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German Pages 178 [180] Year 2009
Sem Tob Die Anfange der Philosophie in Spanien
Sem Tob Die Anfange der Philosophie in Spanien
ILIA GALÄN Ubersetzt und bearbeitet von Frank Schleper und Frauke Gewecke
Iberoamericana - Vervuert - 2009
Original versión: Ilia Galán: Actualidad del pensamiento de Sem Tob: filosofía hispano-hebrea del siglo xiv en Patencia, Madrid, Endymion, 2003.
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Die Veröffentlichung des vorliegenden Werkes wurde mit Mitteln der Dirección General del Libro, Archivos y Bibliotecas des Ministerio de Cultura de España gefördert.
Alle Rechte vorbehalten © Iberoamericana, 2009 Amor de Dios, 1 - E-28014 Madrid Tel.: +34 91 429 35 22 - Fax: +34 91 429 53 97 [email protected] www.ibero-americana.net © Vervuert, 2009 Elisabethenstr. 3-9 - D-60594 Frankfurt am Main Tel.: +49 69 597 46 17 - Fax: +49 69 597 87 43 [email protected] www.ibero-americana.net
ISBN 978-3-86527-344-4 D.L.: SE-4671-2009 Printed by Publidisa
Umschlaggestaltung: Juan Carlos Garcia Cabrera Umschlagbild: Ausschnitt aus Seite 33b des „Hamilton Siddur". Original: Orientabteilung, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz / Hamilton 288, fol. 33 b © bpk / Orientabteilung, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Foto: Ruth Schacht
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INHALTSVERZEICHNIS
T E I L 1. T E X T UND K O N T E X T
Zu diesem Buch
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Das Leben des Rabbi Sem Tob
12
Die Werke
15
Das Buch: Proverbios
17
Die Originale
18
Philosophen und philosophische Strömungen der Zeit
19
Grundzüge der Philosophie des Sem Tob
22
Carrion und die Juden in Kastilien zur Zeit des Sem Tob
27
Das Königreich Kastilien-León im 14. Jahrhundert
31
T E I L 2 . D I E PROVERBIOS
MORALES-, D I A L O G E M I T S E M T O B
Widmung an den König Don Pedro
41
Bekenntnis oder erster Prolog
45
Zweiter Prolog
53
Kapitel 1
59
Kapitel 2
63
Kapitel 3
71
Kapitel 4
79
Kapitel 5
87
Kapitel 6
93
Kapitel 7
97
Kapitel 8
101
Kapitel 9
109
Kapitel 10
115
6 Kapiteln Kapitel 12 Kapitel 13
119 123 129
Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel
14 15 16 17
133 139 143 147
Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel
18 19 20 21
151 159 163 167
Kapitel 22
171
Bibliographie a) Textausgaben
175 175
b) Forschungsliteratur und andere Texte
176
TEIL 1 Text und Kontext
Z u DIESEM B U C H
Es mag überraschen, dass ein klassischer Autor der spanischen Literatur und Philosophie wie Sem Tob so wenig bekannt ist. Zwar haben sich einige Philologen mit seinem Werk beschäftigt, doch unter den Philosophen kennt kaum jemand seinen Namen. Aufgrund seiner bildhaften Sprache ist Sem Tob zweifelsohne ein Dichter, den Philologen gilt er aber vor allem als Denker, als bedeutender Moralist und Politiktheoretiker. Für die Philosophen ist er dagegen ein Dichter oder auch ein Schriftsteller mit ein paar Ideen, halb Theologe, halb Politologe und Anthropologe. Doch kaum ein Vertreter dieser Disziplinen hat Sem Tob, der zu seiner Zeit ein berühmter Mann war, je gelesen. In Spanien galt Sem Tob, obwohl zum Christentum konvertiert, als Jude; und so mag es dem in weiten Teilen Europas seit dem 15. Jahrhundert verbreiteten Antisemitismus geschuldet sein, dass der Autor, von dem nur ein Werk zur praktischen Philosophie — die Proverbios morales o Consejos y documentos al rey dort Pedro (Moralphilosophische Sprüche oder Dem König Don Pedro gewidmete Lehren und Ratschläge) - überliefert ist, von der Nachwelt nicht zur Kenntnis genommen wurde. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem weit berühmteren Maimonides, schuf Sem Tob kein elaboriertes philosophisches Gedankengebäude, sondern ein gleichsam asystematisches System: originell, praxisbezogen und überschaubar zugleich. Gerade diese Eigenschaft seines Denkens, das fragmentarisch in Aphorismen zum Ausdruck kommt, sowie seine Praxisnähe und leicht verständliche Ausdrucksweise bewirken, dass Sem Tob den Philosophen der Moderne sehr nahe ist. Die Vielfalt der kurz und prägnant abgehandelten Themen machen sein Werk zu einer überaus interessanten und aufgrund seiner poetischen Sprache ästhetisch reizvollen Lektüre, die weit mehr Lesern zugänglich ist als die einem strikt wissenschaftlichen Diskurs verpflichtete Fachliteratur. Wenn häufig behauptet wird, Spanien habe kaum große Philosophen hervorgebracht - was zumeist mit dem übermächtigen Wirken der Inquisition erklärt wird —, dann hat dies seinen Grund darin, dass nur wenige sich die Mühe gemacht haben, Autoren wie Seneca, Averroes (Ibn Ruschd), Maimonides, Ramon
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Teil 1
Llull (Raimundus Lullus) und in jüngerer Zeit Unamuno, Ortega y Gasset, López-Aranguren oder Savater zu studieren. Gegenüber Nationen wie Frankreich, England oder Deutschland leidet Spanien in dieser Hinsicht an einem ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex, der aus der Zeit der Aufklärung stammt und häufig dazu fuhrt, dass ausländische Dichter und Philosophen, auch wenn sie weniger Substanz aufweisen, mehr geschätzt werden als spanische Autoren. So wurde Sem Tob wie andere spanische Philosophen des Mittelalters erst in den vergangenen Jahrzehnten und nur sehr zögerlich wiederentdeckt. Inzwischen liegen von seinen Proverbios morales moderne Ausgaben sowie Übersetzungen ins Englische und Italienische vor. Gleichzeitig erschienen außerhalb Spaniens zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen, so dass man den Eindruck gewinnt, als würden die Spanier wieder einmal darauf gewartet haben, dass die in ihrem Land verborgenen Schätze von Ausländern entdeckt würden. (So war es seinerzeit, um nur ein Beispiel zu nennen, mit Calderón de la Barca und seinem Werk geschehen, das von August Wilhelm Schlegel entdeckt und von Goethe, Schopenhauer und anderen in Deutschland verbreitet worden war, bevor Jahre später auch in Spanien sein hier fast vergessenes Werk wiederentdeckt wurde.) Bei Sem Tob mag erschwerend hinzugekommen sein, dass seine Sprache im altspanischen Original selbst fur gebildete Spanier nachfolgender Generationen nur mit Hilfe eines einschlägigen Wörterbuchs zugänglich war, denn viele der in seiner Zeit geläufigen Begriffe gingen verloren oder erlebten einen Bedeutungswandel. So blieb Sem Tob während der nachfolgenden Jahrhunderte für die Spanier ein verborgenes Zeugnis der eigenen Vergangenheit. Nun erscheint überaus bemerkenswert, dass die Region Palencia, von deren einstigem Wohlstand die Kathedrale der gleichnamigen Hauptstadt wie auch viele andere romanische Bauwerke zeugen, und das Städtchen Carrion de los Condes zwei so bedeutende Dichter hervorbrachten wie Sem Tob und — etwa ein Jahrhundert später - Iñigo López de Mendoza, den ersten Marqués de Santillana. Carrion de los Condes hat mitderweile an Bedeutung verloren und lebt heute allein von der Landwirtschaft sowie, in geringerem Umfang, vom Tourismus. Bedauerlicherweise wird unserem Autor in seiner Heimatregion nicht die Bedeutung zugemessen, wird mit seinem Namen nicht in dem Maße geworben, wie dies in anderen Regionen Spaniens mit den von dort stammenden Autoren geschieht: wie zum Beispiel in Katalonien mit den Verfassern des Ritterromans Tirant lo Blanc, mit Jacint Verdaguer, Joan Maragall und Josep Pia, in Galicien mit Rosalia de Castro und Ramón Cabanillas oder im Baskenland mit Nikolas Ormaetxea und Gabriel Aresti. Hier wurden Schriftsteller und Künstler fur den regionalen Nationalismus in Anspruch genommen und damit aufgewertet; in der Region Palencia, wo man dagegen die Einheit
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Spaniens auf seine Fahnen schrieb, wurden die Autoren einem universalen Kulturkonzept assimiliert - was schließlich auch bewirkte, dass so mancher der Vergessenheit anheimfiel. Jene turbulente und doch offensichtlich so fruchtbare Epoche des ausgehenden Mittelalters hinterließ uns eine Gedankenwelt, die für die heutige Zeit, in der einst gültige moralische Werte vielfach verloren gegangen sind, durchaus ein Korrektiv sein kann. Und ein Aspekt, der die Proverbios morales von Sem Tob zusätzlich attraktiv macht, ist ihr Nutzen als "Anleitung zur Selbsthilfe": dies nicht im Sinne jener oberflächlichen, für den schnellen Konsum verfassten Publikationen nach US-amerikanischem Muster, sondern ganz im Sinne und im Stil eines Seneca, eines Epiktet und eines Marc Aurel, die alle von Sem Tob hochgeschätzt wurden, oder auch nach Art der Werke von Montaigne, Pascal, Schopenhauer, Nietzsche, Wittgenstein und vielen anderen. Wie bei manchen Philosophen und Dichtern der Vergangenheit, etwa bei Homer oder dem anonymen Verfasser des Cantar de Mio Cid, bestehen auch bei Sem Tob Zweifel hinsichtlich der Urheberschaft seiner Werke wie hinsichtlich seiner Identität. Unzweifelhaft aber ist, dass die hier vorgestellten Proverbios morales unter dem Verfassernamen Sem Tob aus dem 14. Jahrhundert zu uns gelangten. Die vorliegende Studie liefert keine detaillierte Untersuchung weder zum Gedankengebäude noch zum Stil des Autors, sondern bezweckt lediglich, über eine kritische Analyse einer Auswahl seiner grundlegenden Ideen diese dem Leser des 21. Jahrhunderts zugänglich zu machen. Mit anderen Worten: Die Intention dieses Buches ist, mit dem Dichter und Weisen Sem Tob in einen Dialog zu treten, indem wir sein Gedankengebäude nicht nur rekonstruieren, sondern weiterführend daraufhin untersuchen, welcher Teil einem Universum angehört, das sich von unserem fundamental unterscheidet, und welcher Teil — etwa seine Ausführungen zu den Leidenschaften, zur Liebe und zum Tod — über die Jahrhunderte hinweg unverändert die Menschen bewegt. Das Ergebnis ist etwas durchaus Neues: kein neues philosophisches System, wohl aber ein Gedankengebäude, das sich der kritischen Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft: des Autors verdankt und sich diese im Licht der Gegenwart für den heutigen Leser zunutze macht. Damit befinden wir uns in guter Gesellschaft und in der Tradition derer, die über die Jahrhunderte hinweg in Glossen, kritischen Textausgaben und textvergleichenden Analysen den Dialog mit der Vergangenheit gesucht haben: das Gespräch mit jemandem, der nicht mehr bei uns ist, dem wir aber zuhören können bei all dem, was er uns heute noch zu sagen hat.
