium sein, das menschliche (geistbeseelte) Handlungen und tierisches (geistloses) Verhalten voneinander unterscheidet, noch das, was geistig anspruchsvolles von weniger anspruchsvollem Handeln prinzipiell unterscheidet, wie es das Beispiel routinierten Schachspielens zeigt.

9 Etwas zu können heißt, eine Fähigkeit oder Fertigkeit erworben (und nicht wieder vergessen) zu haben, d. h. sie beliebig aktualisieren oder ihre Ausübung unterlassen zu können, wenn die Umstände dafür günstig sind. Dass wir intelligente Fähigkeiten erwerben müssen, ist kein Zufall.Vermögen, die angeboren sind (etwa das Verhaltensrepertoire der meisten Tiere), sind keine intelligenten Fähigkeiten. Was ihnen fehlt, ist die Offenheit für Korrekturen, die Möglichkeit aus Fehlern und vom Beispiel anderer zu lernen. Diese Offenheit der Dispositionen, die intelligente Fähigkeiten sind, ist zugleich ein Grund, warum die spezifisch menschlichen Mehrspur-Dispositionen nicht bestimmt, sondern bestimmbar (s. BG, S. 156 f.) sind: Es gehört zum Begriff des Habens einer intelligenten Fähigkeit, darin besser werden zu können und ihre Anwendungsmöglichkeiten zu erweitern. Wer über eine solche Fähigkeit verfügt, lernt dazu, erwirbt neue Methoden und Standards,

20 Unter dem Standardmodell der Handlung soll im Folgenden das belief-desire-Modell verstanden werden (dazu auch unten Abschnitt 10).

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das gleiche (besser) zu tun. Zur intelligenten Fähigkeit gehört daher kritisches Vorgehen – eben seine Handlungsweise regeln, sie nicht bloß automatisch vollziehen zu können. (vgl. BG, S. 31) Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Persistenz der Handlung – wer nicht bloß automatisch handelt, sondern „bei der Sache ist“, der bleibt tendenziell auch bei der Sache, überwindet Widerstände, wird mit Rückschlägen fertig, verbessert seine Methoden, wird von Folgeschritten gegliederter Handlungen nicht überrascht etc. Deshalb kann Ryle, auch ohne besondere geistige Ursachen postulieren zu müssen, sagen: Intelligentes und motiviertes Handeln fallen (gewöhnlich)²¹ zusammen (BG, S. 146), oder auch: die Ausübung einer intelligenten Fähigkeit hat einen Grund, sie liegt in der Verantwortung des Akteurs. Wo es Fähigkeiten gibt, gibt es auch Anfälligkeiten. (BG, S. 174) Nur wer schreiben kann, kann sich auch verschreiben. Ein Können ist folglich prinzipiell fehlbar, d. h. ein Können ermöglicht Fehler. Eine intelligente Fähigkeit schließt jedoch ein, Fehler erkennen und korrigieren zu können. Das bedeutet aber, dass sowohl die richtige, erfolgreiche, angemessene als auch die falsche, missglückte, unangemessene Handlung aus einem Prinzip erläutert werden und den gleichen Standards unterliegen müssen, die eben deshalb über den jeweiligen Handlungsvollzug als Aktualisierung der Fähigkeit hinausreichen. Eine intelligente Handlung ist insofern Manifestation eines Allgemeinen: einer Fähigkeit. Diese geht in keiner einzelnen Handlung auf, die sie regelt oder formt. Ein Können reicht daher über die Einzelhandlung hinaus. Seine Regeln und Kriterien sind dem einzelnen Vollzug vorausgesetzt. Eine Fähigkeit ausüben, heißt daher auch, sich Normen zu eigen machen, sein Tun an diesen Normen zu messen, sich unter diese Normen zu stellen. Es hätte keinen Sinn zu sagen, man wolle einen mathematischen Beweis führen, ohne sich um die Standards mathematischen Beweisens zu kümmern. Die Rede von intelligenten Fähigkeiten setzt daher Standards voraus, welche die individuell erworbenen Fähigkeiten übersteigen und deren Maß darstellen. Solche Standards einer Tätigkeit kann man auch Praxis- oder Handlungsformen nennen, der Erwerb einer intelligenten Fähigkeit ist demnach die Einübung in eine Praxis.²² Insofern haben intelligente Fähigkeiten ein internes Maß und Grade, sie sind zwar ein Vermögen der Person, aber ein öffentlich normiertes und kontrolliertes und verweisen damit auf Handlungs- und Praxisfor-

21 Eine Schwierigkeit in Ryles Konzeption stellen intelligente Handlungen dar, die einer Person „widerfahren“, etwa wenn sie spontan eine geistreiche und witzige Bemerkung macht, aber von dieser selbst überrascht wird. Sofern die Äußerung geistreich ist, beruht sie auf intelligenten Fähigkeiten, sofern sie unverhofft ist, kann sie nicht auf eine Neigung, i. S. eines Motivs zurückgehen. 22 Zum Begriff der Praxisform s. Stekeler-Weithofer 2005a.

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men, die unabhängig von der Fähigkeit der einzelnen Person bestehen (freilich nicht unabhängig vom Tun und Lassen aller Personen) und das Maß dieser Fähigkeit bestimmen. Intelligentes Handeln folgt also Kriterien, es kann richtig oder falsch sein, indem es den Standards der entsprechenden Handlungsform mehr oder weniger entspricht oder von ihnen abweicht. Sofern der Akteur in intelligenten Handlungen Regeln und Kriterien anwendet, sind seine Handlungen reflektiertes Tun (was nach Ryle nicht heißt, dass der Akteur die Kriterien und Regeln, denen sein Handeln folgt, hersagen können muss oder dass sie ihm bewusst sind oder er parallel zur Handlung einen Akt der Reflexion vollzieht). Im Unterschied zu bloß gewohnheitsmäßigem Tun hat es bei intelligentem Tun Sinn, zwischen besseren und schlechteren Handlungsvollzügen zu unterscheiden, und gerade deshalb besteht im Falle intelligenten Handelns die Möglichkeit, aus Erfahrung zu lernen, d. h. das gleiche auf bessere Weise zu tun. Auch eine bloße Gewohnheit kann sich ändern, aber nicht, weil man etwas hinzulernt, sondern weil sich die Umstände verändern. Die Veränderung einer bloßen Gewohnheit hat Ursachen, die Veränderung der Art und Weise intelligenten Handelns hat Gründe (vgl. BG, S. 179), es kann kritisiert und gerechtfertigt werden, und in diesem Sinne ist es reflektiertes, selbstbewusstes Handeln in einem Alternativraum besserer oder schlechterer Aktualisierungen einer Fähigkeit. In diesem Sinne ist es also richtig, zu sagen, eine Handlung sei wissentliches und willentliches Tun. Aber auch das automatische Handeln, die Routine hat einen Alternativraum, der aufgrund der Identifikation von Routine und Habitus leicht übersehen wird: Der Alternativraum des automatischen Handelns ist mindestens die Unterlassung. Routinen mögen zwar in dem Sinn fixiert, alternativlos und unreflektiert sein, dass sich (zumindest im je aktuellen Vollzug) die Frage nach der Perfektionierung des entsprechenden Könnens nicht stellt. Doch auch sie sind fehleranfällig und damit korrigierbar und verbesserbar. Wer gewohnheitsmäßig handelt, muss sich dessen nicht bewusst sein – weshalb es mitunter sinnvoll sein kann, Personen auf das, was sie tun, aufmerksam zu machen („Weißt Du, dass Du das Messer falsch hältst?“). Etwas zu können schließt ein, es auch unterlassen zu können. Eine Fähigkeit kann man, wie man sagt, „nach Belieben“ ausüben (s. Kambartel 1989, S. 123 ff.), und zwar auch unabhängig von Gründen und Motiven. Die Aktualisierung einer Fähigkeit unterliegt der Willkür dessen, der sie hat, sie steht damit in seiner Verantwortung. Insofern kann eine Fähigkeit eine Handlung in einem Sinne erklären, nämlich als „Formursache“ eines Tuns, die dessen Identität als diese und keine andere Handlung festlegt.Weil in Handlungsbeschreibungen, und damit bei der Bestimmung der Identität von Handlungen, von Dispositionsbegriffen und damit von gesetzesartigen Zusammenhängen Gebrauch gemacht wird, ist jede

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Handlungsbeschreibung, im Grunde schon die bloße Benennung einer Handlung, zugleich auch deren partielle Erklärung. Auf die Frage: „Warum hast du den Ball getreten?“ ist „Ich spiele Fußball“ eine vollkommen ausreichende Antwort. Dieser Zusammenhang ist oft bemerkt worden, kann im Standardmodell der Handlung allerdings nicht erfasst werden, weil hier der Handlungsvollzug als ein Ereignis aufgefasst wird, welches durch ein anderes Ereignis zu erklären ist. Bei Ryle muss er nicht durch ein anderes Ereignis erklärt werden, sondern durch eine Fähigkeit. Eine Fähigkeit resp. eine (Handlungs‐)Form ist aber kein Ereignis, weder ein geistiges noch ein nicht-geistiges.

10 Es liegt auf der Hand, dass Ryles Begriff der Handlung in beinahe allen Punkten im Gegensatz zum handlungstheoretischen Standardmodell steht, das im Folgenden holzschnittartig rekapituliert werden soll. Dieses erklärt eine Handlung als Ereignis, nämlich als Einheit eines Handlungsvollzugs (wobei basale Handlungen letztlich als Körperbewegungen aufgefasst werden),welcher durch einen primären Grund, d. h. eine geeignete Verbindung von Wünschen und Überzeugungen, zugleich (kausal) hervorgebracht und (rational) gerechtfertigt wird (vgl. Davidson 1990, S. 131). Die (unterstellte) Kluft zwischen dem (von der Logik regierten) Reich der Gründe und der kausalen Welt soll durch eine Reihe von Identifikationen geschlossen werden: Wünsche und Überzeugungen werden als mentale Zustände betrachtet, die als psychische, neuronale und damit physiologische Zustände des Subjekts gedeutet werden. Ein notorisches Grundproblem der Handlungstheorie ist die Bestimmung ihres Grundbegriffs, des Begriffs der Handlung. Wären Handlungen bloße Körperbewegungen, dann könnte man gerade nicht sagen, was eine Handlung von einem bloßen Geschehen unterscheidet. Was, so könnte man mit Wittgenstein fragen, „was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt?“ (Wittgenstein, PU §621) – Die Antwort des Standardmodells ist: etwas Geistiges. Ein Tun oder Verhalten wird als Handlung betrachtet, wenn zu dessen Identität eine Absicht des Handelnden gehört bzw. wenn es eine Beschreibung unter einer Absicht gibt, die das Tun rationalisiert, d. h. als Tun eines vernünftigen Wesens erscheinen lässt. Die Identität der Handlung wird daher letztlich von der Handlungsabsicht konstituiert, die auf ein Amalgam aus Wünschen und Überzeugungen zurückgeführt wird.²³ Die Ab-

23 Davidson fasst die Absicht als „uneingeschränktes Urteil“ (s. Davidson 1990, S. 146 ff.),

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sicht ist die differentia specifica der Handlung gegenüber bloßem Verhalten, etwa reflexhaften Körperbewegungen. Handeln ist intentional und rational (oder wenigstens rationalisierbar). Die Absicht darf die Körperbewegung aber nicht nur begleiten, sie muss ursächlich für diese sein, damit Körperbewegung und geistiger Vorgang in für Handlungen relevanter, nichtzufälliger Weise miteinander verknüpft sind.²⁴ Diese Bestimmung erlaubt es, Handeln in eine naturwissenschaftlich geprägte Ontologie einzuordnen, und zugleich auf der Besonderheit menschlichen Handelns zu bestehen. In eine natürliche Ordnung (was gewöhnlich gedeutet wird als: in eine physikalisch geschlossene Welt) passt menschliches Handeln, insofern (jede) Aktivität von Lebewesen qua Ausrichtung an und Vermittlung von äußeren Umständen und inneren Zuständen intentional gerichtet ist. Im Unterschied zum tierischen Verhalten ist spezifisch menschliche Intentionalität aber auf besondere Weise verfasst, nämlich geistig, genauer: durch intellektuelle Vermögen. Sie ist über Erkenntnis und Überlegung vermittelt, deren Form der praktische Syllogismus ist, der uns die Gründe liefert, die Handlungen erklären, sofern der Handelnde sich den praktischen Syllogismus (in irgendeiner Form) zu eigen macht, also aus mindestens einer Wunsch- und einer Überzeugungsprämisse die Handlung folgert. Nun folgt aus Prämissen eine Konklusion, also ein Satz oder eine (lokale) Handlungsnorm, aber keine Handlung, daher muss entweder ein Willensakt postuliert werden, der von der vom Satz bzw. der in der Konklusion artikulierten Handlungsnorm zur Handlung führt (was in der Debatte um Akteurskausalität wieder auftaucht), oder aber der praktische Syllogismus wird als Medium aufgefasst, welches die motivationale Kraft des Wunsches auf die Konklusion transformiert. Da Wünsche aber als vorrationale Gemütsbewegungen aufgefasst werden, kann Handlungsrationalität nur darin bestehen, die besten Mittel zur Realisierung von Neigungen aufzufinden – die Handlung ist das Mittel, vorrationale Wünsche zu realisieren. Entsprechend kann es in diesem Modell auch keine Autonomie des Subjekts geben (sein Wollen ist, um ein Wort Kants zu gebrauchen, notwendig heteronom, sofern dem Modell entsprechend seine Wünsche als Voraussetzung der Vernunft deren Zugriff per definitionem entzogen sind). Freiheit schrumpft damit auf Handlungsfreiheit, d. h. letztlich ungehinderte Realisierung von vorrationalen Wünschen. Dieses Bild der Handlung, das beliefdesire-Modell, geht zurück auf Hume und dominiert die Handlungstheorie bis in

in dem die Wünsche und Neigungen so zusammengefasst sind, dass diese (nach Überzeugung des Handelnden) maximiert werden. 24 Hierher gehört das notorische Problem der abweichenden Kausalketten, vgl. dazu Elster 1999, 58 f.

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die Gegenwart – und es ist, wie deutlich geworden sein sollte, eine Spielart des paramechanischen Mythos. Das wird insbesondere deutlich, wenn versucht wird, den Grundbegriff „Handlung“ im Standardmodell zu bestimmen: Dass ein Verhalten eine Handlung ist, bedeutet, dass es mit einer Absicht vollzogen wird (woran dann alle anderen Qualifikationen der Handlung hängen: Freiwilligkeit, Verantwortlichkeit, Zuschreibbarkeit, Rationalität etc.), wobei Absichten als besondere mentale Zustände aufgefasst werden. Damit wird die Handlung aber zum Interpretationskonstrukt: Ein Verhalten ist aus dieser Sicht als Handlung immer erst zu interpretieren, außer vom Akteur selbst, der aufgrund der Autorität der ersten Person unmittelbare Einsicht in seine Absicht und damit die Identität der Handlung hat. Daher kann man nie wissen, ob der andere überhaupt handelt, denn man kann nicht wissen, ob er überhaupt über Geist verfügt. Diesen Einwand mag man als unplausibel beiseite schieben (es fragt sich freilich, was unter den gegebenen Prämissen für Plausibilitätsargumente vorgetragen werden könnten). Schwerer wiegt aber, dass man nie wissen kann, was der andere tut, welche Handlung er vollzieht, denn man kann nicht „in den Geist“ des anderen blicken, und auch sein Verhalten kann kein Indikator sein, weil es ja erst durch die (anderen verborgene) Absicht zur Handlung wird. Fatal ist hier, dass zwei Fragen begrifflich nicht voneinander unterschieden werden können: „Was ist dies für eine Handlung?“ (oder auch: Was ist eine Handlung?) und „Warum wird diese Handlung vollzogen?“.Wenn die Identität der Handlung über ihre Absicht bestimmt wird, die Absicht auf Gründe, d. h.Wünsche und Überzeugungen zurückgeführt wird, oder auch: ein Mittel seiner Zwecke ist, dann kann man unabhängig von der Kenntnis der Zwecke des Akteurs nicht sagen, was er tut. Denn was er tut, hängt in seiner Identität konstitutiv von seinen Zwecken ab. Macht er Feuerholz oder übt er einen seltsamen Rhythmus oder macht er ein Stück Eisen auf seltsame Art und Weise warm? Es scheint demnach so, als könnten wir niemals entscheiden, ob und was einer getan hat. Manche unterstellen deshalb, es sei die Interpretation des Verhaltens, die Sinn erzeuge. Aber eine Interpretation erzeugt keinen Sinn, sie setzt ihn voraus: Damit ich das Verhalten vernünftigerweise als Feuerholzmachen interpretieren kann, muss ich schon wissen, wie und warum-im-allgemeinen man Feuerholz macht, d. h. ich muss (zu einem gewissen Grade) selbst über die Fähigkeit und ihre Regeln und Normen der Ausführung verfügen (so dass ich bspw. auch Fehler erkennen kann), und d. h. wiederum: mir muss die (gemeinsame) Handlungsform vertraut sein. D.h. unter anderem: Ich kann im oder an einem Handlungsvollzug entscheiden, ob und in welchem Maße die Erfüllungsbedingungen der Handlungsform, die im Vollzug durch Betätigung eines Könnens aktualisiert wird, realisiert sind.

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Die Konsequenz ist, dass man die beiden Fragen unterscheiden muss: Man muss wissen, was getan wird, ehe man verstehen kann, warum es im konkreten Fall getan wird. Beschreibung (Was) und Erklärung (Warum) dürfen nicht in eins fallen. Diese Ordnung wird von der Standardtheorie der Handlung aus begrifflichen Gründen verletzt, denn das, was die Identität der Handlung bestimmt (ihre Absicht oder ihr Zweck), ist gerade das Element, welches die Handlung erklärt (sowohl kausal als auch durch Angabe eines Grundes), so dass unabhängig von ihrer Erklärung gar nicht bestimmt werden kann, was eine Handlung ist. Das führt notwendig in Konfusionen: Ob einer gehandelt hat, hängt dann unmittelbar davon ab, ob er die entsprechende Absicht gehabt hat und ob diese Absicht die Ursache seines Handelns war – beides im Standardmodell unentscheidbare Fragen. Das betrifft nun auch die Rationalität der Handlung: Eine Handlung kann als Mittel eines Zweckes nur rationalisiert werden, wenn man entsprechende Wünsche als deren Movens und Zweck unterstellt oder zuschreibt. Gewöhnlich ist das unproblematisch, wir tun das jeden Tag, aber wir können dies nur, weil wir unabhängig vom konkreten Tun und Lassen über gemeinsame Handlungsformen und entsprechende allgemeine Fähigkeiten verfügen, d. h. wir kennen Üblichkeiten und Verhaltensmuster, die in Form von „misch-kategorischen“ oder „semi-dispositionalen“ Aussagen ein Verhalten als diese oder jene Handlung benennen und zugleich partiell erklären. Wir verstehen eine Handlung, weil wir das Muster kennen, zu dem sie gehört (und ähnliche Muster, mithin ihre Form, wenigstens rudimentär praktizieren). Daher kennen wir übliche Routinen, deren übliche Resultate und allgemeine Motivlagen, etwa allgemeine Zwecke, die sich eine Person zu eigen machen kann, und auch Charaktertypen und deren Verhaltensmuster. Von der konkreten Person ist bei so charakterisierten allgemeinen Verhaltensmustern noch gar nicht die Rede. Im Standardmodell kann man über Handlungen aber nicht unabhängig vom konkreten Tun und Lassen sprechen, weil das Was der Handlung gerade über die (je konkreten) Absichten des Akteurs konstituiert werden soll. Aus demselben Grund kann im Standardmodell der Handlung auch nicht nach der Richtigkeit eines Handlungsvollzugs gefragt werden, weil man zu jedem Tun Absichten und Zwecke hinzupostulieren kann, in deren Lichte sie rational erscheint. Richtig ist, was immer mir richtig erscheint, und das heißt, das von ‚richtig‘ keine Rede sein kann (s. Wittgenstein, PU § 258). Oder, um mit Ryle zu sprechen: Die Kriterien des Standardmodells der Handlung sind nicht anwendbar, sie sind nicht geeignet, um im Bereich der Phänomene menschlichen Tuns und Lassens zu unterscheiden, weder einen richtigen von einem falschen, noch einen geschickten von einem ungeschickten, noch einen intelligenten von einem dummen Handlungsvollzug, letztlich eine Handlung nicht von einem bloßen Geschehen.

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Was hier also fehlt, ist die Unterscheidung der Was- von der Warum-Frage und ein tertium comparationis. Ryle unterscheidet, zumindest kann man das unterstellen, beide Fragen. Was ist eine Handlung? Die Ausübung eines Könnens. – Warum wird die Handlung vollzogen? Aus Gewohnheit, Neigung (einschließlich spezieller, zeitweiliger Motive), aufgrund bestimmter Charakterzüge oder wegen besonderer Umstände (die dann freilich keine Ursachen oder Auslöser des Verhaltens sind, sondern dessen Anlässe) (vgl. BG, S. 115 f.). Nach Ryle können wir das Verstehen von Handlungen und das Personenverstehen unterscheiden, die, auch wenn sie im konkreten Einzelfall ein Amalgam bilden, unter verschiedenen Kriterien stehen. „Wenn wir jemandem ein bestimmtes Motiv unterlegen, dann weisen wir auf das hin, was er gewöhnlich herbeizuführen oder zu erreichen sucht. Wenn wir jemandem dagegen eine bestimmte Fähigkeit zuschreiben, dann weisen wir auf die Methoden und die Wirksamkeit der Methoden hin, die er bei diesen Versuchen anwendet.“ (BG, S. 147)

11 Das „Was“ der Handlung ist nach Ryle dadurch bestimmt, dass sie ein durch eine Fähigkeit bestimmtes Verhaltensmuster aktualisiert. Eine Handlung ist die Aktualisierung einer Fähigkeit durch Anwendung (nicht: Erwägung und Artikulation) ihrer Regeln und Kriterien und wird mittels dispositionalen und semi-dispositionalen Ausdrücken beschrieben. Entsprechend wird die Handlung über die Fähigkeiten identifiziert, die sie instantiiert. Eine Pointe der Lehre Ryles ist nun, dass das Verstehen einer Handlung qua Ausübung einer Fähigkeit selbst eine Anwendung dieser Fähigkeit ist, wenngleich zum Verstehen einer Handlung nicht der gleiche Grad an Beherrschung der Fähigkeit notwendig ist. (s. BG, S. 67) Einen deutschen Satz kann nur verstehen, wer hinreichend gut Deutsch kann, die Eleganz eines Beweises wird nur der bewundern können, der in der Lage ist, Beweisschritte nachzuvollziehen. Wer nicht über ein Mindestmaß der Fähigkeit H verfügt,²⁵ kann auch Manifestationen der Fähigkeit H, also Handlungen Hn nicht verstehen. Wenn eine Handlung nicht ohne Bezug auf die Fähigkeit, die sie aktualisiert, identifiziert werden kann, dann stellt sich die Frage: Wie können Fähigkeiten identifiziert werden? Das Verstehen von Handlungen ist mit Blick auf ihre Identifikation als Handlung der Form H unabhängig von der Kenntnis der Absichten,

25 Das heißt manchmal nicht mehr, als die Form von H erkennen zu können – ich muss nicht Schlittschuhlaufen können, um es als solches zu identifizieren.

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Zwecke und Überzeugungen des Handelnden, demnach also keine Frage der Interpretation und Zuschreibung bestimmter geistiger Vorgänge oder Zustände. Der Bezugspunkt der Identifikation von Handlungen sind daher die gemeinsamen Handlungs- und Praxisformen einer Gemeinschaft.²⁶ Würden Fähigkeiten als individuelle Vermögen der Person, also nicht als etwas Allgemeines bzw. ohne Bezug auf objektive, und das heißt hier in erster Linie: gemeinsame und gemeinsam kontrollierte, Formen und Kriterien beschrieben, dann steckte Ryles Ansatz in Schwierigkeiten ähnlich denen der Standardtheorie der Handlung. Es gäbe dann keine Kriterien für Fehler, Irrtümer etc., weder in der Ausführung einer Handlung, noch in deren Zuschreibung, es gäbe keinen Unterscheid von H tun und glauben, H zu tun. Die individuell gedachte Fähigkeit selbst kann diesen Unterschied nicht ausmachen, ihre Ausübung kann ja fehlschlagen, und denken wir sie als reflektierte Fähigkeit, dann läuft die private Reflexion ohne Bezug auf etwas öffentliches Allgemeines ins Leere. Die Möglichkeit des Fehlers (und seiner Korrektur) ist aber die Signatur des Normativen, und dies ist Handlungen als Ausübung von Fähigkeiten als ein wesentliches Charakteristikum eingeschrieben. Deshalb muss man unterscheiden zwischen dem Träger einer Fähigkeit – das ist das Individuum, und dem Gehalt einer Fähigkeit, der Form der Tätigkeit, die durch öffentliche Kriterien der Praxis bestimmt wird, welche die Ausübung dieser Fähigkeit ist. Man kann Handlungsrichtigkeit wie Aristoteles bestimmen: Richtig ist eine Handlung dann, wenn sie so ist, wie und wo sie ein Verständiger ausführen würde. Zu erläutern ist dabei aber, wer als Verständiger zählt. Ryle und Aristoteles machen das nicht explizit, aber es liegt auf der Hand, das zumindest Ryle für das, was er „intelligentes Verhalten“ nennt, kollektive Richtigkeitsbewertungen gemäß etablierter Handlungsweisen im Auge hat. Folgt man der Annahme, dass Fähigkeiten von öffentlichen Praxen und Handlungsformen abhängen, dann wird auch klarer, wie es möglich ist, dass die gleiche Fähigkeit aus unterschiedlichen Motiven ausgeübt werden und die gleiche Handlung unterschiedlichen Zwecken dienen kann, was es heißt, dass eine Handlung fehlschlägt etc., was im Standardmodell, welches Handlungen per Absicht oder Zweck identifiziert, ein Rätsel bleiben muss. Das Standardmodell lässt grundsätzlich jede noch so bizarre Deutung eines Handlungsvollzugs zu, denn man kann die Absichten einer Handlung nur raten, und im Grunde nicht einmal das, weil es beim Raten gewöhnlich unabhängige Kriterien der richtigen

26 Diese reichen über eine bestimmte Gemeinschaft hinaus, soweit beliebige menschliche Gemeinschaften bestimmte Fähigkeiten ihrer Mitglieder gleichermaßen voraussetzen. Mit Wittgenstein könnte man hier von der Gemeinsamkeit einer Lebensform sprechen.

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Lösung gibt, die es nach dem Standardmodell gerade nicht geben kann, denn der Geist ist nach diesem Modell privat. Dass wir Fähigkeiten nach gemeinsamen Kriterien identifizieren können, schließt nicht aus, dass diese Kriterien mitunter nur schwer anzuwenden sind, bspw. kann sich jemand verstellen. Aber sie anzuwenden, ist nun keine begriffliche Unmöglichkeit mehr wie im Standardmodell der Handlung, sondern eine empirische Schwierigkeit. Sich-Verstellen ist eine höherstufige Fähigkeit, und auch bei dieser kann man sich, wie man weiß, geschickt oder ungeschickt anstellen. Dass eine plumpe Lüge leicht aufgedeckt werden kann, während eine geschickte Täuschung schwer aufzudecken ist und eine erfolgreiche unentdeckt bleibt, ist eine Tautologie und besagt nichts über die Privatheit des Geistes. (vgl. BG, S. 234)

12 Man kann daher annehmen, dass Ryle Fähigkeiten durchaus im hier genannten Sinne versteht, nämlich als ihrem Gehalt nach grundsätzlich kollektiv verfasste Vermögen i.S. der Beherrschung von Handlungs- und Praxisformen, als Anwendung grundsätzlich öffentlicher Verfahren, Methoden und Kriterien. Das lässt sich erstens damit stützen, dass Ryle die Annahme der Privatheit geistiger Vorgänge als eine unmittelbare Folge des paramechanischen Mythos liest, zweitens damit, dass er die Behauptung eines privilegierten Zugangs der ersten Person zu ihren geistigen Zuständen ebenfalls als einen Mythos ablehnt. Die Annahme der Autorität der ersten Person mit Blick auf ihre geistigen Zustände kann nach Ryle geradezu als ein Indikator für die „paramechanischen“ Annahmen gelten. Drittens macht Ryle geltend, dass Fähigkeiten durch geeignete Methoden der Unterrichtung weitergegeben werden. Wie schon oben gesagt: Es ist einem Können wesentlich, dass es durch Lernen erworben wird. Wir lernen eine Fähigkeit identifizieren, indem wir lernen, sie in verschiedenen Situationen und bei verschiedenen Gelegenheiten auszuüben. Der Mechanismus der sozialen Vererbung von Fähigkeiten sorgt für deren Allgemeinheit und Stabilität. Er schafft das gemeinsame Maß und damit objektive Kriterien des Verstehens von Handlungen. Die zentrale Säule der für den Menschen spezifischen kulturellen Vererbung ist zwar das Vermögen, durch Imitation zu lernen, d. h. vorgefundene Formen der Handlungsausführung zur Erreichung eines bestimmten Zieles zu imitieren (s. Tomasello 2002). Ihre zweite Säule ist jedoch das ebenfalls spezifisch menschliche Lernen durch Unterweisung, dessen wesentliches Verfahren zum Erwerb von Fähigkeiten und damit zugleich zur Tradierung, Stabilisierung und Objektivierung von Handlungsformen, laut Ryle (nach unserer

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Lesart) die „didaktische Rede“ ist. Diese vermittelt, im Unterschied zu anderen, in ihrem Sinn situationsgebundenen Formen der Rede (etwa dem Plaudern oder höflicher Konversation), weitgehend kontextfrei invariantes Wissen, und zwar auf eine Weise, die es reproduzierbar und in verschiedenen (nichtdidaktischen) Situationen anwendbar macht. Didaktische Diskurse sind eine Möglichkeitsbedingung des Lehrens und Lernens allgemeiner Formen und der diese Formen realisierenden Fähigkeiten. Didaktische Rede reproduziert Theorie. Theorie ist die (kanonische) Darstellung der „Ergebnisse jeder Art von systematischer Untersuchung“ (BG, S. 395) – worunter nach Ryle nicht nur die klassischen wissenschaftlichen Theorien fallen, sondern auch die bescheidene theoretische Untersuchung der Hausfrau, ob der Teppich ins Zimmer passt (s. BG, S. 395).Wozu dient der Theorieerwerb? Er bereitet auf eine Reihe von Aufgaben vor – wer über eine Theorie verfügt, kann bestimmte Dinge tun: z. B. die Planetenbewegung vorhersagen oder ein Zimmer ausmessen und einen passenden Teppich heraussuchen. „Eine Theorie oder einen Plan haben heißt: bereit sein, sie mitzuteilen oder anzuwenden, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Die Arbeit des Aufstellens von Theorien oder Plänen ist die Arbeit, sich in diesen Zustand der Bereitschaft zu versetzen.“ (BG, S. 392) – was nun wiederum nicht heißt, sich die Sätze der Theorie vor jedem Schritt innerlich vorzusagen, sondern bspw. Anwendungsfälle zu erkennen, die Theorie unter verschiedenen Umständen anwenden zu können, mit Schwierigkeiten fertig zu werden etc. Theorie ist die Domäne des Verstandes oder Intellekts, oder wie man auch sagen könnte: der Rationalität, ihr Medium ist die didaktische Rede. Deshalb verknüpft Ryle Intellekt und didaktischen Diskurs – intellektuelle Fähigkeiten sind solche, die eine Schulung mittels didaktischer Diskurse voraussetzen. Didaktische Rede ist eine spezifische Redegattung, und wenn man sie untersucht, erfährt man etwas darüber, was eigentlich Intellekt genannt werden kann. Ein erstes Merkmal didaktischer Rede ist, dass sie im Unterschied zur Plauderei darauf zielt, dass ihre Gehalte im Gedächtnis behalten, nachgeahmt und eingeübt werden – der Schüler soll das, was ihm gelehrt wird, auch später noch zu tun imstande sein (BG, S. 425 f.) Didaktische Rede ist unpersönlich und unzeitlich in dem Sinne, dass es gleichgültig ist, wer sie wem wann vorträgt. So ist zwar die Gelegenheit zu einer schlagfertigen Erwiderung im nächsten Augenblick vorbei (was jeder weiß, dem auf der Treppe einfällt,was er hätte sagen sollen), die versäumte Lateinstunde über den Konjunktiv kann dagegen nachgeholt werden. (s. BG, S. 427) Im Unterschied zur Unterweisung durch Demonstration und Beispiel ist didaktische Rede genau wegen dieser Invarianz und Insensitivität gegenüber konkreten Situationen und Personen dazu geeignet, Theorien (d. h. die Ergebnisse systematischer Untersuchungen) aufzubewahren und weiterzugeben. Unterweisungen in Form di-

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daktischer Rede können „gesammelt, zusammengestellt, verglichen, untersucht und kritisiert werden.“ (BG, S. 426) – d. h. das, was man üblicherweise unter Rationalität und entsprechenden intellektuellen Tätigkeiten, unter „giving and asking for reasons“,versteht, ist an die Form didaktischer Rede gebunden, und das erstreckt sich nun auch auf Demonstrationen und Beispiele zur Unterweisung und Einübung, die nämlich erst im Lichte eines Allgemeinen überhaupt kritisierbar sind. Die didaktische Rede als Darstellungsform von Theorien erfasst gerade durch Abstraktion von konkreten Anwendungen und unmittelbaren Handlungserfordernissen deren Formen und ihre Erfüllungsbedingungen in idealer Weise. Gerade das macht diese Formen bei hinreichender Beherrschung in neuen Situationen anwendbar, und zugleich sichert sie die Stabilität von Formen gegenüber ihren potentiell unendlichen Aktualisierungen in einer Weise, wie dies individuelle Vermögen ohne öffentlichen Formbezug nicht könnten. Das Vermittlungsglied zwischen didaktischer Rede und intelligenter Fähigkeit ist nach Ryle die Möglichkeit der Selbststeuerung durch Vergegenwärtigung didaktischer Rede. „Didaktischer Einfluß kann nicht nur von einem Menschen auf einen anderen ausgeübt werden, sondern auch von einem Menschen auf sich selbst. Er kann sich trainieren, Dinge zu tun und zu sagen, die nicht bloß Echo der Worte sind, in denen das Training besteht.“ (BG, S. 428) Ich kann im Zweifel grammatische Regeln vorsagen oder eine Gebrauchsanweisung rekapitulieren und dabei Fortschritte in der Ausübung der Fähigkeit machen. Manche Unterweisungen sind im Laufe vielfacher Wiederholungen von Abläufen so selbstverständlich geworden, dass ihr Ursprung in didaktischer Rede der Eltern oder der Lehrer nicht mehr gegenwärtig ist: Dann hört man ggf. die Stimme der Vernunft oder der Moral. Aber dann müsste man auch sagen, dass man, wenn man bspw. Regeln der lateinischen Grammatik rekapituliert, die „Stimme der lateinischen Grammatik“ hört. „Aber in diesem Fall wäre die Herkunft der Stimme zu offensichtlich, als daß jemand vollen Ernstes die ursprüngliche Quelle seiner grammatikalischen Bedenken als Diktate eines engelsgleichen inneren Philologen ansprechen könnte.“ (BG, S. 433) Was als innere Stimme erscheint, ist eine Manifestation gemeinsam kontrollierter Regeln und Kriterien resp. Praxis- und Handlungsformen in Form didaktischer Rede. Aber warum kann dies als „Stimme der Vernunft“ angesprochen werden? Und was sollte rational daran sein, dieser Stimme zu folgen, d. h. seine Handlungsvollzüge an den Regeln und Kriterien einer Praxis auszurichten? Oder anders: Warum sollte man didaktische Rede als vernünftige Rede begreifen? Inwiefern können Fähigkeiten, die aufgrund oder jedenfalls nicht ohne didaktische Unterweisung erworben wurden, als vernünftige Fähigkeiten angesprochen werden? Ryle beantwortet diese Frage unter Verweis auf den Vorrang des Intellekts in der Kultur (BG, S. 431), der jedwede komplexere Fähigkeit und Praxis prägt. Intellekt

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ist geschulter Intellekt (BG, S. 431), und das macht seine Vernünftigkeit aus. Aber nicht alles, was in didaktischer Rede vorgetragen wird, muss auch vernünftig sein, denn es gibt auch konfuse Theorien und bizarre Regeln. Hier stellt sich erneut die Frage des verkappten Behaviorismus Ryles: Was macht eine Fähigkeit zur intelligenten statt zur bloß ankonditionierten und internalisierten Fähigkeit? Die bloße Anwendung von Regeln und Kriterien genügt nicht, weil diese bloß willkürlich oder kontingent sein könnten. Man kann die Frage also auch so stellen: Was verhindert, wenigstens tendenziell, die bloße Willkür didaktischer Rede? Ryle sagt es nicht, aber in Anschluss an Ryle könnte man sagen: Es ist die Form der didaktischen Rede selbst. Denn der Mechanismus der Weitergabe, Idealisierung, Stabilisierung und Tradierung durch didaktische Rede ist zugleich einer der Ersetzung willkürlicher oder bloß kontingenter durch begründete Formen. Unterweisungen in didaktischer Rede (als Darstellung allgemeinen, situations- und personeninvarianten Wissens aufgrund systematischer Untersuchungen) können gesammelt, systematisiert, untersucht, verglichen und kritisiert werden. „So können wir also sowohl das lernen,was unsere Großväter unsere Väter lehrten,wie auch das, was unsere Väter den ihnen beigebrachten Lehren hinzufügten oder an ihnen abänderten. Die eigenen Entdeckungen, durch die sie ihre Lehranweisungen verbesserten, können in den Schulungsprozess ihrer Söhne einbezogen werden, denn es bedarf keines Genies, das zu erlernen, was nur ein Genie erfinden konnte. Intellektueller Fortschritt ist gerade darum möglich, weil man die Unreifen das lehren kann, was nur die Reifen entdecken konnten.“ (BG, S. 426)²⁷ Wenn man unterstellt, dass das Gegenstück zu vernünftigen Regeln willkürliche oder zufällige Festlegungen sind, dann sorgt der Mechanismus der kulturellen Vererbung mittels didaktischer Rede dafür, dass tendenziell das tradiert wird, was sich im Lebensvollzug bewährt, wofür es also Gründe statt Ursprünge gibt. Der Mechanismus der Unterweisung durch didaktische Rede ist zugleich ein Ausleseverfahren für Handlungsformen. Damit ist die Orientierung an tradierten Handlungsformen prima facie jedenfalls nicht unvernünftig, was nicht gegen Kritik und Verbesserungen spricht. Denn grundsätzlich steht jede Disposition zur Disposition (wenn auch nicht alle jederzeit und zugleich) – und gerade das macht den Unterschied menschlichen Benehmens aus. Solche Veränderungen können freilich nicht aus dem Nichts kommen, sondern setzen ein Verständnis der Praxen (und damit die Fähigkeit zur Teilnahme an diesen) voraus. Unterstellt man mit Ryle, dass viele, jedenfalls die

27 Diese Einsicht spielt in den neueren anthropologischen Diskussionen eine wichtige Rolle. M. Tomasello nennt den von Ryle beschriebenen, durch Vorfahren vermittelten Zuwachs an Denk- und Handlungsmöglichkeiten den „Wagenhebereffekt“ der kumulativen kulturellen Evolution (vgl. Tomasello 2002, S. 15 und passim).

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komplexeren, menschlichen Fähigkeiten Lernen durch didaktische Unterweisung voraussetzen, dann kann er zurecht vom Vorrang des Intellekts sprechen – ohne sich zu widersprechen und insbesondere ohne in Konflikt mit seiner Kritik an der intellektualistischen Legende zu geraten. Die Behauptung vom Vorrang des Intellekts ist eine These über das, was menschliche Kultur ausmacht, und der Intellekt hat im konkreten Handlungsvollzug insofern Vorrang, als es tradierte intellektuelle Leistungen sind, die Handlungsformen ausmachen und den Gehalt der zugehörigen Fähigkeiten bilden. Die Arbeit des Intellekts, die wesentlich in systematischen Untersuchungen und der Artikulation der Ergebnisse in didaktischer Rede besteht, ist insofern die Substanz der Kultur, sie ist „Voraussetzung aller außer der primitivsten Beschäftigungen und Interessen. Jedes fortgeschrittene Handwerk, Spiel und Unternehmen, jede fortgeschrittene Unterhaltung, Organisation oder Industrie geht notwendig über den Verstand eines ungeschulten Wilden hinaus, sonst würden wir sie nicht als ‚fortgeschritten‘ bezeichnen.“ (BG, S. 434) Vernunft und Rationalität, so könnte man sagen, existieren damit in den gemeinsamen Formen unserer Handlungen, sie bestehen in der Gesamtheit der gemeinsamen Handlungs- und Denkmöglichkeiten (dem objektiven Geist) zusammen mit den gemeinsam kontrollierten Verfahren ihrer Tradierung und Veränderung mithilfe didaktischer Diskurse. Vernunft und Rationalität sind daher keine bloß individuellen Vermögen, keine privaten Vorgänge oder Zustände im Geiste der Person.²⁸

13 Ausblick In diesem Aufsatz wurden einige Aspekte der (z.T. nur latenten) Kritik Ryles am Standardmodell der Handlung diskutiert und versucht, deren Lücken mittels formtheoretischer Begriffe zu schließen und so eine Alternative zur behavioristischen Deutung Ryles auszuweisen. Offengelassen wurde dabei die Frage der Handlungserklärung in dem Sinn, in dem die Beschreibung einer Handlung (als Aktualisierung einer Fähigkeit und Instantiierung einer Form) nicht als deren Erklärung gelten kann. Es gibt keine Handlung ohne Subjekt, also bedarf deren vollständiges Verständnis, auch nach Ryle, eines Bezugs auf das Handlungssubjekt, sein Wollen, seine Gründe, seine Neigungen etc. Man könnte sagen, dass

28 Man könnte einwenden: Sind sie doch, nämlich als Fähigkeit zur Kritik an bestehenden Praxen und Institutionen. Diese Einwand verkennt, dass auch die genialste Eingebung tradiert werden muss, ehe sie in den Korpus der gemeinsamen Denk- und Handlungsformen eingehen und damit Handlungen orientieren kann. Das schließt ein, dass andere Menschen diese Eingebung als vernünftig anerkennen müssen, sonst bleibt sie folgenlos.

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der Verweis auf Fähigkeiten (und damit Handlungsformen) eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Handlung benennt, sofern der Bezug auf eine Handlungsform und die ihr entsprechenden Fähigkeiten zwar verständlich macht, um was für eine Handlung es überhaupt geht, welches Handlungsmuster in einer Handlungsepisode realisiert wird, was genau also zu erklären ist. Aber angesichts der Tatsache, dass eine Fähigkeit nach Belieben ausgeübt werden kann, bleibt offen, warum oder aus welchem Grund sie wann und wo aktualisiert oder nicht aktualisiert wird. Die Antwort der Standardtheorie ist der Verweis auf Wünsche (desires) als (motivationale) Ursachen des Handelns. Diese Antwort wird von Ryle einer fundamentalen Kritik unterworfen. Zentral ist dabei die Kritik daran, a) Motivation als einen Vorgang oder Zustand zu verstehen, der auf immer gleiche Weise Handlungen bewirkt (Stichwort: Wunsch-Theorie des Wollens, Lust oder Begehren als Zentralbegriff – dagegen setzt Ryle eine Vielzahl von möglichen Handlungsgründen, die sich der Erfassung durch Zweck-Mittel-Beziehungen entziehen), b) diesen Vorgang oder Zustand als privaten Vorgang oder Zustand im Geiste zu verstehen (Zurückweisung der Privatheit nicht nur der Wünsche und Affekte, sondern sämtlicher Neigungen), c) überhaupt besondere Vorgänge oder Ereignisse der Motivation (Gemütsbewegungen) als Ursachen des Handelns anzunehmen. Wir finden auch hier die Kritik daran, Dispositionsbegriffe wie Motiv, Charakter, Neigung als verborgene Vorgänge zu deuten. Insbesondere aber greift Ryle die Vorstellung an, dass Neigungen auf Gefühle zurückgeführt werden könnten – vielmehr setzen Gefühle Neigungen voraus. An dieser Kritik ist wichtig, dass sie an der stärksten Bastion der paramechanischen Theorie ansetzt, denn es scheint natürlich, Wünsche und Gefühle als das Privateste überhaupt anzusehen. Diese Kritik und ihre systematischen Konsequenzen auszuloten, muss aber einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben.

Siglen BG = Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes.

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Christoph Hubig

Techniken der Subjektivierung Bemerkungen zur aktuellen Debatte im Ausgang von Hegel Wesentlich unter dem Eindruck der letzten Vorlesungen von Michel Foucault, seiner Direktive einer „Ersetzung der Theorie des Subjekts oder der Geschichte der Subjektivität durch die historische Analyse der Pragmatik des Selbst“ (Foucault 1982/2009, 18) sind in der gegenwärtigen Forschungslandschaft zahlreiche Aktivitäten (Graduiertenkollegs, Projekte, Tagungen, Monographien und Abhandlungen) der Freilegung sogenannter Techniken der Subjektivierung, Technologien des Selbst, Strategien und Formen (Erziehung, Bildung, Training, Prüfung, Test) der Konstitution unserer Individualität, Leiblichkeit, Sozialität/Rollenwahrnehmung gewidmet. Insbesondere im Felde theoretisch ambitionierter Sozialwissenschaften und philosophischer Argumentationslinien poststrukturalistischer Provenienz werden diese Fragen auf der Folie einer Konzeptualisierung und Analyse von „Praktiken“ (u. a. Schatzki 2002, Reckwitz 2006) und „Macht“ diskutiert. Dabei werden freilich Defizite an grundbegrifflicher Klärung und terminologische Vagheiten ersichtlich, die durch eine seltsame Kombination von metaphorischer Rede einerseits und aus anderen Kontexten ausgeborgter Fachterminologie andererseits verdeckt werden. Deren Modellierungsleistung, aber auch deren Problemhypothek, scheint in den Hintergrund zu treten, was aber nicht heißt, dass die Probleme überwunden wären. Dies betrifft insbesondere die Leitdifferenzen, unter denen der Status des „Selbst“ (Subjekt/Objekt), der „Praktiken“ (intentionalistisch oder non-intentionalistisch), der „Macht“ (Wirkungsmodell oder Relationenmodell), der Techniken (instrumentell oder medial) und der Subjektivierung (konstitutiv oder als (begriffene) Vollzugsform) verhandelt wird. Die nachfolgenden Bemerkungen sind als kleiner Beitrag zu dieser komplexen Diskussionslage gedacht, der (1) nach einer kurzen Rekonstruktion des Problemfeldes (2) mit Blick auf die traditionelle Technikphilosophie die sich von dort fortschreibende Problemhypothek benennt, um auf dieser Folie (3) Erträge der Reflexion im Ausgang von Hegel erneut geltend zu machen, welche schließlich (4) sowohl einige Defizite der poststrukturalistischen Diskussion erhellen können als auch Lösungsstrategien als aussichtsreich auszuzeichnen erlauben, für die m. E. insbesondere die Untersuchungen von Joseph Rouse (1987, 2002, 2007) stehen.

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1 Problemhorizont Titel wie „Techniken der Subjektivierung“ eröffnen zunächst zwei mögliche Lesarten: diejenige eines genitivus objectivus oder eines genitivus subjectivus. Verstanden als genitivus objectivus kann es darum gehen, wie ein Objekt (Mensch) zum Subjekt gemacht wird, einen Status als „Subjekt“ erhält (z. B. durch Erziehung, Abrichtung, Rollenzuweisung), sodass es zum Adressat und der Referenz einer Rede vom „Subjekt“, etwa der Verantwortlichkeit für eine Funktionserfüllung, wird. Oder es kann gemeint sein, dass ein Objekt zum Subjekt „erweckt“ wird, in einen Subjektstatus überführt wird, als Träger freier Autorschaft, der dazu gebracht werden soll (z. B. im Modus von „Bildung“), sich zu gegebenen (objektiven) Verhältnissen in ein Verhältnis zu setzen. Einschlägige Techniken treten dann als Techniken einer Inszenierung auf, die sozusagen Katalysatorfunktion hat, bestimmte Potenziale einer Subjektwerdung zu aktualisieren (wie es z. B. der „Anti-Erziehungsroman“ „Titan“ von Jean Paul vorführt). Liest man hingegen den Titel im Sinne eines genitivus subjectivus, so kann entweder gemeint sein, dass ein wie immer geartetes Subjekt einer Technik sich vermittels solcherlei Technik als etwas objektiviert, sich zum Gegenstand einer Selbstbezugnahme macht und bearbeitet. Oder es kann gemeint sein, dass Technik oder Techniken „ohne strategisches Subjekt“ (Foucault 1978, 125) sich irgendwie im „Subjekt“ objektivieren, verwirklichen. Ein solcher „praxeologischer Subjektbegriff“ (Saar 2007, Kap. 6) wurde paradigmatisch für die Forschungsrichtung einer Freilegung von „Praktiken“. Im ersten Fall (mit seinen beiden Spielarten) geht es also um einen transitiven Prozess, der uns auf die alte Frage führt: Wie kann ein Objekt zum Subjekt (gemacht) werden? Im zweiten Fall geht es um einen reflexiven Prozess des Sich-zumSubjekt-Machens entweder unter freier Autorschaft oder im (noch zu klärenden) Vollzug unter oder mit technischen Determinanten. Hier finden wir die alte Frage, inwiefern sich ein Subjekt „objektivieren“ könne, ohne sich als Subjekt „zu verlieren“. Formulierungen aus der Praktiken-Forschung, dass wir hier zwei Seiten einer Medaille hätten, sich beide Prozesse überlagern, bedingen, vermischen, ein Spannungsfeld darstellten etc. markieren eher Klärungsbedarf. „Unterscheiden“ bedeutet ja nicht „trennen“. Quer zu dieser Unterscheidung mit ihren vier Bestimmungsoptionen liegt diejenige, ob wir danach fragen, wie wirkliche Prozesse der Subjektwerdung stattfinden und erklärt werden können, oder danach, was es heißt, etwas oder sich als Subjekt zu begreifen bzw. begreifen zu können. Antworten aus der einen Fragerichtung können solche der anderen durchaus destruieren oder die Suche auf „Vermittlungen“ beider lenken, etwa in Unterstellung eines Modalitätsgefälles, wobei dann strittig wird, in welchem Feld die Möglichkeit der Aktualisierung

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des anderen zu verorten ist (vulgär: Idealismus oder Materialismus). Brisant wird diese Frageebene, wenn sie unter einem „praxeologischen“ Begriff vom Subjekt, dessen Techniken nicht als solche eines vorgängigen Subjekts (individuell oder institutionell) zu denken wären, verabschiedet werden soll. Schließlich findet sich ein weiteres Unterscheidungsangebot, welches sich kreuzklassifikatorisch zu den bisher erwähnten Unterscheidungsmöglichkeiten verhält: Die Frage, ob „Technik“ als Inbegriff hergestellter Mittel zur Zeitigung eines Effektes instrumentalistisch modelliert wird; das Spezifikum technischer Vollzüge läge dann in der Artifizialität der eingesetzten Mittel. Oder ob Technik medial begriffen wird, als (durch technische Operationen des Wandeln, Speicherns und Transportierens, also der Überformung natürlicher Medien) hergestellter Möglichkeitsraum des Handelns, der die Wiederholbarkeit, Planbarkeit und Antizipierbarkeit instrumenteller Vollzüge gewährleisten soll, ihr Gelingen ermöglicht und dabei andere Vollzugsoptionen ausschließt. „Determination“ vermittels oder durch Technik gewinnt dann einen jeweils anderen Status bzw. die Frage nach ihrem (Quasi‐) Subjekt- oder Objektcharakter der Verwirklichung oder Ermöglichung wird in ganz unterschiedlicher Weise problematisch. Kontrastiv zum bisher (unvollständig) entwickelten Problemhorizont soll nun zunächst auf einige Argumentationslinien aus der traditionellen Technikphilosophie rekurriert werden, die, bedingt durch ihre unterkomplexe Problemsicht, mehr Fragen aufwerfen als beantworten.

2 Techniken der Subjektivierung in der klassischen Technikphilosophie Überblickt man die Ansätze traditionaler Technikphilosophie, ergibt sich ein eigentümlicher Befund: „Techniken der Subjektivierung“ werden in breiter Linie im Rahmen kulturpessimistischer Ansätze unter Titeln wie „Zivilisierung“ oder „Kultivierung“ thematisiert und in der Regel als funktional bestimmte Sekundärphänomene technischer Naturbeherrschung erachtet, als funktional notwendige Bedingung eines Erfolgs realtechnischer Strategien im Umgang mit den Gefahren und Gaben/Ressourcen der äußeren Natur. Rollenwahrnehmung in der Arbeitsteilung, Unterwerfung unter die „Sachlogik“ technischer Prozesse und die Nutzung erarbeiteter Gratifikationen unter Amortisationsdruck erfordern eine Disziplinierung spontaner und „kontingenter“ Affekte, Leidenschaften, Gefühlslagen, die ansonsten dem Leitbild der Technik (Wiederholbarkeit, Erwartbarkeit, Planbarkeit unter steigender Effizienz und Effektivität) entgegenstünden. Entsprechende Strategien der Domestizierung, durchweg negativ konnotiert, werden,

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ohne dass explizit von „Technik“ die Rede ist, in der Regel im Felde der Sozialtechniken und bestimmter Intellektualtechniken verortet, einschließlich der dort angelegten Mechanismen zu einem periodisch und ventilartig geplanten (und damit lizensierten) Ausbruch von Affekten in den vorgesehenen Nischen der Freizeit- und Konsumkultur (Freyer 1955, Anders 1956, Arendt 1958 u. a.). Paradigmatisch hierfür ist die Figur des sich selbst fesselnden Odysseus (Sirenen), des prominenten Technites mit seiner der List geschuldeten Unterwerfung unter Regeln des Benennens (Polyphem), des Tausches (Kirke), der Beobachtung und Kontrolle (Lotophagen) und der Analyse (Hades) (Adorno/Horkheimer 1947). Daneben finden sich Gedanken zur technomorphen Konstitution einer Vorstellung vom Subjektstatus, wenn z. B. das Zustandekommen von Vorstellungen über Organfunktionen und die Möglichkeit ihrer Aktualisierung als Mittel gewonnen wird über die „Intellektualtechnik“ der Rückprojektion beobachteter Wirkungsmechanismen äußerer Natur oder technischer Verfasstheiten auf unsere innere Natur (Kapp 1877). Der einzige ausgearbeitete Versuch einer Klassifikation mit einer Einordnung einschlägiger Subjektivierungstechniken findet sich m. W. bei Friedrich von GottlOttlilienfeld, freilich ebenfalls unter dem obersten funktionalen Erfordernis einer „Emanzipation von den organischen Schranken der menschlichen Wirkungsmacht“ sowie der „Ausmerzung des Zufälligen“ (Gottl-Ottlilienfeld 1923, 183 f.). Im Ausgang von den bekannten drei Techniken der Athene fasst er Technik als „bevormundendes Handeln“: im Feld der Realtechnik als „Eingriff in die Außenwelt“, der Intellektualtechnik als „Eingriff in eine intellektuale Sachlage“, der Sozialtechnik als „Eingriff in die Beziehungen zwischen den Handelnden“ und schließlich der sogenannten Individualtechnik als „Eingriff in die seelisch-körperliche Verfassung des Handelnden“ (Mnemotechnik, Technik der Selbstbeherrschung, Leibesübungen etc.) (Gottl-Ottlilienfeld 1923, 9). Die Orientierung an den Aktivitäten der technischen Gründerfigur Athene, als Kopfgeburt des Zeus Sinnbild einer Technik als Gegennatur, ist unverkennbar: Athene als Mittlerin des Landbaus, des Webens, des Schiffbaus (Realtechnik), der Mathematik und Musik (Intellektualtechnik des zeichenvermittelten Umgangs mit mentalen Größen und Affekten/Pindar), der Einführung von Rechtssprechung und demokratischer Entscheidungsfindung (Sozialtechnik, s. Orestie) (hierzu Hubig 2006, Kap. 2.1). So etwas wie „Individualtechnik“, meint Gottl-Ottlilienfeld, sei hinzuzufügen. Freilich zeigt dieser Versuch deutliche Inkonsistenzen und wirft offene Fragen auf: Gerade im Rückblick auf die mythischen Aktivitäten der Athene wird die kategoriale Inhomogenität der Einteilung deutlich. Denn innerhalb der „Gattung“ der Individualtechnik sind notwendigerweise Real-, Intellektual- und Sozialtechniken in Anschlag zu bringen. Dies betrifft zum einen Verfahren der Intellektualtechnik einer Zeichenverwendung, die uns allererst in die Lage versetzt, in

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ein Verhältnis zu individuellen mentalen/affektiven Verfasstheiten zu treten, die hierfür einer Repräsentation bedürfen, für die entsprechende Zeichen und deren materiale Träger (Realtechnik) erforderlich sind. Ferner bedarf Individualtechnik einer Sozialtechnik, über die – jenseits einer erynnienhaften Triebsteuerung – Ebenen von Sinn und Bedeutung freigelegt werden, deren Geltung über geteilte Anerkennung allererst stabilisierbar ist. Und schließlich ist ein „bevormundendes Handeln“ als „Eingriff in die seelisch-körperliche Verfassung des Handelnden“ in der Regel nur über die Fähigkeit eines Umgangs mit für diesbezügliche Zwecke entwickelten Artefakten möglich (Realtechnik), wie sie in den Kontroll- und Trainingsapparaten realisiert sind. Umgekehrt sind doch Intellektual- und Sozialtechnik in hohem Maße auch Eingriffe in die seelisch-körperliche Verfassung des Handelnden. Die Klassifikation nach Gebieten scheitert also, weil es sich nicht um eine Unterscheidung von Vollzugsweisen, sondern an Vollzugsweisen handelt. Ferner krankt jene Sichtweise daran, dass das „bevormundende Handeln“ offensichtlich als instrumentelles Handeln – „Eingriff“- erachtetet und in dieser Verkürzung der mediale Charakter von Technik als handlungsermöglichendes System ausgeblendet bleibt, wie er jedoch auch und gerade in den sinnbildlichen Techniken der Athene anzutreffen ist: Die Techniken des Landbaus, des Intellekts und der Regelung sozialer Auseinandersetzungen, wie sie Athene sinnbildlich eingeführt hat, dienen gerade dazu, den Gefahren der äußeren und inneren Natur durch die Regelungsleistung der Systeme zu begegnen. Sie ermöglichen jene steuernden Eingriffe, indem sie deren Gelingen „sichern“ (Heidegger 1962, 18, 27). Jene technische Medialität konstituiert allererst, was als „Außenwelt“, „intellektuale Sachlage“, oder „Beziehungen zwischen den Handelnden“ den Gegenstandsbereich eines möglichen „Eingriffs“ ausmacht. Dies führt zur letzten offenen Frage: Wer ist „(Quasi)-Subjekt“ jener Konstitution von Möglichkeitsräumen individuell-instrumentellen Agierens, bzw. wie lässt sich deren Konstitution ohne vorgängiges strategisches Subjekt denken? Naive Modellierungen eines Technikdeterminismus oder einer „Sachlogik“ verfehlen diese Problematik insofern, als entweder indisponible Mechanismen einer „Eigenlogik“ unterstellt werden müssen, unter denen nicht erklärt werden kann, wie unser Verhältnis zu diesen Mechanismen „hervorgebracht“ wird, oder, indem über mannigfache Vermittlungsprozesse doch irgendwelche Subjekte als Adressaten einer strategisch interessierten Autorschaft identifiziert werden (meist gefasst unter einem Kollektivsingular wie „die Technokraten „ oder „die Kapitaleigner“) dann aber die Frage offen bleibt, wie weit die Gestaltungskompetenz solcher ominöser Subjekte angesichts ihrer endlichen Verfasstheit reicht. (Die Frage nach Techniken eines „Selbst“ als Autorschaft oder Determinationsprodukt sollte auch nicht vorschnell unter Verweis auf Emergenzen oder Supervenienzen verabschiedet werden.)

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Sowohl im Ausgang von den diesbezüglichen Überlegungen Hegels als auch unter genauerer Durchleuchtung der Darlegungen von Foucault lässt sich, wie ich nachfolgend zeigen will, einiges zur Beantwortung dieser offenen Fragen beitragen.

3 Im Ausgang von Hegel In seiner Phänomenologie des Geistes (PhG) führt Hegel vor, wie der Geist eine Vorstellung und einen Begriff seiner selbst im Zuge der Herstellung seiner theoretischen und praktischen Weltverhältnisse gewinnt. Er erfährt sich und die Welt als Relata einer Bezugnahme, die als Resultat nicht einfach auf eine begriffliche Form gebracht werden kann: Denn auf ihren verschiedenen Stufen entstehen Irritationen aufgrund des jeweiligen Andersseinkönnens des jeweilig hergestellten Weltbezugs. Der Geist arbeitet sich daran ab, wie der Begriff (eines Weltverhältnisses) als Form eines Vollzuges, als Vollzugsform zu denken ist. Erscheinen die Relata (Subjekt – Welt) als Objektbereiche des Bezugs als Relation, so geht das Vollzughafte verloren. Es meldet sich als Irritation zu Wort: Im Felde sinnlicher Gewissheit durch die Kontingenz und das jeweilige Anderssein der Referenten einer Ostension (Dieser – Dieses); im Felde der Wahrnehmung, die diese Kontingenz zu regulieren sucht, indem sie Eigenschaften als „Eigenes schafft“, durch die Abhängigkeit von jeweils einnehmbaren Perspektiven; im Felde des Verstandes dadurch, dass sich dieser beim Versuch der Formierung als Modellierung von Gesetzen einem Pluralismus von Optionen ausgesetzt sieht, das „Spiel der Kräfte“ (sollizitierender und sollizitierter Kraft) unter jeweils eine begriffliche Form zu bringen angesichts einer rein theoretisch nicht gegebenen Unterscheidbarkeit zwischen Potenzial/passiver Kraft und Subjekt der Verwirklichung/aktiver Kraft. Auf diesen Stufen interventionistischer Naturerschließung bleibt das Objekt immer das Andere seiner subjektiven Erfassung, und mit diesem Wegfall des Relatums der Erkenntnis bleibt auch das Subjekt sein Anderes als immer AndersSein-Könnendes („inneres Ausland“, Thomé 1993). Im Modus des Erkennens können diese Bezüge nicht unter eine begriffliche Form gebracht werden. Auch der Versuch, ein Bewusstsein vom Subjekt als „Selbst“ dadurch zu privilegieren, dass im „Kampf“ das Andere als Gedachtes ausgemerzt wird („Tod“) oder umgekehrt das Denken zum Gedachten gemacht wird („Idealismus“ vs. „Realismus/Naturalismus“) führt nicht weiter. Denn mit dem Verlust eines der beiden Relata, des Denkens und des Gedachten, des Subjekts oder des Objekts, des Selbständigen oder des Unselbständigen, der Aktivität oder ihres Gegenstandes ist das jeweils andere Relatum destruiert (PhG 144 ff.). Der Versuch, das Erkenntnisdilemma dadurch aufzulösen, dass eine Unmittelbarkeit selbstgewisser

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Selbstbezüglichkeit unterstellt wird (Henrich 1982, 148) wurde als zirkulär oder dogmatisch kritisiert (u. a. Tugendhat 1989, 50 – 67 und Habermas 1981, 104 unter Berufung auf Mead 1968, 138; 182): Selbstbewusstsein sei nicht eine reflexive Erkenntnisrelation des Subjekts auf sich, sondern ein verstehender Bezug einer Person zu einer Proposition, die einen Zustand dieser Person abhängig von der Zuschreibbarkeit durch Dritte beschreibt. Dagegen ließ sich freilich einwenden, dass der Wahrmacher dieser Zuschreibung doch darin liege, dass das Subjekt („Ich“) die Zuschreibung („Er“) auf sich beziehen können muss, da es sich sonst um die schlichte Unterstellung eines intentionalen Zustandes handele (Henrich 1989, 102 f.), womit wir wieder beim Anfang wären. Abgesehen davon, dass an dieser Stelle der Phänomenologie ein Bewusstsein von Personen oder Individuen als Trägern von Bewusstsein noch gar nicht freigelegt ist (im Unterschied zu späteren Passagen s. u.), mithin diese „Dritten“ als Lösungsinstanz hier noch gar nicht aus dem Hut zu zaubern sind, ist die entstandene Aporie doch gerade darauf zurückzuführen, dass immer (noch) im Modus des Erkennens gedacht wird. Die Haltung nun, in der das Bewusstsein die Aporie einer begrifflichen Erfassung des Bezugs zwischen sich als Subjekt und sich als Objekt wahrnimmt und zugleich ernst nimmt, nennt Hegel diejenige der „Anerkennung“. Die beiden „Seiten“/„Momente“/„Gestalten“ des Bewusstseins sind nicht mehr auf den „Tod“ des Anderen aus, sondern vergewissern sich wechselseitig als ihrer notwendigen Bedingung. Da hier nicht eine Erkenntnis vollzogen wird, die einer begrifflichen Form eine Referenz zuweist, (das würde uns in die Problematik des Zirkels, des Dogmatismus, oder ggf. des unendlichen Regresses zurückführen), sondern eine (Neu)-orientierung des Vollzugs der Selbstbewusstwerdung, greift Hegel auf die orientierende Funktion von Metaphern zurück. Die „Herr“-Seite tritt als Instanz der Idee, Vorgabe des Anspruchs bei der Herstellung des Weltbezugs auf, konkreter: des Plans für das formierende Tun; die „Knecht“-Seite ist die Seite der (leiblichen) Realisierung dieses Anspruchs. Damit der Weltbezug nicht destruiert wird, muss gelten: „Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend“ (PhG 143), eben als notwendige Bedingung ihrer selbst. Hegel stellt dies in der Formulierung heraus, dass die eine Seite jeweils der anderen die „Mitte“ sei (ebd.). In seinem Sprachgebrauch ist dies gleichbedeutend mit seiner Verwendung des Begriffes „Medium“. Damit ist eine begriffliche Form freigelegt, die sich auf eine Möglichkeit bezieht, welche in konkreten Bezügen zu aktualisieren ist. (Hubig 2006, Kap. 5.1; 5.4) Dies geschieht, indem die Knecht-Seite sich unter dem „Plan“ der Herr-Seite an die Arbeit macht, das Dilemma der theoretischen Weltbezüge unter die Instanz praktischer Weltbezüge stellt im Modus der Anerkennung des Anspruchs solcher Weltbezüge (Herr), der als Anspruch darauf verwiesen ist, sich nicht darin zu begnügen (bloße Idee), sondern im Modus der Arbeit zu realisieren.

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Die beiden Seiten sind also Unterscheidungen am formierenden Tun als Einheit. Der Wahrmacher oder die Erfüllung dieser Form, die auf eine Möglichkeit referiert, ist die Arbeit unter dem Plan des Herrn. Wenn Hegel nun weiterhin die Herr-Seite als Träger der „Macht“ (PhG 146) charakterisiert, wird deutlich, dass es sich hier um ein modales Konzept der Macht handelt. Zu unterscheiden von ihren Aktualisierungsformen wie Herrschaft und Zwang verkörpert sie die Durchsetzungsmöglichkeit eines Anspruchs, für die sie der Knecht-Seite bedarf. Ihr Bezug auf den Gegenstand ist abstrakt, sie denkt die Form des Gegenstandes positiv („Dingheit“). Die Knecht-Seite wiederum erfährt unter der anerkannten Begierde des Herrn in der Arbeit die „Hemmung“ dieser Begierde, mithin die Form des Gegenstandes (ihrer Arbeit) als negative Beziehung (PhG 149). Diese negative Beziehung ist diejenige auf etwas „Selbständiges“, genauer: Der Selbständigkeit des Gegenstandes nach Maßgabe der Selbständigkeit des Arbeitenden (die beiden Seiten der „Hemmung“). Ergebnis der Arbeit ist – als Verhältnis/Differenz des Anspruches und seiner Erfüllung – die „Bildung“: Zum einen Bildung reflexiv als Erfahrung von Selbständigkeit (eigener und des Gegenstandes); zum anderen Bildung transitiv als Bildung eines „Werkes“.Würde sich die Knecht-Seite mit dem Werk identifizieren, hätte sie sich im Werk verloren – Selbständigkeit wäre nicht mehr bewusst. Ihre reflexive Bildung kann sie nur wahren, indem sie ihre Beziehung auf das Werk als negative Beziehung bewahrt. Dadurch wird sie zum „wahren Selbstbewusstsein“ als selbständigen Bewusstsein von Selbständigkeit (vgl. hierzu die Erläuterungen Stekeler-Weithofers 2005, 414 ff.). Für die Herr-Seite ist also die Knecht-Seite Mitte/Medium, welche den Bezug zwischen Idee und ihrer Erfüllung/Genuss vermittelt i. S. von ermöglicht. Für die Knecht-Seite ist die Herr-Seite Mitte/Medium, sofern sie Begierde ermöglicht, aber auch und gerade ist es die Arbeit, die den Bezug zwischen Begierde und Werk (welches noch nicht positiv bestimmt ist, sondern nur negativ nach Maßgabe überwundener Hemmung, also einer bestimmten Negation der Negation) vermittelt i. S. von ermöglicht. Das „formierende Tun“ ist also unter die begriffliche Vollzugsform der „Bildung“ gebracht, die um mit Josef König zu sprechen als „übergreifendes Allgemeines“ zu erachten ist, welches den Selbstunterschied zwischen Bildung (transitiv) und Hemmung (reflexiv) hervorbringt (König 1978, 34). Dieser Selbstunterschied lässt sich als Modalgefälle rekonstruieren (Hubig 2007, 14; 2010, 1646 f.). Die Frage einer positiven Bestimmung des Werks verfolgt Hegel im Kapitel „Das geistige Tierreich …“ weiter, bezogen zunächst auf eine positiv quantitative Bestimmung im Vergleich der Herr-Knecht-Seiten untereinander, wobei hier (und erstmals hier) unterschiedliche Individuen als Arbeitende eingeführt werden; und er verfolgt die Frage einer positiv qualitativen Möglichkeit der Charakterisierung von Werken im Kapitel über den „entfremdeten Geist“ und die „Bildung“.

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Das Ausgangsproblem für die Überlegungen im Kapitel „Das geistige Tierreich …“ ist folgendes: Wenngleich das knechtische Bewusstsein wahres „Selbstbewusstsein“ (PhG 147) ist, weil es im Medium der Arbeit (über die Ermöglichungsleistung des Medium „Herr“ hinaus) Selbständigkeit erfährt, so ist sein Begriff von sich als Vollzugsform noch defizitär: Denn es gilt: „… so wenig ist sie [seine Freiheit als Eigensinn] … allgemeines Bilden …, sondern [bloß] eine Geschicklichkeit, welches nur über Einiges, nicht über die allgemeine Macht und das ganze gegenständliche Wesen mächtig ist.“ (PhG 150) Das knechtische Bewusstsein muss, so betont Hegel, „unmittelbar“ (PhG 288) anfangen, unter Vorgaben (Interesse, Umstände, Talent, seine „ansichseiende Natur“ (PhG 288)); es ist also nicht irgendwie als vorgängiges Subjekt vorausgesetzt, was uns in die obigen Aporien zurückführen würde. Hegel betont explizit, dass es eben in einen „Zirkel“ führen müsse, wenn ein Bewusstsein von Zweck und Zwecksetzung vorausgesetzt würde, welches derlei „doch erst aus der Tat kennen lernt“ (ebd.). Es bleibt daher zunächst bei einem rein quantitativen Genießen des Sich als Ursache des Tuns, der Stärke der eigenen Natur, der Weite des Übergreifens, der Energie …, deren Zufälligkeit als Zufälligkeit erfahrbar wird im kompensatorischen „Hilfe leisten“ durch andere Knechte, die eine bessere Erfüllung der Ansprüche vorführen. Diese „Ehrlichkeit“ (gegenüber den Ansprüchen), die im zu Hilfe Kommen erscheint, wird jedoch zum „Betrug“, einer Unehrlichkeit dieser Ehrlichkeit: Denn im zu Hilfe Kommen verwirklichen sich die zu Hilfe Kommenden ihrerseits nur selbst in ihrer Individualität; erfahrbar wird mithin eine höherstufige Zufälligkeit. Das Werk würde nur dann zur begriffenen „geistigen Wesenheit“ (PhG 295), die „nicht der Ansicht unterliegt“, wenn nicht bloß seine zufällige Selbständigkeit als Gegenstand relativ zur Stärke des Arbeitenden aufgewiesen würde, sondern es vom Gegenstand zur „Sache“ selbst würde (durchaus im juristischen Sinne), also einer Beurteilung nach Maßgabe des Tuns Aller und Jeder (PhG 300) unterläge. Solcherlei würde erfordern, dass es nach Maßgabe eines gültigen anerkannten Gesetzes beurteilt würde, was voraussetzt, dass Anerkennung nicht individuell, sondern in der Domäne eines allgemeinen Selbstbewusstseins stattfindet. Die Wahrheit eines solchen Selbstbewusstseins ist nicht vorzuführen oder zu erfahren, sondern, wie Hegel explizit formuliert, „zu sprechen“ (PhG 303). Ein solches Sichaussprechen der Wahrheit wird angetroffen in den bestehenden Gesetzen, „geistigen Mächten“ als „daseiender Substanz“. Das Problem – analog zu den vorgängigen Irritationen des Andersseinkönnens – liegt darin, dass diese Gesetze nur individuell, nicht individuell-allgemein anerkannt sind.Wir sind konfrontiert mit einem Pluralismus der Anerkennung seitens der Gestalten des Bewusstseins, unter dem das „Gute“ oder das „Schlechte“ bezüglich Staatsmacht und Reichtum (als Handlungsmöglichkeit) als bloße „Prädikate“ (PhG 359) erscheinen, die in strategischer Absicht den Werken des Tuns Aller (als Sachen)

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zuschreibbar sind. Dieser Pluralismus lässt sich zwar im „Heroismus der Schmeichelei“ (PhG 364) überwinden: So kann sich das Ich als aufgeklärter Monarch (Herr-Seite) (PhG 365) oder als stolzer Vasall (Knecht-Seite) (PhG 361) als Träger der Macht als Idee,Vorgabe, oder als Träger der Realisierung der Macht qua Arbeit mit dem Abstrakt-Allgemeinen schlichtweg identifizieren. Die hierdurch gewonnene Individuation ist jedoch die einer bloßen Subsumtion (Person/Rolle). Der Geist ist „sich entfremdet“. Diese Entfremdung manifestiert sich in einer „Empörung über die Zerrissenheit“ (PhG 369 f.): Durch die Prädikation wird das Selbst zu etwas Gegenständlichem, die Persönlichkeit wird zur „Unpersönlichkeit“, dem anerkannten Selbst wird Gewalt angetan, indem seine Einheit „in spröde Seiten zersetzt ist“ (PhG 363) (die Seite des Subjekts der Prädikation und die Seite des Prädizierten, worin das Subjekt verschwindet). In ihrer Zerstörung „tritt jedoch die Einheit als Mitte hervor“ (ebd.) „ … deren einfaches Dasein, als Mitte, die Sprache ist“ (PhG 364). Offensichtlich soll dasjenige, was in „spröde Seiten“ aktualisiert und verwirklicht ist, sich irgendwie als Medium kundtun. Und nicht nur das: In diesem Kundtun manifestiert sich nun in grundlegenderer Hinsicht und in einem positiven Sinne „Bildung“ (die ja, so wie in „Herrschaft und Knechtschaft“ exponiert, bisher nur als negative Formbeziehung freigelegt war). Wie ist dies zu denken? Zunächst: Als abstrakt-allgemeines Selbst war dieses Selbst einseitig (= abstrakt) identifiziert mit Staatsmacht/Reichtum und tritt als ein bloß sprachlich verfasstes prädiziertes Selbst auf. Der Grund für die „Empörung“ erweist sich jedoch dahingehend als Grund, dass offensichtlich wird, dass Sprache als Mitte/ Medium zu ihrer Aktualisierung des sprechenden Ichs bedarf (PhG 376). „Ich“ ist jedoch kein Prädikat, so dass ersichtlich ist, dass Sprache als Mitte/Medium mehr ist und mehr Möglichkeiten bereit stellt als diejenige des Prädizierens. Als solche wird sie „von der Wirklichkeit der Seiten ausgeschlossen“ (PhG 363), also der Seiten allgemeiner Prädikationen (hier in Gestalt von Gesetzen) und der Seite einer individuellen Prädikation als Subsumtion. Sie erhält als Sprache (und nicht mehr als Sprache im Sinne eines Heroismus der Schmeichelei) „eigenes Dasein“ einen Status des „für sie“, nämlich die „spröden Seiten“. Für das Prädizierungsgeschehen im Allgemeinen und für die individuelle Prädikation wird Sprache nun eine Instanz, zu der sich die Prädizierenden in ein Verhältnis setzen können, in kritischer Absicht zur Sprache des Heroismus, in weiter konstruktiv prozessierender Absicht zur Sprache des Normativen überhaupt. Wenn letzteres Verhältnis nun nach der Architektur der Anerkennung realisiert wird, bedeutet dies, dass nicht eine bloße Identifikation mit normativen Vorgaben stattfindet, sondern ihr Charakter als Idee und Anspruch im Modus praktischer Vollzüge realisiert wird, die den Keim für die Erfahrung von Selbständigkeit als Widerständigkeit desjenigen, was praktiziert werden soll, als auch als Selbständigkeit desjenigen, der

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praktiziert, ausmachen. Die Verwirklichung dieses Prozesses mit ihren (zu erwartenden) Irritationen hat Hegel in den Kapiteln zur Moralität weiter verfolgt. Dies soll an dieser Stelle nicht mehr Thema sein; vielmehr ist angesichts des eingangs entfalteten Problemhorizonts zu fragen, was wir nun mit Hegel gewonnen haben. Zunächst sollte ersichtlich geworden sein, dass Hegel den drei Ebenen von möglichen Lesarten und Unterscheidungsoptionen des Titels „Techniken der Subjektivierung“ in ihrer Komplexität gerecht wird: Die Alternative einer Subjektivierung des Objektiven oder einer Objektivierung des Subjektiven stellt sich als solche nur dar für ein Erkennen, welches per se die entstehenden Aporien nicht auflösen kann. Als Alternative zu dieser Alternative wird das Konzept der Anerkennung eingeführt, welches zwei Seiten des menschlichen Bewusstseins gerecht wird, der praktisch-normierenden und der praktisch-arbeitenden. Die Relata des Weltbezugs (Subjekt – Objekt) erweisen sich als nicht deckungsgleich mit derjenigen einer Formbeziehung und des Bezogenen. Vielmehr macht das Verhältnis einer positiven zu einer negativen Formbeziehung dasjenige aus, was am formierenden Tun unterschieden werden kann und einen Begriff dieser Vollzugsform als Begriff von ihrem Medium in seiner Binnenstrukturierung ermöglicht. Elemente des Prozessualen sind dann die Aktualisierungen unter dieser Vollzugsform als Möglichkeit. Indem Hegel Arbeitsprozesse als „dazwischen geschobenes“ Mittel zwischen Subjekt und Gegenstand charakterisiert (eine Formulierung, die später von Marx wieder aufgenommen wurde, hierzu Hubig 2008) wird er der Technik und den Techniken als Medium gerecht. Zugleich weitet er den Begriff des Technischen angemessen aus, indem die Intellektualtechnik des Prädizierens als unabdingbar für arbeitende Vollzüge herausgestellt wird (dies zeigt sich auch in seiner Gleichsetzung des Mittelbegriffs mit dem technischen Mittel im technischen Syllogismus, wie er im Teleologie-Kapitel der Wissenschaft der Logik entwickelt ist – eine Überlegung, die Ernst Cassirer wieder aufgegriffen hat, s. hierzu Hubig 2006, Kap. 4.4). Damit ist ein Hintergrund bereitgestellt, auf dem nun die Entwicklung der Erforschung von „Praktiken des Selbst“ untersucht werden kann, zumal sich Foucault, der diese Entwicklung inspiriert hat,verschiedentlich lobend auf Hegel bezog, ohne diese Bezüge jedoch weiter zu substantiieren.

