Sense of Place: Regionalität und Raumbewußtsein in der neueren britischen Lyrik 9783110940640, 9783484421318


178 68 18MB

German Pages 375 [376] Year 1993

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Regionalität und Poetik
II. Die Entstehung eines sense of place in der Lyrik von der Romantik bis zur Moderne: Momentaufnahmen und Tendenzen
III. Regionalität und Raumbewußtsein in der neueren Lyrik: Funktionen und Tendenzen
IV. Regionaler Raum zwischen Natur und Geschichte: Ted Hughes' Remains of Elmet
V. Poetik des Konkreten: Michael Hamburgers “In Suffolk”
VI. Region und historisches Bewußtsein: Geoffrey Hills Mercian Hymns
VII. Von der Region zum poetischen Raum: Die Entwicklung von sense of place im Werk von Seamus Heaney
Ausblick
Bibliographie
Index
Recommend Papers

Sense of Place: Regionalität und Raumbewußtsein in der neueren britischen Lyrik
 9783110940640, 9783484421318

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

B U C H R E I H E DER ANGLIA Z E I T S C H R I F T FÜR E N G L I S C H E P H I L O L O G I E Herausgegeben von Helmut Gneuss, Hans Käsmann, Erwin Wolff und Theodor Wolpers 31. Band

ELMAR SCHENKEL

Sense of Place Regionalität und Raumbewußtsein in der neueren britischen Lyrik

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1993

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schenkel,

Elmar:

Sense of place : Regionalität und Raumbewußtsein in der neueren britischen Lyrik / Elmar Schenkel. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie ; Bd. 31) NE: Anglia / Buchreihe ISBN 3-484-42131-2

ISSN 0340-5435

© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag G m b H , Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt Vorwort

IX

I.

Regionalität und Poetik 1. Voraussetzungen: Räumlichkeit und Körper 2. Theoretische Grundlagen: Phänomenologie der Räumlichkeit 2.1 Fragestellung 2.2 Territorium 2.3 Räumlichkeit aus phänomenologischer Sicht 2.3.1 Lebenswelt 2.3.2 Leiblichkeit 2.3.3 Raumerfahrung 3. Regionalität und Lebenswelt 4. Ort und Ortssinn in den Umweltwissenschaften . . . . 4.1 Space und place 4.2 Sense of place und placelessness j. Lyrik und Raum. Gattungstheoretische Fragen 5.1 Placemaktng: Lyrik als Erzeugung von bewohnbarem Ort

i i 9 9 10 12 12 14 14 18 22 22 25 31 38

II.

Sense of Place von der Romantik bis zur Moderne 1. Einleitende Bemerkungen 2. Partikularität und Universalität: John Cläre und William Wordsworth 3. Viktorianische Ambivalenz: Idylle und Raumverlust . . . 4. Region als Gedächtnis. Zur Lyrik von Thomas Hardy . . 5. Ambivalenz des Ortes im Zeichen von Sentimentalität und Realismus: Rupert Brooke, Edward Thomas und die Georgian Poets 5.1 Rupert Brooke 5.2 Edward Thomas 6. Erkundung von placelessness: Raumgewinn und Raumverlust in der Lyrik der dreißiger Jahre (W. H. Auden und Stephen Spender)

41 41 42 61 70

83 85 88

91 V

III. Regionalität und Raumbewußtsein in der neueren Lyrik . . . 1. Einleitung 1.1 Theoretische Voraussetzungen 2. Rekonstruktionen des mythisch-sakralen Raumes . . . . 2.1 David Jones 2.2 Basil Bunting 2.3 Kathleen Raine, Jeremy Hooker, Peter Scupham . . . 3. Weiblichkeit und Regionalität 3.1 Einführung 3.2 Gillian Clarke 3.3 Anne Beresford, Medbh McGuckian, Anne Stevenson . 4. Die Stadt als regionale Lebenswelt 4.1 Einführung 4.2 John Betjeman 4.3 Philip Larkin 4.4 Douglas Dunn 4.5 Roy Fisher 5. Ästhetischer Raumgewinn: Charles Tomlinson 5.1 Einführung 5.2 Poetologische Überlegungen zur Regionalität . . . . 5.3 RaumverlustundRaumentstehungineinzelnenGedichten 6. Raum als ökologische Welt. Zur Geopoetik von Kenneth White 6.1 Einführung 6.2 Amerikanische Vorbilder: Wendell Berry, Gary Snyder . 6.3 Die Geopoetik von Kenneth White 6.4 Zur Dialektik von Regionalität und Nomadismus . . IV.

Regionaler Raum zwischen Natur und Geschichte. Ted Hughes' Remains of Elmet 1. Einführung 2. "The Rock": Autobiographischer Horizont und Poetik des Regionalen 3. Remains of Elmet 3.1 Einführung 3.2 Zur Struktur des Zyklus 3.3 Geschichtliche Dimensionen der Regionalität . . . . 3.3.1 Das Bezugsfeld von Erd- und Frühgeschichte . . 3.3.2 Mittelalter und frühe Neuzeit 3.3.3 Das Ende der industriellen Welt 3.4 Autobiographie und Topographie VI

98 98 98 102 104 109 112 115 115 118 122 127 127 130 135 139 144 145 145 148 150 156 156 157 158 160

166 166 168 175 175 180 186 186 188 190 196

3.5 Mythische und profane Raumordnungen 3.6 Kunst als Integrationsfaktor 4. Schlußbemerkung

206 213 218

Poetik des Konkreten. Michael Hamburgers "In Suffolk" . . 1. Einleitung: Biographische Voraussetzungen und Poetik . . 2. Dialektik von Raumgewinn und Raumverlust: "Travelling" . 3. Der wiedergefundene Ort: "In Suffolk" 3.1 Einleitung 3.2 Voraussetzungen der Gattung 3.3 Landschaft als unfertiger Raum 3.4 Zeit und Örtlichkeit 3.4.1 Städtische Zeitformen 3.4.2 Eigenschaften der Region Suffolk 3.5 Zwischen den Negationen: Region als Ubergang und Zwischenraum 3.6 Wildnis als utopischer Gegenraum 4. Zusammenfassung: Regionalität und Universalismus . . .

220 220 224 231 231 232 233 237 238 241 243 248 250

VI. Region und historisches Bewußtsein. Geoffrey Hills Mercian Hymns 1. Einleitung 2. Mercian Hymns 2.1 Der Raum der Kindheit und des Mythos 2.2 Raum und politische Gestaltung 2.3 Das Verhältnis von Dichtung, Sprache und Raum . . . 3. Zusammenfassung

252 252 254 259 266 272 277

VII. Von der Region zum poetischen Raum. Die Entwicklung eines sense of place im Werk von Seamus Heaney 1. Einleitung 2.1 Heaneys Überlegungen zu sense of place . . . . 2.2 Poetik und Regionalität: Entwicklungslinien . . . . 2.3 Regionen und Orte der Kindheit 2.3.1 Tiefenauslotung des Raumes: "Personal Helicon" 2.4 Regionalität und Sprache 2.5 Politisches Territorium und Ritual 3. Lyrik als Befreiung vom Ort

280 280 282 286 297 299 308 320 330

Ausblick Bibliographie Index

339 341 358

V.

VII

Vorwort

Seit den sechziger Jahren geht das Wort vom sense of place und, parallel dazu, von einer poetry of place durch Feuilleton, Literaturkritik und die poetologischen Schriften von Lyrikern in Großbritannien und Irland. Erst seit den achtziger Jahren jedoch hat man begonnen, diese Ausdrücke ernst zu nehmen und sie als Symptome eines tieferliegenden Phänomens zu lesen. Im Begriff des sense of place lebt ein Impuls fort, der in den zwanziger bis fünfziger Jahren pathetischer als spirit of place (D. H . Lawrence, Lawrence Durrell) gefaßt wurde. In der neueren Version drückt der Begriff nicht nur die Nüchternheit einer Nachkriegsgeneration aus, sondern wird auch allgemeiner definiert als die Befindlichkeit von Menschen an allen möglichen Orten, nicht nur - wie bei Durrell - auf griechischen Inseln und in Südfrankreich, oder - wie bei Lawrence - in der Toscana und in amerikanischen Pueblos. Die Tatsache, daß diese Befindlichkeit ins Bewußtsein gerückt ist, deutet auf ein Unbehagen der Menschen an den neuen Ordnungen, die ihnen mit dem technischen Fortschritt und der Bürokratie diktiert werden (oder die sie sich selbst über entfremdende Institutionen und Mechanismen diktieren). Das Unbehagen an der Kultur, das Freud zuerst auf den Nenner brachte, hat vielerlei Ursachen und Erscheinungen; es ist aber kein Zufall, daß es erst im 20. Jahrhundert benannt wurde. Der Verdacht liegt nahe, daß in diesem Jahrhundert die Spannung zwischen individueller Erfahrung und der zunehmenden Abstraktion von Weltordnungen, zwischen Lebenswelt und gesellschaftlichem System aufgrund wissenschaftlicher, technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen besonders spürbar wurde. Der Mensch hat die überschaubare Welt des ,Mediokosmos' (A. Portmann) verlassen und steht sich selbst und der Welt als Fremder gegenüber. Solche Dissonanzen schlagen sich besonders deutlich in Raumordnungen nieder: auf der einen Seite in einem dem Menschen, seinen Sinnen und Alltagsbedürfnissen angemessenen Raum der Lebenswelt, auf der anderen in dem aus Abstraktionen entstandenen Raum, mit denen Natur und Gesellschaft beherrschbar gemacht worden sind. Kulturkritiker wie Eugen

IX

Rosenstock-Huessy oder Stefan Zweig erkannten früh die aus dieser Spaltung entstehenden Gefahren.1 Diese Einsichten gelten wohl insgesamt für die Entwicklungen in den westlichen Industriegesellschaften, wie einschlägige Studien nahelegen,2 doch verläuft die Entwicklung in Großbritannien unter besonderen Bedingungen. Die industrielle Revolution, die hier zuerst einsetzte, erzeugte auch frühzeitig in der Dichtung ein Bewußtsein der genannten Spannungen. Gleichzeitig gibt es auf den britischen Inseln aufgrund eines Fortlebens keltischer Traditionen in den Randgebieten einen Konflikt zwischen moderner Industriegesellschaft und den Rudimenten traditioneller vorneuzeitlicher Kulturen. Deren besondere Wertschätzung von Landschaftsordnungen, in denen sakrale und nichtfunktionale Orte eine wichtige Rolle spielen, führten zu einer verschärften Auseinandersetzung mit einem modernen Raumverständnis, wie es vor allem durch die industrielle Revolution aufgekommen ist.3 Die pastorale Tradition der englischen Lyrik lebte aber auch im 20. Jahrhundert immer wieder auf und hat sich unter wechselnden Vorzeichen bestimmten Orten und Regionen gewidmet, die einem modernen Funktionalismus entgegenstehen. Gleichzeitig ist es dem Modernismus nicht wirklich gelungen, in der englischen Lyrik Fuß zu fassen. So ist es symptomatisch, daß die wichtigsten modernistischen Erneuerer der Lyrik, T. S. Eliot und Ezra Pound, keine Engländer waren. Die Nachkriegszeit hat neue Akzente innerhalb der Tradition pastoraler Lyrik gesetzt. Die Neuordnung von Räumen, bewirkt durch eine Städteplanung, die infolge von Einwanderungswellen, Bevölkerungsumschichtungen und anderen demographischen Faktoren notwendig wurde, führte zu einer neuen Intensität der Spannung von Menschen und Raumordnungen. Die Literatur reagierte darauf unterschiedlich. Einerseits erwachte die pastorale Tendenz von neuem, ohne allerdings eine Rückkehr zur Romantik oder eine Weltflucht anstreben zu können.4 Andererseits trugen die literarischen Reiseführer und topographischen Bücher der siebziger und achtziger Jahre einer Nostalgie Rechnung, die einen idyllischen sense of place verfolgte.5 In der Lyrik schlug sich das Interesse an über1

Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie Bd. I: Die Vollzahl der Räume, Stuttgart 1958; Stefan Zweig, Die Monotonisierung der Welt, Frankfurt 1976. 1 S. dazu Kap. I. ' Als Beispiele seien die Werke von David Jones, Kathleen Raine, John Montague und Seamus Heaney genannt. 4 Man denke z. B. an das große Interesse, das einem Bestseller wie Ronald Blythes Akenfield, der Reportage über ein Dorf in Suffolk, entgegengebracht wurde (Harmondsworth 1969), an die Neuauflage von J. B. Priestleys Klassiker English Journey (Erstaufl. 1934, Harmondsworth 1977) oder an George Mackay Browns Inselporträt Greenvoe (London 1972). ' Zu denken wäre beispielsweise an The Oxford Literary Guide to the British Isles, hg. von

X

sichtlichen Regionen und Orten in der Topophilie vieler Dichter nieder - in zahllosen Lyrikbänden, die sich einzelnen Landschaften widmen aber auch in topographisch angeordneten Anthologien, wie sie z. B. der Verlag Penguin herausbrachte.6 Was diffus und weitverbreitet als Topophilie in der Lyrik seit den sechziger Jahren erscheint, wurde schließlich von Lyrikern und Kritikern auf den Begriff poetry of place gebracht. Besonders wirksam war in dieser Hinsicht Seamus Heaneys Essayband Preoccupations,7 in dem der Autor einen sense of place in der irischen Tradition, der eigenen Dichtung und bei den zeitgenössischen Lyrikern Larkin, Hill und Hughes analysierte. Der Dichter und Kritiker Jeremy Hooker widmete unter dem Titel The Poetry of Place8 topographisch orientierten Autoren wie David Jones, Philip Pacey, Charles Olson oder Edward Thomas eine Reihe von Essays. Zentral ist seine Aussage: "Poetry of place after Wordsworth cannot be understood, I believe, outside a context of loss."' Diese Erkenntnis hat sich auch die erste akademische Studie zum Thema, Peter Robinsons A Local Habitation, zu eigen gemacht, die landschaftsbezogene Gedichte von Hughes, Hill, Heaney, Larkin und Tomlinson untersucht.10 In der hiermit vorgelegten Studie soll versucht werden, diese zeitgenössischen Phänomene in einen größeren kulturellen Zusammenhang zu stellen. In der Einleitung werden daher Konzepte vorgestellt, mit denen Raumbewußtsein und Regionalität in der Lyrik analysiert werden können. Die Herkunft dieser Konzepte aus der phänomenologisch orientierten Umweltforschung und Humangeographie ist nicht zufällig. Zum einen hat die Umweltpsychologie und Verhaltensforschung etwa zur gleichen Zeit wie die Literaturkritik begonnen, sich mit der Frage des sense of place auseinanderzusetzen, nämlich gegen Ende der sechziger Jahre. Diese Tatsache verweist auf ein gemeinsames Interesse an einem Spektrum kultureller, historischer und sozialer Erscheinungen, ein Interesse, das zentrale Bedürfnisse innerhalb einer Gesellschaft ausdrückt. Zum anderen hat die Phänomenologie, Dorothy Eagle und Hilary Carnell, Oxford 1977, Margaret Drabble, A Writer's Britain, London 1979 und Bernard Price, Creative Landscape of the British Isles, London 1983. 6 Z. B. Angus Wilson, Hg., Suffolk in Poetry, Harmondsworth 1986. S. auch die vielbeachtete Anthologie The Faber Book of Poems and Places, hg. v. Geoffrey Grigson, London 1980. 7 London 1980. 8 Manchester 1982. ' Ebd., S. 181. 10 A Local Habitation. The Sense of Place in Modern British Poetry, Diss. York (Kanada), 1984. Robinson leistet mit seinem werkimmanenten Ansatz wertvolle Pionierarbeit, verzichtet aber auf tiefergehende Analysen und die Einordnung der Phänomene der Gegenwartslyrik in einen größeren kulturellen und geschichtlichen Kontext.

XI

die den neuen Umweltwissenschaften methodisch zugrundeliegt, von ihren Anfängen an ein besonderes Interesse an Kunst und Dichtung gehabt - man denke z. B. an Merleau-Pontys Kunstlehre - , so daß die aus dieser Philosophie entwickelten Ansätze und Perspektiven bei der Betrachtung von sprachlicher und bildender Kunst als ergiebig erscheinen. Die Phänomenologie kommt außerdem all jenen Anschauungen von Kunst entgegen, die sich reduktionistischen Zugriffen widersetzen, denn sie fördert die Erkenntnis eines Nicht-Identischen, um dessen Rettung es nach Adorno moderner Kunst gehen muß - um die Rettung jener Qualitäten also, die sich den politischen, moralistischen, ökonomischen und rein kommunikativen Diskursen entziehen. Phänomenologische Perspektiven bieten in diesem Zusammenhang Ansatzpunkte für Erkenntnisse, die in weiteren Kontextbildungen durchaus auf politische, historische und psychologische Bedingungen verweisen, ohne welche letztlich die künstlerischen Texte nicht zum Sprechen gebracht werden könnten und sinnlos blieben. Ein Abriß der regionalistischen Tendenzen der Lyrik seit der Romantik gibt einen Uberblick über historische Entwicklungen, vor deren Horizont die gegenwärtige Lyrik erst verständlich wird. Das Kapitel über Regionalität in der neueren Dichtung zeigt Funktionen, die eine solche Lyrik übernehmen kann: die Herausbildung eines Bewußtseins, das von den herrschenden sozialen Ordnungen abweicht, und die Formulierung von Alternativen, seien diese im Feminismus, in der Ökologie, in der Aufwertung städtischer Lebenswelten oder in der Wiederentdeckung des Sakralen anzusiedeln. Ganz bewußt wird in diesem Kapitel eine größere Zahl von Lyrikern und Lyrikerinnen behandelt, denn es gilt, die Vielstimmigkeit der individuellen Werke zu wahren, die durch eine Konzentration auf wenige Autoren verlorengehen würde. Die vier Kapitel zu Michael Hamburger, Ted Hughes, Geoffrey Hill und Seamus Heaney 11 sollen daher keine Hierarchie suggerieren. Ihre Werke erscheinen vielmehr als Belege für die Notwendigkeit von ausführlicheren Interpretationen, die der Komplexität des jeweiligen Werks gerechter werden als die Einordnung in ein Schema von Funktionen. Übersicht und Einzelanalysen sollen also keine Gewichtungen vortäuschen, sondern einander ergänzen und das Gesamtbild korrigieren. Zudem sind die vier ausführlicher behandelten Autoren bei aller gemeinsamen Ausrichtung sehr verschieden. Wo der eine den Konflikt von Zerstörung und Utopie in der ländlichen Region verfolgt (Hamburger), da ist für den anderen die Region der Ort, an dem historisches Bewußtsein kritisch erprobt wird (Hill); wäh-

11

Heaney ist kein .britischer Lyriker'. Der Begriff .britische Lyrik' im Titel wurde nur aus Gründen der Vereinfachung gewählt.

XII

rend Ted Hughes die Auswirkungen der industriellen Revolution auf Landschaft und Mensch erkundet, entwickelt Seamus Heaney aus der Entdeckung bodenständiger Traditionen einen neuen Begriff von Region als einer geistigen Erfahrung. Insgesamt möchte die Studie nachweisen, wie zentral die Erfahrung von Raum und Regionalität in der modernen britischen Lyrik ist und daß diese Teil jener Bestrebungen ist, die „eine bewohnbare Welt zurückzugewinnen trachten." 12

"

Bernhard Waidenfels, In den Netzen

der Lebenswelt, Frankfurt/M. 1985, S. 11.