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Teil 1
DAS LEBEN DES RABBI SEM T O B
"Anfang des 14. Jahrhunderts", so schreibt Pilar Leon Tello in ihrer Geschichte der Juden von Palencia, "wurde in der Tierra de Campos der Rabbi Sem Tob ibn Ardutiel — oder don Santo, wie ihn seine Zeitgenossen nannten — geboren, Verfasser der Consejos y Documentos al rey don Pedro. In der ersten Strophe dieses Werks vermerkt der Autor mit Stolz, dass er Jude ist und aus Carrion stammt; und wie er des Weiteren angibt, war er bereits ergraut, als er sein Werk dem König widmete. Einige Zeit lebte er in Soria, wo er eines seiner Werke vollendete: Ma'ase, den in gereimter Prosa verfassten Disput zwischen einer Schreibfeder und einer Schere über die Eigenschaften einer jeden" (Leon Tello 1967: 14). Als gesichert gilt, dass dieser große Dichter und Denker jüdischer Herkunft war und in Carrion de los Condes lebte, auch wenn neuere Forschungen die (wenig wahrscheinliche) These von der Existenz eines anderen Sem Tob, der aus Soria stammen soll, ins Spiel gebracht haben. Einige Verwirrung stiftet die Vielzahl von Namen, die dem Autor gegeben wurde: Sen Tob, Santo, Santob, don Santo (alles spanische Versionen des Namens Sem Tob ibn Ardutiel ben Isaac1 oder Sen Tob ben Ishaq ibn Ardutiel 2 ), Sem Tob Yitzhak Ardutiel, Sem Tob Ardutiel, Sem Tob de Carrion. Vorausgesetzt wird, dass mit Ardutiel und Carrion ein und derselbe Mann benannt wird, was aber keinesfalls gesichert ist, so dass es am sinnvollsten erscheint, ihn Sem Tob de Carrion zu nennen. 3 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass weitere spanische Persönlichkeiten mit dem Namen Sem Tob bekannt sind: unter den Zeitgenossen etwa der Arzt und Dichter Sem Tob ibn Falaquera und der Philosoph Sem Tob ibn Gaon oder, im 15. Jahrhundert, eine ganze Reihe von Philosophen, Sem Tob ben Yosef ibn Sem Tob, sein Sohn Yosef ibn Sem Tob ben Sem Tob und sein Enkel Sem Tob ben Yosef ibn Sem Tob. Ganz ohne Zweifel ist es für die objektive Beurteilung der Qualität eines Werkes gänzlich irrelevant, welcher Rasse oder Religion der Autor angehört, ob er Spanier oder Franzose ist. Doch wurde dies nicht immer so gesehen, und im Fall von Sem Tob wurde stets besonderer Wert auf die Feststellung gelegt, dass er zum Christentum konvertierte, auch wenn dies gelegentlich bezweifelt wird.
1. S o b e i j o s e t (1980: 67). 2. So bei Serrano Poncela (1959: 10). 3. Zur Frage der Namen und der mit ihnen assoziierten Familien vgl. die Einfuhrung zu der von Paloma Diaz-Mas und Carlos Mota besorgten Cätedra-Ausgabe der Proverbios morales (1998a: 30-31), in der auf weiterfuhrende Studien verwiesen wird.
Text und Kontext
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Vielleicht liegt in seiner Herkunft einer der Gründe dafür, dass von seinem Werk so wenig erhalten ist — womit einmal mehr deutlich würde, wie aufgrund religiöser oder anderer Vorurteile Werke Schöpfungen des menschlichen Geistes der Menschheit verloren gehen können. In seiner Geschichte der Juden im christlichen Spanien schreibt Yitzhak Baer, Sem Tob habe sich gegen den berühmten, vom Judentum zum Christentum konvertierten Abner de Burgos (Alfonso de Valladolid, 1270-1348?) gewandt, den Baer (aus seiner jüdischen Perspektive) einen "Apostaten" nennt; so heißt es bei Baer: "Unter den Gegnern des Apostaten befand sich offenbar auch der Dichter R. Sem Tob Ardutiel, das ist: der Rabbi Don Santob de Carrion, Verfasser von Gedichten in hebräischer und spanischer Sprache. Seine Proverbios morales, die heute nur noch diejenigen kennen, die mit der Geschichte der spanischen Literatur vertraut sind, wurden zu seiner Zeit auf Hebräisch gelesen und waren unter den Juden bis zu ihrer Vertreibung aus Spanien weit verbreitet. In diesen Versen behandelt der Dichter das Problem des Leids des Gerechten, dasselbe Problem, das speziell Abner de Burgos und offenbar ganz allgemein die Menschen jener Zeit beschäftigte. Im Kern ermahnt der Rabbi Don Santob den Menschen, nicht nach Höherem zu streben und sich mit seinem Schicksal und der ihm von Gott zugewiesenen Stellung zufriedenzugeben" (1998: 399). Manche Kritiker meinen, aus Sem Tobs Werk Rückschlüsse auf seine Biographie ziehen zu können; so heisst es in der Einleitung zur Cätedra-Ausgabe der Proverbios: "[...] praktisch alles, was wir über den Autor wissen oder vermuten, stammt aus dem Text der Proverbios morales sowie einigen wenigen indirekten Zeugnissen" (1998a: 26). Der Autor selbst habe sich Santo oder Santob genannt, abgeleitet von Sem Tob, was so viel heißt wie "guter Name" und ein unter den spanischen Juden jener Zeit geläufiger Name war. Er selbst verwendet auch den Zusatz "aus Carrion de los Condes", damals eine bedeutende Station auf dem berühmten Pilgerweg des Heiligen Jakob. Hinsichtlich seines Wohnorts besteht bei den Kritikern kein Zweifel, auch wenn diese manch andere Annahme in Frage stellen; weniger gesichert sind das Jahr seiner Geburt (1290?) sowie wie das Jahr seines Todes (1369?). 4 Sofern nicht ein bislang unbekanntes Manuskript oder Dokument gefunden wird, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass wir je die genauen Daten erfahren werden, denn das gotische Rathaus von Carrion de los Condes wurde während des Krieges gegen die Napoleonischen Truppen Anfang des 19. Jahrhunderts ein Opfer der Flammen, und die überaus bedeutenden Ar-
4. Unbewiesen und wenig wahrscheinlich ist die Annahme, er habe später, zwischen 1350 und 1400, gelebt (Serrano Poncela 1959: 10).
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Teil 1
chive verbrannten. Zwar wissen wir nicht definitiv, ob Sem Tob in Carrion de los Condes geboren wurde (vieles spricht dafür und nichts dagegen); als gesichert aber gilt, dass er dort gegen Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts lebte. Angenommen wird des Weiteren, dass Sem Tob in Carrion als Rabbi wirkte und sowohl auf Hebräisch als auch auf Spanisch schrieb in einer Zeit, da die verschiedenen Kulturen, Religionen und Rassen in Spanien friedlich zusammenleben konnten, wenn es auch gelegentlich zu Konflikten kam. Seine Bekehrung zum Christentum ist ebenso wenig bewiesen wie die Annahme, Carrion sei sein Geburtsort. 5 Viele haben über die Frage seiner Konversion spekuliert, und manche haben sie bejaht, insbesondere weil er lange Zeit als Autor des Tratado de la doctrina cristiana (Traktat über die christliche Lehre) galt. Doch inzwischen wurde als Verfasser dieses Werkes ein anderer Autor identifiziert, so dass die angenommene Konversion nicht gesichert ist (auch wenn sie nicht von der Hand zu weisen ist). Einige Forscher, unter ihnen Claudio Sánchez-Albornoz (1956: I, 542), meinen in Sem Tobs Texten Indizien dafür zu finden, dass er sich nicht als Kaufmann betätigte und dem Handel grundsätzlich abgeneigt war, auch wenn es zwischen seinen diesbezüglichen Ansichten und seiner Philosophie nicht unbedingt eine Übereinstimmung gegeben haben muss. Andere verweisen auf ein damals zirkulierendes Gerücht, welches besagt, dass Sem Tob, nachdem er zunächst in der Gunst des Königs gestanden hatte, in Ungnade fiel und gefangen genommen wurde. 6 Um die Figur Sem Tobs ranken sich verschiedene Legenden. Mittlerweile gilt aber als ausgeschlossen, dass er der Leibarzt von König Alfonso XI. war, wie Serrano Poncela (1959) meint, und ebenso, dass er ein Günsding des Königs Pedro I. war, selbst wenn er diesem sein einzig vollständig erhaltenes Werk widmete. Manche Autoren, wie etwa Enrique Gómez Pérez und Santiago Peral Villafruela (1997: 24), bezeichnen Sem Tob als Rabbiner; des Weiteren soll er als Höfling Einfluss auf die
5. Im Diccionario Enciclopédico Hispano-Americano (Bd. 18, S. 972) wird im Eintrag zu Sem Tob folgende Passage aus dem ersten Band der Biblioteca española (1781) von José Rodríguez de Castro zitiert: "R. Don Santo de Carrion, so genannt weil er aus Carrion de los Condes, einer Stadt in Castilla la Vieja, stammte, wurde Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts geboren. Er war ein herausragender Moralphilosoph und einer der berühmtesten Dichter seiner Zeit. Er schwor dem Judentum ab und erwies sich als guter Christ, wie den Werken zu entnehmen ist, die er während der Regierungszeit Pedros I., also um das Jahr 1360, schrieb, als er bereits fortgeschrittenen Alters war." 6. "It was at this time that rumors of Santob's arrest were circulating. Our poet was nationally known at that time, for it was then that Josef ibn Sason lauded him in several poems extolling his greatness and influence at court" (Klausner 1965: 787).
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Staatsgeschäfte genommen haben. Berücksichtigt man, was es zu jener Zeit bedeutete, ein jüdischer Intellektueller zu sein7, dann gilt zu bedenken, dass die Bezeichnung "Rabbi" sich nicht notwendigerweise auf ein religiöses Amt beziehen muss, sondern ganz allgemein auf eine besondere religiöse Bildung verweist, die das Studium der Bibel, des Talmud und des Midrasch beinhaltete, wozu wiederum Kenntnisse des Hebräischen und des Aramäischen erforderlich waren. Die Beherrschung dieser Sprachen, die den meisten Juden in jener Zeit nicht geläufig waren, ermöglichte Sem Tob den Zugang zu den Schriften, die aus dem Arabischen ins Hebräische übersetzt waren; und wenn Sem Tob de Carrion dieselbe Person war wie Sem Tob ibn Ardutiel, sprach er auch Arabisch. Ganz und gar außer Zweifel steht, dass Sem Tob unter dem besonderen Schutz des Königs Pedro I. von Kastilien stand und zu seinen Lebzeiten als einer der berühmtesten Dichter galt. Und damit erschöpfen sich bereits die gesicherten Daten über sein Leben.
DIE WERKE
Aus philologischer Sicht wird besonders hervorgehoben, dass Sem Tob "als erster Jude Verse in spanischer Sprache verfasste und dabei eine neue metrische Form einführte, indem er für den Alexandriner des mester de clerecía [Klerikerdichtung] die Zäsur nach der siebten Silbe setzte" (León Tello 1967: 14). Neben den Proverbios morales o Consejos y documentos al rey don Pedro, für die seine Autorschaft gesichert ist, wurden ihm noch andere Werke zugeschrieben: das Poem Revelación de un ermitaño (Offenbarung eines Einsiedlers), der Tratado de la doctrina cristiana (Traktat über die chrisdiche Lehre) und das Poem Danza de la muerte (Totentanz). Der Grund hierfür war der Umstand, dass diese Werke in derselben Handschrift der Bibliothek des Escorial enthalten sind, in der die Proverbios morales entdeckt wurden. Als Verfasser des Tratado de la doctrina cristiana hat man inzwischen Pedro de Berague (oder Veragua) identifiziert, dessen Name in der letzten Zeile des Werks genannt wird. Hinsichdich der Autorschaft der Danza de ¡a muerte wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt; doch das Poem, in dem vom König bis zum untersten Vasall, vom Papst bis zum einfachen Christen alle vor dem Tod erscheinen, um gemäß ihrem Stand über ihr Tun Rechenschaft abzulegen, stammt aus einer anderen Epoche und weicht zudem stilistisch erheblich von den Proverbios morales ab, so dass Sem Tob nicht der Autor sein kann. Festzustehen scheint einzig, dass die Danza de la
7. Vgl. hierzu Paloma Díaz-Mas und Carlos Mota in der Einfuhrung zur Cátedra-Ausgabe
der Proverbios morales (1998a: 37-38).