4 Techniken der Subjektivierung, Technologien des Selbst, Praktiken Michel Foucaults „historische Analyse der Pragmatik des Selbst“, die eine „Theorie des Subjekts oder der Geschichte der Subjektivität“ ersetzen soll (Fou-

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cault 1989/2009, 18), hat über die „praxeologischen“ Foucault-Deutungen die sozialwissenschaftliche Erforschung von „Praktiken“ initiiert. Auf den ersten Blick treten dabei gewisse Ähnlichkeiten zutage: Es wird nicht ein Subjekt, sei es als Subjektkonzept oder als individuelle Instanz der Autorschaft, vorgängig unterstellt. Akteure werden als in „Dispositiven“ verortet gedacht; diese erscheinen als spezifische Verbindungen von „diskursiven Formationen“, u. a. Prädikationsregeln, Klassifikationssystemen, paradigmatischen Konzepten des Wissbaren in Verbindung mit sozio-ökonomischen und politischen Strukturen, die Möglichkeiten des Tuns eröffnen und verschließen. (Zum Dispositiv bei Foucault s. Hubig 2000). Diese „Dispositive“ resultieren aus einer jeweils spezifischen Verbindung von Intellektual-, Real- und Sozialtechniken – insofern ist die Rede vom „technischen Dispositiv“ (Lyotard 1999, 132) oder von Technik als „gesellschaftlichem Dispositiv“ (Böhme 2008, 19) oder gar „material-technischem Dispositiv“ redundant. Es scheint, als finde sich hier ein Korrelat zu Hegels „objektiven Geist“ – jedenfalls legen dies die Explikationsversuche aus der Praktiken-Forschung (s.u.) nahe. Und: Die Wirklichkeit der Dispositive beruht offenbar auf der Erwartbarkeit einer Art Anerkennung der Akteure gegenüber diesen Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen. Zunächst ist festzuhalten, dass Foucault – wie Hegel – das klassische modale Wirkungsmodell für „Macht“ (Chance auf Durchsetzung) und „Herrschaft“ (Chance auf Gehorsam, so z. B. noch bei Max Weber 1972, 28) durch ein modales „Relationenmodell“ ersetzt.Wo freilich bei Hegel die „Macht des Herrn“ sich in der Anerkennungsrelation als solche erweist, sieht sie der Archäologe Foucault als jeweils für sich gegebenes Relationengefüge/„Netz“ zwischen offenen (z. B. Definitions- und Werte‐) Bereichen, die durch individuelle Entitäten (Identifiziertes, Act-tokens …) auffüllbar sind.Was in solchen „Netzen“ als theoretisch bestimmbar oder praktisch steuerbar erscheint, ist jedoch unterbestimmt: Jede Individuation weist als verwirklichte mehr Eigenschaften auf, als in ihrer dispositionalen Verfasstheit angelegt. Für Foucault lassen daher die Bezugsbereiche der Macht Raum für eine „strategische Wiederauffüllung“ (Foucault 1978, 121) auch und gerade als Subversion, Widerstand an bestimmten „Punkten“, als „möglicher, notwendiger, unwahrscheinlicher, spontaner, wilder, einsamer, abgestimmter, kriegerischer, gewalttätiger, unversöhnlicher, kompromissbereiter, interessierter, opferbereiter“ Widerstand (Foucault 1977, 117). Innerhalb jener Subversion werden nun auch Selbstverhältnisse gebildet und es findet Selbstprädikation statt, aber wie? Jedenfalls nicht in Ansehung einer Macht mit Quasi-Subjektcharakter, die aber dennoch, – transitiv – das „Feld möglichen Handelns der anderen zu strukturieren“ vermag (Foucault 1987, 254). Aber auch nicht unter Voraussetzung strategischer Subjekte, denn die Strategien der Subversion, ihre Interessen, seien solche „ohne Subjekt“ (Foucault 1978, 125).

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Die Praktiken-Soziologie tut sich schwer mit dieser Herausforderung. Andreas Reckwitz spricht in selbstmissverstandener Übereinstimmung mit Theodore R. Schatzki (1996) vom Subjekt als „sozial-kultureller Form“, „kontingente[m] Produkt symbolischer Ordnungen, welche … modellieren, was ein Subjekt ist“ (Reckwitz 2006, 34 f.) Diese symbolischen Ordnungen betrieben ein „doing subjects“; soziale Praktiken seien der Ort, an dem sich die „Codes“ der symbolischen Ordnungen mit ihren „Leitdifferenzen“ fänden (ebd., 36). Die Welt des Sozialen bestehe aus solchen Netzwerken von sozialen Praktiken als „geregeltem Verhalten“, „dem analog gebaut, was Wittgenstein als ‚Sprachspiele‘ umschreibt“ (ebd., 37). Anstelle „Subjekt“ als Träger von „Reflexionsfähigkeit“, „Wahl und Entscheidung“, „gerichtetem Begehren“ zu fassen, erscheine es als „Dispositionsbündel“, das „im Vollzug hochspezifischer kultureller Praktiken produziert und reproduziert“ werde (ebd., 39 f.). Die Dispositionen seien „Teil der Praktiken“ und „hängen von ihnen ab“, was die innen- und Außenorientierung betrifft; so sei die „Innerlichkeit des bürgerlichen Subjekts ein Korrelat der Techniken der moralischen Selbstbefragung“ (ebd. 40 f.). Die Frage steht jedoch weiter im Raum, wie diese Dispositionen produziert (als solche verwirklicht) werden, wie aus diesen Dispositionen (als bloßen Möglichkeiten) Akte der Verwirklichung werden, die ihrerseits Akte der Reproduktion (der Praktiken) seien, wie also das Modalgefälle Praktiken – Dispositionen (Subjekte) – Reproduktion der Praktiken überbrückt wird. Der in diesem Zusammenhang vielzitierte Schatzki sucht seine Zuflucht bei Basishandlungen Danto’scher Provenienz (Danto 1979, Kap. 2), die die Verwirklichungsleistung erbringen sollen und nicht als „vom Individuum verursacht“ zu erachten, sondern unmittelbar und elementar sind wie das Wissen des Handelnden über sie. Freilich setzt Danto hierbei definitorisch das Konzept des individuellen handelnden Subjekts voraus und Schatzki kann daran anschließen, wenn er seinerseits Praktiken als organisierte Handlungen bestimmt (Schatzki 2002, 72), allerdings als „open, temporally unfolding nexus of actions“. Damit ist seine Praktiken-Theorie nicht mehr im mainstream der Praktiken-Forschung verortbar, was dort offensichtlich nicht bemerkt wird. Foucault selbst verabschiedet mit dem „strategischen Subjekt“ keineswegs einen Akteur, der tätig wird: Er fasst ihn als Adressat einer „urgence“, die ihn subversiv werden lässt. Diese „urgence“ (Foucault 1978, 121) als Problemdruck wird erst Element einer Handlung, wenn die es „von außen“ konstituierende Macht, die Möglichkeiten der Individuierung eröffnet und verschließt, also Möglichkeiten der Individuierung anstiftet, als ihm selbst solchermaßen zugewachsene Handlungsmacht von ihm selbst auf sich selbst angewendet wird (Gilles Deleuzes „Einfaltung“). Paradigmatisches Beispiel ist die unter der Disziplinarmacht in den Gefängnissen stattfindende Entstehung disziplinierter krimineller

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Milieus (weiteres hierzu s. Hubig 2000). Ob sich jedoch eine Lösung als „siegreich“ durchsetzt, liege nicht in der Intention oder Macht eines Subjekts – das Auftreten eines vorübergehend „stabilen Mechanismus“ in der Geschichte sei nicht zu erzwingen, sondern nur ex post zu registrieren (Foucault 1987, 260). Der Frage, wie solche Stabilitäten entstehen/verwirklicht werden, hat sich Joseph Rouse gewidmet und dabei Überlegungen entwickelt, die jene Leerstelle der Praktiken-Soziologie ausfüllen (hierzu ausführlich Vogelmann 2011). Er nimmt dabei den von Kareen Barad geprägten Neologismus „Intra-action“ auf. Dieser steht für Relationen, deren Relata durch diese Relation (in ihren Möglichkeiten) erzeugt werden (Barad 2007, 33, Rouse 2002, Kap. 8). Es sind bloße Aktivitätsmuster als Praktiken. Wir sind an Hegels Architektonik des Weltbezugs erinnert, einschließlich des Unmittelbar-Anfangens auf den unterschiedlichen Stufen. Auch hier wird nicht vorgängig ein Subjekt-Konzept vorausgesetzt. Die Differenzierung in Subjekte und Objekte als Relata findet erst qua Interaktion zwischen unterschiedlichen Intraaktionen statt: Zunächst setzen Interaktionen zwischen Intraaktionen/Praktiken voraus, dass die individuellen Ausfüllungen der Relata stabil i. S. von wiederholbar sind. Dann können diese Relata Kandidaten anderer Intraaktionen werden und Inferenzbeziehungen als Substituierbarkeitsbeziehungen zu anderen Praktiken aufweisen. Rouse verdeutlicht dies am Beispiel „Wasser“ als stabilem Element in Praktiken des Schwimmens, des Kochens, der Elektrolyse etc. Die „Eigenschaften“ von Wasser als stabilem Element entstehen und werden reguliert durch die Interaktion der entsprechenden Intraaktionen. (2002, 314 ff.) Auf diese Weise entsteht ein Konstrukt „Wirklichkeit“ (Hegel: „was wirken kann“) mit seinen „Kräften“. Wenn nun solche Elemente von Praktiken inferentiell/substituierbar innerhalb unterschiedlicher Interaktionen die Aktivität zur Selbstformung – praktische Reflexivität – aufweisen („Einfaltung“/Deleuze, „Subversion“/Foucault) sind sie als Subjekte zu erachten, die, wie die Objekte, insgesamt erst durch die Interaktion von Praktiken hervorgebracht werden. Ein solcher Subjektbegriff ist weiter, als dass er nur menschliche Subjekte/Individuen umfassen würde. Er korrespondiert dem Hegel’schen Konzept des Lebens. Brechen wir an dieser Stelle den Ausblick ab und wenden uns wieder den „Techniken der Subjektivierung“ auf dem Hintergrund eines Vergleiches Hegel – Foucault/Rouse zu. Parallelität und Unterschiedlichkeit werden augenfällig: Finden wir bei Hegel die Abfolge „Anerkennung Herr-Knecht als anerkennend – Macht (Herr-Seite) – Hemmung – Geistiges Tierreich – Heroismus der Schmeichelei (Subjekt als Objekt) – Empörung über die Zerrissenheit (Objekt als Subjekt) – Verhältnis zur Sprache (als Medium) – Moralität, …“, so stellt sich die korrelierende Abfolge für Foucault/Rouse dar als „Macht (Netz, Dispositiv) – Interaktion von Intraaktionen (Herausbildung von Objekt- und Subjektinstanzen) –

Techniken der Subjektivierung

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Urgence (Subjekt als Objekt) – Einfaltung (Objekt als Subjekt) – Subversion und strategische Wiederauffüllung des Dispositives – weitere Interaktionsdynamik ….“ Das Interaktionsgeschehen korrespondiert dem ‚objektiven Geist‘ Hegels. Während dessen Dynamik als Reflexionsdynamik, als Dynamik der reflektierend sich weiterentwickelnden Begriffsform als Vollzugsform hin zum Begriff der Vernunft als „Trieb“ freigelegt wird, ist für Foucault/Rouse das Interaktionsgeschehen als faktisch-historischer Prozess ungerichtet. Beide Linien schließen einander nicht aus und sind vereinbar, sofern zwischen der Rekonstruktion historischer Aktualisierungen der Techniken der Subjektivierung (rekonstruiert aus ihren „Spuren“) einerseits, und der Entwicklung begrifflicher Konzepte als solchen von Vollzugsformen unterschieden und beide in einer Dialektik von Regel und Regelvollzug zusammengeführt werden.

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Teil 3: Logische Notation

Vojtěch Kolman

Models and perspicuous representations My acquaintance with Pirmin Stekeler goes back to his first monograph, Grundprobleme der Logik (Stekeler-Weithofer 1986), which my teacher Jaroslav Peregrin gave me after I’d asked him for an advanced or “second” introduction to logic. In his book Doing Worlds with Words, Peregrin wrote that Grundprobleme “awoke him from dogmatic slumber” because, until that point, he had seen “logic as a way towards the firmest of truth”, instead of taking it as “a mere tool that can be used both to elucidate and blur” (Peregrin 1995, p. xv). My experience with the book was similar, but more closely connected to what Stekeler calls “models” or “pictures” of language. One of the main theses of Grundprobleme is that logic does not describe or explain natural language, but only constructs synoptic models to be compared with and projected onto it. That explains the book’s subtitle, “Elemente einer Kritik der formalen Vernunft”, since, as Stekeler repeatedly points out, formal or mathematical logicians tend to treat their “valid” inferences and logical “truths” as natural phenomena to be directly read off from and then applied to our linguistic practices. The book’s point, on the other hand, is that such truths and valid patterns of argumentation are only the internal consequences of the complex logical picture – such as Aristotle’s syllogistic, Frege’s truth-functional logic and Lorenzen’s dialogical semantics, to name all three discussed in the book – the relation of which to preexisting practices is yet to be justified. Contrary to the intuitionist critics of formal logic – such as Descartes or Brouwer, who attacked the first and the second of the abovementioned “pictures” respectively – Stekeler does not dispute the value of such linguistic or other schemata. Quite the reverse: there is, he insists, no knowledge or experience without them but, contrary to (late) Frege‘s idea that one can make everything explicit in a single, universal picture, he considers them not as results but as mediators of the cognitive process to be subordinated only to some non-schematically operating higher-power such as Plato’s idea of good, the Kantian “Urteilskraft” or a pragmatist’s broadly conceived purposefulness and instrumentality. The problem of immediacy links Stekeler’s Grundprobleme to his later extensive studies of Hegel – “the great foe of immediacy”, as Sellars put it (Sellars 1997, p. 14) – and his simultaneous interests in the post-analytical tradition of Quine, Davidson, Sellars and Brandom with their Dogmas and Myths, particularly those of the Museum and of the Given. Basically, however, the roots of Stekeler’s “immediacy” critique are deeply Wittgensteinian, having more to do with his therapeutic and negative concept of philosophy rather than the positi-

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vists’ constructive accounts of knowledge, to take advantage of Rorty’s overall characterization (Rorty 1979, p. 7) and division of philosophers into those saying that “the tradition has pictured the world with gaps in it, but here is how the world looks with the gaps closed” and those who “just make fun of the whole idea that there is something to be explained” (Rorty 1982, p. 34). Stekeler’s models of language are, in fact, nothing other than Wittgenstein’s “perspicuous representations” of linguistic practices where, by these practices or “language games”, what is meant is something rule-governed and thus normatively charged but not necessarily discursive in the way that Sellar’s and Brandom’s game of giving and asking for reasons is. Wittgenstein’s related thesis that language has no downtown – namely that of declarative sentences which, contrary to him, Sellars and Brandom approve of and start with – captures graphically the therapist’s unwillingness to take sides because he knows that any decision must sooner or later lead to some immediacy assumption, such as those, e. g. that Stekeler identifies in the alleged universalist ambitions of Lorenzen’s dialogical and Brandom’s incompatibility logics.¹ In the rest of my paper I have no intention of comparing the advantages or disadvantages of various – constructive or destructive – critiques of immediacy or arguing for or against one of them. What I want to do is something that is both more modest but also more ambitious: namely, to extend the standard repertoire of Wittgensteinian perspicuous representations coming mainly from purely logical or visually controlled spaces (such as his ab-notation from the Tractatus-period or his color-octahedron) in an acoustical direction. The modest part of this endeavor considers acoustical space alongside the other “physical” spaces, aiming, basically, at a simple comparison of the traditional Newton/Goethe/Wittgenstein circle of colors with the circle of fifths, thus indicating what the musical pendant to Wittgenstein’s grammar of colors would look like. The more ambitious part (which will, however, be more thoroughly worked out elsewhere) deals with the continuous transformation of the acoustical space into the musical one, with a prospective goal of showing how the language game of music, which seems to have such a prominent place in Wittgenstein’s thinking, relates to the problems of logic as suggested in the Notebooks and to other linguistic

1 Hegel 1807, § 24, seems to express exactly this negative standpoint: “[…] a so-called basic proposition or principle of philosophy, if true, is also false, just because it is only a principle. It is, therefore, easy to refute it. The refutation consists in pointing out its defect; and it is defective because it is only the universal or principle, it is only the beginning. […] The genuinely positive exposition of the beginning is thus also, conversely, just as much a negative attitude towards it, viz. towards its initially one-sided form of being immediate or purpose.”

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practices as discussed in Philosophical Investigations – particularly in connection with the problem of understanding. My background thesis is that, in spite of what (late) Wittgenstein might say, there is a much stronger connection between the language game of music, or the “languages of art” in general, and the general discursivity of objectively true or false sentences, than mere family resemblances of using words such as “expression”, “meaning”, “thought” or “sentence”.

1 Perspicuous representations Let me start with a short review of what Wittgenstein’s perspicuous representations are and what they are for. Focusing on the entire context of his work, they can be best seen as a final attempt to give more definitive shape to his radical idea of philosophy as something that cannot be said – as natural sciences prototypically can – but as something that is only shown in what we do. In this, basically, two points can be distinguished. The first of them can be tracked all the way down to Plato’s and Kant’s observation that philosophy – for better or for worse – is not one of the sciences and should not be treated as one under the penalty of the antinomies of pure reason such as Plato/Aristotle’s third man, Russell’s paradox or, of course, those of Kant himself. Let me call it, in the negative spirit of Wittgenstein’s philosophy, the no-science point. The second point, closely related to William James and, more generally, to what Brandom calls “fundamental pragmatism” (Brandom 2011, p. 9), can be reduced to the claim that one should understand beliefs, theories or knowing that as a kind of practical ability, practice or knowing how, thus postulating the explanatory priority of the second to the first. Let me call this the no-theory point. Both of these points already played a distinctive role in Wittgenstein’s Tractatus, in the very solution of the paradox of Russell. There, the original form of the paradox F(F) or non-F(F) was compared to the self-predication cases such as “Black is (not) black”,² with a tacit assumption that locutions like this might eventually mean something but, if taken descriptively, they tend to be either trivial or contradictory. Now, according to Wittgenstein, the whole case is solved once we realize that it is not the typographical identity of signs but their use that makes those expressions meaningful. By interpreting both occurrences of the same sign as occurrences of different symbols, one corresponding to the use of the word in the subject position and the other one expressing the act of

2 Wittgenstein’s own example being “Green is green”, see Wittgenstein 1922, § 3.323.

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predication, a seemingly contradictory sentence such as “Black is not black” could be decoded as a nontrivial claim saying, e. g., that somebody named Black is not of a black color. It is obvious that such explanations must be understood on a different level from sentences that they are about to explain since a vicious circle would otherwise follow. The joint claim thereof of both the no-science and the no-theory point is that logic or philosophy must be enterprises of a different – non-theoretical – nature or, to use Brouwer’s famous motto adopted later by Wittgenstein, that they are activities rather than theories (See Brouwer 1907 and Wittgenstein 1953, p. 573). Now, according to Wittgenstein, the one (and possibly the only) thing you can do to avoid the abovementioned paradoxes or misunderstandings about our own language is to make the various “spaces” or “discourses” and their underlying practices perspicuous by inventing suitable representations or pictures of them. To quote him directly: A main source of our failure to understand is that we do not command a clear view of the use of our words. – Our grammar is lacking in this sort of perspicuity. – A perspicuous representation produces just that sort of understanding which consists in ‘seeing connections’. Hence the importance of finding and inventing intermediate cases. The concept of a perspicuous representation is of fundamental significance for us. It earmarks the form of account we give, the way we look at things. (Is this a ‘Weltanschauung’?) (Wittgenstein 1953, § 122)

Drawing on our two points, we can expect that perspicuous representations – as a basic vehicle of Wittgenstein’s non-scientific and non-theoretical philosophy – do not simply describe or explain the respective practice. The reasons for this, however, are a bit more complicated than the ones mentioned so far. I would like to call the first of them the point of quantity since it refers to the holistic features of language, stressed most emphatically by Sellars in the thesis that one cannot have one concept without having many. Wittgenstein famously made such a point in his late remarks, arguing that you cannot describe or explain what some words, say “two” or “red”, mean without already having a lot of other meaningful words and, in fact, a considerable fragment of language. This is how one can read his note: “How do I know that this color is red? – It would be an answer to say: ‘I have learnt English’.” (Wittgenstein 1953, § 381) The quantity point might seem to say that you cannot have both – representation and perspicuity. And this is, in fact, so. But it goes deeper than that, something which I would like to express in an additional point, the point of quality. This point says that you cannot describe some practice (or what the word “red” means) because it is an enterprise of a radically different nature than things that can be described. By this line of thought, the language game cannot be explained because there is nothing to be explained unless you have already mas-

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tered it completely, which, of course, makes the whole explaining redundant. The mastering of some practice is not based on a passive explanation or theorizing about it, but on an active participation at or a training into it; in other words, we have to learn to do something, counting for example, and not just to believe or say something about this counting, e. g. Peano axioms. By combining both these points we arrive at our final observation as contained in remark § 122, which was quoted above: that perspicuous representations allow us to “see connections” or features of the underlying practice. I want to call this the aspect point, thus making a connection with Wittgenstein’s remarks on “aspect-seeing” where by “aspect” is meant something particular (in accord with the quantity point) and dependent on the seeing or acting (transcendental) subject (by the quality point), as most famously exemplified in the cases of the Necker cube and the duck-rabbit picture. These examples show that “aspects” – like “secondary qualities” – are something that we actively read into things rather than passively see in them, thus opening the way to the plurality and flexibility of our language games and forms of life. Let me call this the plurality point. It is already supported by the fact that, as something lived rather than believed, our practices do not abide by abstract rules, but rather by norms institutionalized in these practices alone and are thus flexible and prone to change. The most complex example of perspicuous representation, covering all the enlisted points and, ironically, the only one that Wittgenstein (Wittgenstein 1964, p. 278) himself labeled by that name (Cf. Baker 2004, p. 23), is his coloroctahedron (see fig. 1). Its primary goal, expectably, is to represent the grammar of a color-talk by determining, for example, which (primary) colors can and cannot be mixed and which, as black and white, has to be dealt with differently: the unmixable colors occupy the opposite sides of the basic polygon (or circle) and white and black are placed in the other dimension thus extending a typical color-polygon (or circle) into the color-polyhedron. The octahedron’s secondary, philosophical goal is that of Goethe’s Farbenlehre (Goethe 1810), which, in its pointed assault on Newton’s theory of light, represents one of the most influential elaborations of the no-science point in the history of philosophy, and which is epitomized in the observation that, in order to be able to make scientific, e. g. optical experiments, one already has to perceive and distinguish colors on some pre-scientific (be it physiological or even morally-sensuous) basis. Thus, a concept of knowledge is achieved that transcends mere physical or naturalist explanations of (color) phenomena and elucidates why and in which sense is Goethe’s transcendental deduction of (primary) colors from the interplay of light and darkness superior to Newton’s often quoted decision to leave their enu-

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Fig. 1

meration to his assistant because he has more critical eyes (Newton 1718, Book 1, Part 2, Proposition 3, Problem 1, Experiment 7). Apart from Goethe’s theory of colors, there is another important and sufficiently transparent precedent to the no-science point which, however, Wittgenstein did not develop, despite the fact that it was much closer to his other general interests such as his love for music. What I have in mind is Plato’s ridicule of the acoustiticians who – similarly to Newton’s assistant – tried to find out what the smallest musical interval is by putting “their ears close alongside of the strings like persons catching a sound from their neighbors’ wall” thus “setting their ears before their understanding” (Plato 1892, Republic, 531a–b). What one asks for here is, of course, a Pythagorean-like theory of harmony based on a decision to build up a scale in such and such a perspicuous way. To show that such a decision will always be empirically underdetermined and thus dependent on mediation via some perspicuous rational scheme is a quest of its own, a quest that is on a par with Wittgenstein’s excursion into the grammar of colors. It is strange that Wittgenstein did not undertake this task himself since his interests in music were – according to his own words – of some deeper significance, even to the point of providing the key to understanding his philosophical work (see Drury 1984, p. 160). This is most intensively articulated in his Culture and Value, with people like Beethoven mentioned as representatives of an intellectual world whose problems have never been tackled properly and which have, as such, gradually become unintelligible to our culture (Wittgenstein 1980, p. 11). The most bold and sophisticated attempt to develop the philosophy of music along Wittgenstein’s lines, including his conservative and elitist “Weltanschauung”, was carried out by Roger Scruton in his Aesthetics of Music (Scruton 1997), which heavily exploited the concept of metaphor and its indirect, secondlevel nature as captured in the aspect-seeing phenomenon and Wittgenstein’s re-

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marks comparing the aspect-blindness to the lack of a musical ear (Wittgenstein 1953, p. 214). Although I find Scruton’s idea and its elaboration very attractive and stimulating as far as its explanatory breadth is concerned, I will not follow it here primarily because it is, in my opinion, too broad, i. e. not perspicuous in a way that Wittgenstein would want it to be. In accordance with this, my next goal is to provide a scheme for acoustical space that would somehow make perspicuous all the enlisted points of Wittgenstein’s philosophy, i. e. no-science and notheory points, the points of quality, quantity, aspect and plurality.

2 Acoustical space Wittgenstein’s own contribution to Goethe’s project consists in developing the no-theory and plurality points of color talk as mirrored in his sketches of various language games and practical inferences concerning colors, particularly with respect to the problem of different sets of primary colors and their possible mixtures. It is obvious that although we can mix red with both yellow and green in the very same way, e. g. by pouring two cans of colored liquid together, this does not mean that we are committed to talking about reddish-green color on a par with reddish-yellow, which makes the second kind of mixture possibility radically different from the first one. Instead of the facts of nature, one deals here with rules of language use to be prospectively made explicit in a particular perspicuous representation, such as Newton’s or Goethe’s circles of colors. Following Wittgenstein, one can moreover invent or imagine various discursive practices in which some color, e. g. green, is treated both as primary as well as a mixture (e. g. of blue and yellow), and then ask whether this “aspect” quality of seeing colors as something has some limits, i. e. whether there are some fixed points in the phenomenal field determined wholly by our physical nature. According to Wittgenstein, in fact, there are such fixed points, corresponding to colors that are reconstructible purely from memory without a sample, i. e. by simple pointing to some particular spot of the spectrum, reminding us of the case of the right angle in contrast to an arbitrary acute or obtuse one. “In this sense”, concludes Wittgenstein, “there are four (or, with white and black, six) pure colors” (Wittgenstein 1977, § 134). Leaving aside the question whether and in which sense this last claim might be true, let us take, as a starting point for our outline of the grammar of (tonal) music, the corresponding acoustical phenomenon of absolute pitch, i. e. the ability to name the pitch of a tone without any external reference (such a comparison was, in fact, made, e. g., by Deutsch 2006, p. 11). The aura of mystery that surrounds absolute pitch primarily comes from the fact that relatively few people

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possess the skill and, it would seem, it is a skill that cannot be acquired only by way of learning, especially by the time an individual reaches an adult age. According to the prevalent hypothesis, as based, for example, on the measured superiority of accuracy and speed of judgment for the more frequent white piano notes to those of the black “accidentals” (see Miyazaki 1988, 1990; for short review of the discussion see, e. g., Ward 1999, p. 274– 275), the ability is most likely gained through a simple exposure to music, which makes the absolute pitch dependent on an environment with a fixed tuning system and, as such, is rather disconnected from common types of musical practice. To corroborate this point, it was also argued that the possession of absolute pitch can even retard one’s musical consciousness which – as with every social phenomenon – consists in relative matters of intervallic pitch recognition (see Miyazaki 1993 and Huron 2006, p. 112– 113), i. e. something that can be shared by different people with different vocal ranges, rather than in absolute distinctions dependent on specific individuals and circumstances. The existence of purely structural scales, such as those of gamelan music, represents further, and rather sophisticated, proof of the same point. In the light of this, it does not seem to be a coincidence that the foundations of Western harmony were laid in the very context of Pythagorean science which anticipated Hilbert’s and Carnap’s program of “Strukturwissenschaft” by discovering “proportion” as a structural invariant of pairs of quantities and employed it to define musical intervals in structural terms as being arithmetical ratios of sizes or masses of bodies producing musical sounds. Now, with respect to some arbitrarily chosen fundamental pitch as given, paradigmatically, by the (open) string of a monochord, the other pitches can be distributed over the sound continuum in a specific way, building up a particular musical scheme or scale. The first step usually taken is rather intercultural, namely, the so-called octave perceived as a certain kind of sound identity of pitches with a 2:1 ratio, which represent either the relative lengths (volumes, etc.) or, by inversion, frequencies of strings (vibrating bodies), the shorter strings possessing higher frequencies and vice versa. There are, of course, certain limits to this non-distinction, pitches related by octave being usually intersubstitutable in simultaneous but not successive intervals, and so invariant to harmonic, but not melodic, equivalence (see Deutsch 1972; 1999, p. 351). But this is something pertaining to the very semantics of identity understood in a normative way as non-differentiation of certain differences. When accepted, octave identity allows us to divide the tone spectrum into a discrete number of repeating or equivalent pitches, the so-called pitch classes, or “chromas”, with respect to which the acoustical space can be represented as a cycle. In the case of our 12-tone system, the chroma cycle is known as a chromat-

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ic circle (see fig. 2).³ In contrast to the choice of absolute pitches, the choice of relative steps has never been completely arbitrary. Take, e. g. the Pythagorean harmony as based on the rather mysterious principle of simple arithmetical proportions, starting with the octave that, as the most perfect consonance, is defined by the simplest (besides the unison 1:1) arithmetical ratio 2:1. Now, as Helmholtz in his seminal study (see Helmholtz 1877) explained, there is a perfectly good reason for this, originating from the fact that the natural oscillators such as strings or air columns producing musical sounds, i. e. air waves of constant frequency, vibrate at a series of frequencies which are the whole-number multiples of the so-called fundamental. The perceived tone is thus a complex (“gestalt”) phenomenon consisting of the sound of the fundamental and all the higher frequencies called, after Helmholtz, overtones. The amplitude (and hence the loudness) of these overtones becomes fainter the higher the overtone, but it also varies with every complex tone, thus providing for the perceived tone’s distinctive character or timbre. Despite the differences in the amplitude of the individual overtones, the very structure of the overtone series is in principle constant, which comes from the brute fact that a whole number of wavelengths must fit within the length of the vibrating body. This partially demystifies the foundations of Pythagorean harmony since the octave as the first overtone has twice the frequency of the fundamental and as such is produced by a string of half its length. Furthermore, the presence of the octave in the overtone series as its first – and, in fact, every 2n-1th (n>0) – member explains the natural tendency of our perception to the octave identity and the feeling of a perfect consonance resulting from a coincidence of partials. Since the next in the overtone series after the octave are (after being transposed to the octave span above the fundamental) the perfect fifth and the (perfect) major third, i. e. the notes of the major triad, this might appear as a general pattern, not only for an account of consonance phenomena, but also for arranging a scale on “natural” or “naturalistic” grounds. Though significantly older, such a theory of natural music once again found its well-founded theoretical basis in Helmholtz’s work (Helmholtz 1877, p. 420), with the simple overlap theory of partials supplemented by an additional phenomenon of “beating”, which, in simple terms, is the amplitude (and thus loudness) fluctuation caused by interference of frequencies that are very close together. According to Helmholtz, the roughness arising from this interference and the number of overtones that caused it is responsible for a sensory dissonance, while

3 In analogy to Wittgenstein’s octahedron one can, of course, take into account other factors such as the absolute height of the pitch or its relations to other pitches as also being of importance, and, consequently, consider more-dimensional models such as Drobisch’s helix or Euler’s “Tonnetz”, as discussed, e. g., in Lehrdal 2001, chap. 2.

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Fig. 2

the consonance basically arises whenever the overtones either overlap or are far enough from each other to interfere. Though the idea of natural harmony aroused some theoretical and practical interest, it is seriously undermined by the fact that it does not depend on relative but absolute frequencies with a result that, e. g. a perfect fifth in the bass generates more conflicting overtones than a minor second in the upper register. As a consequence, no interval could be called pleasant or unpleasant in an absolute sense of the word unless we simply want to proclaim a harmony based on higher overtones as a “natural” consonance, no matter how it sounds to us. A more satisfactory conclusion would seem to be that consonance and musical sound in general are joint products of culture and nature rather than purely physical phenomena. As poignantly phrased by Scruton (Scruton 1997, p. 244), in musical perception we tend to discriminate acoustical or other physical impurities and hindrances in the interest of a more complex organization not reducible to a purely descriptive account such as Newton’s theory of colors and Helmholtz’s theory of sound.⁴ A standard

4 Helmholtz himself, however, is rather careful to publicly authorize the naturalistic origin of Western music, stressing occasionally its social and historical roots. See Helmholtz 1877, p. 386. Something similar holds, to a certain extent, for Newton, who considers the analogy to seven “chords of the key” as also being one of the motifs for introducing seven primary colors. See Newton 1718, Book 1, Part 2, Proposition 3, Problem 1, Experiment 7.

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example of this would be the interval of a tritone – the Western paradigm of dissonance – which was even banished from music in the Renaissance only to be later (e. g. in Liszt’s Dante Sonata) used to explicitly symbolize hell. And yet, it can also be said to sound rather pleasing when played, e. g. as a part of dominant seventh chord.⁵ Apart from the project of natural harmony, the overtone series is sometimes also taken as a natural basis for melodic organization, i. e. the arrangements of pitches in the scale. Leonard Bernstein, in his Harvard Lectures (Bernstein 1976, p. 27), made such an attempt, which was modeled on an elaborated comparison to Chomsky’s idea of universal grammar. Despite the distinctive charm and wit of his exposition which, at its beginning, even finds the universality of the overtone series in children’s teasing chants (exploiting the higher overtones that are not on a piano, the sixth overtone being somewhere between A and B flat), there is, again, no a priori reason why this series should lead to our or another musical scheme. Some of the most “natural” intervals, e. g. such as the perfect fourth or the minor third, are in the series, but only as the differences of higher overtones, so one actually cannot hear them in their relation to the fundamental. Now we can easily paraphrase Plato by pointing out that these intervals are not to be heard, but only deduced according to some additional organizational scheme such as that suggested by the Pythagoreans. This scheme, like the others built on the octave identity, is rooted in the structure of overtones, but at some point a new decision has to be made that is underdetermined by natural phenomena. In this case, the decision amounts to generalizing the observation that pitches with the simplest frequency ratios sound the most “pleasant”. Thus, starting with the octave 2:1 and the perfect fifth 3:2 one gets the perfect fourth 4:3 simply as the complementary step, i. e. by dividing 2:1 by 3:2, thus arriving at the limit tones C and C’ of the octave, and the tones F and G. By subtracting the fourth from the fifth, i. e. through equality (3:2):(4:3)=9:8, one gets the major second D, usually considered as the whole tone. After being repeated twice as (9:8)×(9:8)=81:64, the whole tone step gets us from C to (Pythagorean) major third E which is, unluckily, incongruent with the founding principle of simple ratios because the (perfect) major third based on the overtone series has a much better ratio of 5:4. The whole tone step applied to G first gets us to A and then, applied again, to B with 27:16 and 243:128 frequencies of C and, as a result, to the sequence C, D, E, F, G, A, H, C’, known as the Pythagorean

5 The more controversial example is provided by the diminished seventh chord that Schönberg 1911 and Adorno 1949 declared as a symbol of corruption and banality of the Western bourgeois and mass culture but, at the same time, considered brilliant and novel because of the role it played in shaking the foundations of tonality.

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scale or the Pythagorean chroma circle. The (Pythagorean) whole tone intervals CD, DE, FG, GA and AB all have the relative frequency 9:8, leaving us with two smaller intervals EF and BC, both having the ratio of 256:243. This interval, called a hemi-tone, is markedly less than half of a whole tone. Interestingly, one can arrive at the same result in a more “perspicuous” way by successively increasing the tone C (or rather F) by a perfect fifth (multiplying by 3:2) and folding it back into the original octave span (dividing by 2:1). This gives us the series of fifths (F,) C, G, D, A, E, B as represented by the respective circle of fifths, first mentioned in Diletsky’s Musical Grammar (Diletsky 1679). Unlike in the chroma circle, the pitch classes in the circle of fifths are not related by melodic but rather by harmonic relations leading naturally to higher forms of musical organization. In the described Pythagorean form, however, the circle does not close, since the fifth up from B does not take us to F but still significantly higher, between F and G. One can thus introduce a new pitch called Fe, and from this arrive by the same procedure to Ce, Ge, De, Ae, and Ee where Ee and F are equal in modern tuning, or “enharmonic” with respect to it. Simple arithmetic, however, shows that in the Pythagorean tuning they still have to differ by a small factor 312:219 that is known as the Pythagorean comma, which is the difference between twelfth perfect fifths (312:212) and seven octaves (27:1). So the Pythagorean circle not only does not close but, in fact, cannot close, thus leading to an infinite number of different pitches within a single octave. Instead of a circle one has a Pythagorean spiral (see fig. 3). Apart from being rather inelegant (reminding us of the famous “fiasco” of incommensurable ratios), this is manageable from the point of view of a practical musician so long as he or she can stay in one or a small number of keys, or in classical modes, i. e. scales built up from the same chroma circle C, D, E, F, G, A, B, by choosing one of these chromas as the first pitch or “tonic”. Because the difference between individual modes resides exclusively in their structure, i. e. in the distribution of the whole tones and hemi-tones, problems arise if you are interested in structural arrangements such as modulations and transpositions, which is the reason why accidentals, sharps and flats were introduced. But there is no way to make it right using the Pythagorean tuning. One cannot create them by halving the tone intervals because two hemi-tones do not make a tone and, if you simply add them in a Pythagorean way, e. g. by going upwards in the (major) keys of C, D, G, A, E, B, Fe, etc. and downwards in the (major) keys of F, Bc, Ec, Ac, Dc, Gc, etc., you soon arrive at tones such as Ge and Ac which – though enharmonic from the modern point of view – sound out of tune in the Pythagorean setting thus crippling the possibilities of switching the key significantly, with a result that the keys of Fe and Gc do not have even a single tone in common.

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Fig. 3

The resolution of the problem must obviously go back to the last fifth of the original circle, which differs from the first eleven perfect fifths by being flatter about the Pythagorean comma. Because it is quite close to the perfect fifth and the corresponding overtone, considerable beating occurs, yielding it the name of “wolf fifth” because of the howling sound it is reminiscent of. The history of Western tuning systems can thus be seen as a problem of “taming the wolf”. The original “wolf fifth”, however, comes from the so-called mean-tone temperament, which served as an alternative to Pythagorean tuning for several centuries. Its basic idea was to distribute the comma by reducing the perfect fifth slightly so as to avoid very strong beating and arrive through the first four steps CG, GD, DA and AE of the circle to the major third CE of the overtone series with a nice simple ratio of 5:4 instead of the rather cumbersome 81:64. No matter how popular this tuning was, though, it did not eliminate the original problem, leading to an even bigger comma in the end with the last fifth being significantly sharper than the others; this was usually managed from the practical point of view by providing the instruments, such as organs, with additional keys (see Jeans 1937 for further details). The main theoretical merit of this tuning therefore consisted in the fact that it opened the way to the equal temperament used today, which distributes the comma over the twelve fifths in a uniform way by dividing the octave into twelve equal intervals or semitones. This solution

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Fig. 4

looks more straightforward than it actually is because the required difference of (2:1)1:12 is irrational and as such does not originate in the overtone nor the Pythagorean series. The advantages of the equal (or maybe other, closely related) system were most famously advocated by Bach’s “The Well-Tempered Clavier”, the book of preludes and fugues in all 24 major and minor keys, the aim of which was to demonstrate that one can use them all equally without causing discords, including the critical keys of de and ec minor (corresponding to the major keys of Fe and Gc), which are even paired together for a fugue. This is all perspicuously captured in Kellner’s double version of the circle, which links together relative minor and major keys (see fig. 4) (Kellner 1737). The significant price for this flexibility is paid for, however, by the fact that literally none of the intervals that lie within the range of a single octave, including all the fifths, fourths and thirds, are in “perfect” tune. It is not very difficult to see how all the points linked to the idea of “perspicuous representation” are exercised in these examples, with the endeavor to tamethe-wolf being a particularly nice and stimulating instance of both aspect and plurality point. These can be further exploited by extrapolating the “taming” phenomenon to the field of logic, where the dualities and symmetries of classical logic – as mentioned by Hilbert in his explanation of the method of ideal elements (Hilbert 1923) – reminds us of the free modulation and transposition possibilities of the equal temperament. The price paid, once again, is that when it

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comes to its application almost nothing “sounds” completely right, the laws of classical logic being too simple to have some believable counterparts in usual practice. The various alternatives to classical logic, such as intuitionistic or non-monotonic logic that try to rectify the discord between the “artificial” logical schemes and the “natural” language phenomena such as effective character or corrigibility of inference, usually sacrifice simplicity and perspicuity of the system to some particular “consonances” under the illusion that the resulting system will be in some sense more natural or true. In Wittgenstein’s late philosophy it is suggested that this is forestalled by the quality and the quantity points that warn us against two extreme attitudes which one can adopt to theoretical schemes, either by turning their simplicity into banality or their complexity into obscurity. As a result, like in the case of the tuning systems, there is no natural, ideal or true state to be achieved, the only thing we can do in the end is to keep a balance between the extremes of inner simplicity and outer applicability which, being of different origin, go primarily against each other and, as such, cannot be satisfied in their entirety and once for all. In the rest of the paper I would like to sketch a proposal of how to extend the rather technical problems of arranging pitches over the scale to the problems of the musical function of such organization. Or, put another way: I would like to deal with the transformation of the acoustical into the musical space. These concerns, of course, are not independent because many of the impulses that shape this or that acoustical organization are of an aesthetical nature. In fact, it seems that there is no such thing as a purely acoustical space as opposed to a purely musical one, which, I think, is also the point that Kant and Hegel made in their aesthetics by delimiting art, more or less, as a sensuous manifestation of idea or spirit stemming from the interplay of both – sensuality of imagination and rationality of understanding. It is clear that in order to hear music you have to do a lot more than perceive certain unrelated sounds and that the core of musical listening pertains rather to the active exercise of judgment than to a mere passive reception of senses. You may even go so far as Scruton and say that music depends on a concept of metaphor using the spatial terms of “high”, “low”, “moving towards”, etc., in a very specific and indispensable way (see particularly Scruton 2009, chap. 4, where he defends his position against critics). Nonetheless, senses are also needed and in a more substantial way than, e. g. in mathematics which, though abstract and rational, also has to start with experience. If you know, for example, Tchaikovsky’s Violin Concert by heart, you might be able to play it in your head whenever you want to or, if you possess the skill, you could just read it from the score. But it would seem that an actual performance of the piece would still bring a quality to the act that is not present in those mediated cases. In the light of this, our final question

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should be phrased a bit differently: namely, what perspicuous representations such as the circle of fifths have to do with the phenomenon of art, particularly if they are compared to the role they play in philosophy or the sciences.

3 Musical space There is a rather straightforward and Wittgensteinian answer to this question which takes advantage of the concept of the “form of life”. If you can see a whole life in the face of a portrait by Rembrandt, as they say, you can quite similarly embrace the whole tragedy and different kinds of unhappy parenthood in a single phrase of Wotan’s sentimental “Wehe” as opposed to Rigoletto’s naïve “Maledizione” (to use Isaiah Berlin’s musical employment of Schiller’s aesthetic terms; see Berlin 1980) or (as Philip Kitcher and Richard Schlacht, in their book on Wagner’s Ring, suggested; see Kitcher/Schlacht 2004, chap. 2) you can represent different kinds of authority in a single theatrical character, be it the directive or power-based authority of Don Giovanni or the cognitive authority of Commendatore. No matter how aesthetically relevant, however, these particular features of perspicuity are not essentially related to musical space, whatever it might be. What I propose instead is to follow the roughly Hegelian idea developed later by Dewey (see, e. g. Dewey 1934, chap. 4) that music allows us to manifest the states of our mind such as emotions that we – due to their immediate nature – do not have under our control until they are mediated by self-conscious thought as a part of our social adjustment. When we accept that music often evokes emotional responses and that it would lose a lot of interest if it didn’t, the suggestion is that the schemata provide for the mediating role in such a dialectical enterprise. Since I do not have the space here to join in the controversy between expressivist and intellectualist conceptions of music, let me avoid some of the most straightforward objections as phrased paradigmatically by Hanslick’s formalist critique of expressivism by sticking to its mild version as represented by Meyer (see Meyer 1956, p. 3) and, to some extent, by Scruton (Scruton 1997, chap. 6), who stress the inner or intransitive (non-referential) emotional quality of music that is able to bring about emotions of its own, i. e. does not serve only as means to express something given independently of it. Let me clarify this very quickly by comparing it with a similar point that Brandom makes with respect to the instrumental conception of language as a “means to an end that can be grasped or specified independently of consideration of that means”. Brandom says:

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Though linguistic practice does, to be sure, help us in pursuing our ends, the vast majority of those ends are ones we could not so much as entertain, never mind secure, apart from our participation in linguistic practice. […] The essence of specifically discursive practice – the practice of deploying concepts – is precisely its engendering of this capacity to entertain an indefinite number of novel beliefs, and to frame an indefinite number of novel ends. (Brandom 2011, p. 80 – 81)

Accordingly, one can say that the essence of “musical language” is “to frame an indefinite number of novel expressions that could not be entertained apart from participation in musical practice” which more or less corresponds to Dewey’s conception of art as “nature transformed by entering into new relationships where it evokes a new emotional response” with works of art being both “signs of a unified collective life” as well as “aids in creation of such a life” (Dewey 1934, p. 79, 81). Although Dewey’s idea of art in its relation to emotions is rather vague, particularly because he seems occasionally to think of every knowledge or cultural phenomenon in terms of art and experience (see, e. g., Dewey 1925, p. 398), it is still possible to take significant advantage of it by focusing directly on the very structure of the emotional experience as captured in his elaboration of the James-Lange discharge theory of emotions (see Dewey 1894, 1895). According to Dewey, emotions are, basically, born from conflict caused by two motor activities of our body getting adjusted. Only when a sensory-motor activity of seeing a bear is coordinated, in a single act, with the vegetative-motor activity of fleeing from him do these activities translate themselves into the object (bear) and response to it (flight) and the discharged affect might be called “fear” or “fear of a frightful bear” (Dewey 1894, p. 25). Following Dewey’s line of thought by stipulating that “emotion or affect is aroused when a tendency to respond is arrested or inhibited” (Meyer, 1956, p. 14), Meyer built a whole theory of musical experience as stemming from the fact that music arouses expectations – conscious or unconscious – that are skillfully suspended in order to be satisfied later or not satisfied at all. As a result, musical meaning shows up to be the internal result of this dynamic enterprise. Equipped with the results of the newest research in cognitive science and psychology, Huron recently adjusted Meyer’s general approach to music by adding an evolutionary perspective, arguing that the capacity to form accurate expectations confers significant biological advantages. Emotions interpreted as motivational amplifiers encourage us to pursue behaviors that are normally adaptive, and to avoid behaviors that are not, which in the case of expectations leads to the reinforcement of accurate prediction. In Huron’s account, this innate, biological basis of music phenomenon is contrasted with its learned, cultural counterpart comprising various musical schemata such as our circle of

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fifths and other means of melodic, harmonic or rhythmic organization. The expectations based on these schemata are rather complex to be discussed here, so let me only shortly sum up the most important points of Huron’s account and their philosophical relevance: (1) First, the various schemata such as our Western musical scales work as expectation norms already on the most basic level when they force us to hear the sound continuum as carved into the set of discrete pitches. When listening to a tone that is raised gradually, people typically don’t perceive a continuous change of pitch or a multitude of sounds, but a sudden, discrete step from, say, sharper minor sixth to flatter major sixth (Ball 2010, p. 75). It is obvious that without the corresponding scheme there would be no such thing as a false tone or being out of tune, i. e. one would not hear sounds as something they are, in fact, not. Here we have both the quality and aspect point of Wittgenstein’s philosophy, together with Plato’s original observation (Plato 1892, Epistles, 342 a–e) that when talking about an object we need, in fact, to take into account three aspects, namely the name (tone E), the picture (the sensible sound of certain frequency or frequencies) and definition (the ideal, situation-independent norm describing it via its position in the structure, e. g. by means of the ratio 2:1). (2) As in the case of absolute pitch, in acquiring the schemata of musical organization statistical learning seems to play a crucial role. As already mentioned, the relative (intervallic) pitches or the structure of a scale are of bigger significance here because we usually do not learn the schemata explicitly, in the form of a fixed musical “grid” represented by a particular piano keyboard, but within the context of works of art performed in different absolute pitch height, different tempos, dynamics, etc. This is not to say that one does not need an explicit scheme at all, how else, e. g. would we make and tune our over sophisticated musical instruments. In fact, it is the very possibility of making it explicit that keeps musical and other practices going, as the story of the Western tonal system and tuning practices that was sketched above indicated. As a result, instead of “what-was-the-first?” question, we are dealing with a complicated dialectic, or “bootstrapping”, as Deutsch called it (Deutsch 1984, p. 415), with the stress put on the constant interplay of a mere habituation to the (repeated) stimulus and the norm behind it which is typically only implicit in the practice kept alive by means of positive and negative sanctions, but can be made explicit in order to push the habituation further. In this, Hume’s and Kant’s solution to the induction problem are interweaved in a delicate manner, which was later reprised in Wittgenstein’s and Kripke’s discussion of rule-following. (3) Once the context of (absolute or relative) pitches is settled, the exposure effect plays an important role in acquiring further orders of musical organization

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and the respective expectations. So, e. g. naive listeners exposed to some contingently-played sequences of tones proved to be sensitive to the frequency of the occurrence of individual tones, rating the most frequent as the next best fitting, while listeners enculturated to an additional scheme preferring some progression of tones to another changed their expectations accordingly (cf. Huron 2006, p. 169). Besides this, even more complex expectational schemes might be recognized such as Meyer’s “laws of good continuation” corresponding, e. g. to the tendency for large pitch intervals to be followed by a change in direction, etc. (see Meyer 1956, p. 83). But, all in all, there is no a priori reason why any of these schemas and the corresponding expectations should be so, i. e. why, for example, in the cadence, the first scale degree should be expected after the fifth and not the other way around, or why the scale degrees should assume the expectational qualities of stable “tonic” and “dominant”, as opposed to that of a unstable “leading tone”, except that it is simply so, because we use the tones in that way. So, the more frequent diatonic tones of our “white note” scale are generally felt as more stable, and the less frequent accidentals as transitory or leaning, while the “white” leading tone is somewhere in the middle. This might remind us of the induction problem again and lead us to seemingly natural question whether one uses some cadential technique because it is good to do so or whether it is good because we use it in that way. But in a situation such as ours this question is rather misleading because our musical sounds and the frequency of their occurrence are not mere natural phenomena, i. e. they are not only the basis for a habit, as Hume thought, but also caused by it, meaning that our Humean solution already has Kantian elements in it. So, the most adequate solution might, in the end, be that of James’ pragmatism: our musical techniques are good because they work for us. The question that follows from this is, what does it mean for music and art to work. My suggestion is to answer it in connection with the emotional dimension of music and its relation to expectations. Unlike Dewey and Meyer, Huron maintains that it is the fulfillment of expectations and not their conflict that is positively assessed first. The conflict enters in later through the so-called “contrastive valence” phenomenon, which is connected to the observation that the pay-off from correct anticipation is greater when it is less certain or somehow thwarted. Now, simplifying heavily, several (to be exact, five) different physiological systems involved in expectations are stipulated so as to account for phenomena like this. One of them is the fast protective response that pertains to the pleasantness or unpleasantness, always for evolutionary reasons assuming the worst. The slower appraisal reaction can amplify the emotional response when the contrast between predicted and actual outcome is great. These two systems explain why, under certain circumstances, the blatant failures of expectation such as sur-

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prise might be still and even repeatedly found to be enjoyable as the universal game of “peek-a-boo” most aptly illustrates. Getting even more speculative, in what he calls “the aesthetic of pessimism”, Huron traces back (some) emotional experiences of music to possible appraisal reactions to surprise such as fight, flight and freeze. After being surprised, our arousal and attention are heightened; the open mouth and open eyes facilitate respiration and visual perception respectively. The hypothesis is that, depending on the evaluation of possible danger, the onset of the subsequent reactions such as piloerection and the corresponding “chills” (fight), modified panting (flight) and breath-holding (freeze) might trigger the emotions connected to frisson, laughter and awe. The two systems linked to surprise can be suitably combined with the system responsible for tension, which, though going in the exact opposite direction, i. e. towards the expected event and not away from it, also pertains to the heightened arousal and attention and as such can be magnified when the adequate contrast between the highly expected event and its actual resolution by means such as ritard, increased volume, upward trajectory, etc., is achieved. In light of this, the aesthetical appeal of music might be seen as a result of exploiting the expectational structure of our organism in a playful way, mirroring Kant’s definition of art as an exercise of judgment. What one has here, though, is rather an exercise of expectations, with the interplay of a fast unconscious reaction and a slower, conscious one that correspond to Kant’s competing concepts of sensuality and understanding. The merit of the sketched model is that it provides for the repeatable quality of musical experience connected to the problem sometimes known as “Wittgenstein paradox” (due to Dowling/Harwood 1986), or how it is possible to be surprised by musical events that one knows will happen. Huron bases his answer on the claim that the fast protective response does not habituate simply because “nature knows best: it is better to respond to a thousand false alarms than to miss a single genuinely dangerous situation” (Huron 2006, p. 6). In order to also provide for experiences that are emotionally laden at first but then fade out in the course of time, one can adjust the above fast vs. slow response system by delineating the difference between the culturally generic expectations (such as the dominant-tonic cadential progression, regular succession of strong and weak beats, etc.) and expectations connected to the particular event (containing, e. g. a deceptive cadence or syncopation), which are both learned and can eventually converge and so lose their original appeal. (This distinction is based on Bharucha’s (1987) difference between schematic and veridical expectations). Against this background, it should be sufficiently clear what the aesthetic difference between a version of Tchaikovsky’s Violin Concerto that is played in your head and a version played in an acoustically bal-

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anced concert hall consists in or, put another way, why the sensual manifestation plays such an important role in art. As for the intellectual part, the lesson taken so far is that schemata such as the circle of fifths participate in the aesthetical experience circumscribed as an exercise of expectations in all its forms and development. This includes not only the skillful inhibiting of the most predictable features of tonality such as a cadential chord progression, less stable tendency tones, downbeats, etc. but also by their pure negation, as we know from atonal music. In the case of serial techniques, this observation, of course, already follows from the decision to use every tone exactly one time in a twelve tone series, by which any expectation based on a mere frequency of occurrences of individual tones is effectively blocked. In addition to this, however, a comparison of the arbitrary twelvetone series to the rows composed by Schönberg showed that the former exhibit significantly greater tonal tendencies than the latter, suggesting that the tonal schemes of a higher order were also deliberately suppressed (Huron 2006, p. 342). This makes atonality based on “reverse psychology” rather than on “contrastive valence”, which is why Huron suggests calling it “contra-tonal” instead. In this connection, it becomes clear why Wagner in his exploitation of chromaticism, with its uniform and therefore ambiguous structure of twelve equally big steps, might be seen as a predecessor of this negative attitude – though it can be argued that the “reverse psychology” contained in his work mainly concerns the cadence which he often delays indefinitely, thus evoking the feeling of an “endless longing”. In a similar way, Huron suggests seeing Schönberg and Stravinsky as negating respectively the what- and when-related expectations by attacking traditional melodic and rhythmic structures (Huron 2006, p. 347). These examples should sufficiently substantiate the complex role of schemata in the aesthetical experience, which we circumscribed by their relation to expectations and their development as stemming jointly from our immediate biological reactions and the reactions mediated by our (self-conscious) decisions to frame experience in this or that way. As far as the use of schemata is concerned, the difference between art and science might be answered in the Kantian way by stipulating that in art the schemata are used playfully, which is also to say that to appreciate art one must be more or less conscious of the role that these schemata play in our life as opposed to sensuality or emotions, i. e. one must be self-conscious in the traditional sense of this word. I do not see any other way how this could be done outside of language or, at least (as Goodman suggested in his comments on metaphor, see Goodman 1968, p. 57), without using the organization of language. But the relation of self-consciousness to discursivity is not what I am after here. Drawing on my previous conclusions, I would instead suggest establishing the link between musical and discursive

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space on a more basic level that is related directly to the very concept of expectation. If nothing else, this should give some credit to Wittgenstein’s early remark that “the knowledge of logic must lead to the knowledge of the nature of music,” (Wittgenstein 1961, p. 40) which also indicates that the discursivity I have in mind here is not that of an arbitrary language game but that of declarative sentences participating at what Brandom called the game of giving and asking for reasons.

4 Space of reasons It is participation in the game of giving and asking for reasons that is what, according to Brandom (and Sellars), distinguishes “brute and man” or, put differently, sapient creatures like us from mere sentient ones – such as parrots, larks and chimpanzees – that also seem to be able to “speak”, “sing” or “paint”. But knowledge and understanding, as Brandom argues, is not reducible to the ability of reliable responses to external impulses such as we share with lichens and thermometers, but rather to a complex social status of undertaking inferential commitments and being recognized as such by others. Hence, a parrot’s crying out the word “red” might be as reliable as possible, but it still would not qualify as a sign of sapience or understanding because a parrot does not commit himself to anything in the sense that he is not prepared to infer, e. g. that red things are also colored red but not colored green, and, more importantly, nobody expects him to do so. As such, he occupies the physical space of sense perception but not the normative and socially articulated “space of reasons”. Along these lines, what seems to disqualify a singing parrot from being sapient in the sense of having a musical understanding is exactly the missing normative and social dimension of his actions since, for all we know, he cannot be, e. g. out of tune because he does not dispose of the respective conceptual scheme and none of his peers holds him accountable for it. On the other hand, the animals certainly seem to have desires and expectations and as such should be able to inhabit the musical space as we framed it. So, for example, the fact that Pavlov’s dog is expecting food seems to be directly read from his salivating and the fulfillment of this expectation from the fact that the salivation stopped. And because the beliefs and expectations are in fact articulable in declarative sentences the original demarcation of the sapience seems to be thwarted as well. According to Brandom, the main mistake behind this argument lies in the fact that it commits to some sort of “immediacy thesis”:

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The idea that there can be one sort of state that can have the properties both of itches [or Pavlov’s dog salivation] and of conceptually contentful desires that engage with conceptually contentful beliefs in practical reasoning is an episode of the Myth of the Given.” […] One way the difference that matters between things like itches and things like desires emerges concerns the possibility of mistakes. The notion of felt satisfaction, of relief from a motivating pressure, includes an element of immediacy as incorrigibility. The organism cannot be mistaken about whether its itch has been relieved. But I do not always and automatically know whether I have gotten what I want. (Brandom 2011, p. 74– 75)

Now, it can be argued that the quality of “not knowing whether you have gotten what you want” pertains exactly to expectations entertained in music. In fact, as we indicated above, the structure of the aesthetical experience relies on the artist’s ability to evoke expectations that the listener will have to revise later. Meyer gives this dynamical quality of a musical work the name of “embodied” (or also “hypothetical”) meaning, and illustrates its formation with plenty of sophisticated examples (such as the beginning of the c minor fugue from the first book of Bach’s Well-Tempered Clavier where, he claims, Bach intends for us to make the mistake of thinking that the motive is a part of a previously stated sequence when, in fact, it is the beginning of the fugue theme). Quite similarly to Brandom’s description of the meaning of linguistic expression as the inferential potential or role it has in the game of giving and asking for reasons, the embodied meaning of Meyer is, in fact, the product of the expectational structure of music and the implicit reasoning based on it (its “expectational potential”). Like an isolated sentence of physics, the opening chords of Beethoven’s Third Symphony do not have any meaning per se: They establish no pattern of motion, arouse no tensions toward a particular fulfillment. Yet as a part of the total aesthetic cultural act of attention they are meaningful. For since they are the first chord of a piece, we not only expect more music but our expectations are circumscribed by the limitations of the style which we believe the piece to be in. (Meyer 1956, p. 36)

This holistic feature of the musical experience is responsible for the impossibility of isolating the contribution of any particular expectation employed in it, and thus for its potential corrigibility face to face new “facts” and expectations based on them. Hence both science and art seem to employ the game of giving and asking for reason at the basic, implicit level, in the sense that they deploy their sentences and expectations in a hypothetical and revisable way, which makes them sapient in Brandom’s sense of the word. The specifics of art lie in the fact that it also explicitly takes advantage of this corrigibility, thus becoming sapient in a higher, reflective or “self-conscious” sense.

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5 Conclusion The goal of this paper was to describe the role that Stekeler’s models and Wittgenstein’s “perspicuous representations” play in the human practices and in our thinking about them with an exemplary focus on the “language game” of music and the transition from the acoustical space to the musical space. I have done this with help of several exegetical points that I had identified in Wittgenstein’s remarks on this topic, namely the no-science and no-theory points, the points of quality, quantity, aspect and plurality. Taking the circle of fifths as a paradigm of a scheme on which musical practice such as that of Western tonality can be based, I have mentioned that there is no realm of acoustical facts – such as the structure of overtone series – that can justify this practice without further ado (no-science point) and that there are always some pragmatic concerns – such as the possibility of transposition and modulation – that have to be taken into account (no-theory point). The basic use of the circle, furthermore, is not descriptive, but normative (quality point), providing not only for norms of how the instruments should be constructed but also of how the sounds they produce should be heard, i. e. not as specific frequencies but as instantiations of a musical pitch. This constitutes the phenomenon of false tone, i. e. of hearing something as something that it is not (aspect point) and that, as such, depends on a particular cultural scheme of music (plurality point). The gradual transformation of the acoustical space into the musical one was based on the supposition articulated by Meyer that the aesthetic quality of music relates to emotions and their expression in a broad, intransitive and intramusical way. In the light of this and the work of Huron, the perspicuous representations were grasped as expectational schemata against which the success of prediction and the severity of its failure are measured and give birth to emotions, typically against the psychological phenomenon of “contrastive valence”. The evolutionary aspect of our (rather simplified) account and, hence, the adaptive value of art, was taken care of by describing the physiological structure of expectations as involving (among others) two response systems – a quick, protective one and a slower, appraising one – as sufficiently known from the situations of surprise and the responses one can take, including laugh, frisson and breath-holding. In a naturalized parallel to Kant’s aesthetic, I suggested seeing aesthetical experience as an exercise of expectations stemming from the interplay of immediate, impulsive responses based on innate behavior as well as habituated, implicit schemata and responses mediated by reflective thought and explicit schemata. The link between the musical space and the discursive space of reasons was established by means of reference to expectations involved in music and their corrigibility. The fact that this corrigibility is not only assumed but also

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self-consciously reflected on and, as such, taken advantage of in the whole process (the “reverse psychology” of atonal music being a rather extreme case of this) distinguishes art from the sciences and elevates it, in the spirit of Hegel, to a position independent of the contingencies of everyday life.

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Das Segeltuchmodell 1 Einleitung Oft lohnt es sich, Aussagen in eine künstlich normierte Sprache zu übersetzen. Man kann dann zum Beispiel anhand klar geregelter Verfahren feststellen, was aus ihnen folgt und was nicht. Das setzt natürlich voraus, dass die Übersetzung einer Aussage deren relevante Form erhält. Denn nur dann, wenn wir sicher sein können, dass das Original die wesentlichen logischen und semantischen Eigenschaften seiner Übersetzung hat, können wir das, was wir über die Übersetzung feststellen, auch vom Original annehmen. Eines der immer wiederkehrenden Anliegen von Pirmin Stekeler-Weithofer ist der Hinweis darauf, dass die formale Logik unsere natürliche Sprache und Argumentationspraxis weder einfach beschreibt noch als solche normiert oder korrigiert (Stekeler-Weithofer 1986, S. 10), sondern dass sie vielmehr ein Vergleichsobjekt entwirft, das zum besseren Verständnis normalsprachlicher Aussagen und Argumente dienen kann (1986, S. 19; 82; 504). Die Konstruktion eines solchen Vergleichsobjekts erfolgt in zwei Schritten. Zum einen übersetzt man normale Äußerungen in eine normierte Kunstsprache oder einen Kalkül (vgl. Stekeler-Weithofer 1986, S. 17). Zum anderen konstruiert man ein Modell, an dem sich die wahren Sätze der so normierten Sprache bewahrheiten sollen. Man hat es also mit wenigstens drei Ebenen zu tun: (1) der lebensweltlichen Realität, zu der auch die natürliche Sprache und Argumentationspraxis gehören, (2) einer künstlich normierten Sprache, die der natürlichen Sprache in wesentlichen Hinsichten entsprechen soll, und (3) einem geeignet konstruierten Modell (vgl. Stekeler-Weithofer 1986, S. 173 und 377, sowie StekelerWeithofer 1995, S. 36). Das Modell steht dabei gewissermaßen zwischen der normierten Sprache und der Realität. An ihm soll sich einerseits die künstliche Sprache exemplarisch bewähren, andererseits kann es auch direkt als Vergleichsobjekt für die reale Welt dienen, so dass sich dann mittelbar auch die Ausdrücke der normierten Sprache auf die reale Welt beziehen lassen. Deshalb muss man immer zwischen zwei verschiedenen Gegenständen formaler Rede unterscheiden: den internen Gegenständen-im-Modell und den externen Gegenständen der realen Lebenswelt (Stekeler-Weithofer 2005a, S. 63). Ein Vergleich wäre kein Vergleich, wenn es keine Alternativen gäbe. Wenn die formale Logik also Vergleichsobjekte entwirft, dann dürfte es zu jedem solchen konkreten Entwurf auch Alternativen geben. In den Grundproblemen der Logik

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(1986) beschreibt Stekeler-Weithofer unter anderem die folgenden beiden Modelle: das von ihm so genannte Segeltuchmodell, das er Platon und Aristoteles zuschreibt (1. Teil), und Freges Funktionsmodell (2. Teil). Mir soll es hier um das Segeltuchmodell gehen. Stekeler-Weithofer geht ähnlich wie Anscombe (1981, S. 11) davon aus, dass sich Platons Ideen in einer wesentlichen Hinsicht so verhalten wie Mengen: Beide können durch Flächen repräsentiert werden, die einander enthalten oder nicht (Stekeler-Weithofer 1986, S. 41). Diese Annahme werde ich hier durch einige lose zusammenhängende Beobachtungen in Frage stellen. Ich meine nicht, dass Platon ein Flächenmodell nahelegt. Dabei geht es mir nicht um eine völlige Zurückweisung, sondern nur um eine verhältnismäßig bescheidene Ergänzung dessen, was Stekeler-Weithofer über Platon und Aristoteles sagt. Das Folgende also ist nicht viel mehr als eine Fußnote zu seinen Arbeiten. Im Zuge meiner Anmerkungen werde ich auf ein Modell hinarbeiten, das sich sowohl vom Segeltuchmodell als auch vom Funktionsmodell unterscheidet. Ich meine, dass dieses Modell besser zu dem passt, was Platon über seine Ideen sagt. Dabei wird es mir vor allem darauf ankommen, dieses dritte Modell darzustellen und plausibel zu machen, weniger darauf, Platon als seinen Urheber nachzuweisen. Um an dieser Stelle überhaupt Erkennbares leisten zu können, werde ich mich in einigen weiteren Hinsichten einschränken müssen. Ich werde mich ausschließlich mit einfachen Aussagesätzen der Form „A sitzt“, „A ist klug“ und „A ist ein Mensch“ befassen. Was den Subjektausdruck dieser Sätze angeht, ist es mir eigentlich egal, ob es sich um einen Namen („Sokrates“), eine Kennzeichnung („der Lehrer Platons“), einen generischen Term („der Mensch“), oder einen allgemeinen Term („alle / einige Menschen“) handelt. Ich werde meist einfach „Sokrates“ an die Subjektstelle setzen. Was das Prädikat der zu betrachtenden Sätze angeht, gehe ich mit Strawson und Aristoteles davon aus, dass kein singulärer Term an Prädikatstelle stehen kann.¹ Das bedeutet unter anderem, dass „der Lehrer Platons“ nicht als Prädikat des Satzes „Sokrates ist der Lehrer Platons“ angesehen werden kann. Ich werde nun zunächst beschreiben, wie Platon natürlichsprachliche Aussagen normiert. Das werde ich dadurch tun, dass ich sein Verfahren mit dem Fregeschen kontrastiere, auf das Kamlah und Lorenzen in ihrer Logischen Propädeutik abzielen. Dann werde ich zunächst ein paar philologische Bedenken gegen Stekeler-Weithofers These anmelden, Platon vergleiche Begriffe mit Segeltüchern. Wichtiger werden aber die folgenden systematischen Punkte sein. Unter anderem werde ich darauf hinweisen, dass der Kontrast zwischen Flächen

1 Strawson 1961, S. 407 – 8. Zu Aristoteles vgl. Kung 1981 und Strobel 2007.

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und Punkten in Platons Modell offenbar unerheblich ist. Das bedeutet zunächst einmal, dass man Platonische Ideen ebenso gut durch Punkte wie durch Flächen darstellen könnte. Ich werde allerdings zwei Gründe benennen, aus denen sich eine Punktdarstellung eher empfiehlt. Erstens lenkt das Flächenmodell von einem Umstand ab, der Platon offenbar wichtig ist: Dass der Begriff F in einem echten Sinn selbst F ist. Zweitens sollte man den Unterschied zwischen modellexternen Gegenständen und modellinternen Begriffen nicht mit dem zwischen Dingen und Eigenschaften gleichsetzen. Ein Flächenmodell suggeriert aber, dass Begriffe Eigenschaften seien.

2 Fregesche Prädikatoren Ich betrachte hier also die folgenden drei Beispielsätze: NV NA NN

„Sokrates sitzt“ „Sokrates ist klug“ „Sokrates ist ein Mensch“

Die Prädikate dieser drei Sätze sind „sitzt“, „ist klug“ und „ist ein Mensch“. In NA und NN kann man die Prädikate ferner in eine Kopula („ist“) und ein Prädikativ („klug“, „ein Mensch“) zerlegen. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, dass das Prädikativ in NA ein Adjektiv ist, in NN dagegen ein Substantiv mit unbestimmtem Artikel. Ein erster Schritt zur Normierung dieser Sätze ist, sie auf eine einzige Satzform zu reduzieren. Kamlah und Lorenzen machen das wie folgt. Fregesche Normalform Die Kopula wird eliminiert bzw. durch das Zeichen „ε“ ersetzt (Kamlah / Lorenzen 1967, S. 34– 5). ii. Es wird kein Unterschied zwischen Verben, Adjektiven und Substantiven gemacht (S. 28). i.