XIII

I. Regionalität und Poetik

i. Voraussetzungen: Räumlichkeit und Körper „Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische", schrieben die Autoren der Dialektik der Aufklärung in einem Entwurf. Die Rede ist von der unterirdischen Geschichte des Körpers, der durch „Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften."1 Mit gleichem Recht ließe sich von der ungeschriebenen und zu großen Teilen ungesichteten Geschichte des menschlichen Raumbewußtseins sprechen, und zwar nicht als von einer zufälligen Parallele, sondern als einer jener verdrängten Instinkte und Leidenschaften, die immer wieder durch die Firnis der Zivilisation brechen, wenn die historischen Bedingungen dafür gegeben sind. Wie der Einsatz des Körpers, den der Faschismus als letzte Vernunft verherrlichte, kann auch die totalitäre Propaganda vom Lebensraum „als dünne Reaktionsbildung [...] auf die nicht gelungene Zivilisation" verstanden werden.2 Die Verbindung oder gegenseitige Reflexion von Körper und Raum ist so alt wie die Zivilisation selbst, sie ist integraler Bestandteil der Ursprungsgeschichte des Bewußtseins: Without place, there would be neither language, nor action nor being as they have come to consciousness through time. Suppose there were no place. There would be no 'where' within which history could take place. 'Where' is never a there, a region over against us, isolated and objective. 'Where' is always part of us and we part of it. 3

Solange Umwelt durch Menschen gestaltet wurde, solange Menschen Räume bauten, so lange diente der menschliche Körper auch als Ausgangspunkt. Am Beginn der Architektur findet er sich als Maß und Orientierung für das sa1

2 3

Th. W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1968, S. 246. Ebd., S. 249. Joseph Grange, "Place, Body and Situation", in David Seamon, Robert Mugerauer, Hgg., Dwelling, Place, and Environment, Dordrecht 1985, S. 71.

krale und profane Bauen.4 Bis zum fragmentierten und spezialisierten Bau der Nach-Renaissance hat diese Beziehung im großen und ganzen ihre Gültigkeit. Wenn die neuzeitliche Zivilisation, wie sie im Westen entstand, eine Kehrseite hat, an der die Entstellungen auftreten, mit denen funktionale Produktivität erkauft wird, so ist sie auch im Verschwinden der Leiblichkeit aus der Architektur zu sehen. Die mechanistische Auffassung des Universums führte so zu Metaphern des Mechanischen für den Körper,5 die sich ihrerseits auf die architektonische Umwelt auswirkten. The transition f r o m the presence of the b o d y as a 'divine' organizing principle in architecture to a more mechanical Organization gained momentum f r o m Galileo's argument in favor of mathematical measurement and experiment as the criteria f o r physical truth. 6

Der vorneuzeitliche Anthropomorphismus von Orten und Bauten konnte auf verschiedene Weisen verwirklicht werden. Gebäude selbst konnten menschenähnliche Züge tragen - z. B. im Rahmen einer Fenster-Augen-Symbolik - und auf menschliche Bewegungsmaße bezogen sein. Lokalitäten konnten von der Antike bis zur Renaissance ein nach außen gewendetes Gedächtnis darstellen und als ,Depot' für Erinnerungen dienen, wie Frances Yates in ihrem Buch The Art of Memory1 zeigt. Pragmatische Funktion und gnostische Technik gingen in dieser Tradition eine Einheit ein, die sich bis in die Strukturen des Globe-Theaters verfolgen lassen. Die Erde selbst konnte weiterhin als göttlicher Organismus, als Göttin Gaia erkannt werden und daher eine geomorphe Anatomie und Physiologie aufweisen - eine Anschauung, die sich in den Künsten bis ins 20. Jahrhundert zu retten vermochte, wenn man an Joyces Ulysses, Charles Williams' Taliesin Through Logres oder Doris Lessings Briefingfor a Descent into Hell denkt. Das alte Bild der Gaia-Erde setzt sich insbesondere in der Praxis zahlreicher Autoren fort, die Erde mit weiblichen Attributen zu assoziieren - sichtbar in D. H. Lawrences Sons and Lovers, bei John Donne ebenso wie bei Thoreau oder Kafka. 8 Wie die wenigen Beispiele zeigen, sind Körper und Räumlichkeit eng aufeinander bezogen und bilden daher zusammen Elemente einer Zivilisationsge4

Vgl. dazu Sigfried Giedion, The Eternal Present: The Beginnings of Architecture, New York 1965, und Kent C. Bloomer, Charles W. Moore, Body, Memory, and Architecture, New Haven 1977, S. 5. ' Eine klare Darstellung findet sich bei Colin M. Turbayne, The Myth of Metaphor, Columbia, South Carolina 1970. 6 Bloomer, Moore, a.a.O., S. 15. 7 London 1966. 8 Vgl. Leonard Lutwack, The Role of Place in Literature, Syracuse, N Y 1984, S. 80-94.

2

schichte, die erst zum Forschungsthema geworden ist, als sie selbst zum Problem wurde. Es ist daher kein Zufall, daß dieses Jahrhundert sich wie kein anderes mit den Fragen der Räumlichkeit auseinandergesetzt hat - besonders intensiv in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frage des Wohnens, der Gestaltung städtischer und landschaftlicher Umwelt, der psychophysischen Reaktionen auf die neuen Umwelten geht dabei quer durch die Disziplinen. Die Verhaltensbiologie begann sich in den zwanziger Jahren mit der Frage der menschlich-tierischen Umwelt zu beschäftigen,9 während Mediziner und Psychiater sich für die Raumerfahrung bei Patienten zu interessieren begannen.10 Die Frage des unterdrückten Instinkts der Territorialität wurde nach dem Krieg auf populärer Ebene von dem Anthropologen Robert Ardrey wieder aufgeworfen11 und beeinflußte andere Disziplinen.12 Die Anthropologie kehrte ohnehin wieder zu Fragen des räumlichen Verhaltens und Bewußtseins zurück, so vor allem Edward T. Hall in The Hidden Dimension, der kulturelle Differenzen untersucht.'3 Daß die Entwicklungspsychologie sich dem räumlichen Denken beim Kind widmete, kann als weiteres Indiz für ein Interesse an Räumlichkeit gesehen werden.14 Schließlich kam es in der Psychologie auch zur Etablierung eines neuen Forschungszweiges, der Umweltpsychologie. In dieser spielen räumliche Komponenten psychischer Erfahrung eine besondere Rolle; gleichzeitig ist die neue Wissenschaft eine Reaktion auf die ökologischen Fragestellungen der letzten Jahrzehnte.'5 In der Philosophie war es insbesondere die Phänomenologie im Gefolge von Edmund Husserl, die dazu beitrug, daß Raum- und Zeitwahrnehmung einer philosophischen Klärung zugeführt wurden.1 Martin Heideggers Analyse der räumlichen Existenz in Sein und Zeit wirkte sich auf die Beschäftigung mit Raumfragen bis in die jüngste Gegenwart aus.'7 9

So vor allem Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1921, und ders., Theoretische Biologie, Berlin 1928. Vgl. auch F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier, Harn bürg 1958. 10 Vgl. Ludwig Binswangen „Das Raumproblem in der Psychopathologie", in Ausgewählte Vorträge und Aufsätze von Ludwig Binswangen Bd. II, Bern 1955, S. 174-225. 11 Robert Ardrey, The Territorial Imperative, New York 1967. 12 S. Marshall MacLuhan, Harley Parker, Through the Vanishing Point, New York 1969, S. 2 f. 13 Edward T. Hall, The Hidden Dimension, New York 1966. 14 Jean Piaget, Bärbel Inhelder, La représentation de l'espace chez l'enfant, Paris 1948. '' Lenelis Kruse, Räumliche Umwelt, Berlin, New York 1974, S. 1-24. 16 Vgl. unter anderem Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt/M. 1965, und Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 1985. 17 Seamon, Mugerauer, a.a.O., kann als Beispiel der Fortwirkung Heideggers gesehen werden. Über weitere Nachfolger schreibt Norbert Reichel, Der erzählte Raum, Darmstadt 1987, S. 24.

3

In den letzten Jahren haben sich neue Wissenschaftszweige entwickelt, die räumliches Verhalten und Wahrnehmen untersuchen. Umweltpsychologie, environmental psychology, bildet den einen Rand des neuen Spektrums, den anderen die Raumplanung, die aufgrund der immens gewachsenen Verwaltbarkeit von Gebieten, Menschen und Ressourcen zu einer Wissenschaft mit entscheidender Bedeutung für das Alltagsleben geworden ist.18 Was die Künste angeht, so hat Stephen Kern gezeigt, wie sehr die Paradigmen von Raum und Zeit um die Jahrhundertwende in den Vordergrund rückten, unter anderem beeinflußt von entsprechenden Entwicklungen in Physik, Psychologie und Philosophie.19 McLuhan und Parker sehen in der ,Verräumlichung der Künste' eine Antwort auf die Elektronisierung der Umwelt - ein Phänomen, das übrigens das einheitliche Raum-Zeit-Kontinuum sprengt, auf dem die Perspektiv-Malerei seit der Renaissance beruhte und das seinerseits das Weltbild der klassischen Physik widerspiegelte. Die Betonung des visuellen Raumes in der neuzeitlichen Tradition weiche, so argumentieren McLuhan und Parker, demnach einer eher polymorphen Wahrnehmung, die auf den anderen, nicht-visuellen Sinnen der Menschen basiere. In der Literaturwissenschaft ist spätestens seit Joseph Franks richtungsweisendem, wenn auch umstrittenem Artikel "Spatial Form in Modern Literature" (1945) der Raum als Paradigma entdeckt und intensiv gedeutet worden. Frank selbst hatte Hinweise gegeben, wie Räumlichkeit als strukturelle Kategorie bei Joyce, Flaubert, Proust und Djuna Barnes wirksam wird.20 Das Gewicht der Mehrzahl aller Studien zum Raum in der Literatur liegt seitdem auf den epischen Gattungen. Lutwack widmet sich englischen, amerikanischen und französischen Romanen von 1800 bis zur Gegenwart. Gerhard Hoffmann 21 macht einen ähnlichen Querschnitt durch die Erzählliteratur Englands und der USA, während Norbert Mecklenburg22 vorwiegend deutsche Beispiele vor dem Hintergrund eines internationalen Regionalismus untersucht und Ina-Maria Greverus die territorialen Konzepte des deutschen Heimatromans analysiert.23 Die deutsche und französische Erzähllite18

19 20

!I 21

23

S. dazu Edward Relph, Place and Placelessness, London 1976, Yi-Fu Tuan, Space and Place, Minneapolis 1977, und Eugene V. Walter, Placeways. A Theory of tbe Human Environment, Chapel Hill 1988. Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880-1910, Cambridge, Mass. 1983. Joseph Frank, "Spatial Form in Modern Literature", in The Widening Gyre, Bloomington, Indiana 1968, S. 3-62. Zur Debatte um Franks Ansatz vgl. Jeffrey R. Smitten, Ann Daghistany, Hgg., Spatial Form in Narrative, Ithaca, N Y 1981. Gerhard Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, Stuttgart 1978. Norbert Mecklenburg, Erzählte Provinz: Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein 1982. Ina-Maria Greverus, Der territoriale Mensch. Ein literaturpsychologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt/M. 1972.

4

ratur der Moderne wiederum liefert das Material für Norbert Reichels Der erzählte Raum.24 Auch die zahlreichen Einzelstudien zum Raum in der Literatur beschränken sich fast ausschließlich auf erzählerische Werke.25 Eine der Ausnahmen ist die wirkungsgeschichtlich ungemein wichtige Studie von Gaston Bachelard, La poétique de l'espace (1957). Von allen Schriften zum Raum in der Literatur ist sie die wohl international am weitesten verbreitete. Bachelard bezieht sich auf ein großes Feld von lyrischen und erzählerischen Werken und kann dies tun, weil er sich mit seiner Psychologie des Bildes auf die image konzentriert, die als Figur sowohl in der Prosa als auch in der Lyrik Platz hat. Wo image als "concentration de tout psychisme" erscheint und als solche kommunizierbar ist, da kann Bachelard von der "transsubjectivité de l'image" sprechen.26 Wie sehr jedoch eine solche a-historische Einstellung mit ihrer Suche nach Urbildern und Archetypen selber wieder Produkt historischer Umstände ist, die sich gerade in der Rezeption fortsetzen, zeigt Norbert Reichel in seiner ideologiekritischen Analyse der sogenannten Philosophen der ,Geborgenheit' wie Bollnow oder Bachelard. Insbesondere am Beispiel von Bachelards Beschränkung auf Metaphern des Glücks und Bollnows bürgerlicher Werteordnung in seinen Untersuchungen zum Raum wird Reichel zufolge deutlich, wie sehr die Erörterung von Räumlichkeit beeinflußt wird von Einstellungen, die gesamtgesellschaftlich nach dem Zweiten Weltkrieg als Sehnsucht nach Idylle, Ruhe, Verwurzelung und a-politischer Beschränkung des Horizonts wirksam wurden.27 Was nach den Wirren des Kriegs psychologisch verständlich war, darf allerdings nicht im Sinne einer anthropologischen Konstante wissenschaftlich festgeschrieben werden. Eine zeitgenössische Analyse der Beziehungen von Mensch und Raum muß vielmehr versuchen, anthropologisch-biologisch gegebene, wiederkehrende Bilder auf den jeweiligen geschichtlichen Horizont hin zu befragen, vor dem sie aus ganz bestimmten Gründen verstärkt erscheinen.28 Im Sinne einer psychologischen Überdeterminiertheit von Bildern muß auch geschichtlich die Frage nach den Ursachen dieses Auftauchens gestellt werden. Der kursorische Uberblick über die Behandlung des Raumproblems in den Wissenschaften im 20. Jahrhundert kann wohl kaum die vielfältigen Gründe angeben, warum Räumlichkeit zu einem solch wichtigen Paradigma geworden ist. In der hier gegebenen Kürze können nur einige wenige An24 25

16 27 28

Reichel, a.a.O. Bibliographien in Smitten, Daghistany, a.a.O., S. 245-263, und Hoffmann, a.a.O., S. 804849. Gaston Bachelard, La poétique de l'espace, Paris 1957, S. 2 f. Reichel, a.a.O., S. 1 2 - 1 9 . So auch die Argumentation von Ina-Maria Greverus, a.a.O.

5

haltspunkte angedeutet werden. Die Physik war zu neuen Raum-Zeit-Theorien durch Einsteins Widerlegung des homogenen Raums gezwungen worden/ 9 Daß diese eine rein innerwissenschaftliche Entwicklung darstellte, mag zumindest bezweifelt werden. Der Kontext, den Kern in der gesamten westlichen Kultur von 1880 bis 1918 entwirft, deutet eher daraufhin, daß Einsteins Denken mit ermöglicht wurde durch eine grundsätzliche Infragestellung dessen, was als Wirklichkeit zu bezeichnen ist. William James und Henri Bergson stellten in der Psychologie und Philosophie das gewohnte Verhältnis von Raum und menschlicher Wahrnehmung in Frage, indem sie sich von Kants transzendentalen Kategorien zur lebensweltlichen Raumerfahrung zurückwendeten.30 Durch Bergson und T. E. Hulme gelangten die neuen Ideen an Modernisten wie Pound, Wyndham Lewis oder T.S. Eliot, die ihrerseits, wie Frank gezeigt hat, Raum über Zeit stellen in ihrem zumindest zu Beginn des Modernismus feststellbaren Versuch, Geschichtlichkeit herunterzuspielen oder in ihren Montagen mythisch erstarren zu lassen.31 Diese anti-geschichtliche Einstellung ist nicht nur eine Fortsetzung des Anti-Historismus eines Nietzsche, sie gibt auch Spielraum für die Rückkehr des Mythos, der andere Raumvorstellungen erzeugt, als es eine geschichtliche Einstellung zuläßt. Inmitten des, oberflächlich gesehen anti-romantischen, Modernismus fand also Suche nach vor- oder außergeschichtlichen Raumkonzepten statt, wie sie unter anderem Ernst Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen (193 2-1929) und Mircea Eliade in Le sacre et le profane (1957) darstellen. Es scheint, daß zumindest eine Strömung in der modernen Literatur diese archaischen und primitivistischen Elemente erkundet und sie in zeitgenössischen Artikulationsformen dem eigenen Jahrhundert zugänglich macht. Marshall McLuhan hat des öfteren auf die Verwandtschaft des nach-industriellen und des vor-industriellen Denkens oder gar zwischen vorschriftlichen und nachschriftlichen Gesellschaften hingewiesen.32 Die Hinwendung der Phänomenologie zur Lebenswelt und deren räumlichen Kategorien scheint in ähnlicher Weise Züge der Kompensation von Verlusterfahrungen zu tragen. Denn wo der Historismus eine Erosion der Gegenwart impliziert, eine Reduktion des Gegenwärtigen als Resultat vergangener Prozesse, da ist der Rückgang auf die Sachen selbst eine Wiederentdeckung des Begreifbaren in einer zunehmend abstrakten Welt. Husserl hat 29 30

31 32

Kern, a.a.O., S. 135 f. Vgl. James M. Curtis, "Spatial Form in the Context of Modernist Aesthetics", in Smitten, Daghistany, a.a.O., S. 161-165. Ebd., S. i66ff.; Frank, a.a.O., S. 9 - 1 3 . McLuhan, Parker, a.a.O., S. 6f.

6

diesen Abstraktionsprozeß in seiner Krisis der europäischen Vernunft entschlüsselt und die Phänomenologie als wissenschaftliche Rettung des Dinglichen verstanden.33 Die Philosophie reagierte damit auf theoretisch-philosophische und praktisch-gesellschaftliche Tendenzen, die gelebte Erfahrung von Räumen als unbedeutenden Anhang von wissenschaftlichen Raumbeschreibungen zu behandeln. Ebenso wie Bergson die Bedeutung psychischer Zeitsysteme erkannte und damit auf die Entstehung des stream-of-consciousness-Romans Einfluß hatte, so wurde in der Phänomenologie die räumliche Lebenswelt als menschbezogene Welterfahrung rekonstruiert. Die Erforschung der Lebenswelt ist Teil jenes Versuchs der Phänomenologie, die Subjekt-Objekt-Spaltung des Cartesianismus durch die Reflexion des im Bewußtsein Erscheinenden rückgängig zu machen. Bekanntlich sah Husserl diese Spaltung als Wurzel der europäischen Geisteskrise an. Wenn also im Gefolge Husserls solche Ausdrücke wie ,gelebter Raum' (Dürckheim) oder ,erlebter Raum' (Bollnow), ,Handlungsraum', ,Stimmungsraum' usw. entstanden, so signalisiert dies jeweils den auf die Raumerfahrung bezogenen Versuch der Re-Integration von Subjekt und Objekt. Statt sich auf die eine oder andere Seite des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu beschränken (idealistisch oder materialistisch), konzentriert sich die Phänomenologie auf die Relation, den Zusammenhang. Eine ähnliche Blickrichtung hat sich im übrigen auch in anderen Wissenschaften durchgesetzt: Niels Bohr hat als wichtigste Folge der Entdeckung des Wirkungsquantums für die Physik die Notwendigkeit der Beobachtung der Interaktion von Subjekt und Objekt hervorgehoben,34 während Viktor v. Weizsäcker aufgrund seiner sinnesphysiologischen Forschungen feststellte: „Die Begegnung, der Umgang ist also zum Kernbegriff der Wissenschaft erhoben."35 Die phänomenologische Betrachtungsweise von Raum ist daher nicht als isolierte oder exzentrische Richtung in den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts anzusehen. Vielmehr reagiert sie in ihrer Weise auf die Verluste, die der Erkenntnis und dem psychischen Befinden in der Welt durch die neuzeitlichen Abstraktionsprozesse zugefügt wurden. Die Beschäftigung mit Raumfragen in der Nachkriegszeit ist, wie Reichel zeigt, geprägt von Bedürfnissen, die als Antwort auf die Entwurzelung und Mobilisierung der industriellen Gesellschaft aufzufassen sind. So ist es denn kein Zufall, daß Simone Weils L'enracinement (1949) als Meditation über die ökonomisch-geistige Entwurzelung in der modernen Welt ein aufnahmebe"

34

"

Waldenfels, a.a.O., S. 34-55. Vgl. Thure von Uexküll, „Naturwissenschaft als Zeichenlehre", Merkur 481 (1989), S. 225234, hier 225. Ebd., S. 226.

7

reites Klima vorfand. Ein Unbehagen an der räumlich-körperlichen Existenz des Menschen durchzieht das 20. Jahrhundert, erzeugt neue Zweige in der Medizin und Psychiatrie, führt zu neuen Überlegungen in der Umweltpsychologie und gibt ganzen philosophischen Schulen ihre Richtung. In jedem Fall verweisen diese wissenschaftlichen Bewegungen auf reale Phänomene. In den nach dem Krieg sich entwickelnden neuen Zweigen der Umweltpsychologie und Humangeographie wird deshalb - vor allem unter dem Einfluß der Phänomenologie - das Problem des Menschen im Raum zurückverfolgt auf seine Wurzeln im ökologischen und verhaltenspsychologischen Bereich. 36 Von nun an bricht die Reflexion auf eine menschenbezogene Raumgestaltung nicht mehr ab - mit Konsequenzen für Architektur, Landschaftsplanung, Städtebau und Ästhetik. Was von Philosophen wie Heidegger und Bollnow noch spekulativ erfaßt wurde und - wie die Kritik vermerkt 37 - aufgrund unzulänglicher empirischer Absicherung verallgemeinert erscheint, soll in diesen interdisziplinären Forschungen auf eine neue, wissenschaftlich begründbare Basis gestellt werden können. Wenn Menschen sich an bestimmten Orten, in Häusern, Stadtteilen oder Landschaften nicht mehr wohl fühlen und dies immer mehr bemerken, so ist es Aufgabe der Wissenschaften geworden, ihnen Argumente, Beweise und Materialien für eine Umgestaltung in die Hand zu geben. Dafür muß allerdings auch positiv bestimmbar sein, warum dieser Ort, diese Umgebung bewohnbarer ist als eine andere. Wie keine andere philosophische Strömung scheint die Phänomenologie in der Lage zu sein, nicht nur diese positive Bestimmung zu leisten und damit Medizin, Psychologie und Verhaltensforschung zu befruchten; sie ist auch aufgrund der phänomenologischen Reduktion', d. h. der Selbstbeschränkung auf Beschreibung des Erscheinenden wie keine andere Denkweise fähig, die Offenheit zu erhalten, die für die Erkenntnis der Vielfalt von Werten und Verhaltensformen notwendig ist. Die folgende Arbeit versucht in diesem Sinne, die Formen und Funktionen von Regionalität und Ortsbezogenheit in der zeitgenössischen britischen Lyrik vor dem Hintergrund phänomenologischer Forschungen zu untersuchen, so wie sich diese in den neueren Umweltwissenschaften niedergeschlagen haben. Gerade diese Anwendungen der Phänomenologie haben deutlich

36

37

Neben den genannten Werken von Relph, Seamon und Mugerauer, Bloomer und Moore sei noch auf die folgenden verwiesen: Christian Norberg-Schulz, Existence, Space, and Architecture, New York 1971; ders., The Concept of Dwelling, New York 1985; Anne Buttimer, Values in Geography, Washington, D.C. 1974; David Seamon, A Geography of the Lifeworld, New York 1979; Anne Buttimer, David Seamon, Hgg., The Human Experience of Space and Place, New York 1980. Kruse, a.a.O., S. 48 f.

8

gemacht, wie notwendig es ist, allgemeine anthropologische Beobachtungen historisch zu verankern. Wenn oben von Offenheit die Rede ist, so bezieht sich diese auch auf die Zeit, den geschichtlichen Wandel mithin, mit dem sich jede literarische Interpretation konfrontiert sieht. Der Annahme einer solchen Dialektik von anthropologischen Konstanten und ihrer jeweiligen historischen Realisierung erscheint als notwendige Voraussetzung für eine Untersuchung der vielgestaltigen Funktionen, die Raumphänomene in derLiteratur übernehmen.