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Teil 1
muerte und die Revelación de un ermitaño aufgrund stilistischer Ähnlichkeiten von ein und demselben Verfasser stammen.8 Auch wenn sich in den Chroniken der Zeit Hinweise darauf finden, dass Sem Tob ein reichhaltiges Werk und nicht wenige Bücher verfasste, hinterließ er uns neben einigen Gedichten nur die Proverbios morales — immerhin eines der wenigen erhaltenen von einem jüdischen Autor in spanischer Sprache verfassten literarischen Zeugnisse des Mittelalters. Iñigo López de Mendoza, der Marqués de Santillana, schrieb in seinem berühmten Brief an den Konnetabel von Portugal im Zusammenhang mit den Anfängen der Poesie: "Zu jener Zeit trat ein Jude in Erscheinung, der Rabi Santo hieß. Er verfasste sehr schöne Dinge, darunter Proverbios morales, die wahrhaftig höchst empfehlenswerte Sinnsprüche enthalten (López de Mendoza 1911: 26).5 Das Urteil des Marqués de Santillana ist für uns insofern von Bedeutung, als es von jemandem stammt, der, selber ein Dichter, nur etwa ein Jahrhundert nach Sem Tob lebte und diesen unter den berühmtesten Dichtern des 14. Jahrhunderts erwähnt. Pilar León Tello macht folgende Angaben: "In seinen proverbios, die er eine 'in der Volkssprache und in Versen verfasste, der Moralphilosophie entlehnte Rede in Glossen' nennt, wagt er es, obgleich Jude, dem König Ratschläge zu erteilen, dies sentenzenreich, mal in Form von Sprichwörtern und volkstümlichen, sich bisweilen auch widersprechenden Redewendungen, mal in Form von Anleitungen zum guten Handeln und Miteinander unter den Menschen. Daneben verfasst er ein Werk der Kabbalistik, Sefer ha-Peer, dessen Manuskript sich im Vatikan befindet, sowie zwei religiöse Gedichte, ein Vidduy [Sündenbekenntnis] und eine Baqqasa [Bittgebet] ; und aus dem Arabischen übersetzt er die liturgische Abhandlung Mitzvot Zemaniyot von Israel ben Israel" (1967: 1415). Eine spanische Ubersetzung des hebräischen Textes des "Disputs zwischen der Schreibfeder und der Schere" erschien 1969 unter dem Verfassernamen "Sem Tob Ardutiel, Don Santo de Carrion".10 Doch ist zu bedenken, dass die Zuschreibung dieses Werks an unseren Sem Tob de Carrion nur dann als gesichert gelten kann, wenn die Frage seiner Identität mit Sem Tob Ardutiel geklärt ist.
8. Einer der Autoren, die Sem Tob als Verfasser aller hier genannten Texte annehmen, ist der gleichermaßen aus Carrion gebürtige Historiker Martín Ramírez de Helguera (1993; •1896). 9. Dieser Brief des Marqués de Santillana, einer Sammlung seiner Werke als Vorwort vorangestellt, gilt als erstes Traktat über die spanische Poesie. 10. Ubersetzt und herausgegeben von Fernando Díaz Esteban (1969). Der Text des Disputs ist auch in der von Agustín García Calvo unter dem Titel Sermón de Glosas de Sabios y otras Rimas besorgten Werkausgabe (2000) enthalten; eine englische Übersetzung, zusammen mit einer Analyse des Gesamtwerks, publizierte Clark Colahan (1979).
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D A S B U C H : PROVERBIOS
Proverbios morales (Moralphilosophische Sprüche), Consejos y documentos al rey don Pedro (Dem König Don Pedro gewidmete Lehren und Ratschläge), Sermón de glosas de sabios (Rede und Glossen der Weisen) und Glosas de sabiduría (Glossen zur Weisheit) 11 : dies sind nur einige der Titel, unter denen das Werk bekannt ist. Proverbios morales ist der am häufigsten zitierte Titel; doch könnte er auch durch jeden der drei anderen ersetzt werden, da wir nicht wissen, welchen Titel der Autor selbst seinem Werk gegeben hat. Etwas merkwürdig erscheint, mit "Proverbios morales" ein Werk zu betiteln, in dem neben Fragen der Moral auch Fragen der Theodizee, Anthropologie, politischen Philosophie, Soziologie und Ästhetik abgehandelt werden. Daher haben wir uns für den einfachen Titel Proverbios entschieden — zum einen, weil er auf den geläufigsten Titel verweist, zum anderen, weil er dem Inhalt am ehesten entspricht. 12 Beim Namen des Autors haben wir statt des spanischen "Santob" den jüdischen "Sem Tob" gewählt auch wenn es stringenter wäre, den Namen zu wählen, den er selbst in seinem Werk angibt, wo es in der ersten Strophe heißt: Edler und erhabener König, hört diese Rede, die an Euch richtet don Santo, Jude aus Carrion.13 Der Text, der aus 686 Strophen zu je vier Zeilen besteht, ist in siebensilbigen Versen verfasse14, womit der Autor die Tradition der ersten griechischen Philoso-
11. Möglicherweise sind die Proverbios oder Glosas de sabiduría, wie einige Kritiker vermuten, Glossen zu einem anderen, heute verschollenen Werk (was allerdings nicht bedeutet, dass sie nicht als unabhängige Aphorismen gelesen werden können). 12. Gemäß dem Wörterbuch der Real Academia Española ist ein proverbio eine "sentencia" (Sinnspruch), ein "adagio" (Spruch) oder ein "refrán" (Sprichwort). Möglich wäre auch, den Titel Aforismos zu wählen, denn Aphorismen sind (ebenfalls gemäß dem Wörterbuch der Real Academia Española) kurze Sentenzen dogmatischen Inhalts. Da Aphorismen aber in der Regel als voneinander unabhängige Sentenzen oder Sinnsprüche verfasst werden, erscheint der Begriff für das Werk Sem Tobs wenig geeignet. 13. "Widmung an den König Don Pedro" (V. 1-4); Hervorhebung nicht im Original. 14. Diese siebensilbige Zeile entspricht dem Halbvers eines Alexandriners, der in der spanischen Dichtung (im Gegensatz zur deutschen und französischen Dichtung) aus 14 Silben besteht. In einigen Ausgaben, etwa der Cátedra-Ausgabe (1998a), wird dies berücksichtigt, so dass die Strophen hier als zwei Zeilen gesetzt sind.
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Teil 1
phen fortführt, die ihr Denken gleichermaßen in eine ästhetisch elaborierte Form und in Verse fassten. Kennzeichnend ist des Weiteren die überaus bildhafte Sprache ebenso wie der Rekurs auf volkstümliche Redewendungen und Sprichwörter. Wie die Autoren des Diccionario Enciclopédico Hispano-Americano anmerken, "ist die Intention des Werks, mittels lehrreicher moralischer Ratschläge den König, die hochstehenden Persönlichkeiten und das Volk an ihre jeweiligen Pflichten zu erinnern". Und hinsichtlich der didaktischen wie literarischen Bedeutung der Proverbios heißt es weiter: "In der ganzen Sammlung finden sich in hervorragender Weise gesunde Prinzipien der Moralphilosophie, entwickelt in reichhaltigen und didaktisch vorzüglich aufbereiteten Maximen und Sentenzen, die das Talent eines wahren Dichters verraten, denn in die Proverbios eingeflochten entdeckt man in großer Zahl humorvolle und pittoreske Bilder und Vergleiche, leicht und zwanglos in gefällige und ingeniöse Verse gefasst" (Bd. 18, S. 973). Hinsichtlich der Bedeutung Sem Tobs für die spanische Philosophiegeschichte schreibt Pilar León Tello: "Auch in unserer Zeit wurde Sem Tob hoch gerühmt. So erachtet ihn Américo Castro 15 als den bedeutendsten Dichter und Philosphen Kastiliens und führt auf ihn und seine jüdische Herkunft die wichtigsten ideologischen Strömungen im Spanien des 16. Jahrhunderts zurück. Angesichts einer solchermaßen exzessiven Lobpreisung sei jedoch auch auf die Replik von Claudio Sánchez-Albornoz 16 verwiesen, der den Einfluss unseres Rabbi als weniger entscheidend erachtet und das in den Proverbios enhaltene moralphilosophische Denken ebenso auf das geistige Klima im Spanien jener Zeit zurückfuhrt wie auf die jüdische Herkunft des Autors" (1967: 15).
D I E ORIGINALE
Insbesondere zwei Handschriften sind zu nennen: die der Nationalbibliothek in Madrid und die der Bibliothek des Escorial, welche am besten und am vollständigsten erhalten ist. 17 Das Manuskript des Escorial trägt - in einer moderner anmutenden Handschrift - den Titel Consejos y documentos al Rey D. Pedro, wäh-
15. In: La realidad histórica de España (México 1954, S. 525-533). 16. In: España, un enigma histórico (Buenos Aires 1956, Bd. I, S. 5 3 5 - 5 4 6 und 549-558). 17. Unter den ersten gedruckten Fassungen basiert diejenige, die im Anhang der History of
Spanish Literature von George Ticknor (1849; 2 1854) enthalten ist, auf der Handschrift der Madrider Nationalbibliothek; die von Florencio Janer in Band LV1I (Poetas castellanos anteriores
al siglo XV) der "Biblioteca de Autores Españoles" (1864/1952)) besorgten Ausgabe bringt einen Vergleich dieser beiden einzigen im 19. Jahrhundert bekannten Manuskripte.
Text und Kontext
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rend der Marqués de Santillana den Titel Proverbios morales nennt. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren nur diese beiden Handschriften bekannt; heute verfugen wir dagegen über insgesamt fünf Fassungen, die untereinander geringfügige Abweichungen aufweisen. Zur Unterscheidung der verschiedenen Handschriften wurden sie folgendermaßen gekennzeichnet 18 : " C " bezeichnet die in der Universität von Cambridge befindliche Handschrift, die in hebräischen Buchstaben abgefasst ist und auf den Anfang des 15. Jahrhunderts datiert wird; sie liefert die älteste und trotz einiger Lücken am sorgfältigsten kopierte Fassung. " M " bezeichnet die Handschrift der Nationalbibliothek in Madrid, die viele, vom Kopisten häufig als Korrekturen eingefügte, Irrtümer aufweist; sie enthält ein Vorwort und stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. " E " steht für das Manuskript der Bibliothek des Escorial, in dem mehrere Strophen fehlen; es weist die Handschrift mehrerer Kopisten auf und ist die modernste, vermutlich aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts stammende Fassung. Mit " N " wurde die aus der Privatbibliothek von Antonio Rodriguez Monino stammende Handschrift gekennzeichnet; sie entstand in der ersten Hälfte oder um die Mitte des 15. Jahrhunderts. " C U " verweist auf die 1976 im Archiv der Diözese Cuenca aufgefundene Handschrift; der Text befand sich unter Urkunden der Inquisition und war Gegenstand eines Verfahrens, in dem es darum ging zu beweisen, dass der Angeklagte, der das Werk gelesen hatte, nicht der Ketzerei schuldig zu sprechen war.