Die Auslassung der Kopula läuft in NA und NN darauf hinaus, dass Tempus und Aspekt des Satzes unbestimmt bleiben. Um NV auf die gleiche Weise zu behandeln, muss hier das Verb in den Infinitiv gesetzt werden. Durch den zweiten Schritt erhält dann NN dieselbe logische Form wie NA. Im Zuge dieses Schrittes lassen Kamlah und Lorenzen auch den unbestimmten Artikel fallen. Das intendierte Resultat ist, dass NV, NA und NN die folgende Form erhalten:

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NV NA NN

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Sokrates ε sitzen Sokrates ε klug Sokrates ε Mensch

Was hier vom Prädikat übrig bleibt, bezeichnen Kamlah und Lorenzen als Prädikator (Kamlah / Lorenzen 1967, S. 28 – 9; vgl. Carnap 1947, S. 4). Prädikatoren können auch anhand der folgenden komplexen Regel gewonnen werden: Fregesche Prädikatoren a. In Sätzen der Form NV ist der Prädikator das Verb im Infinitiv. b. In Sätzen der Form NA ist der Prädikator das Prädikativ. c. In Sätzen der Form NN ist der Prädikator das Prädikativ ohne Artikel. Die so gewonnenen Prädikatoren können, im Gegensatz etwa zu Eigennamen, von mehr als einem Gegenstand ausgesagt werden (Kamlah / Lorenzen 1967, S. 31– 2). Kamlah und Lorenzen schreiben, dass sie daher „ergänzungsbedürftig“ seien, so dass sie gewissermaßen eine „leere Stelle“ enthalten. Denn der Prädikator „Baum“ bedeute eigentlich so viel wie „x ist ein Baum“ (S. 32– 33).² Kamlah und Lorenzen nehmen also an, dass die Kopula und der Artikel, die sie zunächst aus dem Prädikatausdruck fernhalten, eigentlich doch zu ihm gehören. Nur dann können sie ihm fehlen. Es ist allerdings nicht ohne weiteres einsichtig, dass Allgemeinheit stets mit Unvollständigkeit einhergehen soll. Der Eindruck der Unvollständigkeit entsteht unter anderem dadurch, dass Kamlah und Lorenzen das Prädikativ „ein Mensch“ um den Artikel erleichtern. Schon wenn man den Artikel wieder hinzufügt, entsteht ein deutlich vollständigerer Ausdruck. „Ein Mensch“ kann zum Beispiel Antwort auf eine Frage sein und auch ohne weiteres an der Subjektstelle stehen. Wenn etwa davon die Rede ist, dass ein Mensch vermisst wird, dann ist vollständig genug bestimmt, was vermisst wird. Im übrigen ist ein Prädikativ wie „Gemüse“ auch bereits ohne Artikel ebenso vollständig. Also sind natürlichsprachliche Ausdrücke wie „ein Mensch“ und „Gemüse“ zwar allgemein, denn sie können für Verschiedenes stehen. Das macht sie aber nicht weniger vollständig als etwa „Sokrates“ oder „der Lehrer Platons“. Natürlich provoziert eine isolierte Äußerung von „ein Mensch“ die Frage: „Von was wird das gesagt?“; aber nicht mehr oder weniger als eine isolierte Äußerung von „Sokrates“

2 Dementsprechend würde auch Stekeler-Weithofer einen Satz wie „Sokrates ist ein Mensch“ so schreiben: „Sokrates ε < x: Mensch(x) >“ (vgl. 1995, S. 178). Er meint sogar, dies stelle noch keine eigentliche Normierung der natürlichen Sprache dar (1995, S. 182 – 3).

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die Frage provoziert: „Was ist mit ihm?“. Außerdem kann man ja auch von einem Menschen etwas sagen, also könnte die Frage hier ebenfalls lauten: „Was ist mit ihm?“ Ein unbefangener Beobachter wird jedenfalls nicht meinen, dass „ein Mensch“ eine Leerstelle habe, die „Sokrates“ nicht hat. Kamlah und Lorenzen sorgen also unter anderem durch Auslassung des unbestimmten Artikels dafür, dass der Prädikator in NN ebenso unvollständig wirkt wie „sitzt“ und „klug“. Es gibt natürlich gute Gründe, so vorzugehen. Es sollte aber klar sein, dass dieses Verfahren nicht alternativlos ist. Es ist bereits durch eine vorgängige Orientierung an Freges Funktionsmodell motiviert. Kamlah und Lorenzen arbeiten auf eine Sprache zu, in der Prädikationen diese Form haben: Dem Ding A kommt die Eigenschaft B zu. In dem dieser Sprache entsprechenden Modell werden Prädikatoren Eigenschaften zugeordnet, und diese werden nicht als eigenständige Dinge behandelt, sondern als Funktionen. Platon verfährt anders. Um den Unterschied zwischen Platons und Freges Logik zu verstehen, muss man bereits bei der Gewinnung von Prädikatoren ansetzen.

3 Platonische Prädikatoren Stekeler-Weithofer sagt, dass es in Platons Modell allein um Verhältnisse zwischen Begriffen gehe (1986, S. 44). Dem schließe ich mich hier an. Er folgert daraus, dass es innerhalb dieses Modells auch keine Unterschiede wie den zwischen singulären und allgemeinen Sätzen geben könne, oder den zwischen Elementbeziehung und Inklusion (1995, S. 87). In einem solchen Modell gibt es auch keinen Unterschied zwischen Eigennamen und Begriffen. Wenn Eigennamen überhaupt im Modell vorkommen sollen, dann muss man sie als Begriffe auffassen (Stekeler-Weithofer 1986, S. 76 – 7; vgl. auch Kutschera 1995, S. 27 und 60). Wenn es nur um Begriffe geht, um was geht es dann? Was Aristoteles angeht, legt Stekeler-Weithofer an einer Stelle nahe, Begriffe als Bedeutungen von Nominalphrasen aufzufassen: Wir sehen jetzt vielleicht klarer als zu Beginn, daß die Buchstaben A, B, C … in den aristotelischen Satzformen nicht eigentlich Platzhalter für sprachliche Ausdrücke (Termini; onomata), sondern eben für Begriffe (horoi) sind, die durch diese ‚Termini‘ ausgedrückt werden. […] Dennoch sollte man sie zunächst als Platzhalter für die Ausdrücke verstehen, bevor man überhaupt davon reden kann, daß sie horoi vertreten, also die Bedeutungen von ‚Nominalphrasen,‘ die Satz-Subjekt oder (Teil des) Prädikat(s) sein können. (Stekeler-Weithofer 1986, S. 114)³

3 In Sinnkriterien unterscheidet Stekeler-Weithofer zwischen Begriffen und ihrer Intension und identifiziert die Intension mit dem horos (1995, S. 83 – 4; vgl. auch 2005b, S. 115).

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Hier setzt Stekeler-Weithofer en passant Begriffe mit horoi gleich und bestimmt diese dann als Bedeutungen von Nominalphrasen. So gesehen sollten nur „ein Mensch“ und möglicherweise „Menschsein“ Begriffe bezeichnen, nicht aber „sitzt“, „klug“, oder gar „… ist ein Mensch“.⁴ Falls das so auch für Platon gelten sollte, dann sollte NN für ihn die Grundform der Prädikation sein.⁵ Denn hier ist das Prädikativ eine Nominalphrase. Das legt Stekeler-Weithofer auch nahe, wenn er schreibt: „Urteilen ist primär immer ein Klassifizieren von etwas als etwas“ (1995, S. 49). Denn wenn man genau auf die sprachliche Form achtet, dann wird Sokrates nur in NN als etwas klassifiziert, nämlich als ein Mensch. In NV wird er offenbar nicht als „sitzt“ klassifiziert, und in NA wird er nur dann als etwas beschrieben, wenn man davon ausgeht, dass Adjektive wie „klug“ für etwas stehen (vgl. Geach 1951, S. 132; Sellars 1960, S. 502). Aber auch dann, wenn man umschreibt: „Sokrates ist etwas, nämlich klug“, scheint „etwas, nämlich klug“ nicht so etwas wie eine Klasse zu bezeichnen, zu der Sokrates gehört, sondern eher etwas, das irgendwie zu Sokrates gehört. Nun kann man Sätze der Formen NV und NA ganz leicht in die Form NN bringen. Wie Aristoteles anmerkt, kann man erstens jeden Satz der Form NV in einen Satz mit Kopula überführen, indem man eine geeignete Partizipialkonstruktion bildet (De Interpretatione 12, 21b9 – 10). „Sokrates sitzt“ kann man zum Beispiel durch „Sokrates ist ein Sitzender“ ersetzen, oder, falls das nicht genau genug sein sollte, durch „Sokrates ist ein jetzt und hier Sitzender“. Irgendein passendes Prädikativ wird sich finden lassen. Zweitens liegt es insbesondere im Griechischen sehr nahe, Sätze der Form NA durch Sätze der Form NN zu ersetzen. Das liegt daran, dass das Griechische keinen unbestimmten Artikel kennt und Adjektive ebenso wie Substantive flektiert. Also kann man ein und denselben griechischen Satz entweder als „Sokrates ist sitzend“ oder als „Sokrates ist ein Sitzender“ verstehen. Deshalb können wir NV, NA und NN wie folgt in eine einheitliche Form bringen: Platonische Normalform i. In Sätzen der Form NV wird das Verb durch eine Kopula und eine geeignete Partizipialkonstruktion ersetzt.

4 In Sinnkriterien (1995, S. 105) macht Stekeler-Weithofer allerdings keinen Unterschied zwischen Adjektiven („unverheiratet“) und Nominalphrasen („Junggeselle“). 5 Prinzipiell könnte auch „A hat B“ die Grundform der Prädikation sein. Ich werde an dieser Stelle nichts gegen diese Annahme sagen. Es wird sich aber zeigen, dass man besser ohne sie fährt.

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ii. Adjektive werden durch entsprechende Substantive ersetzt bzw. also solche gelesen. Die Folge ist, dass alle Sätze die Form „A ist ein B“ haben. Dem entspricht die folgende Regel zur Gewinnung Platonischer Prädikatoren: Platonische Prädikatoren a. In Sätzen der Form NV ist der Prädikator das dem Verb entsprechende Partizip. b. In Sätzen der Form NA ist der Prädikator das dem Adjektiv entsprechende Substantiv. c. In Sätzen der Form NN ist der Prädikator das Prädikativ. Während also Kamlah und Lorenzen Sätze der Form NA weitgehend intakt lassen, bleibt bei Platon und Aristoteles NN unangetastet. Daran kann man sehen, was sie jeweils als Grundform der Prädikation ansehen. Kamlah und Lorenzen verunvollständigen das Prädikativ in NN, so dass es ebenso unvollständig wirkt wie ein Adjektiv; Platon dagegen vervollständigt die Prädikative in NV und NA, so dass sie zu Nominalphrasen werden. Die Asymmetrie zwischen vollständigem Subjektterm und unvollständigem (Fregeschem) Prädikator, die Kamlah und Lorenzen herstellen, vermeidet Platon mit gutem Grund. Denn es macht genau dann Sinn, NN als Grundform der Prädikation anzusehen, wenn es allein um Verhältnisse zwischen Begriffen geht. Das sind nämlich Verhältnisse zwischen Entitäten desselben logischen Typs, und die lassen sich am ehesten durch Sätze ausdrücken, in denen Subjektausdruck und Prädikator zu derselben grammatischen Kategorie gehören. Da der Subjektausdruck bereits eine Nominalphrase ist, sollte der Prädikator dann ebenfalls eine Nominalphrase sein. Das Resultat ist, dass in Platons normierter Sprache alle kategorematischen Ausdrücke für Dinge stehen, also in einem gewissen Sinne Namen sind.⁶

4 Der Vergleich mit dem Segeltuch Nun zu dem Modell, an dem sich die so normierten Sätze exemplarisch bewahrheiten sollen. Wir sind es gewohnt, Begriffe durch Flächen und Einzeldinge

6 Graeser meint, Platon habe einfach noch nicht verstanden, dass nicht alle Worte (onomata) Namen von Gegenständen sind (1975, S. 221). Das stimmt so nicht. Erstens hat Platon einen guten Grund dafür, alle kategorematische Ausdrücke in Nominalphrasen zu überführen. Zweitens versteht er natürlich nicht einfach alle Worte auf diese Weise.

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durch Punkte innerhalb oder außerhalb solcher Flächen darzustellen. Das tun wir, wenn wir Venn-Diagramme zeichnen. Wenn es Platon nur um Verhältnisse zwischen Begriffen geht, liegt es deshalb nahe, Platonische Prädikationen durch Modelle zu veranschaulichen, in denen nur Flächen zu anderen Flächen in Beziehung gesetzt werden. Dementsprechend schreibt Stekeler-Weithofer, Platons System bestehe „aus der Annahme, den Wörtern korrespondierten abstrakte ‚Urbilder‘ oder ‚Formen‘ (eidē), die sich so wie Flächen in einer Ebene zueinander verhalten“ (1986, S. 30). Ein Satz der Form „A ist B“ sei dabei genau dann wahr, wenn sich die Fläche, die A entspricht, im Modell ganz innerhalb der Fläche befindet, die B entspricht (1986, 40). Wie Stekeler-Weithofer bemerkt, schöpft aber erst Aristoteles das eigentliche Potential eines solchen Modells aus. Platon interessiert sich noch nicht für Fälle, in denen Flächen überlappen, und erst Aristoteles berücksichtigt dann neben allgemeinen Sätzen auch partikulare (1986, 56 und 63). Wenn aber Platon tatsächlich nur den einen Fall betrachtet, in dem eine Fläche ganz innerhalb einer anderen liegt, dann ist nicht ganz so klar, warum man ihm unterstellen sollte, er denke an Flächen. Genau so gut könnte er an Töpfe oder Matruschkas denken, von denen einige in andere hineinpassen. Einer der Hauptgründe, aus denen Stekeler-Weithofer Platon ein Flächenmodell zuschreibt, ist offenbar der Vergleich von Ideen mit Segeltüchern, den Parmenides in dem nach ihm benannten Dialog anbietet (1986, 41). Dort heißt es (in der Übersetzung von Ekkehard Martens): Hübsch, Sokrates, habe er [= Parmenides] gesagt, wie du ein- und dasselbe zugleich überall hinbekommst, als ob du mit einem Segeltuch viele Menschen bedeckst und behaupten möchtest, es sei als eines auf vielen und als ganzes. Oder meinst du nicht, dass dies deine Behauptung ist? – Vielleicht, habe er [= Sokrates] geantwortet. (Parmenides, 131b-c)

Sokrates hatte zuvor erklärt, man könne dann ganz leicht verstehen, wie ein Ding Vieles sein könne, wenn man es von den Ideen unterscheide, an denen es teilhat (129a). Auf die Frage des Parmenides, was man hier unter „Teilhabe“ verstehen solle, hatte Sokrates dann unter anderem geantwortet, eine Idee könne so als ganze in vielen Dingen sein, wie ein Tag als ganzer an vielen Orten sein kann (131b). Als Ersatz für diese Metapher bietet Parmenides nun den Segeltuchvergleich an: Das sei so, wie wenn ein Segeltuch als ganzes über vielen Menschen aufgespannt sei. Nun hat es hier den Anschein, als schiebe Parmenides die Segeltuchmetapher einem zögerlichen Sokrates in der Absicht unter, darüber seinen Versuch einer

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Prädikationstheorie zu Fall zu bringen.⁷ Wenn es so ist, dann will uns Platon möglicherweise eher raten, diese Metapher zu vermeiden. Immerhin zögert Sokrates selbst merklich, wenn er nur „Vielleicht“ antwortet. Auch ist hier nicht etwa davon die Rede, dass sich Segeltücher unter anderen Segeltüchern befinden, sondern davon, dass sich mehrere einzelne Menschen unter einem Tuch befinden. Es scheint hier gar nicht um das Verhältnis von Tüchern zueinander zu gehen, sondern um das zwischen allgemeinen Begriffen (Tüchern) einerseits und einzelnen Dingen (Menschen), die an ihnen teilhaben, andererseits (vgl. Stekeler-Weithofer 1992, S. 363). Innerhalb eines Modells, in dem nur Begriffe vorkommen, kann dieses Verhältnis gar nicht dargestellt werden. Daher beschreibt Stekeler-Weithofer die methexis auch als Verhältnis zwischen dem Modell und seiner Anwendung (vgl. u. a. 1995, S. 211; 2005b, S. 107).Wenn das so ist, dann beschreibt der Segeltuchvergleich aber nicht das, was im Modell geschieht, sondern bestenfalls ein Verhältnis zwischen modellinternen und modellexternen Gegenständen.⁸ Andererseits ist da, wo Parmenides die Ideen mit Segeltüchern vergleicht, von einem Kontrast zwischen modellinternen Ideen und modellexternen Instanzen noch gar nichts zu sehen. Hier operieren Parmenides und Sokrates noch mit der Annahme, die Ideen und ihre Instanzen seien vom selben Typ, so dass Dinge etwa so an einer Idee teilhaben können wie sich Menschen einen Kuchen teilen (vgl. Rickless 1998, S. 514). Auch Tage und Orte gehören ja nicht etwa zu zwei verschiedenen „Welten“, wie Scolnicov offenbar meint (2003, S. 57). Die Annahme, dass Ideen und Instanzen zu zwei gänzlich verschiedenen Bereichen gehören, wird erst später geprüft (vor allem ab 133b), aber dort spielt der Segeltuchvergleich keine erkennbare Rolle mehr. Platon scheint ihn einfach fallen zu lassen. Wenn das so ist, dann handelt der Segeltuchvergleich weder von dem, was wirklich im Modell geschieht, noch von dem Verhältnis zwischen Modell und Anwendung. Er wird fallen gelassen, weil er keine dieser Sachen trifft.⁹

7 Die „received opinion“ (Panagiotou 1987, S. 15) ist jedenfalls, dass Sokrates die Segeltuchmetapher besser abgelehnt hätte (vgl. u. a. Crombie 1962, Bd. II, S. 331; Sprague 1967, S. 96; Miller 1986, S. 50). Dagegen aber u. a. Gerson 1981, S. 20; Allen 1997, S. 132 – 3; Panagiotou 1987; Rickless 1998, S. 516. 8 Allererdings kann methexis offenbar auch für ein Verhältnis zwischen Begriffen stehen. Vgl. Nehamas 1982. 158b unterscheidet Parmenides übrigens zwischen μέθεξις (Teilhabe) und μετάληψις (Teilnahme), und von diesen beiden Begriffen scheint eher μετάληψις das Verhältnis zwischen Einzelding und Idee zu bezeichnen. 9 Im zweiten Teil des Parmenides ist das Segeltuchmodell allerdings an zwei Stellen deutlich im Hintergrund erkennbar. (1) 144d unterstellt Parmenides erneut, dass nichts zugleich als ganzes an mehreren Orten sein kann. (2) 150a spricht er davon, dass eine Idee ganz durch eine andere Idee „hindurchgespannt“ (τεταμένη) sei. Was das zu bedeuten hat, hängt davon

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Platon bietet uns das Segeltuchmodell also nicht einfach an, sondern steht ihm kritisch gegenüber, und es geht in diesem Modell gar nicht um Verhältnisse zwischen Flächen. Stekeler-Weithofer weiß natürlich, dass seine Deutung „historisch-philologisch nicht vollständig gesichert“ ist (1995, S. 101). Darauf kommt es auch nicht wirklich an. Denn sie könnte ja systematisch-philosophisch begründet sein, und das wäre weit wichtiger. Es spricht auch überhaupt nichts dagegen, den Vergleich des Parmenides auszubauen und entweder von den Menschen unter dem Tuch abzusehen und weitere Tücher über dem Tuch anzunehmen, oder aber die Menschen einfach mit Tuchabschnitten zu identifizieren (vgl. 1995, S. 87). Es ist auch nicht etwa gesagt, dass die Vergleiche, anhand derer Parmenides Verwirrung stiftet, „jeden, der ihnen folgt, zuletzt in ein ‚bodenloses Geschwätz‘ … verwickeln“ (Cassirer 1936, S. 212 = ECW 22, S. 9). Denn es kommt ja immer darauf an, wie man einen Vergleich versteht. Vielleicht will uns Platon hier nur vormachen, wie wir den an sich richtigen Vergleich von Begriffen mit Segeltüchern nicht verstehen sollten. Was wir dann offenbar vermeiden sollten, ist ein allzu materialistisches Verständnis der „Tücher“ (vgl. etwa Crombie 1962, Bd. II, S. 333; Schudoma 2001, S. 23). Wir sollten ihnen nicht in dem Sinne eine Ausdehnung zuschreiben, dass sie eine bestimmte Größe hätten, oder dass sie sich gar rechts oder links voneinander befänden. Wahrscheinlich kommt es Platon auch auf den Punkt an, dass die Teilung der Extension eines Begriffs nicht dasselbe ist wie die Teilung dieses Begriffs selbst (Stekeler-Weithofer 2005b, S. 116). Alle diese Punkte laufen allerdings eher auf eine Warnung vor der Segeltuchmetapher hinaus. Anscheinend sollen wir gerade die Eigenschaften, die die Tücher als solche haben, nämlich ihre Größe, Form und Lage, besser ignorieren.

5 Selbst-Prädikation Was Parmenides im Anschluss an die oben zitierte Stelle sagt, deutet ebenfalls darauf hin, dass man die Merkmale der Tücher selbst nicht mit den Merkmalen der Begriffe vermengen sollte, für die sie stehen. Denn das tut Parmenides, wenn er fragt, ob das Tuch, das das Kleine repräsentiert, nicht größer sein müsste als seine Teile, und also gar nichts Kleines darstelle, sondern eben ein Größeres (131d-e). Er

ab, wie die dialektische Übung des Parmenides gemeint ist, und das ist eine schwierige Frage. Falls Natorp Recht haben sollte, soll hier auch der „minder gewitzte“ Leser begreifen, dass das Segeltuchmodell falsch ist (1921, S. 257).

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setzt hier offenbar voraus, dass das, was im Modell den Begriff des Kleinen vertritt, eigentlich auch selbst klein sein sollte (vgl. Curd 1986, S. 129 – 31). Anscheinend verträgt sich das Segeltuchmodell also nicht gut mit der Annahme, der Begriff F sei selbst F. Es lässt wenig Spielraum für Selbst-Prädikation in ihrer klassischen Form (Vlastos 1954, S. 324). Denn wo die Segeltücher buchstäblich die Merkmale haben, für die sie stehen, da ist es bloßer Zufall. Falls Platon das Segeltuchmodell akzeptieren, aber vor seiner falschen Interpretation warnen sollte, dann will er uns vielleicht zu verstehen geben: Begriffe haben nicht die Eigenschaften, für die sie stehen. Das will er aber nicht. Die These, der Begriff F sei F, ist ihrerseits viel zu tief in Platons Denken verankert, als dass er sie hier im Vorbeigehen ganz in Frage stellen könnte (Clegg 1973, S. 30). Wir müssen also annehmen, dass er hier nicht das Segeltuchmodell einbringt, um diese These zu widerlegen, sondern dass er umgekehrt die ihm selbstverständliche Annahme, der Begriff des Kleinen sei klein, gegen das Segeltuchmodell oder wenigstens gegen seine falsche Interpretation ausspielt.¹⁰ Es bleibt jedoch die Frage, wie man diese Annahme verstehen soll. Stekeler-Weithofer möchte Platon die klassische Variante der Selbst-Prädikation (dass der Begriff F buchstäblich selbst F sei) nicht zuschreiben. Er optiert für die so genannte „paulinische“ Lesart (vgl. Peterson 1973, S. 458; Vlastos 1972, S. 446): Dass der Begriff F selbst F ist, bedeutet dann einfach, dass alles, was unter ihn fällt, F ist (Stekeler-Weithofer 1995, S. 61; 1997, 352). Wenn man „Das Kleine ist klein“ so liest, dann gibt es natürlich keinerlei Anlass, sich durch Parmenides’ Frage verwirren zu lassen. Denn dann braucht der Begriff des Kleinen nicht selbst klein zu sein, und es wäre nicht weiter irreführend, wenn er durch etwas Größeres vertreten wird. Nun hat Robert Heinaman gegen eben diese paulinische Lesart eingewandt, dass der Begriff F für Platon offenbar in genau demselben Sinn F ist wie seine Instanzen (1989, S. 57– 9). Das wäre dann schwer nachvollziehbar, wenn man einen formalen Unterschied zwischen Begriffen und Eigennamen machen wollte. Während „Das Kleine ist klein“ durchaus paulinisch gelesen werden kann („Alles Kleine ist klein“), scheint das bei „Sokrates ist klein“ weniger Sinn zu machen („Alle Sokratesse sind klein“?). Also scheinen das Kleine und Sokrates nicht in demselben Sinn klein zu sein.

10 Teloh meint, dass Selbst-Prädikation hier überhaupt keine Rolle spiele (1975, S. 15). Richtig ist, dass es hier nicht darum geht, Sätze der Form „Der Begriff F ist F“ zu begründen oder gar zu widerlegen. Sie spielen aber eben deshalb eine wichtige Rolle, weil sie hier gegen ein falsches Verständnis des Segeltuchmodells ins Feld geführt werden. Im Übrigen folgen sie aus dem Prinzip, von dem Teloh sagt, es sei hier eigentlich relevant: Dass jede Ursache die Merkmale haben müsse, die sie verursacht.

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Gerade dieser Einwand trifft Stekeler-Weithofers Segeltuchmodell aber nicht, denn innerhalb dieses Modells muss „Sokrates“ ja in der Tat wie ein Begriff behandelt werden. In diesem Modell haben „Das Kleine ist klein“ und „Sokrates ist klein“ tatsächlich dieselbe logische Form, so dass keiner der beiden Sätze paulinischer ist als der andere. Beide dürften dann die Form haben: „Alles,was unter F fällt, ist klein“. Allerdings kann man diese Sätze innerhalb des Modells gar nicht so erläutern, wie es Stekeler-Weithofer tut. Denn die Formel, durch die er sie als paulinische kennzeichnet, arbeitet ja mit einer Quantifikation über alle einzelnen Instanzen des fraglichen Begriffs. Wenn aber innerhalb des Modells gar keine Einzeldinge vorkommen, dann kann man auch nicht über sie quantifizieren. So gesehen kann man paulinische Prädikationen nur modellextern verstehen. Innerhalb des Modells gibt es nur Aussagen über Begriffe, und also kann ein Satz wie „Das Kleine ist klein“ innerhalb des Modells doch nur eine Aussage über den Begriff selbst sein. Anders gesagt: Wenn „Das Kleine ist klein“ ein paulinischer Satz sein soll, und wenn solche Sätze innerhalb des Modells darstellbar sein sollen, dann sollte man paulinische Sätze überhaupt nicht mit Allaussagen über einzelne Instanzen gleichsetzen, sondern besser mit generischen Sätzen wie „Die Katze hat vier Beine“ oder „Die Troika wurde von einem Russen erfunden“ (Ketchum 1978, S. 48 – 9). Wenn man den Satz „Das Kleine ist klein“ als derart generischen Satz versteht, dann sagt er vom Kleinen als solchem, dass es klein sei. Wenn er es vom Begriff sagt, dann muss der Begriff des Kleinen eben das Kleine als solches sein— das Kleine, insofern es klein ist. Von einem so verstandenen Begriff gilt in genau demselben Sinn, dass er klein ist, wie es von Sokrates gilt. Ich meine, dass dies der eigentlich wichtige Punkt ist, wenn es darum geht, Platons Ideenlehre zu verstehen. Platon geht es nicht um die Gattung der Menschen oder die Eigenschaft der Klugheit, sondern um den Menschen und den Klugen als solchen. Wenn die Idee des Menschen der Mensch als solcher ist, dann ist diese Idee selbstverständlich ein Mensch, und wenn die Idee des Klugen der Kluge als solcher ist, dann ist diese Idee selbstverständlich klug. Wenn das alles so ist, dann warnt uns Platon hier doch nicht vor der Annahme, der Begriff des Kleinen sei buchstäblich klein. Denn das Kleine als solches ist buchstäblich klein.Vielmehr warnt uns Platon hier davor, das Segeltuchmodell auf eine Weise zu verstehen, die sich mit dieser Annahme nicht verträgt. Es ist dann in der Tat handfest irreführend (wenn auch nicht falsch), den Begriff des Kleinen durch etwas Größeres darzustellen. Das zeigt erneut, dass man gerade die Eigenschaften, die eine Fläche als solche hat, besser ignorieren sollte, wenn man mit einem Flächenmodell arbeitet. Überhaupt sollte gelten: Je weniger Eigenschaften die Bestandteile eines Diagramms haben, desto besser.

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6 Abstrakt und konkret Ein Modell, in dem nur Begriffe repräsentiert werden, Einzeldinge aber nicht, muss uns fremder sein als auf den ersten Blick vermutet.Wir haben eben gesehen, dass man innerhalb eines solchen Modells nicht einmal zwischen singulären und quantifizierten Urteilen unterscheiden kann, und also auch nicht so wie StekelerWeithofer zwischen normaler und paulinischer Prädikation. Dem, was wir hier zwar noch mit dem Wort „Begriff“ bezeichnen, kommt so das Gegenteil abhanden; und daher ist gar nicht mehr klar, ob und in welchem Sinne es sich wirklich noch um Begriffe handelt. Das gilt dann auch für die Flächen, die für Begriffe stehen sollen. Wo es nur Flächen gibt, aber keine Punkte, da kommt es auf den Kontrast zwischen Fläche und Punkt offenbar nicht an. Insbesondere dann nicht, wenn wir gehalten sind, die Flächeneigenschaften der Flächen zu ignorieren. Nun stehen den Elementen des Modells doch wenigstens die realen Gegenstände außerhalb des Modells gegenüber. Die einen sind abstrakt, die anderen konkret. Wenn man das Abstrakte mit dem Begrifflichen gleichsetzt, dann hat die These, die Elemente des Modells seien nur Begriffe, immer noch genug Gehalt. Sie läuft dann darauf hinaus, dass alles im Modell abstrakt ist und alles außerhalb des Modells konkret. Es ist aber wieder nicht klar, ob das etwas mit dem Unterschied zwischen Flächen und Punkten zu tun hat. Konkret ist, woran man Materie und Form unterscheiden kann. Abstrakt ist, was nicht in diesem Sinne in Materie und Form zerlegt werden kann. Zwar ist in Abwesenheit eines Kontrastes zwischen Materie und Form nicht klar, ob man hier von bloßen Formen oder bloßer Materie sprechen soll, oder vielmehr von etwas Drittem, das weder Form noch Materie ist. Es ist aber üblich, das Abstrakte mit den bloßen Formen gleichzusetzen. Nehmen wir also an, dass innerhalb des Modells nur Formen eine Rolle spielen und sich alles materielle (d. h. stoffliche) außerhalb des Modells befindet (vgl. Stekeler-Weithofer 1986, S. 45 und 75). Es sollte klar sein, dass das keinen formalen Unterschied zwischen den Bestandteilen des Modells und denen der realen Welt darstellen kann. So wie Aristoteles den Unterschied zwischen Materie und Form versteht, besteht jedenfalls kein sachlicher Unterschied zwischen der Form und der Materie eines materiellen Dinges. Das macht er dadurch klar, dass er den Unterschied zwischen Form und Materie anhand des Kontrasts von Möglichkeit und Wirklichkeit erklärt. Er schreibt, dass die Form eines materiellen Dinges das der Wirklichkeit nach sei, was seine Materie der Möglichkeit nach ist (Metaphysik H6, 1045b16 – 19). Wer die Materie und die Form eines materiellen Dinges beschreibt, wird daher in beiden Fällen genau dieselben Merkmale auflisten, nur in einer je anderen Modalität. Nimmt man an, der Mensch sei ein federloser Zweibeiner, so ist

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seine Form der Wirklichkeit nach ein federloser Zweibeiner und seine Materie der Möglichkeit nach ein federloser Zweibeiner. Wenn der Unterschied zwischen Abstraktem und Konkretem auf dem so verstandenen Unterschied zwischen Form und Materie beruht, dann ist auch er kein sachlicher. Wenn er dazu dienen soll, zwischen modellinternen und modellexternen Gegenständen zu unterscheiden, dann ist das auch ganz richtig so. Denn selbstverständlich wird man sich von dem Unterschied zwischen Begriff und Anwendung keinen Begriff machen können. Wenn man das könnte, dann könnte er im Modell selbst vorkommen. Also ist der Unterschied zwischen Abstraktem und Konkretem keiner, für den ein Begriff stehen könnte. Er besteht nicht darin, dass sich alle abstrakten Dinge in ihrer Form oder durch ihre Eigenschaften von konkreten unterscheiden. Benedikt Strobel meint zwar, es gebe bestimmte Eigenschaften, die nur konkrete Dinge haben könnten, abstrakte aber nicht (2007, S. 26). Zum Beispiel meint er, abstrakte Dinge könnten keine Körper haben (2007, S. 290). Das liegt wohl deshalb nahe, weil Körper notwendig materiell zu sein scheinen, abstrakte Dinge dagegen immateriell. Aber es ist falsch. Natürlich können abstrakte Dinge keine konkreten Körper haben. Wenn es aber überhaupt abstrakte Menschen geben kann, dann kann es mit dem gleichen Recht auch abstrakte menschliche Körper geben. Wenn das so ist, dann gilt insbesondere, dass der Unterschied zwischen Konkretem und Abstraktem nicht etwa mit dem zwischen Dingen und Eigenschaften zusammenfällt. Das mag wiederum so scheinen, wenn man das Abstrakte mit dem Unvollständigen gleichsetzt und Eigenschaften mit Frege als etwas Unvollständiges ansieht. Wenn der Kontrast zwischen konkret und abstrakt aber kein sachlicher ist, dann sollte er auch nicht so einfach bestimmbar sein wie der zwischen Vollständigem und Unvollständigem. Das Abstrakte ist dann nicht als solches das Unvollständige, und also können auch vollständige Dinge abstrakt sein. (Abstrakten Dingen fehlt zwar die Materie, aber das stellt keinen sachlichen Mangel dar.) Auch wenn der Kontrast zwischen Abstraktem und Konkretem mit dem zwischen internen und externen Gegenständen zusammenfallen sollte, dann folgt daraus also nicht etwa, dass im Modell nur Eigenschaften vorkämen und Dinge nur außerhalb. Es folgt nicht, dass die Elemente des Modells Begriffe im Fregeschen Sinn sind. Denn es kann sehr wohl abstrakte Dinge geben: zum Beispiel abstrakte Menschen mit abstrakten Körpern, die abstrakt klug sind und abstrakt sitzen. Dann ist wieder einmal nicht klar, warum man modellexterne Gegenstände mit Punkten in Verbindung bringen sollte, modellinterne Begriffe aber mit Flächen. Da wir es gewohnt sind, Eigenschaften durch Flächen darzustellen und Dinge durch Punkte, erweckt ein reines Flächenmodell den Eindruck, es gehe hier

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nur um Eigenschaften. Daraus, dass alle Elemente des Modells Begriffe sind, folgt aber gerade nicht, dass innerhalb des Modells nur Eigenschaften vorkommen können. Was Platon angeht, sollte man sogar annehmen, dass alle Elemente des Modells abstrakte Dinge sind.¹¹ Schließlich würde in einem Modell, in dem es nur Eigenschaften gibt, etwas wichtiges fehlen, nämlich die Träger dieser Eigenschaften.¹² Wenn man also daran festhalten will, dass die Elemente des Modells Begriffe sind und daher alle vom selben logischen Typ, dann sollte man Begriffe mit abstrakten Dingen identifizieren und nicht mit Eigenschaften. Das macht man klarer, wenn man sie durch Punkte darstellt und nicht durch Flächen.

7 Zusammenfassung Die Elemente in Platons Modell sind in der Tat alle vom selben Typ.¹³ Es spricht daher nichts dagegen zu sagen: In diesem Modell kommen nur Begriffe vor. Es ist aber wichtig zu sehen, dass es sich nicht um Begriffe im Fregeschen Sinn handelt, sondern um abstrakte Dinge. Auf der Ebene der normierten Sprache wird das dadurch klar, dass NN als Grundform der Prädikation gilt und dementsprechend alle einfachen Aussagesätze die Form „A ist ein B“ haben. Das Resultat einer solchen Normierung ist, dass alle kategorematischen Ausdrücke der normierten Sprache Nominalphrasen sind, also Benennungen von (abstrakten oder konkreten) Dingen. Den Begriff, unter den Sokrates in dem Satz „Sokrates ist ein Kluger“ gebracht wird, sollte man daher nicht als „Klugheit“ fassen, sondern als den Klugen als solchen. Der Kluge wird also von Sokrates ausgesagt. Der Kluge als solcher ist ein abstraktes Ding, keine Eigenschaft. So gesehen ist ohne weiteres klar, dass der Begriff des Klugen (= der Kluge als solcher) selbst klug ist, und zwar ebenso buchstäblich, wie Sokrates klug ist. Was das der so normierten Sprache entsprechende Modell angeht, ist es deshalb am besten, wenn die Elemente des Modells, die für Begriffe stehen, selbst so wenige Eigenschaften haben wie möglich. Da wir es gewohnt sind, Eigen-

11 Das tut Stekeler-Weithofer offenbar nicht, wenn er das Verhältnis zwischen internem Begriff und externem Gegenstand als eines zwischen Begriff und Ding bezeichnet (1986, S. 42). 12 Von einem Modell, in dem nur (Bündel von) „tropes“ vorkommen sollen, kann man gar nicht sagen, dass darin nur Eigenschaften vorkämen. Es fehlt dort überhaupt der Kontrast zwischen Ding und Eigenschaft, der einer solchen Feststellung Sinn verleihen würde. 13 Dass das auch für Aristoteles gilt, betonen Matthen 1984, S. 34 und Malink 2009, Abschn. I 3, S. 25.

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schaften durch Flächen und Dinge durch Punkte darzustellen, ist es insbesondere besser, Platonische Begriffe nicht durch Flächen darzustellen, sondern durch Punkte. Es ist also besser, überhaupt nicht mit Flächendiagrammen zu arbeiten, sondern mit Graphen. Wenn wir eine Lehre aus der Diskussion der Segeltuchmetapher im Parmenides ziehen sollen, dann, meine ich, dürfte es diese sein.

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Propositional attitudes and propositional nexuses A hieroglyphical elucidation Pirmin, let us consider how we might represent a number of intuitively formal distinctions between states of affairs in which one or more agents thinks or knows something, and especially cases where a subject thinks or knows something of herself, and still more especially where a number of agents together think or know something of each other. Here’s the easy sort of case.

Smith believes that the Earth has been invaded by Martians We might emphasize the peculiar character of the that clause by writing this thus:

In the first of these prospective representations, I am using a sort of hollowedout upright box in the turnstile that represents belief; later I will use a filled-in upright box to represent knowledge. I suspect that the second way I am imagining writing it – by putting the content believed in a thinly framed box (knowledge by contrast having something more, a heavy frame) – would have some advantages – for example when we consider some of the other phenomena we might want to find latent in this material, e. g. action, acting together.

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It is a defect of all of the whole setup that the representation of atomic unembedded knowledge attributions does not bring out the fact that the one who makes them is committed to the proposition, i. e., that knowledge is ‘factive’.

Smith tells Jones that the Earth has been invaded by Martians That is, he convinces Jones of this, or spreads this opinion to Jones:

Here, the different spatial positions of their names mark Smith and Jones respectively as source and target, agent and patient, cause and affected. In the case I have illustrated here, I am assuming that each subject believes the proposition, one having been ‘infected’ by another. But of course, a number of distinctions can be made here depending on whether Jones is convinced by Smith or not, or whether Smith himself believes it, etc.; the core case is surely the spread of opinion, the sort of thing represented here. The absolutely crucial thing to note, is that here we have to do with a propositional nexus of two subjects, not a propositional attitude of one; this is one of the fundamental oppositions I am attempting to impart. It is not an expressly linguistic nexus, such as would be expressed by “Smith uttered ‘Smith loves Jones’ to Jones,” or “Speaking English, Smith uttered ‘Smith loves Jones’ to Jones”. Of course our propositional nexus would usually be constituted partly by such a linguistic act, but the same propositional nexus might be constituted differently in different languages, and so forth. The thoughts I am trying to symbolize here and below no more pertain to language and signs than the one expressed by “Jones believes that it is snowing” does. I will occasionally note the utterance that might be in question if the agents speak English and communicate in it. The claim that propositional nexuses presuppose language has more to be said for it than the claim that propositional attitudes do, of course; but both

Propositional attitudes and propositional nexuses

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claims are disputable and I would think that no one knows how to argue for either. Note: I will continue to use the Russell-extending jargon of ‘propositional attitudes’ and ‘propositional nexuses’, though it will emerge in what follows that the attitude or nexus might have a form in which it takes something other (something less) than a proper ‘proposition’. The jargon might be justified as applying to attitudes and nexuses that take proper propositions in one or another of their forms.

Smith knows that Smith loves Jones

Here Smith knows a ‘proposition’ that Jones – or Schwartz, or Ramirez – might know just as well. It is a proposition about himself; but it is not, if you like, about himself as himself. In Castaneda-ese (1966), it is not about himself*; in Geach-ese (1957), it is not about him, himself. Of course Smith might come to know this from knowing that he, himself, loves Jones, and also knowing that he, himself, is Smith. But he might know this third person proposition-about-Smith in some stranger way, e. g. by stealing his analyst’s notes. These tell him that Smith loves Jones. (He might then infer that he himself loves Jones, if he possesses the further knowledge that he himself is Smith.)

Smith informs Jones that Smith loves Jones Or, reciprocally: Jones learns from Smith that Smith loves Jones (where, again, the people thought about are the same as the people thinking, i. e., those involved in the cognitive relation):

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This is a typical case of the movement of knowledge, akin to the movement of opinion mentioned above. In order to generate certain contrasts in the following, I take the third person proposition that is moving between them to pertain to the subjects themselves. That is, the proposition that moves between them could be known by anyone. Smith gives Jones information about himself, but not as himself; and she learns from him something about herself, but not as herself. I take it that the ‘movement of (propositional) knowledge’ is principally effected by language, among us human beings, and moreover that this is the purpose of assertoric language, and would enter into its definition; the movement of doxa, symbolized above, is a concomitant phenomenon. Human languages are diverse ways of realizing the possibility of the formation of such nexuses as these. But it could be different with Martians, and no such association is presupposed in what I say below. (Nb. I gender “Smith” and “Jones” respectively as masculine and feminine nouns, for reasons languages are supposed usually to do this – namely to keep track of pronouns in what follows their introduction.)

Smith knows that he (himself) loves Jones

Propositional attitudes and propositional nexuses

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Here again we have a regular one-man ‘propositional attitude’, but now with a ‘first personal’ character. I exhibit a few picturesque ways of setting things up for the use of an indirect reflexive or ‘logophoric’ pronoun; i. e. a Castaneda pronoun, or Geach-Castaneda pronoun, or whatever you want to call them. What is being represented is ordinary ‘first person knowledge’. The ε (or “he*”) is logophoric in that it is controlled by the verb “to know,” and in some sense ‘referred’ to the subject of knowledge, so that, for example, we can infer the proposition that Smith loves Jones from such a proposition. Any regular intentional verb could exhibit the same phenomenon, e. g. x said that p, x wondered whether p, etc. – that is, the verb representing any of these could release a logophoric pronoun. Someone can wonder whether snow is white, or whether he himself is white; someone can say that he, himself, is white, just as much as he can say that snow is. In English he might say that he is white by saying “I am white” – as he might express the corresponding doubt and wonderment by asking “Am I white?” whether in soliloquy or to another. On some doctrines, e. g. that of Frege, Evans and McDowell, the knowledge in question is unmodified knowledge of a Fregean Thought. Because no one but Smith can grasp this Thought, or grasp it directly (a difficulty that vexed Castaneda, and was already noted by Frege), we outsiders must use a logophoric/ Geach/Castaneda pronoun to make a sort of map-reference to the Thought in question. On the opposing doctrine of Anscombe, Loar and Lewis, we have to do with a distinctive not-exactly-propositional attitude that takes as object what is elsewhere a predicative element in a Thought. Or rather, it is a non-propositional form of what might elsewhere take a propositional form and thus win the title of a propositional attitude. It is, in any case, knowing-oneself-to-be. And that much might be granted by Evans or McDowell. But the Anscombe/Loar/Lewis thought (to give the temporal succession) is that it cannot be reduced to knowing-that-p in general – that is to the properly propositional form of knowing; that form of knowing is not buried inside it. Lewis of course hold the curious view that all knowledge (excepting perhaps knowledge of atemporal non-contingent truths) is of this type, in a way that fits with his larger perspective. Rather than saying that knowledge and belief might come in diverse forms, he insists that they be ‘standardized’ and puzzles about the first person force a standardization in the direction of a non-propositional object. Where someone is said to know or believe that p, where p is a contingent, temporal proposition, he finds something for the agent to know- or think-himself-to-be.

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Against this, Anscombe and Loar must be described as holding that knowledge comes in two varieties: one is knowledge that p; the other is knowledge that one, oneself, is F. Itself “as other”: If we thought of ordinary empirical cases of knowing that a is F as primitively of the form ‘knowing a to be F’ then the threefold opposition Anscombe gets going at the outset of her paper could be captured with the familiar Aristotelian opposition between something’s V’ing another, something’s V’ing itself ‘as other’ – which last is to be distinguished in suitable cases from something’s self-V’ing, properly so called. A similar analogy is explicitly employed by Rödl in Self-Consciousness (2007). Illustration of the Aristotelian opposition: I can move you, in respect of your (paralyzed) left hand (by raising it with my right hand); and I can move myself, as other, in respect of my (paralyzed) left hand (by raising it with my right hand); but in either case I ‘self-move’ in respect of my right hand, or, if you like, I ‘selfraise’ it. By contrast, for Aristotle techne relates technician and materials to each other as other, so if the physician heals himself, he heals himself ‘as other’, and there is no second self-related sense of ‘self-healing’. Anscombe’s implicit application of the Aristotelian opposition: In Anscombe’s case, there will be a second such sense. (Cp. the discussion of John Horatio Auberon Smith, who learns from the reading of the will that John Horatio Auberon Smith has inherited a fortune – but he only knows that he (himself) is John Smith, not that he (himself) is John Horatio Auberon Smith.) We must distinguish: 1. One thing’s knowing another to be F – which would find a typical case in empirical knowledge founded immediately on intuition of the other; 2. A thing’s knowing itself (as other) to be F, which is really just a special case of (1.) 3. What might variously be described as: – a thing’s self-knowing in respect of F-ness (in quasi-Aristotelian jargon), – its knowing itself* to be F (in Castaneda’s jargon), – its knowing itself, itself, to be F (in Geach’s jargon) – its knowing itself (as itself) to be F (in the jargon I have occasionally been employing above) – its knowing ɛ to be F – its “knowing myself to be F” (in the broken English that a native speaker of Amharic might mistakenly reach for. (see note below) Though my principal topic is propositional nexuses, I will attempt below to defend the Anscombe position about propositional attitudes on the basis of remarks about propositional nexuses; this is perhaps defending the doubtful via

Propositional attitudes and propositional nexuses

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the more doubtful. Thus I will follow Herr Baedeker and put three dots in the margin (* * *). The Lewis view would need to be completely altered to take account of these points, so in a sense they are an objection to his view, as they also are to the Frege/Evans/McDowell view.¹

Smith knows that he, himself, loves himself – i. e. that he exhibits self-love:

Here the same logophoric pronoun, linked to the same pronoun-binding verb, exhibits the familiar reuse that is so crucial to Frege’s “letters”.

Smith informs Jones that he (himself) loves himself or, reciprocally: Jones learns from Smith that he, himself (the latter), loves himself

1 It is familiar that Kaplan (in his ‘prohibition on monsters’) states that however deep into a complex embedding of intentional verbs a first person expression like “I” may appear, it will always refer to the speaker, and not to the subject of the immediately governing verb. Amharic and other such languages are then given as counter-examples by clever linguists. The curious thing about Amharic & Co. is that they are deprived by this device of embedding references to the speaker. But English has the opposite tragedy, since it only has “he” or “himself,” which could be understood as an ordinary reflexive. The sublimest languages, prevalent in West Africa, have a special so-called “pronom logophorique” (Hagege, 1974) – which is exactly what Castaneda’s “he*/she*” and Geach’s “he himself/ she herself” are meant to supply.

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Here the Fregean reuse is exhibited in a two-place propositional nexus, the relational “verb” releasing a logophoric pronoun ε. This ‘refers’ to the first, or agent, position in the relational verb, the turnstile – as we can see from the fact that the proposition symbolized entails that Smith loves himself. Smith is imparting a bit of his own self-knowledge to Jones.

Smith informs Jones that Smith loves her (herself) or, reciprocally: Jones learns from Smith that (a certain) Smith loves her (herself) (where the Smith she learns about is the one from whom she is learning):

Here, Smith gives information about himself, but not as himself; Jones, by contrast learns from him something about herself, as herself. In English, this might come about from Smith’s saying “Smith loves you” to her. I use an η rather than an ε in order to represent that the controlling 2-place cognitive verb connects it with the second position – so that, for example, this proposition entails that Smith loves Jones. I will improve on this representation a bit in what follows.

Propositional attitudes and propositional nexuses

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Smith informs Jones that he (himself) loves her (herself) – or, put conversely: Jones learns from Smith that he (himself) loves her (herself)

Here at last we have an intrinsically ‘second personal’ propositional nexus or relation. Smith’s teaching is about himself, as himself; and at the same time Jones’ learning is about herself, as herself. – And, as we might add, following Aristotle, the teaching is the learning, in this as in any other individual case of propositional teaching (= informing) and learning-from (=learning that p from). We show this in the representation of the propositional nexus, or cognitive relation, by the use of two Greek ‘ɛ’s. Among the previous examples we had cognitive relations, but their expressions released only one. No propositional attitude would require formulation with two ‘first person letters’ – two distinct “she herself”s, as opposed to a Fregean repetition of the same one. (Again, I am taking advantage of gender in the English exposition, of course, though not in the Greek-letter symbolization.) Richard Heck says that in belief there is no second person, only a first person; and he would presumably say this for knowledge and other propositional attitudes. And he is right about this. But he is wrong to develop the point as a contrast between belief, which is in the mind, and language, which is on the surface: “the phenomenon of the second-person is a linguistic one.” (See lengthier quotation below, Heck 2002.)

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It is in propositional relations or nexuses, not in propositional attitudes or properties – of individuals – that we find an opposition of first and second person (or rather, as will be seen below, I think, an opposition of persons, simpliciter.) Smith can learn from Jones that he himself is F in an exchange that doesn’t involve the first person, linguistically speaking, but rather a second person, as, in English, when Jones says to him “You are F.” Here the cognitive nexus that would be constituted, which is not itself a linguistic phenomenon, is so to speak first-personal in respect of Smith. Similarly, Smith can inform Jones that she herself is F, without using the linguistic second person, e. g., by answering her question “Am I F?” with “Yes”. We could say that here the nexus is second-personal in respect of X, the informant. Even if somehow some language didn’t have a second person, but only a first, and could only use the sort of indirection we find in “Am I F?” – “Yes”, still it could constitute ‘second personal’ nexuses. That is, many of the facts they constitute through the use of language and otherwise, will require the sort of representation I am envisaging here. Perhaps in the end all employment of language does (witness Grice’s analysis of ‘meaning’ as it would be rewritten once the Geach-Castaneda-etc. points were taken into account together with the present extension; I myself think that a rewrite that took these points properly into account would lead to the destruction of the point of the theory, which, if I understand, is precisely a reduction of the ‘propositional’ element in these relations to propositional attitudes).²

2 Heck 2002, “Consider the indexical ‘you’. As a matter of its standing meaning, an utterance of ‘you’ refers to the person addressed in that utterance. But in the sense that there is such a thing as a self-conscious, first-person belief, there is no such thing as a second-person belief, or so it seems to me. Of course, I can identify someone descriptively, as the person to whom I am now speaking, and may have beliefs whose contents involve that descriptive identification. But that is not what I mean to deny: I mean to deny that there is any such thing as an essentially indexical second-person belief. The phenomenon of the second-person is a linguistic one, bound up with the fact that utterances, as we make them, are typically directed to people, not just made to the cosmos. (If there were speakers of a language who never directed their utterances to their fellows, they would have no use for the second-person.) The word ‘you’ has no correlate at the level of thought: if not, then the contents of the beliefs we express using the word ‘you’ have very little to do with its standing meaning.”

Propositional attitudes and propositional nexuses

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Smith informs Jones that she (herself) loves him (himself) Maybe he is obnoxiously saying, e. g., “You love me. Why don’t you face it?” – supposing such a thing could be known by testimony. Or, again, reciprocally: Jones learns from Smith that she (herself) loves him (himself)

The two Greek ‘ε’s are “bound” by the relational verb, if you like; they are ‘logophoric’ and ‘referred back to’ to the first and second agent positions in the relation of informing. – So that, again, the present proposition entails that the occupant of the second position, the η-position, loves the occupant of the first, the ɛposition, i. e. that Jones loves Smith. The notion of being-referred-back-to that is used here, is of course akin to that employed with variables that are referred to this or that antecedent quantifier expression. Nb. we use the ‘indirect reflexive’/logophoric/Geachist-Castanedaist devices for formulating not only first person belief and first person knowledge, but also diverse other ‘attitudes’. So also the present extension of these devices to relations of convincing and informing can as much be used in formulating all manner of ‘nexuses’, e. g. expressing-desire-to and saying-that-to … as in the representation of the nexuses considered. That is, the only distinction between propositional attitudes and propositional nexuses is that the formulation of the latter can support a pair of our pronouns. Such devices are buried all over in specifically ‘social’ material. Thus, on the face of it, it seems that Smith promises Jones that ε will do A for η, not that Smith will do A for Jones.

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These acts of mind compared to those expressed with lateinischen letters Notice that on the present account, first and second person, considered not as belonging to language but to propositional attitudes and nexuses, are really the same operation – or the same whatever-it-is-that-they-are. The formula, “the first person is the second person,” might be used to express this (it is not to be understood theologically, as a pious colleague was disappointed to learn). And so, taken in a different sense, Heck’s remarks might be justified: when we consider not language, but what it goes to constitute or express, it all comes down to the same. Though it would take us too far afield to develop the point much, the following analogy might be of help. The sense in which they are the same, as determinations of propositional attitutudes and nexuses, is the sense in which diverse variables, where they are used to express the general thoughts of agents, in some sense express the same generalizing ‘act of mind’: Frege believes that x + 0 = x is the same as Frege believes that y + 0 = y and Frege believes that x = y x + 0 = y is the same as Frege believes that y = x y + 0 = x It is clear that here the re-letterings do not correspond to any difference in the intellect. Nb. I am distinguishing these beliefs – as Russell does and Frege implicitly and does – from beliefs in the ‘closed’ propositions These propositions would be expressed with German letters by Frege; by contrast, a proof of what I above represent Frege as believing would be expressed with Frege’s Latin letters, which are what I used in the formulation of the content of his belief. Thus it is one thing to prove that

Propositional attitudes and propositional nexuses

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and another thing to prove that

and there are rules for taking these steps. Similarly it is one thing to prove that

and quite another thing to prove that

We are, again, not interested in the lines in a formal system but in the act of mind that they express. It is clear that in high school algebra we actually learn things, and that these are best expressed without quantifiers. Russell is, I think, much clearer on the difference between the associated acts of mind or assertion. The belief in the propositions expressed with quantifiers is a belief “about all”, and is ordinary propositional belief (cp. the Evans–McDowell–Frege account of first person belief); the beliefs I attributed to Jones without quantifiers, are beliefs “about any”, and in them, Jones (inwardly) affirms, not a proposition, but a propositional function; he affirms it … as holding generally. There are for him thus different forms of believing (cp. the Anscombe–Lewis account of first-person belief) The difference between η and ε is similar: in some (admittedly somewhat exalted and Tractarian) sense, they are the same symbol; the need for differentiation arises in contexts like these, in propositional nexuses with the contents we have lately considered. If we never made statements with double generality we could do with one free variable, x, or one quantifier-variable complex,

It would be quite strange to say that in introducing , Frege was introducing a second name for the ‘second level concept’ that applies to first-level con-

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cepts that apply to everything – something like a nickname which was necessary to keep things from getting confused. In the representation of many-person agreements, we would need more Greek letters to carry forward, as in the Begriffsschrift (Frege 1879) we often need many German (‘bound’) and many Latin (‘free’) letters, not just one or two. I remarked above that it would be better to mark the controlling positions in the relational verb:

Which of course is the same as:

I resisted this because it would bring the letters into too close a connection with the names. But, of course, the etas and epsilons next to the names belong to the relational verb, or with it. This is brought out by considering the usual Fregean expedient of considering, say:

I.e., “No one informed anyone that he (himself) loved him (himself)”, on one way of parsing it, viz. where there are no confessions of love. (Our symbolism can bring out several other readings, i. e., where no one confesses self-love, is informed of his self-love or is informed of his love for the informer.) I said that the etas and epsilons belong to the relational verb. This is a way of bringing out the content of Anscombe’s unnecessarily opaque doctrine that “I” is not a referring term. Thus consider a case closer to her material:

Propositional attitudes and propositional nexuses

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or in the other form of symbol:

The element that is predicated of Smith in these propositions also appears in:

and

i. e., no one is aware of his self-love. Here there is nothing for the etas or epsilons to refer to, yet the function is the same as in the statements about Smith. Ergo even there, they do not ‘refer’ back to Smith himself, rather they characterize the intellectual act that is attributed to him. This is I think Anscombe’s meaning. Now, in response to this simple-minded argument, it might be argued that, even if the epsilons go with the cognitive verb, the turnstile or box, still, it is their function to bring in view a complete proposition when a subject is supplied – a first-personal Fregean Thought that can only be grasped by the subject of the attitude in question. This Thought, we may say, refers to the thinker. The negative affirmation merely denies that anyone thinks any such Thought. I now give my argument, alluded to above, from the more doubtful to the less doubtful. This is the argument that, if the argument about propositional attitudes just given were any good, it should work for the propositional nexuses discussed immediately before these. It is clear that in this case, the imagined Fregean Thought could be grasped by each agent at one end or the other, but not at the other end; and thus that there can be no such propositional nexuses, no cases for example of one informing another that he loves her.

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Jones and Smith know they are getting married to each other

The mysterious knowledge of parties to a marriage – here it is symmetrical, unlike informing/learning, in which there is causal dependence, or agent and patient – it is an intellectual form of ‘reciprocity’ in Kant’s sense. Or so it would seem, though it would plainly be a torment to elucidate the matter. Anscombe (1969) says that the one who is, in fact, getting married must know that he is getting married – likewise with promising, etc., etc., – and then she raises problems of ungroundedness in the explanation of the concept, or the coming-to-have-it. She thinks they can only be solved by taking a few lessons from Mad Ludwig W. Though her examples typically involve a pair of agents she only contemplates the ungroundedness that arises in the cognition of any one of them, if the fact is to obtain. But the problem is worse: if one must know (in our institutions) ‘that he’s getting married’, the other must know as well; and similarly with promises, agreements, sales, etc. Yet it isn’t enough that each knows that he’s getting married … to someone, or is promising someone. Nor does it seem we can explain the requisite knowledge of either by use of just any random representation of the other:

this last amounting to the same as:

I don’t see that the obvious inadequacy of this pair of separate knowledges can be cured by, e. g. putting perceptual demonstratives in the place of “Smith” and “Jones” in the intentional context, those provided by the loving glances of parties at the altar, etc. These could only help to constitute the genuinely necessary

Propositional attitudes and propositional nexuses

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cognitive relation. What Jones knows is only there for the knowing when Smith knows it, etc. It would take trouble to bring this out, but it seems plain that we cannot specify the requisite ‘knowledge of the parties’ in terms of independent (first personal) propositional attitudes of each. Whatever such knowledge is requisite, still something like this is requisite: that they stand in a cognitive relation that relates them to a relation; or again that they relate each other* to each other*, or something of this nature: This is not just a subtle philosophers’ difficulty like the mind-numbing paradoxes about truth; it springs from the idea of marriage, of a promise, etc. The idea of a wedding or promise is that each will act in the light of it, – in the light of the same – and not e. g. just because they think it is so, though of course they do think it so. But, familiarly, if X did A because R, it will follow that R and that X knew that R. Likewise if Y did B because R, it will follow that R and that Y knew that R. This is okay if R = ‘It’s Shabbos or Its raining’. Here, it’s Shabbos; each knew it; so each did his thing; that the other even exists is perhaps irrelevant. In marriage and promises, though, the R will be so to speak first personal, for starters, as in X does A because he (himself) is F, and Y does B because she (herself) is G. This would be okay if F and G were, say, ‘dying of cancer’ and ‘dying of tuberculosis’, each of which is self-predicated by the parties. Note what is implicit in this: that the “‘because’ of reasons-explanations” can cast off a Geach-Castaneda variable. In the standard case we will find that X is doing A because he himself is F, not that X is doing A because X is F. John Horatio Auberon Smith might be looking up the phone number of his stockbroker because he himself has just inherited a fortune; or, where he doesn’t realize the identity, it might be that John Horatio Auberon Smith is looking up John Horatio Auberon Smith in the phone book, because John Horatio Auberon Smith has just inherited a fortune. Note that here no mental verbs are explicitly employed. But, again, in marriage and promises between Smith and Jones, etc. etc., it isn’t – I think – enough that Smith is in a position to think that p, or to do A “because he, himself, is M to Jones” and that Jones is in a position to do B because Smith is M to her herself,’’ though some such propositions may also be true – each would entail respectively that Smith knows that he himself is M to Jones and that Jones knows that Smith is M to her herself – and in either case that Smith is M to Jones. It is because Smith is M to Jones that he proposes to do A, and she proposes to do B. We connect the facts that Jones has cancer and that Jones thinks there are toxins in the water supply, saying that Jones thinks that that there are toxins in the

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water because he has cancer. Here I have claimed that the “he” is a “he*”. But it could as well be stated as: Because Jones has cancer, he* thinks there are toxins in the water. We are relating Jones to a reasons nexus that is ‘first personal’ in both terms. We similarly connect the three facts that Smith agreed with Jones that he* would do A and she* would do B, and that Smith is doing A and Jones is doing B, saying for example that Because Smith agreed with Jones that he* would do A and she* would do B, he* is doing A and she is doing B. This raises many delicate points, but it is just what is envisaged in the constitution of an agreement, and I believe it entails that the parties must enter into a common propositional nexus in agreeing, a knowledge that they are agreeing, that is first personal on both sides.

Bibliography Anscombe, G. E. M. (1969): “On Promising and Its Justice”. In: Critica 3, pp. 61 – 83. Castaneda, Hector-Neri (1966): “‘He’: A Study in the Logic of Self-Consciousness”. In: Ratio 8, pp. 130 –157. Frege, Gottlob (1879): Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. Halle: Nebert. Geach, Peter (1957): Mental Acts, Their Content and Their Objects. New York/London: Routledge. Hagege, Claude (1974): “Les pronoms logophoriques”. In: Bulletin de la Societe de Linguistique de Paris 69, pp. 287 – 310. Heck, Richard (2002): “Do Demonstratives Have Senses?”. In: Philosophers’ Imprint 2 (2), pp. 1 – 33. Rödl, Sebastian (2007): Self-Consciousness. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Teil 4: Sprache und Praxis

Christoph Demmerling

Sprache, Gründe, Handeln Sprachphilosophie in anthropologischer Perspektive* Seit ihren Anfängen beschäftigt sich die Philosophie mit der Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt. Häufig wird in diesem Zusammenhang von einer Sonderstellung des Menschen ausgegangen. Bereits traditionelle Definitionen wie die, der Mensch sei ein animal rationale (so Aristoteles), weisen in diese Richtung. Der neuzeitliche Diskurs über den Menschen und seine Natur, der in der Aufklärung einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, lässt sich in erster Linie als Versuch verstehen, mit Hilfe einer Reflexion auf die spezifischen Merkmale der conditio humana den Menschen primär als ein moralisches und nicht, jedenfalls nicht ausschließlich, als ein natürliches Wesen aufzufassen. Selbst dort, wo sich Überlegungen zu zentralen Merkmalen des Humanen von theologischen Denkfiguren zu befreien versuchten, blieben sie der Idee von einer Sonderstellung des Menschen verhaftet. Erst im 20. Jahrhundert wurde diese Idee – vorrangig unter dem Einfluss einer biologischen Aufklärungsbewegung – zunehmend kritisiert. Deshalb mag es geraten sein, an den vernünftigen Kern dieser Idee zu erinnern und zwar ohne damit auf irgendeine Weise die Richtigkeit der Evolutionstheorie in Zweifel ziehen zu wollen. Nichts von dem, was ich im Folgenden sage,widerspricht dem gegenwärtigen Kenntnisstand der Biologie. Der vernünftige Kern der Sonderstellungsidee lässt sich wie folgt formulieren: Menschen sind Wesen, die aus Gründen handeln können und die Fähigkeit besitzen, sich gemäß ihren eigenen Zielen und Zwecken zu orientieren. Sie besitzen die Fähigkeit, etwas zu verstehen und sich die Welt zu erschließen, sie sich zugänglich zu machen. Nicht nur, dass etwas geschieht, ist für Menschen wichtig, sondern auch wie und warum es geschieht; nicht nur, dass etwas getan wird, ist für sie von Belang, sondern auch warum es getan wurde; und wenn jemand etwas sagt oder tut, nehmen Menschen dies in der Regel nicht einfach als Geräusch bzw. kausales Geschehen wahr, sondern wichtig ist, was jemand, der etwas gesagt oder

* Dieser Text geht auf meine Marburger Antrittsvorlesung (Mai 2009) zurück und stellt einen Versuch dar, meine philosophischen Überzeugungen zu Fragen der philosophischen Anthropologie auf grundsätzliche Weise und im Ganzen zu präsentieren. Eine genaue Ausarbeitung aller Aspekte und der Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Teilen hätte eine Arbeit ungleich größeren Umfangs erfordert und muss der Zukunft vorbehalten bleiben.

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getan hat, damit gemeint bzw. beabsichtigt hat und was die Bedingungen und Konsequenzen seiner Äußerung bzw. Handlung sind. Dass Menschen Wesen sind, die etwas verstehen können und sich in ihrem Handeln an Gründen orientieren können, hängt mit den komplexen sprachlichen Fähigkeiten des Menschen zusammen. Wer etwas über Menschen herausbekommen möchte, dies ist die These von der ich mich leiten lasse, ist auf die Sprache als maßgebliches Element der menschlichen Existenz verwiesen. Menschen existieren in bzw. mit der Sprache und in das Netz der Sprache verstrickt gestalten sie die Landschaften ihres individuellen, sozialen und politischen Lebens. Alles, was Menschen tun und denken, ist durch den Umgang mit Begriffen geprägt. Im ersten Teil des Aufsatzes skizziere ich Argumente für die Auffassung, dass elaborierte Formen des Verstehens und der Welterschließung, solche, die wir gemeinhin mit unserer Fähigkeit zu denken in Verbindung bringen, nicht ohne Sprache auskommen (I). Der zweite Teil geht der Frage nach, ob bzw. inwieweit auch andere Formen des Verstehens mit unseren sprachlichen Fähigkeiten zusammenhängen, die eher praktischer Art sind und häufig als vor- bzw. nichtsprachlich angesehen werden (II). Im dritten Teil vergegenwärtige ich die Beziehungen zwischen komplexen sprachlichen Fähigkeiten und Gründen bzw. Handlungen. Überlegungen zum sprachlichen Raum des menschlichen Lebens vertiefen diese Skizze (III). Die Überlegungen in diesen Teilen scheinen allesamt für die Position eines umfassenden Lingualismus zu sprechen. Gemäß dieser Position ist die Fähigkeit zu denken mit der Fähigkeit zu sprechen identisch und die Fähigkeit zu handeln wird in der Regel als etwas angesehen,was die Fähigkeit zu sprechen voraussetzt. Der vierte Abschnitt diskutiert Überlegungen,welche diese Auffassung einschränken. Er plädiert für Differenzierungen und votiert für einen eingeschränkten Lingualismus. Dieser Auffassung zufolge stellt die Sprache eine Voraussetzung lediglich für bestimmte Formen des Denkens und Handelns dar (IV). In einem Fazit schließlich soll deutlich werden, dass und inwiefern sprachphilosophische Reflexionen trotz der beschränkten Reichweite lingualistischer Argumente einen wichtigen Ort im Rahmen einer Form der philosophischen Aufklärung einnehmen, die ich als analytisch-kritische Anthropologie bezeichne (V).

I Sprechen und Denken Mit dem so genannten linguistic turn in der Philosophie, den Michael Dummett einmal treffend als Maßnahme zur Verstoßung der Gedanken aus dem Reich des Bewusstseins bezeichnet hat, schien die Frage nach dem Verhältnis von Sprechen und Denken eine definitive Antwort gefunden zu haben. Die Auffassung, dass die Fähigkeit zu denken letztlich mit unseren sprachlichen Fähigkeiten zusammen-

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hängt, wurde in vielen philosophischen Kreisen als eine Selbstverständlichkeit angesehen und hat zur Ausbildung unterschiedlicher, mal stärkerer, mal schwächerer Varianten des Lingualismus geführt. Ganz unabhängig von der jeweils vertretenen Variante sind es bis heute die Schriften Gottlob Freges, die ein Glaubensbekenntnis für fast alle dem linguistic turn verpflichteten Strömungen in der Philosophie darstellen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1882, der den Titel Über die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift trägt, notiert Frege: „Die Zeichen sind für das Denken von derselben Bedeutung wie für die Schiffahrt die Erfindung, den Wind zu gebrauchen, um gegen den Wind zu segeln. Deshalb verachte niemand die Zeichen! Von ihrer zweckmäßigen Wahl hängt nicht wenig ab. Ihr Wert wird auch dadurch nicht vermindert, dass wir nach langer Übung nicht mehr nötig haben, das Zeichen wirklich hervorzubringen, dass wir nicht mehr laut zu sprechen brauchen, um zu denken; denn in Worten denken wir trotzdem und wenn nicht in Worten, doch in mathematischen oder anderen Zeichen.“ (Frege 1964, S. 107) Der philosophische Zeitgeist hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Freges Einsicht entfernt. Inzwischen scheinen eine Reihe weiterer Wenden in der Philosophie den linguistic turn nicht nur überbieten zu wollen, sondern mit ihm verbundene Einsichten zu relativieren, ja zum Teil sogar zurückzunehmen: cognitive turn, iconic turn, medial turn – um nur einige der einschlägigen Kandidaten zu nennen. Kann man die an Bildern und Medien orientierten Wenden noch als Verlängerungen und Erweiterungen der sprachlichen Wende begreifen, so ist der cognitive turn als eine durch und durch revisionistische Bewegung anzusehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In einem seinerzeit vieldiskutierten Buch mit dem Titel Intentionality hatte J. R. Searle vorgeschlagen, die Sprachphilosophie als einen Zweig der Philosophie des Geistes zu begreifen, und geistigen Vorgängen einen Primat vor den Zeichen und vor der Sprache zuzuerkennen (vgl. Searle 1987, S. 204). Diese Auffassung ist heute in vielen Disziplinen wissenschaftlicher Konsens, man denke an die kognitive Ethologie, die evolutionäre Anthropologie und weite Teile der Philosophie des Geistes, kurz: an alle diejenigen Disziplinen, welche die interdisziplinäre Matrix der Kognitionswissenschaften bilden und denen gegenwärtig vielfach eine Vorbildfunktion im Bereich der humanwissenschaftlichen Forschung zuerkannt wird. Mit welchen philosophischen Argumenten gegen den Primat des Geistigen kann man der skizzierten Revision, die im Kern eine Sprachvergessenheit darstellt, begegnen? Ein methodisches Problem der Vorstellung von einem Primat des Geistes liegt darin, dass man, wenn man über den menschlichen Geist spricht und über die verschiedenen Arten von Zuständen, in denen er sich befinden kann, nicht so richtig weiß, wovon eigentlich die Rede ist, falls man in diesem Zusammenhang nicht auf sprachliche Entitäten rekurriert. Man denke zum Beispiel an Überzeugungen. Mit

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diesem Begriff bezieht man sich in der neueren Philosophie – genauso wie mit dem englischen Ausdruck „belief“ – auf einen psychologischen Zustand. Worin dieser Zustand besteht, lässt sich freilich nur sagen, wenn man sich auf den Inhalt eines Satzes bezieht. „Marburg liegt nördlich von Gießen“ oder „Der Winter war kalt“ sind Sätze, die Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Warum nun ist es sachdienlicher, sich an die Sätze zu halten, mit denen wir Überzeugungen ausdrücken (etwas Sprachliches) statt an die Überzeugungen selbst (etwas Geistiges)? Die Antwort liegt so nahe, dass sie gerade deshalb manchmal übersehen wird: Im Vergleich zu Überzeugungen sind Sätze handfeste Entitäten, für die klare Individuationskriterien zur Verfügung stehen. Demgegenüber ist der Rekurs auf ‚innere‘ Zustände wie Überzeugungen unbestimmt. Die Identitätskriterien für einen solchen ‚inneren‘ Zustand sind – fernab der Sprache – alles andere als klar. Wir wissen nicht, wo zum Beispiel eine Überzeugung beginnt, wo sie aufhört, oder wann zwei Überzeugungen miteinander identisch sind, solange die betreffenden Überzeugungen nicht in Worte gekleidet werden. Wenn man die Sache so sieht, dann muss man einräumen, dass sich auf eine Überzeugung nur vermöge eines Satzes zugreifen lässt. Dies ist jedoch noch nicht alles, was sich für den Primat der Sprache gegenüber dem Geist vorbringen lässt. Es gibt eine Reihe von Argumenten, die zur Verteidigung der These vorgebracht wurden, dass geistige, rationale Fähigkeiten und die Fähigkeit etwas zu verstehen an komplexe sprachliche Kompetenzen gebunden sind.¹ Ziehen wir einige davon in Betracht. Die Argumente für diese These versuchen im Allgemeinen zu zeigen, dass Wesen, die keine Sprache beherrschen, keine Einstellungen gegenüber einer Proposition haben können und nicht über Begriffe verfügen. Auf Propositionen bezogene Einstellungen und Begriffe gelten wiederum als Voraussetzungen dafür, denken und etwas verstehen zu können. Gelegentlich wird die Fähigkeit, denken oder etwas verstehen zu können auch mit der Fähigkeit, Einstellungen zu einer Proposition haben zu können, identifiziert. Als Propositionen werden im Jargon der analytischen Philosophie die Inhalte von Gedanken bzw. (Aussage‐)Sätzen bezeichnet und das Adjektiv „propositional“ weist darauf hin, dass es sich um etwas handelt, was aussageförmig strukturiert, aus Begriffen zusammengesetzt und wahrheitsfähig ist. Dem entsprechend ist eine propositionale Einstellung eine Einstellung zum Inhalt eines Satzes oder Gedankens. Zu den Inhalten von Sätzen oder Gedanken kann man unterschiedliche Einstellungen einnehmen: Man kann davon überzeugt sein, dass dieses oder jenes der Fall ist („dass Marburg eine 1 Eine ‚transzendentale‘ Fassung erhalten einige der Argumente bei Christian Barth, Objectivity and the Language-Dependence of Thought. A Transcendental Defense of Universal Lingualism, der im Anschluss an Brandom und Davidson die Position eines uneingeschränkten Lingualismus verteidigt.