2. Theoretische Grundlagen: Phänomenologie der Räumlichkeit 2.1 Fragestellung Wer immer die Frage nach den Erscheinungen von Orten, Räumen und Landschaften in der Literatur stellt, kommt nicht umhin, die Bedeutung von Umwelt für den Menschen in der jeweiligen historischen Situation zu beschreiben. In der vorliegenden Arbeit soll gefragt werden, inwiefern bestimmte Gedichte und Gedichtzyklen der britischen Gegenwartslyrik auf die Veränderungen reagieren, die sich insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Umwelt selbst und in den Bildern von Umwelt zugetragen haben. Lyrik kann einerseits Indikator realer Verluste sein, indem sie diese Verluste an Umwelt, Geschichte und Subjektivität diagnostiziert. Sie kann aber auch, ähnlich wie die Wissenschaften, im Sinne Marquards38 zur Kompensationsinstanz werden, indem sie sowohl vergangenheitsbezogen verklärt im Sinne von Nostalgie oder auf die Zukunft verweist durch die Erinnerung an Bilder einer möglichen anderen Umwelt. In jedem Fall wird sie offen oder stillschweigend Bilder von Mensch, Geschichte, Natur, Gedächtnis und Lebenszielen zugrundelegen, zu denen sie ein Verhältnis eingeht. Wenn eine literaturwissenschaftliche Analyse dem Phänomen von Regionalität und Raumbezogenheit und seinen Funktionen gerecht werden will, muß sie solche Bilder aufspüren können. Eine Beschreibung der Funktion dieser Phänomene läuft jedoch zuletzt auf eine Beschreibung der Funktion von Lyrik in der modernen Gesellschaft hinaus - so minimal sie auch sein mag. Bevor die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Lyrik und Raum gestellt werden kann, müssen einige grundlegende Kategorien geklärt werden. Dabei soll die folgende Richtung eingeschlagen werden: Von der Leiblichkeit des Menschen, wie sie die Phänomenologie erforscht hat, führt der 38

Vgl. Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 23—38.

9

Weg zu einem ,gelebten Raum' im weitesten Sinn, der sich zu allen Zeiten, verschärft aber in der Gegenwart, im Konflikt mit anderen Raumformen befindet. Aus der leiblichen Orientierung folgen Raumkategorien, die auf eine regionale Verwirklichung drängen und die ihrerseits im Konflikt mit planerischen und ökonomischen Tendenzen stehen, die auf eine Nivellierung des Leiblichen, Spezifischen und der Regionalität drängen. Aus diesem Dilemma ergeben sich Funktionen für die Literatur, die im folgenden an ausgewählten Beispielen der modernen britischen Lyrik untersucht werden sollen. 2.2 Territorium Phänomenologie und Verhaltensforschung der letzten Jahrzehnte konvergieren in der Anerkennung nicht nur des Einflusses von räumlichen Bedingungen auf das Verhalten, sondern auch der Interaktion von Raum und Subjekt. "Wenngleich nicht von der Zoologie auf die Anthropologie kurzgeschlossen werden darf,39 so ist doch der menschliche Umgang mit Territorium nicht unabhängig von tierischen Verhaltensweisen zu sehen, die sich immer wieder als Atavismen durchsetzen können. Die biologischen Gründe von Territorialverhalten sind oft katalogisiert worden.40 Danach dienen Territorien u. a. als Ernährungsbasis, zur Erhaltung der Gruppe, als Schutzzone und zur sexuellen Fortpflanzung. Territorien regulieren Bevölkerungsdichte, senken Lebensrisiken und damit Streß, Flucht und Kampf und reduzieren Krankheitsfaktoren. Viele dieser Kriterien bleiben auch für menschliche Territorien gültig, insbesondere der Schutzcharakter und die Reduktion von Streß- und Fluchtsymptomen. Diese Aspekte des Territoriums lassen sich sowohl psychosomatisch nachweisen als auch in einem institutionellen Verhalten wie der Jurisdiktion, in der territoriale Gebundenheit (Kommune, Staatsgrenze) eine wichtige Rolle spielt. Im Gefolge von Goffmans Sozialtheorien haben Lyman und Scott die paläoanthropologische Problematik in eine interaktionale Theorie umgesetzt, wobei sie zwischen verschiedenen Territorien (public, home, interactional, body) unterscheiden und die damit einhergehenden Funktionen des Schutzes und der Verletzung untersuchen.41 Der Terminus defensible Space,42 impliziert eine neue Ausrichtung in der Städteplanung in den USA, durch die das "

40

41

42

Kruse, a.a.O., S. 19. Ebd., S. 18 und C. R. Carpenter, "Territoriality: A Review of Concepts and Problems", in A. Roe, G. Simpson, Hgg., Behavior and Evolution, New Haven 1958. S. M. Lyman, M. Scott, "Territoriality: A neglected sociological dimension", Social Problems 15 (1967), S. 236-249. Vgl. auch Kruse, a.a.O., S. 19. Oscar Newman, Defensible Space: Crime Prevention through Urban Design, London 1972.

10

kriminelle Verhalten reduziert werden soll, und reflektiert zugleich eine aktualisierte Fassung des Territorialdenkens in der Gegenwart, so wie dieses in der Soziobiologie E. O. Wilsons wieder zu neuer Bedeutung gelangt ist. Mit Kruse und Altman läßt sich gegen eine flach biologisch ausgerichtete Interpretation des Begriffs eine „multidimensionale Analyse des Territorialkonzepts" einfordern.43 Altmans Definition erlaubt eine umfassendere Sicht des menschlichen Territorialverhaltens, als es die Ethologie auf zoologischer Basis liefern kann: Human territoriality encompasses temporally durable preventive and reactive behaviors including perception, use, and defense of places, people, objects, and ideas, by means of verbal, self-marker, and environmental prop behaviors in response to the actual or implied presence of others and in response to properties of the environment [,.]44 Diese Definition ist in mindestens zweierlei Hinsicht fruchtbar. Erstens eröffnet sie mit dem Hinweis auf "perceptions" und "ideas" den Horizont subjektiven Erlebens von Territorien, der zwangsläufig in der Ethologie ausgeblendet ist. Subjektivität' in diesem Sinne umfaßt den Bereich geistiger Aktivitäten ebenso wie das Zusammenspiel von sensorischen, körperlichen und imaginativen Erfahrungen. Sie reduziert Territorien damit nicht auf ein behavioristisches stimulus-response-Modell, das für eine phänomenologische Grundlegung, geschweige denn für eine Anwendung auf literaturwissenschaftliche Fragen, unbrauchbar wäre. Ein weiterer Vorteil dieser Definition besteht in der Andeutung, daß auch sprachliche Tätigkeiten territorialen Bezug haben. Sprache kann demnach sowohl territoriales Objekt sein ("ideas") als auch zur Artikulation von territorialen Grenzen dienen ("verbal markers"). Als Beispiel für diese Doppelfunktion kann man den Dialekt nennen, in dem Sprecher ihre territoriale Zugehörigkeit ausdrücken, während er zugleich im Zeitalter seines Verschwindens zum konservierbaren Objekt wird, mit dessen Erhaltung die regionale Eigenart gerettet werden soll. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit interessieren noch weitere Anhaltspunkte, die sich aus Altmans Definition ergeben. Literatur selbst, als komplexer "verbal marker" kann solche territorialen Funktionen übernehmen. Sie kann umweltbezogene "perceptions" artikulieren für bestimmte Lesergruppen, die territorial gebunden sind und sich im literarischen Werk wiederfinden. Sie kann Ideen und Weltanschauungen vertreten und verteidigen, 41 44

Kruse, a.a.O., S. 20. J. Altman, "Territorial Behavior in Humans: A n Analysis of the Concept", zit. nach Kruse, S. 20.

II

die mit territorialen Grenzen zusammenfallen. Als ,Heimatliteratur' bringt sie Werte zum Ausdruck, die territorial und sozial spezifisch verankert sind.45 "Verbal markers" können Gedächtnisarbeit leisten, die sich auf die Vergangenheit und Identität bestimmter Orte bezieht. Sie können Minderheiten sprachlich zum Ausdruck verhelfen, staatliche Ansprüche auf Territorien anzeigen (oder befragen) ebenso wie in rassistisch-faschistischen Werken die Ausweisung und Achtung des Fremden beschleunigen. In den untersuchten Gedichtzyklen fallen oft die von den Texten aufgerufenen geographischen Gebiete mit früheren vorneuzeitlichen Territorien zusammen, so z. B. in Hills Mercian Hymns mit Teilen des Herrschaftsbereiches von König Offa oder in Ted Hughes' Remains of Elmet mit dem Stammesgebiet von Kelten zur Zeit des Einfalls angelsächsischer Eroberer. Dies scheint zu bestätigen, daß Territorialdenken bis in die Gegenwart hinein in der Literatur wirksam ist und von ihr in immer neuen Versuchen verarbeitet wird — als eine Vermittlungsarbeit zwischen instinkthaft-biologischem Naturverhalten und zivilisatorischen Komponenten, die auf eine größere Rationalität drängen. 2.3 Räumlichkeit aus phänomenologischer Sicht 2.3.1 Lebenswelt Mit Husserls Neubewertung und Beschreibung der Lebenswelt eröffnen sich neue Zugänge zur räumlichen Erfahrung des Subjekts. Während die Verhaltensforschung in ihren Beschreibungen immer über die Subjekt-Objekt-Grenze springen muß wie ein großer Teil der Naturwissenschaft, ist es Programm der Phänomenologie, die subjektiven Erlebnisweisen von ihrer psychologischen Subjektivität zu reinigen und sie auf eine objektive Subjektivität zurückzuführen - ein Vorgang, der auch heute noch erkenntniskritisch umstritten ist.46 Wenn es also a priori keine wirkliche Rückkehr zu den Sachen selber geben kann, so doch zumindest die Rückkehr zur Reflexion über das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Nach Ströker zielt die Phänomenologie darauf ab, das „ins Licht der Reflexion zu heben, was im präreflexiven Alltagsbewußtsein immer schon als Raum gegenwärtig, unthematisch erfaßt und je schon gewußt ist [.. .]"47 Es geht also darum, Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten aufzudecken, die sich gerade deswegen der Reflexion entziehen, weil sie so selbst45 16 47

Dazu ausführlich Ina-Maria Greverus, a.a.O., passim. Kruse, a.a.O., S. 29. S. auch Karl Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1966, S. 60ff. Ströker, a.a.O., S. 3.

12

verständlich erscheinen. Die Kulturanthropologie von Hall gibt jedoch Aufschluß darüber, wie sehr diese selbstverständlichen Gewohnheiten kulturell festgelegt sind. Die Phänomenologie kann im Wissen dieser anthropologischen Variabilität daher nur bis zu den Subjekt-Objekt-Beziehungen vordringen, die jeweils spezifisch für kulturelle Kontexte sind. Sobald sie von einem Kontext zum anderen wechselt, müssen schon die Fragen ganz anders gestellt werden, um überhaupt sinnvolle Ergebnisse zu ermöglichen.48 Mit diesen Einschränkungen scheint es der Phänomenologie gelungen zu sein, grundlegende Wahrnehmungsweisen von Raum und Zeit aufzudecken, an denen keine Untersuchung zu Raumbewußtsein und Regionalität vorbeigehen kann. Zentral für den Einfluß der Phänomenologie auf die Humanwissenschaften ist der Begriff der Lebenswelt. Husserl brachte den Begriff 1936 in die Diskussion, wohl auch bezogen auf Heideggers ontologische Analyse des In-der-Welt-Seins in Sein und Zeit (1927). Die Denkgeschichte, die hinter dem Begriff steht, reicht jedoch weiter zurück, sowohl bei Husserl selbst als auch bei verwandten Denkern. Nietzsche beispielsweise wertete die Phänomene des Alltäglichen auf, als Reaktion auf den Historismus einerseits und den Idealismus in der Philosophie andererseits. Auch die Freudsche Psychoanalyse hatte sich schon länger Alltagsphänomenen gewidmet und daher den Raum einer Befragung abgesteckt, die bis heute nicht aufgehört hat.49 Husserls Aufwertung der Lebenswelt war so folgenreich, daß hier seine Begrifflichkeit kurz dargestellt werden werden muß. Gegen den herrschenden wissenschaftlichen Positivismus befreit Husserl das im Alltag schlummernde Wissen des Subjekts, das, sinnlich ausgerichtet, auf die Welt der Phänomene bezogen ist. Dieses Alltagswissen, doxa, wird in seinem Eigenrecht neben den von den Wissenschaften erarbeiteten Wissensformen erkannt.'0 Lebenswelt steht dabei im Kontrast zu den Zweckwelten unterschiedlicher Provenienz wissenschaftlicher, ökonomischer, sozialer. Alle Zweck- und Werthorizonte sind letztlich auf den untheoretischen Hintergrund des Lebensweltlichen hingeordnet, das ihnen zugrunde liegt. Lebenswelt ist das „Universalfeld, in das alle unsere Akte, erfahrende, erkennende, handelnde hineingerichtet sind."' 1 ,8

Edward T. Hall, a.a.O., S. 1-7. Zur Geschichte des Begriffs Lebenswelt s. G. Brand, Die Lebenswelt. Eine Philosophie des konkreten Apriori, Berlin 1971; P. Kiwitz, Lebenstedt und Lebenskunst, München 1985; F. Fellmann, Gelebte Philosophie in Deutschland. Denkformen der Lehensweltphänomenologie und der kritischen Theorie, Freiburg, München 1983; Hans Blumenberg, Lebenswelt und Technik unter Aspekten der Phänomenologie, Turin 1963, sowie Kruse, a.a.O., S. 27ff., und Waldenfels, a.a.O., S. 7-33. s ° Waldenfels, a.a.O., S. 38 ff. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1962, S. 147.

49

!3

2.3.2 Leiblichkeit Entscheidend für die Erfahrung dieser Lebenswelt, die sich zu einem großen Teil im präreflexiven und vorbewußten Zustand ereignet, ist die Leibbezogenheit. Von den spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten des menschlichen Leibes ausgehend erhalten die lebensweltlichen Vorgänge ihren Sinn, und das heißt hier: Orientierung und Zusammenhang. Der Leib ist gleichsam der Kern der Lebenswelt, der Boden, auf dessen Sinneshorizont die anderen Zweck- und Erfahrungswelten sich abbilden. Maurice Merleau-Ponty hat wohl den wichtigsten Beitrag dazu geleistet, von einer ontologischen Analyse der Wirklichkeit, wie sie sich bei Heidegger findet, zur Analyse konkreter Leiblichkeit hinzuführen. Die Leiblichkeit selbst wird zum Schlüssel der Wahrnehmung: . . . comme la génèse du corps objectif n'est qu'un moment dans la constitution de l'objet, le corps, en se retirant du monde objectif, entraînera les fils intentionnels qui le relient à son entourage et finalement nous révélera le sujet percevant comme le monde perçu.' 2

Der Leib als physisch-psychische Einheit vom objektivistisch gesehenen , Körper' unterschieden, ist demnach der Ausgangspunkt von Wahrnehmung und Welt zugleich: L e corps propre est dans le monde comme le coeur dans l'organisme: il maintient continuellement en vie le spectacle visible, il l'anime et le nourrit intérieurement, il forme avec lui un système. 53

2.3.3 Raumerfahrung Der Leib ist somit Ort des Aufscheinens von Husserls doxa oder eines Vorich, auf dessen Grund sich jede spätere Ich-Formation erst abheben kann. Es ist die erste Welt, die arché, der Ursprung von Selbst überhaupt. Aus dieser Leibzentriertheit menschlichen Daseins heraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für einen konstitutiven Teil der Lebenswelt, der unter dem Begriff der Räumlichkeit zu fassen ist. Schon Merleau-Ponty sah in der räumlichen Tiefe „die ,existentiellste' Dimension, weil sie ohne Bezug auf unser leibliches Hier in Nichts zerrinnt."54 Seit den zwanziger Jahren reißt der Strom von Publikationen zum Raum aus phänomenologischer Sicht nicht mehr

53 54

Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, S. 86. Ebd., S. 235. Waldenfeis, a.a.O., S. 70.

14

ab.55 Zu den meistdiskutierten Studien gehören Minkowskis psychologische Untersuchungen (1930, 1933), Dürckheims Entwicklung des Begriffs „gelebter Raum" (1932), Cassirers Analysen zum mythischen Raum (1931) sowie Bachelards Studie zum poetischen Raum und zur „Topophilie" (1958).56 Elisabeth Ströker untersucht die Unterschiede zwischen psychischen und mathematischen Räumen, während Lenelis Kruse eine Fundierung des umweltpsychologischen Raumbegriffs unternimmt.57 Im angelsächsischen Bereich dienen die phänomenologischen Grundlagen vor allem der Anwendung des Raumbegriffs im Rahmen einer philosophisch orientierten Humangeographie und Kulturanthropologie. Wie Kruse zeigt, ist der Raum bei Heidegger (Sein und Zeit) und Minkowski immer noch wenig konkret. In beiden Fällen geht es um ontologische Wesensbestimmungen, die den „Raum als Korrelat eines lebendigen Leibsubjekts in seiner Struktur weitgehend unberücksichtigt" lassen.58 Erst Dürckheim entwickelt, in (ungenannter) Anlehnung an William Sterns Psychologie, Kategorien für einen „gelebten Raum", den er vom mathematisch homogenen Raum abhebt. Dürckheim und Stern (1924,1936,1950) gehen von der Interaktion zwischen Person und Umwelt aus, die bei Stern zu einer Dialektik „im Sinn einer Gegenwirkung" wird.59 Diese Interaktionstheorie, die von einer Symbiose der objektiven Welt mit dem psychischen Erleben ausgeht, hat Konsequenzen für eine begriffliche Analyse von Räumlichkeit. Insofern Räume Stimmungen tragen, evozieren oder als Medien verstärken, kann von einem gestimmten Raum60 gesprochen werden. Räume haben demnach ,Anmutungscharakter', sie sprechen an oder weisen ab, sind heiter oder bedrückend. Auch hier macht sich der Einfluß Heideggers geltend, in dessen Analyse des Daseins der ontologische Begriff der Befindlichkeit ontisch der Stimmung entspricht.61 Als zweite Raumform hat die Forschung den Handlungsraum (Aktionsraum) untersucht. Er ist nicht so sehr auf das stimmungsmäßige Befinden des Subjekts, als vielmehr auf dessen Tätigkeitshorizont bezogen. Raum wird damit zu einer Funktion der jeweils spezifischen Zweckstruktur, der das Handeln unterliegt. Orte sind gekennzeichnet durch ihre funktionelle Vernetzung; sie dienen dem Aufbewahren von Geräten oder sind verfügbar

"

5i 57

"

19 60 61

Kruse, a.a.O., S. 33 ff. Eine erste Zusammenfassung dieser Ansätze findet sich bei Bollnow, a.a.O., S. 13—25. Ströker, a.a.O., Kruse, a.a.O. Ebd., S. 34. Stern, zit. nach ebd., S. 37. Nach Binswanger, a.a.O. Kruse, a.a.O., S. 59-76.

!5

als Praxis. Wie Hoffmann62 betont, sind Handlungsräume stärker intersubjektiv zugänglich als gestimmte Räume, die das Erleben Einzelner reflektieren oder der Anregung von Visionen und Atmosphäre dienen können. Ferne und Nähe verlieren im Handlungsraum ihre ästhetischen Qualitäten und sind lediglich noch Indikatoren von Verfügbarkeit. Kruse63 unterscheidet dabei noch zwischen aktuellen und potentiellen Handlungsräumen, d. h. zwischen der Handhabbarkeit von Dingen aufgrund aktueller Reichweite und den Räumen möglichen Handelns, sei es vergangener oder zukünftiger Art. Handlungsraum setzt Orientierungsfähigkeit voraus, d.h. eine Abstimmung zwischen Leib und Umwelt, in der Kategorien wie oben/unten, links/ rechts und vorne/hinten entscheidende Parameter des Verhaltens darstellen. Zusammen bilden sie eine Wegestruktur, mit deren Hilfe das Subjekt seine jeweilige Zweckordnung abbildet. Wie der Stimmungsraum unterscheidet sich der Handlungsraum vom homogenen Raum der Mathematik. Die Ausrichtung der Dimensionen, Richtungen und Wege auf ein handelndes (und noch mehr: gestimmtes) Subjekt ist getragen von der mit der Leiblichkeit gegebenen Verfassung des Raums. Durch die leibliche Orientierung kommt es zur Privilegierung und Abwertung bestimmter Orte im Raum. So ist der Mittelpunkt, da mit dem Subjekt identisch, immer privilegiert - und bleibt es auch durch Projektion des leiblichen Selbst auf Ortschaften oder Gebäude.64 Eine Ungleichwertigkeit herrscht in den meisten Kulturen zwischen Links und Rechts, aufgrund der allgemeinen Rechtshändigkeit;6' die Bevorzugung des Oben vor dem Unten ist integraler Bestandteil der meisten Sakralbauten. Der mathematische Raum dagegen ist durch Homogenität gekennzeichnet.66 Er kennt weder den ausgezeichneten Mittelpunkt noch andere räumliche Privilegierung von Punkten im Raum. Weiterhin ist keine Richtung anderen übergeordnet. Vielmehr erstreckt sich der mathematische Raum ungegliedert in das Unendliche.67 Orientierter Raum dagegen beruht als Stimmungs- oder Handlungsraum immer auf einer Korrespondenz mit menschlicher Erfahrung, resultiert aus dieser oder läßt sich durch sie definieren. Und diese Definitionsfähigkeit des kulturell geprägten Leibes kann von biologischen Determinanten wie Bewegungsarten oder Sinnesapparatur gehen bis hin zur höchst subjektiv erlebten Raumwahrnehmung des Künstlers.