PHILOSOPHEN UND PHILOSOPHISCHE STRÖMUNGEN DER Z E I T
Im Gebiet des heutigen Spanien lebte zur Zeit des Sem Tob auch ein arabischer Philosoph mit Namen Ibn Khaldun (*1332 in Tunis, 1 1 4 0 6 in Kairo). Er lebte zunächst in Sevilla, floh dann angesichts der christlichen Rückeroberungen nach Nordafrika, kehrte aber später ins arabische Spanien, nach Granada, zurück, von wo aus ihn der Wesir 1364 als Botschafter an den H o f des Königs Pedro I. von Kastilien entsandte. Es ist anzunehmen, dass Sem Tob ihn kannte, wenn nicht persönlich, dann zumindest vom Hörensagen oder durch seine Schriften. Grundlegend für das Denken des Ibn Khaldun ist seine "Universalgeschichte", in deren Einleitung eine Philosophie oder Soziologie der Geschichte entwickelt wird. Hier reflektiert der Verfasser über die Kultur, wie sie sich über den Erdball verbreitete, und analysiert die geographischen, klimatischen und er-
18. Vgl. hierzu die Einführungen zu den verschiedenen Ausgaben (1974, 1985, 1998a).
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Teil 1
nahrungsbedingten Einflüsse auf das Denken, die Kunst und die Moral, womit er den Deterministen der Moderne um einige Jahrhunderte voraus war. Obwohl manche Autoren den Einfluss von Ramon Llull auf die Denker und Gelehrten jener Zeit hervorheben, scheint dies bei Sem Tob nicht so sehr der Fall gewesen zu sein. Die spanisch-jüdische Philosophie 19 entstand im Umfeld der jüdischen Gemeinden, die sich nach der Zerstörung Jerusalems durch den römischen Kaiser Titus im Jahr 70 n. Chr. und der Vertreibung der Juden aus Palästina unter Hadrian 135 n. Chr. in der Diaspora auf der Iberischen Halbinsel herausgebildet hatten. Die Anwesenheit der Juden auf der Halbinsel wurde von den Römern wie von den Westgoten, auch wenn diese sie schließlich verfolgten, im Prinzip geduldet. Unter arabischer Herrschaft verbesserte sich ihre Lage erheblich, und es wurde ihnen in vielen Städten gestattet, jüdische Schulen einzurichten. In den christlichen Königreichen wurden die Juden ebenfalls toleriert; hier konnten sie herausragende Positionen besetzen und sich am Fortschritt der Wissenschaften beteiligen, dies insbesondere während des 13. und 14. Jahrhunderts. Ein Beispiel hierfiir ist die berühmte Ubersetzerschule von Toledo, wo Aristoteles und andere Autoren der klassischen Antike wiederentdeckt und die bedeutendsten Werke der christlichen, islamischen und jüdischen Wissenschaften und Philosophie übersetzt wurden, was nicht nur in den spanischen Königreichen, sondern in der gesamten christlichen Welt tiefe Spuren hinterließ. Mit der Zeit jedoch breitete sich ein immer stärker werdender Antisemitismus aus, der bereits im Jahr 1360, also zur Zeit Sem Tobs, mit den Kämpfen zwischen den Halbbrüdern Pedro I. und Enrique II. um den kastilischen Thron bedrohlich war und schließlich zu den blutigen Pogromen des Jahres 1391 führte. Sem Tob wird diese Zeit intensiv miterlebt haben — eine Zeit, in der das einstige Klima der Toleranz und gegenseitigen Bereicherung nach und nach in Diskriminierung und Gewalt entartete, auch wenn er selbst während der Regierungszeit Pedros I. unter dessen Schutz stand. Die jüdische Philosophie entwickelte sich zeitlich nach der arabischen und stand unter deren Einfluss, wodurch sich erklärt, dass sie sich gegenüber dem Aristotelismus eher durch eine generelle neoplatonische Tendenz auszeichnete. Den arabischen Einfluss erkennt man an Ubereinstimmungen hinsichtlich der Themen und Herangehensweise sowie an dem Umstand, dass viele Werke jüdischer Autoren zunächst auf Arabisch verfasst und dann ins Hebräische oder Lateinische übersetzt wurden. Zu den bedeutendsten spanisch-jüdischen Philosophen vor Sem Tob zählen Solomon ibn Gabirol, auch Avencebrol oder Avicebron genannt, der während
19. Vgl. hierzu ausfuhrlicher Abellan 1996.
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der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts lebte und ein Werk verfasste, das in der lateinischen Übersetzung als Fons vitae (Lebensquell) großen Einfluss hatte; Bahya (oder Bechaiji ben Josef) ibn Pakuda, gleichermaßen aus dem 11. Jahrhundert, Autor eines moralphilosophischen Werks, das unter dem Titel Lehrbuch der Herzenspflichten ins Deutsche übertragen wurde; sowie Jehuda Halevi oder ha-Levi aus dem nordspanischen Tudela, der um die Wende des 11. zum 12. Jahrhundert wirkte und eine Apologie des Judentums verfasste. Uber diesen schreibt José Luis Abellän: "Er dachte zutiefst zionistisch, woraus sich die (durch Dokumente nicht bewiesene) Legende ableitete, derzufolge er ins Heilige Land reiste und vor den Toren Jerusalems durch die Hand eines Arabers getötet wurde" (1979: I, 202). Halevis Denken wurzelte in der tiefen Überzeugung, dass die Juden das auserwählte Volk seien, und stützte sich mehr auf den Glauben als auf eine rationale Argumentation; wie Martin de Riquer vermerkt: "Die Gedichte Jehuda Halevis sind Zeugnis seiner inbrünstigen Religiosität, seiner aufrichtigen messianischen Hoffnungen und des Beharrens auf der Vorstellung von Israel als seiner Heimat" (1984: III, 44). Der berühmteste und interessanteste unter den spanischen Juden war zweifellos Maimonides (Moses ben Maimon; *1135 in Cordoba, t i 2 0 4 in Kairo), der, nachdem er in Cordoba eine umfassende Erziehung genossen hatte, nach der Invasion der einen intoleranten Islam vertretenden Almohaden fliehen musste und zunächst in Fez, schließlich in Alexandria lebte, wo er eine Philosophenschule gründete und seine wichtigsten Werke auf Arabisch schrieb. Er war als Arzt ebenso berühmt wie als Theologe; sein philosophisches Hauptwerk ist "Führer der Schwankenden", nach dem Urteil Abelläns (1979, Bd. I) so etwas wie eine Summa theologica des jüdischen Denkens, da hier versucht wird, die biblischen Schriften mit der Philosophie zu versöhnen. In seiner Vorstellung von Gott vertritt Maimonides so etwas wie eine negative Theologie: Gott kann nur in Beziehung zur Schöpfung und durch das begriffen werden, was er nicht ist, womit Maimonides einen gewissen Agnostizismus unter Beweis stellt. Für ihn ist das Ziel des Menschen die Vereinigung mit Gott, die der Weise mit Hilfe der Philosophie erreichen kann, auch wenn ihm dies auf nur unvollständige Weise - am ehesten über die Ekstase und besonders im Moment des Todes — gelingt. Denn den Weisen ist ein Leben nach dem Tod an der Seite Gottes vorbehalten, während die Seelen der gemeinen Menschen in eine Art universelles Bewusstsein eingehen. Nach dem Tod des Maimonides radikalisierten sich die Positionen der zwei seit jeher im Judentum bestehenden Fraktionen: der Progressiven oder Rationalisten und der Traditionalisten oder Kabbalisten, welche sich eng an die Texte hielten und einem blinden Glauben folgten. Wie Yitzhak Baer feststellt, "ver-
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senkten sich die Kabbalisten nicht nur in ihre Meditationen und immanenten Reflexionen; seit Beginn des 13. Jahrhunderts griffen sie in den erbitterten Kampf gegen die herrschende Klasse der Höflinge ein und beteiligten sich an den Bemühungen um eine Reform des religiösen und gesellschaftlichen Lebens" (1998: 283). Die beiden genannten Strömungen erreichten Sem Tob in bereits radikalisierter Form, und manche Kritiker vertreten die Ansicht, dass er trotz seines rationalistischen Ansatzes zu den Kabbalisten zu zählen sei — dies jedoch zu Unrecht, denn er steht eher auf Seiten der Rationalisten oder Progressiven seiner Zeit, auch wenn sich sein Denken von dem der nach Descartes, Spinoza oder Leibniz in Erscheinung tretenden rationalistischen Philosophen grundsätzlich unterscheidet. Wie José Luis Abellán zu Recht hervorhebt, "war der jüdische Einfluss in den christlichen Königreichen besonders im 13. und 14. Jahrhundert sehr stark" (1979: I, 197). Im darauffolgenden Jahrhundert verschärften sich aber die Konflikte zwischen Christen, Mauren und Juden, und diejenigen, die an ihrem Glauben festhielten, gerieten stark unter Druck. Nach und nach wurden den Juden Freiheiten genommen, bis sie 1412 per Gesetz zwangsweise in Gettos oder Judenvierteln angesiedelt wurden. Der von staatlicher Seite geförderte Antisemitismus führte Jahre später zu den Pogromen in Toledo (1449 und 1467) und Sevilla (1481), bis die Juden schließlich 1492 — mehr aus wirtschaflichen und politischen denn aus religiösen Gründen - aus Spanien vertrieben wurden.