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schöne Stadt ist“), man kann befürchten, dass dieses oder jenes der Fall sein wird („dass der FC Bayern München erneut den Sieg um die deutsche Meisterschaft davon trägt“) oder wünschen, dass etwas der Fall sein möge („dass der Sommer heiß und trocken ist“). Überzeugt-sein, Fürchten, Wünschen, das sind unterschiedliche Einstellungen zu einer Proposition, unterschiedliche Typen von propositionalen Einstellungen. Warum kann man keine propositionalen Einstellungen haben, wenn man nicht über eine Sprache verfügt? Die Antworten auf diese Frage, die in der Regel zur Verteidigung eines umfassenden Lingualismus führen, lassen sich in roher Form fast alle der Philosophie Freges entnehmen, wobei der Feinschliff der Argumente einige Jahrzehnte weiterer philosophischer Diskussion in Anspruch genommen hat.² 1. Überzeugungsholismus und Folgerungen: Eine Überzeugung kann man nicht isoliert haben. Um eine Überzeugung haben zu können, benötigt man viele andere Überzeugungen, wie bereits ein Blick auf einfache Beispiele deutlich macht. Überzeugungen, die sich zum Beispiel auf Geldscheine oder Eisbären beziehen, setzen Annahmen über Gegenstände voraus, über etwas, was sich auf eine bestimmte Weise verhält, was sich in einer bestimmten Weise gebrauchen lässt und vieles andere mehr. Überzeugungen stehen in Beziehung zu anderen Überzeugungen, sie sind Bestandteil von Folgerungszusammenhängen. Bereits einen einfachen Satz oder gedanklichen Inhalt wie „In der Küche liegen 10 Euro“ oder „Da ist ein Eisbär“ kann man nur verstehen, wenn man versteht, was vorausgesetzt werden muss, damit etwas als „Geldschein“ oder „Eisbär“ bezeichnet werden kann und was daraus folgt, dass etwas ein Geldschein oder ein Eisbär ist. Letztlich ist nicht zu sehen, wie sich der Inhalt einer einzelnen Überzeugung bestimmen lassen soll, ohne eine Vielzahl anderer Überzeugungen vorauszusetzen oder folgern zu können und es ist nicht zu sehen, wie sich ein komplexes Überzeugungsgefüge ohne sprachliche Fähigkeiten ausbilden können soll. 2. Vollständige Urteile: Zu einem vollständigen Urteil (wie zum Beispiel „Schokolade ist süß“) gehören Subjekt und Prädikat. Um ein Urteil fällen zu können, muss man dazu in der Lage sein, singuläre Termini zu verwenden, mit denen man etwas in der Welt in einen Raum geteilter Aufmerksamkeit stellt („Schokolade“) und man muss die Prädikation beherrschen, um Gegenständen mit Hilfe von

2 Kontrovers diskutiert wurden und werden die von mir skizzierten Argumente häufig in der Form, die sie durch Donald Davidson erhalten haben. Vgl. zum Beispiel Donald Davidson, „Vernünftige Tiere“.

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Prädikaten Eigenschaften zuschreiben oder aber absprechen zu können. Im Fall meines Beispiels verwendet man das Prädikat „ist süß“, um der Schokolade die Eigenschaft des Süß-seins zuzusprechen. Wenn man davon ausgeht, dass zum Denken und Verstehen Gedanken gehören, dass Gedanken nichts anderes als vollständige Urteile sind und dass vollständige Urteile propositional strukturiert sind, dann muss Denken und Verstehen sprachlich strukturiert sein.³ Denn wenn man fragt, wodurch Gedanken ihre propositionale Struktur (im angeführten Sinne) erhalten, dann gibt es nur eine Antwort: Sie erhalten sie durch die Sprache. 3. Begriffe: Sprachliche Fähigkeiten im Allgemeinen scheinen auch eine Voraussetzung dafür zu sein, über Begriffe verfügen zu können. Wer über einen Begriff verfügt, kann die Welt in Dinge einteilen, die unter diesen Begriff fallen, und in solche, welche dies nicht tun. Dass man eine Unterscheidung treffen kann, ist eine notwendige Bedingung dafür, über einen Begriff zu verfügen. Aber eine Unterscheidung treffen zu können, ist noch keine hinreichende Bedingung dafür, über einen Begriff zu verfügen. Wer über einen Begriff verfügt, muss nicht nur unterscheiden können, sondern auch die Kriterien kennen, auf deren Grundlage eine Unterscheidung richtig oder falsch getroffen wird. Kausale Reaktionen sind von begrifflichen Klassifikationen zu unterscheiden. Eisen rostet in feuchten Umgebungen, in trockenen hingegen nicht. Die Reaktion des Eisens ist keine begriffliche Klassifikation. Über einen Begriff zu verfügen heißt gemäß der skizzierten Position eines starken Lingualismus, sprachliche Fähigkeiten zu besitzen und die Bedeutung eines Prädikates zu kennen. Die Bedeutung eines Prädikates zu kennen heißt, das Prädikat richtig verwenden zu können und ein Prädikat richtig verwenden zu können heißt, den Spielraum der Sätze zu kennen, in denen es vorkommen kann. Den Spielraum der Sätze zu kennen, in denen ein Prädikat vorkommen kann heißt, die Folgerungsbeziehungen zu überblicken, in welchen die Sätze stehen und in welche sie eintreten können.⁴ Dem skizzierten Bild zufolge gelten Begriffe als die maßgeblichen Bausteine von Gedanken. Alle der angeführten Argumente hängen miteinander zusammen und beleuchten dieselbe Sache von unterschiedlichen Seiten. Werfen wir einen Blick auf die bislang zurückgelegte Wegstrecke, haben wir eine Reihe von Indizien beisammen, die deutlich machen, warum es sinnvoll zu sein scheint, an Grundein-

3 Auf den ersten Blick liegt es nahe, die Fähigkeit zu denken mit dem Haben von Gedanken zu identifizieren. Dass diese Sicht der Dinge nicht unbedingt zwingend ist, zeigen die Überlegungen von Norman Malcolm, der für einen Unterschied zwischen „denken“ und „Gedanken haben“ argumentiert. Vgl. Norman Malcolm, „Gedankenlose Tiere“. 4 Vgl. dazu Peter Bieri, „Nominalismus und innere Erfahrung“, S. 4 f., dem meine Formulierungen teilweise folgen.

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sichten des linguistic turn festzuhalten und davon auszugehen, dass komplexe Formen des Verstehens sprachliche Fähigkeiten voraussetzen. Die Frage lautet, ob die skizzierten Argumente bereits für einen umfassenden Lingualismus sprechen. Was für hochstufige Formen des Denkens oder Verstehens gilt, muss nicht unbedingt für das Wahrnehmen oder Empfinden bzw. Fühlen gelten. Warum sollte das Sehen einer Farbe, das Hören eines Tons oder die Empfindung eines Schmerzes eine Sprache voraussetzen? Auch Kinder, die noch nicht über eine Sprache verfügen, und Tiere, die allenfalls über rudimentäre Formen von Sprache verfügen, wobei für einen Großteil von ihnen das Leben zur Gänze in sprachlosen Bahnen verläuft, sehen Farben, hören Töne und verspüren Schmerzen. Und warum sollte man sprachlose Wesen für ‚geistlos‘ halten? Sind nicht auch ihnen zumindest rudimentäre Formen des Erkennens und Verstehens zugänglich? Lässt sich in Anbetracht solcher Hinweise die skizzierte Position verteidigen oder muss sie preisgegeben werden? Außerdem stellt sich die Frage, ob es nicht Weisen des Verfügens über einen Begriff gibt, die unabhängig von sprachlichen Fähigkeiten sind.⁵ Beschränken wir die Diskussion zunächst auf menschliche Wesen und fragen nach dem Verhältnis zwischen sprachlichen Fähigkeiten und nichtsprachlichen Lebensvollzügen.

II Zur Verflechtung von sprachlichen Fähigkeiten und nicht-sprachlichen Lebensvollzügen Die großen Kritiker des abendländischen Denkens wie zum Beispiel Nietzsche und seine Anrufung der großen Vernunft des Leibes haben immer wieder akzentuiert, dass sich die rationalistisch-intellektualistischen Zweige der abendländischen Tradition zu sehr an der Sprache orientieren. Es waren aber nicht nur die Dissidenten unter den Philosophen, die der Behauptung von der Sprachlichkeit des menschlichen Lebens etwas entgegenzusetzen versuchten, indem sie die subsemantische und subrationale Wildnis des menschlichen Daseins ausgeleuchtet haben. Immer wieder wurden und werden im Rahmen ganz unterschiedlicher Strömungen der Philosophie Denk- bzw. Erfahrungsformen benannt, die als nichtpropositional gelten, und in eben diesem Sinne dann auch als sprachunabhängig. Denken wir zum Beispiel an die in der deutschen Schulphilosophie, so etwa bei

5 Erste Schritte zur Formulierung einer Position, der zufolge bestimmte Typen von Begriffen unabhängig von sprachlichen Fähigkeiten sind, unternehme ich in dem Beitrag: Christoph Demmerling, „Der sprachliche Raum des menschlichen Lebens. Ein Kommentar zur Begrifflichkeitsthese“.

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Alexander Gottlieb Baumgarten, mit dem Begriff der cognitio sensitiva bezeichneten Vermögen. Denken wir an Formen des natürlichen Erkennens, der Ahnung, des Gewahr-werdens und Aufmerkens, des ästhetischen Erkennens sowie an das praktische Wissen bzw. Können. Denken wir überdies an die zahlreichen Argumente, die in den vergangenen Jahrzehnten für die Nicht-Begrifflichkeit beispielsweise von Wahrnehmungen und Handlungen formuliert worden sind.⁶ Lässt sich in Anbetracht dieser Diskussionslage die Auffassung verteidigen, dass auch derartige Fähigkeiten eine Sprache voraussetzen? In vielen humanen Lebensvollzügen scheinen Begriffe gar keine Rolle zu spielen. Denken wir an den Gesamtbereich vitaler Regungen, an Empfindungen und Gefühle, drängen sich die Grenzen der These von der umfassenden Sprachlichkeit des menschlichen Daseins auf. Handelt es sich nicht um einen lingualistisch-intellektualistischen Fehlschluss, wenn man bei der Erläuterung dessen, was für die menschliche Existenz maßgeblich ist, zu sehr auf die Sprache setzt? Überträgt man nicht vorschnell das Vokabular, welches für die Rekonstruktion eines Vollzugs verwendet wird, auf diesen Vollzug selbst, indem man meint, das betreffende Vokabular spiele bereits innerhalb des Vollzugs und somit für den Vollzug eine Rolle? Schließlich vollzieht sich auch das Leben sprachfähiger Wesen vielfach in einem Raum, der häufig allenfalls auf binnendiffuse Weise bedeutsam ist und keine propositionale Struktur aufweist. Auch Menschen besitzen Fähigkeiten, die mit sprachlichen Kompetenzen keine Berührungsflächen zu haben scheinen und finden sich häufiger in Situationen, die vor dem Auftauchen der propositionalen und satzförmigen Rede gemeistert werden. Der erfahrene Arzt, der am Herzen einen Koronararterien-Bypass legt, wird insbesondere dann, wenn Schwierigkeiten auftreten und unmittelbar reagiert werden muss, häufig das Richtige tun, ohne während seines Tuns und nach Abschluss seines Tuns in propositional strukturierter Form sagen oder denken zu können, was er wie gemacht hat. Zeigen derartige Fälle nicht, dass sich nicht alles dem jeweiligen Handeln und Wissen Implizite propositional artikulieren und mit Begriffen explizit machen lässt? Dass die hohe Kunst der Herzchirurgie eben nicht ausschließlich durch Unterricht und Lehrbuch vermittelt werden kann, wird häufig als Indiz dafür angesehen, dass viele Bereiche des menschlichen Lebens nicht von der Sprache berührt werden. Man begleitet sein Tun nicht mit Worten und kann auch im Nachhinein nicht sagen, wie man gemacht hat, was man gemacht hat.

6 Zur Wahrnehmung vgl. Christopher Peacocke, A Study of Concepts; zu Handlungen Hubert Dreyfus, „Overcoming the Myth of the Mental. How Philosophers can profit from the Phenomenology of Everyday Expertise“.

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Im Handeln des Arztes manifestiert sich praktisches Wissen oder Können, auch wenn es zunächst nicht oder sogar niemals sprachlich artikuliert wird. Je einfacher die Lebensvollzüge sind, mit welchen man jeweils befasst ist, desto deutlicher tritt dies vor Augen. Man denke etwa an das geschickte Ausweichen in Fällen, in denen man genötigt ist, sich zügig durch eine dichte Menschenmenge zu bewegen. Gegen meine Beispiele könnte man einwenden: Dass im Augenblick des Handelns oder unmittelbar danach keine Worte verloren werden, heißt nicht, dass im Prinzip keine Worte verloren werden könnten. Im Prinzip können ein Arzt und auch ein Passant im Gewimmel der Großstadt artikulieren, was sie getan haben und wie sie es getan haben. Je größer das Vokabular ist, über das sie verfügen, je größer ihre Sensibilität gegenüber der betreffenden Situation ist, je aufmerksamer und klüger sie sind, desto besser können sie das. Aber das ist noch kein Argument für die Verwobenheit dieser Vollzüge mit sprachlichen Vollzügen. Dass man etwas, was man tut, artikulieren kann, dass man sich die Regeln des eigenen Tuns sprachlich vergegenwärtigen kann, heißt nicht, dass man dies artikulieren können muss, um zu tun, was man tut. Die Antwort auf die Frage, ob Arzt oder Passant ihre Vollzüge sowie die Regeln, welche diesen zugrunde liegen, im Prinzip artikulieren können oder nicht, ist in diesem Zusammenhang aber nicht entscheidend. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass sich bereits das gekonnte Tun als etwas Artikuliertes auffassen lässt bzw. als etwas, was in einem direkten Zusammenhang mit Artikulationen steht, auch wenn keine Worte verloren werden. Zumindest gilt dies für Wesen, die über eine Sprache verfügen. Im Handeln des Arztes dokumentiert sich eine strukturierte Erschlossenheit von Welt, die mit ihrer sprachlichen Erschlossenheit Hand in Hand geht. Im Fall von Wesen wie Menschen, die über eine Sprache verfügen, ist bereits das ‚sprachlose‘ Handeln immer schon in ein Netz aus Sprache eingebettet. Ich bezeichne diesen Umstand als das apriorische Perfekt der Artikulation. Im Sinne des apriorischen Perfekts der Artikulation kann man sagen, dass es für Wesen, die sprechen können, kein Reich jenseits der Sprache gibt, was aber nicht heißt, dass alle Phänomene im Leben sprachfähiger Wesen sprachliche Phänomene sind. Der Hinweis auf die Nichtsprachlichkeit eines Phänomens ist also kein Argument gegen die Auffassung, dass sich das Leben sprachfähiger Wesen in einer Fassung abspielt, die durch und durch sprachlich ist.⁷ Das Verhältnis zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Weisen des Weltbezugs lässt sich im Anschluss an Heidegger erläutern. In Sein und Zeit hat Heidegger auf eindringliche Weise folgende Auffassung entwickelt: Bereits durch

7 Ausführlicher diskutiere ich die Thematik in Christoph Demmerling, „Der sprachliche Raum des menschlichen Lebens. Ein Kommentar zur Begrifflichkeitsthese“, S. 32 ff.

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unseren praktischen Umgang mit Dingen in der Welt (Heidegger spricht von „Zeug“ und „Zuhandenem“) werden bedeutsame Strukturen geschaffen und Verweisungszusammenhänge aufgespannt, auf Grundlage derer wir zu einem Verständnis der Welt gelangen. Verschiedene Heidegger-Interpreten wie zum Beispiel Hubert Dreyfus oder John Haugeland verstehen den Ansatz von Heidegger im Sinne eines ‚Schichten- oder Stufenmodells‘ (vgl. Dreyfus (1991), Dreyfus (2005), Haugeland (1982)). Dieser Interpretation zufolge wird auf einer ersten Stufe die Welt des Zuhandenen auf eine praktische Weise konstituiert, ohne dass komplexe sprachliche Strukturen involviert sind. Erst auf dieser Grundlage könne sich dann eine zweite Schicht aufbauen, im Rahmen derer die Sprache ins Spiel komme. Die Konstitutionsleistungen auf der ersten Stufe könnten im Prinzip von sprachlichen und nicht-sprachlichen Wesen erbracht werden, während die zweite Stufe sprachlichen Wesen vorbehalten sei. Andere Interpreten wie Robert Brandom hingegen machen geltend, dass Heidegger kein Schichtenmodell der Konstitution oder des Verstehens von Welt vor Augen hat, sondern seine Überlegungen von vornherein auf sprachliche Wesen zugeschnitten sind (vgl. Brandom (2002)). Sprache und Handlungsvollzüge sind in einer unauflösbaren Weise miteinander verbunden, auch dort,wo die Sprache auf den ersten Blick gar keine Rolle zu spielen scheint. Sie sind nicht als verschiedene Schichten anzusehen, die aufeinander aufbauen. Das Schichtenmodell ist in systematischer Hinsicht verfehlt, da es der Rolle der Sprache in nur unzureichender Weise Rechnung trägt. Mit der Sprache tritt nicht einfach eine Schicht hinzu, die auf die erste Schicht aufgesetzt wird und die dort einschlägigen Mechanismen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unberührt lässt bzw. diese lediglich ergänzt. Mit dem Erwerb einer Sprache wird das Selbst- und Weltverhältnis auf eine Weise modifiziert, die komplett auf die untere Schicht durchschlägt. In diesem Sinne sollte man die Vorstellung von Schichten aufgeben. Mit der Sprache ändert sich in einem bestimmten Sinne alles und es kommt zu einer flächendeckenden Transformation der Vollzüge und Fähigkeiten, die auf der ersten Stufe eine Rolle spielen. Im Fall von sprachlichen Wesen infiltrieren die sprachlichen Kontexte bereits einfache Wahrnehmungen und Empfindungen. Streng genommen lässt sich in diesem Fall zwischen einer Wahrnehmung oder Empfindung und ihrer sprachlichen Einbettung nicht unterscheiden. Auch wenn man also für eine Art des Verstehens eintritt, welches sich nicht propositional artikulieren lässt, oder zumindest dafür eintritt, dass das Verstehen von etwas nicht davon abhängt, dass es propositional artikulierbar ist, lässt sich die Auffassung verteidigen, dass diese Fähigkeit von vornherein auf sprachliche Zusammenhänge bezogen ist, sofern sie von Wesen ausgeübt wird, die aufs Ganze gesehen die Fähigkeit zum Explizitmachen im Sinne der Artikulation von Propositionen haben. Um es mit anderen Worten zu sagen: Etwas auf eine nicht-

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propositionale Weise zu verstehen ist für Wesen, die auch propositional verstehen können, etwas anderes als für Wesen, die dazu nicht in der Lage sind. Denn im Fall von Wesen, die auf eine propositionale Weise verstehen können, ist auch deren nicht-propositionales Verstehen in propositional artikulierbare bzw. artikulierte Zusammenhänge eingebettet. Inwieweit die Fähigkeit, etwas auf eine nicht-propositionale Weise zu verstehen, im Fall menschlicher Wesen auf sprachliche Fähigkeiten bezogen ist, sollte nunmehr deutlich geworden sein. Zu Beginn meiner Überlegungen hatte ich darauf hingewiesen, dass es eine weitere Eigenart humaner Lebensvollzüge gibt, die auf das Engste mit sprachlichen Fähigkeiten verknüpft zu sein scheint. Menschen sind Wesen, die sich an Gründen orientieren können. In welchem Sinne sprechende Wesen über Gründe verfügen und wie Gründe und Handeln miteinander zusammenhängen, vergegenwärtigt der nun folgende dritte Teil dieses Beitrags, der etwas darüber sagt, wie die Sprache den Raum des (menschlichen) Lebens eröffnet.

III Gründe, Handlungen und der sprachliche Raum des menschlichen Lebens Was sind Gründe? In erster Annäherung kann man sagen: Gründe sind die Inhalte von Antworten auf Warum-Fragen. Diese Auskunft dürfte zwar unseren alltäglichen Intuitionen entsprechen, ist aber zu undifferenziert. Warum ist das Wasser gefroren? Weil die Temperatur auf bzw. unter 0 Grad abgesunken ist. Die Antwort verweist auf eine kausale Relation zwischen Temperatur und Aggregatzustand. Warum lernt Peter für seine Abiturprüfung? Weil er eine gute Note erhalten möchte. In dieser Antwort geht es hingegen um eine Rechtfertigungsbeziehung zwischen einer Handlung („Lernen“) und einem Ziel („gute Note im Abitur“). Während die Temperatur verursacht, dass das Wasser gefriert, rechtfertigt Peters Ziel, eine gute Note zu erhalten, sein Lernverhalten. Verursachungsbeziehungen und Rechtfertigungsbeziehungen, kausale Beziehungen und rationale Beziehungen sind Beziehungen ganz unterschiedlichen Typs, auch wenn Rechtfertigungsbeziehungen kausal wirksam sein können. Das Ziel, eine gute Note zu bekommen, rechtfertigt nicht nur ein entsprechendes Lernverhalten, sondern wird es im günstigen Fall auch verursachen, wenn Peter nicht willensschwach ist oder ihm etwas anderes wichtiger ist, als für das Abitur zu lernen. Gründe können in diesem Sinne Ursachen sein. Wohl deshalb wird in der Alltagssprache häufig nicht zwischen Gründen und Ursachen differenziert, obwohl es wichtig ist, diese Unterscheidung zu treffen. Gründe, so muss man die vorhin präsentierte Antwort

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modifizieren, sind die Inhalte von Antworten auf Warum-Fragen, die im Zusammenhang mit einer Rechtfertigungs- und nicht mit einer Verursachungsbeziehung zur Diskussion stehen. Ursachen hingegen sind die Inhalte von Antworten auf Warum-Fragen, die im Zusammenhang mit einer Verursachungs- und nicht mit einer Rechtfertigungsbeziehung zur Diskussion stehen. Rechtfertigungsbeziehungen nun sind im weitesten Sinne logische Beziehungen (der Zusatz „im weitesten Sinne“ ist deshalb wichtig, weil nicht nur an die Logik im Sinne einer formalen Wissenschaft vom deduktiven Schließen zu denken ist, sondern unterschiedliche Arten von Folgerungsbeziehungen eine Rolle spielen) und deshalb setzen sie sprachliche Fähigkeiten voraus. Ohne Sprache keine Logik, ohne Logik keine Schlüsse und Folgerungen, ohne Schlüsse und Folgerungen keine Gründe, ohne Gründe keine Handlungen – so lässt sich ein verbreitetes Bild der Sachlage in Form einer flüchtigen Skizze präsentieren. So gesehen erweist sich die Sprache als das maßgebliche Medium menschlicher Existenz. Mit der Sprache lernen wir nicht nur Laute zu artikulieren oder Zeichen zu gebrauchen, sondern mit ihr erwerben wir die maßgeblichen Muster unseres Welt- und Selbstverständnisses, mit Hilfe derer sich uns die wesentlichen Aspekte der Welt erschließen. Dadurch, dass wir etwas sagen und mit der Sprache Handlungen vollziehen, wird allererst der Rahmen eröffnet, innerhalb dessen wir uns auf etwas beziehen und etwas repräsentieren können. Dies gilt im Prinzip immer und überall, wird aber besonders deutlich, wenn wir über uns selbst sprechen, über jene Belange, die man in der abendländischen Tradition in einer Seele oder Innenwelt verortet.Wenn ich zum Beispiel über meine Gefühle spreche, dann repräsentiere ich zunächst nichts,was in mir vorgeht, sondern ich artikuliere etwas, was dadurch, dass ich es artikuliere zu bestimmten Wirkungen findet, sich manifestiert und belangvoll wird. Indem man für einen Gedanken oder ein Gefühl nach den passenden Worten sucht und sie findet, verleiht man dem Gedanken oder Gefühl einen klaren Inhalt. Von besonderer Relevanz im Zusammenhang mit der welterschließenden Kraft der Sprache ist die Eröffnung eines Raums, in welchem die genuin menschlichen Angelegenheiten und Dinge überhaupt erst Gestalt gewinnen. Als genuin menschliche Angelegenheiten bezeichne ich diejenigen Angelegenheiten, die durch Artikulation konstituiert werden. Dazu gehört nicht nur die Differenzierung des affektiven Lebens sowie des gesamten Bereichs, den wir als Seele, Psyche oder Geist ansprechen. Dazu gehört auch die Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ sowie die Entwicklung und Anwendung von Maßstäben des Gelingens oder Misslingens, die in alle unsere Lebensvollzüge hineinragen. Wenn richtig ist, was ich gesagt habe und Menschen Wesen sind, die sich aufgrund ihrer komplexen sprachlichen Fähigkeiten hinsichtlich ihrer Überzeugungen und in ihrem Handeln an Gründen orientieren und überlegen können, was

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sie glauben und tun wollen bzw. sollen, hat dies ebenfalls einen Einfluss auf die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. Man muss dann davon ausgehen, dass die Sprache auch das Milieu zur Verfügung stellt, in welchem die Dinge, die wir gemeinhin in der äußeren Welt verorten, zu einer bestimmten Gestalt finden. Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Bemerkung ist nicht als Plädoyer für die These zu verstehen, Welt und Natur seien Ergebnisse von Diskursen und Texten, seien sprachlich (oder wie es manchmal heißt: sozial) konstruiert oder seien gar selbst Diskurse und Texte. Dieser hyperkonstruktivistischen These ist mit dem Hinweis entgegenzutreten, dass dasjenige, was ja nicht ohne Grund „die Welt“ oder „die Wirklichkeit“ genannt wird, Autorität über unser Sagen und Tun besitzt, indem es von uns als etwas von uns Unabhängiges anerkannt wird. Keine meiner Behauptungen über die Sprache impliziert positive ontologische Annahmen. Auch wenn sich die Welt sprachlich eröffnet und gestaltet, auch wenn sie nur sprachlich erschlossen und zugänglich werden kann, ist sie darum nicht ihrerseits als etwas Sprachliches anzusehen. Es ist nicht möglich bzw. sinnvoll, über die Welt zu sagen, was man sagen will oder von der Welt zu glauben, was man glauben will. Die Verfassung der Welt legt unserem Reden und Handeln Beschränkungen auf. Menschliche Rede antwortet immer auf eine bestimmte Verfassung der Welt, der dieses Reden verpflichtet ist. Aus den von mir vorgetragenen Überlegungen sind also keine sprachidealistischen Konsequenzen zu ziehen, wie das zum Teil in der Ethnolinguistik, der Sprachinhaltsforschung oder unter den Anhängern eines verspielten strukturalistischen Zeichenpop geschieht. Die Sprache steht nicht zwischen uns und der Welt. Sie ist von vornherein mit der Welt verzahnt, befindet sich in stetiger Reibung mit den materiellen Umwelten und Bedingungen unseres eigenen Lebens. Nur deshalb kann mit den Mitteln der Sprache offen gelegt werden, was ist. Damit die Sprache eine erschließende Funktion haben kann, muss sie zur Welt passen. Die in der Tradition bis weit in das 20. Jahrhundert hinein verbreitete Gegenüberstellung von einer Abbildtheorie der Sprache und einer Theorie, der zufolge die Wirklichkeit sprachlich konstruiert wird und die Sprache als Medium im Sinne einer Brille aufgefasst wird, durch die wir schauen, ist schief, weil beide Alternativen verfehlt sind. Für sprechende Wesen gibt es kein Außen der Sprache, sie sind aber auch nicht in die Sprache eingeschlossen und von der Welt abgekapselt.Vielmehr sind Sprache und Welt auf unauflösliche Weise miteinander verwoben. Bislang habe ich meine Überlegungen zum Verhältnis von geistigen Zuständen, Weisen des Weltbezugs und Sprache auf Wesen eingeschränkt, die über eine Sprache verfügen. Werden die skizzierten Zusammenhänge zwischen Sprechen, Denken und Handeln nicht in dem Augenblick fragwürdig, in dem man die Fä-

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higkeiten von Lebewesen wie zum Beispiel Tieren in den Blick nimmt, die nicht über eine Sprache verfügen? Im Fall von sprachlichen Wesen sind Denken und Handeln in unauflösbarer Form mit der Sprache verknüpft. Mit dieser Behauptung ist freilich noch nichts über die kognitiven Fähigkeiten sprachloser Wesen gesagt und über die Frage, ob nicht auch diese Handeln können oder ob sie über Begriffe und Gründe verfügen. Es sind verschiedene Differenzierungen zu beachten und es ist nicht auszuschließen, dass bestimmte Formen des Denkens und Handelns auch Wesen möglich sind, die nicht über eine Sprache verfügen. Dies könnte auch unter der Voraussetzung richtig sein, dass die Sprache für menschliche Wesen unhintergehbar ist und bleibt. Die Verbindung der auf sprachliche Wesen eingeschränkten These von der Unhintergehbarkeit der Sprache mit dem Zugeständnis, dass auch sprachlose Wesen (in Grenzen und auf einem sehr einfachen Niveau) ‚denken‘ oder ‚handeln‘ können, würde es erlauben, der entwicklungsgeschichtlichen Kontinuität lebendiger Wesen theoretisch Rechnung zu tragen, ohne bestehende Unterschiede zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Lebewesen zu nivellieren.

IV Jenseits der Sprache? Gerade unter Philosophen, die ihre Überlegungen zum Teil in engem Kontakt mit verschiedenen Einzelwissenschaften entfalten, wurde der uneingeschränkte Sprachtranszendentalismus bzw. Lingualismus immer wieder einer kritischen Prüfung unterzogen. Höher- bzw. metastufige Formen des Denkens, so wird gelegentlich eingeräumt, seien zwar an sprachliche Fähigkeiten gebunden, das heiße aber nicht, dass Denken oder auch Handeln im Allgemeinen an die Sprache gebunden sei. In der Diskussion spielen unterschiedliche Differenzierungen eine Rolle, die im Wesentlichen darauf hinauslaufen, zwischen dem Denken sprachlicher und dem Denken nicht-sprachlicher Wesen zu unterscheiden und zu klären, wie sich die unterschiedlichen Weisen des Denkens zueinander verhalten.⁸ Mehr und mehr wird auch die Frage diskutiert, ob nicht auch sprachlose Wesen in einem begrenzten Ausmaß als Akteure angesehen werden können, die aus Gründen handeln (vgl. Glock (2009), Hurley (2003)). Ich möchte diese Diskussion nicht ausführlich zur Darstellung bringen, vielmehr will ich lediglich eine einzige Überlegung entfalten, die den Begriff des Begriffs betrifft und die Frage aufwirft,

8 Aus der neueren Diskussion sind unter philosophischen Gesichtspunkten besonders die Arbeiten von José L. Bermúdez, Thinking without Words; Mark Okrent, Rational Animals. The Teleological Roots of Intentionality und Hans-Johann Glock, „Can Animals Judge?“ hervorzuheben.

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ob auch Wesen ohne Sprache über Begriffe verfügen können. Gedanken sind einer geläufigen Konzeption zufolge aus Begriffen zusammengesetzt, Begriffe konstituieren Gedanken.⁹ Setzt das Verfügen über Begriffe die Fähigkeit zu sprechen voraus? Aus der Sicht eines uneingeschränkten Lingualismus scheint diese Frage mit „ja“ beantwortet werden zu müssen. Dem eingeschränkten Lingualismus stehen weitere Optionen zur Verfügung, die im Folgenden in aller Kürze skizziert seien. Lebendige Wesen erfahren ihre Situation als bedeutsam. Ganz gleich, ob sie über eine Sprache verfügen oder nicht, Dinge und Sachverhalte zählen für sie, sind ihnen zu- oder abträglich. Auf der Grundlage eines instrumentellen Umgangs mit der Welt, aber auch auf der Grundlage des Erlebens präsentiert sich die Welt als ein mehr oder weniger komplexer Bedeutsamkeitszusammenhang.¹⁰ Was besagt die Rede von der Bedeutsamkeit? Ziehen wir einige Beispiele in Betracht. Die Tasten eines Flügels sind für den Klavierspieler bedeutsam, Lenkrad und Gaspedal besitzen Bedeutsamkeit für den Autofahrer. Tasten und Gaspedal haben einen Aufforderungscharakter. Sie sind bedeutsam in dem Sinne, dass sie ein Angebot darstellen. Auf Tasten und Gaspedal kann angemessenen reagiert werden, was derjenige macht, der Klavier spielen oder Auto fahren kann. Um so etwas zu können, muss man erkennen,was die Tasten oder das Gaspedal anbieten, wozu sie da sind. Auch Gegenstände wie Stühle und Scheren sind Angebote, es handelt sich um Angebote zu sitzen bzw. zu schneiden. Bedeutsam sind die genannten Gegenstände aber nur für denjenigen, der in der Lage dazu ist, den Stuhl als Stuhl und die Schere als Schere anzusehen. Einen Stuhl als Stuhl ansehen zu können, involviert einen Begriff. Nicht unbedingt einen, der in propositionalen Zusammenhängen steht und der sprachlich artikuliert ist. Wer einen Stuhl zum Sitzen verwendet, der verfügt – so will ich mich ausdrücken – über einen praktischen Begriff des Stuhls. Wenn man den Begriff eines praktischen Begriffs für sinnvoll hält und davon ausgeht, dass man über derartige Begriffe verfügen kann, ohne dass prädikative Strukturen zur Anwendung kommen, dann ist der Weg frei für die Auffassung,

9 Über die Möglichkeit, Gedanken oder Überzeugungen zuschreiben zu können, ohne Begriffe vorauszusetzen, die ja ebenfalls eine Option darstellt, will ich in diesem Zusammenhang nicht nachdenken. Ebenfalls nicht nachdenken werde ich über die Frage, ob sich Denkfähigkeiten oder Gedanken zuschreiben lassen, ohne Überzeugungen zu unterstellen. Zur ersten Option vgl. Hans-Johann Glock, „Begriffliche Probleme und das Problem des Begrifflichen“, S. 173; zur zweiten Option vgl. Frank Esken, „Tierisches allzumenschlich. Oder: Braucht man zum Denken Überzeugungen? – Eine als Provokation gedachte Anmerkung zum Aufsatz ‚Tierphilosophie‘ von Markus Wild“. 10 Im Anschluss an Heideggers Zeuganalyse entfalte ich diese Überlegungen in Christoph Demmerling, „Der sprachliche Raum des menschlichen Lebens“.

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dass Wesen über Begriffe verfügen können, die keine Sprache besitzen, zumindest keine, die in Bezug auf ihre Komplexität der menschlichen Sprache vergleichbar ist. Ein Schimpanse, der mit einem Ast Termiten angelt, nimmt den Ast als Werkzeug wahr und verfügt damit über das, was ich einen praktischen Begriff genannt habe. Der Begriff des praktischen Begriffs ist also anspruchslos genug, um auch Lebewesen das Verfügen über Begriffe zuschreiben zu können, die nicht über eine Sprache verfügen. Eine notwendige Bedingung dafür, von etwas sagen zu können, dass es über einen Begriff verfügt, besteht darin, dass der betreffende Organismus zu einer Identifikation und damit zu einem Wiedererkennen des Objekts in der Lage sein muss, für das er über einen Begriff verfügt. Eine weitere notwendige Bedingung dafür, dass ein Lebewesen über einen Begriff verfügt, besteht darin, dass sich dies in seinem Verhalten zeigen muss. Im Anschluss an meine Überlegungen zur Bedeutsamkeit des Gegebenen und zum Aufforderungscharakter von Dingen lässt sich diese Bedingung wie folgt formulieren: Um über einen Begriff zu verfügen, muss man in angemessener Form auf Affordanzen reagieren können. Die angemessene Reaktion auf eine Affordanz lässt sich als eine Erfüllungsbedingung für die korrekte Anwendung eines praktischen Begriffs ansehen. Diese Fähigkeit kann nur von lebendigen Wesen, für die etwas bedeutsam sein kann, ausgeübt werden.¹¹ Schließlich verfügt nichts oder niemand über einen Begriff, sofern ausschließlich ein einziger Begriff zur Anwendung gebracht werden kann. Über einen Begriff zu verfügen, heißt über mehrere Begriffe zu verfügen. Auch dies ist eine notwendige Bedingung dafür, über Begriffe verfügen zu können. Die zuletzt gewählte Formulierung legt einen Holismus des Begrifflichen nahe und scheint deshalb einen vergleichsweise anspruchsvollen Begriff des Begriffs vorauszusetzen. Das ist jedoch nicht notwendigerweise der Fall. Man kann das Netz von Begriffen, die erforderlich sind, um über einen Begriff zu verfügen, klein halten.¹² Man könnte zwischen einem mageren Holismus und einem Holismus, der ein

11 Geprägt wurde der Begriff der Affordanz von James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception und „The Theory of Affordances“. Bei Gibson wird der Begriff im Kontext einer Theorie der Wahrnehmung verwendet. 12 Mit anderen Akzentsetzungen verfolgt auch Hans-Joachim Glock in seinen Arbeiten eine ähnliche Strategie. Vgl. „Begriffliche Probleme und das Problem des Begrifflichen“; Glock schreibt: „Wir können Tieren Gedanken und vielleicht sogar Begriffe zuschreiben. Doch beschränken sich diese auf einfache Fälle. Denn nur einfache Gedanken manifestieren sich in nicht-verbalem Verhalten eindeutig“ (Glock 2005, S. 163). An anderer Stelle macht er darauf aufmerksam, „dass das Netz zu dem eine Überzeugung gehört, sich [nicht] so weit erstrecken muss wie dasjenige der anspruchsvollen Gedanken von Menschen. Es gibt größere und kleinere Netze“ (Glock 2005, S. 185).

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üppigeres Format aufweist, unterscheiden. Im Kontext eines üppigen Holismus ist die gesamte Welt der Sprache relevant, was für einen mageren Holismus nicht gilt. Die angeführten Bedingungen stellen sicher, dass der skizzierte Begriff des Begriffs anspruchsvoll genug ist, um nicht bereits Maschinen oder einfachsten Organismen Begriffe zuzubilligen bzw. kausale Reaktionen auf die Veränderung von Umweltbedingungen als Verfügen über einen Begriff zu beschreiben. Man könnte nun dafür argumentieren, den Begriff des Begriffs nicht zu sehr zu strapazieren und ihn dort nicht zu verwenden, wo keine prädikativen Strukturen zur Anwendung kommen, da sich dieser Begriff des Begriffs zu sehr von tradierten Verwendungsweisen des Ausdrucks „Begriff“ unterscheide. Wer von tradierten Verwendungsweisen spricht, denkt häufig an die Kant-Frege-Davidson-BrandomTradition, in der mit einem anspruchsvollen Begriff des Begriffs operiert wird. Dieser Tradition zufolge verfügt man nicht bereits dann über einen Begriff, wenn man etwas unterscheiden, erkennen oder wiedererkennen kann, sondern man muss Gegenstände oder Sachverhalte klassifizieren können, richtige und falsche Begriffsanwendungen unterscheiden können und in der Lage dazu sein, Folgerungsbeziehungen zwischen den Begriffen, über die man verfügt, herstellen und einsehen sowie nachvollziehen zu können. Dieser Sicht der Dinge zufolge verfügt man über den Begriff des Baums, wenn man in der Lage dazu ist, Bäume von anderen Dingen zu unterscheiden und aus dem Umstand, dass etwas ein Baum ist, bestimmte Schlüsse ziehen zu können. Begriffe, so heißt es im Rahmen der fraglichen Tradition häufig, sind normativ und sie setzen eine Sphäre der Intersubjektivität voraus. Ein Argument dafür, begriffliche Fähigkeiten sprechenden Wesen vorzubehalten, lautet, dass Begriffe an Sprache gebunden sind, da sie nur im Kontext einer Sprache Sinn ergeben. Man verwendet dann ein starkes Kriterium für die Zuschreibung von Begrifflichkeit, derart, dass man sagt, jemand hat einen Begriff, wenn er ihn in seine Merkmale zerlegen und gedanklich auf ihn zugreifen kann. Gedanklich zugreifen kann man aber nur, wenn man ein sprachliches Artikulationsvermögen besitzt. Der Vorteil dieser Strategie liegt auf der Hand. Man verwendet einen klaren und deutlich eingegrenzten Begriff des Begriffs. Aber was spricht eigentlich dagegen, verschiedene Formen des Verfügens über einen Begriff voneinander zu unterscheiden? Nicht in allen Kontexten ist es sinnvoll, ausschließlich mit einem anspruchsvollen Begriff des Begriffs zu operieren. Wenn es bezogen auf sprachliche Wesen sinnvoll ist, von praktischen Begriffen zu sprechen, warum sollte man dies im Fall von Wesen, die nicht über eine Sprache verfügen, nicht auch tun? Wenn sich auf der Grundlage des Verhaltens deutlich Hinweise darauf ergeben, dass ein Lebewesen über einen praktischen Begriff verfügt, gibt es keinen Grund, dem betreffenden Lebewesen keine Begriffe zu-

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zuschreiben.¹³ Viel ertragreicher als von vornherein lediglich mit einem engen Begriff des Begriffs zu operieren, ist es, mit einem weiten Begriff des Begriffs zu operieren, der dann – je nach theoretischem Kontext – jeweils anders spezifiziert werden kann. Hält man es für sinnvoll, nicht-sprachlichen Lebewesen Begriffe zuzuschreiben, lassen sich eine ganze Reihe von philosophischen Problemen lösen, mit denen man sich andernfalls herumschlagen muss, man denke etwa an die Frage nach dem epistemischen Status von Wahrnehmungen. Das Ergebnis der Überlegungen dieses Abschnitts, die Bereitschaft auch Tieren Begriffe zuzuerkennen, wird in naturalistischen Theoriekontexten häufig assimilationistisch interpretiert. Die Unterschiede zwischen Wesen, die über eine Sprache verfügen und solchen, welche dies nicht tun, werden als Unterschiede angesehen, die gradueller Art sind und keine kategoriale Differenz implizieren. Die ersten Teile meines Beitrags haben jedoch bereits deutlich gemacht, warum das ein falscher Schluss ist und warum der Verweis auf sprachliche Fähigkeiten trotz der Überlegungen in diesem Abschnitt die Annahme einer anthropologischen Differenz stützt. Es ist Zeit für ein Fazit und einen Ausblick, der auf grundsätzliche Weise vergegenwärtigt, welche Konsequenzen sich aus den vorgetragenen Überlegungen für das Verständnis von Philosophie ergeben.

V Fazit: Grundlinien einer analytisch-kritischen Anthropologie Ohne sprachphilosophische Reflexion erhält man keine Auskünfte über den Ort des Menschen in der Welt. In das Netz der Sprache verstrickt, führen und gestalten Menschen ihr Leben. Die Fähigkeit sich die Welt auf eine komplexe Weise zugänglich zu machen ist unmittelbar mit sprachlichen Fähigkeiten verbunden, auch das nicht-propositionale Verstehen und Können ist aufs Ganze gesehen in sprachliche Zusammenhänge eingebettet und der Raum des menschlichen Lebens eröffnet sich erst durch Artikulation.Wenn man die Konsequenzen, die aus diesen Behauptungen resultieren, nur genau genug durchdenkt, stößt man darauf, dass Menschen ihre Identität durch ihre Redehandlungen auf praktische Weise in ihrem

13 Vgl. dazu auch José L. Bermúdez, Thinking without Words, der zwischen verschiedenen Graden von Rationalität unterscheidet, die in einem Spektrum zwischen Reiz-ReaktionsVerbindungen und hochstufigen kognitiven Fähigkeiten anzusiedeln sind. Bermúdez macht sich in diesem Zusammenhang ebenfalls den Begriff der Affordanz zunutze: „The comparison of affordances does not require a process of decision-making. Nonetheless it is assessable according to criteria of rationality“ (Bermudez 2003, S. 121).

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Lebensvollzug konstituieren, indem sie sich als Wesen einer bestimmten Art identifizieren. Von sprechenden Wesen kann man sagen, dass sie sich auf eine bestimmte Weise selbst gemacht haben. Mit der Einschränkung, die in der Wendung „auf eine bestimmte Weise“ zum Ausdruck kommt, meine ich das Folgende: Diese ‚Selbsterzeugung‘ darf man sich nicht als eine willkürliche Maßnahme oder frei schwebende Konstruktion vorstellen. Sie stellt vielmehr eine responsive Handlung dar. Menschliche Wesen machen sich in Abstimmung mit etwas und unter Anerkennung von etwas, was bereits da ist, in Abstimmung mit der Verfassung der Welt, mit Praktiken, Regeln, Normen und dem gemeinsamen Handeln mit anderen. Unser Bild von uns selbst und unser Bild von der Welt sind als Ergebnis solcher Abstimmungen anzusehen und stellen so gesehen historisch gewachsene und sozial formierte Stellungnahmen dar. Aus dieser Sicht der Dinge ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die anthropologische Frage danach, was oder wer der Mensch ist. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, wie dominant im Augenblick diejenigen Antworten sind, die ihre wesentliche Inspiration und Orientierung der naturwissenschaftlichen Forschung verdanken, ohne freilich in allen Belangen durch die Wissenschaften ‚gedeckt‘ zu sein. Vielmehr sind es häufig überaus krude Verständnisse der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung, die ohne umfassende Kontextualisierung ins Weltanschauliche gewendet werden, um dann als Basis des Wissens vom Menschlichen zu fungieren und dort eine ‚Deutungshoheit‘ beanspruchen (vgl. Janich (2009)). Ich erinnere an die Diskussion um die so genannten Libet-Experimente, die der Bremer Verhaltensphysiologe Gerhardt Roth mit vielen anderen als Nachweis der Tatsache interpretiert hat, dass Menschen nicht frei, sondern neurobiologisch determiniert seien. Viele andere Beispiele könnte man anführen. Dass Menschen als sprachliche Wesen ihre Identität konstituieren, kann man in Anbetracht der Dominanz des biologischen Naturalismus unserer Tage, der die philosophische Anthropologie mehr und mehr zu verdrängen beginnt und an deren Stelle tritt, gar nicht genug betonen. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Die wissenschaftliche Aufklärung hat neue Formen des Priestertums und der Ideologie hervorgebracht, über deren Grenzen nun verstärkt in einer sprachphilosophisch informierten Perspektive aufzuklären ist. Eine sprachphilosophisch informierte Aufklärung über verfehlte Inanspruchnahmen der Wissenschaft ist freilich nicht als Kritik an der Wissenschaft als solcher anzusehen, sondern spielt ihr im Gegenteil zu, indem sie mit den Ergebnissen der Forschung in der Weise behutsam umgeht, wie es Wissenschaft eben erfordert. Die Leitlinie dieser Form von Aufklärung ergibt sich aus einer normativen Sicht der humanen Lebensform, der zufolge Menschen Wesen sind, deren Selbstdeutungen im Rahmen historischer und sozialer Kontexte durch handelnde

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Stellungnahmen erzeugt werden. Auch dasjenige, was die Wissenschaften über den Menschen sagen, ist unter dieser Voraussetzung als Produkt einer sozialpragmatisch fundierten und sprachlichen Stellungnahme und Anerkennung anzusehen und nicht etwa als Selbstbeschreibung der Natur sub specie aeternitatis. Noch einmal sei betont, dass es mir fernliegt, mit diesen Überlegungen den Wert von Wissenschaft, insbesondere auch den Wert der naturwissenschaftlichen Forschung in Zweifel zu ziehen. Philosophische Belehrung in der Art, dass man Wissenschaftlern sagt, was diese zu tun haben und wie man Wissenschaft richtig betreibt, ist fehl am Platze und mag den Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz zu dem böswilligen Aufsatztitel „Philosophie nervt“ veranlasst haben (vgl. Prinz (2008)). Kritik an der Wissenschaft als solcher ist keine sinnvolle Aufgabe der Philosophie und bringt – ein Beispiel habe ich genannt – häufig nur fruchtlose Polemik hervor. Aber eine Verständigung über die Grenzen von Wissenschaft wird in dem Augenblick zum Erfordernis, in dem die Vertreter einzelner Disziplinen als Kulturpolitiker auftreten. Der Aufklärungsimpuls, der von Wissenschaft ausgeht, kann so Denkzwänge und Befangenheiten hervorrufen und ihre emanzipatorischen Züge pervertieren.¹⁴ Die Funktion einer sprachphilosophisch angereicherten Verlängerung der wissenschaftlichen Aufklärung besteht darin, im Rahmen einer analytisch-kritischen Anthropologie auf den mit der Sprachlichkeit des menschlichen Daseins verbundenen Primat normativer Stellungnahmen vor Beschreibungen aufmerksam zu machen und die verschiedenen Arten von Voraussetzungen zu analysieren, die wir in unserem Handeln sowie im Denken und Reden über den Menschen immer schon in Anspruch nehmen. Weil es darum geht, Präsuppositionen unseres Redens und Handelns auszuweisen, spreche ich von analytischer Anthropologie. Als kritisch bezeichne ich die projektierte Anthropologie, da es um die Aufklärung und Kritik verfehlter Sprach- und Handlungspraktiken geht, zum Beispiel solcher, die sich von falschen Objektivierungen leiten lassen und theoretisch Dogmatismus bzw. praktisch Bevormundung nach sich ziehen. Falsche Objektivierungen können überaus weit reichende Denk- und Handlungszwänge zur Folge haben, etwa dann, wenn sich jemand aufgrund einer externen Zuschreibung ganz im Sinne dieser Zuschreibung zu verhalten beginnt oder es zumindest so aussieht, als würde sich die betreffende Person im Sinne der Zuschreibung verhalten, so dass sie dann auch von anderen so behandelt wird. Kandidaten, wo das besonders deutlich wird, sind Zuschreibungen psychischer Erkrankungen, man denke an die Hysterie, deren Zeit wohl

14 Bezogen auf die Neurowissenschaften hat Jan Slaby wichtige Schritte zu einer kritischen Aufklärung dieses Praxisfeldes unternommen (vgl. Slaby 2012).

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für das Erste vorbei ist, oder an die heute – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – bei Kindern mit Bewegungsdrang verbreitete Diagnose: Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, oder auch an so komplizierte Kategorien wie jene der multiplen Persönlichkeit. Der kanadische Sprach- und Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking spricht im Zusammenhang mit dem Gebrauch solcher Kategorien von einem Klassifikationslooping als einer Angelegenheit, an welcher sich die Macht der Sprache einmal mehr zeigt (vgl. Hacking (1995)). Im Rahmen einer kritischen Anthropologie ist der Nachweis zu führen, dass und wie sich dasjenige, was Menschen glauben, auf der Basis sozial instituierter Sprach- und Handlungspraktiken konstituiert, die zwar der Verfassung der Welt Rechnung tragen und diese anerkennen, aber auch eine Geschichte haben und in soziale Kämpfe eingebettet sind. Die Funktion der Philosophie besteht hier auch darin, in Form einer historischen Kritik die Genealogie von jeweils dominierenden Welt- und Menschenbildern zu durchleuchten, um auf deren Voraussetzungen und Beschränkungen aufmerksam zu machen. Schrittweise können so unterschiedliche Aspekte der conditio humana und des Wissens bzw. der Wissenschaften vom Menschen in differenzierter Form freigelegt werden, um die Grenzen von Wissen und Glauben immer wieder aufs Neue zu bestimmen. Dabei sollte sich die Philosophie vor der Hybris hüten, sagen zu wollen, wo es endgültig lang geht. Auch philosophisches Sprechen ist situationsgebunden und vollzieht sich nicht an einem Ort, von dem aus man die Welt als Ganze im Blick hätte. Aber als eigenständige Stimme, die irritiert, und sich ihre Felder und Wege nicht ausschließlich durch etablierte Theorien, durch das scheinbar Approbierte oder durch das Gerede des Wissenschafts- und Kulturbetriebs vorgeben lässt, sich also nicht an alledem orientiert, was Heidegger „das Man“ genannt hat, darf sich die Philosophie durchaus verstehen. Dass es in diesem Zusammenhang um alles geht, wenn es um die Sprache geht, wusste bereits Konfuzius, wie die folgende Geschichte deutlich macht: „Dsï Lu sprach: „Der Fürst von We wartet auf den Meister, um die Regierung auszuüben.Was würde der Meister zuerst in Angriff nehmen?“ Der Meister sprach: „Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe.“ Dsï Lu sprach: „Darum sollte es sich handeln? Da hat der Meister weit gefehlt! Warum denn deren Richtigstellung?“ Der Meister sprach: „Wie roh du bist, Yu! Der Edle läßt das, was er nicht versteht, sozusagen beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, daß er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten ir-

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gend etwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.“ (Kungfutse 1975, S. 131) Über den Reformismus, den Konfuzius empfiehlt, und über dessen Ausmaß und Reichweite kann man sich streiten. Bereits richtige Beschreibungen der Lage können – auch ohne reformatorischen Eifer – fruchtbar sein. Weise jedoch ist der Ratschlag des Meisters auf alle Fälle. Denn unstrittig ist, dass nichts gelingen wird, wenn man nicht bei der Sprachlichkeit des menschlichen Daseins ansetzt.

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Die Praxis der Idee Die Chinesen, behauptet François Jullien, dächten die Welt nicht ausgehend von feststehenden Entitäten, sondern aus der Perspektive prozessualer Wechselwirkungen. Dieser Unterschied zum europäischen Denken lasse sich bis in die grammatischen Strukturen der Sprache zurückverfolgen, die im Chinesischen den Fortgang von Wirkungen bevorzugten: Da es hier weder etwas Dekliniertes noch etwas Konjugiertes, weder etwas Prädikatiertes noch etwas Referiertes gibt, da es keinen Einschnitt zwischen dem Passiv und dem Aktiv gibt, ist das einzige syntaktische Element (ze) die Induktion.Vom Lokalen bis zum Globalen (yi qu / tian xia) objektiviert sich ein Einfluss, nimmt Konsistenz an, entfaltet sich, erhellt sich und setzt sich schließlich durch. (Jullien 2010, S. 56)

Dagegen habe es im antiken griechischen Denken und von dort ausgehend in allen europäischen Sprachen eine „Grundentscheidung für das Sein“ (Jullien 2010, S. 28 und öfter) gegeben. Die Sprache des Seins aber habe es dem griechischen Denken ermöglicht, den Anspruch der Bestimmung (des logos) zu entfalten, der es ermöglicht, das ‚Wahre‘ zu abstrahieren und hervorzubringen und dann diesen Anspruch selbst unendlich im Denken zu konstruieren, das die Wissenschaft und die Philosophie nutzbringend verwenden. (Jullien 2010, S. 36)

Die These einer bis in die grammatischen Strukturen hinein manifesten philosophischen Entscheidung für oder gegen das Sein erscheint auf den ersten Blick etwas gewagt. Die sprachlichen Bestimmungen von Seiendem bieten uns so viele alltägliche Anhalts- und Orientierungspunkte, dass es kaum möglich sein wird, ein menschliches Leben – und sei es ein chinesisches – ganz ohne sie zu führen. Und auch die tief greifenden grammatischen Strukturen der indo-europäischen Sprachen auf eine philosophische Grundentscheidung zurückzuführen, scheint eine mehr als unwahrscheinliche Annahme zu sein. Julliens Befunde sind folglich etwas vorsichtiger zu interpretieren. Er versucht sie zu plausibilisieren, indem er auf die Schwierigkeiten hinweist ausgehend von feststehenden Entitäten Wandlungen, Transformationen, zu denken. Das ist eine Problematik, die seit den Zenonschen Paradoxien immer wieder diskutiert wird und im Chinesischen aufgrund der ihm eigenen grammatischen Struktur laut Jullien sprachlich vermieden werden kann.

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Die Grundentscheidung für das Sein Im Folgenden möchte ich den mit der Konzeption der Transformation verbundenen Fragen ausweichen und stattdessen der These einer „Grundentscheidung für das Sein“ Sinn verleihen. Dass hier überhaupt eine Entscheidung vorliegt, signalisiert bereits das Lehrgedicht des Parmenides, wo es zu Beginn des Fragments 6¹ heißt: „χρὴ τὸ λέγειν τε νοεiν̑ τ’ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν – Es ist nötig, das seiend zu sein auszulegen und sich zeigen zu lassen. Sein ist nämlich, aber nichts ist nicht.“ (Diels/Kranz 1951/52) Wie auch immer die exakte Übersetzung der Passage lautet, von der es heißt, sie habe mehr Übersetzungen und Interpretationen als Leser (vgl. Stekeler-Weithofer 2001, hier S. 462), das einleitende „es ist nötig“ verweist auf die Wahl, vor die Parmenides seine Leser stellt, den Weg des Seins und der Wahrheit zu wählen oder dem Nicht-Sein und der Verwirrung anheimzufallen. Die Wahl, die hier getroffen werden soll, ist aber keineswegs so leicht, wie es auf den ersten Blick scheint, denn die Zeichen, die Parmenides im Fragment 8 zuerst für das Sein angibt, lassen es fraglich werden, was damit überhaupt gemeint sein kann. Das Sein ist nämlich vor allem vieles nicht. Es ist nicht entstanden (ἀγένητος) und nicht vergänglich (ἀνώλεθρος), es kann nicht erschüttert werden (ἀτρεμής) und entwickelt sich auch nicht auf irgendetwas hin (ἀτέλεστος). Mit anderen Worten, es fehlen ihm viele Eigenschaften, die für sinnliche Gegenstände sonst normal sind. Vielmehr präsentiert Parmenides das Sein als Gegenstand eines der Zeit enthobenen, göttlichen Wissens.² Seine negativen Beschreibungen des Seins zielen vor allem auf dessen Unveränderlichkeit und damit Unzeitlichkeit. Die Konsequenz daraus, dass es sich beim Sein um einen ganz und gar unsinnlichen, ideellen Gegenstand handelt, zieht Demokrit, der ihm im Fragment 11 explizit ein ebenfalls ganz und gar unsinnliches Erkenntnisvermögen zuordnet und gemäß Plutarch³ von den Atomen, die bei ihm die Eigenschaften des parmenidischen Seins tragen, als Ideen spricht. Die Entscheidung für das Sein scheint sich so aber als eine Sackgasse zu erweisen. Den Sinnen unzugänglich, ist die unveränderliche Wahrheit scheinbar nur um den Preis einer geheimnisvollen Wissenschaft zu haben, die zwar von sich behaupten mag, das den sinnlichen Erfahrungen notwendig zugrunde Liegende

1 Die vorsokratischen Fragmente werden hier und im Folgenden nach Diels/Kranz 1951/52 mit dem Verweis auf die entsprechenden Zählungen dort zitiert. 2 Vgl. Stekeler-Weithofer 2001, S. 468: „Parmenides wants to present a divine and absolute and ideal perspective. In this perspective he analyses the concept of invariant, eternal, truth and the related concept of invariant substances“. 3 Vgl. Plutarch, Adversus Colotem, 8, 1111a, zitiert. nach Diels/Kranz 1951/52, 68 A 57: „εἶναι δὲ πάντα τὰς ἀτόμους ἰδέας ὑπ᾽ αὐτοῦ καλουμένας, ἕτερον δὲ μηδέν“.

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zu erfassen, aber den Bruch zwischen sinnlicher Erfahrung und grundlegender Wahrheit kaum überbrücken kann und so die Frage provoziert, wie sie als Wissenschaft überhaupt zu rechtfertigen ist. Platon thematisiert diese Schwierigkeit in den methodischen Bemerkungen des Dialogs Timaios immer wieder. So sei vorauszusetzen, dass die Welt ein Bild (εἰκών) von durch Vernunft erfassbaren, beständigen Verhältnissen sei.⁴ Das heißt, zwischen den nicht dem Werden und Vergehen unterworfenen Verhältnissen der Vernunftgegenstände und den sinnlich erfassten Zuständen der Welt besteht eine Beziehung der Wahrscheinlichkeit (εἰκός). Das Griechische ist hier noch eine Spur sprechender als der deutsche Ausdruck.Wie im Verhältnis von Bild und abgebildeten Gegenstand, sind auch die durch die Vernunft unterlegten Strukturen etwas, das im günstigsten Fall zwar wahr scheint, aber in letzter Instanz nicht wahr im Sinne einer perfekten Übereinstimmung sein muss. Die Forderung ist deshalb, sich im Moment mit dem zufriedenzugeben, das nicht – und sei es auch nur noch nicht – durch eine bessere Darstellung überwunden wird.⁵ Unter der Hand vollzieht Platon mit seiner Forderung nach Akzeptanz der wahrscheinlichen Darstellung der festen Gründe des Seins aber eine Umkehrung der Abbildungsverhältnisse. Erklärt der Mythos die vernünftigen Strukturen zum Vorbild der nach ihnen durch den Demiurgen geschaffenen Weltverhältnisse, ist in der Erklärung des sterblichen Timaios die stabile, der Vernunft entstammende Struktur ein Erklärungsversuch, der die tatsächlichen Verhältnisse nur mehr oder weniger treu abzubilden vermag. Und tatsächlich wird der Mythos der Weltenschöpfung gemäß einem vernunftbestimmten Plan zunächst nur autoritativ gesetzt, indem die Alternative einer rein gewordenen, ordnungslosen Welt ohne weitergehende Begründung als verboten gekennzeichnet wird (vgl. Platon 1991, 29a). Später liefert Platon im selben Dialog allerdings noch einige Argumente, die sich vor allem auf sinnlich wahrnehmbare Ordnungsstrukturen in der Natur beziehen. Paradigma sind hierbei die gemessen am menschlichen Wahrnehmungsvermögen ebenso regelmäßigen wie dauerhaften Bewegungen von Himmelskörpern, deren Beobachtung den Anstoß gab, eine Ordnung der wechselnden Erscheinungen zu suchen (vgl. Platon 1991, 47 a–b). Aus diesem Zusammenhang erklärt sich auch warum die Himmelskörper mit dem Bereich des Göttlichen identifiziert werden. Sie plausibilisieren die Annahme ewiger, stabiler Verhältnisse. 4 Vgl. Platon 1991, 29 a–b: „οὕτω δὴ γεγενημένος πρὸς τὸ λόγῳ καὶ φρονήσει περιληπτὸν καὶ κατὰ ταὐτὰ ἔχον δεδημιούργηται· τούτων δὲ ὑπαρχόντων αὖ πᾶσα ἀνάγκη τόνδε τὸν κόσμον εἰκόνα τινὸς εἶναι“. 5 Vgl. Platon 1991, 29 c: „ἀλλ᾽ ἐὰν ἄρα μηδενὸς ἧττον παρεχώμεθα εἰκότας, ἀγαπᾶν χρή“.

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Doch nicht nur die Himmelskörper mit ihren in vorhersagbarer Weise aufeinander beziehbaren Bewegungen werden in dieser Passage des Dialogs ausgezeichnet. Auch das Sehvermögen, mithilfe dessen sie wahrgenommen werden, wird von Platon zum hervorragenden Sinn erklärt.Wie bereits durch die Motive der Bildlichkeit und Wahrscheinlichkeit angedeutet, stellt Platon eine enge Verbindung zwischen Vernunft und Sehen her. Diese erweise sich zwar nicht am Sein selbst, dessen vollkommen unsinnliches Verständnis den Göttern und einigen wenigen Menschen vorbehalten bleibe (vgl. Platon 1991, 51 d–52 a), wohl aber an den Verhältnissen des Raumes, bei deren Verständnis sich Vernunft und Sinnlichkeit miteinander vereinigten. Schwierig macht das Verständnis des Raumes, dass die in ihm anzutreffenden geometrischen Verhältnisse selbst nicht dem Werden und Vergehen unterworfen sind, der Raum zugleich aber im Gegensatz zum reinen Sein auch nur mithilfe der Anschauung erfasst werden kann, sodass die Gefahr besteht, ihn irrtümlicherweise mit den sinnlichen Gegebenheiten zu identifizieren. Für Platon aber ist der Raum die unsinnliche Stätte des Werdens und Vergehens, das in ihm seinen Anteil am stabilen Sein erweist, ohne dass die stabilen Verhältnisse und das Werden identisch würden (vgl. Platon 1991, 52 a–d). Platons folgende Überlegungen zur atomaren Form der Elemente, die als Anschluss an Demokrit gedeutet werden können, erklären sich aus diesem Privileg der Geometrie. Was Platon interessiert sind die stabilen Formen und die Verhältnisse, die sie zueinander haben.⁶ Die atomaren Formen stehen damit spätestens seit Platon für eine Gründung der Naturwissenschaften in mathematischen Modellen und damit für ein Naturwissenschaftsverständnis, bei dem sich zwar die verwendeten mathematischen Strukturen verändert und kompliziert haben, die Mathematisierung selbst aber bis heute unangetastet blieb.

Die praktische Konstitution geometrischer Ideen Platon kann die Transformationen der Stoffe, ihre Übergänge von einem stabilen Zustand zu einem anderen nur nach einem Modell der stabilen Formen und ihrer Beziehungen zueinander denken. Platons Entscheidung für das Sein, von der Jullien spricht, ist folglich genauer eine Entscheidung für die Geometrie als Grundparadigma wissenschaftlicher Erkenntnis und als solche für uns tatsächlich bis heute prägend.Wie aber kann die Vernunft in der Geometrie durch ein mit dem

6 Vgl. zu einer inhaltlichen Deutung der atomaren Formen im Timaios Stekeler-Weithofer 1995, S. 71 ff.

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Sinnlichen gemischtes Verständnis (λογισμός νόθος) zu den stabilen, von Platon als unsinnlich gekennzeichneten Formen kommen? Wie Pirmin Stekeler-Weithofer gezeigt hat, liegt dem gemischten Verständnis der Geometrie vor allem eine Mischung von Praktiken zugrunde (vgl. StekelerWeithofer 2008). Diese beginnen schon mit den protogeometrischen Verfahren zur Herstellung von passgenauen Flächen und Körpern, wie es bei der Fertigung von Bauelementen zur Anwendung kommt. Sie setzt sich fort mit der Anfertigung von maßstäblichen Zeichnungen und Skizzen, die die Verhältnisse der so gefertigten Elemente darstellen und neben der Zusammensetzung von Figuren auch die beliebige Fortsetzbarkeit von Strecken, Ebenen und Quadern etablieren. Doch der entscheidende Zug besteht darin, von einem Konstruieren nach materialbegrifflichen Normen und einem demonstrativ-deiktischen Kommentieren wirklicher Körperformen (als reale Gestalten für sich, etwa von Zeichnungen oder sonst wie gestalteten Körpern oder Oberflächen) in eine formalen Redebereich [überzugehen], in dem ein formallogisches Schließen möglich wird. (Stekeler-Weithofer 2008, S. 118)

In einem solchen formalen Redebereich verlieren die geometrischen Formen nämlich ihre sinnlichen Eigenschaften. Die Punkte werden ausdehnungslos, die Linien haben keine Breite und die Flächen keine Höhe. Diese Voraussetzungen ermöglich es, dass Konstruktionsanweisungen von der konkreten Situation ihrer Ausführung unabhängig als prinzipiell ausführbar beurteilt werden können und die Identität bzw. Nichtidentität von durch solche Konstruktionsanweisungen bezeichneten Punkten eindeutig festgestellt werden kann. Trotz dieses Bezugs auf die reinen Verhältnisse idealer Formen bleibt die Praxis der Geometrie aber gemischt. Auf der idealen Ebene beinhaltet sie Normen dafür, was überhaupt eine zulässige Konstruktionsanweisung ist, und die Benennungen der so erreichten Punkte und erzeugten Figuren. Die Anweisungen zur Herstellung solcher Figuren sind aber aus der protogeometrischen Praxis hervorgegangen, und sie bleiben trotz ihres Bezugs auf ideale Gegenstände an die Praxis des geometrischen Konstruierens gebunden. Die Anweisungen müssen nämlich nicht nur den syntaktischen Normen ihrer Erzeugung und Zusammensetzung genügen, sie müssen auch als normative Verbalkommentare zu geometrischen Zeichnungen gelesen werden können. Diese Zeichnungen müssen also in der Lage sein, die Ausführbarkeit einer Konstruktionsanweisung auf eine sinnlich erfahrbare Weise zu demonstrieren. Denn man kann nicht einfach Beliebiges mit Zeichnungen sagen wollen (oder: meinen). Es gibt Richtigkeitsbedingungen für die den Zeichnungen zugeordneten Kommentare, welche nicht umgestoßen werden können, indem man sagt, die Zeichnung sei anders (nämlich so …) gemeint. (Stekeler-Weithofer 2008, S. 134)

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Die Fähigkeit zur Demonstration ist aber wiederum kein empirisch konstatierbares Faktum der Zeichnung, denn die Konstruktionsanweisungen stellen bereits normative Anforderungen an die Güte, das heißt, den geeigneten Maßstab und die Genauigkeit ihrer Ausführung. Der ideale Gegenstand entsteht mithin im wechselseitigen Bezug zweier Praktiken, der wohlgeformten Konstruktionsanweisung und Benennung einerseits und der Ausführung der Konstruktion unter Beachtung der „etablierten Kriterien der Beurteilung der Güte einer Zeichnung […] und […] der je zugehörigen relevanzbezogenen Toleranzgrenzen“ (Stekeler-Weithofer 2008, S. 134) andererseits.⁷ Die Bedeutung der wechselseitigen Beziehung der Praktiken liegt vor allem im Effekt der Transzendenz, der durch diese Verbindung eintritt. Die Praktiken des Herstellens, Zeichnens und Zeigens werden durch die Überführung in die normierte Sprache der Konstruktionsanweisungen ihrer je konkreten Situation enthoben. Nicht die zufälligen materiellen Bedingungen der Werkzeuge und Rohstoffe entscheiden über die Gültigkeit der Zusammenhänge, sprich: die Konstruierbarkeit der Figuren. Scheitert die Konstruktion nicht an ihrer prinzipiellen Unausführbarkeit, so sind es die vorgefundenen Bedingungen (die Dicke der Mine im Verhältnis zum Maßstab, die Unebenheit oder Begrenztheit des Zeichengrundes, die Instabilität des Zirkels etc.), die als ungenügend qualifiziert werden. Situationsinvarianz der geometrischen Verhältnisse bedeutet hier also nicht, dass die konkrete Ausführung einer Zeichnung von diesen Gegebenheiten unabhängig wäre, sondern dass es Techniken zur Herstellung von Bedingungen gibt, unter denen sich die behaupteten Zusammenhänge zeigen lassen, wobei die Standardisierung der Bedingungen unabhängig von der jeweiligen konkreten Aufgabe bereits durch die geometrische Praxis insgesamt erfolgt ist. Indem die geometrischen Formen und Verhältnisse die Bedingung ihrer Realisierung im Rahmen der gemischten geometrischen Praxis in sich tragen, entsteht ihre Unabhängigkeit von konkreten Orten und Zeiten. Ihre Gültigkeit ist damit außerräumlich und außerzeitlich. Sie beginnt nicht erst mit dem Moment der sie entdeckenden Demonstration, und sie bleibt auch nicht auf deren Ort beschränkt. Die Praxis ihrer Genese verleiht den wahren Sätzen über die Formen eine ewige Gültigkeit, die jedoch nicht mit einer Unabhängigkeit von dieser Praxis selbst verwechselt werden darf. Geometrische Formen existieren nicht jenseits der

7 Vgl. auch Stekeler-Weithofer 2008, S. 182: „In unserem Fall wird eine planimetrische Form entsprechend rein geometrisch als Paar definiert, bestehend aus einem syntaktisch wohlgebildeten Konstruktionsterm t und einer anschaulichen Demonstration, die zeigt, dass t zu den geometrisch ausführbaren gehört […]. Für jede derartige Demonstration bedarf es eigentlich der wirklichen Ausführung der Konstruktionen. Allerdings können wir uns Bilder, statt sie zu malen, auch vorstellen“.

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geometrischen Praxis, die sie nicht nur entdeckt, sondern überhaupt erst konstituiert. Ihre Zeitlosigkeit ist damit ein geschichtlich gewordenes Faktum. Dass dieses Faktum historisch nicht veränderlich ist, etwa indem eine nicht-euklidische Geometrie entwickelt wird, hängt einzig und allein mit der beschriebenen Komplexität und Selbstbezogenheit der gemischten geometrischen Praxis zusammen, die durch ihre starken Normierungen selbst invariant ist. Eine andere geometrische Praxis ist – wie weit auch immer sie im Einzelnen von der euklidischen Geometrie abweichen kann, ohne aufzuhören eine Geometrie zu sein – zunächst eine andere Praxis mit anderen Regeln, die über die Festsetzung der prinzipiellen Konstruierbarkeiten in der ebenen Geometrie keine Gewalt hat. Ungültig werden (oder genauer gesagt: aufhören zu bestehen) kann eine geometrische Wahrheit mithin nur, wenn die sie tragende Praxis aufhört zu existieren, weil sie nicht länger tradiert wird. Was aber nützen solche an Praktiken gebundene und durch sie bis zur Überzeitlichkeit stabilisierten Formen und Verhältnisse? Die Hoffnung ist, dass mit ihnen der Vorteil sicherer Vorhersagen darüber einhergeht, zu welchen Ergebnissen die an sie gebundenen praktischen Vollzüge führen. Dieser Vorteil gilt jedoch zunächst nur im Idealfall, da jeder tatsächliche Vollzug einer Konstruktion immer auch misslingen kann. Dass die Hoffnung in der Regel trotzdem nicht trügt, liegt daran, dass in die Praktiken auch die Bedingungen ihrer Gültigkeit eingeschrieben sind. Da diese Kriterien aus bereits gängigen, prototheoretischen Praktiken stammen und ihre Erfüllung, wie gesagt, herstellbar ist, kann der Möglichkeit des Auftretens von das Ergebnis beeinträchtigenden Störungen entgegengewirkt werden. Die Anwendung des überzeitlichen und ortlosen Wissens erfordert es also, die konkreten Situationen, in denen es angewendet werden soll, auf den Grad der Erfüllung der Voraussetzungen zu prüfen, die für einen erfolgreichen Vollzug der Anweisungen gegeben sein müssen. Im Falle des Nichtvorliegens dieser Bedingungen (beispielsweise der hinreichenden Ebenheit der Zeichenfläche im Fall der euklidischen Geometrie) sind diese Anforderungen entweder herbeizuführen, oder das Wissen ist als für die gegebene Situation nicht angemessen zu verwerfen. Die Prüfung einer gegebenen Situation auf den Grad ihrer Übereinstimmung mit den Normen einer Wissen generierenden Praxis kann nicht als trivial vorausgesetzt werden. Sie ist selbst ein praktischer Vollzug, der auf die Praxis zurückgeht und in der Geometrie durchaus probeweise Vollzüge der Konstruktion von Figuren beinhaltet, deren Gelingen oder Misslingen Aufschluss über die Eignung eines Baugrundes oder -stoffes verspricht. In diesem Sinn ist dann auch zu verstehen, warum die „wahre Natur“ in den Dingen verborgen liegen kann. Aus alldem folgt, dass der Diskurs über das Sein, die Wahrheit und die Wissenschaft zunächst praktische Erfahrungen systematisiert, indem er die Be-

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dingungen ihrer Wiederholbarkeit in ein Gefüge von Handlungsanweisungen einschreibt, das die Kennzeichnung der erwarteten Resultate einschließt. Die Resultate können dabei als Kontrolle der korrekten Ausführung der Handlungsanweisungen dienen,während die ideale Ausführung der Handlungsanweisungen die Resultate als abstrakte Gegenstände definiert.