6i

Gerhard Hoffmann, a.a.O., S. 80. Kruse, a.a.O., S. 80. 64 Bloomer, Moore, a.a.O., S. 37ff.; Tuan, a.a.O., S. 34ff. 6 * Vgl. Roger Needham, Hg., Right and Left: Essays on Dual Symbolic Classification, Chicago 1973, sowie Vilma Fritsch, Links und Rechts in Wissenschaft und Leben, Stuttgart 1964. 66 Ströker, a.a.O., S. 197ff. 67 S. Bollnow, a.a.O., S. 17. 63

16

Kulturelle Determinanten mit ihren Abweichungen interpretieren die biologischen Faktoren, indem sie sie auf unterschiedliche Weise verwirklichen. Die jeweiligen kulturellen Umsetzungen können wiederum Objekt von idiosynkratischen oder privaten Interpretationen werden, soweit die Kultur Einzelnen einen solchen Spielraum läßt. Eine weitere Raumkategorie, die in der Phänomenologie und Psychologie eine Rolle spielt, ist der Wahrnehmungsraum oder cognitive Space. Ströker spricht vom Anschauungsraum, der allerdings der umfassende Begriff ist: D a s Subjekt erschöpft sich in seinen leiblichen Leistungen nicht im tätigen U m gang mit den D i n g e n ; sein F u n k t i o n s r a u m geht nicht darin auf, lediglich A k tionsraum zu sein. D e r Leib ist außer seiner Funktionseinheit zielgerichteter A k t i o n e n zugleich Einheit der Sinnesleistungen, er ist nicht nur handelnder, sondern auch sinnlich anschauender Leib. 6 8

Nach Ströker konstituiert der Wahrnehmungsraum nur die Seitenansichten der Dinge, nicht aber, wie der aus der Sinneseinheit des Leibs heraus wirkende Anschauungsraum, die Dinglichkeit der Dinge. 6 ' Der Anschauungsraum ist in jedem Fall, im Gegensatz zum Aktionsraum, ein Fernraum, 70 die Dinge werden zum isolierten Gegenüber oder bilden, in der Literatur zum Beispiel, eine panoramaartige Ansicht/ 1 Kruse geht wiederum auf den Begriff Wahrnehmungsraum zurück, der sich eher an die angelsächsische Forschungsdiskussion anschließen läßt, in der von cognitive Space die Rede ist. Demnach ist Wahrnehmungsraum zunächst eine visuelle Welt der Ferne, die der leiblichen Ausrichtung und Asymmetrie weniger unterliegt als der Aktionsraum. 72 Tiefe und Horizont sind die Paradigmen der Raumwahrnehmung. Eine psychologische oder behavioristische Ableitung von Tiefendimensionen, wie sie in der Sinneslehre von James Gibson zutage tritt, ist jedoch aus phänomenologischer Sicht nicht ausreichend; darin sind sich philosophische Kritiker einig mit phänomenologisch orientierten Geographen. 73 Gegen alle außengeleitete Analyse des cognitive Space betont die Phänomenologie die Komponente der Subjekterfahrung und kritisiert das Konzept des Wahrnehmungsraums als Intellektualisierung eines so im Alltagsleben nicht vorhandenen Verhaltensmusters. Mit Merleau-Ponty argumentiert Seamon für die Anerkennung eines leiblichen vorkognitiven Wissens:

6>

70 71 72 75

Ströker, a.a.O., S. 93. Ebd., S. 95. Ebd., S. 100. Hoffmann, a.a.O., S. 92. Kruse, a.a.O., S. 113. Ebd., S. 114; vgl auch Seamon, A Geography of the Lifeworld, S. 34 f.

17

. . . the body holds within itself an active, intentional capacity which intimately 'knows' in its own special fashion the everyday spaces in which the person lives his typical day. 74

Die Aufgliederung, die die Phänomenologie an Raumformen vornimmt, darf natürlich nicht über deren heuristische Funktion hinwegtäuschen; es versteht sich, daß eine strikte Trennung von pragmatischen, kognitiven und emotionalen Räumen nicht möglich ist. Auch das Verhältnis zum mathematischen Raum kann nur gradueller Natur sein. Kognitive Räume können unter dem Aspekt potentieller Fernhandlung zu Aktionsräumen werden; diese wiederum mögen gefühlsmäßig besetzt sein, da die Handlungen nicht allein zweckorientiert ausgerichtet sein müssen, sondern triebhafte und emotionale Färbungen aufweisen können. Die Unterscheidungen der Phänomenologie haben ihre Anwendung auch in der Literaturwissenschaft gefunden, so vor allem in Joseph Franks richtungsweisenden Gedanken oder in Gerhard Hoffmanns grundlegenden Studien zum Raum in der Erzählkunst. Gerade die Erzählliteratur bietet eine große Zahl von Anwendungsmöglichkeiten. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist diese phänomenologische Analyse jedoch nur ein Ausgangspunkt. In der Lyrik, wie zu zeigen ist, kommt es ohnehin weniger zur Ausgestaltung von individuellen Raumphänomenen. Die dreifache Raumstruktur, also Stimmungsraum, Handlungsraum und mathematischer Raum, muß um übergeordnete Strukturen ergänzt werden, die eine historische Einbettung erlauben. Dies kann zunächst am Begriff der Region gezeigt werden. 3. Regionalität und Lebenswelt Der entscheidende Beitrag, den die Phänomenologie mit ihrer erfahrungsorientierten Sicht des Raumes geliefert hat, ist die Analyse gelebter Räume im Unterschied zu den gedachten Räumen der Mathematik und Physik (oder den experimentellen Räumen der Naturwissenschaften überhaupt). Wie Bergson der homogenen physikalischen Zeit die psychische durée gegenüberstellt, hat die Phänomenologie den gelebten Raum als Existenzmodus ersten Ranges erkannt und qualitativ durchleuchtet. Mit der Untersuchung des qualitativen, inhomogenen Raumes hat sie Konzeptionen in der Architektur, Geographie und Verhaltensforschung beeinflußt. Die so erarbeiteten räumlichen Phänomene könnten nun erweitert werden und die Vernetzung ganzer Raumwelten umfassen, so wie sie sich im Alltagsbewußtsein darstellen. Der ,objekti74

Seamon, ebd., S. 35.

18

ve' Raum wird dabei in Entsprechung zu privaten oder gruppenspezifischen inneren Landkarten (mental maps) überdeckt, die - ob reflektiert oder präkognitiv - Einfluß auf das Umweltverhalten haben.75 Die Ausrichtung des Raumes auf leibliche Kategorien wie physische Erreichbarkeit oder sinnliche Faßbarkeit ist hier ebenso zu berücksichtigen wie die Interferenz mit globalen politisch-ökonomischen Mustern oder historisch gewachsenen Strukturen. Nicht nur der einzelne Ort - Haus, Dorf, Straße, Stadtteil, Industriegebiet - , sondern die Verknüpfung von Orten spielt eine Rolle für die Bewertung eines Gebiets. Die Frage stellt sich, inwiefern sich durch die Art der Verknüpfung Gewichtungen ergeben, die aus einem komplexen Zusammenspiel von geographischem Raum, Einbildungskraft, Triebstruktur und politisch-historischen Kräften entstehen. Der Bogen spannt sich vom instinktuellen Territorialverhalten bis hin zur Planung von Raumstrukturen aufgrund größtmöglicher ökonomischer Ausnutzung. Phänomenologisch orientierte Raumplaner und Geographen haben immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr es auf das Zusammenspiel der Faktoren ankommt, wenn die Umwelt menschlich erträglich und sinnvoll sein soll. Eine Reihe von Faktoren ist in der herkömmlichen Planung nie berücksichtigt oder allenfalls als trivial eingestuft worden. Am Begriff der Regionalität läßt sich dies besonders deutlich machen. Kevin Lynch unterscheidet zwischen einer zweckorientierten Planwelt und einer sinnesbezogenen partikularen Welt, die lokal und individuell ist, immer aber bezogen bleibt auf einen Erfahrungsrahmen, der als ,regional' zu bezeichnen ist - als Verbindung von Lebens- und Funktionsorten, die der Mensch täglich oder in anderen Zyklen durchläuft/6 Damit ist ein Bezugsfeld für den Begriff Region gegeben, wie er sich in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert hat. ,Regionalität' betrifft daher nicht ein homogenes Phänomen, sondern eine Summe von Phänomenen, die durch ihr Zusammenspiel mit den Subjekten Befindlichkeiten auslösen. Von einem phänomenologischen Standpunkt aus ist Region die Ausfaltung des leiblich orientierten Nahraums in größere Raumeinheiten, die eine Mehrzahl von Orten, Wegen und Gegenden umfaßt und die letztlich auch auf die leibliche Orientierungsfähigkeit bezogen bleiben. Wenn Lynch die sinnlichen Qualitäten der regionalen Umwelt betont, die ,Lesbarkeit' ihrer Bedeutungen für das Individuum, dann impliziert er einen leiblichen Bezug. Dies tut auch Seamon, wenn er das an Merleau-Ponty angelehnte Konzept des body-subject 75

76

Vgl. Peter Gould, Rodney White, Mental Maps, Harmondsworth 1974, passim, sowie Tuan, a.a.O., S. 67ff. Kevin Lynch, Managing the Sense of a Region, Cambridge, Mass. 1976, S. 10.

19

jener vorbewußten Steuerung durch den Leib - auf größere Raumeinheiten bezieht, auf tägliche Wegenetze, Ruhefelder und weitere Zyklen. 77 ,Region' und,Regionalismus' sind auf der anderen Seite als kulturelle und politische Phänomene historische Begriffe mit wechselnden Konnotationen. In der Geographie war es zuerst Friedrich Ratzel, der im 19. Jahrhundert sich eingehend dem Studium der,Lebensräume' und der Geopolitik widmete und einen großen Einfluß auf spätere Generationen von Geographen hatte - allerdings auch auf die geopolitischen Vorstellungen der Nationalsozialisten und ihre Ideologie vom,Lebensraum'. In neuerer Zeit greifen gerade die Territorial-Forscher wieder auf Ratzel zurück/ 8 Die allgemeinste Definition von Region liefert Dickinson: "A number of artifacts or habits may be distributed in such a way that their boundaries coincide."79 Regionen können, nach Dickinson, jedoch erst in Erscheinung treten, wenn die obigen Phänomene mit natürlichen landschaftlichen Gegebenheiten in ein Zusammenspiel kommen. Als historisch gewachsene Lebens- und Wirtschaftsterritorien stehen sie jedoch oft im Konflikt mit den Interessen einer industriell-modernen Raumauffassung, sei sie zentralistischer Natur oder einfach ausgerichtet auf ökonomische Rationalität. Die Herausbildung eines Regionalbewußtseins kann verschiedene vereinheitlichende Faktoren anderen, ebenso vereinheitlichenden Faktoren gegenüber akzentuieren. So steht z. B. das Festhalten an den alten landschaftlich gegebenen Namen von Regionen in England (Cotswolds, Weald, Ridings, Holderness etc.) im Konflikt mit neuen administrativen Namen, die sich aus modernen funktionalen Aufteilungen ergeben (aus Worcestershire wird z. B. West Midlands).80 Die vorindustrielle Einteilung hat direkten Einfluß auf die mental maps der Bewohner und führt wieder zurück in die phänomenologische Beobachtung von der Lesbarkeit und Sinnfälligkeit von Regionen, die im Gegensatz steht zur abstrakten Raumaufteilung der optimalen Verwaltbarkeit. Dies führt zu den geschichtlichen Hintergründen jener Bewegungen, die die Region zur politischen Frage erhoben haben. Der Begriff,Regionalismus' reicht an das Ende des 18. Jahrhundert zurück und umschreibt zunächst antizentralistische Bewegungen in europäischen Regionen.8' Neben diesem 77 78

79 80 81

Seamon, A Geography of the Lifeworld, S. 54 ff. Vgl. Robert Dickinson, Regional Ecology. The Study of Man's Environment, New York 1970, S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 54 f. Vgl. Mecklenburg, a.a.O., S. 9; Hedwig Hintze, "Regionalism" in Encyclopedia of Social Sciences, Bd. 13, New York 1950, S. 208-218; F. W. Morgan, "Three Aspects of Regional Consciousness" The Sociological Review 31 (1939), 68-88; Léon Boussard, "Régionalisme", La Revue des deux mondes 9 (Juli/Sept. 1970), S. 513-517.

20

Akzent auf dem Kampf gegen Zentralgewalt gibt es das im weiteren Rahmen der Moderne auftretende Verständnis von Regionalismus als .„Antwort' auf eine spezifische Herausforderung unserer Zivilisation".82 Da staatliche Zentralisierung in Europa ein neuzeitliches Phänomen ist, können beide Verständnisse nicht völlig voneinander getrennt werden. Doch kann man die politische Interpretation in den weiteren Rahmen stellen, der von einer historischen Anthropologie bis zur Psychohistorie oder historischen Soziologie eines Norbert Elias reicht. Demnach würden den zentripetalen Kräften, wie sie Staat, Institutionen, die Vereinheitlichung von Sprachen, Dialekten und Sitten verkörpern, zentrifugale Kräfte entgegenwirken, die auf Verschiedenheit drängen und der Leiblichkeit des Einzelnen, ökologischen Notwendigkeiten, sozialen, historischen und möglicherweise geschlechtsspezifischen Partikularitäten entstammen. Im weitesten Sinn geht es um die Erhaltung einer Balance zwischen den Komponenten der ökonomisch-rationalen Abstraktion des geschichtlichen Prozesses und der leiblich bedingten lebensweltlichen Verankerung des Einzelnen und kleinerer Gruppen in übersichtlichen Kontexten. Wo die Balance gestört ist, da kommt es zu sozialen Bewegungen, die sich zunächst nicht in politischen Manifesten ankündigen, sondern - was bei oberflächlicher Betrachtung trivial anmuten mag - im Unwohlsein Einzelner. Dieses Unwohlsein kann psychosomatische Züge annehmen; erst wenn es physisch sichtbar wird, treten Agenturen zur Beseitigung dieser Störung auf den Plan. Gerade im Gebiet der Ökologie von Regionen dürfte dies in den letzten Jahren deutlich geworden sein. In welcher Weise nun hat dies Bedeutung für die Betrachtung von Literatur? Mecklenburg hat in seiner Studie zum regionalen Roman einige Züge des literarischen Regionalismus benannt, die auch in diesem Rahmen relevant sind. Dazu zählen: 1. Literarische Darstellungen bestimmter geschichtlich-geographischer

Land-

schaften und ihrer in bestimmten Wesenszügen ähnlichen Bewohner. 2. Region als Phantasieraum des Erzählers - was eine bestimmte Autorenhaltung zur Folge oder Voraussetzung hat. Biographische Lebensumstände sowie der Rückbezug auf kindheitliche Regionen sind hier ausschlaggebend. 3. Regionalliteratur, die von Autoren, Lesern und der Distribution her auf bestimmte Gegenden festgelegt ist, ohne deswegen jedoch ,Heimatliteratur' zu

• 81J sein.

81

83

Mecklenburg, a.a.O., S. 9, vgl. auch Hermann Lübbe, „Politischer Historismus. Zur Philosophie des Regionalismus", Merkur 33 (1979), S. 415. Mecklenburg, a.a.O., S. iof.

21

In allen Fällen geht es Mecklenburg u m die Herausarbeitung des K o n f l i k t s zwischen Regionalität und Modernität, der ein heterogener G e g e n s a t z ist. Es gibt genügend Beispiele der Weltliteratur - man denke an Faulkners Süden, Joyces D u b l i n - , in denen es z u Verbindungen zwischen beiden k o m m t , so z. B. im M o d e l l der Provinz als M i k r o k o s m o s globaler Vorgänge. A b e r u m K o n f l i k t geht es in jedem Fall. W i e d e r u m ist er nicht ohne weiteres z u übersetzen in einen K o n f l i k t v o n Stadt und Land. Gerade das 20. Jahrhundert zeigt, daß beide Kategorien so sehr ineinander übergehen, daß sie als Gegensatz fast nur n o c h historischen Charakter haben. So schreibt ein Umweltplaner: Urban and rural areas will not be separated here. They are part of the continuous spectrum of human habitats and are now becoming progressively more difficult to distinguish [...] O u r senses are local, while our experience is regional.' 4 Er bestätigt damit die Befunde, z u denen R a y m o n d Williams bei der Untersuchung der E n t w i c k l u n g von Stadt und Land im 20. Jahrhundert gelangt ist. 8 ' Im folgenden sollen nun einige G r u n d b e g r i f f e geklärt werden, die in den letzten Jahren in den phänomenologisch orientierten Humanwissenschaften in den Vordergrund traten und mit deren Hilfe die Phänomene in der neueren britischen L y r i k besonders sichtbar werden. Teilweise lassen sich diese Begriffe in der F o r m v o n Gegensatzpaaren fassen, deren G r u n d l a g e n in den früheren Beobachtungen z u r Lebenswelt zu finden sind.

4. O r t u n d O r t s s i n n in d e n U m w e l t w i s s e n s c h a f t e n 4.1 Space und Place W i e oben erläutert, hat die Phänomenologie v o n A n f a n g an den Gegensatz v o n geometrisch-mathematischen Räumen z u dem v o m Subjekt aus erlebten R a u m untersucht. In der angelsächsischen Humangeographie (auch behavioural geography) hat sich das Begiffspaar space und place eingebürgert. 8 6 D e r Gegensatz ist jedoch nicht völlig identisch mit dem obigen. Space ist primär der v o n außen gesehene und beschriebene R a u m , place hat demgegenüber die Konnotationen des innerlich erlebten und affektiv besetzten Raumes. Space Lynch, a.a.O., S. 10. ®s Raymond Williams, The Country and the City, Frogmore 1975, S. 28off. 8 i Relph, a.a.O., sowie ders., "Geographical Experiences and Being-In-the-World: The Phenomenological Origins of Geography", in Seamon, Mugerauer, a.a.O., S. 24 ff., und Tuan, a.a.O., passim. 84

22

reicht insofern vom mathematischen Raum bis in den geographischen, sakralen, pragmatischen und kognitiven hinüber; immer aber sind diese Qualitäten nur äußerlich beschreibbar. Dardel z.B. wendet Space (espace) auf die Geographie an und kommt zu fünf Komponenten des geographischen Raumes: Materie, Tiefe, Wasser, Luft und menschlich gemachter Raum. Geographischer Raum ist demnach eine Mischung aus diesen Komponenten mit der spezifischen menschlichen Erfahrung, die daraus entsteht.87 Während Space immer gegeben ist und jeder Erfahrung zugrundeliegt (im Sinne Kants ebenso wie der Anthropologie), ist place ein Produkt aus längeren gegenseitigen Einwirkungen von Mensch und Örtlichkeit. Damit kommt der Faktor Zeit ins Spiel: Geschichtliche Zeit, Vergangenheit wird erfahren als Gedächtnisleistung, die sich mit Orten verbindet. Relph schreibt: . . . they are constructed in our memories and affections through repeated encounters and complex associations. Place experiences are necessarily time-deepened and memory-qualified. 88

Die Zeitdimension wirft die Frage auf, inwieweit Vergangenheit in menschlicher Erfahrung notwendig ist, um Sinn zu erzeugen. Denn Sinn ist die Kategorie, die place auszeichnet als signifikanten Ort. Untersuchungen zur Gegenwart des Vergangenen durch das Medium von Orten und Landschaften sind hier von besonderer Bedeutung.89 Mit der Frage nach dem Gedächtnis und seinen selektiven Filtern verbindet sich die psychologisch-anthropologische Frage nach der Notwendigkeit von Kontinuität zur Erzeugung und Erhaltung von Identität bei Gruppen und Einzelnen. Daß Orte Sinn für ihre Bewohner oder, im Falle von Außenorientierung, für Reisende und Besucher haben müssen, um als angenehm und bewohnbar zu erscheinen, hat seit einiger Zeit die Umweltforschung beschäftigt, gerade auch wegen der Vernachlässigung der Sinnfrage in vorausgegangenen Perioden. Der Begriff des valued environment mag hier für viele ähnliche stehen.90 Die affektive Besetzung von Orten kann sowohl zu Extremen wie Topophilie (Bachelard) oder Topopbobie (Tuan) führen; sie ist aber im allgemeinen Grundlage einer sinnvollen Ortsbeziehung.

87

Eric Dardel, L'homme et la terre. La nature de la réalité géographique, Paris 1952, passim; Relph, "Geographical Experiences", S. 25 f. 88 Ebd., S. 26. 8 ' Vgl. Kevin Lynch, What Time Is This Place?, Cambridge, Mass. 1972; David Lowenthal, Marcus Binney, Hgg., Our Past Before Us. Why Do We Save It?, London 1981; David Lowenthal, The Past is a Foreign Country, Cambridge 1985. Jacquelin Burgess, John Gold, Hgg., Valued Environments, London 1982.