G R U N D Z Ü G E DER PHILOSOPHIE DES SEM T O B
Die Sprache, in die Sem Tob sein Denken fasst, ebenso wie seine Methode und die Art und Weise, wie er die Welt, die er zur Darstellung bringen will, betrachtet, zeugen von einer überraschenden Modernität. Er meidet die übliche Herangehensweise der Scholastiker, als würde er ihr misstrauen, und entwickelt ein zyklisches Denken, indem er ein und denselben Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Diese Vorgehensweise mag planlos erscheinen, ist aber dem Gegenstand seiner Betrachtungen angemessen: eine Welt, die sich als höchst komplex erweist und der er sich nicht als Dogmatiker, sondern als Dialektiker nähert. Sein philosophisches Denken kleidet er nicht in Syllogismen und die Form eines Traktats, sondern in Verse und Strophen, unter Rekurs auf Sentenzen oder Aphorismen und unter Vermeidung jeglicher Systematisierung - eine Systematisierung, die seit Aufkommen des modernen Rationalismus von nicht wenigen Autoren versucht wurde, die aber heute angesichts der Multidimensio-
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nalität der Welt, die wir nur in Fragmenten erfassen, ohnehin nicht mehr für möglich gehalten wird. So ist es kein Zufall, dass gegenwärtig die Metapher und ihre Verdichtung im Aphorismus als privilegierte Ausdrucksmittel gelten, wenn es darum geht, die Grundlagen für eine Philosophie des 21. Jahrhunderts zu schaffen. Andererseits verweisen die von Sem Tob verwendeten sprachlichen Ausdrucksmittel auf die Tradition der frühen griechischen Philosophen, die ihr Denken gleichermaßen in Versen ausdrückten, ohne zwischen Philosophie und Poesie oder zwischen Kunst und Wissenschaft zu unterscheiden. Grundlegend ist für Sem Tob die Skepsis, ein kritischer Zweifel hinsichtlich der Möglichkeiten der Erkenntnis, dem wir auch in seiner Argumentationsweise begegnen, welche bisweilen widersprüchlich erscheint, so als würde er dem Wort als Träger von Wissen jedwede Fähigkeit absprechen, während er andererseits auf dessen Macht der Offenbarung vertraut. Man könnte sagen, dass sein Zweifel fast Methode hat — ein Skeptizismus, der trotz allem nach der Wahrheit strebt und der angesichts der Unmöglichkeit, zur Gewissheit zu gelangen, nach Fixpunkten sucht, die Halt geben können. Auf diese Weise entsteht eine Philosophie, die dem Prinzip der Instabilität verpflichtet ist, ganz im Einklang mit der heutigen postnietzscheanischen Sichtweise der Postmoderne. Im Gegensatz zu den in seiner Zeit vorherrschenden Strömungen ist das Denken Sem Tobs nicht rein intellektualistisch, sondern auf den Willen und das Handeln des Subjekts ausgerichtet. In dessen spannungsreicher Beziehung zur Wirklichkeit liegt fiir ihn der Schlüssel zur Erkenntnis, wodurch er wiederum dem westlichen Denken um Jahrhunderte voraus ist. Indem er gleich Heraklit vom Grundsatz des Wandels ausgeht — Wandel im subjektiven Erleben ebenso wie im Bereich der Naturphänomene und der Gesellschaft - , muss er sein Denken mit einer Realität in Einklang bringen, in welcher der Widerspruch eine größere Rolle spielt als die Harmonie. Gegensätze sind für die Welt essentiell, und sie brauchen einander, um jeder für sich zu existieren; die Dialektik macht deutlich, wie außer in Gott in allen endlichen Wesen die Verneinung schon in der Bejahung enthalten ist. Gegensätze sind notwendig, als wären sie Naturgesetze, wobei wiederum die Idee des Naturgesetzes an sich in Frage zu stellen ist. In jedem Menschen und in jedem Ding sind Gut und Böse enthalten, denn sie sind nichts anderes als die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dasselbe Prinzip gilt auch für Sem Tobs Ästhetik, die davon ausgeht, dass es keine Schönheit ohne Hässlichkeit gibt und nichts ohne Makel ist. So könnte man sagen, dass alles auf die eine oder andere Weise miteinander vermischt ist und dieses Magma mal in die eine, mal in die andere Richtung drängt, wobei sich die Extreme gegenseitig verstärken. Daher ist Erkenntnis zwangsläufig nicht gleichbleibend und gesichert,
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sondern veränderlich; nicht genau oder logisch, sondern unvollständig und vorläufig. Die Konsequenz aus dieser Argumentation sind Pluralismus und Toleranz, wodurch der Stringenz dogmatischer Philosophie eine Absage erteilt wird. Doch bei aller Skepsis und Relativierung ist Sem Tob kein Anhänger eines radikalen Relativismus, der Willkür im Denken und Handeln rechtfertigen würde. Auch fiir ihn gibt es Werte an sich, die erstrebenswert sind: etwa die Tugenden des Wissens und der guten Tat. Seine diesbezüglichen Aussagen verweisen bereits auf Kants formale Ethik, die dem Subjekt verpflichtet ist und im Gegensatz zu jeder Art von materialer Ethik steht, die Kataloge guter und schlechter Objekte erstellt. Diese Unmöglichkeit der Katalogisierung erinnert an das, was man im 20. Jahrhundert "Situationsmoral" nennen wird: Handeln gemäß den Erfordernissen der jeweiligen Situation. Es geht weniger darum, in den Dingen an sich Gutes und Böses zu entdecken, sondern darum, das Leben in seiner individuellen Realität und nicht in seiner universalen Idealität zu leben. Sem Tob versucht zu zeigen, was einen guten Menschen ausmacht, unterscheidet diesen aber vom dummen Menschen, der vielleicht gut, aber ohne Verstand ist. Seine Sittenlehre schließt die List nicht aus, denn er propagiert eine praktische Ethik in Ubereinstimmung mit einem gewissen moralischen Utilitarismus. Gut sein zahlt sich aus und bereitet Freude, und die größte unter den Freuden ist die Freundschaft; daher ist (maßvoller) Altruismus nützlich. Ehrgeiz ist für ihn eine Quelle des Bösen; daher rührt die Notwendigkeit, sich bewusst zu machen, dass der Mensch - anders als seine grenzenlose Begierde - begrenzt und endlich ist. Der von Sem Tob vorgeschlagene Weg zielt darauf ab, sich an dem auszurichten, was man besitzt, dies wertzuschätzen und nicht das zu begehren, was man entbehrt. Er erscheint als Philosoph, der in erster Linie daran interessiert ist, für die eigenen Probleme praktische Lösungen zu finden: ein Philosoph der alltäglichen Lebensbewältigung, der dem Denken Nützlichkeit abverlangt und die reine Spekulation verwirft. In einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in welcher der kollektive Wahn zu herrschen scheint, propagiert Sem Tob den Wert der Genügsamkeit gegenüber dem Streben nach Reichtum, das er scharf verurteilt. Die Welt, in der die Menschen sich organisiert haben, erscheint als Ort der Unvernunft; so mögen auch nicht selten die Umstände wirkmächtiger sein als das Individuum selbst. Oder, mit den Worten Rousseaus (in Julie ou La Nouvelle Heloüe)-. Die Menschen sind, was man aus ihnen gemacht hat. Doch Sem Tob flüchtet sich nicht in den bequemen Konformismus mancher Stoiker, sondern entwickelt Ideen, die in seiner Zeit geradezu revolutionär anmuten mochten. So sagt er: In der Gesellschaft muss jeder, der etwas von ihr erwartet, auch etwas für sie tun, und keiner darf
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dem anderen gegenüber Vorteile genießen. Macht muss dem Volke dienen, und die Gerechtigkeit muss sich gegenüber jeder Art von Korruption behaupten. Ein besonderes Anliegen ist ihm sein Plädoyer für die Armen und die Demonstration seiner Verachtung für den Hochmut der Mächtigen. Eines seiner Hauptargumente zielt darauf ab, die Ökonomie als höchstes Gut zu leugnen; und wenn er seiner Kritik am Reichtum das Lob für die Unterstützung der Bedürftigen und die Güterteilung zur Seite stellt, scheint er die Marxsche Theorie des Mehrwerts vorwegzunehmen. Der philosophische Kontext, in dem Sem Tob sein Werk verfasste, ist der Disput zwischen Kabbalisten und Rationalisten (wobei die "Rationalisten" seiner Zeit mit denen des 18. Jahrhunderts nur wenig gemein haben); und ähnlich wie die Rationalisten unter den arabischen Philosophen oder unter den christlichen des 13. Jahrhunderts waren auch die jüdischen Rationalisten der Kritik der Fideisten und Glaubensfanatiker ausgesetzt. Dieser Umstand dient denen als Argument, die meinen, dass Sem Tob zum Christentum konvertierte, denn zu jener Zeit gewährte der christliche Kontext einen größeren Freiraum zur Reflexion. Hier wäre genauer zu untersuchen, ob und in welchem Maße Sem Tob von den Kabbalisten angegriffen wurde oder ob er in einzelnen Punkten mit ihnen übereinstimmte. Außer Zweifel steht, dass die beiden Strömungen einander unversöhnlich gegenüberstanden; wie Yitzhak Baer bemerkt: "Der Religionskrieg gegen den Rationalismus ist eines der herausragendsten und charakteristischsten Merkmale, die in allen Werken der Kabbalisten jener Zeit anzutreffen sind" (1998: 284). Nachmanides (Moses ben Nachman; *1194 in Girona, f l 2 7 0 in Palästina) war einer der einflussreichsten Feinde der Philosophen; wie Yitzhak Baer schreibt: "Nachmanides will 'diejenigen zum Schweigen bringen, die schwach im Glauben und wenig erfahren in der Lehre sind, die sich über die Worte unserer Lehrer hinwegsetzen' [...] und die Ansichten eines Abraham ibn Esra und eines Maimonides widerlegen, die zur Säule und Stütze der aberwitzigen Schlussfolgerungen der damaligen Rationalisten geworden waren. Nachmanides verwahrt sich gegen eine Vorstellung von der Welt, derzufolge das Universum feststehenden und beständigen Gesetzen unterworfen ist, auf die der Weise und der handelnde Mensch sich stützen können. Die gesamte Schöpfung, so versichert er, ist ein Wunder des göttlichen Willens, und in den sichtbaren Wundern muss der Mensch das Wirken der verborgenen Wunder erkennen, 'denn niemand kann von sich sagen, dass er sich zum Gesetz Mose bekennt, wenn er nicht davon ausgeht, dass all unsere Dinge und alles, was mit uns geschieht, Wunder sind und nicht etwas, das sich Naturgesetzen verdankt'" (1998: 284-285).
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Am wahrscheinlichsten ist, dass sich Sem Tob als Autor der Proverbios und als Höfling entschlossen auf die Seite der Rationalisten schlug, ohne selbst in vollem Umfang einer zu sein. Doch auch wenn er sich mit manchen Aspekten des kabbalistischen Gedankenguts identifizieren mochte, hielten ihn die Fanatiker der jüdischen Glaubenslehre für einen Verräter: "Jeder national-religiöse Verrat, jede Form der Hinwendung zu einer heidnischen Vorstellung vom Leben und dem philosophischen Rationalismus, jede Art der Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit gegenüber denen, die am Hof der Könige diesen Dienste erwiesen, und besonders gegenüber denen, die mit christlichen oder ismaelitischen Frauen sexuellen Kontakt hatten, all dies hielt man für eine ungeheuerliche Sünde, durch die sich der Jude, der eine solche beging, von der heiligen Saat ausschloss, um sich Satan zu überantworten" (Baer 1998: 285). Die Gesamtheit seiner philosophischen Ideen mochte durchaus unterschiedlich aufgefasst werden, wie Sánchez-Albornoz betont: "Castro meint, die Lehre des Sem Tob müsse in Kastilien sehr fremd geklungen haben. Ja und Nein. In den Proverbios finden sich Gedanken und eine Geisteshaltung, die den Christen aus dem Mund oder der Feder eines Juden vielleicht nicht überraschen mochten, die aber auf jeden Fall mit ihrem traditionellen Empfinden kollidieren mussten" (1956: I, 544). Forscht man nach konkreten Spuren, die das Werk des Sem Tob hinterlassen hat, so ist kaum etwas zu finden; und hinsichtlich seiner Bedeutung für die Geschichte der spanischen Philosophie gehen die Meinungen der modernen Forscher auseinander. Während Américo Castro hervorhebt, dass "die Verse Santobs der einzige vor dem 15. Jahrhundert verfasste Text sind, in dem philosophische Themen angesprochen werden" (1954: 528), widerspricht Sánchez-Albornoz denen, die ihm irgendeine größere Bedeutung für die Geschichte der spanischen Philosophie beimessen wollen. Hierfür spricht die Tatsache, dass die Proverbios erst während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in modernen Ausgaben verbreitet wurden. Doch ungeachtet der Frage nach der historischen Bedeutung Sem Tobs steht seine Bedeutung für uns heute außer Frage - angesichts der überraschenden Modernität seines philosophischen Denkens und insbesondere seines Relativismus, der von der Kritik hervorgehoben wird.20
20. Vgl. hierzu etwa Pienda/Colahan (1994: 46). Hinweise auf die philosophischen Quellen Sem Tobs liefern des Weiteren neben den Einleitungen der modernen Textausgaben die Arbeiten von Joset (1973, 1980).