Die ontologische Fiktion Die charakteristische Mischung von mit Handlungsanweisungen einhergehenden Vorhersagen und aus ihnen gewonnenen idealen Probekriterien für die Aktualisierung von Schemata ist nicht auf die Geometrie beschränkt. Auch wenn Platon im Timaios für das Sein selbst die Rolle des Allaufnehmenden (πανδεχές), aber selbst Unsichtbaren und Formlosen (ἀνόρατον εἶδός τι καὶ ἄμορφον) reserviert, dass ausschließlich dem unsinnlichen geistigen Erkenntnisvermögen vorbehalten (τοῦ νοητοῦ) und wegen dieser Unzugänglichkeit weitgehend unfassbar (δυσαλωτότατον) sei (vgl. zu diesen Charakterisierungen Platon 1991, 51 a–b), hat sich in der auf ihn aufbauenden Wissenschaftstradition ein Seinsverständnis durchgesetzt, das sich aus der gemischten Praxis seiner geometrischen Analyse der atomaren Verhältnisse speist. Diese Struktur betrifft die Gegenstandsbereiche des Wissens insgesamt. Bevor solche Erkenntnisse bezüglich der unsinnlichen Seinsmomente möglich werden, ist alles Seiende aber zunächst etwas uns Begegnendes, zu dem wir ein Verhältnis einnehmen, das aktiv veränderbar ist. Diesen Manipulationen haftet erst einmal noch nichts Theoretisches an, und sie produzieren auch noch keine festen Gegenstandsbereiche. Die Gegenstandskonstitution beginnt erst mit der Verfestigung der Aktivitäten zu Praktiken, die gelernt und somit tradiert werden können. Mit ihnen geht ein Protoverständnis einher, das vom Wissen im wissenschaftlichen Sinn unterschieden werden muss.Vielmehr handelt es sich um ein doxastisch-praktisches Wissen. Zwar enthält auch diese Form des Wissens mit ihren Erfahrungssätzen (δόξαι) bereits eine das Wissen stabilisierende Praxis zur Herstellung und Kontrolle der Bedingungen seiner Gültigkeit. Das mit ihr verbundene Wissen bleibt aber auf der Ebene des Kommentierens von je konkreten Vollzügen. Es handelt sich um ein Know-how, dessen Voraussetzungen und Anwendungsbedingungen in es eingeschrieben und im Sinn eines mit der Praxis einhergehenden Unterscheidungsvermögens empraktisch sind. Wissen in diesem schwachen Sinn entsteht aus der Kommentierungspraxis, die ein wesentlicher Bestandteil der im Zug der Tradierung notwendigerweise erfolgenden Normierung ist. Praktiken können zwar auch durch reine Nachahmung weitergegeben werden, ihre aktive Tradierung schließt aber die Kommen-

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tierung der Nachvollzüge als richtig oder falsch, als mehr oder weniger gut gelungen bzw. mehr oder weniger deutlich misslungen mit ein. Es sind solche Kommentierungen, die Gegenstände als stabile Bezugspunkte im Handlungsvollzug, insbesondere als dessen Voraussetzungen und Resultate auszeichnen. Das erklärt auch Julliens Beobachtung eines Privilegs der stabilen Formen gegenüber dem Prozess der Transformation. Das Seiende ist immer eine Realisierung, deren Bezug zu einer Kommentarnorm festgestellt werden kann. Die Vielfalt des Seienden bildet sogar ein ganzes Netz solcher auf Normen bezogener Realisierungen, die den Handlungsformen Vollziehenden die praktische Orientierung ermöglichen, wobei sich verschiedene Praktiken in den Realisierungen durchaus überschneiden können. So kann es geschehen, dass ein und dieselbe Realisierung aus der Perspektive verschiedener Praktiken unterschiedlichen Normen und damit im Folgenden unterschiedlichen mit diesen Normen konstituierten idealisierten Gegenständen entspricht. Das unterstützt die ontologische Fiktion einer den Praktiken und Normen zugrunde liegenden Seinsebene, die Platon, wie eben zitiert, als völlig unzugänglich (ἀπορώτατα) kennzeichnet und die Spinoza auf die bis zur Ununterscheidbarkeit getriebene Verwirrung von Vorstellungen von Gegenständen zurückführt (vgl. Spinoza 1999, II, LS 40, Anm. 1), deren jeweilig sinnlich wahrnehmbaren Merkmale in dieser Fiktion gleichzeitig an- und abwesend sind. Die ontologische Fiktion des Seins als Gegenstand in den Gegenständen erhält ihre Bedeutung aus den Normierungen, die mit der kommentierenden Idealisierung einhergehen. Als Fixpunkte der praktischen Vollzüge leiten die Gegenstände und die in ihnen als stabil charakterisierten Eigenschaften die Handlungen. Aus der aktiven Verhältnisvariation wird so scheinbar das passive Nachvollziehen prädeterminierter Gegebenheiten. Vergessen wird dabei jedoch, dass die Prädetermination das Ergebnis eines normierenden Kommentars ist, der zur Stabilisierung einer Praxis eingesetzt wird. Die ontologische Fiktion setzt mithin nicht erst auf der Stufe des Seins in Platons Sinn ein, sondern bereits dort, wo die Gegenstände als normierte Fixpunkte gegenüber den jeweiligen Vollzügen eine erste Form der Selbstständigkeit erhalten, die dann tatsächlich nicht nur für die Aktualisierung der jeweiligen Praxis, sondern auch für unser immer schon begrifflich geformtes Wahrnehmen⁸ prägend wird. Die Frage nach dem Sein in

8 Vgl. zur begrifflichen Prägung der Wahrnehmung die Ablehnung des „Mythos des Gegebenen“ bei McDowell 2001, S. 33: „Nach meiner Konzeption herrscht von Anfang an kein Abstand zwischen den begrifflichen Inhalten, die sich am nächsten zu den Einwirkungen der externen Realität auf die Sinnlichkeit befinden, und diesen Einwirkungen selbst. […] Die Sinneseindrücke, die Einwirkungen der Welt auf unsere Sinnlichkeit, verfügen bereits über diese grundlegendsten begrifflichen Inhalte.“

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Platons Sinn, das heißt, als ontologischem Grund der Gegenständlichkeiten, ist damit eine Hypostasierung zweiter Stufe, deren normative Füllung, durch die zusätzliche Ferne zu den Praktiken von vornherein nur beliebig sein kann. Der Seinsgrund spiegelt mithin zuverlässig nur die normativen Vorlieben jener, die ihn beschwören. Der bereits auf der Ebene der Tradierung prototheoretischer Praktiken einsetzende Effekt der ontologischen Fiktionalisierung wird durch den Übergang zur wissenschaftlichen Genese von Wissen nicht aufgehoben, sondern eher noch verstärkt. So verschärft sich das Problem in der Geometrie, wenn die idealen Figuren als selbstständig gegenüber der Praxis zur Realisierung der sie hervorbringenden Konstruktionsanweisungen gelten (vgl. Stekeler-Weithofer 2008, S. 160 ff). Durch einen solchen Zug wird nämlich sowohl der unsinnliche Aspekt der Idealität als auch die Entstehung und Existenzweise der idealen Gegenstände verschleiert.

Nicht-geometrische Formalisierungen Was aber ist mit all den Wissensbeständen, die sich anders als die Gegenstände der Physik nicht auf geometrische Formen und ihre Relativbewegungen zueinander reduzieren lassen? Muss in der Biologie und Chemie nicht die Existenz von wissenschaftlich erfassten Objekten vorausgesetzt werden, die in einer der Wissenschaft und damit einer der geometrischen Praxis entsprechenden Konstruktion vorgängigen Weise konstituiert sind? Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst einmal geklärt werden, wie in diesen Wissensbereichen überhaupt wissenschaftliches Wissen generiert werden kann. Dass dies möglich ist, ist nicht trivial. So bleiben für Kant die nicht-physikalischen Wissensbestände, wie die Erkenntnisse der Chemie, notwendigerweise prototheoretisch. Die Chemie selbst sei nämlich bloß eine systematische Kunst, oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft […], weil die Prinzipien derselben bloß empirisch sind und keine Darstellung a priori in der Anschauung erlauben, folglich die Grundsätze chymischer Erscheinungen ihrer Möglichkeit nach nicht im mindesten begreiflich machen, weil sie der Anwendung der Mathematik unfähig sind. (Kant 1977, AX)

Es ließe sich einwenden, dass Kant das Entwicklungspotenzial der Chemie als Wissenschaft offenkundig falsch eingeschätzt habe und die Chemie der Gegenwart längst wieder auf atomare Formen, Wellenmodelle und dergleichen mehr zurückgreift, um ihre idealen Reaktionsgleichungen „begreiflich“ zu machen. Doch dieser historisierende Einwand würde Kants Argument verfehlen, weil er die

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ihm zugrunde liegende Vermutung bestätigte, dass ohne Mathematik und damit ohne eine Reduktion der Phänomenbereiche auf physikalisch und damit letztlich geometrisch beschreibbare Verhältnisse Wissenschaft unmöglich sei. Chemie, so hieße das, wäre in Wahrheit nur als physikalische Chemie ein möglicher Wissenschaftsbereich. Die Chemie, von der Kant spricht, befasst sich aber nicht mit den Verhältnissen der Atome und Moleküle, sondern mit der Wirkung von Stoffen aufeinander. Diese Stoffe, so behauptet Kant, sind nicht in der Lage, durch ideale Gegenstände beschrieben zu werden. Sie sind formlos. Eine Form zu besitzen ist aber nicht notwendigerweise an die Formen der Geometrie gebunden. Vielmehr lassen sich die Bedingungen für die idealen Gegenstände der Geometrie auch auf andere Gegenstandsbereiche übertragen. Wichtig ist dafür vor allem die Erzeugung der Situationsinvarianz im oben explizierten Sinne, indem die Relationen der idealen Gegenstände in ein verbales System übertragen werden, das Inferenzen ermöglicht, die eindeutig – also mit Wahrheitswerten versehen – sind. Das Ergebnis sind lehr- und lernbare wahre Sätze, die wie in der Geometrie ihre Wahrheitsbedingungen bereits in sich tragen und als Teil des wissenschaftlich gesicherten Wissens gelten. Von ihnen gilt: „We control their correctness schematically“. Und: „The rules or schemes of deduction can be seen as parts of the teaching machinery by which we learn to produce, to control, or to rehearse the true sentences (or the consequences of true sentences) of a formal system of knowledge.“ (Stekeler-Weithofer 2003, S. 126) Hegel, für den im Unterschied zu Kant Wissenschaft auch über die Physik hinaus möglich ist, versucht in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften eine solche Formalisierung der nicht-physikalischen Chemie zu entwerfen (vgl. vor allem Hegel 1986, §§ 326 – 329). Entscheidend ist für ihn der Charakter der chemischen Phänomene, bei denen zwei Körper nicht wie in der Physik in Beziehung zueinander treten, sondern zu einer von ihren jeweiligen Ausgangszuständen klar unterscheidbaren Totalität verschmelzen. Dieses „Vereinen“ kann formal bleiben, wenn sich die Stoffe lediglich additiv miteinander verbinden, es kann aber auch „real“ werden, wenn sich, wie im Fall von Säuren und Basen, gegensätzliche Eigenschaften neutralisieren und die gegensätzlichen Momente aus sich selbst heraus eine Affinität zueinander haben. Außerdem gehört zu den chemischen Prozessen auch noch die Umkehrung des Vereinens, die Scheidung. Der Körper kommt in einem dieser Prozesse als Bedingung, in einem anderen als Produkt vor; und in welchem besonderen Prozesse er diese Stellung hat, macht seine chemische Eigentümlichkeit aus; auf diese Stellungen in den besonderen Prozessen kann sich allein eine Einteilung der Körper gründen (Hegel 1986, § 329),

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schlussfolgert Hegel. Ganz unabhängig von der Frage, ob Hegel die Formalisierung der nichtphysikalischen Chemie tatsächlich befriedigend gelöst hat, wird an seinen Überlegungen doch deutlich, wie ein formales Wissenssystem der Chemie prinzipiell aufgebaut werden muss. Der Phänomenbereich der Vereinigung und Scheidung von Stoffen wird auf die Interaktion von homogenen Stoffen (den idealen Gegenständen) zurückgeführt, deren Verhältnisse jetzt nicht mehr als Beziehungen von Figuren beschrieben werden können, sondern als typische Zusammenhänge von Agentien und Produkten in genau spezifizierbaren Prozessen gefasst werden müssen. Von der Protochemie als praktischem Wissen der Erzeugung spezifischer Stoffe unterscheidet ein solches formales Wissen der Chemie analog zum Verhältnis von Protogeometrie und Geometrie die Invarianz der Gültigkeit der formalen Zusammenhänge und damit das Absehen von den spezifischen örtlichen und zeitlichen Bedingungen, unter denen die entsprechende chemische Reaktion abläuft.⁹

Die Fiktion des θεωρεiν̑ Obwohl Hegels Enzyklopädie entscheidende Hinweise enthält auf welche Praktiken sich die Formalisierungen der nicht-physikalischen Phänomenbereiche der Natur stützen können, ist die Sprache der Enzyklopädie auf etwas anderes als Praktiken konzentriert. Thematisiert werden Prozesse und Gegensätze, bei denen zu allem Überfluss die beteiligten Körper auch noch ein eigenes Streben aufweisen.¹⁰ Die Objekte der Wissenschaften scheinen die Abhängigkeit der geo-

9 Zur Bedeutung solcher Bedingungen bei der Umsetzung theoretischer chemischer Einsichten in eine Produktionspraxis vgl. Lundgren 2011, S. 41: „At the turn of the 20th century, industrial technology was […] concerned with making production run smoothly and profitably. To reach this goal the producer/engineer needed a thorough knowledge of concrete local practices, since the same machine could run differently depending on its location. Its running was subject to local conditions, or to the kind of raw material that was used (e. g., ore from different mines could vary considerably). Even the regional weather conditions could influence industrial processes. Science strived to smooth out these local variations; industrialists could not do so“. 10 Vgl. Hegel 1986, § 326 Zusatz (S. 292): „[D]aß jede Seite auch an sich das Andere ist, […] dies ist der Durst des Kalischen nach der Säure und umgekehrt. […] Alles hat aber nur Trieb, insofern es dieser Widerspruch mit sich selbst ist. Dies fängt im chemischen Prozesse erst an, indem hier dies, an sich das Neutrale, das Ganze zu sein, den unendlichen Trieb bewirkt; im Leben kommt dies dann weiter zum Vorschein. Der chemische Prozeß ist so ein Analogon des Lebens […]. Könnte er sich durch sich selbst fortsetzen, so wäre er das Leben“.

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metrischen Figuren von einer sie erst schaffenden Konstruktionshandlung verloren zu haben, sobald sie beginnen zu prozessieren, das heißt, beginnend damit, dass die Körper aus der Perspektive der Dynamik untersucht werden. Vielmehr wirkt es so, als kennzeichne die Wissenschaft gerade die bloß konstatierende Beobachtung von Prozessen, deren Merkmal es gerade ist, dass sie einfach ablaufen, ohne dass die Beobachtenden dabei mitwirken, in den Naturwissenschaften sogar, ohne dass irgendeine Form menschlicher Praxis in sie involviert wäre. Soll sich die Unabhängigkeit des naturwissenschaftlichen Wissens von Praktiken als Fiktion erweisen, dann muss der konstitutive Beitrag von Praktiken zu seiner Genese deutlich gemacht werden. Die Theorien selbst aber bestärken die ̑ der rein konstatierenden Beobachtung, indem sie aufgrund Fiktion des θεωρεiν, ihrer auf schematische Kontrolle der Bildung wahrer Sätze zielenden Anlage ein praktisches Vermögen erfordern, das mit den situationsgebundenen Praktiken, auf die es sich stützt, nichts gemein haben kann. Zu zeigen ist also genauer, dass prototheoretische Praktiken die Gegenstände konstituieren, auf die sich die Bildung idealer Wissensbestände stützt. Für die physikalischen und chemischen Gesetze ist es naheliegend, solche prototheoretischen Praktiken in der Herbeiführung, Verhinderung und Steuerung von Bewegungs- und Stoffumwandlungsprozessen zu sehen. Diese Tätigkeiten bilden die Paradigmen der Wissenschaften vom Unbelebten. An ihnen muss sich die Gültigkeit der Wissensbestände alltäglich erweisen. Und als gezielte experimentelle Durchführung sind sie sogar ein fester Bestandteil der Wissenschaft, nämlich jener, der der Probe durch die Konstruktion in der Geometrie entspricht. Doch im Fall des Lebens, bei dem die Prozesse nicht nur einfach ablaufen, wenn eine für sie günstige Konstellation gegeben ist, sondern die gezielte Herbeiführung solcher Konstellationen selbst zum Prozessgeschehen gehört, wird das praktische Fundament der Wissenschaft besonders fraglich. In der Biologie sind die idealen Gegenstände die Arten. Sie sind gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie sich durch die zu ihren Charakteristika gehörende Fortpflanzung selbst erhalten. In diesem Sinn gehört es zu den unabdingbaren Eigenschaften einer Art, dass sie sich anders als die physikalischen und chemischen Prozesse bzw. deren Resultate aus sich selbst hervorbringt. Doch wie entsteht eine Art aus der hier vorgeschlagenen Perspektive auf die Biologie als Wissenschaft? Eine Art als der einzelne ideale Gegenstand der Biologie wird aus generalisierten Beobachtungen gewonnen, die sich an den Praktiken der morphologischen Identifikation von Lebewesen und einem Verhaltenskanon orientieren, der neben der Fortpflanzung auch die Formen der individuellen Selbsterhaltung umfasst. Dieser Verhaltenskanon könnte nun selbst wieder auf die Praktiken der

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Haltung und Vermehrung von Lebewesen, die Jagd von Tieren, den Schutz vor ihnen oder ihre Nutzung zurückgeführt werden, deren vielfältige Erfahrungen zur Auszeichnung der wesentlichen Merkmale biologischer Arten sicher mehr beigetragen haben als die bloße, oft nur fragmentarisch mögliche Beobachtung. Doch selbst wenn die Grundlagen der Biologie auf die reine Beobachtung reduziert würden, setzte diese die Praxis der morphologischen Identifikation voraus, die sowohl der Bestimmung eines Kreuzfertilitätsmerkmals als auch der Beobachtung des Materials für die „naturhistorischen“ Urteile vorhergeht.¹¹ Die stabile Praxis der Identifikation und ihre gelingende Verknüpfung mit Verhaltensprognosen ist die prototheoretische Grundlage der Biologie als Wissenschaft der Arten des Lebendigen. Dabei gilt: „Das Verhältnis zwischen Artwesen und Individuen ist dem der idealen geometrischen Figuren zu den gezeichneten Repräsentanten vergleichbar.“ (Heuer 2008, S. 323)¹² Durch die Beschreibung der Art wird also eine Norm erstellt, von der immer erst noch bestimmt werden muss, in welchem Ausmaß sie auf ein konkretes Lebewesen überhaupt anwendbar ist. Die Konsequenz aus der Problematik, die sich aus der Differenz von Norm und konkretem Individuum ergibt, ist nicht nur in der Biologie, dass die Anwendung der formalen Wissensbestände auf außertheoretische Problemlagen nicht schematisch erfolgen kann.¹³ Die Fiktion des θεωρεiν̑ spiegelt diesen Bruch zwischen Erfahrungsgegenständen und Theoriegebilden auf der Ebene der Theoriegenese wider. Sie besteht darin zu glauben, die Bestimmung eines idealen Gegenstandes wie der Wesensmerkmale einer Art ließe sich ohne die Einwirkung praktischer Interessen anhand in den Gegenständen selbst liegender Kriterien und damit in letzter Instanz auf schematische Weise vollziehen. Dieser Wunsch nach einem schematischen Verfahren der Wissensgenese entspricht dem Verlangen, die innertheoretische Stabilität der Verhältnisse idealer Gegenstände auch auf deren

11 Zur Bedeutung der Kreuzfertilität als artbildendes Merkmal vgl. Heuer 2008, bes. S. 323. Den „naturhistorischen“ Urteilen kommt in diesem Zusammenhang auf zweierlei Weise Bedeutung zu: einmal im engeren Sinn einer Naturgeschichte, die ausgehend von morphologischen, später genetischen Vergleichen Abstammungsverhältnisse postuliert; zum anderen bei der Bestimmung einer Art durch die Beschreibung ihrer Lebensform. Vgl. zu letzterem Thompson 2008, Kap. 4. 12 In diesem Punkt stimme ich mit Peter Heuer vollkommen überein, der jedoch meine Einschätzung der praktischen Fundierung von Ideen und insbesondere der Artformen nicht teilt. 13 Zur Unmöglichkeit schematischer Verfahren bei der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in außerwissenschaftlichen Problemlagen vgl. Stekeler-Weithofer 1992, S. 363: „There cannot be a schematic procedure at all to find a ‚middle road‘ between a life governed merely by immediate inclinations or contingent opinions and one which follows prefabricated schemes of ‚rational‘ choice or conduct“.

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Beziehung zur Welt unserer praktischen Orientierungen und Vollzüge zu übertragen. Doch dieser Wunsch muss sowohl bei der Wissensgenese als auch bei der Anwendung theoretischer Erkenntnisse notwendigerweise enttäuscht werden. In beiden Richtungen wird vielmehr deutlich, welcher Abstand zwischen den prototheoretischen Problemlagen mit ihren Unbestimmtheiten und Unsicherheiten und den situationsinvarianten, ewigen Wissensbeständen der Theorie besteht. Um diesen Abstand aufzuheben und auch die Anwendung des theoretischen Wissens schematisieren und den Wunsch nach Stabilität erfüllen zu können, müsste nämlich aus der abhängigen Praxis der Theorie eine unabhängige Voraussetzung werden.

Die Tiefe der praktischen Prägung Die Grundentscheidung für das Sein, die mit den beschriebenen Stabilisierungen der Praktiken identisch ist, hat im Ergebnis einen zweischneidigen Charakter. Als Instrument der Tradierung und Systematisierung von Praktiken trägt sie nicht nur maßgeblich zu deren Bewahrung bei, sondern ermöglicht auch ihre Weiterentwicklung und Perfektionierung. Doch die erfolgreiche Technik ist auch die Ursache ontologischer Fiktionen und produziert Mythen, die Praktiken nicht nur stabilisieren, sondern sie scheinbar mit der ewigen Notwendigkeit der Verhältnisse idealer Gegenstände ausstatten. Die am Anfang der Produktion solcher idealer Tatsachen stehende Unterscheidung zwischen den sinnlichen Phänomenen, die dem durch Gesetze nicht zu fassenden Werden und Vergehen ausgesetzt sind, und dem unsinnlichen Reich der ewigen Gültigkeit gerät bei solchen Mythisierungen in Vergessenheit. Vergessen wird, wie der ideale Charakter des Seins überhaupt zustande gekommen ist. Stattdessen wird das Sein als eine der vielfältigen Erfahrungstatsachen genommen. Sind die Erfahrungen mit Exemplaren, die demselben Typ wie eine der Seinsebene zugeordneten Erfahrungstatsache angehören, von dieser abweichend, werden die Unterschiede auf Privationen zurückgeführt, die eigens zu erklären sind – etwa als typische Krankheiten bei Lebewesen. Diese bereits oben beschriebene Verschiebung der Normierungen von den Praktiken auf die Gegenstände lässt in der Konsequenz die durch die Wissenschaft stabilisierten prototheoretischen Praktiken als einzigen adäquaten Umgang mit den innerweltlich begegnenden Objekten und Problemlagen erscheinen. Wird hingegen die praktische Konstitution der Ideen ernst genommen, so ergibt sich daraus eine konstitutive Offenheit der möglichen Bezugnahmen auf die Welt. Diese Offenheit darf nicht als These beliebiger Veränderbarkeit missdeutet werden. Je grundlegender eine konkrete prototheoretische Praxis für unsere

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vielfältigen Weltverhältnisse ist, je mehr wir uns mit anderen Worten auf ihre Ergebnisse in unseren Vollzügen stützen, umso unwahrscheinlicher ist es, dass es uns überhaupt gelingt, sie aufzugeben oder durch eine andere Praxis zu ersetzen. Gesetzt den Fall, eine solche tiefgreifende Veränderung würde trotzdem vollzogen, dann ginge mit ihr eine große Unsicherheit einher, ob überhaupt und mit welchen Ergebnissen die neuartigen Vollzüge gelingen. Da die geprüften, tradierten und stabilisierten Wissensbestände in einem solchen Fall nicht mehr anwendbar wären, gäbe es keine Möglichkeit die Resultate der neuen Praktiken zu prognostizieren. Erst nachdem sich gelingende und scheiternde Vollzüge langsam erneut stabilisiert hätten, wäre wieder eine tradierbare prototheoretische Situation gegeben. All das macht einen Wandel der Grundlagen unserer naturwissenschaftlichen Wissensbestände so unwahrscheinlich. Aber es sollte deutlich geworden sein, dass der Wirkungsbereich des auf diese Weise gewonnenen Wissens durch sein praktisches Fundament klar festgelegt und folglich deutlich begrenzt ist.Wird von dieser Domäne abgewichen, wird aus dem ewigen und sicheren Wissen die bereits von Platon ausgewiesene Wahrscheinlichkeit, deren Grad an Unsicherheit zunimmt, je größer der Abstand zum gesicherten Geltungsbereich ausfällt. Die Kenntnis der Quelle der Normativität spezifischer wissenschaftlicher Erkenntnisse erlaubt es dagegen, die ausufernden Ansprüche auch gegenüber jenen Praxisformen in die Schranken zu weisen, deren Realisierungen sich nur mit denen der Praktiken überschneiden, die einen Wissenschaftsbereich tatsächlich stützen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, die Position, die von einer praktischen Fundierung der idealen Gegenstände ausgeht, klar von der Haltung des Skeptizismus zu unterscheiden. Wo der Skeptizismus die Unsicherheit der realisierenden Vollzüge und damit die Unzuverlässigkeit des idealen Wissens betont, geht die hier vorgestellte pragmatische Position davon aus, dass wissenschaftliches Wissen in seinem Kernbestand tatsächlich ewig gültige Sätze enthält, die zu den im Erleben begegnenden Problemlagen in Beziehung gesetzt werden können. Die Zurückweisung der ontologischen Fiktion und der Fiktion des θεωρεiν̑ ermöglicht es aber, den Status der ewigen Sätze und die diesem Wissen eigene Geschichtlichkeit zu erfassen. Diese Geschichtlichkeit liegt, wie gesagt, nicht in erster Linie im Ungültigwerden des ewigen Wissens oder gar in einer ihm eigenen Varianz, sondern in der Veränderung seiner Relevanz, die sich danach richtet, welche Bedeutung den es tragenden Praktiken zukommt. Wie fundamental die so ausgezeichnete Rolle der Praktiken für unser Weltverhältnis tatsächlich ist, zeigt sich besonders deutlich, wenn die bereits entwickelte Kritik an der Fiktion des θεωρεiν̑ noch einmal als Kritik an einer falschen Vorstellung von Wahrnehmung expliziert wird. Wahrnehmungen sind keine losgelösten Akte eines einzelnen sinnlichen Vermögens. Sie sind vielmehr als Momente in die gesamte leibliche Bezugnahme von Lebewesen auf ihre Umgebung

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eingebunden. Eine solche Bezugnahme ist im Falle von Menschen wesentlich praktisch, das heißt, durch Formen handelnder Einflussnahme geprägt. Das hat zur Konsequenz, dass unsere Wahrnehmung und damit auch das von Platon im Erkenntnisprozess ausgezeichnete Sehen immer schon mit praktischen Bezügen und den entsprechenden Identifikationen gesättigt ist. John McDowell hat das für die grundsätzliche Kommunizierbarkeit jedes Wahrnehmungsinhalts und damit die begriffliche Dimension der Wahrnehmung herausgestellt: [A]n intuition’s content [der Inhalt einer Anschauung] is all conceptual, in this sense: it is in the intuition in a form in which one could make it, that very content, figure in discursive activity. That would be to exploit a potential that is already there in the capacities actualized in having an intuition with that content. (McDowell 2008a, S. 8 und McDowell 2009, S. 265)

Es kommt hier darauf an zu verstehen, was Anschauung bedeutet. McDowell betont in Abkehr von seiner früher vertretenen Position vor allem die Dimension der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, indem er insbesondere ausschließt, dass der Wahrnehmungsakt bereits ein Urteil enthalte.¹⁴ Das mag sogar stimmen, angesichts der Tatsache, dass nicht jeder von uns in der Wahrnehmung unterscheidbare Farbton bereits durch einen dem wahrnehmenden Subjekt verfügbaren Begriff bezeichnet sein muss. McDowell spricht gleichwohl davon, dass es der Wahrnehmung immanente „actualizations of the subject’s conceptual capacities“ seien, die zur „acquisition of perceptual knowledge“ führten (vgl. McDowell 2008b, S. 251). Wenn das Argument an dieser Stelle stehen bleibt, wird aus der Wahrnehmungsfähigkeit daher leicht ein etwas mystisches Vermögen, dass die Wahrnehmungsinhalte einerseits mit begrifflichen Dimensionen ausgestattet hat, sie aber andererseits in einem noch nicht artikulierten Zustand belässt. Um zu verstehen, wie die begrifflichen Dimensionen und das sie überschreitende Differenzierungsvermögen der Wahrnehmung miteinander zusammenhängen, ist es nötig, nicht nur den Mythos eines jenseits des Wahrnehmungsaktes bereits gegebenen Inhalts zu verwerfen, sondern auch die Fiktion des θεωρεiν̑ aufzugeben. Sind nämlich die Praktiken genauso untrennbar mit der Wahrnehmung verbunden, wie deren begriffliche Form, gibt es kein Rätsel mehr zu lösen. Dass eine solche Verbindung existiert, macht aber bereits das Beispiel der Anschauung in der Geometrie deutlich. Was hier gesehen wird, sind Formen, die durch von den jeweils gezeichneten Repräsentationen notwendigerweise immer nur annähernd erfüllte Normen bestimmt sind. Und doch gelingt es uns, in

14 Vgl. auch McDowell 2009, S. 263: „intuiting is not discursive […] Discursive content is articulated. Intuitional content is not.“

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der Anschauung die Ausführbarkeit einer Konstruktionsanweisung zu kontrollieren. Das geschieht genauso unmittelbar, wie es für die urteilsfreien Wahrnehmungsinhalte von McDowell gefordert wird. Das heißt, wir betrachten in den Repräsentationen die gemeinten Formen direkt und nicht erst durch ein zusätzliches Urteil, dass uns beispielsweise die Repräsentation eines Dreiecks als Dreieck deuten lässt. Gleichwohl wäre es absurd zu glauben, wir könnten die Form eines wie gelungen auch immer repräsentierten Dreiecks überhaupt erkennen, ohne zumindest in einige protogeometrischen Praktiken eingeführt zu sein. Mit anderen Worten, es sind die praktischen Vollzüge, die uns sehen lassen, was wir sehen. Ein visuelles Wahrnehmungsvermögen vor dieser Prägung durch Praktiken existiert für uns nur als Abstraktion, indem wir etwa eine tierische Wahrnehmungsfähigkeit als ein vorpraktisches Basisvermögen annehmen. Abgesehen davon, dass auch bei den tierischen Wahrnehmungen nichts dafür spricht sie gemäß der Fiktion des θεωρεiν̑ zu modellieren, muss konstatiert werden, dass die menschliche Wahrnehmung von den sie prägenden Praktiken nicht geschieden werden kann. Die Fähigkeit das Wahrgenommene zu artikulieren verweist sicher nicht auf die unbedeutendste der von uns ausgeübten Praktiken, aber sie verweist nur auf eine von vielen, die die Grundlage dafür bilden, dass unsere Erfahrungen immer schon stabilisiert und in ideale Gegenstände und Beziehungen transformiert werden können.

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Peter Grönert

Inferentially conservative extension and conceptual innovation By generalizing Genzen’s method for defining logical constants Dummett develops an inferentialist model of conceptual content, according to which a concept’s content is constituted by an inference from the concept’s circumstances of appropriate application to its consequences of application (see Dummett 1973, p. 453). That model is attractive, in part, because it yields a (inferentialist) standard for the soundness of a concept. It entails that a concept is appropriate iff the inference acknowledged by employing it is valid. In this way the model captures a central feature of discursive practice, namely, the following: in such a practice not only claims, but also the appropriateness of concepts is critically assessed, e. g. challenged and justified. Brandom, who adopts the inferentialist model of conceptual content in the context of his theory of discursive scorekeeping, i. e. of his inferentialist normative pragmatism, critically engages with the way the model is spelled out by Dummett (see MIE, pp. 116 – 136). In particular, Brandom calls into question Dummett’s construal of the inferentialist criterion for a concept’s appropriateness. Taking his clue from the paradigm of Genzen-style definitions of logical constants, Dummett elucidates this standard in terms of the notion of an inferentially conservative extension. According to Brandom though, the requirement that the introduction of a new concept must amount to an inferentially conservative extension of the given language is misplaced in the case of non-logical, in particular, of empirical concepts. He argues that in the case of such concepts the requirement in question constitutes an obstacle to conceptual innovation and hence to cognitive progress. In this paper, I want to revisit the controversy between Brandom and Dummett about the appropriate way to work out the inferentialist model. In particular, I shall argue for the following two claims, which will be defended in the first and the second part (Part I and Part II), respectively: 1.) The requirement that the introduction of a concept must be inferentially conservative applies to logical and non-logical vocabulary alike, since it reflects a basic conceptual truth regarding conceptual content as such. 2.) The picture of conceptual change and innovation on which Brandom relies in his criticism of Dummett’s version of the inferentialist model is correct. Obviously there is a tension between these two claims. Accordingly, in the third part of the paper (Part III) I shall provide a reformulation of the inferentialist model revealing how these two claims can be reconciled with each other. I

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shall show, in particular, that the revision of empirical concepts and the introduction of new ones, as these processes are portrayed by Brandom, presuppose the requirement in question.

Part I. Inferentially conservative extension In his paper “Tonk, Plonk And Plink” Belnap discusses a counterexample to Genzen-style definitions of logical connectives presented by Prior (see Belnap 1962). Belnap points out that the method for defining truth-functional connectives in terms of rules of introduction and rules of elimination can be used to introduce a connective, which he calls “tonk”, that has the introduction rule of disjunction, while its rule of elimination matches that of conjunction. Such a connective is unacceptable because it issues a runabout inference-ticket, i. e. the introduction of “tonk” into a language has the effect that within that language every proposition entails every other. By making explicit the presuppositions of Genzen-style definitions Belnap shows that a proper application of this method for defining logical connectives rules out connectives like “tonk”. In particular, he says the following about a definition of logical constants in terms of inference rules (in this quotation Belnap calls the inferentialist account of logical connectives under consideration “the synthetic view”): It seems to me that the key to a solution lies in observing that even on the synthetic view, we are not defining our connectives ab initio, but rather in terms of an antecedently given context of deducibility, concerning which we have some definite notions. By that I mean that before arriving at the problem of characterizing connectives, we have already made some assumptions about the nature of deducibility. That this is so can be seen immediately by observing Prior’s use of the transitivity of deducibility in order to secure his ingenious result. But if we note that we already have some assumptions about the context of deducibility within which we are operating, it becomes apparent that by a careless use of definitions, it is possible to create a situation in which we are forced to say things inconsistent with those assumptions. (Belnap 1962, p. 131)

These remarks concern the special case of logical connectives. However, they articulate a basic conceptual truth regarding any explanation of an expression in terms of inference rules. If the inferentialist model of conceptual content is appropriate, that truth applies to any meaningful expression. The truth in question can be expounded as follows: An explanation of a concept in terms of an inferences from the satisfaction of its conditions of application to its consequences of application presupposes the validity of the relevant inference and hence a conception of an inference’s validity. The scope of that conception encompasses the

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language in which the new concept is introduced. In order to see why this is so, one must consider how meaning is conferred on a term according to the inferentialist model, namely by an explanation of the term fulfilling the following two functions: such an explanation extends a particular language by introducing a new term into it and specifies that term’s inferential role within that extension of the language. To put it more precisely, the explanation settles with respect to any claim expressible in the extension, whether or not a particular set of claims entails a given claim. The explanation can only discharge this task if the inferential roles of the old vocabulary – i.e. of every term belonging to the relevant language prior to the introduction of the new term – are already determined. Therefore, the conception of an inference’s validity on which the explanation is based must fix these inferential roles.¹ The considerations of the last paragraph entail that an explanation of an expression in terms of inference rules can only fulfill its function if it is consistent with the conception of an inference’s validity presupposed by it. This consistency-condition implies the requirement that the extension of the relevant language created by the explanation must be inferentially conservative. That requirement can be spelled out thus: (C) No inference involving only old vocabulary that is not valid according to the conception of an inference’s validity presupposed by the explanation of the new term is rendered valid by the introduction of that term This account of the role played by the conception of an inference’s validity can be stated more precisely by introducing a distinction between two forms of conceptual innovation, namely between monistic and holistic conceptual innovation. As Dummett and Brandom, I have availed myself so far to the simplifying assumption that new concepts are introduced into the language one by one. This assumption is in fact quite unrealistic. Typically, whole vocabularies – e. g. chemical vocabulary – that is, sets of interconnected terms are introduced into the language as a package. The conception of an inference’s validity takes on a different guise in these two types of cases, respectively. Accordingly, the requirement that the introduction of a concept must be inferentially conservative has a different significance with regard to monistic and holistic conceptual innovation, respectively. I shall address the monistic case first.

1 In other words: Together with a syntactic specification of all expressions belonging to the relevant language, that conception entails an attribution of an inferential role to any of these expressions.

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In that case one can specify the concept’s conditions of application as well as its consequences of application by drawing only on old vocabulary. Therefore, the soundness of the new concept, i. e. the validity of the inference from its circumstances of appropriate application to its consequences of application is established by the conception of an inference’s validity as it applies to the original field of inferences, that is, to the old vocabulary. From this result two claims with regard to the role that the notion of an inferentially conservative extension plays in the case of monistic conceptual innovation can be derived. Firstly, that the new concept’s circumstance of appropriate application and its consequences of application are in harmony, i. e. that the inference from that circumstances to that consequences is valid, is entailed by the fact that the introduction of this concept is inferentially conservative. Secondly, the requirement that the introduction of a new concept must be inferentially conservative holds in the monistic case in the strict sense, i. e. in the following sense: (Cs) The introduction of a new term does not render valid any inference involving only old vocabulary the validity of which cannot be demonstrated on the basis of the conception of an inference’s validity as it applies to the original field of inferences, i. e. to the old vocabulary Belnap explains this notion of an inferentially conservative extension with regard to the case of logical connectives – the only case with which he is concerned – as follows: We may now state the demand for the consistency of the definition of the new connective, plonk, as follows: the extension must be conservative; i. e., although the extension may well have new deducibility-statements, these new statements will all involve plonk. The extension will not have any new deducibility-statements which do not involve plonk itself. It will not lead to any deducibility-statement A1,…,An → B not containing plonk, unless that statement is already provable in the absence of the plonk-axioms and the plonk-rules. The justification of unpacking the demand for consistency in terms of conservativeness is precisely our antecedent assumption that we already had all the universally valid deducibility-statements not involving any special connectives. (Belnap 1962, p. 132)

I shall now turn to the case of holistic conceptual innovation. If a set of terms is introduced into a language as a package, then terms belonging to the set must figure in the specification of the conditions and consequences of application of any of these terms. Therefore, the harmony between a new term’s conditions of application and its consequences of application can only be exhibited by appealing to the conception of an inference’s validity as it applies to the extension of the language created by the introduction of the new vocabulary. Thus, in order to demonstrate the validity of the inference from the circumstances of appropri-

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ate application of such a term to its consequences of application one must not only reveal its coherence with the inferential commitments implicit in the use of the old vocabulary, but also with those inferential commitments that are undertaken by employing the other new terms. It follows from this that in contrast to the monistic case in the holistic case it is not sufficient for the soundness of the new concepts that their introduction is inferentially conservative. Furthermore, in the latter case there might very well be inferences involving only old vocabulary the validity of which can only be demonstrated on the basis of the inferential commitments implicit in the use of the new vocabulary. However, the validity of these inferences is not instituted, but only revealed by introducing the new concepts. For, these inferences must be valid in virtue of conforming to the conception of an inference’s validity presupposed by the introduction of the new vocabulary, since the scope of that conception encompasses the old vocabulary (compare above). Accordingly, the requirement that the introduction of new concepts must be inferentially conservative also applies in the holistic case in the weak sense captured by (C).²

2 The distinction between a monistic and a holistic form of conceptual innovation that I am drawing here might seem problematic for the following reason: If the old language includes suitable logical vocabulary then it is possible to explain the new vocabulary in terms of the old one, for instance by employing Lewis’ method for defining theoretical terms (see Lewis 1973). Therefore, contrary to what I suggest in the main text, a new terms’ conditions and consequences of application can be expressed in the old language in the holistic case as well. Actually this point does undermine the distinction in question as the following consideration shows: The possibility to explain the new vocabulary in terms of the old one, invoked by this objection, turns on the notion of an implicit definition that – whether it is formally implemented by Lewis’s method for defining theoretical terms or within the framework of first order logic – can be roughly elucidated as follows: The meaning of the new terms is fixed – implicitly defined – by a set of interconnected assumptions, i. e. a theory – displaying the mutual dependency of the new terms as well as their connection to the old vocabulary. However, in the perspective of an inferentialist account of conceptual content and of the expressive approach to logic that goes with it – which I presuppose in this paper – the theory implicitly defining the new terms makes explicit the inferential commitments governing their use, i. e. the commitments to the inferences from the conditions of application of each new term to its consequences of application. According to the explanatory order invoked by the expressive approach the object of an inferential commitment, i. e. the premises and consequences of the relevant inferences, must be formulated in such a way that they do not presuppose the claims making explicit these inferences. Given this constraint on the specification of inferential commitments entailed by the inferentialist perspective (in particular by the expressive approach to logic) in specifying the inferential commitments embodied in the use of the new vocabulary one cannot rely on the explanation of that vocabulary in terms of the old one, since this explanation invokes the theory implicitly defining the new terms. Thus, the complex definite descriptions correlated with the

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Part II. Brandom’s objection to inferentialist conservatism The requirement on the introduction of a new concept or new concepts to be inferentially conservative – as I have pointed out in Part I – provides a necessary condition for the harmony between a concept’s conditions of application and its consequences of application in which the soundness of the concept consists. (In the case of a monistic conceptual innovation it provides also a sufficient condition for that harmony.) Accordingly, Brandom’s position regarding the scope of that requirement is constrained by his view about this harmony, i. e. by his account of the validity of an inference from the satisfaction of a concept’s conditions of application to its consequences of application. For Brandom the validity of such an inference – and hence the soundness of the concept constituted by it – consists in the possibility to be coherently integrated into the fabric of material inferential commitments underlying the relevant discursive practice. In Brandom’s view though that coherence-requirement takes on a quite different guise in the case of logical and of non-logical vocabulary, respectively. I shall address Brandom’s account of logical vocabulary first. One of the central and original claims of Brandom’s main work Making It Explicit is that the specific function of logical vocabulary is to make explicit, i. e. to articulate in propositional form, the inferential commitments undertaken by the use of non-logical vocabulary (see MIE, pp. 107– 116). This account entails that the inferential commitments governing the use of logical terms – i. e. formal inferential commitments – must confer a content on these terms that makes them suitable for fulfilling their explicitating role. From this it follows that the introduction of logical vocabulary must be inferentially conservative with respect to

new terms by Lewis’s method for defining theoretical terms incorporate that theory. Accordingly, given the constraint in question the distinction between the monistic and the holistic form of conceptual innovation can be made out in terms of the relevant inferential commitments thus: In the monistic case, the inferential commitment undertaken by introduction the new term – the commitment to the inference from the new terms’ conditions of application to its consequences of application – connects claims that are expressible in the old language. By contrast, in the holistic case one can specify new terms’ conditions or consequences of application only by drawing on other elements of the new vocabulary. The need for this gloss on the distinction between the holistic and the monistic form of conceptual innovation was made clear to me by an objection raised by Robert Brandom to an earlier version of this paper at a workshop (Giving and Asking for Reasons, Basel May 2012).

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the material inferential commitments that are implicit in the discursive practice into which that vocabulary is introduced. Brandom puts this point as follows: “For if those rules are not inferentially conservative, the introduction of new vocabularies licenses new material inferences and so alters the contents associated with the old vocabulary. The expressive approach to logic motivates a criterion of adequacy for introducing logical vocabulary to the effect that no new inferences involving only old vocabulary be made appropriate thereby. Only in this way can logical vocabulary play the expressive role of making explicit the original material inferences and so nonlogical conceptual contents.” (MIE, p. 125)

As was set out in the last paragraph, the requirement that new conceptual contents, i. e. the inferential commitment by which they are constituted, must cohere with the established field of material inferences supports inferential conservatism with respect to logical vocabulary. In the case of non-logical vocabulary that requirement has a quite different significance. Since an empirical concept itself embodies a material inferential commitment, the introduction of such a concept would only be inferentially conservative in the relevant sense, if that material inferential commitment and hence the conceptual content in question were already implicit in the use of the old vocabulary. Therefore, within empirical discourse the requirement that the introduction of new terms must amount to an inferentially conservative extension constitutes an obstacle to conceptual innovation and hence to cognitive progress in general as such progress in empirical science essentially depends on the revision of old concepts and the introduction of substantially new ones. In the light of these considerations Brandom rejects Dummett’s attempt to explain the harmony between a concept’s circumstances of appropriate application and its consequences of application in terms of an inferentially conservative extension (see MIE, p. 127). This result is an entirely negative one. So, the question remains how that harmony can be positively characterized in the case of empirical concepts. Material inferential commitments are made explicit by subjunctive conditionals that purport to represent law-governed relations between empirical phenomena. It might seem, therefore, that justifying an empirical concept, i. e. demonstrating the validity of the inference from its circumstance of appropriate application to its consequences of application, is settling an empirical matter of fact. Commenting on a passage in which Dummett apparently suggests such a view of empirical concepts, Brandom points out that it involves an appeal to the problematic distinction between conceptual issues and empirical matters of fact (see MIE, pp. 128 – 129). That distinction obviously is difficult to maintain after the publication of Quine’s “Two Dogmas of Empiricism”. But more to the point is the following objection. Qualifying subjunctive conditionals concerning law-governed

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connections between empirical phenomena as plain empirical claims flies in the face of a Sellarsian account of empirical concepts that is congenial to the inferentialist model. According to that account the function of such conditionals is to make explicit the material inferential commitments conferring meaning on the expressions in the use of which they are implicit. It entails that by employing a particular empirical vocabulary we implicitly undertake a commitment to a specific system of natural laws. Conversely, which law-governed connections we can discern in nature depends on which empirical concepts we have mastered. It is precisely for this reason that progress in empirical science is essentially a matter of conceptual innovation. In keeping with the Sellarsian view of empirical concepts as involving the acknowledgement of natural laws, Brandom outlines the following picture of how such concepts are critically assessed, revised and justified (MIE, pp. 105 – 107): the validity of the inference from the satisfaction of an empirical concept’s conditions of application to its consequences of application is demonstrated by coherently integrating that inference into the inferential structure of the relevant discursive practice in such a way that a systematic and comprehensive account of the available empirical data is facilitated. This demonstration is not just a matter of empirical research, because what empirical data, i. e. what observation claims, are available is a function of the concepts that are at our disposal.³ The picture of the revision, i. e. of the justification and challenge, of empirical concepts presupposed by Brandom in his discussion of the inferentialist model is plausible and attractive. However, the conclusion that he draws from that picture, i. e. the claim that the introduction of empirical concepts must not be inferentially conservative, is mistaken. For, as I have shown in the first part of this paper, that requirement on the introduction of new concepts is based on an elemental conceptual truth that applies to any explanation of a concept in terms of inference rules. But where does the flaw in Brandom’s argument lie, if the account of empirical concepts on which it relies is correct? I think, it is located in Brandom’s construal of the notion of an inferentially conservative extension. He identifies the inferential context with regard to which a new concept is characterized as inferentially conservative with the fabric of material inferential commitments embodied in the discursive practice into which that concept is introduced. Furthermore, he tacitly assumes that the relevant material inferential commitments can be discerned in the use of the old vocabulary as it is consid-

3 Brandom’s picture of conceptual innovation in empirical discourse can be fleshed out by means of Lance and O’Leary-Hawthorne’s pragmatist conception of analyticity (see Lance/ O’Leary-Hawthorne 1997).

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ered apart from the proposed conceptual innovation. For, only on that assumption it is plausible that – as Brandom claims – inferential conservatism is incompatible with conceptual innovation in empirical discourse. By contrast, I have shown in Part I that the relevant inferential context is provided by the conception of an inference’s validity presupposed by the introduction of the new term, either as that conception applies to the old vocabulary (in the case of monistic conceptual innovation) or as it applies to the extension of that vocabulary created by the introduction of the new terms (in the holistic case). In the former case the inferential commitments that are relevant for characterizing the introduction of the new term as inferentially conservative are indeed identified by considering the use of the old vocabulary independently of the new concept. In the latter case though – the introduction of a whole vocabulary – the relevant inferential commitments are discerned in the use of the old vocabulary by rationally reconstructing that use in the light of the proposed conceptual innovation. Accordingly, only a holistic conceptual innovation is a genuine conceptual innovation. The sense in which also the introduction of a whole vocabulary must nevertheless be inferentially conservative can be elucidated as follows: The introduction of the new terms cannot make an inference involving only old vocabulary valid, but only reveal that the inference conforms to the conception of an inference’s validity to which it was subject already prior to the introduction of the new terms. In the next part of the paper I shall develop a version of the inferentialist model that captures – by revealing the conditions of possibility for conceptual change – the conceptual truth underlying the requirement that the introduction of a concept must be inferentially conservative.

Part III. The transcendental status of formal inferential commitments In order to specify the role that the notion of an inferentially conservative extension plays within a properly worked out version of the inferentialist model, first of all, one must get clear about the status and the content of the conception of an inference’s validity presupposed by an application of that notion. I shall try to discharge this task by focusing on a striking gap in Brandom’s account of conceptual innovation. According to the inferentialist model the proper introduction of a concept requires a vindication of the inference from the satisfaction of the concept’s conditions of application to its consequences of application. In Making It Explicit

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Brandom rightly insists that an inferential commitment can only be critically assessed, e. g. challenged and justified, if it is made explicit, i. e. articulated in propositional form.⁴ It follows from this that the justification of a new term’s inferential role prescribed by the inferentialist model concerns the claim by which the relevant inferential pattern is articulated. Since making inferential commitments explicit is the specific function of logical vocabulary, the standard for the assessment of concepts, i. e. of the inferential commitments undertaken by their employment, is provided by the inferential commitments governing the use of logical vocabulary, that is, by formal inferential commitments. It follows from this that Brandom’s picture of the introduction and vindication of logical vocabulary – which has been outlined in Part II – is mistaken. In Brandom’s view formal inferential commitments are justified by showing that they confer a meaning on logical terms in virtue of which they can be used to make explicit the material inferential commitments implicit in the discursive practice into which the logical vocabulary is introduced. But since these material inferential commitments are to be justified on the basis of formal inferential commitments in turn the justification of logical vocabulary envisaged by Brandom is caught in a vicious circle. I shall try to elucidate the argument of the last paragraph by showing how it bears specifically on Brandom’s account of the revision and introduction of empirical vocabulary. On that account, in order to vindicate an empirical term, one must demonstrate that the inferential commitment undertaken by its employment coheres with the other material inferential commitments implicit in the relevant discursive practice. But the coherence of a set of material inferential commitments can only be established by tracing out the inferential relations between the claims by means of which these commitments are made explicit. These inferential relations are determined by formal inferential commitments, because explicitating claims essentially involve the use of logical vocabulary. Prima facie Brandom could evade this objection by insisting that in the conceptual basic case the monitoring of the coherence between our empirical concepts and material inferential commitments is not a matter of making them the topic of critical reflection or discourse, but a semi-automatic, unconscious and implicit process akin to the way a connectionist system shifts the weight of its internal connections in such a way as to increase the rate of positive feed-back (and to decrease the rate of negative feed-back). Given Brandom’s em4 “Socratic method is a way of bringing our inferential practice under rational control, by expressing them in a form in which they can be exhibited as the conclusion of inferences seeking to justify them on the basis of premises advanced as reasons and premises in further inferences exploring the consequences of accepting them.” (MIE, p. 106)

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phasis on the importance of logical vocabulary as a medium of semantic selfconsciousness that escape route would probably not strike Brandom as particularity attractive (see MIE, pp. 108 – 111). The following considerations show that it is blocked anyway. An inferential commitment as such is subject to a specific norm, namely to a standard of validity. In this regard it is akin to any vital process like perception or feeding, all of which are as such subject to a particular standard of soundness (see Thompson 2008, Chapter II). However, in the case of rational or self-conscious life this relation of a process (or a performance or an attitude) to the relevant norm takes on a specific guise. A rational act or attitude is under the authority of a particular norm in virtue of including a consciousness or acknowledgement of being under its authority. Accordingly, the paradigmatic manifestation of the normativity pertaining specifically to rational or self-conscious life consists in a critical assessment of an act or attitude by its subject or his peers in terms of the relevant norm. Therefore, the nature of an inferential commitment, i. e. its normative significance, is revealed in the first instance in the context of a sophisticated discursive practice ⁵, i. e. of a discursive practice that encompasses the recourses for making explicit the discursive commitments implicit in it, that is, a discursive practice in which logical vocabulary is available. In a sophisticated discursive practice the soundness of an inferential commitment is secured by justifying the claim by means of which that commitment is made explicit. As was argued above, the norms with respect to which an explicitating claim is to be vindicated are provided by formal inferential commitments. So, the conception of an inference’s validity invoked by an inferential commitment is constituted by formal inferential commitments. In the light of this result the question from which this part of the paper started out, i. e. the

5 The claim that a sophisticated discursive practice is conceptually prior to a primitive one, i. e. to a discursive practice that does not include the use of logical vocabulary, as that claim is understood here, does not rule out the possibility that there is an autonomous primitive discursive practice, that is, a primitive discursive practice that exists independently of any other discursive practice. The priority in question does not concern the actual development of discursive practice, but the notion of a discursive practice. That notion is to be explained in the first instance in relation to the paradigmatic case of a sophisticated discursive practice. Accordingly, a primitive discursive practice is to be understood as a defective or impoverished discursive practice. In this light, Brandom’s claim that someone who has mastered a primitive discursive practice already knows how to do everything necessary in principle to employ logical vocabulary takes on a significance not envisaged by him (see Brandom 2008, pp. 39 – 55). That claim turns out to be a consequence of the fact that a primitive discursive practice has to be conceived of as a potential sophisticated discursive practice.

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question concerning the status and content of that conception, can be recast thus: What is the status of formal inferential commitments within a sophisticated discursive practice? The preceding considerations suggest the following claim about the justificatory status of formal inferential commitments: It is in principle impossible to justify formal inferential commitments, since any argument adduced in their support is necessarily circular: It seems to follow from this that the validity of formal inferences must be conceived of as being instituted by stipulation. There is, however, a famous argument, due to Quine, against such a conventionalist account of logical vocabulary (Quine 1966). Quine points out that the conventions or rules by means of which the meaning of logical constants is fixed essentially make use of logical constants.⁶ To put the point in terms of the inferentialist model, any set of rules or conventions that is supposed to institute the validity of formal inferences within a discursive practice depends on the corresponding formal inferential commitments as they confer content on the relevant rules or conventions in the first place. The point underlying this argument is precisely the same to which I appealed above in order to show that a justification of formal inferential commitments is necessarily circular, because such a justification depends on the inferential roles of the claims by means of which these commitments are made explicit. However, Quine’s argument only is effective against a version of the conventionalist account according to which the validity of formal inferences is instituted by laying down explicit rules. Accordingly, it leaves unchallenged a version of that account – which is much more in keeping with Brandom’s overall approach – according to which the validity of formal inferences is instituted by implicit, practical, normative attitudes. But, as I shall show shortly, also this form of the conventionalist account is untenable. Anticipating this result, one can infer that it must be possible in principle to demonstrate the validity of formal inferences. Furthermore, the above argument shows that the required justification must be one the validity of which is not undermined by being circular.

6 “In a word, the difficulty is that if logic is to proceed mediately from convention, logic is needed for inferring logic from the conventions. Alternatively, the difficulty which appears thus as a self-presupposition of doctrine can be framed as turning upon a selfpresupposition of primitives. It is presupposed that the if-idiom, the not-idiom, the everyidiom, and so on, mean nothing to us initially, and that we adopted the conventions (I)-(VII) by way of circumscribing their meaning; and the difficulty is that communication of (I)-(VII) themselves depends upon free use of those very idioms which we are attempting to circumscribe, and can succeed only if we are conversant with the idioms.” (Quine 1966, p. 104)

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The only justification satisfying this requirement is a transcendental argument. So, I shall now sketch a transcendental argument for the validity of formal inferences. The argument will also show why such inferences cannot be made valid by stipulation or fiat, thus redeeming the promissory note issued above. A judgment – a doxastic commitment to put it in Brandomian jargon – is a claim to knowledge. As a knowledge claim it aspires to universal validity, i. e. validity for every rational creature and in every discursive context. The (transcendental) argument to be presented shows that it is a condition for redeeming a judgment’s claim to universal validity that the formal inferential commitments presupposed by a justification of that judgment are constitutive for discursive practice as such, i. e. that by participating in a discursive practice one necessarily undertakes a commitment to the relevant formal inferences. A person’s claim is universally valid iff he is entitled to endorse it. For, asserting a claim to which one is entitled has the effect that every rational creature can in principle inherit or take up the speaker’s entitlement to the claim in every discursive context (see Kukla/Lance 2009, p. 26). In the conceptual basic case one is entitled to a claim in virtue of having an appropriate justification or a sufficient ground for it (i. e. not only a prima facie reason). Such a justification confers universal validity on the claim in question, because every rational creature that considers that justification and is not impaired in the exercise of its reason is thereby compelled to endorse the claim. Therefore, an appropriate justification for a claim involving an inference (according to the inferentialist model any justification for a claim belongs to this category) provides a ground for the inference’s validity, i. e. a ground that would compel every rational creature that grasped that ground and is not impaired in the exercise of its reason to acknowledge the validity of the relevant inference. For, if an appropriate justification of a claim by an inference did not include a ground for the inference’s validity, that justification would not be universally valid, but only valid for those persons who happen to participate in a discursive practice in which a commitment to the inference in question is implicit. In a sophisticated discursive practice – i. e. a discursive practice of the kind that must be considered first of all in an inquiry into the nature of judgment (compare above) – the acknowledgement of an inference is tantamount to the endorsement of the claim making that inference explicit. So, the ground of an inference’s validity included in the appropriate justification of a judgment consists in the vindication of the claim by means of which the inference is articulated in propositional form. As was argued above, such a vindication depends on formal inferential commitments. It follows from this, as was also pointed out above, that formal inferential commitments cannot be justified in a non-circular way, that is, they cannot be justified on the basis of doxastic or inferential commitments the entitlement to which neither presupposes nor is

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identical with the entitlement to the claim for which the justification is given. Nevertheless, the validity of the formal inferences invoked by an appropriate justification cannot be established by stipulation. For, in that case again the justification for the judgment would only be valid for those rational creatures that happen to participate in a discursive practice in which the corresponding (formal) inferential commitments are implicit. The only remaining possibility seems to be this: An appropriate justification of a judgment exhibits the validity of the formal inferences on which it relies by revealing that a commitment to these inferences is constitutive for a discursive practice as such so that a commitment to them is necessarily undertaken by participating in a discursive practice. Of course this is not a properly worked out argument, but at best a hint at one. Accordingly, there are many points in the previous sketch that stand in need of elaboration. Within the margins of this paper though, I shall confine myself to two remarks. The first is a gloss on the notion of a formal inference that I am employing. In this paper I presuppose Brandom’s expressive approach to logic that yields a rather broad conception of a logical term according to which any term that is required for specifying the broad inferential role (see MIE, p. 131) of a non-logical expression counts as a logical term. So, not only truth-functional connectives and quantifiers and so forth are considered as part of logical vocabulary, but also expressions like “perceive”, “claim” or “reason for action”.⁷ The notion of a formal inference employed in this paper is correspondingly broad. Thus, it does not only encompass deductive but also inductive inferences. For, the latter kind of inferences is required to justify those subjunctive conditionals by means of which the material inferences are made explicit that are constitutive for empirical concepts. The second remark concerns the apparent tension between the transcendental approach to logic advocated above and the contextualist and coherentist tendency in Brandom’s version of the inferentialist model. According to Brandom the attribution of conceptual content and inferential commitments is necessarily relative to a particular discursive perspective or context.⁸ By contrast, the considerations advanced above suggest that formal inferential commitments can be identified independently of any particular discursive practice. However, there is no real incompatibility between my ascription of a transcendental status to

7 “The leading idea of the treatment of ascription presented here is that propositionalattitude-ascribing locutions are a species of logical vocabulary.” (MIE, p. 530) 8 “It makes no sense to specify or express a propositional or other conceptual content except from some point of view – which is not subjective in a Cartesian sense, but in the practical sense that it is point of view of some scorekeeping subject.” (MIE, p. 594)

Inferentially conservative extension and conceptual innovation

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formal inferential commitments and Brandom’s insistence on the perspective character of discursive scorekeeping. So, the account of formal inferential commitments given above is consistent with the following characterizations of these commitments: One necessarily takes the formal inferential commitments on which one relies in justifying a particular claim to be universally valid, i. e. to be constitutive for discursive practice as such. However, one’s entitlement to characterize certain inferential commitments as formal is always contextbound. That characterization is justified by appealing to the claim that the relevant inferential commitments confer a meaning on a particular vocabulary – that is thereby qualified as logical vocabulary – in virtue of which that vocabulary can be used to make explicit any inferential commitment. One is only entitled to such a claim on the basis of the forms of discursive practice with which one is familiar. Accordingly, any conceptual innovation or encounter with an alien discursive practice might reveal a limitation in the expressive powers of logical vocabulary as one presently conceives it. It might seem that in my argument in the last paragraph I am relying on a claim by Brandom that I have rejected in the last part of the paper (Part II), namely the claim that logical vocabulary is justified in terms of its expressive role. But actually this is not quite true. According to the account I am proposing formal inferential commitments can only be justified by a transcendental argument, as they are constitutive for discursive practice as such. However, one must appeal to the expressive power of a particular vocabulary in order to justify one’s characterization of that vocabulary as logical vocabulary and of the inferential commitments governing its use as formal inferential commitments. In Part I, the requirement that the introduction of new concepts must be inferentially conservative turned out to be the consequence of a more general requirement according to which the inferential commitment undertaken by employing a (new) term must cohere with the conception of an inference’s validity presupposed by that inferential commitment. In this part of the paper I have shown that this conception is constituted by formal inferential commitments. So, by recasting the rationale for the former requirement in the light of the transcendental status of such commitments an enlightening reformulation of that rationale can be reached, namely the following reformulation: Any appropriate extension of a discursive practice can be justified on the basis of the formal inferential commitments that are constitutive for discursive practice as such, and hence also for the discursive practice in question prior to the introduction of the new concepts.

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Bibliography Belnap, Nuel (1962): “Tonk, Plonk and Plink”. In: Analysis Vol. 22, pp. 130 – 134. MIE |Brandom, Robert (1994): Making It Explicit. Cambridge, Mass. Brandom, Robert (2008): Between Saying and Doing. Oxford. Dummett, Michael (1973): Frege’s Philosophy of Language. London. Kukla, Rebeca/Lance, Mark (2009): Yo!’ and ‚Lo!’. Cambridge, Mass. Lance, Mark/O’Leary-Hawthorne, John (1997): The Grammars of Meaning. Cambridge. Lewis, David (1973): “How To Define Theoretical Terms”. In: Lewis, Philosophical Papers. Oxford, pp. 78 – 94. Thompson, Michael (2008): Life and Action. Cambridge, Mass. Quine, Willard Van Orman (1966): “Truth by Convention”. In: Quine, Willard Van Orman: Ways of Paradox and Other Essays. Cambridge Mass., pp. 78 – 106.

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Gibt es Zufälle? Er war schon in den höchsten und schwächsten Zweigen, und es war ein reiner Zufall, dass sie unter dem Gewicht dieses schweren Körpers nicht brachen. (Chesterton 1962, S. 20)

Einleitung War es wirklich Zufall, dass die dünnen Zweige unter dem Gewicht Innocent Smith’, des skurrilen Protagonisten von Chestertons Roman Menschenskind, nicht brachen? Es ist unstrittig, dass – gewollt oder ungewollt – die Begriffswahl des Autors selbst (oder seines Übersetzers) hier nicht ganz stimmig ist. Schwieriger hingegen ist es, anzugeben, worin diese Unstimmigkeit besteht. Was ist unter Zufall eigentlich zu verstehen? Begonnen werden soll in Kapitel 1 mit der Behandlung des Zufalls in der Logik. Wie verhält es sich mit der Sag- und Denkbarkeit dessen, was nicht so sein müsste, wie es ist? Welche Sprach- und Urteilsformen sind zu seiner Artikulation verfügbar? Wie weit reicht eine Analyse der Sprache und des Denkens, um das Phänomen Zufall verstehen zu können? Es folgt in Kapitel 2 eine Besprechung des Zufalls als Problem der Erkenntnistheorie. Zufall entsteht auf dieser Ebene auf Grund unserer unvollständigen Kenntnis der Welt. Diese Unkenntnis ist z. B. Bedingung dafür, dass wir von anderen willentlich überrascht werden können, zu unserem eigenen Guten, aber auch zum Schlechten. Auf dieser Ebene sieht es so aus, als sei Zufall etwas nur Scheinbares und könnte, indem wir unser Wissen verbessern, vollständig beseitigt werden. Jedenfalls ist auf dieser Ebene unentscheidbar, ob etwas, was uns überrascht, ein wirklicher oder nur ein auf Unkenntnis beruhender scheinbarer Zufall ist. Die genauere Behandlung dieses Problems soll an Hand von Aristoteles’ Seeschlachtbeispiel, also am Problem der contingentia futura erfolgen. Ziel der Analyse ist zwischen Möglichkeit und Zufälligkeit zu unterscheiden. Kapitel 3 vertieft die Analyse unter der Fragestellung, wie die Welt verfasst sein muss, dass in ihr echter, ontologischer Zufall möglich ist. Untersucht wird die Unbegreiflichkeit des Zufalls bei Deterministen wie den Stoikern, aber auch bei Indeterministen. Ontologische Voraussetzung für Zufall ist kausale Offenheit. Sie ist nur in Verbindung mit Streben denkbar. Es folgt eine Reflexion der differenzierten Analyse des Zufalls durch Aristoteles und seiner Unterscheidung in blinden Zufall (automaton) und Fügung (tyche).

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In Kapitel 4 wird die Frage gestellt, wie die ontologischen Voraussetzungen für Zufall in die Welt gekommen sein können. Nur wer darauf eine plausible Antwort hat, kann Zufall wirklich verstehen. Dazu müssen Großüberlegungen über die Welt als ganze angestellt werden. Konkret soll dies in Anlehnung an Schellings Auffassung der Schöpfung als Urzufall geschehen. Schelling erkennt, dass die Möglichkeit von Zufall in einer leblosen deterministischen oder auch indeterministischen Welt nicht entstehen kann, und dass deshalb die ontologischen Möglichkeiten für Zufall von vornherein in der Welt und also zusammen mit ihr entstanden sein müssen. Erst im Anschluss an diese Überlegung lässt sich die Unterscheidung von blindem Zufall und Fügung wirklich verstehen. Ein Begriff, auf den im Verlauf der Analyse immer wieder zurückgegriffen werden muss, und den ich deshalb hier kurz explizieren möchte, ist der der ‚Notwendigkeit‘. Man muss drei Verwendungsweisen unterscheiden. 1. Begriffliche Notwendigkeit (etwas ist nicht anders denkbar, als es ist); 2. epistemische Notwendigkeit bzw. Wirklichkeit, (etwas ist aktual empirisch wahrnehmbar und also offensichtlich auf eine bestimmte Weise vorhanden) und 3. ontologische Notwendigkeit. Innerhalb dieser muss man zwischen substantieller und kausaler Notwendigkeit unterscheiden. Substantielle Notwendigkeit meint, dass etwas nicht nicht existieren oder anders sein kann, als es ist. Kausale Notwendigkeit meint, dass etwas auf Grund vorliegender Ursachen zwangsläufig entstanden ist und existiert, d. h. durch diese determiniert ist.

1 Logischer Zufall Die genaue Analyse der Sag- und Denkbarkeit des Zufälligen fällt in den Aufgabenbereich der Modallogik. Modallogik ermöglicht es, formal über Notwendiges und Mögliches bzw. Zufälliges zu sprechen. Die üblichen terminologischen Gegensätze der formalen Modallogik sind ‚notwendig‘ und ‚kontingent‘. Formal sind kontingente Aussagen dadurch gekennzeichnet, dass sie weder notwendigerweise wahr, noch notwendigerweise nicht wahr sind. Kontingent bedeutet dabei sowohl möglich als auch zufällig. Zufälligkeit und Möglichkeit werden innerhalb der Modallogik mithin synonym gebraucht, weswegen sie auf dieser Ebene auch ununterscheidbar sind. Kants Modallogik, die er im ersten Buch der Transzendentalen Analytik, der Analytik der Begriffe entwickelt, ist weniger formal als die eben vorgestellte. Sie bringt erkenntnistheoretische Überlegungen mit ins Spiel. Dadurch kommt sie der Klärung des Phänomens Zufall etwas näher und erlaubt eine Differenzierung von möglich und zufällig.

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Kant unterscheidet drei Arten von Urteilen: problematische, assertorische und apodiktische (vgl. Kant 1993, B99 f.). Das problematische Urteil besteht darin, dass man einen bejahten Sachverhalt bzw. einen durch Verneinung ausgedrückten Sachverhalt als möglich, das assertorische, dass man den Sachverhalt als wirklich, und das apodiktische, dass man ihn als notwendig annimmt. Dies lässt sich so interpretieren, dass, um Zufall logisch zu verorten, von Kant eine mittlere Stellung zwischen dem Notwendigen und dem bloß Möglichen aufgemacht wird. Damit ist, logisch betrachtet, das bloß Wirkliche allerdings zugleich das Zufällige − was freilich nicht völlig befriedigen kann. Insgesamt geht es Kant in der Analytik der Begriffe um eine Urteilsformanalyse. Assertorische Urteile sprechen einem Subjekt ein Prädikat weder als nur möglich noch als unbedingt notwendig, sondern als wirklich zu. Wirklich ist das, was zwar anschaulich real existiert, und in diesem Sinne notwendig ist,¹ dessen Existenz aber, da sie von Bedingungen abhängt, zugleich eine nur mögliche ist. − Durch die Identifikation des Zufalls mit einem so verstandenen Wirklichen bekommt Zufall zwar einen logischen Platz, wird aber letztlich nur negativ bestimmt. – Zugleich ergibt sich, dass das Zufällige mit dem kausal Determinierten zusammenfällt. Hegel bestimmt Zufälligkeit ebenfalls als dialektische Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit und nutzt explizit das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem, also das Verhältnis zwischen dem Bereich des wissenschaftlichen Wissens (also des Begriffs) und dem der konkreten wahrnehmbaren Dinge, um zu explizieren, was Zufall ist. Dabei ist das Allgemeine notwendig, das Einzelne möglich und das Besondere zufällig. Das Besondere bzw. Zufällige ist das, was am Einzelnen nicht dem Allgemeinen entspricht. Hegel schreibt: „Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen. […] Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Grenzen, und das Ungehörigste ist, von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen.“ (Hegel 1996, §250) Wir haben es beim Zufall also mit etwas zu tun – darin sind sich Kant und Hegel einig – dass es zwar real gibt, das sich aber logischem und wissenschaftlichem Denken entzieht. Der Zufall offenbart damit eine eigentümliche Diskrepanz zwischen Denken und Sein. – Ähnlich verhält sich übrigens das Nichts, jedoch auf umgekehrte Weise: Das Nichts kann man zwar denken, aber es gibt es nicht. Zufall gibt es zwar, aber er lässt sich nicht denken. Angesichts des Zufalls muss das Denken sich bescheiden. Es kann nur zu verstehen suchen, wie Zufall möglich ist, und den allgemeinen Rahmen abstecken, in dem er seinen Platz hat.