Wenn Zeit als Vergangenheit und Kontinuität - in religiösen oder teleologischen Zusammenhängen auch als Zukunft als Gedächtnis und Erinnerung ein sinnstiftender Faktor sein kann, so verweist dies auf einen gesellschaftlichen Ursprung. Sinnvoll kann für das zoon politikon nur ein Ort sein, der Assoziationen gesellschaftlicher Art erlaubt, z. B. in der Form gemeinsamer Erinnerungen. Wiedererkennen und Vertrautheit sind weitere Elemente, in denen zeitliche Dauer und menschliche Gemeinschaft zusammengehen. Bollnows Untersuchungen zum „Raum des menschlichen Zusammenlebens", für den er Heimatgefühl, Gemeinschaft und Zusammenarbeit betont - sicherlich besonders relevant für die Nachkriegszeit - , unterscheiden sich nur terminologisch von den Werten, die die neuere Verhaltensgeographie postuliert.91 So greift Seamon zur sozialen Metapher von Ballett und Choreographie, um die Verwirklichung von place in alltäglichen, gesellschaftlich abgestimmten Bewegungen zu beschreiben. Voraussetzung für das Gelingen der Choreographie ist familiarity. Nur deshalb kann das body-subject, der vorbewußt agierende Leib des Alltags, seinen Tätigkeiten nachgehen. Eine relative Störungsfreiheit, Routine und die Stabilität eines vertrauten Ortes ermöglichen ein solches place ballet. Seamon zitiert einen Versuchsteilnehmer wie folgt: This situation of knowing other people - of knowing who is there at the time, recognising faces that you can say hello to - makes the place warmer. It creates a certain atmosphere that wouldn't be if new faces came in every day! 92

Mit der Berücksichtigung der Innenperspektive sieht sich phänomenologische Erforschung von place als sinnvollem Ort vor hermeneutische Probleme gestellt. Wie läßt sich die Bedeutung eines Ortes für die Bewohner ermessen? Die ältere positivistische Geographie vermeidet den Umgang mit solchen Fragen. Kritisch merkt dazu Relph aus der Sicht Heideggers an: Clearly, the academic-geographical attitude to places is one of presence-at-hand [d. h. Heideggers Vorhandenheit, E.S. ] in which the geographer is distanced from the meanings of place experience."

Um dem Defizit abzuhelfen, muß ein Begriff gefunden werden, in dem diese "meanings of place experience" gebündelt sind. Der Begriff, der sich in der Humangeographie durchgesetzt hat und diese Einbindung des Subjekts in die Räumlichkeit beschreibt, heißt sense of place.

»' Bollnow, a.a.O., S. 2j6ff. Seamon, A Geography, S. 57. " Relph, "Geographical Experiences", S. 27.

24

4-2 Sense of Place und Placelessness Mit der Einführung des Begriffs place ergibt sich die darin liegende Haltung eines sense of place, dem die obigen Erfahrungskomponenten zugrunde liegen. Sense erfaßt eine geistig-imaginative Seite, die Sinnstiftung ermöglicht ("to make sense"); zugleich scheint das Wort aber auf instinktuelle Triebformen zu verweisen ("to sense something"), die sowohl die Territorialhaltung, den Heim- und Schutzinstinkt im Subjekt erfassen als auch die sinnhaften Qualitäten des Ortes selber einbeziehen. Da das Wort ein solches Bündel von Erfahrungen und anthropologischen Momenten umfaßt, kommt es auch zu einem schwankenden Wortgebrauch in den Wissenschaften. Lynch stellt fest: "It is a puzzle to find some simple word for the sensed quality of a place" und gelangt zu einem mehrschichtigen Wortfeld, das "sensory qualities", "seemliness" und "sense" selbst enthält.94 In jedem Fall kommt es zu einer Verbindung von leiblich-sinnlichen Komponenten mit geistig-imaginativen und emotionalen. Wo diese Verbindung aufhört, führt dies entweder zu sensory deprivation, zur Einstellung aller sinnlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt und zur Verlagerung des Geschehens nach innen, oder zum Entzug von affektiven Kräften aus der Umwelt, die damit der Abstraktion zufällt. Eine dermaßen affektlose, den Menschen nichts angehende Umwelt, wie sie oft von Planern, die den Gesetzen rationeller Nutzungsabläufe folgen, erstellt wird, hat wiederum Sinnesentzug in den Menschen zur Folge, die dieser Raumordnung ausgeliefert sind. Dem sense of place zugeordnet ist also seine Negation, die in der Forschung als „Heimatschwund", 95 als "topophobia" 96 und als "placelessness" 97 beschrieben wird. Die Erfahrung, daß Orte ihren Sinn verloren haben und lediglich zu Außenansichten und Flächen auf Karten geworden sind, die Erfahrung von placelessness also, kann aus zahlreichen Bedingungen entstehen. Einige seien hier genannt. Wichtig ist erstens die Entwurzelung des modernen Menschen durch die gestiegene Mobilität im 20. Jahrhundert und durch die politischen Kataklysmen, Weltkriege, Flüchtlingsströme usw., ein Phänomen, das vielfach Thema der Soziologie und Philosophie geworden ist. Simone Weil zeigte die theologisch-philosophischen Gründe für dieses déracinement auf.98 Konservative Kulturphilosophen fanden die Ursache in einem „Verlust der Mitte", der die Künste des Jahrhunderts beherrsche.99 Die Soziologie benannte Büro94 95 96 97 98

"

Lynch, Managing the Sense, S. 8 f. Waidenfels, a.a.O., S. 203. Relph, "Geographical Expériences", S. 27. Relph, Place and Placelessness, passim. Simone Weil, L'enracinement, Paris 1949. Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, Frankfurt/M., Berlin 1969.

2

5

kratisierung und Anonymisierung als Gründe. 100 Zweitens führt die Nivellierung von Qualitäten in Orten und Landschaften zugunsten wirtschaftlicher Nutzbarkeit zu einem ,Raum ohne Eigenschaften': Mangelnde Strukturierung,

die zu Monotonie und Gleichförmigkeit führt, för-

dert die Austauschbarkeit der Umweltaspekte. Mangelnde

Zentrierung,

die mit

einer Ubermobilität zusammenhängt, schwächt die Verankerung im Raum und gleicht den Lebensraum dem homogenen Raum an, der nur noch austauschbare Raumstellen enthält.101

Als Gegentendenzen bieten sich im 20. Jahrhundert Nationalismus, Faschismus und das Wirken von Heimatverbänden an, die auf einen gefährlichen Heimatbegriff pochen; denn dieser ist nicht mit den komplexen Gegebenheiten der modernen Welt vereinbar und impliziert zudem den Ausschluß des Fremden. Daneben gibt es die regionalistischen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre, die das Ziel der Dezentralisierung mit einer stärker ökologisch ausgerichteten Wirtschafts- und Lebensform verbinden; weiterhin bemühen sich die meisten Gruppen um eine positive Rückbesinnung auf regionalistische Traditionen bei gleichzeitiger Kritik an ihrem Mißbrauch. Ein weiterer Grund für die Entfremdung von lokalen Lebensformen ist die Zunahme der elektronischen Medien, die, bislang zumindest, zentral gesteuert sind und auf eine Vereinheitlichung von Kommunikationsformen hinwirken (z. B. durch die Vorherrschaft von Hochsprachen). Nach einer Studie zu den gesellschaftlichen Auswirkungen des Fernsehens führt die bildliche und sprachliche Strategie des Fernsehens mit seinen Bildern eines künstlichen Irgendwo zu einer Lösung von der raum-zeitlichen Verankerung der Lebensformen und zur Erosion der partikularen Lebenswelten. 102 Dies sind, kurz skizziert, einige der möglichen Ursachen für das Phänomen placelessness. Folgt man Heidegger, wird man die Ursachen noch tiefer, über die historische Bedingtheit hinaus, in der ,Seinsvergessenheit' und einer daraus entspringenden ontologischen Krise suchen müssen. Wie Heidegger in „Bauen Wohnen Denken" andeutet, liegt der zeitgenössischen Unfähigkeit zu wohnen eine existentielle Unfähigkeit zugrunde, Wirklichkeit noch länger als Seinsgefüge zu begreifen, das sich in der Vieldimensionalität des Dings zum Ausdruck bringt. 103 IQ

° Peter Berger, Brigitte Berger, Hansfried Kellner, The Homeless Mind. Modernization and Consciousness, New York 1973. 101 Waldenfels, a.a.O., S. 203. 102 Jan Meyrowitz, No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behav ior, New York 1985, S. 115—126 ("The Separation of Social Place from Physical Place"). 103 Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken", in Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1978, S. 146H.

26

Auch diese ontologische Analyse taucht jedoch nicht zufällig in der Moderne auf. Die Entdeckung der Seinsvergessenheit selbst ist nicht zu lösen von historischen Bedingungen, die diese Fragestellung erst ermöglichen. Heidegger hat in den letzten Jahren eine Reihe von Umweltforschern beeinflußt - ein Zeichen, daß seine philosophische Kritik Eingang in die Praxis gefunden hat.104 Mit der Phänomenologie und mit Heideggers Philosophie, aber auch mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule vereinbar ist die These, daß placelessness in jeder Hinsicht Ausdruck eines in den Industriegesellschaften universal anwesenden Wirklichkeitsverlustes ist, das endlich sichtbar gewordene Resultat eines langen neuzeitlichen Prozesses, dessen philosophisches Symptom der Cartesianismus war, der sich in der Umweltgestaltung und im dazugehörigen Menschenbild als Positivismus niederschlug. In der Architektur war es die Abwendung vom menschlichen Körper als Grundlage des Bauens und die Übernahme mechanistischer Modelle von Mensch und Kosmos.105 Diese Entwirklichung im Sinne eines Vergessens grundlegender Lebensbedürfnisse wurde möglich durch die Ausrichtung menschlicher Tätigkeit auf die Seiten der Natur, die technisch beherrschbar und nutzbar sind, auf der Grundlage eines Wissens, das Owen Barfield "dashboard knowledge" nennt und das der instrumenteilen Vernunft unterliegt.106 Damit wurde die Bedingtheit menschlichen Tuns durch Raum und Zeit, die Verankerung in partikularen Zusammenhängen und die Abhängigkeit von materiellen und biologischen Gegebenheiten zu einem Hindernis ersten Ranges. Denn Nutzbarmachung heißt Überschreiten von Raum- und Zeitgrenzen durch Technologie.107 Im Sinne des Nutzen- und Kostendenkens wurden so in allen Lebensbereichen die gelebten Räume den homogenen Raumaufteilungen des mathematisch-wissenschaftlichen Raums unterworfen. Das ,Gelebte' verblaßte zur Trivialität und verkörperte die nichtigen, zu vernachlässigenden Momente des Alltags. Das Ende einer leiblich gesteuerten Vernunft, eines zumindest hypothetischen Wechselgefüges von Körper und Geist war damit besiegelt. Der Cartesianismus hatte die Weichen gestellt, als er mit res extensa sowohl die Außenwelt als auch den Körper bezeichnete. Placelessness - als Verlust der Fähigkeit, sinnvolle Orte zu bauen und zu bewohnen - ist damit Teil eines Syndroms neuzeitlichen Befindens, das schon das Thema der Autoren der Dialektik der Aufklärung war. 104

106 107

So z. B. Seamon, A Geography of the Life-world, Relph, "Geographical Experiences", und Mugerauer, a.a.O. Bloomer, Moore, a.a.O., S. 15-22; Giedion, a.a.O. Owen Barfield, Saving the Appearances, London 1957, S. 53 ff. Vgl. Hartmut Schröter, „Technik als Raumüberwindung", in Technik als Weltverhältnis, hg. Ev. Studentenwerk, Villigst 1982, S. 108-121.

27

Wenn dieser Verlust auch auf übergreifende Ursachen verweist, die hier nicht weiter erörtert werden können, so zeigt er sich doch konkret immer wieder neu und anders in wechselnden historischen und geographischen Kontexten. N u r deshalb hat es Sinn, über placelessness und place in der britischen Lyrik nachzudenken. Erstens konkretisiert Literatur jeweils, was als allgemeiner geistig-körperlicher und sozialer Zustand begrifflich nicht mehr oder noch nicht faßbar ist; zweitens reagieren die Autoren je nach nationaler und individueller Eigenart verschieden und gewinnen somit der Analyse des Phänomens neue Seiten hinzu, die bei einer Uberwindung, sollte sie je möglich sein, bedeutsam werden können. So wird die Diskussion um den Heimatbegriff im deutschen Sprachbereich immer wieder eingeholt von der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Mißbrauch des Wortes. Die Tatsache, daß es im Englischen keine adäquate Ubersetzung für „Heimat" gibt, ermöglicht wiederum, über Orte, Landschaften und Plätze anders nachzudenken als in Kategorien, die jeweils national vermittelt sind. Woran erkennt man nun placelessness? Aus der Summe der Kriterien, die Umweltforschung und Phänomenologie erstellt haben, seien besonders die folgenden hervorgehoben: 1. Polarisierung. Die Balance zu einer sinnvollen Ortserfahrung und gleichzeitiger Mobilität 108 ist dort aufgehoben, w o es auf der einen Seite zu einer extremen Betonung der Bodenständigkeit kommt; auf der andern aber zu einer Weitläufigkeit, die keine geistige oder psychophysische Zentrierung mehr kennt. Waldenfels spricht vom Regreß auf die „vorpolitische Sphäre des Oikos" und Progreß in eine „Dezentrierung": Das Hier verflüchtigt sich in ein Uberall und Nirgends, mit einem abstrakten Superzentrum im Hintergrund. 109 Wo die Ortsbeziehung in Bodenständigkeit erstarrt und durch fehlende Verbindung mit den größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen das Bewußtsein der Eigenheit verliert, da ist es auch nichts mehr mit einem sense ofplace-, denn dieser setzt historisch erst einmal Mobilität voraus. Gleichzeitig folgt extreme Weitläufigkeit den Nivellierungstendenzen, die Partikularität zerstören. 2. Sinnesentzug. Placelessness, als Erfahrungsschwund, bedeutet weiterhin eine Einebnung der sinneshaften Entfaltung des Menschen. Zwischen Umwelt und Subjekt ist es zur Aufkündigung des sinnlichen Wechselbezugs gekommen. Den Sinnen bietet sich in einer architektonisch und planerisch eingeebneten Umwelt keine Möglichkeit mehr einzugreifen, sich anregen zu lassen oder die Umwelt sinnesphysiologisch ,mitzuerschaffen'. Uberreizung der 108

Yi-Fu Tuan, "Rootedness versus Sense of Place", Landscape 24, i (1980), S. 3-8. Waidenfels, a.a.O., S. 205 ff.

28

Sinne durch Informationsflut und Unterforderung durch mangelnde Kontraste und fehlende Greifbarkeit führen zu ähnlichen Resultaten: einer Sinneseinschläferung, die letztlich Sinnleere zur Folge hat.110 Mit Lynch läßt sich sagen: The basic test of a good sensory world is how effectively it supports the functioning of our bodies. The prime requirement is that people be able to use their senses: to smell, see, feel and hear well. 111

3. Zentralisierung. Dieser Begriff gilt sowohl im Sinne politischer Zentralgewalt, der es um die Kontrollierbarkeit und Verwaltbarkeit von Räumen und Bevölkerung geht, als auch im Sinne einer Marginalisierung des Körpers zugunsten der zentralen Herrschaft instrumenteller Vernunft. Durch Zentralisierung werden tendenziell Unterschiede zwischen Nähe und Ferne, Heimat und Aufenthaltsort, Ruhe und Bewegung aufgehoben und amalgamiert. Die zentrale Organisation von Raum verfolgt eine Homogenisierung der Landschaft zur Steigerung der eigenen Leistungsquote. Wenn Fast-food-Ketten weltweit mit den gleichen Symbolen und Bauzeichen arbeiten, so drückt das die Niederlage des konkreten Ortes, seine vollkommene Austauschbarkeit anschaulich aus. Die gelegentlichen Anbiederungen an architektonische Ideolekte sind nur die triumphale Bestätigung dieser zentral gesteuerten Prozesse. 4. Funktionalität. Damit hängt die extreme Definition von Räumen und Orten durch ihre Ausrichtung auf Funktionen zusammen - eine Tendenz, durch die Raum optimal nutzbar im Sinne von Handlungsräumen wird, durch die er aber auch jeden Anmutungs- oder Stimmungscharakter verliert. Da Menschen sich nicht durch Funktionen allein erfassen lassen, entsteht hier eine neue Diskrepanz zur Lebenswelt. Jacques Ellul nennt diese Vorherrschaft des Funktionalen technique und sieht darin einen Wesenszug der Moderne. 112 5. Verlust der Zeitdimension. Der Stimmungsraum und andere weniger pragmatische Raumformen aber unterliegen weit mehr den Einflüssen des Zeitlichen als der funktional bestimmte Raum. Funktion entprivilegiert zeitliche Momente, insofern sie außerhalb des jeweiligen Aktionsradius liegen. Wie Luhmann gezeigt hat, entwertet die Ausrichtung auf Funktionen in der Neuzeit alte Hierarchien; dazu gehören auch die des privilegierten Zeitmoments.113 Das Auslöschen von Vergangenem in Räumen und Landschaften 110

111 112

"3

Bloomer, Moore a.a.O., S. 37 ff; Hugo Kükelhaus, Organismus und Technik, Ölten 1971, passim. Lynch, Managing the Sense of a Region, S. 14. Nach Relph, Place and Placelessness, S. 81 ff. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/M. 1984, S. 109.

29

sei es durch übermäßige Hygiene, Wegwerfbestecke oder ,zeitloses' funktionales Bauen, sei es durch extreme Restaurationswut - ist integraler Bestandteil des ortlosen Orts. Wenn „signifikante Orte" 1 ' 4 oder "valued environment"11' auf Erinnerung und Kontinuität angewiesen sind, so bricht Ortlosigkeit jede Verbindung mit Früherem ab und verkapselt das individuelle Erleben in einem zusammenhanglosen ewigen Jetzt. Wo die Reklame den Tod verdrängt - man denke an Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame" - , da verdrängt der ortlose Ort jeden Gedanken an Werden und Ende. 6. Inauthentizität. Diese Tendenz führt zur Entstehung von „unechten Orten" oder inauthenticity. Relph gibt die verschiedenen Formen von inauthenticity an: Ubermäßig effiziente Gebietsausnutzung, wo es nur noch um die Effizienz selber geht, hat diesen Charakter, aber insbesondere sind solche Orte davon geprägt, die sich musealisieren und falsche, d. h. unlebendig erstarrte Vergangenheit konservieren. Die Ausbeutung des HeimwehHeimat-Themas gehört ebenso dazu wie die touristische Landschaft insgesamt. Der Tourismus erzeugt Kitsch, ein weiteres Charakteristikum, und Orte haben nur noch Sinn in Bezug auf die Industrie, die sie zwecks Profit zur Schau stellt."6 Mit den vielen Vergnügungsparks, von Disneyland in Florida, Kalifornien und Tokyo bis hin zu den historischen Nachbildungen von Plymouth Plantation oder Old Sturbridge in Massachusetts, nimmt die Musealisierung von Zeit eine neue Dimension an. Der inauthentischen Welt des Wohnens, die durch Massenproduktion gemacht wird, entspricht eine industrielle Phantastik, die die Freizeitwelten prägt. Wenn beide Symptome einer standardisierten Welt sind, so ist es auch die Suche nach der Echtheit selbst, wie Adorno im Jargon der Eigentlichkeit zeigt und der Anthropologe Dovey in einem scharfsinnigen Aufsatz bestätigt. Nach Dovey sind die Versuche, Echtheit wiederherzustellen, dazu verurteilt, selbst wieder das Unauthentische zu reproduzieren."7 Aus diesen Kriterien lassen sich Funktionen für die Literatur finden, die sich mit dem Phänomen placelessness auseinandersetzen. Zunächst muß jedoch die Frage gestellt werden, in welcher Form die Lyrik mit den Phänomenen Raum und Ort überhaupt umgehen kann. Letztlich verweist dies auf die Frage, wie Sprache und Umwelt einander bedingen, und in welcher Weise die Sprache der Lyrik Umwelt reflektiert und Umwelt,erzeugt'.

" 4 Waidenfels, a.a.O., S. 209. Burgess, Gold, a.a.O., S. 1 - 9 . 116 Relph, Place and Placelessness, S. 79 ff. 117 Kimberly Dovey, "The quest for authenticity and the replication of environmental meaning", in Seamon, Mugerauer, Hgg., Dwelling, S. 33-49.



j. Lyrik und Raum. Gattungstheoretische Fragen Wenn Mecklenburg schreibt, daß für die Untersuchung von literarischem Regionalismus die Epik das fruchtbarste Feld darstelle," 8 so muß gefragt werden: Was läßt sich dann an der modernen Lyrik als regionalistisch ausmachen; wie wird dieses Element in ihr dargestellt unter den spezifischen Bedingungen der Sprache der Lyrik, und mit welchen Fragestellungen wird man Ergebnisse erwarten können? Dazu muß zunächst die Gattungsfrage bezogen werden auf einige grundsätzliche phänomenologische Erläuterungen. Für die erzählende Literatur wie für alle sprachlichen Kunstwerke gilt zunächst die Feststellung Mecklenburgs: Regionalität in einem literarischen Text, also seine ländlich-provinzielle Bestimmtheit, kann niemals als unmittelbares Abbild einer Region oder von Provinz genommen werden, sie ist vielmehr als Spezifikation poetischer Räumlichkeit zunächst immer ein Strukturmoment des Textes und hat als solches an den Funktionen teil, die dem Raum im komplexen Zeichengefüge eines Kunstwerks zukommen. 1 1 '

Aber innerhalb des Spektrums der Gattungen gilt, daß die Lyrik sich am weitesten von einer Abbildbeziehung zur Realität entfernt. Mit dem Rückgang narrativer Dichtung im 20. Jahrhundert hat sich diese gattungsspezifische Eigenschaft nur noch verschärft. Mehr also als erzählerische Werke ist in der Lyrik Räumlichkeit ein strukturelles Moment im Zeichengefüge. Die absolute Dichtung eines Mallarmé beispielweise hat Mimesis völlig aufgekündigt und die Welt als einen Reflex von Sprache gedeutet: "Tout ce qui existe au monde aboutit à un livre. " Der Symbolismus Baudelaires, Verlaines oder Yeats' formulierte das poetologische Programm einer Annäherung der lyrischen Sprache an die Musik als nicht-mimetische Kunst par excellence. 120 Der Modernismus der Imagisten, die Strategien Pounds, Eliots oder Wallace Stevens' sind Teil dieser Tradition; Bildlichkeit fungiert hier nur noch als blitzhaftes epiphanisches Ereignis, das sich in ähnlicher Form auch bei Virginia Woolf oder James Joyce findet. Emil Staiger hält die Charakteristika einer solchen Sprache in seiner Poetik fest: „Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung", wobei die „Gefahr des Zerfließens gebannt [ist] durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer Art", und „Verzicht auf grammatischen, logischen oder anschaulichen Zusammenhang". 121 Sigurd Burckhardt spitzt derartige Aussagen zu: " 8 Mecklenburg, a.a.O., S. 11. "» Ebd., S. 31. Iio Vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik-, Reinbek 1966, S. 61 ff. 121 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1951, S. $ 1.