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C A R R I Ö N UND DIE J U D E N IN KASTILIEN ZUR Z E I T DES S E M T O B
In den Jahren vor der Geburt Sem Tobs war das Städtchen Carriön Schauplatz der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen um die Vormundschaft des noch minderjährigen Königs Alfonso XI. (1311-1350), welche die Mutter des Königs veranlassten, sich zeitweise mit ihrem Hofstaat in Carriön niederzulassen und die Stadt zu befestigen, um von hier aus den Anspruch auf die Regierungsgewalt im Königreich Kastilien-Leon durchzusetzen. In den Jahren 1315 und 1317 wurden hier die Cortes (Ständeversammlung) abgehalten, und als königliche Residenz erhielt die Stadt verschiedene Privilegien, auch wenn Alfonso XI. nach seiner Volljährigkeit nie wieder nach Carriön zurückkehren sollte. Als dieser 1350 starb, folgte ihm Pedro I. (1334—1369) auf den Thron; und unter ihm fielen, wie Ramirez de Helguera (1993: 72ff.) dokumentiert, viele der Grundherren von Carriön in Ungnade. Des Verrats oder der politischen Intrige bezichtigt, verloren sie ihren gesamten Besitz, der an die Krone fiel oder zerstört wurde mit der Folge, dass ein Großteil der Bevölkerung ihre Existenzgrundlage verlor und sich gezwungen sah, den Ort zu verlassen. Die königliche Gunst zurückzugewinnen, gelang unter dem Nachfolger Pedros I., Enrique II. (1334-1379) aus dem Hause Trastamara, der 1366 Carriön zur Grafschaft erhob. Doch die Abwanderung der Menschen war nicht aufzuhalten, so dass bis 1390 drei Stadtviertel komplett verwaisten. Die ersten Juden waren in der Zeit der Invasion der Goten im 3. und 4. Jahrhundert nach Spanien gekommen. Im Verlauf der Jahrhunderte konzentrierten sie sich in den größeren Städten und widmeten sich dem Handel sowie dem Handwerk, bis den Christen der Umgang mit Juden verboten wurde und diese nur noch in abgelegenen Stadtvierteln wohnen durften. Darüber hinaus wurden ihnen besondere Abgaben abverlangt, wollten sie ihre religiösen Praktiken beibehalten. In Kastilien waren sie zwischen Alfonso X. ("der Weise") und Pedro I. durchaus willkommen. Im Gegensatz zu den dort lebenden Mauren, die kaum in die lokale Gesellschaft integriert waren, betrachteten sie sich als Untertanen des Königs, dem sie Abgaben und Steuern zahlten und der ihnen im Gegenzug Schutz gewährte. In Carriön lebte während des 12. und 13. Jahrhunderts eine zahlenmäßig große jüdische Gemeinde, die zum Zeitpunkt der Thronbesteigung Pedros I. bereits auf eine lange Tradition zurückblicken konnte. Das Zusammenleben von Christen und Juden verlief jedoch nicht immer ohne Konflikte. Wie Pilar Leon Tello ausfuhrt, wurden 1313 während der Cortes in Palencia Maßnahmen beschlossen, die deutlich machen, "wie sehr in Kastilien das Miteinander der beiden
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Rassen zum Problem wurde" (1967: 13). So wurde erneut und mit Nachdruck darauf hingewirkt, dass die Juden von den Christen abgesondert lebten; und der königlichen Familie wurde untersagt, weiterhin Juden mit dem Eintreiben von Steuern zu betrauen. Dennoch genossen die Juden in Kastilien unter Alfonso XI. eine Prosperität, die in jener Zeit in jedem anderen europäischen Land fiir sie undenkbar gewesen wäre. Hierzu schreibt Yitzhak Baer in seiner Geschichte der Juden im christlichen Spanien: "Mit dem Jahr 1322, in dem Alfonso XI., der 14 Jahre alt war, die Regierungsgeschäfte übernahm, wuchs erneut der jüdische Einfluss am Hof. Auf den Rat des Infanten Don Felipe hin berief er in das Amt des obersten Steuereinnehmers Yosef Halevi ben Efraim ben Ishac ben Sabbat, unter den Christen aufgrund seines Geburtsortes als Don Yu^af de Ecija bekannt. Dieser vornehme Jude gehörte zusammen mit zwei christlichen Günstlingen zum Kronrat des Monarchen; und ein zeitgenössisches jüdisches Dokument berichtet von ihm Folgendes: 'Der Herr bewog ihn, ein Amt am königlichen Hof anzutreten und die Steuern einzuziehen. Alle seine Aufgaben erledigte er wie Joseph (d.h. der biblische Joseph) von Anfang bis Ende sehr gut. Er war intelligent, verstand etwas von Musik, war von sehr angenehmem Äußeren, und Gott war auf seiner Seite. Als der König sah, dass er redlich und tüchtig war, setzte er ihn an die Spitze seines Reiches. Keiner war im Königreich Kastilien mächtiger als er; er war der Zweitmächtigste nach dem König und der Mächtigste unter den Juden. In seinen Diensten hatte Yosef Adlige, die an seinem Tisch aßen, er besaß Kutsche und Pferde, und 50 Männer bahnten ihm den Weg.' [...] Offenbar kehrten fiir die Juden die guten Zeiten der ersten Regierungsjahre von Alfonso X. zurück. Doch auch die Intrigen und Rivalitäten unter den jüdischen und christlichen Höflingen kehrten zurück. Der Eintritt des jüdischen Günstlings von Don Felipe in den Dienst des Königs erregte den Hass der anderen Infanten, die sich zurückgesetzt fühlten" (1998: 365). Doch nicht nur die Infanten waren voller Missgunst gegenüber einem Juden, der nach dem König und noch vor dem alten und neuen Adel das höchste Amt im Staat innehatte, sondern auch viele Christen im einfachen Volk, denn sie sahen, wie Schlüsselpositionen von Juden besetzt wurden, die sie als mächtige Interessengruppe wahrnahmen: als ein Machtapparat in der Hand von Leuten, die einer anderen Rasse und einer anderen Religion angehörten. Auch unter den Juden selbst, die sich im Zentrum der Macht befanden, gab es Zwist, Hass und Rivalität. Ausgesprochene Feindschaft gegenüber manchen Juden aber entstand unter den Christen, etwa gegenüber dem jüdischen Arzt und Astronom Samuel ibn Wakar aus Toledo, der 1330 die Münze pachtete. Wie Baer berichtet, "bewirkte die Pacht von Don Semuel eine Steigerung der königlichen Einnahmen,
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doch in der christlichen Bevölkerung beschuldigte man ihn, durch das Prägen nicht vollwichtiger Münzen die Waren verteuert zu haben" (1998: 366). Weitaus besorgniserregender aber war die unsichere Lage der Juden in den benachbarten Königreichen, besonders in Navarra. Sem Tob hatte Kenntnis von den dortigen Pogromen, denen in mehreren Städten (u.a. in Estella, Tudela, Viana) insgesamt 6.000 Menschen zum Opfer fielen; und wenn man Joel H. Klausner (1965: 786), der sich hier (möglicherweise etwas vorschnell) auf eine Passage der Proverbios stützt, Glauben schenken darf, dann hat Sem Tob den Niedergang des Judentums in Spanien vorhergesehen.21 Den raschen Niedergang des Judentums in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts schildert Pilar León Tello: "Infolge der Kämpfe zwischen dem König Pedro I. und seinem Bruder, Don Enrique, wurden in Kastilien zwischen 1366 und 1368 die jüdischen Gemeinden verwüstet, und sie versanken in bitterer Armut. Samuel Zarza, ein zeitgenössischer Autor aus Palencia, berichtet von der Gewalt gegen die Juden in diesem Landesteil: In den Gemeinden von Aguilar und Dueñas, 'in denen Weise und Gerechte und unter ihnen eine große Zahl Gelehrter lebten', wurden viele getötet; in Paredes de Nava zerstörten die Bewohner wie in Valladolid die Häuser der Juden und verwüsteten ihr Land; und als Palencia, wo Samuel Zarza seinen Bericht niederschrieb, sich auf die Seite von Don Enrique schlug, wurden den Juden, die Anhänger des legitimen Herrschers waren, von Enrique so hohe Steuern auferlegt, dass sie bettelarm wurden. Viele Juden verloren in ihrem Unglück den Glauben, und das Studium der Bücher wurde aufgegeben [...]" (1967: 15-16). Sem Tob erlebte nur den Anfang jener Barbarei, der die Juden zum Opfer fielen; der Tod bewahrte ihn davor, das sehen zu müssen, was wenige Jahre später geschah: "Die Lage der jüdischen Gemeinden verschärfte sich, als sich im Jahr 1391 in ganz Spanien eine ungeheure Feindseligkeit gegen die Juden Bahn brach, angestachelt vom Erzdiakon von Ecija, Ferrán Martínez. Sein Hass auf die Juden war von Juan I. [von Kastilien] und vom Erzbischof von Sevilla, Pedro Gómez Barroso, scharf verurteilt worden, und letzterer hatte ihm untersagt, zu predigen und in Prozessen gegen die Juden auszusagen. Als aber der König starb und der Bischofssitz von Sevilla vakant war, bot sich dem Erzdiakon Gelegenheit, das Volk gegen die Juden aufzuhetzen. Ein erster Anschlag in Sevilla im März kostete den Polizeichef Alvar Pérez de Guzmán und den Grafen von Niebla, die den
21. Die Passage lautet: "Die Wolke verdunkelt die helle und wohltuende Sonne; nicht eines einzigen Tages kann sich der Mensch sicher sein" (V. 2493-2496 in der Ausgabe von Garcia Calvo [1974]).
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Verfolgten zu Hilfe gekommen waren, fast das Leben. Die in den ersten Junitagen entfesselte Gewalt, mit der gemordet, geplündert und Synagogen zerstört wurden, bewirkte schließlich den Untergang der jüdischen Gemeinden von Sevilla, Córdoba und anderen Städten in Andalusien [...]" (León Tello 1967: 17).22 Unter den Juden standen auf der einen Seite diejenigen, die wie die Höflinge und Philosophen gegenüber den Christen offen waren, und auf der anderen Seite die Kabbalisten, die sich mit ihren christenfeindlichen Schriften die Feindschaft der Regierenden zuzogen; wie Baer vermerkt, ganz besonders im christlichen Spanien, wo ihr "Hass auf Edom (die christliche Welt)" unversöhnlich war (1998: 285). Das Zusammenleben unter den Juden gestaltete sich in der Tat als wenig friedlich. So drohten die Fanatiker denen, die nicht bereit waren, den Kontakt zu Mauren oder Christen abzubrechen, mit Exkommunizierung und riefen alle auf, diejenigen, "die mit ismaelitischen oder christlichen Frauen eine fleischliche Beziehung unterhielten", zur Anzeige zu bringen (Baer 1998: 297). Mit der Zeit gewann die Position der Radikalen, die eine strikte Abschottung gegenüber der Gesamtgesellschaft forderten und sich jeder Form des Dialogs verweigerten, an Boden. Es begann die Verfolgung derer, die sich nicht an die strengen Gebote hielten; und die Bestrafung einer Frau, die eine Beziehung zu einem Christen unterhielt, konnte darin bestehen, dass ihr die Nase abgeschnitten wurde (Baer 1998: 361). Für diejenigen, die ein solches Vorgehen befürworteten, musste Sem Tob notwendigerweise zur Zielscheibe von Wut und Zorn werden. Die Lage wurde noch prekärer dadurch, dass einige zum Christentum konvertierte Juden das Judentum als Gefahr darstellten: etwa Abner de Burgos, der seine antijüdische Kampagne mit Argumenten untermauerte, die auf der Kenntnis und Analyse des jüdischen Denkens basierten - dies zu einem Zeitpunkt, da die Monarchie sich festigte und König Alfonso XI. als Held der Reconquista, der Rückeroberung des von den Mauren besetzten Territoriums, gefeiert wurde. "Auf diese Weise", so Yitzhak Baer (aus seiner jüdischen Perspektive), "erhielt der missionarische Feldzug gegen die Juden neuen Schwung, und einer seiner bedeutendsten Wortführer war der berühmteste Apostat des mittelalterlichen Judentums" (1998: 368). Dementsprechend verhehlen jüdische Historiker wie Yitzhak Baer nicht ihre Abneigung gegenüber Abner. Dennoch misst Baer Abners Philosophie große Bedeutung bei (auch wenn er sie für irrig hält) und widmet dessen philosophischen und theologischen Lehren ein eigenes, langes Kapitel. Hier wird auch dargelegt, wie sehr Abner kritisiert und gegeißelt wurde, etwa von seinem
22. Vgl. hierzu Baer (1998: 531 ff.), dereine detaillierte Schilderung der Pogrome von 1391 in Kastilien und Aragón liefert.