1 Hier haben wir es mit epistemischer Notwendigkeit zu tun.

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2 Epistemischer Zufall Epistemischer Zufall thematisiert Zufall als Problem der Grenzen unseres Wissens. In dieser Perspektive lassen sich weitere Differenzen zwischen Möglichkeit und Zufall herausarbeiten: Dem Zufall ist es wesenseigen, dass er grundsätzlich nicht vorhersehbar ist. Das Moment der Überraschung gehört dazu. Mögliches hingegen lässt sich immerhin als Mögliches vorhersehen, d. h. es ist real wohlbestimmt.Wie genau dies zu verstehen ist, soll am Beispiel der contingentia futura herausgearbeitet werden, und zwar in Auseinandersetzung mit der von Dorothea Frede vertretenen These, Aristoteles behaupte, dass für Sätze über die Zukunft das Bivalenzprinzip nicht gälte, sondern nur der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (vgl. Frede 1970, S. 77 ff.). Sie meint das, weil Aristoteles schreibt, dass es nicht notwendig ist, dass morgen eine Seeschlacht erfolgen wird; und dass es auch nicht notwendig ist, dass sie nicht erfolgen wird. Die beiden Thesen können ihrer Meinung nach nur dann gleichzeitig wahr sein, wenn für sie das Bivalenzprinzip aufgehoben wird. Frede folgt in ihrer Terminologie Lukasiewicz. Dieser versteht unter ‚Prinzip der Bivalenz‘ die Regel, dass „jede Aussage wahr oder falsch ist“ (Frede 1970, S. 10). Davon unterscheidet Frede den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, wonach „von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen die eine wahr sein muss“ (Frede 1970, S. 10). Den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch hingegen, wonach zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein dürfen, bespricht sie nicht. Auch die Möglichkeit einer Zusammenführung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch und des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten zu einem gemeinsamen Prinzip wird von ihr nicht diskutiert. Dagegen ist zu sagen, dass Aristoteles für die Geltung bzw. Wahrheit von Sätzen über Zukünftiges weder den Satz vom ausgeschlossenen Dritten noch den vom ausgeschlossenen Widerspruch aufhebt, was impliziert, dass für sie notwendig auch das Bivalenzprinzip gilt. Um die Sache sauber diskutieren zu können, muss man sich zunächst den Unterschied zwischen dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten klar machen. Der Satz vom Widerspruch besagt, dass p und nicht-p nicht zugleich wahr sein können, d. h. es kann nicht sein, dass etwas zugleich im selben Sinn ist und nicht ist. Davon zu unterscheiden ist der Satz vom ausgeschossenen Dritten (das tertium non datur). Mit Blick auf die Alltagssprache kann man sagen: Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch verbietet das Sowohl-als-auch und der vom ausgeschlossenen Dritten verbietet das Weder-noch eines bejahten und eines verneinten Satzes. Der Satz vom ausgeschossenen Dritten und der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch können unabhängig voneinander gültig sein. So verstößt die Behauptung „X ist weder p noch nicht p“ nicht gegen den Satz vom Widerspruch,

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wohl aber gegen den Satz von ausgeschlossenen Dritten. Bei der Behauptung „X ist sowohl p als auch nicht p“ verhält es sich hingegen umgekehrt. Sie verstößt nicht gegen den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, wohl aber gegen den vom Widerspruch. Weder der Satz vom ausgeschlossenen Dritten noch der vom ausgeschlossenen Widerspruch erfüllen für sich betrachtet das Bivalenzprinzip. Es kann jeweils unentscheidbare Fälle geben. Um Entscheidbarkeit zu bekommen, müssen die beiden Prinzipien zusammengeführt werden. Der Satz besagt dann, dass nur entweder p oder nicht p vorliegen kann, also weder beides zugleich noch keines von beiden. Dieser Satz erfüllt sowohl das Sowohl-als-auch- als auch das Wedernoch-Verbot. So formuliert er strenge Zweiwertigkeit und erfüllt die Forderung des von Lukasiewicz formulierten Bivalenzprinzips. Erst seine Geltung macht z. B. indirektes Beweisen möglich. Wenden wir dies auf das Seeschlachtbeispiel an. Aristoteles schreibt: Ich meine, dass z. B. [(a)] es notwendig ist, dass morgen eine Seeschlacht entweder geschehen oder nicht-geschehen wird; aber deshalb ist es [(b)] nicht notwendig, dass morgen eine Seeschlacht erfolgen wird; und es ist auch nicht notwendig, dass sie nicht-erfolgen wird; nur das sie entweder erfolgt oder nicht-erfolgt ist notwendig. (Aristoteles, De Interpretatione 19a)

Offensichtlich weicht Aristoteles für Aussagen über zukünftige Ereignisse das Bivalenzprinzip nicht auf. Vielmehr betont er explizit, (a) dass morgen notwendigerweise entweder eine Seeschlacht sein wird oder keine sein wird. Wir hatten eben festgestellt, dass das Entweder–oder kontradiktorischer Aussagen auf strenge Weise das Bivalenzprinzip formuliert. Damit ist klar, dass der von Aristoteles für richtig gehaltene Satz, „dass es notwendig ist, dass morgen entweder eine Seeschlacht geschehen oder nicht-geschehen wird“ ein Beispiel für einen Satz ist, der in seiner Geltung sowohl den Satz vom Widerspruch als auch den vom ausgeschlossenen Dritten umfasst. Es kann nicht sein, dass morgen sowohl eine Seeschlacht stattfindet als auch nicht stattfindet. Es kann auch nicht sein, dass morgen weder eine Seeschlacht stattfindet noch keine stattfindet. Entsprechendes gilt für prognostische Behauptungen über zukünftige Seeschlachten. Zugleich sagt Aristoteles allerdings (b), und das führt wohl zu Fredes Fehleinschätzung: „aber deshalb ist es nicht notwendig, dass morgen eine Seeschlacht erfolgen wird; und es ist auch nicht notwendig, dass sie nicht-erfolgen wird“. Frede schlussfolgert aus (a), Aristoteles behalte für Aussagen über die Zukunft das tertium non datur bei und aus (b) er hebe das Bivalenzprinzip auf (wonach jeder Satz wahr oder falsch, also entscheidbar, sein muss). Wie ist diese Passage bei Aristoteles zu verstehen? Ich denke, dass es zwei Möglichkeiten gibt, eine logische und eine epistemische. Logisch gesehen the-

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matisiert Aristoteles in der Passage folgende modallogische Selbstverständlichkeiten: 1. Sätze, die wie (b) nicht notwendigerweise wahr sind, sind nur möglicherweise wahr. 2. Die Bejahung und die Verneinung eines Satzes, der nur möglicherweise wahr ist, stehen untereinander nicht im Widerspruch. − Deshalb muss man, um sie zugleich behaupten zu können, auch weder den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch noch das Bivalenzprinzip aufheben. Der Fehler Fredes entsteht hinsichtlich dieser Lesart dadurch, dass sie nicht sieht, dass sie es mit einem modallogischen und nicht mit einem aussagenlogischen Problem zu tun hat. Epistemisch gesehen, ließe sich die Passage so verstehen, dass Aristoteles klären will, wie es um die Geltung von Prognosen bestellt ist (vgl. Stekeler-Weithofer 1992, Sp. 1902). ‚Notwendig‘ würde dann von Aristoteles in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht, nämlich einmal in logischer und einmal in epistemischer. ‚Notwendig‘ in (a) meint logische Notwendigkeit, wenn man so will, die notwendige Geltung des Bivalenzprinzips. Der Satz formuliert eine Regel. In (b) hingegen meint ‚notwendig‘ epistemische Notwendigkeit.² Der Satz betrifft konkrete prognostizierte Ereignisse, die eintreten oder nicht eintreten werden. Von solchen Prognosen wird gesagt, dass sie sich nicht mit Notwendigkeit erfüllen, weil sie unsicher sind. (Warum die Prognosen unsicher sind, wird weiter unten noch näher untersucht.) Auf Grund der Unsicherheit sind zum Zeitpunkt, da die Prognose getroffen wird, beide Alternativen möglich. Unbenommen davon ist die Prognose natürlich wahr oder falsch. Dies ist nur heute noch nicht entscheidbar. Aristoteles vertritt hier wie überhaupt eine Korrespondenztheorie der Wahrheit. Das heißt, die Wahrheit richtet sich nach dem Sein. Danach ist ein Satz genau dann wahr, wenn der Gedanke, den er ausdrückt bzw. das Urteil, dass er fällt, mit den Gegebenheiten in der Welt übereinstimmt. Die Überprüfung des Satzes muss auf empirische Weise stattfinden, durch Wahrnehmung der vorliegenden Tatsachen. Prognostische Aussagen über die Zukunft sind in der Gegenwart jedoch nicht empirisch überprüfbar, sondern erst in der Zukunft. Im Seeschlachtbeispiel muss man deshalb bis morgen warten, erst dann kann man sehen, ob die heute getroffene Prognose wahr ist oder nicht. Die Prognose legt nicht fest, wie die Zukunft werden wird, sondern umgekehrt erweist sich in der Zukunft, ob die Prognose richtig war. Das ist es, was Aristoteles herausarbeitet. Hinsichtlich dieser Lesart entsteht der Fehler Fredes dadurch, dass sie den Fall nur logisch und nicht auch epistemisch betrachtet. Dadurch entzeitlicht sie das Geschehen. Sie kann nicht sehen, dass mit Notwendigkeit unter (a) etwas kategorial anderes gemeint ist als unter (b). Sie versteht Aussagen über die Zukunft

2 Vgl. S. 2.

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nicht als Prognosen, sondern als Tatsachenbeschreibungen. Da Tatsachenbeschreibungen über Zukünftiges aktual nicht entscheidbar sind – und in diesem Sinne weder wahr noch falsch –, meint sie, das Bivalenzprinzip sei für sie aufgehoben. Sie sind indes nicht überhaupt, sondern nur augenblicklich unentscheidbar. Sub specie-aeterni, also mit den Augen eines Wesens, dass alle Ereignisse zugleich wahrnehmen kann, ließe sich heute bereits sagen, welche der Prognosen richtig ist. Diesen Blick nimmt Aristoteles aber gerade nicht ein. Er bleibt bei der menschenmöglichen Perspektive und behandelt Aussagen über Zukünftiges als das, was sie für uns sind, nämlich Prognosen. Was unterscheidet Mögliches nun von Zufälligem aus erkenntnistheoretischer Sicht?³ Zunächst erst einmal gibt es Gemeinsamkeiten. Zufälliges wie Mögliches ist weder notwendig, noch notwendig nicht. Zufälliges ist also möglich und nicht unmöglich. Zufall ist eine verwirklichte Möglichkeit. Und doch ist er kategorial ganz anders als nur Mögliches. Prognostizierbare mögliche Ereignisse treten, wie am Beispiel der Seeschlacht deutlich wird, in der Zukunft notwendigerweise auf oder nicht auf. Wir wissen, worauf wir uns einrichten können. Dies ist mit zufälligen Ereignissen anders. Hier gibt es keine klaren Alternativen, von denen jeweils eine notwendigerweise eintreten muss. Zufall hat etwas Überraschendes; dies gehört aus erkenntnistheoretischer Sicht zu ihm dazu. Zufällige Ereignisse kann man deshalb nicht prognostizieren oder prophezeien. Sätze wie „Morgen werde ich zufällig Uwe treffen“, sind nicht nur nicht entscheidbar, sondern gar nicht sinnvoll formulierbar, außer im Scherz. Darin unterscheiden sich Mögliches und Zufälliges. Zufall entsteht sozusagen – auch der Möglichkeit nach – erst im Moment seiner Verwirklichung. (Er ist eine echte Zumutung für unser Denken.) Das bedeutet natürlich nicht, dass Unmögliches möglich wird. Gemeint ist, dass es nicht zuvor klare Alternativen gab, von denen nun eine Wirklichkeit werden konnte. Betrachten wir als Beispiel das Werfen einer Münze. Hier wird man auch vom Ergebnis nicht überrascht, weder von Kopf noch von Zahl, obwohl wir nicht vorhersehen können, ob Zahl oder Kopf fallen wird. Wir reden zwar so, dass Kopf oder Zahl zufällig fallen, aber dabei handelt es sich nur um einen erkenntnistheoretischen und nicht um einen wirklichen Zufall. Wer den Unterschied zwischen einem echten und einem nur erkenntnistheoretischen Zufall verstehen will, muss nun aber endgültig ontologische Überlegungen anstellen.

3 Epistemischer und ontologischer Zufall werden hier noch nicht klar unterschieden. Dies erfolgt erst in Kapitel 3.

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3 Ontologischer Zufall Nicht alle Aussagen über die Zukunft sind derart unsicher wie die über mögliche Seeschlachten. Es gibt auch Fälle, bei denen sichere Prognosen möglich sind. Der Satz: „Morgen um 12.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit wird es in Leipzig hell sein“, ist z. B. notwendigerweise wahr.⁴ Dies liegt daran, dass um diese Zeit die Erde der Sonne die Seite, auf der Leipzig liegt, zukehrt. Es gibt einen deterministischen Verursachungszusammenhang, der sicherstellt, dass es in Leipzig mittags hell ist. Auch hier determiniert natürlich nicht die von uns getätigte Aussage das Geschehen, sondern der Weltenlauf, sprich die Erdrotation. Warum ist es nicht gleicherweise möglich, mit notwendiger Geltung heute schon zu sagen, ob morgen eine Seeschlacht stattfinden wird? Warum ist die Prognose hier unsicher? Die Antwort ist, dass es sich um kein determiniertes Geschehen handelt. Das Stattfinden der Seeschlacht beruht vielmehr auf der freien Entscheidung der Streitparteien. Nun ist weder notwendiges (also determiniertes), noch geplantes (also auf Entscheidung beruhendes) Geschehen Zufall. Sowohl Determination als auch Planmäßigkeit sind Gegenbegriffe zu Zufall. Trotzdem schafft Entscheidungsfreiheit offensichtlich kausale Offenheit. Kant nennt dies Spontaneität bzw. Kausalität aus Freiheit. Kausale Offenheit ist eine Bedingung für Zufall. Ob es noch andere denkbare Möglichkeiten für kausale Offenheit gibt, muss untersucht werden. Wenn es richtig ist, dass Zufall erst im Moment seiner Verwirklichung entsteht und nicht zuvor bereits bedingt war, heißt dies zugleich, dass seine Existenz auf eine wie immer auch zustandekommende kausale Offenheit angewiesen ist. Offenheit ist eine notwendige Bedingung für ontologischen Zufall. Wer die Frage „Gibt es Zufälle?“ bejahen will, muss zeigen, dass und wo es Indeterminiertheit gibt.

3.1 Zufall und Determination Die These, die ich vertreten will, lautet: Von den vier Arten von Ursachen, die Aristoteles unterscheidet und die auch ich unterscheiden möchte, ist nur die Finalursache offensichtlicher Kandidat für kausale Offenheit. Nur hier ist nicht das bereits Bestehende Ursache des Neuen, sondern etwas in der Zukunft Liegendes. Es wird bewusst oder unbewusst erstrebt und erreicht − oder eben nicht. Dadurch wird ontologische Offenheit ermöglicht. Solches Streben gibt es auf Erden nur bei Lebewesen.

4 Von der seltenen Möglichkeit einer Sonnenfinsternis einmal abgesehen.

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Sowohl die Wirkursache, die in einer von außen einwirkenden Kraft besteht, die Körper in Bewegung versetzt, als auch die Stoffursache, die die materiellen und chemischen Eigenschaften und das Bindungsverhalten der Elemente begründet, aber auch die Formursache, die z. B. die natürliche artgemäße Entwicklung der Lebewesen begründet, sowie die Bewegungen innerhalb des Planetensystems sind derart zu denken, dass zeitlich vor der Wirkung die Ursache besteht, so dass die Ursache die Wirkung notwendig bedingt. Für Wirk- und Stoffursache scheint mir dies selbsteinsichtig zu sein. Es ist nicht zu sehen, wie sich z. B. in mechanische Impulsübertragungen oder chemische Reaktionen ontologische Offenheit einschleichen kann. Bezweifeln lässt sich das Gesagte hingegen möglicherweise hinsichtlich der Verwirklichung von Formen in der belebten Natur. Wenn Hegel Recht hat, entsteht Zufall gerade dadurch, dass die Natur den Begriff bzw. die Form nicht vollkommen zu verwirklichen versteht. Doch liegt dies an der Formursache? Sicher nicht. Zwar verschließt sich der Zusammenhang zwischen Allgemeinem und Einzelnem, das, was Platon methexis nennt, dem Denken systematisch, aber eins kann man doch sagen: Wie dabei kausale Offenheit entstehen soll, ist nicht zu sehen. Statt dessen scheint es auch hier so zu sein, dass kausale Offenheit erst mit Blick auf das der Formverwirklichung zugrundeliegende Streben entsteht. Lebewesen streben bewusst oder unbewusst danach, ihre Form zu verwirklichen, und darin können sie scheitern. So entstehen mangelhafte Formverwirklichungen.⁵ Mithin erbringt auch hier die Finalursache die Offenheit. Unbelebtes hingegen,wie immer es auch geartet ist, ist ausnahmslos determiniert, eben weil es in diesem Seinsbereich keine Finalkausalität gibt. Stimmt dies, verursachen z. B. Zufallsgeneratoren, wie etwa ein Apparat zum Ziehen von Lottozahlen, keinen wirklichen, sondern nur einen scheinbaren, einen nur epistemischen Zufall.⁶ Zufall bedeutet hier nur, dass das Ergebnis nicht vorhersagbar ist. Zufallsgeneratoren sind Maschinen, in denen alle Bewegungen determiniert sind. Zufallsgeneratoren können je nach Bauart auf kausalmechanische, elektrische oder elektronische Weise funktionieren; in jedem Fall wirken nur Wirkursachen. Es ist nicht zu sehen, wie in ihnen kausale Offenheit entstehen können soll. Die Unvorhersehbarkeit für den Beobachter entsteht allein durch die

5 Zugleich wird klar, wo Hegels Theorie des Zufalls ihre Grenzen hat. Sie kann Zufall nur als ungenügende Formerfüllung, also als Mangel bzw. Privation begreifen, nicht aber als glücklichen Zufall bzw. echte Individualität. 6 Vgl. Psarros 2004, S. 377. Psarros stellt sich die Frage, ob Zufall mittels Zufallsgeneratoren technisch hergestellt werden kann, und bejaht diese für den Fall, dass es gelingt, ein Gerät zu bauen, dass jedes der möglichen Ergebnisse mit gleicher Häufigkeit hervorbringt. Es ist offensichtlich, dass es ihm nur um erkenntnistheoretischen Zufall geht. Echten Zufall kann man mit einem Zufallsgenerator nicht herstellen.

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Komplexität der miteinander agierenden Elemente der Maschinen. Im Fall der Lottomaschine z. B. durch die Vielzahl der Kugeln. Mit echtem Zufall hat der empirische Zufall des Zufallsgenerators nur gemein, dass das Ergebnis unvorhersehbar ist. Es ist zwar richtig, dass echter Zufall unvorhersehbar ist, aber es ist nicht richtig, dass jeder Unvorhersehbarkeit wirklicher Zufall zu Grunde liegen muss. Echter Zufall ist mit Determiniertheit unvereinbar. Er bedarf der Offenheit in der Verursachungsstruktur. Diese erzeugt nicht nur Überraschung, sondern Plötzlichkeit. Das ist beim Zufallsgenerator nicht gegeben. Determination ermöglicht nicht nur sichere Vorhersage, sondern auch Verallgemeinerung. Sie ist Bedingung für Wissenschaft. Wissenschaftliches Wissen muss allgemein und gewiss sein. Wirk- und Stoffursache führen zu strenger Notwendigkeit und die Formursache immerhin zu erwartbarer Regelmäßigkeit. Beides schließt Zufälligkeit aus. – Streben hingegen, insbesondere bewusstes, ist seiner Natur nach einzeln. Es geht auf das Einzelne. Deshalb ist es nicht in gleicher Weise Gegenstand der Wissenschaft.

3.2 Zufall und Indeterminismus Ich möchte meine These prüfen: Ließe sich nicht denken, dass es kausale Offenheit und mithin echten Zufall doch irgendwo in der unbelebten Natur geben könnte, etwa dadurch, dass spontan Indeterminiertheit entsteht? Eine Möglichkeit, die immer wieder diskutiert wird, ist, dass sich zwei Kausalketten kreuzen, die keinen gemeinsamen Ursprung haben, und dadurch eine nicht vorherbestimmte zufällige Wirkung hervorgebracht wird. Zwar ist jedes der beteiligten Ereignisse determiniert, aber nicht das Zusammentreffen. Diese Erklärung findet sich bei Materialisten wie Karl Marx. So könnte man z. B. meinen, eine Mondfinsternis sei ein zufälliges natürliches Ereignis: die Bewegungen der Erde um die Sonne und die des Mondes um die Erde kreuzen einander, so dass der Schatten der Erde auf den Mond fällt und diesen verfinstert. Dies wird nur dem als zufällig erscheinen, der sich nicht klar macht, dass die Bewegung der Planeten und Monde ein System bilden. Nur deshalb sind Mondfinsternisse vorhersehbar. Derartige Regelmäßigkeit ist mit Zufall unvereinbar. Analoges gilt für alle kosmischen Ereignisse. Wenn das Universum einen einzigen Ursprung hat, wie z. B. die Urknalltheorie annimmt, gibt es hier keinen Zufall. Da alles Unbelebte kosmischen Ursprungs ist, gilt dies auch für die ‚Kleinereignisse‘ auf den einzelnen Himmelskörpern, einschließlich denen auf der Erde. Einen weiteren Versuch, Indeterminiertheit im Bereich des Unbelebten, also jenseits des Strebens zu finden, unternimmt die Chaostheorie. Doch auch sie

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kommt aus dem Determinismus nicht heraus. Chaotische Systeme sind bei Lichte besehen nämlich gar nicht chaotisch, also offen, sondern determiniert. Besonders an ihnen ist nur, dass unmerkliche Unterschiede im Bedingungsgefüge zu sehr unterschiedlichen Folgen führen. Sogenannte chaotische Systeme erzeugen also, ähnlich wie Zufallsgeneratoren, einen nur epistemischen Zufall. Wie verhält es sich mit dem sogenannten Spontanzerfall radioaktiver Stoffe?⁷ Ist dies nicht ein wirkliches zufälliges Geschehen im Bereich des Unbelebten? Gegen einen wirklichen Zufall beim Zerfall spricht die beobachtbare Regelmäßigkeit. Bekanntlich erfolgt der radioaktive Zerfall von Portionen radioaktiven Stoffs gemäß der sogenannten Halbwertszeit. Diese tritt zwar erst mit Blick auf eine Vielzahl von Zerfallsereignissen auf, aber sei es, wie es sei, Regelmäßigkeit widerspricht auch hier dem Zufall. Die Halbwertszeit ist eine natürliche Stoffkonstante. Ihre Existenz spricht gegen die Indeterminiertheit und den Zufall des Zerfalls. Gesetzt den Fall, es wäre richtig, das tatsächlich alles indeterminiert ist, wie manche Quantenphysiker behaupten, so ließe sich auch dann nicht mehr sinnvoll von Zufall sprechen, da dann sozusagen alles Zufall wäre und dieser sich nicht mehr sinnvoll von anderen Ereignissen unterscheiden ließe. Dies entspricht nicht unserer Erfahrung. Wir erleben vielmehr, dass manche Ereignisse gesetzmäßig eintreten, dass andere sich planmäßig herbeiführen lassen und wieder andere sich zufällig einstellen. Zufall ist darauf angewiesen, dass manche Ereignisse indeterminiert sind und andere nicht.

3.3 Zufall und Freiheit Weder Determinismus noch Indeterminismus sind also, wenn man sie zum allgemeinen Prinzip erhebt, mit Zufall verträglich. Man muss die beiden Prinzipien zusammenschauen, den ontologischen Ort finden, wo sie sich gegenseitig begrenzen und ergänzen. Dieser Ort ist die Freiheit. Die Freiheit wird von Hegel als Totalität von Determinismus und Indeterminismus verstanden. Der Ort der Freiheit in der physischen Welt ist das Leben. Freiheit heißt, aus sich heraus Ursache zu werden. Abgestuft gibt es Freiheit in allen strebenden Wesen, also bereits in Pflanzen und Tieren; am vollkommensten ist sie aber im Menschen und in seinen Handlungen gewährleistet. Beim Handeln wird in Folge einer vernünftigen Beratung mit sich selbst bzw. anderen eine Entscheidung gefällt für oder gegen eine reale Möglichkeit, und dann werden die

7 Gemeint ist das Phänomen, welches dem Schrödinges Katze genannten Gedankenexperiment zu Grunde liegt.

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Mittel ergriffen, um den getroffenen Entschluss in die Tat umzusetzen. Dies sieht konkret so aus, dass im Menschen angelegte Fähigkeiten bzw. Potenzen aktualisiert werden, wodurch in den deterministischen Lauf der unbelebten Welt auf eine Weise eingegriffen wird, die nach der Erfahrung der Akteure (z. B. durch erlernte Praxen) zum Ziel führt. Nun ist ein auf diese Weise angestrebtes und erreichtes Ziel, z. B. die Zubereitung einer Speise aus den dazu erforderlichen Zutaten, für sich betrachtet natürlich gerade kein Zufall, sondern ein planmäßiges Geschehen. Wenn nach dem Kochen das Essen auf dem Tisch steht, sind wir davon nicht überrascht. Die Speise ist nicht etwas, dessen Möglichkeit erst im Moment der Verwirklichung entsteht. Trotzdem ist der Bereich des Handelns (bzw. Strebens) der ontologische Ort, an dem Zufall überhaupt möglich werden kann, und zwar deshalb, weil Handlungen aus Freiheit begonnen und ausgeführt werden. Die klassische Definition des ontologischen Zufalls, wie sie in Anlehnung an Aristoteles z. B. Boëthius formuliert hat, lautet denn auch: „Zufall ist das unerwartete Ergebnis eines Zusammentreffens von Ursachen in dem, was zu irgendeinem Zweck unternommen wurde.“⁸ Diese Definition benennt zwar nicht alles, was man zum Verständnis von Zufall bedenken muss, markiert aber das Wesentliche: Es müssen mehrere Ereignisse zusammentreffen, wenigstens eines dieser Ereignisse muss seine Ursache in sich haben, also ein einen Zweck verfolgendes Streben sein, und das Zusammentreffen mit den anderen Ereignissen muss plötzlich und unerwartet sein. Danach ist sowohl das unverhoffte Zusammentreffen von zwei Handlungen als auch das Zusammentreffen einer Handlung mit einem deterministischen Naturgeschehen echter Zufall. Aristoteles’ Beispiel für Zufall ist, dass man bei Gelegenheit einer Besorgung unverhofft jemanden auf dem Markt trifft, den man ohnehin in nächster Zeit hätte aufsuchen wollen. Das Treffen ist ein echter Zufall. Es beruht auf ontologischer Offenheit, weil man aus freiem Entschluss zum Markt gegangen ist, und es hat das für Zufall entscheidende Moment der Plötzlichkeit, da man nicht mit der Begegnung gerechnet hatte, sondern aus anderen Gründen unterwegs war. Aristoteles’ Bestimmung des Zufalls richtet besonders auf das Plötzliche, Ungeplante und Überraschende dieses Phänomens ihr Augenmerk. Dessen Zustandekommen, schreibt er, wird dadurch möglich, dass sich neben den beabsichtigten Folgen nebensächliche Folgen einstellen können. Das Zusammentreffen mit einem anderen Ereignis ist ein Beispiel für eine solche nebensächliche Folge. Im Unterschied zu dem durch die Handlung oder Natur eigentlich ange-

8 „Licet igitur definire casum esse inopinatum ex confluentibus causis in his, quae ob aliquid gernurtur, eventum“ (Boëthius, De consolatio philosophae, V, p 1).

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strebten Ziel, welches durch den Entschluss oder das kreatürliche Begehren festgelegt ist, sind die nebenbei eintretenden Folgen vielfältig und unbestimmt. Aristoteles schreibt: „Wegen etwas“ ist alles das, was sowohl durch planende Vernunft hervorgebracht wird oder auch durch Naturanlage.Wenn Derartiges also nun als nebenbei eintretende Wirkung erfolgt, dann sagen wir, es sei „aus Fügung“ [bzw. zufällig]; wie ja auch seiend ein Ding im eigentlichen Sinne ist, ein anderes nur in nebenbei zutreffender Bedeutung [also Substanz bzw. Akzidenz], ebenso kann das auch mit „Ursache“ sein [gemeint ist eine Finalursache, also ein Zweck bzw. eine Folge]; […] Die Ursache [Folge] im eigentlichen Sinn ist eindeutig bestimmt, die Ursache [Folge] in der Nebenbedeutung nicht festgelegt; denn auf diesen einen Gegenstand kann ja unendlich vieles zutreffen. (Aristoteles, Physik (A) 196b)

Aristoteles verwendet offensichtlich zwei unterschiedliche Analogien (vgl. Brentano 1862, S. 85 ff.). Zum einen eine terminologische, die ‚Wegen etwas‘ als paradigmatischen Fall für Ursache bzw. Folge nimmt und von daher eine analogische Erweiterung auf Folge in der Nebenbedeutung vornimmt, und überdies eine proportionale. Danach verhalten sich die unbeabsichtigten Folgen zur Absicht einer Handlung wie die Akzidenzien zur Substanz, an der sie sich zeigen. Akzidenzien sind das Nebensächliche im Bereich des Seins und Substanzen das Eigentliche. Zufälle sind das Nebensächliche im Bereich der Folgen von Handlungen und verwirklichte Absichten das Eigentliche. Sowohl Akzidenzien als auch Zufälle sind also nebensächlich. In der Tradition wird das Akzidentelle dann oft generell als das Zufällige verstanden. Dies ist auch ganz richtig, da es sich bei Akzidenzien im eigentlichen Sinne tatsächlich um nebensächliche Folgen von natürlichem Streben der Substanzen handelt. Streben ist nicht auf das Handeln beschränkt. Auch der Beutezug eines Raubtiers z. B. erfolgt aus sich heraus und ermöglicht so ontologische Offenheit. Streben ist an Leben gebunden, welches als Substanzen organisiert vorkommt. Substanzen entwickeln sich ihrer Natur gemäß, gemäß der Artform oder des Wesens. Dabei auftretende Unwesentlichkeiten sind die Akzidenzien. In analoger Weise verfolgen Handlungen Pläne. Sich dabei einstellende Nebenfolgen sind Zufälle.

3.4 Zufall und Fügung Um die Analyse des ontologischen Zufalls zu vertiefen, differenziert Aristoteles zwischen automaton und tyche. Ich werde mich an die Übersetzung von automaton und tyche mit (blindem) Zufall und Fügung ins Deutsche halten, wie Hans Günter Zekl (Aristoteles, Physik (A)) und Hans Wagner (Aristoteles, Physik (B)) sie in ihren

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Übertragungen von Aristoteles’ Physik unternehmen, auch wenn sie nicht völlig überzeugen. Die deutschen Worte Zufall und Fügung können mit Blick auf ihre Etymologie, oder besser das in ihnen eingefangene Bild, durchaus auch als synonyme Ausdrücke gelten. Sie werden in Wörterbüchern in der Regel auch so behandelt. Beide sind mögliche Übersetzungen von tyche. Sie malen, wie gesagt, nur jeweils ein anders Bild. Zufall meint, dass jemandem unbeabsichtigt bzw. unverdienterweise etwas zu-fällt, was ihm gut passt. Fügung meint, dass sich etwas ungeplant so begibt oder ordnet, dass es einen guten,vernünftigen Gesamtsinn ergibt, ebenfalls hinsichtlich menschlicher Tätigkeiten. Wenn Zufall sich von Fügung unterscheidet, dann am ehesten darin, dass Zufall vom Bild her sowohl gut als auch schlecht sein kann; Fügung hingegen nur gut. Trotzdem meinen wir redensartlich eher etwas Gutes, wenn wir sagen, dass jemandem etwas zufällt. (Gutes fällt einem zu, Schlechtes widerfährt einem.) In Fügung schwingt im Unterschied zu Zufall mit, dass vor ihrem Zustandekommen Tüchtigkeit und Anstrengung aufgebracht wurde, der glückliche Zufall also gewissermaßen verdienterweise sich einstellte. Dies lässt verstehen, wieso Aristoteles schreibt, dass kleine Kinder noch keine Fügung erleben können, sondern nur Zufall. Sie sind noch nicht zur Tüchtigkeit erzogen worden. Fügung meint jedenfalls redensartlich immer einen glücklichen Zufall. In der Übersetzung von Zekl wird von unglücklicher Fügung gesprochen. Das ist ein schiefes Bild. Wenn man im Bild bleiben will, sollte man besser sagen, dass etwas sich nicht bzw. nicht gut fügt. Tyche ließe sich auch mit Schicksal ins Deutsche übersetzen. Es entspricht dem lateinischen fortuna. Diese Übersetzung hat den Vorteil, dass die von tyche implizierte Offenheit hinsichtlich der Bewertung nach gut und schlecht ins Deutsche transportiert wird. Allerdings verstehen wir unter Schicksal eher Großereignisse von existentieller Bedeutung. Zufall hingegen passt auch zu gewöhnlichen Begebenheiten. Die Rede von Schicksal ist z. B. unpassend zur Besprechung solcher Alltäglichkeiten wie der, dass man jemanden unbeabsichtigt auf dem Markt getroffen hat. Automaton übersetzen Zekl und Wagner mit Zufall. Es entspricht dem lateinischen casus. Die ältere Übersetzung der Physik von C. H.Weiße (erschienen 1829 (Aristoteles, Physik (C)) verdeutscht es mit von ungefähr. Dadurch entsteht die Möglichkeit, tyche mit Zufall zu übersetzen. Zufall wäre demnach also nur ein Teil dessen, was sich von selbst nebenbei einstellt, nämlich in Folge absichtlicher Handlungen (prakta). Unpassend ist auch die etymologisch scheinbar naheliegende Übersetzung von automaton mit dem Neologismus ‚automatisch‘ ins Deutsche bzw. mit ‚von selbst‘.Von selbst ereignen sich auch alle Wirkungen in Folge einer causa efficiens.

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Ich will, da sie sich nun einmal eingebürgert haben, trotz der benannten Schwierigkeiten die von Zekl und Wagner gewählten Übersetzungen übernehmen und tyche mit Fügung und damit eingeschränkt auf den Bereich bewussten Handelns verwenden und automaton mit blindem Zufall. Auch blinder Zufall (automaton) ist jedoch in jedem Fall, das möchte ich noch einmal herausstellen, eingeschränkt auf den Bereich der causa finalis, also den des Strebens. Dieser umfasst sowohl die planende Vernunft, also den Willen, also auch das animalische Begehren, aber mit Abstrichen auch das vegetative Streben (Wachstum und Vermehrung). Warum erklärt Aristoteles Zufall am Beispiel des Handelns, also der Fügung? Offenbar hält er Fügung für den paradigmatischen Fall. Fügung lässt sich folgendermaßen definieren: Fügung (eutyche) ist ein Einzelereignis, welches sich als unbeabsichtigte Nebenfolge einer zu einem guten Zweck ausgeführten, freien Handlung, die sich durch das Zusammentreffen von Ursachen überraschend und von selbst einstellt, so dass sie sich gut in das Gesamte der Lebensführung des Handelnden einpasst.Von dieser Definition aus lassen sich die in der Nähe stehenden gebräuchlichen Bestimmungen dessen, was unreflektierterweise alles Zufall genannt wird, ausdeuten. Die Bestimmungen sind nachgeordnet, oft enthalten sie nur einige Aspekte des guten Zufalls im vollen Sinne. Das begriffliche Feld des Zufalls lässt sich von der Fügung her folgendermaßen verstehen und ordnen: Der unglückliche Zufall (dystyche) ist abkünftig vom eigentlichen glücklichen Zufall bzw. der Fügung. Es handelt sich um ein Ereignis, welches dieselbe Verursachungsstruktur hat wie ein guter Zufall und genauso plötzlich eintritt, sich aber gerade nicht in das gute Leben des Betroffenen fügt, sondern dieses beeinträchtigt. Tyche bzw. Fortuna lässt sich auch als Schicksal übersetzen. Darunter verstehen wir Großereignisse von existentieller Bedeutung. Während Fügung eher alltägliche glückliche Begebenheiten meint, meint gutes Schicksal ein gutes Geschick mit Blick auf das Leben eines Menschen als Ganzes. Abgeleitet davon kann man etwa als Historiker auch vom Schicksal einer Gemeinschaft, z. B. einer Familie oder eines Volkes sprechen. Analog zum glücklichen und unglücklichen Zufall kann es auch ein gutes und schlechtes Schicksal geben. Durch die Annahme einer Schicksalsgöttin wird der Zufall bzw. das Schicksal hypostasiert und fälschlicherweise selbst zur Ursache erhoben. Zufall selbst kann aus ontologischen Gründen jedoch weder Ursache noch Prinzip sein. (Wie dies zu verstehen ist, wird in Kapitel 4 gezeigt.) Von der Fügung zu unterscheiden ist der blinde Zufall (automaton), der zwar auch Streben voraussetzt, welches sich aber dadurch vom willentlichen Streben unterscheidet, dass ihm die bewusste Absicht fehlt. Aristoteles’ Beispiel ist ein

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Tier, das durch sein unbewusstes Tun, ohne sie zu kennen, einer Gefahr entgeht. Auch der blinde Zufall stellt sich als nebensächliche Folge ein. In diesem Sinne kann man alles Akzidentelle (kata symbebekos) zufällig nennen.⁹ Der bloße epistemische Zufall, wie ihn Zufallsgeneratoren erzeugen, hat mit dem echten Zufall lediglich das Moment der Unvorhersehbarkeit gemein. Es handelt sich nicht um einen ontologischen Zufall, da der Generator deterministisch funktioniert, also nicht, wie für echten Zufall erforderlich, auf kausaler Offenheit beruht. Das Ergebnis ist nur auf Grund der Bauweise des Geräts nicht vorherbestimmbar. Unbenommen seiner Unvorherbestimmbarkeit ist das Ergebnis keine Plötzlichkeit und auch nicht wirklich überraschend, sondern eine im Gerät angelegte Möglichkeit. Das unvorherbestimmbare Ergebnis tritt auch nicht als nebensächliche Folge auf, sondern es ist vielmehr gerade Zweck des Apparats, ein solches zu erzeugen.

4 Theologischer Zufall Wie sich im Verlauf der Untersuchung gezeigt hat, kann Zufall nicht in einer leblosen deterministischen Welt entstehen. Seine Entstehung ist vielmehr auf kausale Offenheit und auf Streben angewiesen.¹⁰ Um Zufall wirklich zu verstehen, muss deshalb geklärt werden, wie diese ontologischen Voraussetzungen in die Welt gekommen sein können. Dazu muss zunächst überlegt werden, welche Rolle Zufall hinsichtlich der Welt als Ganzer spielt?

9 Im Bereich der Causa-efficiens-Verursachung gibt nicht nur keine Zufälligkeit, sondern bei Lichte besehen auch keinen Unterschied zwischen wesentlichen und unwesentlichen Folgen. Wenn ein Stein ins Wasser fällt, ist es unsinnig danach zu forschen, ob das dabei entstehende Geräusch oder das Aufspritzen des Wassers die eigentliche Wirkung ist. Nebensächliches lässt sich von Wesentlichem mit Blick auf Bewegungen und Veränderungen in Folge von Wirkursachen nicht differenzieren. Dies ist nur mit Blick auf Zwecke und Formen möglich. Der verfolgte Zweck ist das Wesentliche, alles was sonst noch folgt, ist unwesentlich und zufällig. Dass wir z. B. Finsternisse als etwas Nebensächliches erkennen, liegt daran, dass die Planeten und Monde ein System bilden und sich regelmäßig bewegen. Dass die Erde auf ihrer Bahn zwischen Sonne und Mond tritt und ihr Schatten zu einer Finsternis führt, ist dem gegenüber nebensächlich. Dies zeigt zugleich, dass Nebensächlichkeit allein für das Zustandekommen von Zufall noch nicht ausreicht. Es muss die kausale Offenheit und die Plötzlichkeit noch hinzu kommen. Weswegen auch Formursachen allein keinen ontologischen Ort für Zufall bereitstellen. 10 Der Indeterminismus hatte sich ebenfalls als unhaltbare Position erwiesen.

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Zwei Szenarien sind prominent: 1. Zufall wird selbst zum ersten Prinzip erklärt, z. B. in allegorischer Gestalt einer Schicksalsgöttin (Tyche bzw. Fortuna). 2. Die physische Welt selbst wird als Zufall angesehen. Szenarium 1 ist nicht wirklich denkbar. Die bisherige Analyse hat ergeben, dass Zufall als etwas zu verstehen ist, was plötzlich entsteht. Zufall ist ontologisch gesehen weder substantiell noch kausal notwendig, d. h. er ist weder Ursache seiner selbst, noch gibt es eine Ursache vor und außer ihm, die ihn unmittelbar und notwendig hervorbringt. Er entsteht auch der Möglichkeit nach erst im Augenblick seiner Verwirklichung. Etwas, dass seiner Möglichkeit nach erst im Moment seiner Verwirklichung entsteht, kann aber unmöglich als erstes Prinzip des Seins bzw. der Veränderung in Frage kommen. Schon Aristoteles weist, in Auseinandersetzung mit damals verbreiteten Ansichten, die Annahme des Schicksals als Ursache der Welt explizit zurück. Am Anfang eines Zufalls muss Vernunft oder doch wenigstens ein strebendes Prinzip stehen. Er kann nicht anders denn als Nebenfolge eines Strebens verstanden werden. Zufall selbst ist also unmöglich Ursache oder Prinzip (vgl. Aristoteles, Physik 198a). Szenarium 2 hingegen, also die Auffassung der physischen Welt selbst als Zufall, ist denkbar und muss tiefergehend diskutiert werden. Schelling z. B. betitelt die Schöpfung als Urzufall. Wie das zu verstehen ist, gilt es zu klären. Da die Erkenntnis Gottes nicht unmittelbar möglich ist, weil er unser Denken und unser Wahrnehmen übersteigt, ist auch Schellings Auskunft offenbar als Analogie zu verstehen. Um diese auszuleuchten, muss zunächst überlegt werden, was nach den vorgenommenen Eingrenzungen überhaupt unter Zufall zu zählen ist und was davon sich zur analogischen Erklärung der Schöpfung eignet. Was ist nun alles Zufall? Nach der von mir in Anlehnung an Aristoteles gemachten Einschränkung scheint nur noch wenig Raum dafür zu sein. Alle kosmischen Bewegungen und deren Effekte, wie Finsternisse, Jahreszeiten und die Gezeiten; alle geologischen Veränderungen, wie Erdbeben,Vulkanausbrüche und Tsunamis; alle meteorologischen Erscheinungen wie Sturm, Hagelschlag und Gewitter mit Donner und Blitz sowie alle von ihnen hervorgebrachten zerstörerischen Effekte, wie die Entstehung und das Verschwinden von Inseln, Bergrutsche, Waldbrände usw. gehören nicht dazu. Aber auch alle Formen natürlicher Entwicklung von Lebewesen, erfolgreiches tierisches Streben und ihre Absicht erreichende menschliche Handlungen sind kein Zufall. Trotzdem bleibt genug, und es bleiben Phänomene übrig, von denen man es vielleicht auf den ersten Blick nicht denken würde: So ist es z. B. Zufall, sich in einen bestimmten Menschen zu verlieben; nicht dass man sich überhaupt verliebt, ist Zufall, aber in wen. Ebenso verhält es sich mit dem Knüpfen von Freundschaften. Zufall ist auch die eigene Existenz. Dass Menschen Kinder zeugen, ist an sich kein Zufall. Zufall (nach der herausgearbeiteten ontologischen Seinsweise) ist es

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aber jedenfalls, dass die Eltern ein bestimmtes Kind bekommen. Es hätte z. B. sein können, dass meine Eltern an meiner Statt ein anderes Kind bekommen hätten als mich. Das sieht man daran, dass sie außer mir noch andere Kinder haben, meine Geschwister. Ein Ungedanke scheint hingegen zu sein, dass man selbst jemand anderer hätte werden können als der, der man geworden ist. Man konnte nur der werden, der man ist, oder niemand. Damit haben wir die scheinbar paradoxe Situation, dass es für mich kein Zufall ist, Kind meiner Eltern zu sein, für meine Eltern aber Zufall, mich zum Kind zu haben. Ich hätte z. B. vor oder während der Geburt sterben können oder ein anderes Spermium hätte die damals reife Eizelle meiner Mutter treffen können. Im ersten Fall gäbe es mich einfach nicht, d. h. ich hätte gar nicht erst das Licht der Welt erblickt. Im zweiten Fall wäre nicht etwa, wie man meinen könnte, ich jemand anders, sondern es gäbe jemand anderen an meiner Stelle. Statt meiner wäre meine Mutter mit jemand anderem schwanger gewesen und hätte zum Zeitpunkt meiner Geburt ein anderes Kind zur Welt gebracht als mich. Wenn es richtig ist, dass man nur der werden konnte, der man ist, dann heißt das nicht nur, dass man nicht das Kind anderer Eltern hätte werden können, sondern z. B. auch, dass man nicht mit mehr oder anderen Begabungen geboren werden konnte als denen, die man hat, oder zu einer anderen Zeit, als der, zu der es sich traf. Es musste so kommen, wie es kam.¹¹ Trotzdem ist das für mich Selbstverständlichste, ja Notwendigste, nämlich, dass es mich gibt und dass es mich so gibt, wie es mich gibt, aus Sicht aller anderen Menschen und auch ontologisch gesehen ein Zufall, jedenfalls mit Blick auf mein Zustandekommen. Nun, da ich einmal da bin, gibt es mich natürlich wirklich und ich bin in dem Sinne notwendigerweise da, wie Aktuales bzw. Wirkliches augenblicklich notwendigerweise da ist. Dies bin ich sowohl für die anderen, die mich sozusagen von außen sehen, als auch und noch mehr für mich selbst, also von innen. Bewusstsein kann sich selbst nicht bezweifeln. Also kann sich Bewusstsein selbst auch nicht als zufällig ansehen. Daher bin ich, wie Descartes zeigt, so lange ich bei Bewusstsein bin, notwendigerweise existent. Für mich bin ich gewisser existent als irgendetwas sonst. Das gilt auch für die Vergangenheit, für meine Erinnerungen. Die Erinnerung beginnt mit ersten Kindheitserinnerungen, nicht mit Nichts. Bewusstsein reicht nicht hinter seine eigene Existenz zurück.

11 Wenn dies stimmt, ist an der eigenen Existenz jedenfalls viel weniger blind zufällig, als z. B. Heideggers Rede von der „Geworfenheit des Daseins“ suggeriert. Unsere Individualität, die eben gerade nicht als Privation, sondern als guter Zufall verstanden werden kann, spricht dagegen. Guter Zufall stellt sich als Nebenfolge von vernünftigem Streben ein.

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Dies widerlegt indes nicht, dass mein Zustandekommen zufällig war. Die Existenz von etwas, was seinem Zustandekommen nach zufällig ist, ist aber auch dann noch zufällig, wenn es aktual wirklich ist. Also ist meine Existenz Zufall, auch wenn dies für mich unbegreiflich ist. Ich bin also zugleich notwendig und zufällig. Notwendigkeit ist hier keine Determination und Zufälligkeit keine Beliebigkeit. Notwendigkeit und Zufälligkeit heben sich dialektisch oder vielmehr perspektivisch auf in der eigenen lebendigen Existenz. Nur deshalb, könnte man weiter spekulieren, kann sie Basis für Freiheit sein und Ausgangspunkt zur Generierung weiteren Lebens. – Andererseits zeigt dies noch einmal, wie schwer zu begreifen Zufall ist. Ein weiteres Beispiel für Zufall ist gelingendes künstlerisches Schaffen. Gerade hier kann man nicht alles erzwingen. Gelingendes Dichten, Komponieren oder Malen hat ein Moment des Beschenktwerdens. Auch das Schreiben philosophischer Abhandlungen, welches eigentlich nur auf möglichst klare Weise die Wahrheit erkunden sollte, entwickelt ein Stück weit ein Eigenleben. Nicht jedes Wort und nicht jeder Gedankenanschluss ist vorher festgesetzt (vgl. StekelerWeithofer 2006, S. 687 f.). Aber auch einfache Tätigkeiten haben diese Komponente. Eine Handwerksarbeit z. B. kann gut glücken oder misslingen. Es gibt Tätigkeiten, die mehr, und solche, die weniger auf glücklichen Zufall angewiesen sind. („Lieben, Jagen, Singen kann man nicht erzwingen“, sagt z. B. der Volksmund.) Akzeptiert man dies, wird offensichtlich, dass sich unser Handeln nicht, weder im Einzelnen, noch in der Lebensführung als ganzer, auf bloße Aktualisierung von Fähigkeiten reduzieren lässt. Zufall ist nach Schelling also nun auch und in besonderer Weise die Entstehung der Welt als Ganzes. Ich hoffe, dass es nun möglich ist, diesen Gedanken zu verstehen. Es ist eine große spekulative Herausforderung. Traditionell wird Schöpfung, um sie zu verstehen, sowohl mit Zeugung als auch mit künstlerischem Schaffen verglichen. Dies weckt die Hoffnung, dass ein Blick auf den Zufall der eigenen Existenz und den des Gelingens eines Werkes helfen kann, Schellings Gedanken zu verstehen. Beide Zufälle scheinen ein bisschen wie Schöpfung zu sein. Hilfreich ist, denke ich, auch noch einmal einen Blick auf den für den Zufall typischen Übergang vom Allgemeinem zum Einzelnen zu werfen, den Hegel ins Zentrum seiner Analyse des Zufalls stellt. Schelling selbst schreibt: Das Subjekt, das erst reines, sich selbst nicht gegenwärtiges Subjekt ist [gemeint ist Gott vor der Schöpfung] – indem es sich haben will, sich selbst Objekt wird, ist es mit einer Zufälligkeit behaftet (Zufälligkeit ist Gegensatz des Wesens). Aber dadurch ist es als Wesen nicht aufzuheben, denn es ist nicht nur Wesen überhaupt, sondern unendlicher Weise. Jene Zufälligkeit wird ihm also nur Anlass, in sein Wesen zurücktretend sich gegen jenes Zufällige als Wesen zu setzen, das es zuvor nicht war. (Schelling 1968, S. 121)

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Worin ähneln sich Schöpfung und Zeugung? Ähnlich ist, dass für uns, als Wesen dieser Welt, die Welt notwendigerweise ist, wie sie ist, so wie wir notwendigerweise sind, wer wir sind. Aus der Sicht Gottes auf die Welt stellt sich dies anders dar. Meine Eltern wollten ein Kind und bekamen mich. Gott wollte sich, so Schelling, verobjektivieren (um sich selbst zu erkennen) und ‚bekam‘ diese Welt (vgl. Schelling 1975, S. 73 f.). Wie sieht es mit der Werkanalogie aus? Der Künstler objektiviert in seinem Werk sich, sein Können, seine Gedanken, ja sein Wesen. Er gibt dem Werk seinen Geist mit. Aber natürlich ist sein Werk nicht er, sondern eben sein Werk. Es ist das andere seiner selbst. Am Ende gibt der Meister sein Werk aus der Hand (und der Kritik preis). Analog ist es mit der Schöpfung. Sie ist nicht Gott selbst. Schelling sagt, sie geht hervor aus dem Grund, dem was in Gott nicht Gott selbst ist. Das was in Gott Gott selbst ist hingegen, dass Allgemeine, das Vernünftige, bleibt in Gott zurück. Die Schöpfung selbst ist zwar Werk der Vernunft und in diesem Sinne vernünftig, aber sie ist nicht die Vernunft selbst. Schöpfung wird auch verstanden als Sich-Separieren des Einzelnen vom Allgemeinen durch Verstofflichung. In diesem Sinne ist sie Entstehung des Unwesentlichen aus dem Wesentlichen. Auch hier gibt es eine Analogie zwischen Schöpfung und Zeugung hinsichtlich des damit verbundenen Zufalls. So wie Gottes Wille zur Schöpfung der Welt, geht der allgemeine Wunsch nach dem Kind der konkreten Geburt vorher. Das ist natürlich hoch spekulativ. Die Geburt eines bestimmten Kindes ist jedenfalls ein schönes Beispiel für Hegels Zufallstheorie, die besagt, dass Zufall das Besondere des Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen ist. Allgemein ist der Wunsch nach dem Kind, besonders die in seiner Folge geborene konkrete Person.¹² In diesem Sinne ist es wahrer Zufall, wenn Einzelnes sich zu Allgemeinem gesellt.

Schluss Schellings Rede von der Schöpfung als Zufall meint indes nicht, was Scientisten meinen, wenn sie in einem darwinistischen Weltbild alles als zufälliges Produkt von zufallsgenerierenden Prinzipien, etwa Mutation und Selektion erklären. In

12 Andererseits zeigt es aber auch noch einmal die Grenze von Hegels Theorie, die Besonderheit nur als Privation begreifen kann. Man wird der natürlichen individuellen Besonderheit von Personen nicht gerecht, wenn man sie so (also als Privation) versteht. Individualität ist zwar Zufall, aber kein Mangel. − Anders ist es mit dem von Hegel ebenfalls diskutierten Eigensinn bzw. Eigenwillen bestellt, also der unvernünftigen Bestrebung, sich gegen die Vernunft bzw. das Allgemeine zu stellen. Sie ist tatsächlich privativ.

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einem materialistischen Weltbild ist kein Platz für Zufall. Wie bereits Aristoteles zeigt, muss am Anfang eines Zufalls Vernunft oder doch wenigstens ein strebendes Prinzip (eine Natur) stehen, da er nicht anders verstanden werden kann denn als Nebenfolge eines (vernünftigen) Strebens. Dies muss nicht nur akzeptieren, wer einzelne Handlungen, sondern auch, wer die Welt als ganze betrachtet. Gerade wer den Lauf der Welt als echten Zufall auffasst, müsste also zugleich unterstellen, dass sie (unbeabsichtigte) Folge eines (vernünftigen) Strebens ist, und also ein solches Prinzip an den Anfang stellen. Aristoteles hält diese immerhin für möglich. Er schreibt hierzu: „Wenn also schon wirklich Ursache dieses Himmelsgewölbes der Zufall wäre, so wäre es immer noch nötig, dass vorher erst die Vernunft Ursache wäre und die Natur, sowohl von vielen anderen Dingen, als auch von diesem Weltganzen.“ (Aristoteles, Physik 198a) Auch ein subjektiver Idealismus nach dem Vorbild Kants und Fichtes, kann ontologischen Zufall nicht begreifen. Für ihn ist Zufall nur als etwas Unvorhersehbares, also als ein epistemischer Zufall zu verstehen. Aus seiner Perspektive sind Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit nicht zu unterscheiden. Erst ein objektiver Idealismus, wie Schelling ihn vertritt, vermag dies. Schelling stellt ein vernünftiges Subjekt an den Anfang der Schöpfung, einen nach Vorbild der Trinitätsstruktur in sich subjekt-/objekthaft bzw. nach Akt und Potenz gegliederten Schöpfergott, der sich aus freier Güte in die Welt entäußert, um so in heilsgeschichtlicher Absicht in seinem Sohn sich selbst und den Menschen offenbar zu werden. Schon auf dem Weg dorthin, d. h. auf den verschiedenen Stufen des Seins, zeigt sich die göttliche Subjektivität, z. B. im Licht, im Leben und im Wissen. Auf diese Weise sind Freiheit und Streben von vornherein in der Welt − und damit die Möglichkeit von Zufall. Auf diese Weise gelingt es Schelling, Zufall noch grundsätzlicher verständlich zu machen, als dies Aristoteles möglich war. Aristoteles kann, da er keine Schöpfungslehre ausarbeitet, die Möglichkeit der Entstehung und Existenz freier strebender Lebewesen nicht erklären, sondern muss deren Existenz als gegeben voraussetzen. Mithin kann er Zufall, der in seiner Ontologie als Nebenfolge des Strebens der Lebewesen in die Welt kommt, nur als Phänomen der Physik bzw. Naturphilosophie behandeln, nicht aber als eines der Metaphysik bzw. Theologie. Fügung und Schicksal sind naturphilosophisch jedoch vom blinden Zufall nicht wirklich zu unterscheiden, sondern nur auf die von Aristoteles vorgeführte äußerliche Weise, also mit Blick auf den Nutzen, den sie bringen. Insbesondere ihre moralische Beurteilung muss willkürlich erscheinen. In Schellings Philosophie hingegen wird diese Unterscheidung verständlich. Im guten Zufall hat das Göttliche einen Platz in unserem Leben. Zufällige Ereignisse haben für sich betrachtet keine nachweisliche innerweltliche Ursache. Sie sind weder unmittelbare Folge einer beabsichtigten Handlung noch eines le-

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bendigen Naturstrebens oder eines unbelebten Mechanismus. Dies schließt indes nicht aus, dass es eine göttliche Ursache gibt, die das Zusammentreffen der voneinander unabhängigen Ursachen arrangiert.¹³ Diese Betrachtung ermöglicht es, den guten Zufall nicht nur als bloße Beliebigkeit, d. h. als blinden Zufall (automaton) zu begreifen, sondern als Fügung. Die eigene Individualität, das Entstehen von Freundschaften, das gute Sich-finden von Amt und Amtsträger, zufällige Entdeckungen und Erfindungen oder das rechtzeitige Erscheinen eines Retters in der Not können so interpretiert werden. Dies ist nicht als Prädestination zu verstehen. Im Gegenteil, Fügung ist in ihrem Zustandekommen auf menschliche Tüchtigkeit und Anstrengung angewiesen, zu der sie sich einstellen kann. Dafür gibt es keine Garantie, aber man kann darauf seine Hoffnung gründen und jedenfalls durch sein am Guten orientiertes Tun dafür Sorge tragen, dass Fügung nicht verunmöglicht wird (vgl. Tegtmeyer 2012). Jesus vertritt eine Ethik, die ganz offensiv Fügung in die Handlungsorientierung einbezieht, in der der richtige Umgang mit dem für uns Unverfügbaren gelehrt wird und die explizit den guten Zufall ermöglichen helfen soll. Man sollte nicht zu erzwingen versuchen, was man nicht erzwingen kann, da es sozusagen einer Zuarbeit des Schicksals bedarf. Andererseits sollte man den guten Zufall nicht durch völlige Tatenlosigkeit oder durch vorschnelles, gedankenloses oder böses Tun verunmöglichen. Auch muss man natürlich die sich bietenden Möglichkeiten sehen und ergreifen. Jesus’ Worte: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch aufgetan“ (Matthäus 7,7), sein Appell an unsere Versöhnungs- und Hilfsbereitschaft, seine Aufforderung dazu, andern zu vertrauen, ihnen die Schulden zu erlassen und mit ihnen zu teilen, insbesondere aber sein berühmtes: „Sorgt euch nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen“ (Matthäus 6,34), sind in diesem Sinne zu verstehen.¹⁴

13 Menschen sind zwar frei, sich zu entscheiden, was sie tun und was sie lassen wollen, aber nicht darin, was ihnen zu tun in den Sinn kommt. Wünsche und Einfälle stellen sich, wie jeder aus seiner Selbstbeobachtung weiß, weitestgehend von selbst ein und lassen sich, wenn man so will, als göttliche Einflüsterung verstehen. Deshalb ist der Mensch nichtsdestotrotz verantwortlich für das, was er tut. Nicht jeder Einfall ist gut. Die sechste Vaterunserbitte: „Und führe uns nicht in Versuchung“ hat gerade dies zum Thema. Es liegt bei uns, einen Einfall als guten oder schlechten zu erkennen und ihn in die Tat umzusetzen bzw. es zu lassen. 14 Es ist unvernünftig, die Zukunft über ihre ernsthafte Vorbereitung hinaus garantiert sehen zu wollen, lehrt z. B. auch Friedrich Kambartel (Kambartel 1994, S. 96). Kambartels Ratschlag kann allerdings durch nichts gerechtfertigt werden, wenn er vor einem säkularen Hintergrund gegeben wird. Dazu aufrufen, auf den guten Lauf der Welt zu vertrauen, kann nur, wer wie Jesus mit Vollmacht spricht (oder auf ihn als den Bevollmächtigten verweisen kann). Ohne

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Bibliographie Aristoteles (1995): De Interpretatione. In: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 1. Hamburg: Meiner. Aristoteles (1988): Physik (A). Hamburg: Meiner. Aristoteles (1967): Physik (B). Berlin: Akademieverlag. Aristoteles (1988), Physik (C). In: Digitale Bibliothek. Philosophie, Berlin. Boëthius (2004): De consolatio philosophiae. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler. Brentano, Franz (1862): Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles. Freiburg: Herder’sche Verlagshandlung. Chesterton, Gilbert Keith (1962): Menschenskind. Freiburg: Herder. Eisler, Rudolf (1904): „Zufall“. In: Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. (http://www.textlog.de/eisler_woerterbuch.html). Frede, Dorothea (1970): Aristoteles und die „Seeschlacht“. Das Problem der Contingentia Futura in De Interpretatione 9. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hegel, G.W.F. (1996): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kambartel, Friedrich (1994): „Über die Gelassenheit. Zum vernünftigen Umgang mit dem Unverfügbaren“. In: ders: Philosophie der humanen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1993): Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart: Reclam. Psarros, Nikos (2004): „Zufall“. In: Der Brockhaus Philosophie. Ideen, Denker und Begriffe. Mannhein/Leipzig: Brockhaus. Schelling, F.W.J. (1975): Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Stuttgart: Reclam. Schelling, F.W.J. (1968): Zur Geschichte der neueren Philosophie. Leipzig: Reclam. Stekeler-Weithofer, Pirmin (1992): „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8. Basel: Schwabe. Stekeler-Weithofer, Pirmin (2006): „Wer ist kreativ, mein Gehirn oder ich? Wie Ausdrucksweisen die Debatte um den freien Willen in die Irre führen“. In: Günther Abel (Hrsg.): Kreativität. Hamburg: Meiner, S. 667 – 690. Tegtmeyer, Henning (2012): „Braucht Hoffnung Gründe? Ernst Bloch über das Hoffen als Affekt und Tugend“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60, 1, S. 31 – 48.

diese Vollmacht kommen Sätze wie: „Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet“ oder „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen“ einer Verleitung zu gefährlichem Leichtsinn gleich. Vor einem säkularen Hintergrund kann man verantwortungsvoll allenfalls Ratschläge des Geistes: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“ geben.

Teil 5: Wahrnehmung und Wahrheit

Henrike Moll

Ontogenetic precursors of assertion and denial Der Mensch ist nicht ein Tier, das sprechen kann, sondern seine Sprache ist die Manifestation einer von der des Tieres unterschiedenen Seinsweise. F. J. J. Buytendijk, 1958, S. 84

A common idea among philosophers and linguists is that the critical difference between human and animal cognition lies in the ability to state and negate propositions. One variant of this idea was recently posited by Reinhard Brandt in his book “Können Tiere denken?”. What I will argue and provide evidence for in this paper, is that there are many dramatic differences between human and animal cognition beyond and prior to making judgments. Long before children have refined their conceptual capacities to a degree that allows them to state explicitly or deny propositions, their cognition differs drastically in all kinds of ways from that of animals. The ability to string conventional symbols together with the intent to claim that things are thus-and-so probably does not emerge before toddlerhood, and a full apprehension of the predicates “true” and “false” is not in place before school-age (Olson, 1999). But even infants perform various early linguistic, but also quasi- and pre-linguistic acts that can be seen as precursors to judgments for which there are no analogs in animals. Judgments are thus only the tip (or some other part) of the iceberg of unique human cognition. First, I will take a look at pointing gestures and early verbal productions dubbed “holophrases”, both of which emerge during infancy. These referential acts, which are often used in combination, can be regarded as “proto-declaratives” (Bates, 1976) because the child points out something for us to attend to as a topic. Even though subject and predicate are not yet differentiated, it is here that the stage for predication is set. These efforts to engage other people in joint attention are just as peculiar to humans as are fully developed, structured propositions. Second, I will trace the development of proto-negations such as rejections, refusals, prohibitions, references to disappeared or missing objects (“All gone!” in English, “Alle-alle” or “Weg!” in German) and lack of success (“Doesn’t work!”, “Doesn’t fit!” in English; “Geht nicht!”, “Passt nicht!” in German). Even though animals reject things and can refuse actions, there are marked differences in how rejection and refusal is expressed in humans compared to animals. It is here that I will also disagree with a common claim that negation is beyond the scope of what can be achieved by pointing. As will be shown, young children

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often point to locations to communicate what has disappeared, is currently absent, or expected to appear there in the near future. Finally, I will suggest that one begins to appreciate the whole panoply of differences in cognition and perception between humans and animals, which reflect distinctive ways of viewing the world or environment and acting in it. In line with the quote from Buytendijk, we might be well-advised to stop looking at humans as animals with language, concepts, judgment or negation, and instead conceive of the ability to use concepts and affirm or deny propositions as manifestations of the human mode of “operating”, or, less mechanistically put, form of life. It might thus be time to give up the quest for the one unique feature of human cognition, and instead try to get a handle on the distinct ways in which members of the various species navigate the social and physical world.

1 Declarative pointing and holophrases Years before children explicitly state positive or negative propositions (S is (not) P), and linguistically express various attitudes towards them (“I believe that” or “I deny that”), they display a range of “objectifying” behaviors by which they invite others to share attention. At around one year, infants begin to point out and show objects (i. e., things, events, situations) to people in their vicinity. Some, but not all instances of pointing are imperatively motivated, i. e., to get the adult to fetch the indicated object for the child or perform some other instrumental action with it. But infants often make use of this gesture simply to initiate a joint attentional episode. A proto-declarative motivation is particularly evident when, e. g., not a thing, but an event is pointed out, when the object is well outside of everyone’s potential reach (the plane in the sky) or in the child’s possession already (e. g., something she holds in the other hand). But even if the referent is at short or mid-distance, thereby making imperatives at least possible, declarative points are easily recognized. As opposed to imperatively motivated gestures, proto-declarative ones tend to be vocally accompanied by one prolonged sound with rising pitch instead of a series of short vocalisations (Tomasello, 2008), and by a “sharing look” or smile towards the co-attender (Carpenter, Nagell, & Tomasello, 1998) compared to a plaintive expression in the imperative case. Animals, including the great apes, do not spontaneously show this kind of referential behavior. Human-raised apes can learn to point imperatively in order to get their cooperative human addressee to provide them with things they desire (Moll & Tomasello, 2007), but have not been reliably observed to use the point-

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ing gesture proto-declaratively—neither for conspecifics nor for humans (but see Leavens, 2012). Subject and predicate are undifferentiated in the pointing gesture, it lacks propositional structure and is clearly not declarative in any full sense. In contradistinction to a declarative statement, a gesture must be produced within the visual field of the addressee and has to be spatially (but not necessarily temporal, as will be shown below) contiguous with the referent. Neither the presence of any recipient nor spatial contiguity with the referent is required for sentences. For these and other reasons, such as the fact that the pointing gesture cannot be right or wrong in the way a sentence can—even though it can be misleading or lack the common ground that needs to be shared by producer and recipient in order for the point to be meaningful—there is no denying of the qualitative differences between gestures and assertions. However, pointing and equivalent ways of establishing joint attention set the stage or provide “the context for the development of explicit predication” (Bruner, 1977, p. 287). More than just highlighting a tempo-spatial position like a flashlight, pointing is a “quintessential act of reference, that is, an act by which one human being singles out an object of contemplation and offers it for another human being to consider” (Bates, O’Connell, & Shore, 1987, p. 161). Through pointing, I identify something for us to attend to. My pointing thus presents us with a topic, an object of predication. In fact, infants get impatient and fussy when their points are not taken up by others and fail to be followed by a joint attentional episode (see Liszkowski, Carpenter, Henning, Striano, & Tomasello, 2004). When pointed out, a ’thing’, i. e., something that is fully tangled up in the infants’ individual activities and explorations, is transformed into an object of joint contemplation or attention (Werner & Kaplan, 1963). Animals perceive and act on things, and primates as well as some species of bird know how to use material in order to access other, desired out-of-reach things or to bring about certain effects. But only humans perceive and attend to objects qua entities to which they can jointly relate with others in triangulation. Something similar is achieved when infants and toddlers produce singleword utterances. They may say “Truck!”, “Off!”, or “There!” when, e. g., a lorry is driving by, her parent just took off their shoe, or the family dog comes running into the room. These one-word utterances (as well as combinations of such utterances with simultaneous manual gestures) have been termed holophrases because they capture the entire situation or scene at once, which would usually afford a whole sentence (Nelson, 2007). The child does not use the expression as a simple label for a particular object or relation, but refers to the whole scene by naming an important part or aspect of it. As in the gesture, subject and predicate are not differentiated. The deixis that is achieved manually via the gesture is ach-

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ieved vocally with the word. As Heal (2005, p. 39) notes, “Words are,…, an immensely delicate and useful way of pointing”. But unlike gestural references, verbal expressions construe the situation under a particular conceptual perspective. One-word utterances thus in addition show the advent of the child’s conceptual abilities. One should not to “adultomorphize” these expressions by elaborating them and putting into the child’s mouth full sentences that mature languageusers would utter, e. g., “A truck is suddenly driving by”, “The shoe just came off my foot” or “Jack, the dog, just entered the room”. But irrespective of which interpretations seem justified and age-appropriate, it is obvious that the child communicates changes in or aspects of the environment that she considers worthy of joint attention. Holophrases are not limited to one-word-utterances. Toddlers sometimes utter entire sentences without uniting independent segments in grammatical order. Instead, the child reproduces unparsed adult expressions that she heard others use in previous instances of the same kind—situations which the child perceives as similar to the one that she currently finds herself in. For example, when a 2-year-old hears a car pulling up the driveway, followed by the sound of a door opening, she may exclaim “Mommy’s home!”, echoing a speech act she has heard her father use in prior cases. She may still be unable to modify the constituents separately, and say for instance, “Mommy is returning” or “My mother is home”. So even though the child applies the sentence appropriately (under the right circumstances), she does not manifest the combinatorial skill of logically connecting discrete units. This is particularly evident when, e. g., the child fails to replace the second or third person pronoun with the first person pronoun when speaking of herself. But despite the inflexibility and rigidity of these “frozen phrases” (Tomasello, 2003), they do not compare to, for example, the vocalizations one can train a parrot to produce. While parrots typically mimick sound with no referential intent or relation to what is currently going on around him (though note that Irene Pepperberg’s (2000) grey parrot Alex was able to “report” features of objects presented to him), children spontaneously make use of expressions to draw attention to objects and salient changes in their surroundings that they consider relevant to be shared with others. In a process involving both the breaking-down of longer holophrases as well as the synthesis of words to form entire sentences, the child gradually learns how to make full-fledged assertions or judgments. This developmental progression is very much in line with Pirmin StekelerWeithofer’s idea that “reproduction precedes representation” (personal communication). The proto-declarative performances we have looked at clearly show that fullblown judgments do not emerge ex nihilo and are not the first actualizations of

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human-specific cognition. Many months before children make assertions with subject-predicate distinction and are conscious of the possibility for propositions to be true or false, infants and toddlers place objects in the focus of joint attention, express a desire to share them with other persons, and produce holophrases which, despite their lack of propositional structure, are early imitations of more mature, yet-to-be developed, competences essential for thinking with propositions.

2 Forms of negation prior to denial Negation is just as central to language as it is absent from nature. It is found in all human communication systems (Horn, 1989), and has been suggested to be “the defining characteristic of the human species” (Horn & Kato, 2000, p. 1). While animals depend on what is presented to them in their perceptual field, humans can use language to say what is not. Truth-functional denial of propositions is surprisingly difficult for children to master and only marks the final step in a sequence of various “families of meaning” (Pea, 1980, p. 161) of children’s early productions of negatives such as “no” and “not”. Different taxonomies have been proposed, but there seems to be agreement that children progress from an understanding and use of negatives as expressions for rejections, refusals, and prohibitions to disappearances and unfulfilled expectations (e. g., failures), and finally truth-functional negation or denial. The first acts of negation or proto-negation are affective and volitional: The child expresses a negative attitude to an object she is offered or an action she is expected to perform (see Dimroth, 2010, for a review). Before they speak, infants push undesired objects out of the way, turn their heads away, and actively protest as a way of demonstrating their unwillingness. At around one year of age, they shake their heads to express rejection and refusal. The first verbal negations follow soon thereafter, when infants say “No!” to reject objects and refuse or prohibit acts, followed by negative holophrases such as “Don’t want to!”. Unlike, e. g., domesticated animals such as dogs, which may also reject their food or refuse to show responses they were trained to perform (e. g., when commanded to “sit” or “stay”) human infants express indignation and a sense of being wronged by the one imposing a demand or making a request. They take offense and act as victims. Pouting, crying, stamping one’s feet and folding one’s arms in front of one’s chest, throwing oneself on the floor, and giving a parent “the evil eye” are all communicative ways of expressing that the expectation towards the child is considered mean or unjust. They also convey that the offer or request shall not

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be repeated. Compared to those of animals, human rejections and refusals are thus communicative and confrontational. We see here early manifestations of what Strawson (1962) called reactive attitudes. The second kind of proto-negation that surfaces at around 1.5 years of age, are references to disappearances. Disappearance and reappearance are among the first things that parents and infants pick up in their “early conversations”. An object’s disappearance is exciting and constitutes a salient change in the environment, even when the disappearance was highly predictable and expected, as in peekaboo and other “hiding” games. Imagine an infant looking at a water fountain in a park. As it turns 5 pm, the fountain is shut off and the water goes down in the basin. The child points to where the fountain was and says “Gone!” In contrast to rejections and refusals, in which the child reacts negatively to the immediate presence of something, she has to hold the object in mind to refer to its disappearance. A sense of object permanence is thus a prerequisite for this kind of proto-negation. These behaviors also show that there is some room for negation, or at least proto-negation, in pointing. The child points to the sky where the fountain no longer is. At around the same time, infants point to places from which objects are missing. For instance, an infant might point to the empty cookie jar to indicate the absence of cookies—maybe exclaiming “All gone” as she points. In contrast to the fountain example, the child did not witness anything disappear. It is thus not the change from presence to absence that captures her attention. In both cases, the referent is not the locus to which the child points (the sky or the cookie jar) but the object that disappeared or is absent from it. There is at least one further type of situation in which children point to what is not there. Let us take another look at the example cited above with the child’s mother returning home. In anticipation of her mother appearing there in a few moments, the child may already point to the door as she hears the car pulling up the driveway. Here also, the referent is not the door, but the expected near future event of her mother coming in. We have thus identified three different kinds of scenarios in which children point to absent objects: a) disappearance, in which children point to something that is no longer present, b) typical location: the child points to something that is usually located at the indicated place but currently absent, and c) anticipated future events. I would therefore argue that it is possible to point to things and events that are currently absent, as long as the gesture is spatially contiguous with an object’s past, typical, or future location. Also in the second year of life, infants begin to verbalize failures. For example, a 15-month-old might attempt to push a wooden block through a hole that is cut out for a different geometrical shape, thus resulting in a failed attempt. The

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infant then raises her arms to her shoulders, with the palms of her hands facing up and outward, exclaiming with a tone of (feigned) disappointment: “Doesn’tfit!” These combinations of gestures and verbalizations are produced when, despite all efforts, an intention remains unfulfilled and a problem unsolved. Just as early utterances like “Mommy’s home” are frozen phrases instead of full-blown positive assertions, utterances like “Doesn’t fit” or “Doesn’t work” are not fullblown negative assertions either, but unparsed negative expressions. At around 2 years, children use negative particles when they disagree with what has been said. For example, when a person says “This is an apple!” while pointing at a car, children will protest and exclaim “No!” (Pea, 1980). Elliptical negations like these show that the child rejects her interlocutor’s misuse of language. (They will do the same when presented with simple yes-no-questions that afford a negative answer: “Is this an apple?” “No.”) These early forms of denial are thus expressions of a negative attitude towards preceding statements, but they do not yet allow for truth-functional negation. In fact, it has been demonstrated that children below the age of 6 years make wrong judgments when they are asked to evaluate the truth of negative propositions (Olson, 1999). For instance, when presented with a picture showing a man wearing a hat, 5-year-olds judge the sentence “The man has no hat” as true (or correct, or ok). When shown a picture of a cat, they judge the sentence “This is not a dog” as false (incorrect, or not ok). It seems that rather than assessing the truth or falsity of the proposition, these younger children express their disagreement or agreement with the speaker (“YES, the man DOES wear a hat” and “NO, it’s NOT a dog”) or their approval or disapproval of the positive predication (the hat-wearing or dog-being). At any rate, the findings suggest that truth evaluations of statements are a fairly late achievement in conceptual-linguistic development.

3 Concluding remarks What I hope to have shown is that many behaviors that ontogenetically precede full-fledged assertions and their negations are just as specific to humans as these manifestations of mature thought. Not only judgments and denials are absent in the animal kingdom, but so are proto-declarative gestures and holophrases, as well as refusals, rejections or prohibitions that are brought forth with indignation and protest. Dogs certainly do not affirm or deny propositions, but they also do not shake their heads and pout at their owner when he puts them on the leash. The multitude of differences suggests that it might be time to terminate the anthropological quest for the one missing link between animals and humans, as

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elegant as such a ‘solution’ might appear. As Ryle (1962/2009) says, it seems “over-stingy” (p. 432) to equate the critical difference with the ability to deal with propositions. Importantly, the reason why one should stop trying to extract the differentia specifica is not the same as the assimialionist’s who sees human and animal cognition as lying on a continuum. Instead, my goal was to point out drastic differences that one finds from the very beginning in ontogeny. In psychology, it was Vygotsky who showed how a child, because she is human, does not develop her perceptual and attentional capacities in direct continuation of those found in apes because her dawning conceptual understanding alters everything else along with it. In philosophy, Herder (1772/1966) made a similar point when he stated that “Der Unterschied ist nicht in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswickelung aller Kräfte” (pp. 26/27). Philosophical anthropology and comparative psychology today should press further in the direction outlined here.