31

I p r o p o s e that the nature and p r i m a r y function of the m o s t important poetic devices - especially rhyme, meter and metaphor - is t o release w o r d s in s o m e measure f r o m their b o n d a g e to meaning, their purely referential role, and to give or restore to them the corporeality which a true m e d i u m needs.' 2 2

So sehr beide Definitionsversuche selbst unter dem Bann der Romantik und des Symbolismus stehen und deren Postulate zu Gattungstheorien überdehnen, so treffen sie doch bestimmte Grundzüge von Lyrik, die sich so nicht in den anderen Gattungen finden lassen. Wie der letzte Nebensatz Burckhardts jedoch andeutet, hat auch Dichtung ein Verhältnis zur physischen Realität, das allerdings abweicht vom Modus narrativer Mimesis. Wenn Mecklenburg sagt: „Selbst ,hermetische' oder ,absolute' Poesie bleibt zumindest rudimentär an die Darstellungsfunktion gebunden",123 so ist dies zu ergänzen dadurch, daß die expressiven, auf Autonomie des Textes drängenden Funktionen der lyrischen Sprache zu einer neuen Form der Wirklichkeitsdarstellung gelangen, indem sie selbst Wirklichkeit zu sein beanspruchen. Somit wird sich in jedem lyrischen Sprachwerk ein Widerspruch entdecken lassen zwischen rudimentärer Abbildlichkeit, wie sie die referentielle Funktion der Sprache mit sich bringt, und einer sprachlichen Eigenwelt, die die Welt nachahmt, indem sie gleich dieser einer Eigengesetzlichkeit folgt. Die Welt des Gedichts ist daher kein Spiegel, sondern eine Gegenwelt, in der die Abweichung von Sprachnormen um so wichtiger wird, je unbedeutender die alte Mimesis wird. In der Lyrik lassen sich immer wieder nicht-abbildende, sondern vielmehr gestische Zeichen entdecken. R. P. Blackmur hat in seinem wegweisenden Aufsatz "Language as Gesture" gerade diese Komponente der dichterischen Sprache hervorgehoben.124 Musik und Tanz, als rhythmische Körpergestik, sind als analoge Künste zur Lyrik gesehen worden, denn in all diesen Formen kommt es zu einer vom Körper her agierenden Sprache.125 Was Roman Jakobson als „Parallelismus" bezeichnete - Metrum, Rhythmus, Reim, Wortwiederholung - folgt musikalischen Formen und einer Rhythmik, die letztlich einem metrischen Vermögen des menschlichen Lebens entspricht. Die lyrischen Formen - dies gilt auch in bedingtem Maß für den freien Vers - verdanken sich somit einer leiblichen Orientierung. Peter Viereck hat die Metrik mit den biologisch-zyklischen Mustern des menschlichen Organismus erklärt. 126 122 123 124 125 126

Sigurd Burckhardt, "The Poe: as Fool and Priest", ELH 23 (Dec. 1956), S. 280. Mecklenburg, a.a.O., S. 21. R. P. Blackmur, "Language as Gesture", in Language as Gesture, New York 1952, S. 3-24. Vgl. John Vernon, Poetry and the Body, Urbana, 111. 1979, S. 11-21, 53-61. Peter Viereck, "Form in Poetry: Would Jacob Wrestle with a Flabby Angel?", in Archer in

32

Ähnliches läßt sich für das andere Charakteristikum lyrischer Sprache sagen, für die bildlichen und metaphorischen Elemente. Nach neueren Untersuchungen zur Metaphorik entstammt die Wirkungsfähigkeit metaphorischbildlichen Sprechens einer Verwurzelung in körperlichen Abläufen.127 Metapher ist damit geradezu eine mental gewordene körperliche Geste - eine Vermutung, die auch von Psychologen wie Seymour Fisher in seinen Untersuchungen zu Leibesphantasien gestützt wird.128 Owen Barfield hatte ähnliche Thesen in den zwanziger Jahren aufgestellt. Im Gefolge romantischer Theorien vom Ursprung der Sprache in der Poesie verweist er auf den partizipatorischen Charakter der Metapher, die damit einen Urzusammenhang zwischen Mensch und Kosmos, Geist und Materie in der Dichtung aufrechterhält oder reaktiviert: . . . it is the language of poets, in so far as they create true metaphors, which must restore this unity conceptually, after it has been lost f r o m perception. [ . . . ] Metaphor [ . . . ] expresses and may communicate participant knowledge. 1 2 '

Betrachtet man ein weiteres Charakteristikum von Lyrik, nämlich die generelle Kürze von Gedichten, so läßt sich darin der Ansatz zu einer größeren Raum- statt Zeitbezogenheit finden. Wenn Joseph Frank feststellt: "Joyce cannot be read - he can only be reread",'30 so gilt dies nicht nur für die moderne Prosa mit ihrer semantischen Vielschichtigkeit, sondern verstärkt für Lyrik. Der tendenziell geringe Umfang des modernen Gedichts - es gibt berühmte Ausnahmen wie T. S. Eliots The Waste Land, Pounds Cantos, Jones' The Anathemata oder William Carlos Williams' Paterson - verkürzt die Zeitdimension des Lesevorgangs und macht den Text vor allem durch mehrmaliges Lesen zu einem fast räumlichen Gebilde. Aufgrund der temporalen Folgen von sprachlichen Einheiten kann es jedoch nur bei einer Annäherung an den Raum bleiben. Durch ein komplexes Verweis- und Wiederholsystem ist aber das Gedicht in der Lage, vom linearen Zeitfluß auf ein räumliches Neben- oder Untereinander hinzuwirken. Murray Krieger spricht daher von der Ekphrasis des Gedichts - als Nachahmung von Skulptur in der Literatur - und sieht darin die Suche nach dem Moment des Erstarrens, das oft auch

117

128

1,0

the Marrow, New York 1987, S. 213-240, und Denys Thompson, The Uses of Poetry, Cambridge 1978, S. 1-8. Vgl. Mark Johnson, The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago 1987; George Lakoff, Mark Turner, More Than Cool Reason: A Field Guide to Poetic Metaphor, Chicago 1989, S. 84 und passim. Seymour Fisher, Body Experience in Fantasy and Behavior, New York 1970; vgl. auch V f . , „Das entleibte Wort. Fragmente über Sprache, Körper und Dichtung", Delta 10 (1991), S. 85-89. Owen Barfield, Poetic Diction. A Study in Meaning, Middletown, Ct. 1973, S. 87, 37. Frank, a.a.O., S. 19; Curtis, a.a.O., S. 175.

33

Ausdruck in einem ekphrastischen Symbol finde (z. B. im Vogel von Yeats' „Sailing to Byzantium" oder in der Urne von Keats' „Ode on a Grecian Urn"). Krieger faßt zusammen: The poem can uniquely order spatial stasis within its temporal dynamics because through its echoes and its texture it can produce together with the illusion of progressive movement - the illusion of an organized simultaneity.'31

Die Kürze und verstärkte Räumlichkeit des Gedichts führen zu einer größeren Belastung des einzelnen Wortes, die wiederum durch das Fehlen eines semantisch determinierenden Kontextes Vieldeutigkeit und Ambivalenz zur Folge hat. So wenig das ekphrastische Objekt ein (logisches) Urteil sein kann, so wenig und so selten kommt es auch zu logischen Schlüssen im Gedicht. Der Verzicht auf die Konsistenz einer diskursiven Sprache bringt daher eine weitere Verringerung von Abbildfunktionen mit sich, die im allgemeinen in syntaktischen Formen sich zeigen können; zumindest entsteht seltener ein Nachvollzug von syntaktisch abbildbaren Prozessen der Außenwelt. Oft bleibt unklar, welches Subjekt welchem Objekt etwas antut. Gegenüber dem Syntaktischen überwiegt ein deiktisches Element, dessen Zeigefunktion zu einer akzentuierten Sicht von Wirklichkeit führt, wobei das, was zwischen den Elementen vorgeht, vom Leser als „Leerstelle" behandelt werden muß.132 Zeigen folgt als Akt nicht den Gesetzen mimetischer Wiedergabe, sondern dient vielmehr der Herstellung eines Verhältnisses von Beobachter und Welt; es ist daher ein sinnesbezogener Akt. Der Text kann auf Umwelt und Innenwelt zeigen, er kann aber auch sich selbst zeigen, z. B. in Form einer musikalisch angelegten Wortfolge. Immer sind verschiedene Sinne angesprochen, nicht nur der visuelle. Ihre jeweiligen Horizonte und Reizwelten werden durch Zeichen evoziert, die innerlich gewendete Wirkungsketten auslösen. Diese Zeichen entstammen nur bedingt der Außenwelt; sie sind selbst auch mentaler Natur, und daher ist die evozierte Welt von solcher Art, daß Physisches in ein Unkörperliches und - durch Ambiguität - in ein Unstabiles verwandelt wird. Mit Staiger läßt sich sagen: Es gibt für den Lyriker keine Substanz, nur Akzidenzien, nichts Dauerndes, nur Vergängliches [...] Eine Landschaft hat Farben und Lichter und Düfte, aber keinen Boden, keine Erde als Fundament. Wenn wir deshalb in der lyrischen Dichtung von Bildern sprechen, so dürfen wir niemals an Gedichte, sondern höchstens an Traumbilder denken, die auftauchen und wieder zerrinnen [.. .].'33

1,1

Murray Krieger, The Play and Place of Criticism, Baltimore 1967, S. 125. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, S. 175 ff. " " Staiger, a.a.O., S. 44-45. 132

34

Für Staiger steht daher die Erinnerung mit ihrem vielfältig formbaren Material über der Gattung Lyrik. Es versteht sich, daß diese Skizze der Gattungseigenschaften höchst unvollständig ist und im übrigen durch viele Ausnahmen in Frage gestellt werden kann. Im vorliegenden Zusammenhang genügt dies jedoch, da nur gezeigt werden muß, in welcher Weise Lyrik auf Raum und Ort Bezug nehmen kann. Verallgemeinernd sei die These aufgestellt: Das Gedicht bildet Raum nicht ab, sondern es erschafft ihn vielmehr selbst - und nur in dieser Hinsicht ist es auch mimetisch, indem dieselben Kräfte in ihm wirksam werden wie dort, wo in der realen Umwelt Orte, Lokalitäten und bewohnte Landschaft entstehen. Alle angeführten Charakteristika lassen sich nämlich auf die Beschreibung von Orten anwenden; zumindest gibt es eine Basis, einen common ground, der zuläßt, daß Umweltwissenschaftler mit der Metapher vom Ort als sprachlichem Zeichenwerk arbeiten. Mit anderen Worten: Lyrik (wie Literatur allgemein) ist nicht nur Reflex von Umwelt, sie ist selbst Umwelt; so wie die bildenden Künste Umwelt erzeugen, so ist das sprachliche Zeichen eine Quelle von Umweltreizen, die auf verschiedenste Weisen wirken können. Das gilt nicht nur in dem oben skizzierten Sinn, daß das Gedicht als sprachliche Gestalt in einem Buch selber Raum erzeugt. Es nimmt auch Bezug auf Prozesse in der Umwelt, indem es sie in sich nachvollzieht. Dies mag deutlicher werden, wenn man die Relation umkehrt. Was geschieht, wenn ein Ort mit dem Maßstab des Gedichts analysiert wird? Bloomer und Moore haben anschauliche Beispiele dafür gegeben. So sprechen sie von der Choreographie, die die architektonische Form mitteilt: Choreography, we believe, is a more useful term than composition, because of its much clearer implication of the human body and the body's inhabitation and experience of place. 134

In gleicher Weise lassen sich Gedichte - weniger die Prosa - als Choreographien für die Stimme oder auch für Bildfolgen lesen. Wenn es zutrifft, daß Dichtung vom Körper ,bewohnt' wird, d.h. körperliche Einbindungen und Rückbezüge aufweist wie Metapher und Rhythmus, so sind diese als Elemente einer solchen Choreographie anzusehen. Weiterhin ist in der Umweltforschung die Rede von der ,Lesbarkeit' von Orten. Lynch schreibt: Finally, at the largest scale, one may ask if the major elements of a region are clearly legible to most people: the main centers, routes, districts, and landmarks that structure the füll extent of the area.135

134 135

Bloomer, Moore, a.a.O., S. 107. Lynch, Managing the Sense of a Region, S. 27.

35

Übersichtlichkeit, sinnliche Erfaßbarkeit und der Bezug auf ein menschliches Maß scheinen für eine solche Lesbarkeit entscheidend zu sein. Alle weiteren Strukturen, auf der Makro- wie auf der Mikroebene, können dann nur noch mit Hilfe von Spezialinstrumenten (Statistiken z. B.) oder Spezialisten gelesen werden. Bewohnen und Wahrnehmen eines Ortes können aber nur dann befriedigen, wenn sie lebensweltlich vollziehbar sind. Auch Bloomer und Moore reden vom Lesen der Orte und halten befriedigende ,Lektüre' nur dort für möglich, wo Ambiguität ins Spiel kommt, d. h. eine Vielfalt von Interpretationen offengehalten wird: The real places on the earth [...] are susceptible to continuous readings, which is to say many readings, which is almost certainly to say complex and ambiguous ones.136

Changeability stellt dabei ein weiteres Kriterium dar; wie das Gedicht muß der Ort memorability aufweisen - er muß durch die verschiedensten Techniken und Signale dem Gedächtnis dazu verhelfen, ihm eine erinnerbare Identität zu verschaffen. Weitere Gemeinsamkeiten zwischen dichterischem Text und bewohnbarem Ort heben Bloomer und Moore hervor. Der Kürze des Textes entspricht die Übersichtlichkeit des Ortes, welche Ambiguität und Komplexität, Polysemie also, nicht ausschließt. Über Stonington Village in Connecticut heißt es: It is particularly satisfying both to the visitor and the resident that the town can be walked in twenty or thirty minutes and yet, because of the complex and changing vistas of the sea and shoreline, it can never be fully known.' 37

Bei der Beschreibung von Kresge College, Santa Cruz, Kalifornien, verwenden die Autoren Vokabeln aus der literarischen Formensprache, insbesondere der Lyrik.,Metaphern' und imagery sind in Wänden und Galerien verankert als Verweiselemente, die Korrespondenzen erzeugen. Bauformen bilden die Möglichkeit der Erstellung von make believe und fantasy. Die Anordnungen von Fensterfolgen sind rhythmischer Natur und erinnern in ihren alphabetischen Bezeichnungen an Reimschemata.138 Als Ideal einer ortsgebundenen Choreographie fordern die Autoren ein Ineinander von Vertrautem und Überraschendem, wie es auch im sprachlichen Kunstwerk notwendig ist, um das Leserinteresse zu wecken und Verstehbarkeit zu gewährleisten. Dieser Rückgriff auf literarische Formvokabeln bringt eine hermeneutische Haltung ins Spiel, die der Umwelt wie Texten gegenüber einzunehmen ist, soll deren Sinn verstanden werden. Die phänomenologische Umweltfor1,6 1)7 138

Bloomer, Moore, a.a.O., S. 107. Ebd., S. 112. Ebd., S. 116, 119.

36

schung, die sich in den letzten Jahren auch der sprachlichen Repräsentation von Umwelt zugewendet hat, konnte zeigen, wie sehr Interpretation das Bild von Orten prägt. So gelangt eine Studie über Diskrepanz von Umweltwahrnehmung und ihrer sprachlichen Erfassung zu folgendem Schluß: ... while language at times reinforces environmental experiences, at other times the two are opposed. The differences help to show how and explain why the way we think we see the world is in many respects not the way we actually see it.'39 Die Studie unterstützt auch Bloomer und Moores Forderung nach einer vieldeutigen Umwelt: "People often prefer environments whose character they disagree about".' 40 Dichtung als von der Norm des Alltags abweichende Sprache kann neue hermeneutische Horizonte im Umweltverstehen eröffnen, wenn man bedenkt, daß es, wie Lowenthal und Riel betonen, gewöhnlich nicht zu einer adäquaten Erfassung der eigenen Wahrnehmungen kommt. Wo dichterische Sprache das Klischee aufbricht und Wahrnehmung verfremdet, da könnte aus dem plötzlich unvertraut Gewordenen neues Verständnis entspringen: "Preconceptions based on names and stereotypes govern many responses to environment".141 Wieweit Sprache als immer schon gegebener Teil der Umwelt diese beeinflußt, zeigt auch die von Heidegger inspirierte philosophische Perspektive von Robert Mugerauer. Seine Umwelthermeneutik geht von der gleichzeitigen Gegebenheit von Sprache und Umwelt aus, von einem gegenseitigen Verweisungsgefüge, das nur sehr schwer zu befragen ist. So konnten die amerikanischen Pioniere des Südwestens die fremdartige Umwelt nur in der ihnen zur Verfügung stehenden Sprache und tradierten Interpretation erschließen, wodurch eine Diskrepanz zur Umwelt entstand, die sich in einzelnen Wörtern mit teilweise katastrophalen Konsequenzen niederschlug.'42 Dichtung kann in diesem Zusammenhang die Funktion gewinnen, zu einer adäquateren Erfassung von Umwelt beizutragen.143 Für seine environmental hermeneutics fordert Mugerauer "reflective listening to the saying of the environment, where we work out the meaning as carefully as we would for a great poem or novel".' 44

140 1,1 142

143 144

David Lowenthal, Marquita Riel, Environmental Structures: Semantic and Experiential Components, New York 1972, S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Mugerauer bringt das Beispiel "arroyo", s. "Language and the Emergence of the Environment", in Seamon, Mugerauer, Hgg., Dwelling, a.a.O., S. 51-69, hier 57. Ebd., S. 61. Ebd., S. 67. 37

j.i Placemaking: Lyrik als Erzeugung von bewohnbarem Ort Mugerauers Untersuchungen zur Hermeneutik von Orten führt zu der kenntnis, daß die Diskrepanz zwischen Sprache und Wahrnehmung einen Verlust zurückzuführen ist, der oben als Wirklichkeitsschwund zeichnet wurde. Ihm könnte ein placemaking in der sprachlichen wie in materiellen Umwelt entgegenwirken:

Erauf beder

The loss of such at-homeness happens all over the world today. When indigenous people are displaced or relocated, their language no longer brings forth their traditional environment, except in memory, dream, or legend; nor do these people have a new language in which a new environment can emerge, with the result that they become speechless and homeless.145

Auf diesen Verlust von Wahrnehmung und damit Wirklichkeit reagieren Umweltplaner und Psychologen ebenso wie Lyriker. Betrachtet man die Funktionen von Lyrik im Hinblick auf diese negativen Lebensbedingungen, so läßt sich fragen, wieweit Lyrik dazu beiträgt, lokale Umwelten zu diagnostizieren und gegebenenfalls neue Umwelten mitzuerzeugen durch adäquate Sprache. Wäre das möglich, so würde Dichtung daran teilhaben, was phänomenologisch orientierte Umweltforscher placemaking nennen.'46 Diese Tätigkeit reicht nach Relph von simple recognition for orientation, through the capacity to respond unpathetically to the identities of different places, to a profound association with places as cornerstones of human existence and individual identity.147

Die Lyrik kann mit ihren nicht-diskursiven Mitteln dazu beitragen, positivistische, außengelenkte Haltungen zu Orten in Frage zu stellen und eben recognition, orientation und association zu leisten, die für eine Erzeugung von sinnvollen Lebenswelten entscheidend sind. Man wird so die Dichter zu den Therapeuten' im ursprünglichen Sinne rechnen können: What then is the therapeia of cities? In the old sense of the word, the therapeutae of cities are the ones who 'care' for it with 'close attendance' - a category that includes theorists, guides, and place-lovers.148

Der entscheidende Begriff, der placemaking charakterisiert, ist authenticity.1*9 Seine Hochschätzung selber in der Gegenwart ist jedoch, wie zuvor ,4! I4
Ebd., S. 371. i4 Ebd., S. 360. 61 Kroeber, a.a.O., S. 134.

56

Häufige Wiederholungen ("is here; 'tis here,/ Here [...] here only", ij6f., 159) und der Topos der Unsäglichkeit (" 'Tis (but I cannot name it), 'tis the sense/ Of majesty and beauty and repose ...", 161 f.) belegen die Anstrengungen, sprachlich die Raumerfahrung zu fassen. Für die Bestimmung des Raumes, der all dies ermöglicht, greift der Dichter auf die Sphäre des Sakralen zurück, das sich z. B. in der Betonung des Zentrums artikuliert. Mittelpunkt und Peripherie fallen zusammen, so wie es die Theologie für die Bestimmung des göttlichen Wesens definiert hat. Zugleich ist die Behauptung vollständiger Autonomie notwendig zur Erhaltung der stasis: A blended holiness of earth and sky, Something that makes this individual Spot, This small abiding-place of many men, A termination and a last retreat, A Centre, come from wheresoe'er you will, A Whole without dependence or defect, Made for itself and happy in itself, Perfect Contentment, Unity entire. (163 -70)

Immer wieder werden das Schützende und Bergende, auch Nesthafte dieses sakralen Zentrums und Ortes der Einheit und Liebe hervorgehoben (19 ff.). Dabei kommt Wordsworth nicht ganz an der Tradition des allegorisierten genius loci vorbei.66 Denn das Tal wird zur Person stilisiert, die aus psychoanalytischer Sicht sicherlich die Mutter darstellt:67 It loves us now, this Vale so beautiful Begins to love us! [...] (268 f.)