Text u n d K o n t e x t
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Schüler Isaac Policar (oder Pulgar), der ihm folgendes schrieb: "Die Klage Gottes richtet sich nicht gegen deine unnützen Gedanken, sondern gegen uns, die wir für deine Seele verantwortlich sind, denn wir haben dich nicht getadelt und dich nicht mit Schmach und Schande überschüttet, als du dich erdreistet hast, öffentlich zu verkünden, dass die materia prima eine Substanz ist und Gestalt besitzt und dass die Leere existiert; dass die Engel leiblich sind, und all die anderen Irrlehren und unsinnigen Dinge, die in dem verworfenen Buch enthalten sind, das du unter dem Titel 'Die neue Philosophie' veröffentlicht hast... Und als du sahst, dass wir deine Dinge nicht beachteten und nicht auf deinen Unsinn antworteten, verloren die Wahrheiten für dich an Wert, und da es dir nicht genügte, nur einige von ihnen anzugreifen, fasstest du den Entschluss, sie alle anzugreifen und sie schließlich gänzlich zu negieren" (Baer 1998: 371) 23 . Warum schließlich ein Jude sich nicht zum Christentum bekehren würde, dafür nennt Abner vor allem die folgenden Gründe: "weil den Apostaten Verleumdung und Feindschaft erwartet; weil sein Abfall vom jüdischen Glauben die Familie entehrt; weil er als Fremder gilt, ohne Verwandte und Freunde; weil seine Frau und seine Kinder ihm möglicherweise nicht folgen und schutzlos wären; weil der Apostat seine Stellung im Judenviertel verliert; weil ihn Armut erwartet, da er seinen Besitz Fremden überantworten muss und ihm in der neuen Religion untersagt ist, sich dem Geldverleih gegen Zinsen zu widmen [...]" (Baer 1998: 372). Die Kontroversen und Spannungen jener Zeit mündeten schließlich, nach zahlreichen Pogromen und unzähligen Zwangsbekehrungen, in die Vertreibung der Juden aus Spanien. Noch heute gibt es Spuren jener Massendeportation und der vielen Tragödien: In der Provinz Burgos gibt es einen Ort mit dem Namen Matajudios, 24
D A S KÖNIGREICH KASTILIEN-LEÖN IM 1 4 . JAHRHUNDERT
Wirtschaftskrisen und Hungersnöte, Pestepidemien und Kriege geißelten ganz Europa; doch gleichzeitig setzte sich mit dem Bau gotischer Kathedralen und Klöster die kulturelle Blüte des 13. Jahrhunderts fort. Alfonso X., "der Weise", hatte in Spanien in den Bereichen Kunst, Architektur und Musik hierfür den Grundstein gelegt, und viele sollten seiner Spur folgen. 1208 wurde in Pa-
23. Klausner ( 1 9 6 5 : 7 8 6 ) argumentiert ähnlich wie Baer und sieht in Abner de Burgos einen fanatischen Widersacher des eigenen Volkes. 24. Zusammengesetzt aus "matar" (töten) und "judios" (Juden).
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lencia die erste Universität Spaniens gegründet; und noch in der Zeit des Sem Tob wurde an der großartigen Kathedrale gebaut. Aufgrund der herausragenden Bedeutung von Palencia für den Jakobsweg stand die Stadt in ständigem Kontakt zu Pilgern aus ganz Europa. In den südlichen Regionen florierte der Mudejarstil, auch wenn die Gotik überwog, die sich zum Flamboyantstil der Spätgotik weiterentwickelte. Die in ihrer Mehrzahl im 12. Jahrhundert gegründeten Ritterorden spielten auch weiterhin eine herausragende Rolle.25 Im Norden Europas kämpfte der Deutsche Orden (oder Deutschritterorden) auf preußischem Boden, im Baltikum und in Russland; und in Spanien kämpfte man weiterhin gegen das Sultanat der Nasriden (Granada) und den letzten maurischen Widerstand. Alfonso XI. konnte Teile des Königreichs Granada, zu dem auch Málaga und Almeria gehörten, erobern, bis er der Pest zum Opfer fiel. Die Auswirkungen der großen Pestepidemie, "Schwarzer Tod" genannt, die sich in nur drei Jahren, von 1347 bis 1350, von Asien über ganz Europa ausbreitete, waren verheerend; so auch in Kastilien, wo sie 1349 wütete: "In einigen Regionen starben drei Viertel der Bevölkerung. Die Dörfer verwaisten und fielen Banden von Plünderern zum Opfer" (Pérez 1999: 80). Diese erste große Epidemie, auf die bis zum 15. Jahrhundert noch weitere folgen sollten, bewirkte eine massive Verfolgung der Juden in den mitteleuropäischen Handelsstädten, die besonders von der Pest betroffen waren. In Europa starb ein Drittel der Bevölkerung, etwa 25 Millionen Menschen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum die Vorstellungswelt der Menschen geprägt war vom Bewusstsein der Absurdität und Vergänglichkeit der Welt - einer Welt, in der das Rad der Fortuna sich unablässig dreht und mit ihm der Mensch steigt und fällt. Hinzu kamen die bürgerkriegsähnlichen Zustände während des Hundertjährigen Krieges (1337-1453), an dem neben England und Frankreich auch Burgund, Flandern, Navarra und Kastilien beteiligt waren. Ausländische Truppen intervenierten schließlich auch in dem Bruderkrieg zwischen Pedro I. und Enrique de Trastámara um den Thron von Kastilien, der zu Gunsten von Enrique entschieden wurde, als dieser 1369 seinen Halbbruder eigenhändig tötete. Das einzige erhaltene Werk, das mit Sicherheit von Sem Tob verfasst wurde, die Proverbios, ist König Pedro I. gewidmet26; und in der Fassung, die in der Bibliothek des Escorial erhalten ist, lautet der Titel sogar "Dem König Don Pedro gewidmete
25. Die bedeutendsten Ritterorden in Spanien waren der Calatravaorden und der Alcántaraorden; einzig der zu Beginn des 12. Jahrhunderts gegründete und in Palencia und Carrion einflussreiche Templerorden wurde 1312 aufgelöst (s. unten). 26. Allerdings vertreten einige Kritiker die Ansicht, Sem Tob habe sein Werk zunächst König Alfonso gewidmet, um es dann bei dessen Tod 1350 umzuwidmen.
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Lehren und Ratschläge". Schon allein aus diesem Grund erscheint es geboten, die Regierungszeit dieses Königs näher zu betrachten — eine Zeit, die ebenso wie die seiner Vorgänger geprägt war von Bürgerkriegen und alltäglicher Gewalt. Verschwörungen und Rebellionen kennzeichneten bereits die Jahrhundertwende, nachdem 1295 der gerade erst zehn Jahre alte Fernando IV. den Thron bestiegen hatte. Auf seinen Feldzügen gegen die Mauren im Süden Spaniens eroberte er Gibraltar und Almeria, während er sich an einer zweiten Front gegen aufständische Adlige im eigenen Reich durchsetzen musste. Als Fernando 1312 starb, war Sem Tob ein junger Mann von etwa 20 Jahren; und es ist zu vermuten, dass er in dieser Zeit der Abenteuer und Legenden die Bekanntschaft so mancher Ritter machte, die auszogen, um im Gefolge irgendeiner Rebellion weit entfernte Burgen zu erobern oder im Geist der Kreuzzüge gegen die Mauren zu kämpfen. Die Auflösung des Templerordens, die Papst Clemens V. (auf Betreiben des französischen Königs) auf dem Konzil von Vienne (1311-1312) verfügt hatte, lieferte zusätzlichen innenpolitischen Zündstoff. Zwar wurden die Ordensmitglieder - anders als in Frankreich, wo viele Würdenträger auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden — von allen Vorwürfen, darunter dem der Ketzerei und der Sodomie, freigesprochen; doch die Güter des Ordens gingen in den Besitz der königlichen Familie und des Johanniterordens über. Auf die Zeitgenossen — insbesondere in und um Carrion, wo sie über zahlreiche Besitztümer verfügten und einen großen gesellschaftlichen und spirituellen Einfluss ausübten — musste ihr plötzlicher Niedergang wie ein Schock wirken; und er bewies einmal mehr, dass nichts, nicht einmal ein so mächtiger Mönchsorden, Bestand hatte und von Dauer war. Beim Tod Fernandos war sein Sohn und Thronerbe Alfonso XI. gerade mal ein Jahr alt. Die Folge war eine Verschärfung der bewaffneten Konflikte unter den Adeligen, die sich im Ringen um die einflussreiche Position des königlichen Erziehers gegenseitig, Burg für Burg, bekriegten. Einige dieser blutigen Zusammenstöße ereigneten sich in Carrion; und es ist anzunehmen, dass Sem Tob sie aus mehr oder minder großer Distanz als Zeitzeuge miterlebte. Sicherheit war folglich ein nicht leicht zu erringendes oder zu bewahrendes Gut, ganz besonders fiir jemanden, der Jude war oder, zum Christentum konvertiert, Jude gewesen war. Pedro I. von Kastilien und León 27 , der aus der Ehe von Alfonso XI. mit M a ria, Tochter des portugiesischen Königs Afonso IV., hervorging, lebte von 1334 bis 1369, dem vermutlichen Todesjahr von Sem Tob. Die zeitgenössischen Chroniken berichten, dass Pedro eine unzureichende Erziehung genoss und vernach-
27. Zur Regierungszeit Pedros I. stütze ich mich im Wesentlichen auf den ihm gewidmeten
Artikel im Diccionario
Enciclopédico
Hispano-Americano,
Bd. 14, S. 1151-1153.