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Henning Tegtmeyer

Anschauung bei Husserl 1 Die Differenzthese Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen animalischer und humaner Wahrnehmung. Tiere nehmen ihre Umwelt wahr; Menschen können ihre Umwelt anschauen. Das ist eine traditionelle philosophische These, deren Geschichte bis in das platonische und aristotelische Denken zurückreicht. Nennen wir sie die Differenzthese. Im philosophischen Idiom des Deutschen wurde diese TierMensch-Differenz durch Kants Trennung zwischen Wahrnehmung und Anschauung auch terminologisch fixiert.¹ Engagierte Fürsprecher hat die These in Franz Brentano, dem Begründer der Phänomenologie, und in seinem Schüler Edmund Husserl gefunden, und das in einer Zeit, in der die Erkenntnistheorie begonnen hat, sie aufzugeben. Seit dem Siegeszug des Empirismus und des mit ihm neu erstarkenden Materialismus im 19. Jahrhundert sowie des Naturalismus im 20. Jahrhundert, der beide Strömungen in sich vereint, gerät die Differenzthese nämlich zunehmend unter Druck. Phänomenalisten und Sinnesdatentheoretiker, direkte Realisten und radikale Konstruktivisten, Behavioristen, Repräsentationalisten und Funktionalisten, kurz Anhänger stark divergierender Richtungen innerhalb des modernen Naturalismus halten übereinstimmend die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Anschauung für leer und die Differenzthese für falsch. Vor dem Hintergrund einer evolutionistischen Sicht auf das Verhältnis von Mensch und Tier nehmen sie lediglich graduelle Unterschiede zwischen humaner und animalischer Kognition an. In diesem Sinne wirft etwa Tyler Burge der traditionellen Philosophie vor, die subjektiven Voraussetzungen für die Wahrnehmung der je eigenen Umwelt „überintellektualisiert“ zu haben.² Er richtet diesen Vorwurf sogar gegen den Logischen Empirismus des 20. Jahrhunderts. Gegen Funktionalisten wie Daniel Dennett beharrt er zwar auf einer Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und anderen, primitiveren Formen der Reiz- und Informationsverarbeitung. Wahrnehmung habe nämlich, anders als diese, einen repräsentationalen Gehalt; sie sei ein Akt des Bewusstseins (mind). Das ändere aber nichts daran, dass die Grenze

1 Vgl. auch Stekeler-Weithofer 2010. 2 Burge 2010, S. xi.

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zwischen Wahrnehmung und einfacher Reizverarbeitung schon auf einem sehr elementaren Niveau animalischen Lebens gezogen werden müsse: As noted, this border – which demarcates origins not only of perception, but also of representation and objectivity – begins at more primitive levels than philosophy has traditionally recognized.³

Aus dieser Behauptung folgt eine klare Absage an die Differenzthese. Bereits Tieren, die über eine ausdifferenzierte Sinnlichkeit verfügen, attestiert Burge das Vermögen zu einfachen Formen objektiver Wahrnehmung, die auch die Grundlage menschlicher Erkenntnis ist.Wenn es daher eine Mensch-Tier-Differenz gibt, dann ist sie aus Burges Sicht nicht im sinnlichen Weltbezug zu suchen, sondern in den höheren, begrifflich-theoretischen Formen der Repräsentation. Nicht durch Anschauung unterscheidet sich nach Burge der Mensch vom Tier, sondern erst durch Denken und Symbolgebrauch. Für einen Verteidiger der Differenzthese stellt eine solche Gleichsetzung von humaner Anschauung, Intuition, mit animalischer Perzeption eine Herausforderung dar. Denn sie zwingt ihn zu erläutern, worin der Unterschied zwischen – scholastisch gesprochen – Perzeption und Intuition, Wahrnehmung und Anschauung überhaupt besteht. Es scheint sehr berechtigt, mit Burge und anderen Naturalisten darauf hinzuweisen, dass die Sinnesorgane und Sinnesvermögen des Menschen sich nicht prinzipiell von denen höherer animalischer Spezies unterscheiden. Einzelne Sinne sind bei zahlreichen Tierspezies leistungsfähiger als beim Menschen, so der Geruchssinn bei den Hundeartigen, der Sehsinn bei Bussarden und Falken, das Gehör bei diversen Arten. Andere Spezies verfügen über dem Menschen gänzlich unzugängliche Sinne; man denke an Fledermäuse und Tauben. Aber das sind nur graduelle sinnesphysiologische Unterschiede, wenn auch zum Teil erhebliche. Vielleicht kann man sagen, dass die verschiedenartigen Sinneswahrnehmungen des Menschen in einem besonders ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, so dass es keine Dominanz eines Wahrnehmungsmodus vor den anderen gibt, anders als bei den stärker spezialisierten und daher in ihrem Wahrnehmungsvermögen häufig einseitigen Tierspezies.⁴ Das mag man als Indiz für eine bereits physiologisch fundierte Disposition zu objektiver Wahrnehmung ansehen. Aber das ist für sich genommen noch kein starker Hinweis auf eine prinzipielle Differenz des sinnlichen Gegenstands- und Weltbezugs.

3 Ebd., S. xii. 4 Das lehrt mit anderen Thomas von Aquin; vgl. STh I q. 91 a. 3.

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Doch kann man einfach annehmen, dass das Denken beim Menschen so äußerlich zu einer ansonsten animalischen Wahrnehmung hinzutritt, wie es Burge und andere Naturalisten nahelegen? Dann scheint es, als wäre die Beziehung zwischen menschlichem Wahrnehmen und menschlichem Denken letztlich kontingent. Aber warum haben dann nicht auch animalische Spezies ein analoges Denkvermögen ausgebildet? Manche Naturalisten gehen so weit, Tieren zumindest primitive wahrnehmungsbezogene Gedanken zuzuschreiben,⁵ z. B. einem Hund, der ein Eichhörnchen hetzt, den Gedanken: ,Das da ist ein Eichhörnchen‘. Genau genommen kann diese Formulierung zwar nicht den unterstellten Gehalt des angenommenen Hundegedankens treffen, da Fürsprecher animalischen Denkens nicht annehmen, dass Tiere über Universalien, also über Allgemeinbegriffe wie den des Eichhörnchens verfügen. Sie gehen aber davon aus, dass der Hund über ein primitives, logisch ungegliedertes Äquivalent zu dem artikulierten Gedanken ‚Da ist ein Eichhörnchen‘ verfügt und dass dieser primitive Gedanke das Verhalten des Hundes verursacht. Aber mit diesem Zug wird nun die Grenze zwischen Wahrnehmung und Denken aufgehoben oder zumindest so stark verwischt, dass auch zwischen einem Wahrnehmungsgehalt und einem Gedanken nur noch eine graduelle Differenz bleibt. Diese Differenz wird obendrein in sich rätselhaft. Denn wenn humanes, logisch artikuliertes Denken sich dadurch auszeichnen soll, dass darin Universalien vorkommen, dann fragt sich, warum unter allen Lebewesen nach allem, was wir wissen, nur Menschen die Fähigkeit entwickelt haben, Universalien zu bilden und auf Wahrnehmungsgehalte zu beziehen. Naturalisten sind vielleicht geneigt zu erwidern, dass die Bildung von Universalien von der Ausbildung einer artikulierten, propositional gegliederten Sprache abhängt, und Sprachentwicklung als solche für eine kontingente naturgeschichtliche Tatsache zu erklären. Aber dagegen lässt sich zweierlei einwenden: Erstens wird so das Problem lediglich verschoben und nicht gelöst. Mehr noch, durch die Verschiebung vergrößert sich das Problem, da sie uns nötigt, eine spezifische Großentwicklung der menschlichen Naturgeschichte als kontingenten Vorgang aufzufassen. Zweitens drängt sich die Frage auf, warum selbst Tiere, die ihr ganzes Leben in Gemeinschaft mit Menschen verbringen, es niemals weiter bringen als zu gewissen Ansätzen von zumindest passiver Sprachbeherrschung, teils rudimentär, wie das von Hunden

5 Vgl. etwa Hans-Johann Glock, „Begriffliche Probleme und das Problem des Begrifflichen“, in: Perler/ Wild 2005, S. 153 – 187, S. 161 ff. Ähnlich äußert sich John Searle, vgl. ders., „Animal Minds“, in: Midwest Studies in Philosophy 19 (1994), S. 206 – 219. Eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel „Der Geist der Tiere“ abgedruckt in Perler/Wild 20005. Das von Glock verwendete Beispiel ist von Norman Malcolm übernommen. Für den hier verfolgten Zweck genügt die oben vorgestellte vereinfachte Version.

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bekannt ist, teils etwas entwickelter, wie es von unter Menschen aufgewachsenen Schimpansen berichtet wird. Liegt das wirklich allein an unterschiedlichen Hirngrößen, wie manche Kognitionsbiologen behaupten? Die Differenz zwischen animalischer und humaner Kognition bleibt von einer solchen ‚Erklärung‘ jedenfalls unberührt. Wir bekommen eine Erklärung, verstehen aber nicht das dadurch zu Erklärende. Ein vieldiskutierter Vorschlag John McDowells lautet nun, die Differenzthese aufzugreifen und von einem tatsächlich fundamentalen Unterschied animalischer und humaner Wahrnehmung auszugehen. Dieser Unterschied bestehe darin, dass humane Wahrnehmung von sich aus konzeptuell geformt sei.⁶ Das heißt, wir Menschen nehmen, so die These, unsere Umwelt immer schon in universalen Formen wahr; wir sehen Menschen, Bäume, Hunde, etc., und nicht bloß Sinnesreize, Tropenbündel oder formlose Objekte. Wahrnehmungen und Wahrnehmungsurteile sind bei uns Menschen zwar unterscheidbar, aber die Wahrnehmung enthält von sich aus schon die Formen und Gehalte, die dann als Elemente in die Urteilsbildung eingehen. Nennen wir dies die konzeptualistische These. Über animalische Wahrnehmung lässt sich von diesem Standpunkt aus dann nur negativ sagen, dass ihr dieses formende Merkmal abgeht. Auf diese Weise stellt McDowell übrigens auch, anders als Kant, auf den er sich beruft, eine untrennbare Einheit von menschlicher Wahrnehmung und menschlichem Denken her. Menschen denken so, wie sie denken, weil sie so wahrnehmen, wie sie wahrnehmen, und umgekehrt. McDowell nimmt für diese These eine phänomenologische Rechtfertigung in Anspruch, d. h. eine Bestätigung aus der Vollzugsperspektive des Wahrnehmenden und unter Vermeidung eines view from sideways on, d. h. einer neutralen Beobachterperspektive. Aber gerade phänomenologisch lässt sich gegen die These von der prinzipiellen Konzeptualität menschlicher Wahrnehmung einwenden, dass wir auch nichtkonzeptuell wahrnehmen. So nehmen wir häufig bei dichtem Nebel oder ungünstigem Licht Objekte wahr, ohne sie deutlich genug erkennen, d. h. in begrifflichen Formen erfassen zu können. Wir sehen etwas, aber wir sind nicht in der Lage zu sehen, was es ist, was wir sehen. Dennoch sehen wir etwas; d. h. wir nehmen etwas wahr. Es scheint auch nicht zuzutreffen, dass solche Wahrnehmungen nur in einem schon begrifflich geformten Wahrnehmungsmilieu möglich wären, d. h. dass nur eine Person, die begrifflich geformte Wahrnehmungen hat, auch zu amorphen Wahrnehmungen fähig wäre. Denn nicht nur sind radikale

6 Die zunächst von ihm vertretene These, dass menschliche Wahrnehmung immer schon propositional, d. h. urteilsförmig sei, hat McDowell mittlerweile abgeschwächt. Vgl. McDowell 1994 und 2009. Diese Abschwächung erlaubt es ihm, deutlicher als zuvor zwischen Wahrnehmungsakten und Urteilsakten zu unterscheiden.

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Kaspar-Hauser-Szenarien durchaus realistisch, in denen Menschen durch ungünstige Umstände davon abgehalten werden, jemals zu einer deutlichen, begrifflich geformten Wahrnehmung ihrer Umwelt zu gelangen. Es spricht auch einiges dafür, dass ontogenetisch die Wahrnehmungsvermögen schon voll ausgebildet sind, bevor die Entwicklung des Denkvermögens einsetzt. Ein Anhänger der konzeptualistischen These wird erwidern, dass hier nur von defizienten Wahrnehmungen die Rede ist und dass der Begriff der Wahrnehmung nicht von defizienten Fällen her verstanden werden kann. Aber wenn die konzeptualistische These wahr sein soll, dann muss sie für alle Wahrnehmungsakte gelten, auch für Fälle unvollkommener Wahrnehmung. Ferner sind solche Fälle nicht notwendig auch als Wahrnehmungsakte defizient, wie die Beispiele zeigen. Noch deutlicher wird dies an Fällen der vollkommenen Wahrnehmung unbekannter Objekte, z. B. bestimmter Flechtenarten, bei denen der Unkundige nicht einmal weiß, ob es sich dabei um Lebewesen oder überhaupt um natürliche Substanzen handelt und nicht vielmehr um seltsame Oberflächenfärbungen des Untergrundgesteins. Angesichts der kategorialen Verunsicherung des unkundigen Betrachters ist eine konzeptuell geformte Wahrnehmung hier ausgeschlossen, und das bei akkurater Wahrnehmung des fraglichen Objekts. Dennoch scheint die konzeptualistische These wichtige Hinweise auf Besonderheiten menschlicher Wahrnehmung zu enthalten. Denn es stimmt ja, dass undeutliche Wahrnehmungen defizienten Modi humaner Kognition entspringen und dass die Wahrnehmung unbekannter oder gar kategorial unbestimmter Objekte⁷ kognitiv unvollständig ist, weil sie nicht in einem Erkenntnisakt terminiert. Wahrnehmung und Erkenntnis durch Wahrnehmung stehen schon aus phänomenologischer Sicht in einem Passungsverhältnis, welches genauere Betrachtung verdient. Aber der wahrnehmungstheoretische Konzeptualismus gibt nur einen Hinweis. Die Wurzel der Differenz zwischen humaner und animalischer Wahrnehmung berührt er noch nicht. Im Folgenden soll daher ein tiefer gehender Ansatz zur Verteidigung der Differenzthese erprobt werden. Anders als im wahrnehmungstheoretischen Konzeptualismus soll hier nämlich dafür argumentiert werden, dass humane Wahrnehmung als solche noch nicht konzeptuell geformt ist, sehr wohl aber durch wahrnehmungsbezogenes Denken formbar. Um das zu sein, muss sie sich grundlegend von animalischer Perzeption unterscheiden. Der Grund der Möglichkeit gedanklicher Formung von Wahrnehmungsgehalten wird hier in Formen der nichtrelationalen Wahrnehmung

7 Gemeint ist hier allein epistemische kategoriale Unbestimmtheit. Die Frage, ob ontologische Unbestimmtheit möglich ist, soll hier nicht schon vorentschieden werden. Husserls phänomenologisch fundierte Ontologie legt, wie sich zeigen wird, eine negative Antwort nahe.

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von Objekten gesucht. Eine andere Bezeichnung für nichtrelationale Objektwahrnehmung ist Anschauung. Einen solchen Begriff von Anschauung unterstellt auch Kant. Die folgende Argumentation entwickelt den Begriff der Anschauung aber nicht von Kant her, sondern ausgehend von Husserls phänomenologischer Erkenntnistheorie. Denn der Rückgang auf Husserls Auseinandersetzung mit dem Naturalismus ermöglicht uns ein tieferes Verständnis der Differenzthese, als es durch eine erneute Kantlektüre gewonnen werden kann.

2 Anschauung als erfüllte Intentionalität Husserl beschreibt Wahrnehmungsakte phänomenologisch als erfüllte Intentionen. In einem Wahrnehmungsakt ist uns ein Gegenstand in seiner gegenwärtigen Beschaffenheit gegeben, wenn auch nur in einer je bestimmten „Abschattung“,⁸ aus einer durch die Stellung des Wahrnehmenden zum wahrgenommenen Objekt bestimmten Ansicht und in einem je bestimmten und vielleicht veränderlichen Zustand, etc. Darin scheint zunächst einmal kein Unterschied zwischen humaner und animalischer Wahrnehmung zu bestehen, wie auch Husserl betont. Ein „waches“ Ich können wir als ein solches definieren, das innerhalb seines Erlebnisstromes kontinuierlich Bewußtsein in der spezifischen Form des cogito vollzieht; was natürlich nicht meint, daß es diese Erlebnisse beständig, oder überhaupt zu prädikativem Ausdruck bringt und zu bringen vermag. Es gibt ja auch tierische Ichsubjekte.⁹

In Isolation gelesen legt diese Passage eine naturalistische Lesart nahe, so als wolle Husserl bloße Sprachbeherrschung bzw. die Fähigkeit zu prädikativer Synthesis als einzige, aber der Wahrnehmung selbst externe Mensch-Tier-Differenz ansetzen. Eine solche Lesart würde aber die Gesamttendenz der Husserlschen Intentionalitätsforschung in ihr Gegenteil verkehren, deren Ergebnis gerade eine scharfe Zurückweisung des Naturalismus ist.¹⁰ Das naturalistische Missverständnis der zitierten Passage kann nur dann entstehen, wenn man die hier investierte Terminologie nicht in der von Husserl festgelegten Bedeutung nimmt. Denn die Fähigkeit, ein Erlebnis „zum prädikativen Ausdruck“ zu bringen, also die Fähigkeit zu prädikativer Synthesis, ist nicht identisch mit Sprachvermögen,

8 Vgl. zum Begriff der Abschattung Ideen I, § 3, S. 14. 9 Ebd., § 35, S. 73. 10 Vgl. das gesamte Zweite Kapitel der Ideen I mit dem Titel „Naturalistische Missdeutungen“.

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sondern fundiert es.¹¹ Fehlt einem Wesen diese Fähigkeit dauerhaft oder vorübergehend, dann unterscheiden sich seine Wahrnehmungsakte grundsätzlich von menschlichen Wahrnehmungsakten. Das ist bei auf Grund eines physiologischen Defekts aktuell oder dauerhaft nicht sprachfähigen Menschen keineswegs der Fall. Taubstumme oder unter einer Lähmung des Sprechapparats leidende Menschen können sich nicht stimmlich artikulieren, ohne dass das aber ihr Vermögen zu prädikativer Synthesis einschränken würde. Sie unterscheiden sich damit ganz prinzipiell von „tierischen Ichsubjekten“. Offenkundig müsste man hier verschiedene Fälle unterscheiden, also die Wahrnehmungsakte und Wahrnehmungsvermögen voll sprachfähiger Menschen – die sich nach dem eben Ausgeführten nicht von den entsprechenden Akten und Vermögen nicht zu äußerlicher Artikulation fähiger Menschen unterscheiden – von den Wahrnehmungsakten und -vermögen noch nicht sprachkompetenter Kleinkinder und diese wiederum von den Wahrnehmungsakten und -vermögen höherer Tiere, etc. Es spricht einiges dafür, dass die Fähigkeit zu prädikativer Synthesis in Kleinkindern zwar keineswegs mit der Geburt schon ausgebildet, aber zumindest vor dem Spracherwerb bereits voll entwickelt sein muss, damit dieser überhaupt stattfinden kann.¹² Aber das kann erst in einer genaueren vergleichenden Betrachtung differenter Wahrnehmungsvermögen geklärt werden. All diese sehr verschiedenen Fälle werden in der zitierten Passage nicht oder nur andeutungsweise unterschieden. Hier geht es lediglich darum, ganz vorläufig auf eine zentrale Gemeinsamkeit und einen zentralen Unterschied zwischen humaner und animalischer Perzeption aufmerksam zu machen. Die Gemeinsamkeit: Bei Menschen und Tieren setzt Wahrnehmung Wachheit und eine gewisse Lenkung der Aufmerksamkeit (Attentionalität) voraus; erst das ermöglicht die intentionale Erfassung eines Wahrnehmungsobjekts. Der Unterschied: Anders als bei Tieren ist menschliche Wahrnehmung so beschaffen, dass ihr Gehalt zum möglichen Gehalt prädikativer Synthesis werden kann, oder anders gesagt: Menschliche Wahrnehmungen sind gedanklich artikulierbar, animalische nicht, außer in anthropomorpher Zuschreibung. Man darf sich dabei nicht davon irritieren lassen, dass Husserl hier auch Tieren cogitationes zugesteht. Denn er verwendet den Ausdruck cogitatio nicht im engen Sinn von ‚Gedanke‘, sondern in dem sehr weiten Sinn, in dem ihn Descartes

11 Vgl. zum Begriff der Prädikation Ideen I, § 127. Der Bergriff der Fundierung wird in den Logischen Untersuchungen expliziert. Vgl. LU 2/1 III, Kap. 2, sowie John J. Drummond, „Wholes, Parts, and Phenomenological Methodology“, in: Mayer 2008, S. 105 – 122. 12 Dies entspricht in etwa der Spracherwerbstheorie des Augustinus, die Wittgenstein am Anfang der Philosophischen Untersuchungen ironisch kommentiert. Die Ironie scheint mir nicht angebracht. Vgl. Confessiones I 8, PU §§ 1 ff.

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eingeführt hat, als allgemeinen Oberbegriff für alle Arten von aktiven oder responsiven Bewusstseins- oder Gemütsregungen wie Aufmerken, Wahrnehmen, Begehren oder Fürchten. Ein Gegenbegriff dazu wäre sensatio, die bloß passive Sinnesreizung. Bereits im sinnlichen Affekt als einer bestimmten Art von Erlebnis geht beides eine Verbindung ein.¹³ Dass ein Tier zum cogitare fähig ist, soll mithin nicht heißen, dass es zum Denken fähig wäre. Bis hierher haben wir nur terminologische Klärungen vollzogen; die eigentliche Sachuntersuchung steht uns noch bevor. Dass Tiere und Menschen ihre Umwelt unterschiedlich wahrnehmen, können wir erst dann einsehen, wenn wir verstanden haben, wie sich ihre Wahrnehmungen unterscheiden. Auf dem Weg dorthin müssen wir aber zunächst die Gemeinsamkeiten noch genauer betrachten. Husserls Phänomenologie der Erkenntnis erlaubt uns beides. Wenn Husserl Wahrnehmungen überhaupt als intentionale Erfüllungsakte bestimmt, dann steckt darin zweierlei: (1) ein Moment der Fülle eines sinnlich Gegebenen, (2) ein Moment der Vollendung oder Vervollständigung einer ‚leeren‘, ‚unerfüllten‘ Intention. Was (1) betrifft, so meint die Fülle des Gegebenen den gedanklich nicht auszuschöpfenden Reichtum des präsenten Objekts, eine Eigenschaftsdichte, wie sie kein Gedanke und keine bloße Imagination erreichen können.¹⁴ In der Wahrnehmung erscheint uns der Gegenstand als „die Fülle selbst“.¹⁵ Mit (2) ist gemeint, dass in Wahrnehmungsakten Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden (können), oder allgemeiner: dass objektgerichtete intentionale Akte in Wahrnehmungen ihren Abschluss finden können. Man denke etwa an das Suchen eines Gegenstandes: Wenn man, um ein Beispiel Husserls aufzugreifen, nach dem eigenen Tintenfass sucht und es schließlich auf dem Schreibtisch stehen sieht, dann vollendet diese Wahrnehmung die Suche; man hat gefunden, was man gesucht hat. Bleibt die Suche dagegen erfolglos, so bleibt auch die Suchintention unerfüllt. Dennoch kommt es zu Wahrnehmungen; man nimmt z. B. wahr, dass der Schreibtisch ‚leer‘ ist. Die Erwartung, dort das Tintenfass zu finden, wird enttäuscht. Geht der Akt der Objektintention dem erfüllenden Wahrnehmungsakt zeitlich vorher, so spricht Husserl von einer dynamischen Einheit von Intention und Erfüllung. Fallen sie dagegen zeitlich zusammen – man

13 Vgl. Ideen I, § 75, S. 157. Husserl spricht hier auch von „cogitatio überhaupt“, um sie von näher spezifizierten cogationes wie Denk-, Vorstellungs- oder Willensakten zu unterscheiden. 14 Ein schiefer Ausdruck des Unterschieds von Wahrnehmung und bloßer Imagination findet sich in Humes These, dass Wahrnehmungen sich durch eine besondere Lebhaftigkeit (vivacity) von Erinnerungen und sonstigen Vorstellungen der Einbildungskraft unterscheiden. Vgl. Treatise I 1, Kap. 3, Enquiry II, S. 17. 15 LU 2/2 VI, § 39, S. 652.

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nimmt das Tintenfass wahr, ohne danach gesucht zu haben –, dann spricht Husserl von einer statischen Einheit von Intention und Erfüllung.¹⁶ (1) und (2) gehören wesentlich zusammen und konstituieren erst als Einheit den Vollbegriff der Wahrnehmung. Das sieht man deutlicher, wenn man an Fälle defizienter Wahrnehmung denkt, z. B. wenn ein Gegenstand einem wahrnehmenden Subjekt zwar in der Fülle seiner Eigenschaften sinnlich präsent ist, das Subjekt aber nicht auf den Gegenstand aufmerkt, weil seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet ist; Fülle wird hier nicht als Erfüllung wahrgenommen, sondern ‚beiläufig‘ oder ‚unaufmerksam‘ bis hin zur völligen Nichtachtung, also bis hin zum paradoxen Phänomen des ‚Nichtsehens‘ dessen, was man sieht. Ein Gegenstück dazu bilden Fälle der partialen Erfüllung des Intendierten in der Wahrnehmung wie in den oben eingeführten Beispieltypen, nämlich Fälle, in denen man einen Gegenstand auf Grund ungünstiger Bedingungen nicht in seiner Fülle wahrnehmen kann. Im Dämmerlicht sehe ich etwas Kompaktes und Bauchiges auf dem Schreibtisch stehen, von dem ich glaube, dass es mein Tintenfass ist. Handelt es sich tatsächlich um mein Tintenfass, dann nehme ich das Tintenfass zwar wahr, aber nicht in seiner Fülle, so dass meine Intention nur partial erfüllt ist. Das bringt es mit sich, dass ich auf Grund meiner Wahrnehmung nicht wissen kann, ob das Gesehene mein Tintenfass ist oder nicht.¹⁷ Mit dem bisher Ausgeführten bewegen wir uns noch immer auf dem gemeinsamen Boden humaner und animalischer Perzeption. Auch im tierischen Verhalten zeigt sich der Kontrast zwischen erfüllter und unerfüllter Intentionalität, zwischen Suchen und Finden, Erwartung und Enttäuschung, etc. Es ist eine

16 Vgl. LU 2/2 VI, §§ 6 ff. Nicht jede unerfüllte Intention ist ein Erwarten oder Suchen, wie Husserl betont. Es gibt andere Modi des „Vermeinens“, die insbesondere in Fällen einer statischen Einheit intentionaler Erfüllung zum Tragen kommen. 17 Die Wesenseinheit von (1) und (2) im Vollbegriff der Wahrnehmung verbietet es denn auch, den Begriff der Erfüllung rein formal-funktional als Zuordnungsrelation zwischen zwei Intentionen zu verstehen, wie es Karl Mertens im Anschluss an Wolfgang Künne vorschlägt; vgl. Mertens 1996, S. 180 ff. Damit wird die Bedeutung von Erfüllung auf (2) reduziert, und (1) wird übersehen. Gegen solche Verkürzungen hat schon Edith Stein darauf aufmerksam gemacht, dass jede intentionale Erfüllung ihrem Wesen nach ein passives Empfangen ist und damit weder eine bloße Relation noch gar eine Aktivität des wahrnehmenden Subjekts sein kann. Wahrnehmung ist ein Widerfahrnis und keine Handlung, auch wenn es wahrnehmungsvorbereitende intentionale Aktivitäten geben kann, z. B. das Suchen, das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf etwas Erwartetes oder Gesuchtes, etc. Das gilt nach Stein auch für die nichtsinnliche, rein intellektuelle Einsicht, die Husserl in den Logischen Untersuchungen als ‚kategoriale Anschauung‘ und später als ‚Wesensschau‘ bezeichnet. Denkakte können zu Einsichten führen, sind aber nicht identisch damit. Vgl. Stein 1974, S. 332. Zur Idee der kategorialen Anschauung unten mehr.

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Stärke der Husserlschen Phänomenologie, dass sie es erlaubt, diese Gemeinsamkeiten zu sehen und zu beschreiben. Die Unterschiede beginnen hervorzutreten, wenn wir einen ausgezeichneten Modus der Wahrnehmung betrachten, den Husserl Anschauung nennt. Anschauungen sind Wahrnehmungen; es gibt hier den gleichen Zusammenhang von Intention und Erfüllung wie bei Wahrnehmungen überhaupt. Doch die Besonderheit von Anschauungen liegt darin, dass es das Objekt als solches in seinem Dass- und Sosein ist, welches die Intention erfüllt. Anschauungen setzen mithin das voraus, was Husserl objektivierende Intentionen nennt.¹⁸ Wer ein Objekt anschaut, der intendiert es als solches, als das, was es ist. Er intendiert es z. B. als Apfelbaum, als Eichhörnchen oder als Tintenfass – und nicht lediglich als Nutzobjekt, als mögliche Beute oder als gefährlichen Feind. Die Intention in einem Akt der Anschauung ist, traditionell gesprochen, theoretisch und nicht praktisch, objektgerichtet und nicht lediglich auf das Objekt in seiner Relation zum Subjekt ausgerichtet. Anschauung ist in einem ausgezeichneten Sinn objektiv und setzt die Fähigkeit zu objektiver Bezugnahme voraus. Darin liegt der Unterschied zu animalischer Perzeption: Tiere nehmen Objekte wahr, aber sie nehmen sie nicht objektiv wahr.¹⁹ Deswegen kommt dem Begriff der Anschauung eine ausgezeichnete erkenntnistheoretische Bedeutung zu, was für den allgemeinen Begriff der Wahrnehmung nicht oder nur im Sinne eines Ausgangspunkts für kritische Unterscheidungen gilt. Pointiert gesagt: Nur anschauungsfähige Wesen sind auch erkenntnis- und damit wahrheitsfähig. Für wahrnehmungsfähige, aber anschauungsunfähige Wesen gilt das nicht.

3 Anschauliche Evidenz Um diese vorgreifenden Aussagen verständlicher zu machen, muss man den Begriff der Anschauung etwas eingehender erläutern. Für Husserl ist die Erkenntnis aus Anschauung ein ausgezeichneter und in jeder Hinsicht grundlegender Erkenntnismodus: Jede Erkenntnis überhaupt ist in Anschauungserkenntnis fundiert. In der Anschauung ist einem Erkenntnissubjekt der Gegenstand selbst präsent, er wird „gegenwärtigt“ bzw. präsentiert sich, wird also nicht lediglich „vergegenwärtigt“ (repräsentiert) wie in der Erinnerung.²⁰ In der An-

18 Vgl. LU 2/2 VI, Einleitung, S. 539. 19 Daher verbirgt sich in Burges oben zitiertem Terminus ‚objektive Wahrnehmung‘ eine Äquivokation; Objektwahrnehmung und objektive Wahrnehmung fallen darin zusammen. 20 Vgl. zum Kontrast von Gegenwärtigen und Vergegenwärtigen LU 2/2 VI, § 37.

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schauung nimmt das Erkenntnissubjekt unmittelbaren Kontakt mit dem präsenten Gegenstand seiner Intention auf. Anschauungen sind zugleich Evidenzerlebnisse. Wenn ich ein Objekt anschaue, dann erfasse ich in diesem Akt, dass es so beschaffen ist, wie ich es wahrnehme, wenn auch nur im Hinblick auf die ‚Abschattung‘, in der es mir anschaulich gegeben ist. Deswegen – und nur deswegen – bezeichnet Husserl adäquate Anschauung als ein „Ideal“, welches nur in der reinen geometrischen Anschauung erfüllt sei.²¹ In sinnlicher Anschauung realer Objekte ist uns dagegen nicht das Objekt als ganzes simultan gegeben, sondern lediglich sukzessiv, in einer Synthese tatsächlicher oder möglicher Anschauungsakte. Volle, adäquate Anschauung bleibt hier ein Grenzbegriff. Das ändert aber nichts daran, dass in jedem genuinen Anschauungsakt der Gegenstand selbst in der je anschaulichen Abschattung gegeben ist und nicht etwa ein bloßes Bild oder subjektives Phantasma. Anschauungen sind keine Bilder von Objekten, sondern in ihnen sind die Objekte selbst auf eine ursprüngliche Weise dem Bewusstsein gegeben.²² Zwar sind wir unter Umständen Wahrnehmungstäuschungen ausgesetzt; z. B. wenn wir ein Trugbild für einen realen Gegenstand halten oder umgekehrt. Aber darin ist enthalten, dass wir beides voneinander in adäquater Anschauung unterscheiden können. Die Täuschung entsteht in einer inadäquaten Wahrnehmung. Der phänomenologisch besonders hervorzuhebende Zug der Anschauung im Vollsinn ist daher ihr Evidenzcharakter. Nicht allein ist mir in adäquater Anschauung der Gegenstand in seinem Dass- und Sosein in einer bestimmten Abschattung gegeben; diese Gegebenheit ist mir selbst evident. Indem ich den Gegenstand sehe, weiß ich auf die ursprünglichste Weise, die irgend möglich ist, dass und wie beschaffen der Gegenstand hinsichtlich der mir anschaulich zugänglichen Eigenschaften ist. Husserl bezeichnet Anschauung daher als einen ausgezeichneten Modus originär gebenden Bewusstseins, den zugehörigen Evidenzmodus als originäre Evidenz.²³ Man hat dem Evidenztheoretiker Husserl hier wie an anderen Stellen schon früh einen Rückfall in den Psychologismus vorgeworfen. Es werde an ein vages, in seinem Gehalt völlig unbestimmtes cartesisches Evidenzgefühl appelliert und bloße subjektive Gewissheit zum Kriterium von Objektivität und letztlich von

21 Vgl. ebd. 22 Eine allgemeine Kritik der empiristischen Abbild- und Repräsentationstheorie des Wahrnehmens und Vorstellens formuliert Husserl in der Beilage zu §§ 11 und 20 der V. Logischen Untersuchung, LU 2/1. Einen Rest der empiristischen Bildtheorie meint er auch noch in Brentanos Lehre von der ‚Inexistenz‘ des Psychischen ausmachen zu können. Vgl. LU 2/1 V, §§ 9 ff. 23 Vgl. Ideen I, §§ 136 f.

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Wahrheit gemacht. Letztlich müsse sich eine solche subjektive Evidenztheorie der Wahrheit selbst ad absurdum führen, da uns doch faktisch so manches evident erscheine,was sich letztlich als falsch erweise. Doch Husserl selbst macht schon in den Logischen Untersuchungen auf das dieser Kritik zu Grunde liegende Missverständnis aufmerksam: auf die Verwechslung von Evidenz im strengen und im laxen Sinn.²⁴ Die Kritik deutet Evidenz stillschweigend im laxen Sinn, also als einen Terminus, der Grade größerer oder geringerer Evidenz zulässt. In diesem laxen Sinne evident können auch eine inadäquate Wahrnehmung und ein falscher Gedanke sein. Für Evidenz im strengen Sinn sind solche Abstufungen ausgeschlossen. Der erkenntniskritisch prägnante Sinn von Evidenz betrifft aber ausschließlich dieses letzte, unüberschreitbare Ziel, den Akt dieser vollkommensten Erfüllungssynthesis, welcher der Intention, z. B. der Urteilsintention, die absolute Inhaltsfülle, die des Gegenstandes selbst, gibt. Der Gegenstand ist nicht bloß gemeint, sondern so wie er gemeint ist und in eins gesetzt mit dem Meinen, im strengsten Sinne gegeben […]. Die Evidenz selbst ist, sagten wir, der Akt jener vollkommensten Deckungssynthesis […], ihr objektives Korrelat heißt Sein im Sinne der Wahrheit oder auch Wahrheit […].²⁵

Dass strenge Evidenz mit Falschheit einhergehen könnte, ist daher ein absurder Gedanke. Absurdität, manifester Widersinn, ist denn auch der konträre Gegenbegriff zum Begriff der Evidenz.²⁶ Absurdität ist ein sicherer Index des Falschen, Unmöglichen, während Evidenz ein sicherer Index des Wahren ist. Später unterscheidet Husserl noch zwischen assertorischer und apodiktischer Evidenz. Assertorische Evidenz liegt dann vor, wenn ein Gegenstand evident so beschaffen ist, wie er mir gegeben ist; um apodiktische Evidenz handelt es sich dann, wenn der Gegenstand evident so sein muss, wie er beschaffen ist, also nicht anders sein kann, als er ist. Anschauungsbeispiele für apodiktische Evidenz liefert die geometrische Anschauung. Man denke etwa an die anschauliche Einsicht, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die gerade Linie ist.²⁷ In keinem dieser Fälle lässt sich Evidenz psychologistisch bzw. emotivistisch als bloßes

24 Vgl. LU 2/2 VI, § 38. 25 Ebd., Hervorhebungen i. Orig. Dass Husserl hier Evidenz als Akt bestimmt, steht nur scheinbar im Widerspruch zu Steins Kennzeichnung der Einsicht als eines passiven Innewerdens. Husserl verwendet den Aktbegriff nahezu durchgehend im scholastischen Sinn, als Aktualisierung einer Potentialität, sei diese nun aktiv wie das Schauen oder passiv wie das Sehen und das Einsehen. 26 Vgl. ebd., § 39. 27 Vgl. Ideen I, § 137. Das Beispiel stammt von Kant, KrV B 16. In § 2 der Transzendentalen Ästhetik spricht Kant von der „apodiktischen Gewissheit“ durch geometrische Anschauung.

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Gefühl verstehen, auch wenn sie erlebt wird. Nicht alle Erlebnisse sind Gefühle. Deswegen ist der Psychologismusvorwurf abwegig. Nun transzendieren das Denken und Urteilen typischerweise das in der Anschauung evident Gegebene, wie auch Husserl durchgehend betont. Urteilt man etwa, dass der Baum, den man im Garten stehen sieht, ein veredelter Apfelbaum ist, dann verbinden sich in dem ausgedrückten Gedanken anschauliche und anschauungstranszendente Momente. Dass es sich um einen Apfelbaum handelt, kann man ceteris paribus an den anschaulich gegebenen Gestalteigenschaften des Baumes sehen. Die Veredelung wird als vergangenes Ereignis aber nicht gesehen, sondern aus anderen Quellen gewusst, sei es aus der Erinnerung, aus Kenntnis vom Hörensagen, durch einen Analogieschluss aus der Wahrnehmung der Veredelungsspuren auf eine verursachende Handlung oder im Rückgriff auf Züchtungswissen. In diesem Sinne können Anschauungen ihrerseits erfüllungsbedürftig sein.²⁸ Sie können das Anschauungssubjekt vor Aufgaben stellen, seien dies Anschauungen weiterer Abschattungen des Gegenstandes oder auch die denkende Suche nach Ursachen für das Dass- und Sosein des angeschauten Gegenstandes. Aber auch in diesen Fällen bleibt die Anschauung selbst die Basis des anschauungstranszendenten Gedankens, dessen Fallibilität Husserl allerdings durchgehend betont. Für die adäquate Anschauung als solche gilt das nicht, weswegen eine sich treu auf das anschaulich Gegebene beschränkende Gegenstandsbeschreibung infallibel ist. Anschauung ist damit eine ausgezeichnete Quelle nicht allein von wahrnehmungsbezogenen Gedanken, sondern von evidenter Erkenntnis und sicherem Wissen, d. h. eine Quelle solchen Wissens, welches dem Subjekt selbst als Wissen transparent ist und nicht lediglich extern als Wissen zugeschrieben wird. Aber setzt die Phänomenologie hier nicht letztlich voraus, was eigentlich zu zeigen wäre, nämlich dass es Erkenntnis aus adäquater Anschauung überhaupt gibt? Müsste dazu nicht aber zunächst der skeptische Einwand widerlegt werden, dass auch die strengste Evidenz trügerisch sein kann, dann nämlich, wenn ein vom Anschauungssubjekt unbemerkt bleibender Umstand die Anschauung verzerrt? In solchen Fällen scheint es zumindest denkbar, dass strenge Evidenz trotzdem nicht wahrheitsverbürgend ist. Und da wir nach Annahme solche Fälle nicht von Fällen tatsächlich adäquater Anschauung unterscheiden können, wird das Evidenzkriterium anscheinend unbrauchbar.²⁹

28 LU 2/2 VI, § 10. 29 Hans-Joachim Pieper wirft Husserl vor, Anschauung und evidente Wahrheit letztlich nur zirkulär zu begründen, da er eine Widerlegung des Skeptizismus, wie sie Descartes mit dem Gottesbeweis der III. Meditation anstrebt, vehement verweigert. Vgl. Pieper 1993, S. 182. Ähnliche Bedenken formuliert auch Mertens 1996, S. 172. Schon Tugendhat hat es als ein

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Dieser Einwand missversteht den Status von Husserls phänomenologischer Beschreibung von Anschauung und Evidenz. Diese beansprucht zunächst einmal, tatsächlich nicht mehr zu sein als eine Beschreibung einer bestimmten Sorte von Erkenntnisakten aus der Vollzugsperspektive. Sie besagt, dass wir in der Anschauung selbst zwischen adäquater und inadäquater, totaler und partieller Anschauung und zwischen Evidenz im laxen und im strengen Sinn unterscheiden. Es handelt sich nicht um von außen an Anschauungsakte herangetragene, von bestimmten erkenntnistheoretischen Modellen abhängige Differenzierungen, sondern, wie es dem methodischen Anspruch der Phänomenologie entspricht, um im Anschauungsvollzug selbst gewonnene Wesensunterschiede (Propria) verschiedenartiger Anschauungsakte. Die durch die Beschreibung gewonnenen Differenzierungen sind aber kein Selbstzweck und dienen auch nicht der Grundlegung einer phänomenologischen Psychologie, auch wenn sie für diesen Zweck verwendbar sind. Vielmehr liefern sie ein transzendentales Argument, an dem ein Skeptiker nicht vorbeikommt. Das Argument besagt, dass Evidenz durch Anschauung ein echtes Phänomen und damit eine Tatsache ist, die der Skeptiker nicht leugnen kann. Ferner handelt es sich nicht um ein entlegenes und seltenes Phänomen, sondern um ein ganz gewöhnliches Phänomen, dass ein jeder aus Erfahrung kennt, da es ein Grundzug von Erfahrung ist. Diese Tatsache lässt die These, dass wir niemals selbst zwischen veridischer und trügerischer Anschauung unterscheiden können, „widersinnig“ erscheinen.³⁰ Das ist – anders als Husserl selbst manchmal nahelegt – keine förmliche Widerlegung des Skeptizismus, aber es verschiebt nachhaltig die Begründungslasten. Der Skeptiker benötigt nun eine Irrtumstheorie der strengen Evidenz, wie es Descartes in seinem Szenario eines mächtigen, bösartigen und betrügerischen Geistes entwirft. Das Beispiel zeigt, dass derartige Irrtumstheorien keineswegs nahe liegen. Insofern verdient schon Husserls phänomenologische Methode in den Logischen Untersuchungen den Titel ‚Transzendentale Phänomenologie‘, und der vermeintliche oder tatsächliche Übergang von der deskriptiven zur transzendentalen Phänomenologie ist vielleicht nicht so groß, wie es manche Husserl-Forscher mit Ludwig Landgrebe annehmen.³¹

Husserlsches „Vorurteil“ bezeichnet, dass Evidenz notwendig mit der Gegebenheit eines Gegenstandes oder Sachverhalts einhergehe; vgl. Tugendhat 1970, S. 85 ff. 30 Vgl. LU 1, § 36. 31 Landgrebe erschließt sich die These einer ‚Wende‘, eines ‚Übergangs‘ oder ‚Bruchs‘ in Husserls Denken aus der Beobachtung, dass dessen Schüler aus den verschiedenen Phasen seiner Lehrtätigkeit zueinander konträre Schulen bilden, dass sich z. B. ‚Göttinger Realisten‘ klar von ‚Freiburger Idealisten‘ abgrenzen. Er betont allerdings auch die große Kontinuität in

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4 Evidenz und Wahrheit Es heißt manchmal, dass Husserl eine Evidenztheorie der Wahrheit vertrete.³² Das ist falsch; Husserl vertritt vielmehr eine Korrespondenztheorie der Wahrheit. Er formuliert aber sehr wohl eine Evidenztheorie der Erkenntnis, der gemäß strenge Evidenz ein ausgezeichneter Modus der Einsicht ist, die ganz korrespondenztheoretisch als Einsicht in das Bestehen einer ‚Deckung‘, ‚Entsprechung‘, ‚Übereinstimmung‘ oder ‚Adäquation‘ von Intention und Gegenstand, Gedanke und Sachverhalt erläutert wird.³³ Husserl ist hier sehr deutlich. Der systematische Punkt der Ausführungen über strenge Evidenz ist es also nicht, Korrespondenz auf Evidenz zu reduzieren, sondern die subjektive Zugänglichkeit von Korrespondenz zu sichern und auf diese Weise den Skeptizismusvorwurf zu entkräften, der zu den modernen Standardeinwänden gegen Korrespondenztheorien der Wahrheit gehört. Diesem Einwand gemäß führt jede Korrespondenztheorie der Wahrheit zwangsläufig in den Skeptizismus, da die Übereinstimmung zwischen Gedanke und Sachverhalt nur von einem externen, uns als Denkenden unzugänglichen Standpunkt aus festgestellt werden kann, und das heißt für uns: prinzipiell niemals.³⁴ Husserls phänomenologisch fundierte Evidenztheorie der Erkenntnis negiert dieses skeptische Junktim zwischen Korrespondenz und Nichtverifizierbarkeit der Wahrheit: In ausgezeichneten Fällen ist uns die Korrespondenz selbst gegeben und durchsichtig. Damit ist der grundsätzliche Einwand gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit entkräftet. Den Zusammenhang zwischen Evidenztheorie der Erkenntnis und Korrespondenztheorie der Wahrheit erläutert Husserl in § 39 der VI. Logischen Untersuchung. Dabei weist er nach, dass von einem gestuften Wahrheitsbegriff aus-

Husserls Werk, das kaum manifeste Brüche oder Neuansätze aufweist. Vgl. Landgrebe 1978, S. 9 f. 32 So z. B. Gunnar Skirbekk in seiner Einleitung zu Skirbekk 1977, S. 24. 33 Nach Dan Zahavi handelt es sich bei Husserls Wahrheitsauffassung zumindest nicht um eine Korrespondenztheorie im klassischen Sinne, da die Entsprechung nicht zwischen einem Gedanken und einem Objekt oder Sachverhalt bestehe, sondern zwischen zwei Intentionen, der Meinung und der Erfüllung. Vgl. Zahavi 2009, S. 32 ff. Das berücksichtigt nicht, dass hier eben nicht von Wahrheit, sondern von Evidenz die Rede ist und dass die Erfüllung nichts anderes ist als das Innewerden einer Entsprechung von Gedanke und Sache. 34 Diesen Einwand gegen klassische realistische, korrespondenztheoretische Auffassungen von Wahrheit und Erkenntnis hat kürzlich Matthias Wille noch einmal breit und grundsätzlich ausformuliert; vgl. Wille 2011.

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zugehen ist, wobei man vom Basisphänomen der Evidenz zum vollen Begriff der Wahrheit als Korrespondenz aufsteigen muss.³⁵ Es ergeben sich folgende Stufen: (1) Die im Evidenzerlebnis gegebene volle Übereinstimmung von Intention und Sachverhalt, die „volle Übereinstimmung von Gemeintem und Gegebenem“. Diese Identität von Meinung und Erfüllung kann dann reflexiv bewusst werden, und auf diese Weise wird die Wahrheit der Übereinstimmung selbst als Objektivität der Intention erlebt. (2) Wahrheit als zur „Aktform“ der Erkenntnis „gehörige Idee“, die „Idee der absoluten Adäquation als solcher“. Darin wird die Nichtzufälligkeit der Erkenntnis als Erfüllung bewusst, die darin begründet ist, dass sich im Erkenntnisakt ein geformtes Streben oder, in Husserls Terminologie, eine ideale Intention erfüllt. Meinung und Erfüllung bilden eine teleologische Einheit. (3) Der erfüllende Gegenstand kann seinerseits als „das Sein, die Wahrheit, das Wahre“ bezeichnet werden, nämlich als die Intention „wahrmachender“ Gegenstand oder kurz als Wahrmacher. (4) Die Wahrheit als Richtigkeit des die Erkenntnis artikulierenden Urteils; „der Satz ‚richtet‘ sich nach der Sache selbst; er sagt, so ist es, und es ist wirklich so“. Mit (4) ist die Ebene erreicht, auf der die Korrespondenztheorie der Wahrheit formulierbar ist; erkenntnistheoretisch setzt sie (1) – (3) voraus, so wie jede der vorangehenden Stufen des Wahrheitsbegriffs die niederen Stufen voraussetzt, der höheren aber nicht unbedingt bedarf, um trotzdem ein abgeschlossener Akt der Anschauungserkenntnis zu sein. Husserl weist im Anschluss an diese Ebenenunterscheidung noch darauf hin, dass Urteilswahrheit als solche nicht in der Kopula im das Urteil artikulierenden Satz ‚S ist P‘ ausgedrückt wird. Die Korrespondenz zwischen Intellekt und Gegenstand, Urteil und Sachverhalt kann durchaus selbst festgestellt werden, nämlich in einem Urteil der Form ‚Es ist wahr, dass S P ist‘. Aber damit wird ein neues Urteil gebildet, und wenn die Korrespondenz evident ist, dann „wird [sie …] zum wahrmachenden Sachverhalt einer neuen Evidenz“.³⁶ Die prädikative Synthesis artikuliert Erkenntnis, setzt damit aber Erkenntnis auch voraus und fällt nicht damit zusammen.

35 Die Stufung der Wahrheitsbegriffe, also die einseitige Abhängigkeit des jeweils höheren Wahrheitsbegriffs von den vorausgesetzten, wird von Rudolf Bernet nicht gesehen, der die Wahrheitsbegriffe lediglich als komplementär ansieht; vgl. ders., „Intention und Erfüllung, Evidenz und Wahrheit“, in: Mayer 2008, S. 189 – 208, S. 203. Genauer ist hier Mertens 1996, S. 193 ff. 36 LU 2/2, S. 654.

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Übrigens greift Heidegger in § 44 von Sein und Zeit Husserls gestuften Wahrheitsbegriff auf und fundiert ihn wie schon Husserl im Phänomen der Evidenz, die er als Unverborgenheit (aletheia), als Entdeckung des Seienden kennzeichnet, die dann im Urteil ausgesprochen und „im Ausgesprochenen verwahrt“ wird.³⁷ Husserl ergänzend unterstreicht Heidegger, dass das theoretische Moment der Seinsentdeckung in der Evidenz der Erkenntnis auch im praktischen Umgang mit „zuhandenen“ Dingen in ihrer Zuhandenheit begegnen kann, und er führt über Husserl hinausgehend eine Stufung des Verhältnisses von Verstehen, Seinsauslegung und Aussage ein.³⁸ Aber wie schon bei Husserl führt diese phänomenologische Fundierung nicht zu einer Kritik, sondern zu einer Rechtfertigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit: Die [hier; H.T.] vorgelegte „Definition“ der Wahrheit ist kein Abschütteln der Tradition, sondern die ursprüngliche Aneignung: das um so mehr dann,wenn der Nachweis gelingt, daß und wie die Theorie auf dem Grunde des ursprünglichen Wahrheitsphänomens zur Idee der Übereinstimmung [von Urteil und Sachverhalt; H.T.] kommen mußte.³⁹

Die Bestimmung der Wahrheit als Entdeckung ist nur eine „Definition“ der Wahrheit und keine klassische Definition, da sie sich genau genommen nicht auf den Begriff der Wahrheit in seinem vollen Umfang bezieht, sondern – wie bei Husserl – auf dessen subjektives, erkenntnistheoretisches Fundament.⁴⁰ Mit den voranstehenden Reflexionen zum Verhältnis von Urteil und Sachverhalt ist allerdings schon Husserls gesamte Theorie der Begriffsbildung durch Abstraktion und Ideation vorausgesetzt, ebenso eine Klärung des komplexen Verhältnisses von Denkvermögen und Sprachkompetenz. Fundiert ist das Vermögen zur begrifflichen Erfassung des anschaulich Gegebenen Husserl zu Folge in dem Vermögen, das er in den Logischen Untersuchungen als „kategoriale Anschauung“ bezeichnet und später „Wesensschau“ nennt.⁴¹ Husserls Überlegungen zu diesem Problemzusammenhang sind zu komplex und breit gefächert, um hier nachvollzogen werden zu können. Doch bei aller Komplexität und bei allen Entwicklungen und Korrekturen, denen Husserl seine Phänomenologie hier immer wieder unterzogen hat, bleibt doch ein Grundzug konstant: Das Denken und

37 SuZ, S. 224. 38 Vgl. ebd., § 33. 39 Ebd., S. 220. 40 Tugendhat meint allerdings, dass Heidegger, anders als Husserl, gar nicht primär am Wahrheitsproblem orientiert sei. Vgl. Tugendhat 1970, S. 278. Er sieht daher auch kaum Gemeinsamkeiten zwischen Husserls und Heideggers Reflexionen über den Begriff der Wahrheit. 41 Vgl. zur kategorialen Anschauung LU 2/2 VI, Kap. 6, zur Wesensschau Ideen I, § 3.

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Urteilen über Anschauungsgegenstände setzt das Vermögen voraus, im sinnlich gegebenen Einzelnen das Allgemeine, Eidetische zu erkennen, welches den Begriffen als Elementen des Denkens im Sein korrespondiert. Hierbei handelt es sich offenbar um ein ursprüngliches, nicht auf andere Kompetenzen reduzierbares geistiges Vermögen.⁴² Erwähnt werden sollte auch, dass nach Husserl evidente Erkenntnis insofern die Basis allen Wissens überhaupt ist, als sich an die Erläuterung des Phänomens unmittelbarer Evidenz durch Anschauung, sei diese nun sinnliche Anschauung oder Wesensschau, eine Erläuterung des Phänomens mittelbarer Evidenz anschließen lässt.⁴³ Um mittelbar evidente Einsichten handelt es sich bei solchen Erkenntnissen, die nicht unmittelbar bzw. in sich evident sind, sondern logisch aus unmittelbar evidenten Einsichten folgen, wie vermittelt auch immer. Wenn sie tatsächlich logisch aus unmittelbar Evidentem folgen, dann muss es sich um Wahrheiten handeln, da der logische Zusammenhang selbst einsichtig ist. Einen Beweis nachzuvollziehen heißt demnach, die Evidenz der Konklusion im Lichte der Evidenz der Prämissen zu erfassen. Eben das meint mittelbare Evidenz. Aber dieser Begriff setzt die gesamte logische Formenlehre voraus, um die es hier nicht geht.

5 Schluss: Anschauung und Wahrnehmung, relationaler und nichtrelationaler Objektbezug Die Differenz von Anschauung und Wahrnehmung ist damit hinreichend charakterisiert. Der oben bloß negativ als nicht-relationale Wahrnehmung erläuterte Begriff der Anschauung hat nun den positiven Sinn der objektiven Wahrnehmung als Leistung einer objektivierenden Intention bekommen. Auf diese Weise lässt sich die Differenzthese präzise erläutern.

42 Insofern scheint es mir nicht ganz fair, Husserls „sprachliche und phänomenologische Annahmen“ als „etwas naiv“ zu bezeichnen, wie das Peter Simons tut. Ihm zu Folge „vertraut“ Husserl unkritisch „auf die Zuverlässigkeit der Grammatik und der Phänomenologie, uns über die Grundunterschiede der Ontologie aufzuklären“; vgl. ders., „Zugang zum Idealen. Spezies und Abstraktion“, in: Mayer 2008, S. 77 – 91, S. 89. Von einem solchen unkritischen Vertrauen kann bei Husserl gar keine Rede sein. Wohl aber sind die Phänomenologie und eine phänomenologische Auslegung grammatischer Strukturen der Zugang zur Erkenntnistheorie, und zwar der einzig mögliche. Diese wiederum enthüllt uns Grundstrukturen der Ontologie. Ob eine phänomenologische Begründung der Ontologie ausreicht, wie Husserl meint, ist dann allerdings eine andere, offene Frage. 43 Vgl. Ideen I, § 141.

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Dabei ist es nur auf den ersten Blick paradox, Objektivation als nicht-relational zu kennzeichnen, spricht man doch von Subjekt-Objekt-Relationen. Gemeint ist aber ein Wahrnehmungsakt, der nicht von den außerhalb dieses Aktes stehenden Relationen zwischen Subjekt und Objekt bestimmt wird, für den diese vielmehr bedeutungslos sind. Wenn ich einen Hasen objektiviere, sehe ich eben das – einen Hasen und nicht eine potentielle Jagdbeute, etc. Die Differenzthese besagt, dass unter allen Lebewesen nur Menschen zur Objektivation fähig sind. Der Versuch, die Differenz zu erklären, muss an dieser Stelle etwas thetisch ausfallen, folgt aber den von Brentano, Husserl und Heidegger vorgezeichneten Spuren. Der eigentliche Grund für diese Differenz zwischen Wahrnehmungsvermögen und Anschauungsvermögen kann nur in einer wesentlich differenten Intentionalitätsstruktur liegen. Auch das ist eine traditionelle These, die aber durch die Phänomenologie vehement bekräftigt wird. Menschen sind nicht allein bewusstseinsfähige, sondern selbstbewusste Wesen. Ihr Bewusstseins- oder Erlebnisstrom ist uno actu ein kontinuierlicher Selbstbewusstseinsstrom. Indem sie sich intentional auf Gegenstände ausrichten, sind sie sich – wenn auch bloß mitfolgend, ‚unthematisch‘ (Husserl) bzw. in ‚obliquer Intention‘ (Brentano) ihrer selbst als Intendierende bewusst. Eben das ist aber eine notwendige Bedingung von Objektivität, weil Menschen nur so den Gegenstand selbst von der Weise seiner intentionalen Gegebenheit, seinem ‚Sein für mich‘ unterscheiden können. Das ist eine Vorbedingung für jedes theoretische Weltverhältnis, für Theorie- und Hypothesenbildung, für jegliches Bildverstehen, für den ästhetischen Objekt- und Weltbezug, etc. Es ist nicht allein Voraussetzung für Selbstreflexion und thematischen Selbstbezug, sondern für jegliche objektive Bezugnahme überhaupt. Selbstbewusstsein ist ein Konstitutivum des Menschseins und geht mit seiner Geistigkeit bzw. seinem Intellekt notwendig einher. Das ist eine metaphysische These, die aber reiche empirische Beglaubigung findet. Die Differenz zwischen bloßem Bewusstsein und Selbstbewusstsein prägt das Verhalten von Menschen einerseits, von Tieren andererseits grundlegend und durchgehend. Die Differenz zeigt sich schon bei Kleinkindern am theoretischen Interesse an Objekten als solchen, für das es im Tierreich keine Parallele gibt, auch nicht im nur scheinbar ähnlichen Spielverhalten von Jungtieren. Es zeigt sich auch später am ‚theoretischen‘, kontemplativen Weltbezug, der Menschen eigentümlich ist und für den es bei Tieren kein Beispiel gibt. Was keine Bedeutung für den Lebensvollzug eines Tieres hat, das entgeht auch seiner Aufmerksamkeit. Der Mensch ist dagegen dasjenige Lebewesen, für das buchstäblich ‚alles interessant‘ sein kann. Das sind grobe, generische Kontraste, die aber wohl eben deswegen sehr allgemeine und grundsätzliche Unterschiede treffen.

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Das heißt nicht, dass Menschen ihre Umwelt nicht auch relational wahrnähmen. Heidegger hat nachdrücklich auf die Bedeutung relationaler Wahrnehmung hingewiesen. Aber auch er betont, dass relationale Wahrnehmung bei einem selbstbewussten Wesen wie dem Menschen eine ganz andere Form annimmt als im Tierreich. Denn die relationale Wahrnehmung des Menschen ist immer schon nicht-relational grundiert und daher auch schon begrifflich formbar. Indem ich z. B. meinen besten Freund mir entgegenkommen sehe, sehe ich damit, wenn auch unthematisch, immer schon einen Menschen – als notwendige Bedingung für ersteres, für die relationale Wahrnehmung. Ich sehe auch nicht einfach Begehren auslösende Nahrung vor mir, sondern ein Brötchen, ein Stück Käse oder einen Apfel. Auch die relationale Wahrnehmung des Menschen ist selbstbewusst und objektiv oder wenigstens objektivierbar. Darin fußt letztlich die konzeptualistische Theorie der Wahrnehmung. Die differenziert strukturierte Wahrnehmung, die in sich Momente der reinen Anschauung mit solchen der relationalen Wahrnehmung verbindet, ist immer auch begrifflich artikulierbar, zumindest im Grundsatz. In Fällen defizienter Wahrnehmung müssen wir allerdings manchmal auf Platzhaltertermini wie ‚etwas Großes‘, ‚etwas seltsam Aussehendes‘, ‚ein unbekanntes Objekt‘ zurückgreifen, um die rudimentäre Erfüllung unserer Intention zum Ausdruck zu bringen. Aber auch darin zeigt sich ein objektiver Zug, der solche Fälle unsicherer, evidenzloser Wahrnehmung von Fällen unsicherer relationaler Wahrnehmung im Grundsatz unterscheidet. Ein Tier kann durch Wahrnehmung verunsichert sein, weil es nicht erfasst, ob das Wahrgenommene zugehörig oder Feind, Beute oder Gefahr, gefährlich oder harmlos ist. Auch Menschen werden manchmal so verunsichert. Aber ein Mensch kann obendrein durch Wahrnehmung verunsichert sein, weil er nicht weiß, was das Wahrgenommene seinem Wesen nach ist. Der spezifische Unterschied innerhalb des Gattungsbegriffs der Wahrnehmung könnte größer kaum sein.⁴⁴ Aus all diesen Überlegungen erhellt, dass phänomenologisch sehr viel für die Differenzthese spricht.

44 Husserls Erweiterung des Anschauungsbegriffs auf rein geistige Akte wie den der Wesensschau macht es allerdings schwierig, Anschauung als speziellen Modus der Wahrnehmung zu deuten, zumindest wenn man es dabei belässt, dass Wahrnehmung eine Leistung der Sinnlichkeit ist. Das ist keine bloß terminologische Schwierigkeit. Vielmehr nötigt uns dieser Punkt, die Bedeutung des Intellekts für Anschauung und Wahrnehmung noch eingehender zu betrachten, als das hier möglich ist.

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Tugendhat 1970: Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin: de Gruyter. Wille 2011: Matthias Wille, Transzendentaler Antirealismus. Grundlagen einer Erkenntnistheorie ohne Wissenstranszendenz, Berlin; New York: de Gruyter. Wittgenstein 1984: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [PU] Zahavi 2009: Dan Zahavi, Husserls Phänomenologie, Tübingen: Mohr Siebeck.

Andrea Kern

Wahrnehmung als Erkenntnisvermögen 1 Unmittelbares Bewusstsein? In The Foundations of Empirical Knowledge fragt Alfred Ayer: „Warum sollen wir nicht sagen können, dass wir ein unmittelbares Bewusstsein materieller Dinge haben?“ (Ayer 1940, S. 3, meine Übersetzung). Wie aus dem Fortgang des Textes klar wird, möchte Ayer hier keine echte Frage aufwerfen, die er sodann zu beantworten sucht. Die Antwort liegt für Ayer auf der Hand, sie ist für ihn der zu Recht bestehende selbstverständliche Ausgangspunkt eines Großteils der neuzeitlichen Philosophie, der kartesischen wie der empiristischen. „Die Antwort darauf ergibt sich“, so Ayer, „aus dem bekannten Argument der Sinnestäuschung“ (Ayer 1940, S. 3). Dieses Argument nämlich zeigt, so möchte Ayer sagen, dass es unmöglich für uns ist, ein unmittelbares Bewusstsein materieller Dinge zu haben. Da dieses Argument allseits bekannt ist, genügt es, es zu erwähnen, um dann die eigentliche Aufgabe der Erkenntnistheorie zu formulieren: Diese besteht darin, verständlich zu machen, wie empirisches Wissen möglich ist, obgleich es für uns unmöglich ist, ein unmittelbares Bewusstsein materieller Dinge zu haben. Ayers Umgang mit der erkenntnistheoretischen Fragestellung ist paradigmatisch für die erkenntnistheoretische Tradition bis heute. Die Erkenntnistheorie, am deutlichsten dort, wo es um Wahrnehmungswissen geht, doch nicht nur dort, wird von dem Gedanken bestimmt, dass das Argument von der Sinnestäuschung ihre Grundlage ist, d. h. es ist nicht selbst einer ihrer Gegenstände, den es zu befragen gilt. Ich werde im Folgenden das Argument von der Sinnestäuschung befragen. Ich werde zeigen, dass das Argument der Sinnestäuschung das, was es zu etablieren versucht, die Unmöglichkeit eines unmittelbaren Bewusstseins materieller Gegenstände, schon als Prämisse voraussetzen muss. Das Argument ist zirkulär. Das erlaubt es, eine Alternative zum kartesischen und empiristischen Wahrnehmungsmodell zu entwickeln, demzufolge wir in der Tat ein unmittelbares Bewusstsein materieller Gegenstände haben können, ohne bestreiten zu müssen, dass wir gelegentlich Opfer von Sinnestäuschungen werden. Es wird vielmehr so sein, dass die Erklärung, die wir dafür geben werden, wie wir ein unmittelbares Bewusstsein von materiellen Gegenständen haben können, als solche den Gedanken enthält, dass unser Bewusstsein von materiellen Gegenständen gelegentlich in die Irre geführt werden kann.

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2 Das kartesische Argument gegen das unmittelbare Bewusstsein Das Argument von der Sinnestäuschung soll zeigen, dass wir kein unmittelbares Bewusstsein materieller Gegenstände haben können. Fragen wir uns zunächst, was wir, dem Argument zufolge, unter einem unmittelbaren Bewusstsein zu verstehen hätten? Unter einem „unmittelbaren Bewusstsein“ eines materiellen Gegenstands verstehen wir eine bestimmte Art seiner Erkenntnis: nämlich eine Erkenntnis des Gegenstands, die wir dadurch erlangen, dass wir ein sinnliches Bewusstsein von dem Gegenstand haben, ohne durch einen Schluss vermittelt zu sein. Unmittelbares Bewusstsein eines materiellen Gegenstands hieße: sinnliche, nicht-inferentielle Erkenntnis dieses Gegenstands. Das Argument möchte zeigen, dass ein in diesem Sinn unmittelbares Bewusstsein eines Gegenstands unmöglich ist. Descartes formuliert das Argument wie folgt: Es kommt vor, so Descartes, dass wir uns während der Nachtruhe bestimmte Dinge einbilden, etwa, dass wir, mit unserem Rock bekleidet, am Kamin sitzen, während wir doch entkleidet im Bett liegen. Denken wir darüber „aufmerksamer (…) nach“, dann müssen wir, so Descartes, „ganz klar“ erkennen, dass Wach-Sein und Träumen „niemals durch sichere Kennzeichen“ unterschieden werden können (Descartes 1976, S. 17). Dass Wach-Sein und Träumen niemals durch „sichere Kennzeichen“ unterschieden werden können, soll heißen, dass es für uns Fälle gibt, in denen wir nichts wahrnehmen – nämlich die, in denen wir träumen, aber auch andere, wie die, in denen wir halluzinieren, – die wir nicht vermittels eines Kriteriums von jenen Fällen unterscheiden können, in denen wir etwas wahrnehmen. Wenn aber eine solche Unterscheidung für das Subjekt vermittels eines Kriteriums unmöglich ist, dann heißt dies, so Descartes, dass wir, und zwar nicht aus „Unbesonnenheit oder Leichtsinn“, sondern „aus triftigen und wohlerwogenen Gründen“, zugestehen müssen, dass es unbegreiflich ist, wie wir jemals vermittels unserer Sinne irgendetwas wissen können (Descartes 1976, S. 19). Weshalb müssen wir das zugestehen? Nun, wissen kann man nur etwas, wenn man einen Grund dafür hat, das zu glauben, was man glaubt. Einen Grund für eine Überzeugung aber hat man nur dann, wenn man von dem Grund weiß.Wenn ich nicht weiß, dass ich einen Grund habe, p zu glauben, dann habe ich keinen Grund, p zu glauben. Nun behauptet das Argument von der Sinnestäuschung, dass es Fälle geben kann, in denen ein Subjekt nichts wahrnimmt und die es nicht durch ein Kriterium von jenen Fällen unterscheiden kann, in denen es etwas wahrnimmt. Das heißt, es kann Fälle geben, in denen ich keinen Grund habe, etwas Bestimmtes zu glauben, ich aber

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nicht in der Lage bin, dies zu wissen. Wenn es aber solche Fälle geben kann, so wird nun argumentiert, dann heißt dies, dass ich in keiner Situation je wissen kann, ob der sinnliche Eindruck, den ich habe, tatsächlich eine Wahrnehmung ist. Das aber bedeutet, dass der bestmögliche Grund, den ich jemals dafür haben kann, etwas zu glauben, darin besteht, dass es mir so vorkommt, als nähme ich etwas wahr. Daraus aber folgt, dass ich niemals einen Grund für eine Überzeugung haben kann, der garantiert, dass meine Überzeugung wahr ist. Ehe wir im Folgenden dieses Argument befragen, betrachten wir zunächst sein Motiv. Das Motiv des Arguments von der Sinnestäuschung besteht darin, Wissen auf eine Weise zu erläutern, die der Möglichkeit des Irrtums Rechnung trägt. Das heißt, es geht uns um das Wissen von Wesen, die, traditionell gesprochen, endlich sind in dem Sinne, dass sie sich irren können. Das aber ist nur möglich, wenn es genau so ist, wie das Argument von der Sinnentäuschung behauptet: nämlich wenn es Fälle gibt, in denen Wahrnehmungen und Täuschungen ununterscheidbar für uns sind. Denn wären sie für uns unterscheidbar, wäre es unmöglich für uns, uns zu irren. Was aber folgt daraus? Das Argument von der Sinnestäuschung glaubt, daraus folgern zu müssen, dass niemand jemals in einer Situation sein kann, in der er sich auf eine sinnliche Erfahrung, die er macht, als Grundlage für sein Urteil berufen kann, um damit zu garantieren, dass seine Überzeugung wahr ist. Die Grundlage, die ihm eine sinnliche Erfahrung liefern kann, ist prinzipiell schwächer: sie ist prinzipiell mit der Möglichkeit des Irrtums vereinbar. Andernfalls, so der Gedanke, müssten wir die Möglichkeit des Irrtums prinzipiell ausschließen, und das wollen wir ja gerade nicht. Wenn jemand einen Wissensanspruch erhebt, in dem er die Existenz eines soundso beschaffenen materiellen Gegenstands behauptet, dann geht er mit einer solchen Behauptung prinzipiell über das hinaus, was er durch seine sinnliche Erfahrung rechtfertigen kann. Denn um eine solche Behauptung rechtfertigen zu können, muss er die Zusatzannahme machen, dass seine sinnliche Erfahrung von dem Gegenstand, den er vorstellt, auf die für Wahrnehmungen charakteristische Weise verursacht wurde. Erst eine solche Zusatzannahme ermöglicht es ihm dann, von seiner sinnlichen Erfahrung eines soundso beschaffenen Gegenstands darauf zu schließen, dass da tatsächlich ein soundso beschaffener Gegenstand ist.

3 Kartesianismus und Skeptizismus Folgen wir dem Argument von der Sinnestäuschung, dann ist es für ein Subjekt, das sich irren kann, unmöglich, unmittelbare Erkenntnis eines materiellen Gegenstands zu haben.Wenn ein Subjekt jedoch keine unmittelbare Erkenntnis eines materiellen Gegenstands haben kann, dann, so folgert nun der Skeptiker, etwa

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Hume, kann es überhaupt keine Erkenntnis von materiellen Gegenständen haben. Ganz so lautet auch Kants Diagnose in der Kritik der reinen Vernunft: Wenn wir davon ausgehen, so argumentiert Kant, dass „die einzige unmittelbare Erfahrung die innere sei“, dann bedeutet dies, dass „auf äußere Dinge nur geschlossen“ werden kann (Kant 1968, B 276). Wenn man aber „aus gegebenen Wirkungen auf bestimmte Ursachen schließt“, dann kann ein solcher Schluss stets „nur unzuverlässig“ sein, „weil auch in uns selbst die Ursache der Vorstellungen liegen kann, die wir äußeren Dingen, vielleicht fälschlich, zuschreiben.“ (Kant 1968, B 276). Anders gesagt: Unter der Voraussetzung, dass unser Wissen von materiellen Gegenständen in den grundlegenden Fällen die Form eines Schlusses hat, so Kant, ist der Skeptizismus unvermeidlich. Wer keine unmittelbare Erkenntnis eines materiellen Gegenstands haben kann, hat nicht stattdessen eine andere, mittelbare, inferentielle Art der Erkenntnis, sondern gar keine Erkenntnis. Er hat bestenfalls Meinungen, für deren Wahrheit er keine Garantie übernehmen kann.¹ Der Großteil der zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie ist dadurch bestimmt, dass sie, ganz wie Ayer, das Argument von der Sinnestäuschung für richtig hält. Sie sieht sich nunmehr mit der Frage konfrontiert, wie man gleichwohl den skeptischen Schluss aus diesem Argument vermeiden kann. Die beiden prominentesten Strategien hierfür sind der Kontextualismus und der Externalismus. Mich interessiert im Folgenden nicht die Frage, ob diese Strategien überzeugen können. Denn Kontextualismus und Externalismus sind Positionen, die sich einem nur dann überhaupt nahelegen, wenn das Argument von der Sinnestäuschung zwingend ist.² Darin liegt der Kartesianismus dieser Positionen. Wenn das Argument von der Sinnestäuschung hingegen nicht zwingend ist, gibt es keinen Grund für diese Positionen. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es sich in der Tat so verhält.

4 Das kartesische Problem Das Motiv des Arguments von der Sinnestäuschung, so haben wir gesehen, besteht darin, der Möglichkeit des Irrtums in der Erläuterung von Wissen Rechnung zu tragen. Für die Urteile, für die ein Wissensanspruch erhoben wird, darf Irrtum nicht prinzipiell ausgeschlossen sein. Doch folgt daraus zwingend, dass die bestmögliche Grundlage, die ein Subjekt für die Rechtfertigung einer Überzeugung

1 Vgl. zum Zusammenhang von Inferentialismus und Skeptizismus auch meine Ausführungen in Kern 2006, S. 132 – 140. 2 Zu einer ausführlichen Kritik des Kontextualismus siehe Kern 2004.