Die große Spannung, die das Gedicht herzustellen sucht, liegt zwischen den Polen der Beziehung zu einer konkreten Umwelt und eines hypostasierten genius loci, der Transzendenz und Ewigkeit verkörpert. Um zum Erhabenen vorzudringen, es in der Fülle seiner Gegenwart zu erhalten, sind ständige Sublimierungen vonnöten, deren Objekt sich dem Leser antithetisch wieder aufdrängt: "His recurrent image of peacefully embowered existence disturbs the reader with the sense of the darker realities so firmly shut out."68 Der heile und geheiligte Raum, den Wordsworth in Home at Grasmere erschafft, ist Resultat einer Anstrengung und zugleich utopisches Bild, das 66

67

i!

Ein Aspekt, den Hartman unterschätzt, wenn er von "Wordsworthian Enlightenment" in Home at Grasmere spricht und behauptet: "There are no ghosts, no giant forms, no genii in the mature Wordsworth." Hartman, a.a.O., S. Vgl. dazu Hartman, "'A Touching Compulsion': Wordsworth and the Problem of Literary Representation", Georgia Review 31 (1977), S. 345-61. Lore Metzger, Modes of Pastoral in Romantic Poetry, Chapel Hill 1986, S. 96.

57

andere Einstellungen zur Natur nötig macht, als er sie in seiner Zeit vorfand. Kroeber hat in einem aufschlußreichen Essay auf die Aktualität von Wordsworths Natur- und Raumverständnis hingewiesen, das erst einer umweltgeschädigten Generation vertraut geworden ist: Wordsworth [...] foreshadows late twentieth-century conservation. He argues that man's humanity is completely realized only within nature's 'inhumanity'. He praises unspectacular places and usually unfecund ones. 'Nature' to him is what we now call an ecological unity. 6 '

Es ist charakteristisch für den Romantiker, daß er sich am Ziel seiner Suche nach dem verlorenen Raum diesen als kindlichen Mikrokosmos vorstellt, und zwar kraft desjenigen Mediums, das dem Kind nur ungenügend zur Verfügung steht, der Sprache nämlich. Die Beschreibung des Tales als mütterlich schützenden Raums ist das eine Indiz, die Insistenz auf der Selbstgenügsamkeit des Mikrokosmos das andere. Die vorgestellte Autonomie verstärkt den Charakter einer spielartig konzentrierten Modellwelt: Wordsworth's relation to the valley [...] is very close to that by which a child fits himself to, and makes fit his 'demands', the microcosmic environment of a garden, a farm, or a 'country-place'. The child makes the limited environment into a self-sufficient, self-contained world, that is, a unity in which place and self are mutually defining. 70

Diese Kindlichkeit zeigt sich weiterhin im Ausleben einer "conscious regressiveness"/1 als Suche nach einem Vergnügen, das sich in die landschaftliche Gegebenheit einfügt, sie genießt und nicht die Harmonie zerstört, wie dies z. B. in dem Gedicht "Nutting" geschieht. Doch die Existenzmöglichkeit des idealen Ortes, wo die innere psychische Welt sich nahtlos an die Hülle des äußeren Raumes anfügt, ist beschränkt. Letztlich wäre die perfekte Harmonie das Ende aller sprachlichen Artikulation, würde doch das fehlende Spannungsgefälle zwischen Subjekt und Natur jeder Erfahrung und Selbsterfahrung ein Ende setzen. Daher rührt auch die Meinung von Kritikern, The Recluse sei nicht mehr zu schreiben gewesen/2 Einzig die Erkundung lokaler Geschichte und Schicksale erzeugt Differenzen, die als Kontrast zur perfekten Idylle fungieren und dem Dichter eine Rückkehr an diesen Ort der Kindheit ermöglichen, ohne daß er deshalb auf die Erkenntnisse des Erwachsenenalters verzichten müßte. 69 70 71 71

Kroeber, a.a.O., S. 132. Ebd., S. 137. Ebd., S. I 3 5 . So Kroeber: "I suggest that 'Home at Grasmere' is The Recluse. Wordsworth could never 'finish' The Recluse because he had already written it." Ebd., S. 133.

58

Dennoch bleibt die Frage offen, warum eine solche hymnische Evokation der Einheit von Ort und Mensch nötig ist. Einzig drohender Verlust kann den ausreichenden Druck sowie die Erinnerung an vorhergehende Formen von Verlust (vor allem wohl der Mutter) erzeugen. Zur psychischen Komponente gesellt sich die allgemeine: Grasmere konnte nur deshalb solch ein Jauchzen hervorrufen, weil es sich kontrastiv absetzt von Erfahrungen mit unharmonischen Schauplätzen. Als solche dürften in erste Linie städtische Umwelten wie London gelten, zu denen Wordsworth ein ambivalentes Verhältnis hatte, wie vor allem The Prelude, Book VII, nahelegt.73 Die dort gemachten Beobachtungen der Menschenmasse, Geschäftigkeit und Labyrinthhaftigkeit dringen auf Umwegen auch in Home in Grasmere wieder ein - als Horizont einer Bedrohung nämlich, die sich geschichtlich auf dem Vormarsch befindet und auch dem perfekten Raum von Grasmere bevorsteht. Der Schäfer, der die Vögel geschossen hat, hat eine schreckliche Stimme, die die Destruktivität ankündet: An organ for the sounds articulate Of ribaldry and blasphemy and wrath (425 f.)

Sie ist der Heiligkeit des Ortes und der "consummation" entgegengesetzt: "Debased and under prophanation" (424). An anderer Stelle ist die Rede von einem Sturm, vor dem das Tal die Bewohner schützt (455 ff.). Bezeichnenderweise hat John Ruskin Jahrzehnte später in den Sturmwolken das Emblem des 19. Jahrhunderts, seiner Weltverschmutzung und seiner apokalyptischen Potenz gesehen. Das sogenannte MS D von Home at Grasmere, das vermutlich 1831/32 entstand, wird expliziter, so als habe in der Zwischenzeit die geschichtliche Bedrohung des geschützten Territoriums zugenommen. Die wahre Einsamkeit sei in der Menschenmasse, schrieb Wordsworth schon 1806 (807 ff.), aber in der späteren Fassung fügt er hinzu, wie sehr der städtische Raum das Prinzip der Vereinzelung, Spaltung und Fragmentierung vorantreibe und daß er dort durch einen "black sky" (D 603 ) symbolisiert werde: He by the vast Metropolis immured, Where pity shrinks from unremitting calls, Where numbers overwhelm humanity, And neighbourhood serves rather to divide Than to unite [...] (D 597 -601)

Kontrastiv dazu wird der Raum des Tals entwickelt, der nicht Einsamkeit bedeutet, sondern traumhaftes Ganzes (D 574), Harmonie (D 575), Grenzen73

Vgl. dazu Raymond Williams, a.a.O., S. 184 ff.

59

losigkeit und Verschmelzung von Bild und Realität (D 576 f.), Liebe, Stille (D 586), kreatürliche Freude (D 581 ff.). Raum ist dort in alle Dimensionen hin entfaltet, auch ins Zeitliche, hat Zukunft ebenso wie Vergangenheit und kulminiert in der Gegenwart der Epiphanie, den "spots of time". Tiefe des Sees und Höhe des Himmels bilden eine große Vertikale (D 579, 581), während die Horizontale dem Tanz bestimmt ist: Hier tanzen die Lilien auf den Wellen (D 591) so wie die Narzissen in "I Wandered Lonely as a Cloud". Der städtische Raum dagegen ist das Ende aller Erfahrung: Die große Zahl korrespondiert mit einer Atomisierung, das Menschliche schrumpft und neigt zur Teilung. Die Anwesenheit der Gefahr, die Möglichkeit des Verlustes des natürlichen Zusammenhangs aller Wesen und ihrer Geborgenheit machen vielleicht aus Wordsworth einen frühen Entdecker, "the one 'nature' poet whose vision is truly ecological."74 Was er in seinem Reiseführer von den Bauten des Lake District fordert - daß sie sich in die Landschaft einfügen sollen - , vollzieht er dichterisch in der Sprache: "What Wordsworth imparts is the power language bestows on us consciously to reintegrate our lives into the affluence of natural existence."7' Der genius loci lebt in Wordsworth in säkularer, entmythologisierter Form weiter: Die Verschmelzung oder besser noch die Verschwisterung von Dichter und Natur, Genie und Schutzdämon ist jedoch prekärer geworden als je zuvor. Dies zeigt auch das Beispiel von Coleridges "The Rime of the Ancient Mariner", in dem letztlich ein "spirit of place" durch eine Schandtat verletzt wird/ 6 Die Strafe für den Ancient Mariner heißt Verbannung, Ruhelosigkeit, Exil. Das sind aber Erfahrungen, wie sie Wordsworth in der Stadt angesiedelt sieht und gegen die er den liebenden Umgang mit einer bergenden Landschaft hält und einen Raum entwirft, der der Entfaltung sämtlicher Möglichkeiten des Menschen entgegenkommt. Alles in allem hat Wordsworth mit seinem Werk die Weichen für den Umgang mit Regionalismus im Viktorianismus und bis weit in das 20. Jahrhundert gestellt. In Home at Grasmere zeichnet sich noch einmal die nur kurz durchgehaltene Möglichkeit eines authentischen Einheitserlebnisses ab. Dies kann jedoch nur in der Abgeschiedenheit stattfinden und wird mit der Abweichung von herrschenden gesellschaftlichen Entwicklungen erkauft. Auch in dieser Hinsicht hat Wordsworth für spätere, weniger authentische und ideologisch befrachtete Erfahrungen Pate ge74 75 76

Kroeber, a.a.O., S. 141. Ebd. Vgl. Geoffrey Hartman, "Romantic Poetry and the Genius Loci", S. 311 f.

60

standen. Weiterhin hat er Denk- und Sichtweisen in Gang gesetzt, die es auch späteren Autoren erlaubt haben, Möglichkeiten eines placemaking zu erkunden. Wie die Nachfolger das Verhältnis von authentischer Erfahrung und Ausblendung des Gegenprinzips zu bestimmen versuchen, soll im folgenden behandelt werden.

3. Viktorianische Ambivalenz: Idylle und Raumverlust Wordsworths Paradies in Grasmere ist möglicherweise der letzte Versuch gewesen, Innenwelt und Außenwelt zu einer Harmonie zu führen, die zumindest den Schein einer Autonomie gegenüber allen Widersprüchen des modernen Daseins bewahren konnte. Mit dieser Einschränkung gilt denn wohl, was Jeremy Hooker für die Zeit nach Wordsworth so beschrieb: "Poetry of place after Wordsworth cannot be understood, I believe, outside a context of loss."77 Während der Roman in der Blütezeit des Viktorianismus als neues Terrain die soziale und politische Wirklichkeit erkundet, gerät ein großer Teil der viktorianischen Lyrik zu einer Bilanz von Verlusten. Tennyson beschwört ein arthurisches und ländliches England in seinen Idylls of the King (1859), einem der populärsten Gedichtbände des 19. Jahrhunderts, und betrauert elegisch den Verlust des Freundes A. H. Hallam in In Memoriam, so wie Matthew Arnold den Tod seines Freundes A. H. Clough in "Thyrsis" beklagt. Swinburne beschwört Verfall und Vergänglichkeit in seinen Poems and Ballads (1866). Die Verlustbilanz, die auch die Kulturkritik von Arnold bis Ruskin und Carlyle bestimmt, ist kaum noch zu überbieten: Technik und Industrie haben die Menschen in ihrem Wesen getroffen, neue Ungerechtigkeiten im Sozialsystem herbeigeführt und die äußere Natur durch eine rapide Urbanisierung zerstört. Parallel dazu geht der Verlust von alten gewachsenen Sitten und des Glaubens, der durch die Natur- und Geisteswissenschaften unterhöhlt wird, wobei der Darwinismus die sichtbarste Form der Gefahr darstellt/8 Allgemein gilt für die viktorianische Lyrik, was Christian Enzensberger über Tennyson schreibt: Der romantische Schutz, also der innere Bezug der Person wenigstens noch zu einer sinnreichen Naturumgebung, der sie sich verwandt fühlt und die eine

v 78

Jeremy Hooker, The Poetry of Place, Manchester 1982, S. 181. Vgl. dazu u. a. William Irwine, Apes, Angels, and Victorians, New York 1955. Den Folgen des Glaubens verlustes widmet sich J. Hillis Miller, The Disappearance of God, Cambridge, Mass. 1963. 61

Widerspiegelung von Bewußtsein und Welt zumindest noch ahnungshaft erlaubt, beginnt in England zwischen 1820 und 1830 rasch zu schwinden [ . . . ] Die Person findet sich damit auf eine bisher unbekannte Weise der Vereinsamung, Sinnleere und Gottverlassenheit ausgesetzt; sie ist endgültig aus der früheren sozialen Verwobenheit ins punktuell freie Verhältnis zur Gesellschaft entlassen. 7 '

Der „romantische Schutz" betrifft nicht nur die Darstellung des Selbst, sondern auch die der Natur. Home at Grasmere als Verkörperung des fast autonomen Ich ist zugleich der geschützte Ort, der sich den heraufkommenden Umwälzungen noch entziehen kann, obgleich dieser Aufschubcharakter schon zwischen den Zeilen zu lesen ist. Mit der fortschreitenden Verstädterung des ländlichen Raumes und der Einebnung regionaler Unterschiede durch den Verkehr schwinden solche Orte, die Sicherheit und Eigenständigkeit des Subjekts verkörpern könnten. Die daraus in der Lyrik entstehende Spannung zwischen Verlusterfahrung und Nostalgie ist allenthalben spürbar, kaum aber so deutlich wie in einzelnen Gedichten Matthew Arnolds, die hier deshalb stellvertretend besprochen werden sollen. Obwohl der Dichter, Kritiker und Pädagoge Arnold (1822 -1888) einer der einflußreichsten Bewunderer und Leser Wordsworths war und die Leistung des Romantikers über alle anderen Lyriker seit Shakespeare und Milton stellte,80 so kann er doch als Lyriker das Vorbild nicht nachahmen. Arnolds Bewunderung für Wordsworth zielt vor allem auf Leistungen der Harmonie und des Ausgleichs, ähnlich wie Walter Pater die Einheit von Wort und Idee, Inhalt und Form in Wordsworths "poetic beauty" hervorhob.81 Die Harmonie von "truth of subject" und "truth of execution", die "poetic truth" bewirkt, ist nach Arnold geradezu ein Maßstab des Gelingens.82 Kritisch sieht er Wordsworth immer dort, wo dieser das Ganze und Universelle, "life", aus den Augen verliert und sich einer Spezialisierung hingibt, z. B. in seinen philosophischen Passagen.83 Arnolds Bewunderung zeigt schon an, wie unerreichbar das Ideal, das Wordsworth für seine Nachfolger repräsentierte, geworden war. Arnolds eigenes Werk ist von Trennungen, Teilungen, Abspaltungen, eben „Spezialisierungen" aller Art bestimmt, gegen die nur noch nostalgische Ausfälle gele-

79

Christian Enzensberger, Viktorianische Lyrik-, Tennyson und Swinburne in der Geschichte der Entfremdung, München 1969, S. 200 f. 8 ° Vgl. Arnold, "Wordsworth", Vorwort zu The Poems of Wordsworth, 1879, abgedr. in Essays in Criticism, London 1903, S. 9Ö*ff. 81 Vgl. David J. De Laura, "The 'Wordsworth' of Pater and Arnold: 'The Supreme, Artistic View of Life'", SEL 1500—1900, 6,iv (1966}, S. 651-667, hier 666. 81 Arnold, a.a.O., S. 116. 8) Ebd., S. 109 ff.

62

gentlich helfen. Der vorgestellten Einheit und Ganzheitlichkeit Wordsworths und Goethes steht bei Arnold der Antagonismus zwischen Mensch und Natur, Einzelnem und Gesellschaft sowie zwischen natürlicher Welt und dem Übernatürlichen entgegen: Arnold's world has split apart. Nature is separated from man, and is a collection of unrelated fragments juxtaposed without order or form. Each rock, bird, tree, or cloud is self-enclosed and separate from all the others. 84

Ein Gedicht wie "In Harmony with Nature" kann als deutliches Zeugnis für eine dieser Trennungen gelesen werden: Nature and man can never be fast friends. Fool, if thou canst not pass her, rest her slave! 8 '

Abtrennungen erzeugen spezielle Beziehungen, die nur noch fragmentarisch das Ganze reflektieren. Für Jeremy Hooker ist Arnolds Werk das erste Symptom einer Abschnürung des Speziellen vom Allgemeinen, die sich auch in einem Verlust der bei Wordsworth noch gegebenen "common humanity" äußere: It is no wonder that Arnold, lacking such assurance in himself, his poetic function and his world, should write of Wordsworth: 'The spots which recall him survive,/ For he lent a new life to these hills.' For as the poet's grasp on a common human world has loosened so he has sought to replace it with special relationships, with place in particular, and has come to stress the specialness of other poets, above all in their relation to place. This is both part of the movement by which the English poet has become a specialist talking to specialists, and an effort of one radically displaced within the national culture to place himself. 86

In diesem Sinne kann "The Youth of Nature", das Arnold bei einem Besuch im Lake District kurz nach Wordsworths Tod niederschrieb, als Abschied gedeutet werden nicht nur von Wordsworth, sondern von einer ganzen Epoche. Der späte Wordsworth diente Arnold dabei als willkommenes Sprachrohr für die eigene Kritik am neuen Zeitalter, dessen Philistertum und Barbarismus er in seinen kulturkritischen Schriften und in "The Youth of Nature" angriff:

84 85

86

J. Hillis Miller, a.a.O., S. 234. Seitenangaben nach Zitaten aus Arnolds Gedichten beziehen sich auf Kenneth Allott, Hg., The Poems of Matthew Arnold, London 1965, hier S. 54. Zur Natur in Arnolds Gedichten vgl. Joseph Warren Beach, The Concept of Nature in Nineteenth-Century English Poetry, New York 1966, S. 397-405. Hooker, a.a.O., S. 181.

63

H e grew old in an age he condemned. H e looked on the rushing decay O f the times which had sheltered his youth; Felt the dissolving throes O f a social order he loved; [•••]

Died in his enemies' day. (S. 246)

Wordsworths Welt erscheint entrückt in einer traumhaften Szenerie, die der Anfang von "The Youth of Nature" beschwört. Diese Entwirklichung des Konkret-Räumlichen und des realen Ortes, seine Aufhebung im Stimmungsraum der Nostalgie kennzeichnet Arnolds Reaktion auf die historischen Verluste, die das viktorianische Zeitalter bei all seiner wirtschaftlich-materiellen Expansion mit sich brachte. Gedichte wie "The Scholar Gipsy" oder "Thyrsis" bestätigen auf ihre Art, wie sehr Orte und Region an diesem Weltverlust teilhaben. Die Erinnerungen, die der Sprecher von "Thyrsis" mit dem verstorbenen Jugendfreund Clough verbinden, sind vornehmlich in der gemeinsam erfahrenen Landschaft um Oxford und in Berkshire aufzufinden. Das Aufrufen topographischer Orte und Gebiete wird so zu einer Litanei des Verlorengegangenen. Im Gegensatz zu Wordsworths "Lines Composed Above Tintern Abbey", mit dem "Thyrsis" das Strukturmoment der Rückkehr an einen geliebten Ort der Erinnerung teilt, kommt es bei Arnold nicht zu einem den Verlust ausgleichenden Rückgewinn von Sinn. Festgehalten wird die Veränderung als Verschwinden einer gemeinsamen Welt: H o w changed is here each spot man makes or fills! In the two Hinkseys nothing keeps the same; The village street its haunted mansion lacks, A n d from the sign is gone Sibylla's name [ . . . ] (S. 498)

Die Freundschaft mit Arthur Hugh Clough wird als Schäferidylle inmitten einer einst arkadischen Welt festgeschrieben; in die Gegenwart des Uberlebenden, der unter dem Stadtleben leidet - "the great town's harsh, heartwearying roar" - dringt nur noch flüsternd die Stimme des Freundes, der den Beweis des Fortlebens dieser Welt erbringt, indem er auf eine halb-reale, halb-literarische Figur verweist, den "scholar-gipsy": Dost thou ask proof? O u r tree yet crowns the hill, O u r Scholar travels yet the loved hill-side. (S. 508)

Realität wird so durch eine Verdoppelung des Imaginären suggeriert; dialektisch dazu verhält sich der Versuch, Realität dingfest zu machen, indem schlicht Besitz ergriffen wird von besonders geliebten und erinnerten Orten: 64

Who, if not I, for questing here hath power? [...] I know these slopes; who knows them if not I? (S. 503)

In dieser Betrachtungsweise, die das Subjekt von den anderen, der "common humanity", trennt, äußert sich eine tiefe Unsicherheit in der Beziehung zur Welt, die ganz zum Greifen nah zu rücken scheint, aber immer wieder sich in Traum und Ferne auflöst. Dies gilt für die Figur des Scholar Gipsy im gleichnamigen Gedicht, eine Figur, deren Wesen Flucht und Sich-Entziehen ist, die zugleich aber Anlaß ist für eine poetische Erkundung der Oxforder Landschaft. Der Student aus Oxford, der sich Zigeunern anschloß und dessen Geschichte Arnold und Clough John Glanvils The Vanity of Dogmatizing (1661) entnahmen, verkörpert auf seine Art all das Unstete, Zivilisationsfeindliche und Wilde, das Arnold aus seinem Leben entfernte, um der viktorianische Erzieher werden zu können, den die Mitwelt in ihm sah. In der räumlichen Ausschweifung, die der Scholar Gipsy betreibt, zeichnen sich Arnolds Unruhe und religiös-philosophische Entwurzelung ab. Sein Verhältnis zum Raum nimmt auf eigentümliche Weise das Phänomen moderner Heimatlosigkeit vorweg. Selbst und Umwelt können keine stabile Beziehung eingehen, weil ihnen eine übergeordnete Orientierung fehlt und die Sinne nicht mehr in der Lage sind, topographischen Sinn zu konstituieren: This wandering takes place, in Arnold as in De Quincey, within a space without coordinates, center, or goal. Sometimes this milieu itself is in motion [...] To be in one place in this uncharted space is the same as to be in any other, for there are no paths or signposts by which the hapless wanderer might tell what origin he has left or what end he might seek. The soul is condemned to 'fluctuate idly without term or scope'f...], driven by the aimless tides or by the random winds, himself 'distracted as a homeless wind'. 87

Die Ruhelosigkeit, die Arnolds Lyrik kennzeichnet, ist das Emblem des Scholar Gipsy, der bei allem Umherschweifen jedoch eine regionale, die Region verkörpernde Figur bleibt. Nur ist er ebenso traumhaft verloren, zeitfern und ungreifbar wie die Landschaft, die ihm als Hintergrund dient. Der Sprecher insistiert gegen allen Realismus, daß diese Gestalt die Zeit überdauert habe: " - No, no, thou hast not felt the lapse of hours!" (S. 339) Wie der Gipsy mit seiner Unruhe und träumerischen Distanzierung vom Betrieb der Universitätsstadt und der Neuzeit allgemein eine Projektion von Arnolds Zerrissenheit ist, in der Wünsche und Ängste ineinander übergehen, so ist seine Außerzeitlichkeit ein unerreichbares Ideal in einem sentimentali87

Miller, a.a.O., S. 213.

65

sehen Zeitalter. Räumlich abgebildet äußert sich diese Projektion einerseits in den Fluchtbewegungen, in denen das Gedicht sich am Ende auflöst: in der Flucht des 'Tyrian trader' vor den geschäftigen und erfolgreichen Griechen in den Atlantik. Indem sich hierin das Schicksal des fliehenden Scholar Gipsy klassisch gefaßt wiederfindet,88 begibt sich das Gedicht selbst auf die Flucht, und zwar vor einem verantwortlichen Schluß, der mit den Mitteln des zuvor Dargestellten auszukommen hätte. Andererseits verfällt Arnold bei der Verräumlichung des Ideals auf die Konvention der pastoralen Idylle wie in "Thyrsis". Das räumliche Bild, das der Orientierungslosigkeit und Zerrissenheit entgegengestellt wird, ist das des Raumes der Geborgenheit, wie ihn Bollnow und Bachelard beschrieben haben.8' Wenn die beiden Autoren in Orten wie Haus, Bett, Nische, Höhle die Bedingungen für Geborgenheit vorfinden, so kann dies für Arnolds Lyrik bestätigt werden. In "The Youth of Nature" wird das Boot zum Raum, der den Traum schützt und bewahrt: Raised are the dripping oars, Silent the boat! the lake, Lovely and soft as a dream, Swims in the sheen of the moon. (S. 245)

In Arnolds bekanntestem Gedicht, "Dover Beach", das den Wertezerfall und die Angst der Modernität darstellt, ist ein Fenster mit Ausblick auf gleichfalls mondbeschienenes Wasser letztes Refugium vor den Wogen der Sinnleere. Der Scholar Gipsy sucht immerfort die geschützte Einsamkeit: "For most, I know, thou lov'st retired ground!" (S. 336) Er sitzt einsam am Ufer, wo ihn Arbeiter erblicken (S. 337), und taucht an einsamen Gehöften auf. Die pastorale Nische teilt der Scholar Gipsy mit dem Sprecher des Gedichts, der seine Geschichte nachliest und dies nur tun kann, weil er sich geborgen weiß: Screened is this nook o'er the high, half-reaped field, A n d here till sun-down, shepherd! will I be. [•••] A n d air-swept lindens yield Their scent, and nestle down their perfumed showers O f bloom on the bent grass where I am laid, A n d bower me from August sun with shade (S. 334)

88

Vgl. hierzu E. K. Browns Kommentar: "Both flights express a desire for calm, a desire for aloofness." Revue Anglo-Américaine 12 (1934-35), S. 224-25, zit. nach The Poems of Matthew Arnold, a.a.O., S. 343, Kommentar. 8 ' Vgl. Kap. 1; O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 123 ff.; G . Bachelard, La poétique de l'espace, Paris 1957, S. 92 ff.

66

Die Nestmetaphorik, die schon bei Clare auffällt und bei Edward Thomas wieder extensiv zum Vorschein kommen wird, enthält in jedem Fall ein Moment der Flucht, wenn auch die Zweifel zu groß sind, als daß die pastorale Nische ernsthaft ein verläßlicher Zufluchtsort sein könnte. Der Sprecher versteigt sich in den letzten Strophen gar zu einem Anruf an den Scholar Gipsy, genau das zu vermeiden, von dem das Gedicht eigentlich lebt - nämlich den Kontakt der Traumfigur mit der modernen Lebenswelt. Die Aufforderung zur Flucht ist eine Aufforderung an das Ideal, sich eben nicht in Zeit und Raum zu artikulieren und damit Realität zu werden. Was gegen das neuzeitliche Syndrom der Aufspaltungen und Trennungen geschrieben scheint, perpetuiert diese erst eigentlich: O born in days when wits were fresh and clear, And life ran gaily as the sparkling Thames; Before this strange disease of modern life, With its sick hurry, its divided aims, Its heads o'ertaxed, its palsied hearts, was rife Fly hence, our contact fear! (S. 342) Die Nähe zum Schlaf und Traum in vielen Passagen von "The Scholar Gipsy" wie auch die verträumte Stimmung in anderen Gedichten Arnolds sind Symptome jener Geborgenheit, die Bollnow im Vorgang des Einschlafens vorfindet, wobei der „Raum selber [...] um den Schlafenden eine schützende Hülle" bildet.' 0 Zum Schluß sei das Gedicht Arnolds angeführt, das als sein bestes Stadtgedicht bezeichnet worden ist' 1 - das zwischen 1849 und 1852 entstandene "Lines Written in Kensington Gardens" (S. 254 ff.). Wie schon der Titel auf Wordsworths "Lines Composed Upon Westminster Bridge, Sept. 3, 1802" anspielt, so verweisen auch verschiedene Aussagen des Werks auf das Wordsworthsche Modell. In beiden Gedichten stehen sich Stadt und Beobachter gegenüber, eine Trennung, die ermöglicht wird durch die Stille des Morgens bei Wordsworth und die Geborgenheit der Nische bei Arnold. Während bei Wordsworth das Leben der Stadt in der Ruhe des frühen Panoramas monumental eingefroren ist, aber mit der Aussicht auf ein Erwachen: "that mighty heart is lying still!", ist die Stille bei Arnold zur Grabesruhe geworden: That peace has left the upper world And now keeps only in the grave. (Z. 27 f.) Das Gedicht faßt den Konflikt zwischen modernem betriebsamen Leben und isoliertem Individuum wie bei "The Scholar Gipsy" in der Spannung 90

Bollnow, a.a.O., S. 186. ' ' Alan Roper, Arnold's Poetic Landscapes, Baltimore 1969, S. 247.

67

zwischen Stadt und pastoraler Idylle, dem Park von Kensington. Nische, Nest und geschützter Ort werden hier noch weiter aufgelöst und geraten zur "helpless cradle". Vor dem Ansturm der Zeit, die räumlich als das Große erscheint - "the huge world" - flieht das gestörte Subjekt in die räumliche Kleinwelt, die Umwelt der Kinder und Spielzeuge (Z. 9 f.), der Vögel und Blumen (Z. 1 1 - 1 6 ) . Die Vorstellung eines vollkommenen Friedens ist wiederum mit dem Schlaf verbunden, in dem äußere und innere Räume sich trennen und die kleinen mikrokosmischen Welten verschließen: The flowers upclose, the birds are fed! The night comes down upon the grass, The child sleeps warmly in his bed. (Z. 34-36) Die dargestellte Landschaft der Lichtung umfaßt schließlich den Lebenszyklus von der Geburt bis zum Grab und ist so - ähnlich wie "Dover Beach" ein Beispiel für die "transformation of landscape into metaphor". 92 Die Räumlichkeiten, mit denen innerhalb dieser Metaphorik gearbeitet wird, drücken die Polarität von Zerrissenheit und innerstem Frieden aus, ohne daß es zu einer Versöhnung käme. Denn der Anruf an die "Calm soul of all things" (Z. 37) stellt zwar eine Hoffnung dar, wie sie dem viktorianischen Kompromiß zwischen Lebenswelt und Ideal eigen ist, schreibt aber letztlich die angeprangerte Abspaltung fort, wenn Frieden nur dort für möglich gehalten wird, wo der Mensch nicht eingreift: That there abides a peace of thine, Man did not make, and cannot mar. (Z. 39-40) Laurence Lerner hat Arnolds Nostalgie und Flucht in die pastorale Idylle als zeittypischen Umgang mit verschiedenen Formen des Verlustes gedeutet: als Verlust der Idylle durch den geschichtlichen Prozeß - England ist nicht mehr Sizilien —, als Verlust eines geliebten Menschen, als Verlust der Jugend und als Verlust des ländlichen Lebens für den Städter, schließlich als Verlust der pastoralen Tradition selbst.93 Arnold kann als epochentypisch gelten für die Art und Weise, wie englische Lyriker auf die aufkommende Modernität in allen Lebensbereichen reagieren. Die Fragmentarisierung von Lebenssphären hat Auswirkungen auf die Erkenntnisse, die ortsbezogene Lyrik leisten kann: The effects of this isolation on poetry of place are many and various, including concentration on place as a refuge or escape from an unmanageable or unlovable society or nation, or to provide imagery for an inner world.94

"

M 54

Ebd., S. 51. Lerner, The Uses of Nostalgia, S. 232 -36. Hooker, a.a.O., S. 184.

68

In dieser Hinsicht nimmt Matthew Arnold die Georgian Poets ebenso vorweg wie A. E. Housman als Dichter einer Übergangsperiode vom Viktorianismus zur Moderne. Die Region wird zur Staffage von gequälten und sehnsüchtigen Innenwelten, denen es nicht mehr um die Beschreibung objektiver oder intersubjektiver Beziehungen geht. Auch Arnolds kulturkritische Schriften wie Culture and Anarchy sind von Nostalgie geprägt. Vergangenheit - idealisiert als Hellenismus oder gesucht im elisabethanischen Zeitalter - erweist sich als der ideale Ort für Projektionen, durch die Defizite der eigenen Zeit imaginär gelöst werden.95 Diese ,guten' Vergangenheiten entsprechen den räumlichen Nischen der Harmonie; von ihnen gehen aber keine utopischen Gehalte mehr aus, denn sie sind zu Ruhepunkten und Pausenzeichen erstarrt. Es liegt im Wesen der Nostalgie, daß die von ihr getragene Befindlichkeit Orte privilegiert, die ihren Projektionen und Bedürfnissen am ehesten entsprechen. Arnold hat als Kulturkritiker und Pädagoge das Prinzip der Privilegierung von Orten insofern betrieben, als er in die viktorianische Diskussion über Provinzialismus und Zentralismus der Kultur eingriff. Die Vorstellung, andere Zeiten oder Orte und Kulturen seien besser gewesen als die eigene, impliziert eine Hierarchie von Werten, die zu einer Hierarchie der Räume führt. In seinem Essay "The Literary Influence of Academies" geht es Arnold um die Errichtung eines Standards, an dem Kultur gemessen werden könnte. Werte wie "clearness", "correctness" oder "propriety" setzen Institutionen und Instanzen voraus, die als Schiedsrichter fungieren. Diese müssen nach Arnolds Auffassung in Akademien und, geographisch gesehen, in kulturellen Zentren verankert werden. Der "note of provinciality", die er in England vorzufinden glaubt, setzt Arnold "urbanity" entgegen,96 ein "centre of good taste", das die klassizistischen Kriterien gegen die "Asiatic prose", d.h. gegen den Exzentrismus englischer Autoren durchsetzen könne; denn für Arnold gilt die Gleichung: "classical prose, prose of the centre".97 Die Prosa, die weit von den Zentren der Information und Ideen entstehe und der es an "the tone of the city" mangele, zeichne sich aus durch Unausgewogenheit, Überspanntheit, Emotionalität und Obskurität98 - sämtlich ästhetische Phänomene, die durch die Ausrichtung auf ton-, maß- und geschmacksangebende Zentren verhindert werden könnten, wie dies im zentralistischen Frankreich seit Jahrhunderten vorbildhaft geschehe. " 96 97

"

Vgl. dazu Lerner, a.a.O., S. 238 ff. Matthew Arnold, Essays in Criticism. First Series, Chicago 1968, S. 31 -52, hier 41. Ebd., S. 43. Ebd., S. 45.

69

Mit diesen Forderungen gerät Arnold oft in diametralen Gegensatz zu seiner eigenen Lyrik. Der Scholar Gipsy z. B. erscheint geradezu als eine Absage an das kulturelle Zentrum Oxford, so daß es scheint, Arnold habe in der Lyrik gerade den Impulsen nachgegeben, die er als Kulturkritiker sich und den anderen verbat. Als solcher steht er auch im Gegensatz zu den regionalistischen Tendenzen, die einige viktorianische Romane zur gleichen Zeit auszuloten begannen. 4. R e g i o n als Gedächtnis. Z u r L y r i k v o n T h o m a s H a r d y Während Wordsworth den moment of vision mit bestimmten Orten verknüpfte und insbesondere den Lake District zu einer für solche Erfahrung prädestinierte Landschaft machte, während Arnold an der Möglichkeit der Idylle angesichts der kulturellen Erosionen festhielt, indem er sie zeitlich aus der Gegenwart verbannte, stellt das dichterische Werk von Thomas Hardy (1840-1928) eine weitere Entfernung von den romantischen Prämissen des genius loci oder sense of place dar. Zunächst einmal sah Hardy in Arnolds Suche nach einer kulturellen Zentralisierung genau die Kräfte am Werk, die letztlich Arnolds Nostalgie bedingen, indem sie das Partikulare und Regionale der englischen Kultur dem geschichtlichen Prozeß der Verstädterung opferten. Urbanisierung wirkt sich aber nicht nur auf das äußere Erscheinungsbild der Landschaft aus, sondern bringt nach Hardy auch eine Standardisierung des Fühlens und Denkens mit sich. Auch wenn Hardy anfänglich von der Metropole London einen Fortschritt für seine Schriftstellerei erhoffte, notierte er doch um das 40. Lebensjahr (1880): Arnold is wrong about provincialism, if he means anything more than a provincialism of style and manner in exposition. A certain provincialism of feeling is invaluable. It is of the essence of individuality and is largely made up of that crude enthusiasm without which no great thoughts are thought, no great deeds done."

Der gemeinsame Angelpunkt für Hardy und Arnold ist Wordsworth. Beide haben, nach viktorianischer Art, eine Wallfahrt in den Lake District unternommen. Beide haben auch in der Haltung lyrischerpersonae den von Wordsworth in "Tintern Abbey" und anderswo reflektierten Kontrast von erinner99

Florence Emily Hardy, The Life of Thomas Hardy 1840 — 1928, London 1962, S. 146 f. Das Buch ist von der Kritik früh als verdeckte Autobiographie erkannt worden. Zum Verhältnis Hardy und Arnold vgl. David de Laura, '"The Ache of Modernism' in Hardy's Later Novels", ELH 34 (1967), S. 380-399; Ward Hellstrom, "Hardy's Scholar Gipsy", in G. Goodin, Hg., The English Novel in the Nineteenth Century, Urbana, 111. 1972, S. 196223; Robin Gilmour, "Regional and Provincial in Victorian Literature", in R. P. Draper, Hg., The Literature of Region and Nation, London 1989, S. 55-60.



ter Vergangenheit und erinnernder Gegenwart gestaltet, Hardy gleich in seinem frühesten erhaltenen Gedicht "Domicilium", mit dem er die Memoiren seiner Frau einleiten läßt. Wo jedoch Arnold den in seinem Sinne nicht-provinziellen Wordsworth gegen den stilistisch-philosophisch provinziellen Wordsworth ausspielt,100 da setzt Hardy die von Wordsworth zum größten Teil nicht realisierte Forderung seines poetischen Programmes von "Preface to the Lyrical Ballads" um, indem er "language really used by men" 101 zu erreichen sucht, sei es in der Form des Dialogs, der dramatischen Monologe oder in der Verwendung des Inbegriffs von Provinzialität, des Dialekts. 102 Der Dialekt hat bei Hardy unter anderem die Funktion, ein fiktionales Territorium zu umgrenzen, das sich nur teilweise mit dem geographischen Territorium überschneidet. Hardy definierte sein "Wessex" im Vorwort zu seinem Roman Far From the Madding Crowd: . . . I first ventured to adopt the w o r d 'Wessex' f r o m the pages of early English history, and give it a fictitious history, and give it a fictitious significance as the existing name of the district once included in that extinct k i n g d o m . T h e series of novels I projected being mainly of the kind called local, they seemed to require a territorial definition of s o m e sort to lend unity to their scene [ . . . ] Since then the appellation which I had thought to reserve to the horizons and landscapes of a partly real, partly dream-country, has b e c o m e more and more p o p u l a r as a practical provincial definition; and the d r e a m - c o u n t r y has, by degrees, solidified into a utilitarian region which people can g o to take a house in, and write to the papers from. 1 0 3

In der Umbenennung von realen Orten zu Orten auf der fiktionalen Landkarte zeigt sich noch am deutlichsten jener Ubergang von Realitäten zu Fiktionen und umgekehrt.104 Namengebung erweist sich hier als sprachlicher Akt der Umweltgestaltung, die ein Ausdruck von sense of place sein kann, folgt man Seamus Heaneys Metapher von der Hochzeit zwischen realer Region und "country of the mind". 105 100 101 102

103 104

105

Arnold, "Wordsworth", a.a.O., S. 93, 109 f. W. Wordsworth, "Preface" in Poetry and Prose, Oxford 1921, S. 132. Zu einer höheren Bewertung des Einflusses von Wordsworth auf Hardy haben folgende Studien beigetragen: Donald Davie, Thomas Hardy and British Poetry, London 1972, wo Hardy ein "devout Wordsworthian" genannt wird (S. 74); Peter J. Casagrande, "Hardy's Wordsworth: A Record and a Commentary", ELT 20 (1977), S. 210-237, stellt Hardy neben G. Eliot, M. Arnold und Ruskin als "a continuator of the Wordsworth tradition into the late nineteenth, and in Hardy's case, the early twentieth centrury" dar (S. 229); W. J. Keith, The Poetry of Nature, Toronto 1980, S. 93-98. Einen Uberblick über die Wordsworth-Rezeption gibt Mary K. Peek, Wordsworth in England, Bryn Mawr, Penna 1943. Harold Orel, Hg., Thomas Hardy's Personal Writings, Lawrence, Ka. 1966, S. 8 f. Auf seine Benennungspraxis geht Hardy genauer ein in "General Preface to the Novels and Poems" von 1912, in Orel, a.a.O., S. 46 ff. Seamus Heaney, Preoccupations, London 1984, S. 132.

71

Hardys Wessex ist, wie schon verschiedentlich gezeigt wurde,106 keine Idylle, sondern das Porträt einer Region, deren Eigenarten unter dem Druck von Industrie, moderner Kommunikation und Verstädterung zu verschwinden drohen. Der Versuchung, nun wie Arnold Idylle in die Vergangenheit zu projizieren, entgeht Hardy jedoch zum größten Teil, sieht man von einzelnen Episoden und den pastoralen Elementen des frühen Romans Under the Greenwood Tree ab. Wessex kann nur deshalb mikrokosmisch die Welt abbilden, weil die Region die Zwänge des universalen Geschichtsprozesses und die Dynamik der Moderne in sich aufnimmt und gestaltet. Ein solches Vorgehen läßt Hardy über die Rolle des "Historian of Wessex" (J. M. Barrie) hinauswachsen und stellt ihn auch, wie Keith gezeigt hat, in einen Gegensatz zu dem ansonsten von Hardy bewunderten Dorset-Dichter William Barnes: Viewing Wessex from a more detached perspective than Barnes, H a r d y never failed to see the macrocosm beyond the microcosm [ . . . ] although the sense of particularity is emphasized by reference to the local, only a cosmo-politan, with the generalizing experience that renders comparison possible, is in a position to recognize the regional when it is encountered. 1 0 7

Hardys Perspektive richtet sich also nicht so sehr auf die Region als solche, sondern vielmehr auf die Kontaktzonen zwischen Region und moderner, zentralistisch organisierter Welt. Daher sind die wichtigsten Romanfiguren auch so angelegt, daß sie die Dialektik von Ferne und Nähe, Metropole und Provinz in sich verkörpern - man denke an Clym Yeobright in The Return of the Native oder Jude Fawley in Jude the Obscure. Auch auf Hardys Erzähltechnik hat diese Spannung insofern Einfluß, als der häufige Wechsel zwischen den Perspektiven der Romanfiguren und einer distanzierten, oft einen kosmischen Standpunkt einnehmenden Position auf eine generelle Grundschwankung zwischen Partikularität und Universalität verweist.108 Auf die Gedichte bezogen ergibt sich strukturell eine ähnliche Schwankung im Umgang mit Formelementen wie Reim, Metrum und Rhythmus. Hardy nimmt bewußt eine exzentrische Haltung ein, die im Begriffssystem Matthew Arnolds als 'provincial' abgewertet würde, wenn er sich für "cunning irregularity" entscheidet. Seine Ausbildung als Architekt wirkt sich hier IO