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haben kann, in einer sinnlichen Erfahrung besteht, derzufolge das Urteil sowohl wahr als auch falsch sein kann? Was zwingt uns dazu, zu bestreiten, dass wir gelegentlich in einer Situation sein können, in der wir in dem Sinne ein unmittelbares Bewusstsein eines materiellen Gegenstands haben, dass wir ein sinnliches Bewusstsein des Gegenstands haben, das uns unmittelbar eine Erkenntnis desselben gibt? Betrachten wir noch einmal das Argument, nun aus der Perspektive seines Motivs: (1) Urteile, die sinnlichen Erfahrungen aufruhen, müssen wahr oder falsch sein können. (2) Wissen verlangt, dass man ausschließen kann, dass das Urteil falsch ist. Der Skeptiker argumentiert nun: (1) und (2) sind miteinander unvereinbar, denn: (3) Aus (1) folgt: Die bestmögliche Grundlage, die man für ein empirisches Urteil haben kann, ist eine sinnliche Erfahrung, die mit der Wahrheit und Falschheit des Urteils vereinbar ist. (4) Daraus folgt, (2) ist prinzipiell unerfüllbar. Empirisches Wissen ist unmöglich. Die skeptische Konklusion, so habe ich im Anschluss an Kant nahe gelegt, ist gültig, wenn (3) gültig ist. Doch ist (3) gültig? Wir wollen der Möglichkeit des Irrtums Rechnung tragen. Nun scheint hierfür eine ganz einfache Erläuterung auf der Hand zu liegen, nämlich die: Jemand kann sich auf der Grundlage einer sinnlichen Erfahrung irren, weil er gelegentlich sinnliche Erfahrungen hat, die keine echten Wahrnehmungen sind, sondern ihm nur so vorkommen wie echte Wahrnehmungen. Wenn jemand hingegen eine echte Wahrnehmung hat, dann versetzt ihn genau diese in die Lage, das, was er wahrnimmt, genau dadurch, dass er es wahrnimmt, zu erkennen. Nach dieser einfachen Erläuterung der Irrtumsmöglichkeit hat diese ihren Grund darin, dass es zwei Fälle von sinnlichen Erfahrungen gibt: solche, in denen wir ein unmittelbares Bewusstsein eines materiellen Gegenstands haben und die uns nicht zufällig zu wahren Urteilen führen, und solche, in denen wir kein unmittelbares Bewusstsein haben und die uns, wenn wir ihnen trauen, zu falschen Urteilen führen. Nennen wir die ersteren die „guten sinnlichen Erfahrungen“ und die letzteren die „schlechten sinnlichen Erfahrungen“. Um die Irrtumsmöglichkeit zu erklären, brauchen wir nach dieser einfachen Erläuterung keine aufwendige Erkenntnistheorie, derzufolge unsere Erkenntnis eines materiellen Gegenstands stets weitere Überlegungen – etwa über das kausale Verhältnis zwischen dem Gegenstand und der sinnlichen Wahrnehmung, oder über die Umstände der Wahrnehmungssituation – verlangt, vermittels derer wir von unserer sinnlichen Erfahrung, die uns unmittelbar gegeben ist, auf den Gegenstand schließen und der uns entsprechend nur durch einen solch vermittelnden Schluss gegeben ist. Es

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genügt, einzuräumen, dass es gute und schlechte sinnliche Erfahrungen geben kann. Um die Möglichkeit des Irrtums zu verstehen, so das Argument, müssen wir nicht auf die Idee rekurrieren, dass die bestmögliche Grundlage, die wir für ein empirisches Urteil haben können, in einer sinnlichen Erfahrung besteht, die wir sowohl in dem Fall haben können, in dem wir auf dieser Grundlage zu einem richten Urteil kommen wie auch in dem Fall, in dem wir uns auf dieser Grundlage irren. Was wir lediglich brauchen, ist eine disjunktive Konzeption sinnlicher Erfahrungen, derzufolge der Begriff sinnlicher Erfahrungen nicht einen neutralen geistigen Zustand beschreibt, der unabhängig davon bestimmbar ist, ob man auf seiner Grundlage zu Wissen kommen kann oder nicht, sondern er beschreibt entweder eine gute sinnliche Erfahrung oder aber eine schlechte sinnliche Erfahrung. Das Argument von der Sinnestäuschung zieht diese einfache Erklärung der Irrtumsmöglichkeit nicht in Betracht. Weshalb nicht? Crispin Wright formuliert den Einwand so: Die einfache Erklärung setzt voraus, dass ich wenigstens in manchen Fällen wissen kann, dass ich eine gute sinnliche Erfahrung habe und keine schlechte. Denn nur dann kann sie erklären, wie ich auf der Basis einer sinnlichen Erfahrung zu einem wahren Urteil kommen kann. Wie aber kann ich das wissen? Offensichtlich nicht dadurch, dass ich gute und schlechte sinnliche Erfahrungen anhand eines Kriteriums voneinander unterscheiden kann – gute und schlechte sinnliche Erfahrungen müssen für mich gelegentlich ununterscheidbar voneinander sein, wenn Irrtum möglich sein soll. Wenn aber das so ist, dann heißt dies, dass die einzige Behauptung, die je für mich gerechtfertigt ist, die ist, dass ich entweder eine gute sinnliche Erfahrung habe oder aber eine schlechte, doch welcher Arm der Disjunktion wahr ist, ist etwas, das ich prinzipiell nicht erkennen kann (vgl.Wright 2002, S. 345 ff.).Wright will sagen: Ich muss wissen, ob ich eine echte Wahrnehmung habe, damit eine echte Wahrnehmung die Rechtfertigungsgrundlage meiner empirischen Erkenntnis sein kann. Dies aber ist unmöglich, wenn Irrtum möglich sein soll. Aber warum? Warum gilt nicht auch hier das einfache Modell? Ob ich eine echte Wahrnehmung habe, oder eine trügerische, ist eine Sache, die ich im guten Fall eben genau dadurch weiß, dass ich eine echte Wahrnehmung habe. So hat etwa John McDowell gegen den Einwand von Wright argumentiert: The point of the disjunctive conception is that if one undergoes an experience that belongs on the “good” side of the disjunction, that warrants one in believing (…) that things are as the experience reveals them as being. When one’s perceptual faculties “engage the material world directly”, as Wright puts it, the result – a case of having an environmental state of affairs directly present to one in experience – constitutes one being justified in making

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the associated perceptual claim. (…). And this justification is not defeasible. If someone sees that P, it cannot fail to be the case that P. (McDowell 2009, S. 234 f.)

Wright zieht diese Möglichkeit nicht in Betracht. Vielmehr wiederholt er bloß die Argumentation, die auch schon das Argument von der Sinnestäuschung antreibt. Ich denke, dies macht deutlich, dass die Blindheit gegenüber dieser Möglichkeit einen systematischen Grund haben muss, nämlich jenen, den auch das Argument von der Sinnestäuschung antreibt. Fragen wir uns also: Was treibt das Argument von der Sinnentäuschung an? Was lässt dieses Argument so unausweichlich erscheinen? John McDowell hat die Voraussetzung des Arguments von der Sinnestäuschung so charakterisiert: Das Argument von der Sinnestäuschung beruht auf der Voraussetzung, so McDowell, dass der Grund, den ich für eine Überzeugung habe, in etwas bestehen muss, dessen Vorliegen ich mir unabhängig davon versichern kann, dass ich weiß, dass die Überzeugung, für die es ein Grund ist, wahr ist (McDowell 1998, S. 385). Der Schluss in (3) beruht somit auf folgender Bedingung: Um vermittels einer Wahrnehmung zu wissen, dass p, muss ich unabhängig davon, dass ich weiß, dass p, wissen, dass ich p wahrnehme. Nennen wir dies die Unabhängigkeits-Bedingung für Gründe für Überzeugungen. Wenn diese Bedingung gilt, ist das Argument von der Sinnestäuschung zwingend und das sogenannte einfache Modell zur Erklärung des Irrtums unmöglich. Denn nach der einfachen Erklärung wäre es so, dass mein vermittels einer Wahrnehmung erworbenes Wissen, dass p, darauf beruht, dass ich eine „gute“ sinnliche Erfahrung habe, mit der ich mein Wissen, dass p, begründe. Nach der einfachen Erklärung des Irrtums ist nicht eine neutrale sinnliche Erfahrung, die mich ebenso zu einem wahren wie einem falschen Urteil führen kann, die Grundlage meines Erkenntnisurteils, sondern es ist allein die „gute“ sinnliche Erfahrung, d. h. meine Wahrnehmung, dass p. Und über diese Grundlage, nämlich dass ich wahrnehme, dass p, kann ich nicht unabhängig davon verfügen, dass ich weiß, dass mein Urteil, dass p, wahr ist. Denn nur, wenn es wahr ist, dass p, kann es auch wahr sein, dass ich p wahrnehme. Das einfache Modell zur Erklärung des Irrtums widerstreitet also der Unabhängigkeits-Bedingung für Gründe. Fragen wir uns daher, was die Unabhängigkeits-Bedingung begründet bzw. begründen könnte. Die in der Regel nicht ausgesprochene, sondern fraglos angenommene Begründung der Unabhängigkeits-Bedingung besteht m. E. in dem Gedanken, dass ohne diese Bedingung die Erklärung, die Gründe zu leisten beanspruchen, zirkulär sei. Dieser Einwand liegt zunächst nicht auf der Hand, sondern vielmehr das Gegenteil: Gründe sollen erklären, weshalb ich etwas glaube, und zwar so, dass sie die Überzeugung als vernünftig ausweisen. Ein Grund weist eine Überzeugung dadurch als vernünftig aus, dass er sie als wahr aufzeigt. Jemand, der einen Grund für eine Überzeugung hat, hat also etwas, das

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die entsprechende Überzeugung als wahr aufzeigt und dadurch die Überzeugung als vernünftig ausweist. Nun behauptet das kartesische Argument zu Recht, dass jemand, der einen Grund für eine Überzeugung hat, wissen muss, dass er einen Grund hat, und zwar so, dass er diesen als einen Grund versteht, der die Überzeugung als wahr aufzeigt. Wenn aber das so ist, dann folgt daraus, dass jemand, der einen Grund für eine Überzeugung hat, durch genau diesen Grund zu Wissen kommt. Das aber heißt, man kann keinen Grund für eine Überzeugung haben, ohne durch genau diesen Grund Wissen zu haben. Vertreter der Unabhängigkeits-Bedingung sind nun der Auffassung, dass Gründe nur dann die Rolle spielen können, die ihnen zukommt, wenn der Grund, den jemand für eine Überzeugung hat, ihm unabhängig davon zur Verfügung steht, dass er weiß, dass die Überzeugung, für die er ein Grund ist, wahr ist. Wir können für das Folgende von der Frage absehen, ob und wenn ja, in welchen Erklärungszusammenhängen eine solche Unabhängigkeits-Bedingung gilt. Als prinzipielle Forderung jedoch muss sie falsch sein. Die Unabhängigkeits-Bedingung will sagen, dass das Verfügen über Gründe für Überzeugungen unabhängig davon sein muss, dass man weiß, dass die Überzeugung, die man durch sie begründet, wahr ist. Doch wenn diese Bedingung für Gründe für Überzeugungen gälte, dann hieße dies, dass damit prinzipiell ausgeschlossen wäre, dass Gründe Überzeugungen vollständig erklären können. Machen wir uns klar, weshalb das so ist: Um eine Überzeugung vollständig durch einen Grund zu erklären, müsste es Gründe geben, die derart für die Wahrheit einer bestimmten Überzeugung sprechen, dass sie mit der Falschheit einer bestimmten Überzeugung unvereinbar sind. Das Vorliegen eines solchen Grundes würde das Subjekt dann rational nötigen, diese Überzeugung zu bilden. Wenn jedoch der bestmögliche Grund stets so ist, dass ihm zufolge die Überzeugung, für die er spricht, gleichwohl falsch sein kann, dann bedeutet dies, dass es hier stets einen „Erklärungsrest“ gibt: Es bleibt in letzter Instanz offen, weshalb ich diese Überzeugung bilde und sie nicht doch zurückhalte, weil in letzter Instanz offen ist, ob sie tatsächlich wahr ist. Damit aber geraten wir in eine inkohärente Position: Auf der einen Seite wollen wir sagen, dass es der Sinn von Gründen ist, das Vorliegen von Überzeugungen rational zu erklären. Auf der anderen Seite aber bestreiten wir, dass es prinzipiell möglich ist, Überzeugungen durch Gründe rational zu erklären. Das kann offenkundig nicht befriedigen.Vielmehr sieht es so aus, als hätten wir uns in eine Sackgasse manövriert. Damit soll freilich nicht bestritten werden, dass es Fälle geben kann, in denen jemand eine Überzeugung aus einem Grund bildet, der die Überzeugung nicht vollständig rational erklärt. Wir nennen solche Überzeugungen „bloße Meinungen“. Wenn jemand eine bloße Meinung – im Unterschied zu Wissen – hat, dann hat er einen Grund für seine Überzeugung, der ihn nicht dazu zwingt, diese

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Überzeugung zu bilden. Es gibt hier keine rationale Nötigung. Man kann das auch so ausdrücken, dass man sagt, dass es nicht unvernünftig ist, eine bloße Meinung nicht zu bilden. Es ist also durchaus möglich, dass zwei Subjekte in derselben Situation sind, über dieselbe epistemische Grundlage für eine bestimmte Überzeugung verfügen, und das eine auf dieser Grundlage eine Meinung bildet, das andere nicht, ohne dass das Tun eines der beiden Subjekte als unvernünftig betrachtet werden kann. Doch es kann nicht sein, dass jeder Fall ein solcher Fall ist. Wenn es die Rolle von Gründen ist, das Vorliegen einer Überzeugung als vernünftig auszuweisen, dann kann nicht jeder Fall so beschaffen sein, dass die Gründe, die man hat, es sowohl vernünftig machen, diese Überzeugung zu bilden, wie auch, sie zurückzuhalten. Denn dies würde bedeuten, dass Gründe nicht dasjenige sind, das die Frage entscheidet, ob das, was ich tue, wenn ich eine bestimmte Überzeugung bilde, vernünftig ist. Das aber löst die Idee von Gründen als rationalen Erklärungen von Überzeugungen auf. Um an der Idee von Gründen für Überzeugungen als rationalen Erklärungen festhalten zu können, muss es also Fälle geben, in denen Gründe das Vorliegen einer Überzeugung so erklären, dass man sagen kann, in diesem Fall hat das Subjekt einen Grund gehabt, der ihn rational zu seiner Überzeugung genötigt hat. Das aber legt nahe, dass die Unabhängigkeits-Bedingung für Gründe falsch sein muss.

5 Die Idee der Erkenntnisfähigkeit als „Lösung“ Nach der einfachen Erklärung der Irrtumsmöglichkeit wird der Irrtum dadurch erklärt, dass es gute und schlechte sinnliche Erfahrungen gibt. Die gute Erfahrung erklärt das wahre Urteil, die schlechte Erfahrung erklärt den Irrtum. Nun haben wir oben behauptet, dass die einfache Erklärung den Irrtum dann und nur dann erklären kann, wenn die Unabhängigkeits-Bedingung für Wissen nicht gilt. Gleichwohl haben wir noch nicht positiv gezeigt, wie man es – jenseits der Unabhängigkeits-Bedingung für Gründe – verstehen kann, dass jemand auf der Grundlage einer guten sinnlichen Erfahrung, d. h. einer Wahrnehmung, etwas erkennen kann und auf der Grundlage einer schlechten sinnlichen Erfahrung sich irren kann. Denn Wrights Einwand gegen die einfache Erklärung liegt ein richtiges Motiv zugrunde: Es ist der Gedanke, dass jemand nur dann auf der Grundlage dessen, dass er etwas wahrnimmt, zu Wissen über die Welt kommen kann, wenn er weiß, dass er etwas wahrnimmt. Wenn ich zum Beispiel denke, dass ich die Oase da vorne halluziniere, obgleich dies de facto gar nicht so ist, sondern sich da vorne, mitten in der Wüste, tatsächlich eine Oase befindet, dann hindert mich dieser Gedanke daran, die Oase zu erkennen. Dass ich vermittels meiner Sinne

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erkenne, dass da vorne eine Oase ist, schließt ein, dass ich weiß, dass ich eine Oase wahrnehme. Wir suchen folglich nach einer Erklärung für Wahrnehmungswissen, die verständlich macht, wie wir vermittels einer Wahrnehmung etwas über die Welt erkennen können, indem sie uns zugleich erklärt, wie wir wissen können, dass wir das, was wir vermittels dieser Wahrnehmung erkennen, auch tatsächlich wahrnehmen. Wonach wir suchen ist folglich eine Erklärung für Wahrnehmungswissen, die wesentlich selbstbewusst ist, d. h. die einschließt, dass das Subjekt des Wissens in der Lage ist, sein Wissen selbst rational zu erklären, indem es seine Wahrnehmung als Grund für seine Überzeugung anführt und diese so als vernünftig ausweist. Dass es sich hierbei um eine Erklärung handeln muss, für die die Unabhängigkeits-Bedingung nicht gelten kann, haben wir uns oben klar gemacht. Doch damit haben wir freilich die gesuchte Erklärung noch nicht begreiflich gemacht, sondern nur eine Aussage über ein Merkmal dieser Erklärung getroffen. Weitere Merkmale der gesuchten Erklärung, auf die wir bislang gestoßen sind, sind: Es muss eine rationale Erklärung sein, d. h. sie muss verständlich machen, wie jemand, der etwas wahrnimmt, rational genötigt werden kann, etwas Bestimmtes zu glauben. Und sie muss Wahrnehmungswissen auf eine Weise erklären, die zugleich erklärt, wie Irrtum möglich ist, d. h. sie muss Platz lassen sowohl für gute als auch für schlechte sinnliche Erfahrungen. Ich möchte im Folgenden nahelegen, dass die Idee einer vernünftigen, sinnlichen Erkenntnisfähigkeit die Idee einer Art von Erklärung ist, die genau diese Merkmale erfüllt. Wenn dies richtig ist, dann hieße dies, dass der grundlegende Fall, in dem jemand eine sinnliche Erfahrung hat, ein Fall ist, in dem jemand etwas wahrnimmt, kraft dessen er das, was er wahrnimmt, unmittelbar erkennt. Indem wir den Begriff einer vernünftigen Erkenntnisfähigkeit ins Zentrum unserer Erklärung von Wahrnehmungswissen stellen, nehmen wir auf eine philosophische Tradition Bezug, deren Relevanz für die philosophische Erkenntnistheorie meines Erachtens bislang zumindest unterschätzt wurde. Es ist die Tradition von Aristoteles, Thomas v. Aquin, G. Ryle, L. Wittgenstein und A. Kenny, die mit Ausnahme von Wittgenstein alle ausdrücklich an die Aristotelischen Überlegungen zu Fähigkeiten anknüpfen. Wenn diese Tradition recht hat, dann besteht die grundlegende Bedeutung des Begriffs der Wahrnehmung nicht in der Beschreibung eines einzelnen Zustands, der das Vorliegen einer Überzeugung erklären soll, sondern in der Beschreibung von etwas, das auf einer anderen logischen Ebene steht: Aristoteles nennt dieses „etwas“ eine „dynamis“, Thomas von Aquin nennt es eine „potentia“,Wittgenstein nennt es ein „Können“, und Ryle und Kenny nennen es eine „capacity“. Nun soll im Folgenden nicht behauptet werden, dass die Idee einer „dynamis“, „potentia“ oder „Fähigkeit“ in der Tradition der Erkenntnistheorie ganz

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unbekannt ist. Sie ist den klassischen Autoren des Empirismus wie des Rationalismus – ich meine Descartes, Locke und Hume –, ganz wie auch ihren Vertretern im 20. Jahrhundert – ich meine Russell und Ayer, aber auch Sellars und Davidson – in eben derselben Weise bekannt, wie sie auch dem Common Sense bekannt ist: Wir alle verfügen in unserem Denken über die Kategorie einer Fähigkeit. Wir sagen von uns und anderen, dass wir rechnen und schreiben, lesen und sprechen, tanzen und singen „können“. Und ebenso sagen wir auch, dass wir Dinge wahrnehmen und erkennen „können“. Das „können“, von dem wir hier reden, ist genau dasjenige, um das es im Folgenden gehen wird. Es ist das „können“ im Sinne einer Fähigkeit.Wenn ich also behaupte, dass die Kategorie der Fähigkeit, – und hier genauer: der Erkenntnisfähigkeit – bislang in der Erkenntnistheorie unterschätzt wurde, dann möchte ich damit sagen, dass nicht erkannt wurde, dass die Kategorie einer vernünftigen, sinnlichen Erkenntnisfähigkeit der Grundbegriff zur Erklärung von Wahrnehmungswissen ist. Man kann es vielleicht einen blinden Fleck der Erkenntnistheorie nennen. Es ist nicht so, dass man überhaupt kein Bewusstsein von der Art von Erklärung hat, die eine Fähigkeit liefert, es ist vielmehr so, dass man sie nicht in ihrer philosophischen Bedeutung erkennt. Beginnen wir zunächst mit einigen allgemeinen Überlegungen dazu, was eine Fähigkeit ist. Aristoteles stößt auf die Idee der dynamis im Zusammenhang der Frage, wie das Vorliegen einer bestimmten Art von Veränderung zu erklären ist, also wie es zu erklären ist, dass etwas, das zunächst kalt ist, auf einmal warm ist, oder etwas, das zunächst krank ist, auf einmal gesund ist (Aristoteles, Metaphysik, V. 12, IX. 1– 9). Das Hauptmerkmal, durch das Aristoteles die dynamis charakterisiert, ist, dass sie ein Prinzip der Erklärung ist.Wenn wir sagen, dass ein Ding im Besitz einer dynamis ist, dann statten wir es mit einer bestimmten Form der Erklärung aus: mit etwas, das bestimmte Veränderungen, entweder an diesem Ding selbst oder an einem anderen Ding, erklärt. Nehmen wir etwa ein Stück Holz. Stellen wir uns vor, das Holzstück brennt. Was erklärt diese Veränderung des Holzes, wenn es dabei ist, zu brennen? Dass das Holz brennt, liegt daran, sagt Aristoteles, dass Holz das Vermögen hat, brennbar zu sein. Das Vermögen des Holzes, brennbar zu sein, erklärt in einem bestimmten Sinn, weshalb das Holz jetzt brennt. Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang von einer passiven dynamis, einem passiven Vermögen. Was heißt das genau? Wenn wir sagen, etwas sei brennbar, dann machen wir damit offenkundig keine Aussage über etwas, das hier und jetzt geschieht.Wir sagen damit nicht, dass etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand ist, nämlich dem des Brennens, sondern wir machen eine Aussage, die über alle hier und jetzt beschreibbaren Zustände dieses Gegenstands hinausgeht. Fähigkeiten, ganz wie Dispositionen, stellen nicht wie einzelne Zustände oder Episoden ein bestimmtes

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zeitliches Ereignis in der Welt dar, sondern sind etwas über den Augenblick hinausgehendes Allgemeines.³ Gleichwohl sind Aussagen über Fähigkeiten und Dispositionen intrinsisch auf Aussagen über zeitlich datierbare Zustände oder Handlungen bezogen, nämlich auf genau diejenigen Zustände oder Handlungen, die diese Fähigkeiten oder Dispositionen manifestieren (so auch Ryle 1969, S. 165). Aussagen über Fähigkeiten und Dispositionen ähneln in dieser Hinsicht Gesetzesaussagen: Sie finden ihre Bestätigung in den Zuständen des Gegenstands, die unter die Fähigkeit oder Disposition fallen, ganz so wie Gesetze ihre Bestätigung in den Zuständen jener Gegenstände finden, die unter das entsprechende Gesetz fallen. Die Aussage, „dieses Stück Holz ist brennbar“ stattet uns also mit einer Erklärung für bestimmte Zustände dieses Holzstücks aus, nämlich für genau diejenigen Zustände, in denen es brennt. Und ganz entsprechend wollen wir sagen, dass die Aussage „Peter hat die Fähigkeit, vermittels sinnlicher Eindrücke zu erkennen, wie die Dinge sind“, uns mit einer Erklärung für bestimmte Zustände von Peter ausstattet, eben für jene, in denen er Wahrnehmungswissen hat. Nennen wir das die Aristotelische Doktrin. Eine dynamis, so der Aristotelische Grundgedanke, ist etwas Allgemeines, das in einem erklärenden Verhältnis zu den Fällen steht, die unter den Begriff der dynamis fallen, und zwar so, sagt Aristoteles, dass diese Fälle durch die dynamis vollständig und unmittelbar erklärt werden: Derselbe Begriff [der dynamis, A.K.] erklärt die Sache und ihre Privation, nur nicht auf dieselbe Art und Weise […]. Der Begriff ist Begriff des einen an sich, Begriff des anderen aber gewissermaßen in akzidentellem Sinne. (Aristoteles, Metaphysik, 1046b7– 14)

Wir wollen im Folgenden diesen Gedanken erläutern, indem wir zunächst zwei Einwände diskutieren, die gegen dieses explanatorische Verständnis von Fähigkeiten aufgebracht wurden.

6 Ein erster Einwand gegen die Idee der Fähigkeit Der erste Einwand, der gegen den Aristotelischen Gedanken, dass Fähigkeiten und Dispositionen einen erklärenden Charakter haben, gemacht wurde, ist grundsätzlicher Art. Seine Diskussion soll uns helfen, den Sinn zu verdeutlichen, in dem man von Fähigkeiten sagen kann, dass sie die Akte, die unter sie fallen, erklären.

3 A. Kenny etwa drückt das so aus: „(A)bilities are inherently general; there are no genuine abilities which are abilities to do things only on one particular occasion. This is true even of abilities, such as the ability to kill oneself, which of their nature can be exercised only once“ (Kenny 1975, S. 135).

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Der Einwand wird von Gilbert Ryle diskutiert. Er lautet, dass die Bezugnahme auf Fähigkeiten, Dispositionen, u. Ä. philosophisch nicht erhellend ist. Bei näherer Betrachtung zeigt sich vielmehr, dass die Rede über Fähigkeiten etc. widersinnig ist. Denn was genau ist es denn, was man einem Ding oder einer Person zuschreibt, wenn man ihr eine Fähigkeit zuschreibt? Fähigkeiten, so haben wir gesagt, sind keine einzelnen Zustände, die man in Zeit und Raum lokalisieren kann, sondern etwas über Raum und Zeit hinausgehendes Allgemeines. Das aber, so der Einwand, heißt, dass sie nichts Wirkliches sind.Wenn sie aber nichts Wirkliches sind, was sollen sie dann sein? Es scheint, so formuliert Ryle den Einwand, als wolle man dem Ding oder der Person, der man eine Fähigkeit zuschreibt, „eine Eigenschaft zugleich zuschreiben und sie absprechen (…)“ (Ryle 1969, S. 157). Und das kann nicht sein, denn „entweder kennzeichnet eine Eigenschaft etwas, oder sie tut es nicht“ (Ryle 1969, S. 157). Das Dilemma ist folgendes: Entweder der Satz „das Holzstück ist brennbar“ ist wahr. Dann aber bedeutet das, dass wir dem Holzstück eine Eigenschaft zuschreiben, die in Raum und Zeit existiert. Oder aber der Satz ist falsch. Dann aber bedeutet das, dass das Holzstück die Eigenschaft der Brennbarkeit nicht hat. Ein „Mittelding zwischen dem Wahrsein und Falschsein eines Satzes“ aber, wie Ryle es ausdrückt, gibt es nicht (Ryle 1969, S. 157 f.). Für Vertreter dieses Einwands gibt es somit nur zwei Möglichkeiten: Entweder man gibt die Rede von Fähigkeiten und Dispositionen völlig auf. Oder man behauptet, wie Hume, und im Anschluss daran Goodman und Sellars dies getan haben, dass Aussagen über Fähigkeiten und Dispositionen keinen anderen Sinn haben können als den, der sich in Aussagen über Akte und Zustände wiedergeben lässt.⁴ Ich will im Folgenden diese Reduktionsversuche nicht im Einzelnen diskutieren,⁵ sondern den Einwand betrachten, der einen zu einem solchen Reduktionsversuch zu zwingen scheint. Ryle argumentiert wie folgt: Der Einwand muss voraussetzen, dass Aussagen wie „Peter kann schwimmen“, „das Holstück ist brennbar“, „Zucker ist löslich“, den Sinn haben, ganz wie die Aussagen über die Zustände und Akte, die unter sie fallen, Sachverhalte zu beschreiben, die sich von ersteren dadurch unterscheiden, dass sie „in einer Art Niemandsland existieren“. Ryle scheibt: Tatsächlich war dies der Irrtum der alten Fakultätentheorien, welche Dispositionswörter als Bezeichnungen von okkulten Organen und Ursachen auslegten, d. h. also von Dingen oder von Vorgängen, die in einer Art Niemandsland existieren oder sich dort abspielen. (Ryle 1969, S. 158)

4 Vgl. dazu Goodman 1965, Sellars 1958 und Wolf 1979. 5 Ich habe in Kern 2006, Kap. VIII.2 ausführlich gezeigt, dass und weshalb diese Reduktionsversuche scheitern müssen. Ich komme im nächsten Abschnitt darauf zurück.

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Ryle will sagen: Nicht alle sinnvollen Indikativsätze haben die Funktion, Aussagen über die „Existenz oder den Vorfall gewisser Dinge“ zu sein (Ryle 1969, S. 158). Es ist falsch zu glauben, dass Aussagen über Dispositionen und Fähigkeiten nur dann einen erklärenden Charakter haben, wenn sie gewisse, raumzeitlich lokalisierbare „Dinge“ beschreiben. Es ist vielmehr so, dass die Erklärung eines Vorkommnisses durch ein anderes Vorkommnis nur eine Art der Erklärung ist, die wir kennen. Eine andere Art der Erklärung, die wir kennen, ist die Erklärung bestimmter Vorkommnisse durch ein Gesetz. Das Gesetz der Schwerkraft erklärt, weshalb der Stein in meiner Hand, wenn ich ihn loslasse, zu Boden fällt. Dasselbe Gesetz erklärt auch, weshalb mein Fahrrad, wenn ich es loslasse, zur Seite kippt. Und dasselbe Gesetz erklärt, weshalb Evas Fahrrad zur Seite kippt, wenn sie es loslässt, und dasselbe Gesetz erklärt, weshalb der Löwe, der zu einem mächtigen Sprung ansetzt, um die Antilope zu fangen, am Ende doch wieder auf dem Boden ankommt. Es ist ein und dasselbe Gesetz, das in all diesen Ereignissen wirksam ist und diese erklärt. Gesetze liefern keine Erklärungen für nur einen einzigen Fall, sondern sie sind allgemein und erklären eine prinzipiell unendliche Vielzahl von Einzelfällen. Das heißt, wenn ich ein bestimmtes Gesetz kenne, bin ich kraft dieses Wissens in der Lage, eine prinzipiell unendliche Vielzahl von Einzelfällen, die unter dieses Gesetz fallen, zu erklären. Gesetze werden daher häufig in hypothetischen Allgemeinurteilen der folgenden Form formuliert: „Wenn man einen Körper ohne Stütze lässt, dann fällt er zu Boden.“ Das heißt, wenn ich das Gesetz der Schwerkraft kenne, und weiß, dass der Vordersatz erfüllt ist, dann versetzt mich dies in die Lage, zu wissen, dass auch der Nachsatz erfüllt sein wird. Ryles zentrale Einsicht besteht also in dem Gedanken, dass wir den Sinn der Rede von Fähigkeiten und Dispositionen nur dann verstehen, wenn wir uns klarmachen, dass er vergleichbar ist mit jenem, den Gesetze haben. Wenn wir sagen, dass Zucker wasserlöslich ist, dann sagen wir damit, dass wir eine Erklärung dafür haben, weshalb sich der Zucker, den wir gerade in Wasser gegeben haben, auflöst. Das, was dies erklärt, ist seine Wasserlöslichkeit. Und wenn wir sagen, dass Eva die Fähigkeit hat, Rad zu fahren, dann sagen wir damit, dass wir eine Erklärung dafür haben, weshalb sie gerade das rechte Bein auf das Pedal drückt und dann das linke Bein, dann wieder das rechte Bein und dann wieder das linke Bein, etc. Das, was uns dies erklärt, ist ihre Fähigkeit, Rad zu fahren. Und wenn wir nun desweiteren sagen – um zu unserem eigentlichen Thema, der Wahrnehmung zurückzukehren –, dass Eva die Fähigkeit hat,vermittels sinnlicher Eindrücke etwas zu erkennen, dann sagen wir damit, dass wir eine Erklärung dafür haben, weshalb sie, die gerade den sinnlichen Eindruck eines vor ihr liegenden Balls hat, genau dadurch erkennt, dass vor ihr ein Ball liegt. Das, was uns dies erklärt, ist ihre Fähigkeit,vermittels sinnlicher Eindrücke zu erkennen,wie die Dinge sind.

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7 Ein zweiter Einwand gegen die Idee der Fähigkeit Gegen diese Erklärung erhebt sich nun jedoch ein zweiter Einwand. Der zweite Einwand wird von Aristoteles diskutiert. In der zeitgenössischen Philosophie wurde er u. a. von Goodman, Wolf und Sellars diskutiert.⁶ Der zweite Einwand gesteht im Unterschied zum ersten Einwand zu, dass die Rede von Fähigkeiten und Dispositionen einen erklärenden Sinn hat. Doch die Erklärung, die sie liefern, sei nicht vollständig, was sie nach der Aristotelischen Doktrin gerade sein soll. Eine dynamis, so Aristoteles, erklärt den Fall, der ihren Begriff ausmacht, vollständig und unmittelbar. Doch nun betrachten wir folgende Fälle: Jemand gibt ein Stück Zucker ins Wasser, doch der Zucker löst sich nicht auf. Das Zuckerstück war in Alufolie gewickelt. Oder: Jemand reibt ein Streichholz, aber es entzündet sich nicht. Das Streichholz war nass. Oder: Jemand hat die sinnliche Erscheinung eines vor ihm liegenden Balls, doch er erkennt dadurch nicht, dass vor ihm ein Ball liegt. Vor ihm liegt gar kein Ball, sondern steht ein Spiegel, der einen hinter ihm liegenden Ball spiegelt. Das Gemeinsame aller drei Fälle können wir so beschreiben: In allen drei Fällen kommt es nicht zu jenem Akt oder jenem Ereignis, die von der Disposition oder der Fähigkeit erklärt werden sollen, obgleich in allen drei Fällen der Vordersatz des subjunktiven Konditionals erfüllt ist, durch den man die jeweilige Disposition erläutern kann. Die Wasserlöslichkeit des Zuckers lässt sich durch das Konditional erläutern „Wenn man Zucker in Wasser gibt, löst er sich auf“. Die Fähigkeit, durch sinnliche Erscheinungen Gegenstände zu erkennen, lässt sich durch das Konditional erläutern, „Wenn man die sinnliche Erscheinung eines Gegenstands hat, erkennt man diesen dadurch“. Aristoteles nennt solche Fälle wie die obigen privative Fälle. Es sind Fälle, die logisch unter die Disposition oder Fähigkeit fallen, insofern der Vordersatz des sie erläuternden Konditionals erfüllt ist, in denen es jedoch gleichwohl nicht zu einem Fall ihrer Aktualisierung kommt. Aristoteles nennt solche Fälle privative Fälle, um zu sagen, dass es Fälle sind, die im Verhältnis zu den positiven Fällen durch „Wegnahme und Verneinung“ erklärt werden (Aristoteles, Metaphysik, 1046b). Wir kommen weiter unten darauf noch zurück. Fragen wir uns aber zunächst, was uns diese Fälle zeigen sollen. Die Fälle zeigen uns, so möchte der Einwand sagen, dass Fähigkeiten und Dispositionen den Fall, der die Disposition und Fähigkeit aktualisiert, nicht vollständig erklären können. Für eine solche Erklärung müssen wir vielmehr eine Zusatzbehauptung machen, nämlich die, dass günstige Umstände für die Aktua-

6 Vgl. dazu die Positionen von Goodman 1965, Wolf 1979, Sellars 1958. Siehe dazu auch meine Kritik in Kern 2006, S. 281 ff.

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lisierung der Disposition bestehen. Das, was den Fall der Aktualisierung der Disposition erklärt, ist nicht einfach die Disposition, sondern die Disposition und die Tatsache, dass günstige Umstände für die Aktualisierung der Disposition bestehen. Doch fragen wir uns, wie wir in die Lage kommen, jene Umstände zu bestimmen, die wir als „günstige“ und „ungünstige“ Umstände qualifizieren. Was ermöglicht es uns etwa, einen Fall, in dem wir ein Streichholz reiben und es sich nicht entzündet, so zu beschreiben, dass wir sagen, es würde sich deswegen nicht entzünden, weil ungünstige Umstände für die Aktualisierung der Disposition bestehen? Das einzige,was uns eine solche Erklärung ermöglichen kann, ist, dass wir auf einen Fall Bezug nehmen, in dem die Disposition aktualisiert wird und der durch die Disposition vollständig erklärt wird. Dies ist deswegen so, weil wir unabhängig von einem solchen Fall, d. h. von einem Fall, den wir so verstehen, keinen Begriff ungünstiger Umstände bilden können, vermittels derer wir dann von bestimmten Fällen sagen können, dass sie zwar unter die fragliche Disposition fallen, diese jedoch deswegen nicht oder nur unvollkommen aktualisiert wird, weil ungünstige Umstände bestehen. Es gibt keine andere Möglichkeit, einen Begriff ungünstiger Umstände zu bilden, als die, zu sagen, es seien all jene Umstände, unter denen die Disposition nicht oder nur unvollkommen aktualisiert wird. Und dies impliziert, dass die Disposition in all jenen Fällen, in denen keine ungünstigen Umstände vorliegen, ihre Aktualisierung vollständig erklärt. Daher hat Elisabeth Anscombe auch darauf hingewiesen, dass sich keine vollständige Liste von ungünstigen Umständen aufstellen lässt, eben weil die Idee einer solchen Liste rein negativ ist: Es ist die Idee all jener Umstände, die nicht so sind wie jene, unter denen die Disposition aktualisiert wird (Anscombe 1981, bes. S. 138). Doch welche Umstände das sind, d. h. welche Umstände so sind, dass unter ihnen die Disposition nicht oder nur unvollkommen aktualisiert wird, ist prinzipiell unbestimmt. Die sogenannten günstigen Umstände können folglich zur Erklärung des positiven Falls nicht als ein weiteres, zusätzliches Element zur Disposition noch hinzukommen, sondern müssen in unserem Verständnis der Disposition stets schon enthalten sein. Damit erweist sich die Richtigkeit der Aristotelischen Doktrin. Entweder eine Disposition erklärt den Fall, der unter ihren Begriff fällt, vollständig – oder sie erklärt ihn gar nicht, was so viel heißt wie: Es gibt keine Dispositionen und Fähigkeiten, womit wir wieder beim ersten Einwand wären.

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8 Fähigkeiten und ihre Privation Folgen wir Aristoteles, dann zeigen uns die obigen Fälle nicht, dass Dispositionen und Fähigkeiten keine vollständigen Erklärungen liefern. Sie zeigen uns vielmehr etwas über die Art der Erklärung, die uns Dispositionen und Fähigkeiten liefern. Denn sie zeigen uns, dass die Art der Erklärung, die sie liefern, nicht auf die Form eines logischen Schlusses reduziert werden kann, sondern vielmehr eine Erklärung sui generis darstellt.⁷ Ein logischer Schluss nämlich würde voraussetzen, dass es möglich ist, Aussagen über Dispositionen und Fähigkeiten in Konditionalsätze zu analysieren wie etwa „Wenn man Zucker in Wasser gibt, löst er sich auf“. Doch genau das, so zeigen die obigen privativen Fälle, kann man nicht. Hätten die Konditionalsätze, durch die wir Dispositionsaussagen durchaus erläutern können, den Sinn, diese auf eine grundlegendere Weise zu analysieren, dann hätten die privativen Fälle den Effekt, die Konditionalsätze zu falsifizieren und damit die Disposition aufzulösen. Den Sinn dieser Konditionalsätze versteht man folglich nur dann richtig – nämlich so, dass diese Sätze durch die privativen Fälle nicht falsifiziert werden –, wenn man schon ein vorhergehendes Verständnis der Disposition als etwas hat, unter das zwei Arten von Fällen fallen: solche, die die Disposition verwirklichen und die durch sie daher unmittelbar und vollständig erklärt werden und solche, in denen ihre Verwirklichung scheitert, was nur über partikulare, sogenannte ungünstige Umstände erklärt werden kann. Daraus folgt, dass die Konditionalsätze, in denen wir Dispositionen erläutern, keinen analysierenden Sinn haben können, der die Dispositionsaussage auf eine grundlegendere Beschreibung zurückführt, so dass sich die Erklärung, die sie liefern, in Form eines logischen Schlusses rekonstruieren ließe dergestalt, dass ich auf die Verwirklichung der Disposition schließen kann, wenn ich den Konditionalsatz kenne und weiß, dass der Vordersatz erfüllt ist. Die Konditionalsätze, von denen oben die Rede war, haben vielmehr einen bloß erläuternden Sinn, dessen Verständnis von einem vorhergehenden Verständnis der Dispositionsaussage abhängig ist. Dispositionen und Fähigkeiten stellen eine Erklärung sui generis dar. Und zwar eine Erklärung, so zeigen die privativen Fälle, die an bestimmte Umstände gebunden ist. Und genau deswegen, weil Dispositionen und Fähigkeiten eine von

7 Vgl. dazu auch den instruktiven Aufsatz „Dispositions und Habituals“ von M. Fara, in dem er nachdrücklich zeigt, dass keine der zahlreichen vorgeschlagenen Verteidigungsstrategien der Konditionalanalyse von Dispositionen erfolgreich ist. Daher kommt auch er zu dem Schluss: „The lesson that should be drawn from the preceding discussion is that conditionals are simply not suited to the task of stating the truth conditions of disposition ascriptions“ (Fara 2005, S. 61).

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Umständen abhängige Art der Erklärung liefern, sagt Aristoteles, dass man, um den Fall der Aktualisierung eines Vermögens, einer Disposition oder einer Fähigkeit zu erklären, „nicht noch hinzufügen [muss], dass kein äußeres Hindernis dazutreten dürfe“, denn, so heißt es weiter, der Träger eines bestimmten Vermögens „verfügt über das Vermögen […] nur insofern, als es Vermögen ist, und ein derartiges ist es nicht schlechterdings, sondern nur unter bestimmten Verhältnissen, wovon schon die äußeren Hindernisse ausgeschlossen sein werden.“ (Aristoteles, Metaphysik, IX.5 1048a). Aristoteles will damit nicht sagen, dass jemand unter sogenannten ungünstigen Umständen nicht im Besitz des fraglichen Vermögens ist. Es ist nicht so, dass ich, wenn es dunkel ist, nicht im Besitz der Fähigkeit bin, vermittels sinnlicher Erscheinungen zu erkennen, wie die Dinge sind. Denn alles, was nötig ist, damit ich diese Fähigkeit ausüben kann, ist, dass man eben diese ungünstigen Umstände beiseite räumt. Aristoteles will damit sagen, dass jemand, der im Besitz eines Vermögens ist, für die Ausübung dieses Vermögens von bestimmten Umständen abhängig ist. Und eben darum ist es überflüssig, weil tautologisch, bei einer solchen Form der Erklärung hinzuzufügen, „dass kein äußeres Hindernis dazutreten dürfe“. Wenn aber das so ist, dann gelingt es uns tatsächlich, das Problem zu lösen, mit dem wir oben begonnen haben: Wir haben mit dem Problem begonnen, dass es für uns unmöglich zu sein scheint, ein unmittelbares Bewusstsein materieller Gegenstände zu haben, wenn wir zugleich dem Gedanken Rechnung tragen wollen, dass wir uns über materielle Gegenstände irren können. Beides schien nicht zusammen zu gehen: die Möglichkeit eines unmittelbaren Bewusstseins schien mit der Möglichkeit des Irrtums unvereinbar. Unsere Überlegungen über Fähigkeiten indes zeigen uns einen Weg, wie wir beides nicht nur miteinander verbinden können, sondern wie beides eine wesentliche Einheit bildet. Denn wenn es richtig ist, dass Fähigkeiten umständeabhängige Formen einer allgemeinen Erklärung sind, dann heißt dies, wie wir oben gesehen haben, dass es zum Begriff einer Fähigkeit gehört, dass zwei Arten von Fällen unter sie fallen: solche, die sie unmittelbar und vollständig erklärt, sogenannte positive Fälle, und solche, bei denen ungünstige Umstände vorliegen, die erklären, weshalb die Verwirklichung der Fähigkeit scheiterte, d. h. sogenannte privative Fälle. Übertragen wir unsere Überlegungen zu Fähigkeiten auf die Idee von Wahrnehmungswissen, dann kommen wir damit zu folgender Erläuterung: Jemand, der weiß, dass p, weil er sieht, dass p, ist als jemand zu verstehen, der die Fähigkeit ausübt, vermittels sinnlicher Eindrücke zu erkennen, wie die Dinge sind. Dies schließt nicht aus, sondern enthält den Gedanken, dass es Fälle geben kann, in denen er einen sinnlichen Eindruck hat, ohne vermittels dieses sinnlichen Eindrucks zu erkennen, wie die Dinge sind, etwa weil er halluziniert, weil er träumt, weil er Doppelbilder sieht etc.

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Wenn wir also von jemandem sagen, dass er vermittels seiner Sinne erkennen kann, wie die Dinge sind, dann hat das „kann“ hier den spezifischen Sinn, in dem es eine Fähigkeit bezeichnet. In einem bestimmten Sinn ist es daher auch richtig, jemanden, der etwas sinnlich erkennt, als jemanden zu beschreiben, der, wie Ryle es ausdrückt, eine „Leistung“ vollbringt (Ryle 1969, S. 173 und S. 199 f.). Dass er eine Leistung vollbringt, heißt dabei nicht, dass er sich mühselig anstrengen muss. Nein, in der Regel müssen wir nur die Augen aufmachen. Es heißt vielmehr, dass jemand, der Wahrnehmungswissen erwirbt, einen Akt vollzieht, der auf etwas zurückgeführt wird, dessen Aktualisierung prinzipiell scheitern kann. Ryle drückt dies so aus, dass er sagt, es sei eine „wichtige Tatsache“, dass es jemandem, der schreiben oder rechnen kann, „auch möglich sein muß, sich zu verschreiben oder zu verrechnen“ (Ryle 1969, S. 174). Es ist, so können wir diesen Gedanken reformulieren, eine „wichtige Tatsache“, dass die Aussage „Er kann rechnen“ verknüpft ist mit der Aussage „Er kann sich verrechnen“, dass die Aussage „Er kann schreiben“ verknüpft ist mit der Aussage „Er kann sich verschreiben“, dass die Aussage „Er kann etwas erkennen“ verknüpft ist mit der Aussage „Er kann sich irren“. Wir wollen uns diese „wichtige Tatsache“ weiter klar machen, indem wir mit Bezug auf die obigen Überlegungen fragen, wie das „kann“ in dem Satz „Er kann sich irren“ zu verstehen ist. Ryle sagt, dass der Sinn von „kann“ in beiden Aussagen verschieden ist. Während das „kann“ in „Er kann rechnen“ das „kann“ der Fähigkeit ist, ist das „kann“ in „Er kann sich verrechnen“, keine Fähigkeit, sondern eine „Anfälligkeit“ (Ryle 1969, S. 174). Es ist eine Anfälligkeit, der derjenige ausgesetzt ist, der die dieser Anfälligkeit entsprechende Fähigkeit besitzt. Was bedeutet das genau? Nach den obigen Überlegungen ist das Verhältnis zwischen den Fällen der Erkenntnis und denen des Irrtums dann, wenn wir den Begriff des Wahrnehmungswissens als den Begriff einer Fähigkeit verstehen, so zu beschreiben, dass zwischen den Fällen der Erkenntnis und denen des Irrtums eine explanatorische und normative Asymmetrie besteht. Dass eine explanatorische Asymmetrie besteht, heißt, dass sinnliche Erkenntnis genau jenen Fall darstellt, der unmittelbar und vollständig durch die entsprechende Fähigkeit erklärt wird. Der Irrtum stellt dagegen den privativen Fall dar, der nur unter Bezugnahme auf partikulare, kontingente Umstände erklärt werden kann, deren Sinn es ist, zu erklären, weshalb die Aktualisierung der Fähigkeit in diesem besonderen Fall gescheitert ist. Der Umstand, dass Peter betrunken ist und er daher glaubt, einen rosaroten Elefanten zu sehen, oder er im gleißenden Sonnenlicht in der Wüste steht, wodurch er eine Oase zu sehen glaubt, sind etwa solche Umstände. Dass eine normative Asymmetrie besteht heißt, dass der Fall der Erkenntnis die Norm jener Fälle darstellt, in denen sich jemand irrt. Fälle des Irrtums sind

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nicht einfach alternative kognitive Zustände zu denen der Erkenntnis, sondern sind in einem bestimmten Sinn misslungene Zustände: Es sind Zustände, in denen die Verwirklichung jener Norm gescheitert ist, um deren Verwirklichung es einem in seiner kognitiven Tätigkeit ging. Irrtümer sind Fälle des Fehlgehens, des Scheiterns. Wenn Ryle den Irrtum als eine „Anfälligkeit“ beschreibt, der derjenige ausgesetzt ist, der die Fähigkeit zur Erkenntnis hat, dann macht er damit ausdrücklich, dass diese beiden Asymmetrien noch mit einer dritten verknüpft sind: einer logischen Asymmetrie. Der Fall des Irrtums und der Fall der Erkenntnis stehen logisch nicht auf derselben Ebene, sondern der Irrtum ist von der Erkenntnis logisch abhängig. Dies bedeutet, dass Fälle des sinnlichen Irrtums nur vermittels von Fällen der sinnlichen Erkenntnis begrifflich bestimmbar sind: nämlich negativ als Fälle, in denen etwas nicht so ist wie in jenen Fällen, in denen jemand etwas sinnlich erkennt. Das heißt, die negativen Fälle kann ich nur dadurch begrifflich bestimmen, dass ich mich auf positive Fälle beziehe und mit Bezug auf diese sage, dass in den negativen Fällen eine sinnliche Erfahrung vorliegt, die nicht so ist wie jene in den positiven Fällen, in denen ich kraft einer sinnlichen Erfahrung etwas erkenne. Der Begriff einer sinnlichen Erfahrung, durch die ich nicht erkenne, wie die Dinge sind, sondern mich darüber täusche, ist folglich kein voraussetzungsloser Grundbegriff, wie das kartesische Modell meint, sondern ein von der Idee einer sinnlichen Erkenntnisfähigkeit abhängiger, privativer Begriff. Nur wenn ich verstehe, was es heißt, etwas sinnlich zu erkennen, kann ich mit Bezug auf diese Idee auch verstehen, was es heißt, sich auf der Basis sinnlicher Erfahrungen zu irren. Daraus folgt, dass Fälle des Irrtums überhaupt nur vorliegen können, wenn es auch Fälle gibt, in denen jemand etwas erkennt, während das Umgekehrte nicht gilt. Man beachte jedoch: Die Aussage, dass hier eine logische Asymmetrie besteht, darf nicht mit einer statistischen Aussage über die Häufigkeit des Vorkommens von Wissen und Irrtum verwechselt werden. Wenn wir über jemanden sagen, dass er die Fähigkeit hat, vermittels sinnlicher Eindrücke zu erkennen, wie die Dinge um ihn herum sind, dann sagen wir damit nicht, dass er in den meisten Fällen, in denen er einen sinnlichen Eindruck hat, einen guten sinnlichen Eindruck hat. Es ist durchaus vorstellbar, dass jemand die Fähigkeit zur sinnlichen Erkenntnis hat, aber sich gleichwohl in vielen Fällen über die Dinge irrt. Ebenso wie es vorstellbar ist, dass jemand, der Skifahren kann, dennoch häufig stürzt, etwa in sehr schwierigem Gelände. Wenn wir jemandem eine Fähigkeit zuschreiben, dann machen wir damit keine Aussage über das statistische Verhältnis der Fälle, in denen es zu einer erfolgreichen Ausübung dieser Fähigkeit kommt zu jenen Fällen, in denen diese Ausübung scheitert. Wir machen eine Aussage über deren logisches Verhältnis und dies lässt es vollkommen offen, wie oft jemand eine sinnliche Erkenntnis hat und wie oft er das Opfer einer sinnlichen Täuschung wird.

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Nach der Fähigkeitskonzeption von Wahrnehmungswissen können wir das Verhältnis zwischen Wahrnehmungswissen und Irrtum damit wie folgt beschreiben: Jemand, der etwas sinnlich erkennt, vollzieht einen Akt, in dem er genau jene Norm verwirklicht, die konstitutiv für diesen Akt ist. Jemand, der sich irrt, ist – aufgrund kontingenter, partikularer Umstände – daran gescheitert, jene Norm zu verwirklichen, die konstitutiv für diesen Akt ist. Nach dem kartesischen Modell ist dies anders. Innerhalb der kartesischen Betrachtung hat das „kann“ in dem Satz „Er kann etwas erkennen“ dieselbe Bedeutung wie das „kann“ in dem Satz „Er kann sich irren“. Es ist nicht so, dass zwischen Erkenntnis und Irrtum eine Asymmetrie besteht derart, dass das „kann“ in dem Satz „Er kann sich irren“ den Status einer Anfälligkeit hat. Das „kann“ in diesem Satz beschreibt nach dem kartesischen Modell eine von zwei Möglichkeiten, die in einem symmetrischen Verhältnis zueinander stehen. Genau so,wie er sich irren kann, kann er auch zu einer wahren Überzeugung kommen. Es versteht den Sinn beider Aussagen so, dass sie zwei gleichrangige Möglichkeiten beschreiben. Meine Absicht hier war es, zu zeigen, dass die Prämisse des Arguments, demzufolge man aufgrund der Irrtumsmöglichkeit bestreiten muss, dass wir ein unmittelbares Bewusstsein materieller Gegenstände haben, nicht zwingend ist. Es gibt eine alternative Erklärung des Irrtums. In dieser alternativen Erklärung des Irrtums hat der Irrtum einen anderen Status als in dem kartesischen Modell. Im kartesischen Modell ist der Irrtum eine gleichrangige Möglichkeit neben der Erkenntnis. Im Fähigkeits-Modell hat der Irrtum den Status einer Anfälligkeit, die für denjenigen besteht, der die Fähigkeit hat, etwas zu erkennen: eine Anfälligkeit für Akte, die nicht so sind, wie sie gemäß der sinnlichen Erkenntnisfähigkeit, die konstitutiv für diese Akte ist, sein sollen.

9 Wahrnehmungswissen und Fallibilität Wahrnehmungswissen ist wesentlich fehlbar. Das heißt, jemand kann glauben, etwas sinnlich zu erkennen, ohne dass das der Fall ist. Weshalb ist das so? Nach dem kartesischen Modell gründet die Fehlbarkeit unseres Wahrnehmungswissens in einer Unfähigkeit: in der Unfähigkeit, sinnliche Eindrücke zu haben, die unseren Urteilen eine wahrheitsgarantierende Grundlage liefern. Weil unsere sinnlichen Eindrücke prinzipiell keine Wahrheitsgarantie liefern können, ist der Irrtum eine stets gegebene Möglichkeit, die wir prinzipiell in keinem Urteil ausschließen können. Die Fähigkeitskonzeption von Wahrnehmungswissen beruht hingegen darauf, dass sie die Idee einer solchen Unfähigkeit zurückweist. Die Fehlbarkeit unseres Wissens ist nicht Ausdruck einer Unfähigkeit, sondern der

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irreduzible Aspekt einer Fähigkeit: eben der Fähigkeit, vermittels sinnlicher Eindrücke zu erkennen,wie die Dinge sind. Denn wie wir gesehen haben, gehört es zur Idee einer solchen Fähigkeit, dass ihre Ausübung von bestimmten, sogenannten günstigen Umständen abhängig ist. Dass die Ausübung dieser Fähigkeit vom Vorliegen dieser Umstände abhängig ist, heißt, dass deren Vorliegen eine Sache ist, die das Subjekt nicht anders denn durch eine Aktualisierung eben dieser Fähigkeit sicherstellen kann. Das heißt, nur durch einen Vollzug, der seinerseits vom Vorliegen ebensolcher günstiger Umstände abhängig ist. Ganz so, wie ich durch Wahrnehmung erkennen kann, ob vor mir eine Teetasse steht, kann ich durch Wahrnehmung auch erkennen, ob die Umstände für das Wahrnehmen einer Teetasse günstig sind. Dass ich beides erkennen kann, heißt, dass ich zu Akten in der Lage bin, deren gelingender Vollzug von günstigen Umständen irreduzibel abhängig ist. Dass wir von solchen Umständen abhängig sind, heißt nun indes nicht, wie das kartesische Modell glauben muss, dass wir keine unmittelbare Erkenntnis materieller Gegenstände haben können: Es ist nicht die Quelle einer Unfähigkeit, sondern im Gegenteil, Ausdruck der Tatsache, dass Wahrnehmungserkenntnis das Resultat der Ausübung einer falliblen Fähigkeit ist. Kommen wir abschließend noch einmal auf den Einwand von Crispin Wright zurück: Sein Einwand war, dass die einfache Erklärung des Irrtums, die die disjunktive Konzeption sinnlicher Erfahrung liefert, voraussetzt, dass ich wenigstens in manchen Fällen wissen kann, dass ich eine gute sinnliche Erfahrung habe und keine schlechte. Denn nur dann kann sie erklären, wie ich auf der Basis einer sinnlichen Erfahrung zu einem wahren Urteil kommen kann. Da ich aber unfähig bin, gute und schlechte sinnliche Erfahrungen anhand eines Kriteriums voneinander zu unterscheiden, wenn Irrtum möglich sein soll, kann ich dieses Wissen über die Qualität meiner sinnlichen Erfahrung nicht haben. Dann aber, so der Einwand, kann die disjunktive Konzeption sinnlicher Erfahrung Wahrnehmungswissen nicht erklären. Wir können den Einwand an dieser Stelle auch so formulieren, dass er als ein Einwand gegen die Fähigkeitskonzeption erscheint. Denn wir hatten vorhin ja behauptet, dass der Schlüssel zur Lösung des kartesischen Problems in der Idee liegt, dass wir Wahrnehmung als fallibles Erkenntnisvermögen begreifen müssen. Wenn wir Wahrnehmung als fallibles Erkenntnisvermögen begreifen, dann können wir verstehen, was es bedeutet und warum es richtig ist, eine disjunktive Konzeption sinnlicher Erfahrung zu haben. Denn wenn man Wahrnehmung als fallibles Erkenntnisvermögen begreift, dann bedeutet dies, dass der Begriff der Wahrnehmung intrinsisch darauf angelegt ist, auf zwei Klassen von Zuständen angewendet werden zu können: auf solche, in denen das Erkenntnisvermögen vollkommen aktualisiert wird und die wir daher im vollen Sinn „Wahrnehmungen“ nennen, und auf solche, in denen dieses Vermögen auf defekte Weise aktualisiert

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wird und die wir daher auch defekte oder trügerische Wahrnehmungen nennen. Die Möglichkeit des Irrtums wäre damit auf einfache Weise erklärt, nämlich als defektive Aktualisierung eben dieses Erkenntnisvermögens, ohne dass wir dadurch bestreiten müssten, dass Wahrnehmungen im gelingenden Fall uns ein unmittelbares Bewusstsein davon geben können,wie die Dinge in der Welt sind, so dass wir im gelingenden Fall auf ihrer Grundlage zu Wissen über die Welt kommen können. Genau das jedoch, nämlich wie wir auf der Grundlage von so verstandenen Wahrnehmungen zu Wissen über die Welt kommen können, so ließe sich der Einwand nun reformulieren, kann auch die vorgeschlagene Konzeption von Wahrnehmung als Erkenntnisvermögen nicht begreiflich machen. Denn selbst wenn man zugesteht, dass Wahrnehmungen im gelingenden Fall in Zuständen bestehen, in denen wir ein unmittelbares Bewusstsein von einem Ding in der uns umgebenden Welt haben, so ist doch nicht zu verstehen, wie eine Wahrnehmung uns einen wahrheitsgarantierenden Grund für ein Urteil über dieses Ding liefern kann. Denn eine Wahrnehmung, so das Argument, könnte uns nur dann einen wahrheitsgarantierenden Grund für ein solches Urteil liefern, wenn wir wüssten, dass die fragliche Aktualisierung unseres Erkenntnisvermögens nicht defekt ist, d. h. wenn wir wüssten, dass die Wahrnehmung, die wir haben, tatsächlich in einer vollkommenen Aktualisierung unseres Erkenntnisvermögens besteht und nicht in irgendeiner Weise defekt ist.⁸ Das jedoch können wir aufgrund der Fallibilität unseres Erkenntnisvermögens prinzipiell nicht wissen. Denn die Fallibilität unseres Erkenntnisvermögens anzuerkennen heißt anzuerkennen, dass es defekte Aktualisierungen unseres Erkenntnisvermögens geben kann, die in der Perspektive dieser Aktualisierung – d. h. solange nichts weiteres hinzukommt – ununterscheidbar sind von vollkommenen Aktualisierungen des Vermögens. Andernfalls wäre Irrtum unmöglich. Doch wenn wir das anerkennen, dann scheint daraus zu folgen, dass selbst dann, wenn unser Vermögen vollkommen aktualisiert wird und wir also eine Wahrnehmung haben, in der sich uns unmittelbar zeigt, wie die Dinge sind, wir nicht wissen können, dass es so ist, d. h. wir nicht wissen können, dass wir eine solche Wahrnehmung haben.Wenn wir aber prinzipiell nicht wissen können, dass wir in einer solchen Situation, in der alles gut geht, einen wahrheitsgarantierenden Grund für unser Urteil haben, dann folgt daraus, dass wir auch in einer solchen Situation, in der alles gut geht, unser Urteil nicht durch einen solchen Grund stützen können. Und das heißt: Wir können niemals ein Urteil fällen, das wir durch einen wahrheitsgarantierenden Grund stützen. Auch die Idee einer vernünftigen, sinnlichen Erkenntnisfähigkeit hilft uns folglich nicht, das Problem zu lösen, das wir damit lösen wollten.

8 Zu einer Diskussion dieser Art von Einwand vgl. auch McDowell 2011, S. 40 f.

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Doch auf welcher Voraussetzung beruht dieser Einwand? Den Einwand, so möchte ich abschließend behaupten, kann man nur machen, wenn man von vornherein den Gedanken leugnet, dass Wahrnehmungserkenntnis in der Aktualisierung einer bestimmten Art von Erkenntnisfähigkeit besteht. Der Einwand verlangt, dass jemand, der auf der Grundlage einer sinnlichen Erfahrung wissen möchte, wie die Dinge sind, dabei wissen muss, ob er eine gute oder eine schlechte sinnliche Erfahrung hat. Das ist richtig. Die Fähigkeitskonzeption von Wahrnehmungswissen weist diesen Gedanken daher auch nicht zurück. Wir sagen nicht, der Einwand beruhe auf der Voraussetzung, dass hier mehr von einem Wissenden verlangt wird als für Wissen erforderlich ist. Im Gegenteil stimmen wir diesem Gedanken zu. Nur jemand, der weiß, dass er eine gute sinnliche Erfahrung hat, kann aufgrund seiner sinnlichen Erfahrung Wissen darüber haben, wie die Dinge sind. Doch der Einwand übersieht, dass die Fähigkeitskonzeption von Wahrnehmungswissen eine Erklärung dafür hat, wie man das wissen kann. Denn wie jedes Wissen wird auch dieses Wissen in letzter Instanz dadurch erklärt, dass man die entsprechende Fähigkeit dazu hat, die man hierbei ausübt. Das Wissen, dass man eine gute sinnliche Erfahrung hat, d. h. eine solche, in der sich einem unmittelbar zeigt, wie die Dinge in der Welt sind, ist eine Form von Selbstbewusstsein. Man ist sich bewusst, in welcher Art von Zustand man sich befindet. Wie ist dieses Wissen möglich? Nun, alles, was wir nach unseren obigen Überlegungen noch benötigen, um zu verstehen, wie jemand wissen kann, dass er eine gute sinnliche Erfahrung hat, und nicht das Opfer einer Illusion ist, ist die Idee, dass jene sinnliche Erkenntnisfähigkeit, um die es uns geht, eine selbstbewusste Fähigkeit ist. Das heißt, die Erkenntnisfähigkeit, um die es uns gehen muss, ist nicht einfach irgendeine Erkenntnisfähigkeit,wie sie etwa auch nicht-menschliche Tiere haben können, sondern es ist eine ganz spezifische Erkenntnisfähigkeit: Es ist eine Fähigkeit, deren Ausübung in Akten resultiert, von denen das Subjekt kraft dessen, dass sie Akte dieser Fähigkeit sind, prinzipiell ein Bewusstsein hat. Denn das ist es, was eine selbstbewusste Fähigkeit definiert: Dass ihre Subjekte ein Bewusstsein, ein Verständnis, einen Begriff von dieser Fähigkeit haben, in deren Besitz sie sind, der sie bei der Ausübung dieser Fähigkeit anleitet, so dass sie kraft dessen, dass sie eine solche Fähigkeit haben, in der Lage sind, zu wissen, was sie tun und weshalb sie das tun, indem sie es als einen Akt der Ausübung eben dieser Fähigkeit vorstellen.Wenn jemand sagt „Ich weiß, dass vor mir eine Teetasse steht, weil ich sie sehe“, dann tut er damit genau das: Er erklärt sein Wissen, dass vor ihm eine Teetasse steht, genau dadurch, dass er es als einen Akt der Ausübung seiner Fähigkeit darstellt, durch sinnliche Eindrücke zu erkennen, wie die Dinge sind. Jemand, der ein selbstbewusstes Erkenntnisvermögen hat, hat das Vermögen, nicht nur allerlei Dinge über die Welt zu erkennen, sondern auch die Art und Weise zu erkennen, durch die er die Dinge erkennt, d. h. zu erkennen, dass er die Dinge

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kraft der Aktualisierung dieses oder jenes Erkenntnisvermögens erkennt. Wenn wir oben gesagt haben, dass die Fähigkeitskonzeption eine Erklärung dafür hat, wie jemand wissen kann, dass er eine gute oder schlechte sinnliche Erfahrung hat, und nun sagen, dass diese Erklärung in letzter Instanz in der Idee eines selbstbewussten Erkenntnisvermögens liegt, dann besteht die Erklärung, die wir für dieses Wissen geben, offenkundig nicht darin, dass wir ein Subjekt, das über ein sinnliches Erkenntnisvermögen verfügt, nun noch mit einer weiteren Fähigkeit ausstatten, die zu seinem sinnlichen Erkenntnisvermögen hinzu kommt und ihm dieses Wissen liefert, sondern wir bezeichnen vielmehr einen Aspekt seines sinnlichen Erkenntnisvermögens selbst. Jemand, der auf der Grundlage der sinnlichen Erfahrung, dass vor ihm eine weiße Teetasse steht, erkennt, dass vor ihm eine weiße Teetasse steht, aktualisiert nicht zwei verschiedene Erkenntnisvermögen – eines zur Erkenntnis der „äußeren“ Dinge und eines zur Erkenntnis der „inneren“ Dinge –, sondern er aktualisiert ein einziges Vermögen: ein selbstbewusstes sinnliches Erkenntnisvermögen. Denn weder könnte er auf der Grundlage einer guten sinnlichen Erfahrung erkennen, dass die Dinge so sind, wie sie sind, wüsste er nicht, dass er eine gute sinnliche Erfahrung hat, in der sich ihm die Dinge unmittelbar zeigen, wie sie sind, noch könnte er erkennen, dass er eine gute sinnliche Erfahrung hat, in der sich ihm die Dinge unmittelbar zeigen, wie sie sind, würde er auf der Grundlage seiner guten sinnlichen Erfahrung nicht erkennen, dass die Dinge so sind, wie sie sich ihm in seiner sinnlichen Erfahrung unmittelbar zeigen.Wenn ich sage, „Ich weiß, dass vor mir eine Teetasse steht,weil ich sie sehe“, dann führe ich hier offenkundig eine Grundlage für mein Wissen an, die mir nicht unabhängig von dem fraglichen Wissen selbst zur Verfügung steht. Dass ich die Teetasse sehe, ist etwas, das ich nicht unabhängig davon weiß, dass ich weiß, dass da eine Teetasse steht. Der Einwand gegen diese Art der Erklärung war, dass sie zirkulär sei. Doch zirkulär erscheint sie nur solange, wie man nicht sieht, dass der Satz „weil ich sie sehe“ nicht den Sinn hat, ein Vorkommnis anzuführen, dessen Aufgabe es ist, ein anderes Vorkommnis, das logisch unabhängig von ersterem ist, zu erklären. Sein Sinn ist es vielmehr, eine Form der Erklärung ins Spiel zu bringen, die nicht in der Erklärung eines Vorkommnisses durch ein anderes besteht, welches logisch unabhängig von ersterem ist, sondern in der Erklärung eines Vorkommnisses durch etwas von der Art eines Gesetzes: nämlich durch eine selbstbewusste Fähigkeit. Dass ich weiß, dass vor mir eine Teetasse steht, weiß ich in letzter Instanz dadurch, dass ich die selbstbewusste Fähigkeit habe, vermittels sinnlicher Eindrücke zu erkennen, wie die Dinge sind, die ich hierbei ausübe. Wenn ich sage, „Ich weiß, dass p, weil ich sehe, dass p“, dann besteht der Sinn einer solchen Aussage darin, meine Akte als Ausübung einer bestimmten Fähigkeit vorzustellen, die beides zugleich erklärt: sowohl,wie ich weiß, dass p, als auch, wie ich weiß, dass ich sehe,

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dass p. Wenn wir Wahrnehmung als selbstbewusstes Erkenntnisvermögen verstehen, dann bedeutet dies, dass das Wissen, dass p, und das Wissen, dass ich sehe, dass p, nicht zwei verschiedene,voneinander unabhängige Akte des Wissens darstellen, sondern zwei Aspekte eines einzigen Aktes. Wir haben oben gesagt, dass wir, um den Einwand von Wright zu entkräften, eine Erklärung von Wahrnehmungswissen benötigen, die in einem Zug erklärt, wie jemand vermittels einer Wahrnehmung erkennen kann, dass vor ihm eine Teetasse steht und wie er erkennen kann, dass er eine Wahrnehmung einer Teetasse hat, und zwar so, dass die Möglichkeit des Irrtums nicht ausgeschlossen wird. Eine vernünftige, sinnliche Erkenntnisfähigkeit leistet genau eine solche Erklärung. Diese Erklärung schließt die Möglichkeit des Irrtums gerade nicht aus, sondern ein, denn die Ausübung dieser Fähigkeit ist, wie wir gesehen haben, wesentlich fallibel. Doch wenn die Dinge gut gehen und jemand also sieht, was vor ihm ist, dann kann er genau dadurch unmittelbar erkennen, was vor ihm ist. Eine Wahrnehmung liefert einem Subjekt also eine Wahrheitsgarantie. Wenn ich etwas wahrnehme und diese Wahrnehmung dann zur Begründung meines Urteils anführe, dann habe ich einen ausgezeichneten, weil wahrheitsgarantierenden Grund für mein Urteil. Doch weil meine sinnliche Erkenntnisfähigkeit fallibel ist, schließt dies nicht aus, sondern gerade ein, dass es Fälle geben kann, in denen ich nichts wahrnehme, sondern nur glaube, etwas wahrzunehmen und also nur glaube, einen wahrheitsgarantierenden Grund für ein Urteil zu haben, ohne tatsächlich einen solchen zu haben. Dies sind eben die Fälle des Irrtums. Damit verstehen wir auch, weshalb jemand, der ein Urteil mit einer Wahrnehmung begründet und diese als eine Wahrheitsgarantie versteht, nicht aus allen Wolken fällt, wenn er später, zu seiner großen Überraschung, entdecken sollte, dass er sich getäuscht hat und nur glaubte, eine Wahrheitsgarantie zu haben.⁹ Gewiss, wer im Nachhinein, durch Gründe, die ihm erst später zugänglich geworden sind, entdecken muss, dass er sich bei seinem Urteil getäuscht hat, ist überrascht. Er war auf diesen Irrtum nicht vorbereitet. Als er das irrige Urteil fällte, war es für ihn ausgeschlossen, anzunehmen, dass das Urteil falsch sein könnte. Die Falschheit seines Urteils hatte er ja gerade durch seine Gründe ausgeschlossen. Dass die Gründe, auf deren Basis ich urteile, dass p, nur vermeintliche Gründe sind, und ich also nur vermeintlich die Falschheit meines Urteils ausgeschlossen habe, ist etwas, das ich erst dann einsehen kann, wenn ich Gründe dafür habe, zu glauben, dass mein Urteil falsch ist, oder zumindest, wenn ich Gründe dafür habe zu glauben, dass meine Gründe nur vermeintliche Gründe sind. Solange ich keine

9 Ich verdanke die folgenden Überlegungen einem Einwand von Nadja El Kassar, die mich dazu gebracht hat, meine Charakterisierung der Fallibilität zu präzisieren.

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solchen Gründe habe, ist die Möglichkeit des Irrtums für mich unverständlich. Solange ich keine solchen Gründe habe, kann ich nicht einsehen, wie der Irrtum mit Bezug auf mein Urteil möglich sein soll. Der Irrtum hat daher immer auch den Charakter einer Widerfahrnis. Er widerfährt uns in dem Sinn, dass er nichts darstellt, dessen Möglichkeit wir vorher, d. h. bevor er uns widerfuhr, vernünftig einsehen konnten. Gleichwohl, so haben wir oben gesagt, fällt jemand, für den sich herausstellt, dass er sich geirrt hat, nicht aus allen Wolken. Das liegt eben daran, dass genau dann, wenn sich der Irrtum herausgestellt hat, er zugleich eine Einsicht darüber erhält, wie der Irrtum möglich war. Wenn sich der Irrtum herausgestellt hat, wird er auch in gewissem Maße verständlich. Vorher jedoch nicht. An dieser Stelle stellt sich freilich die Frage, wie es denn in dieser Beschreibung überhaupt möglich sein kann, dass sich für jemanden ein Urteil als Irrtum herausstellt. Wir haben gesagt, es kann sich ihm nur als etwas herausstellen, dessen reale Möglichkeit er vorher nicht einsehen konnte, sondern erst dann, wenn er Gegengründe hat, die ihm zeigen, daß seine bisherigen Gründe nur vermeintliche Gründe sind. Doch damit dies möglich sein kann, müssen wir voraussetzen, dass der Urteilende als solcher bereit ist, mögliche Gegengründe zuzulassen, anzuhören und gegebenenfalls anzunehmen. Gäbe es nicht die Bereitschaft, für mögliche Gegengründe offen zu sein, wäre der Irrtum im Sinne der Erfahrung einer notwendigen Urteilskorrektur unmöglich. Wir wären gleichsam Gefangene unserer eigenen Urteile. Das jedoch sind wir nicht. Denn die Bereitschaft, für mögliche Gegengründe offen zu sein, gründet in unserem Verständnis des Urteilsaktes, so wie wir ihn oben charakterisiert haben. Sie gründet darin, dass jemand die Begründung, die er angeführt hat, als er sagte, „weil ich wahrnehme, dass p“, als die Beschreibung der Ausübung einer falliblen Erkenntnisfähigkeit verstanden hat. Wahrnehmung ist ein fallibles Erkenntnisvermögen. Weil er diese Beschreibung so versteht, hat er damit von vornherein verstanden, dass die Aussage „weil ich wahrnehme, dass p“, auf der Basis von Gegengründen durch die Aussage „ich glaubte nur, wahrzunehmen, dass p, doch ich habe es nicht“, korrigiert werden kann. Wahrnehmungsirrtum, so haben wir gezeigt, setzt voraus, dass jemand die Fähigkeit hat, vermittels eines sinnlichen Eindrucks unmittelbar zu erkennen, wie die Dinge sind. Das bedeutet, dass jemand, der sich irren kann, im grundlegenden Fall vermittels eines sinnlichen Eindrucks unmittelbar erkennt, wie die Dinge sind. Das unmittelbare Bewusstsein materieller Gegenstände ist kein Ding der Unmöglichkeit, wie Ayer meint, sondern besteht in der Ausübung einer Fähigkeit, die jeder von uns erwirbt, der in der Umgebung materieller Gegenstände aufwächst und von denen, die diese Fähigkeit schon haben, durch „Übung“ und „Beispiele“, wie Wittgenstein schreibt, vermittelt bekommt (Wittgenstein 1977, § 208).

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