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lässigt wurde, wohl weil sein Vater sich mehr um seine Mätressen kümmerte als um die Erziehung seines Sohnes. Er wuchs in Sevilla auf und entwickelte sich zu einem ungestümen, zum Jähzorn neigenden jungen Mann. Im Jahr 1 3 5 0 bestieg er mit 16 Jahren den T h r o n und überließ das Regieren zunächst weitgehend dem Portugiesen Joäo Afonso (oder Juan Alfonso) de Albuquerque, der sein Lehrer gewesen war und der ein despotisches Regiment führte. Als Pedro kurz nach der Thronbesteigung schwer erkrankte und eine Genesung unwahrscheinlich schien, zettelten seine Halbbrüder aus den unehelichen Beziehungen seines Vaters einen Aufstand an. Mehrere Fraktionen erhoben Anspruch auf den T h r o n und bekriegten einander im Streit um Pedros Nachfolge; doch der junge König wurde wieder gesund, ohne dass allerdings in der Folgezeit der Disput beigelegt wurde. Im Jahr 1351 zog Pedro mit seiner Mutter von Sevilla nach Burgos. Dort erließ er zahlreiche Gesetze, unter anderem ein generelles Verbot des Betteins sowie die Verpflichtung zur gewerblichen Arbeit, und dekretierte feste Arbeitszeiten und Löhne sowie feste Preise für bestimmte Produkte. Diese Maßnahmen,
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von einer Reform des Justizwesens, sollten dazu beitragen, den Handel sowie die Agrar- und Viehwirtschaft zu fördern; und sie kamen Carrion ebenso wie vielen anderen Städten sehr zugute, denn aufgrund der permanenten Instabilität und bewaffneten Auseinandersetzungen waren arbeitswillige Tagelöhner rar. Pedro bekämpfte die im öffentlichen Leben weithin herrschende — in einer so turbulenten Zeit sicher erklärliche - Sittenlosigkeit und bestrafte Geistliche wie Laien für ihren tatsächlich oder nur vorgeblich unmoralischen Lebenswandel, auch wenn sein eigener alles andere als vorbildlich war. Gleichzeitig erleichterte er die Situation der Juden, indem er ihnen in den abgesonderten Stadtvierteln, in denen sie lebten, eine eigene Gerichtsbarkeit zugestand. Sein Großvater, der portugiesische König Afonso IV., riet Pedro bei einem ihrer Treffen dringend, mit seinen Halbbrüdern Frieden zu schließen, um so den ständigen Revolten und bewaffneten Fehden ein Ende zu setzen. D o c h Pedro bekriegte sie, zunächst in Andalusien, dann in Asturien, wo sein Bruder Enrique sich verschanzt hatte. Mit Enrique versöhnte er sich (vorübergehend), musste aber noch den Widerstand seines Bruders Tello brechen, der sich gleichermaßen gegen ihn erhoben hatte. Aus Gründen der Staatsräson heiratete er Blanche de Bourbon, die er zwei Tage nach ihrem ersten Zusammentreffen verließ; offenbar war die vom französischen König versprochene reichliche Mitgift nicht angekommen. Zu jener Zeit wurde einer hochgestellten Persönlichkeit durchaus zugestanden, sich als Ausgleich für eine aus politischen Gründen geschlossene Ehe mehrere Mätressen zu halten. Doch das eheliche Schlafgemach auf so ostentative Weise zu verlassen, wie Pedro dies tat, war nicht nur vermessen, sondern auch
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politisch unklug. Die Folge war eine Spaltung des Reiches in die Parteigänger seiner Ehefrau und die seiner Favoritin, Maria de Padilla. Es gelang, ihn dazu zu bewegen, fiir zwei Tage zu seiner Ehefrau zurückzukehren; danach sah er sie nie wieder. Er überwarf sich schließlich auch mit seinem Schützling Juan Alfonso de Albuquerque und verwüstete dessen Ländereien, so dass sich dieser gezwungen sah, nach Portugal zu fliehen, wo er auf diverse Halbbrüder des Königs traf, die sich gleichfalls nach Portugal geflüchtet hatten und von dort unablässig gegen den König intrigierten. Obwohl seine legitime Ehefrau Blanche de Bourbon am Leben war, heiratete Pedro erneut, verließ aber schon bald auch seine zweite Gattin, Juana de Castro, woraufhin deren Bruder eine erneute Rebellion anzettelte, um die erlittene Schmach zu rächen. Der öffentliche Skandal um die Lebensführung des Königs trug sicher nicht dazu bei, das Vertrauen seiner Untertanen in die gewiss wenig vorbildhafte Moral der Herrschenden zu stärken - was helfen mag, die stoische und gelegentlich beinah skeptische Haltung zu erklären, die aus manchen Maximen Sem Tobs spricht, wenn es um die Sitten und die Disposition der Menschen im Allgemeinen geht. Die Partei von Pedros legitimer Ehefrau, Blanche de Bourbon, die vom König die Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft forderte, gewann mit der Zeit an Unterstützung, unter anderem durch die Mutter des Königs, mehrere seiner Halbbrüder, einige Infanten von Aragon und Juan Alfonso de Albuquerque (der unter ungeklärten Umständen starb, woraufhin der König unter Verdacht geriet, ihn vergiftet zu haben). Nach zahlreichen Aufständen und mit mancherlei Versprechen, durch die er sich aus einer prekären, der Gefangennahme nicht unähnlichen Situation befreien konnte, gewann Pedro schließlich freie Hand, um die zu töten, die nicht auf seiner Seite standen, und griff - mit der Unterstützung von Juden - die aufständische Stadt Toledo an. Die Tatsache, dass ein bekanntermaßen so sündiger Mensch wie der König, der gegen die eigenen Brüder und sogar gegen die Mutter Krieg führte, unter seinen Soldaten viele Juden zählte, musste auch die Bürger von Carrion überraschen. Aber Pedro hatte den Juden beigestanden, indem er ihnen Abgaben und Steuern erließ, die seine Vorgänger ihnen auferlegt hatten. Auf den Feldzug gegen Toledo folgten Jahre andauernder Kriege und Vergeltungsaktionen, und aus eher nichtigem Anlass brach Pedro einen Krieg gegen das Königreich Aragon vom Zaun. Während sein Bruder Enrique, der Graf von Trastamara und spätere König Enrique II., sich mit dem König von Aragon verbündete, kämpfte dessen Bruder Fernando auf Seiten Pedros: ein Beispiel dafür, so mochten Weise wie Sem Tob es gesehen haben, wie die Herrschenden das Ideal von familiärer Harmonie und Brüderlichkeit mit Füßen traten.
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Pedro setzte sich nicht nur beständig über die Kritik des Papstes hinweg, der ihn dazu bewegen wollte, zu seiner legitimen Ehefrau zurückzukehren; ohne jeden religiösen Skrupel schreckte er nicht einmal davor zurück, die Gruft seiner Vorfahren — von Alfonso X. und der Königin Beatrix — zu plündern, um mit Juwelen aus ihren Kronen seine Kriegszüge zu finanzieren. Auch die kirchlichen Würdenträger wurden Zielscheibe gewalttätiger Aktionen, wobei der König seine Habgier ganz offen zur Schau stellte, wenn er sie beraubte. In seiner Grausamkeit schreckte er auch vor Mord nicht zurück. Viele wurden seine Opfer, und in jener Zeit konnten weder die Großen noch die Kleinen ihres Lebens sicher sein: weder Infanten und deren Mütter oder Frauen noch die Soldaten, die beim Ansturm auf irgendeine Burg ihr Leben ließen. Auch auf den Schutz, den Pedro den Juden gewährte, war wenig Verlass, und er zögerte nicht, in seiner Gier nach angeblich verborgenen Schätzen seinen jüdischen Schatzmeister zu Tode zu foltern. Im Jahr 1360 kam es zu einem neuerlichen Krieg zwischen Pedro und seinem Bruder Enrique, in dessen Verlauf Pedro zahlreiche derer, die nicht auf seiner Seite standen, ermorden ließ. Der Chronist Pedro Lopez de Ayala28 berichtet, dass eines Tages im Feldlager vor Näjera ein Dominikanerpriester zum König kam, um ihm von einem Traum zu erzählen. In diesem Traum sei ihm ein Heiliger erschienen, der gewarnt habe, dass Pedro sich vor seinem Bruder Enrique hüten solle, sonst würde dieser ihn mit eigenen Händen erwürgen. Dem König gefiel diese unheilvolle Warnung nicht, und so ließ er den Priester gleich vor seinen Zelten verbrennen. Kurz darauf gelang ihm, Enrique zu besiegen; doch es gelang ihm nicht, ihn gefangen zu nehmen. Im Jahr darauf folgte ein neuerlicher Krieg mit Aragon, den Pedro aus Furcht vor einem Angriff des maurischen Königs von Granada sehr bald mit einem neuerlichen, allerdings kaum einen dauerhaften Frieden versprechenden Friedensvertrag beendete. Nach dem Tod seiner legitimen Ehefrau Blanche de Bourbon (die, wie manche sagen, von ihrem Gatten vergiftet wurde) und von Maria de Padilla folgte ein Krieg auf den anderen: gegen die Mauren in Granada (deren König Mohammed IV. in Sevilla, wo er sich dem kastilischen König unterwerfen wollte, trotz der Zusicherung des sicheren Geleits von Pedro ermordet wurde), ebenso wie gegen das Königreich Aragon (im Bündnis mit den Königreichen Navarra und Portugal sowie den Mauren von Granada). Im Jahr 1366 gelang es Enrique, mit Unterstützung der Franzosen und des Königs von Aragon seine Pläne durchzusetzen: Bei seinem Einmarsch in Kastilien ließ er sich als Enrique II. zum König von Kastilien und Leon ausrufen. Da-
28. Crönica del rey don Pedro, 11. Jahr, Kap. IX (Lopez de Ayala 1875: 504).
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mit war etwas Ungeheuerliches geschehen: die Inthronisierung eines Bastards durch militärische Gewalt und die Rückendeckung ausländischer Mächte. In nur 25 Tagen unterwarfen sich dem neuen Herrscher nahezu alle Teile des Reiches, darunter auch die Stadt Carrion de los Condes, die unter Pedro extrem gelitten hatte. Dieser flüchtete zunächst nach Portugal, sodann von dort über Galicien auf dem Seeweg nach Frankreich - dies jedoch nicht ohne eine blutige Spur zu hinterlassen, indem er zahlreiche Würdenträger, so auch den Erzbischof von Santiago, ermorden ließ. In Frankreich suchte Pedro die Unterstützung der Engländer, die zu dieser Zeit große Teile des französischen Territoriums besetzt hielten (wir befinden uns mitten im "Hundertjährigen Krieg"); und es gelang ihm, neben dem König von Navarra als Verbündeten Edward, den Prince of Wales, auch der "Schwarze Prinz" genannt, zu gewinnen. 1367 zog Pedro von Bayonne über Roncesvalles nach Kastilien und besiegte die gegnerischen Truppen in Nájera. Sein Bruder, der frisch inthronisierte Enrique II., musste erneut in Aragón Zuflucht suchen, kehrte aber bald mit seinen Truppen nach Kastilien zurück, da der "Schwarze Prinz" - der mittlerweile erkannt hatte, dass Pedro seine territorialen Zusagen nicht einhalten würde — seine Truppen aus dem Kriegsgeschehen zurückzog. In kurzer Zeit gewann Enrique die wichtigsten Städte Kastiliens — Burgos, Palencia, Valladolid, Ávila, Segovia - und besetzte im Verlauf des Jahres 1368 die Hälfte des Königreichs. Pedro verschanzte sich in Andalusien, wo er sich der Unterstützung maurischer Truppen vergewisserte. Nahe Montiel im Süden Kastiliens trafen die Brüder, die beide auf denselben Thron Anspruch erhoben, aufeinander. Die zeitgenössischen Chroniken berichten von der außerordentlichen Tapferkeit der Truppen auf Seiten Pedros, die sich im Wesendichen aus Mauren und Juden zusammensetzten, da dieser unter den Christen kaum noch Unterstützung fand. Dennoch unterlagen sie, und Pedro musste in der Burg von Montiel Zuflucht suchen. Sein Bruder belagerte die Burg; und mit einer List gelang es diesem schließlich, den Rivalen in eine Falle zu locken: Bertrand du Guesclin, der mit Enrique verbündete französische Heerführer, versprach Pedro, ihm zur Flucht zu verhelfen, führte ihn aber direkt in ein Zelt, wo er seinem Bruder gegenüberstand. Es kam zum Kampf zwischen den beiden, der durch die Intervention Du Guesclins zu Gunsten Enriques entschieden wurde. Enrique erdolchte den Bruder, hieb ihm den Kopf ab und beförderte den Torso in öffentlicher Zurschaustellung auf die Zinnen der Burg. Pedro war 35 Jahre alt, als er starb. Von Pedro I. wird überliefert, dass er blond und hübsch war, eine helle Haut hatte und mit andalusischem Akzent sprach; dass er ausdauernd und entschlossen
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war, beharrlich in Kriegsdingen; dass er sich fiir die Falkenjagd begeisterte, mäßig aß und trank und wenig schlief. Er hinterließ mehrere uneheliche Kinder von verschiedenen Frauen; eine seiner Töchter, Isabel, heiratete den Grafen von York. Er förderte die Künste und die Literatur und ließ in Sevilla den Alcázar wieder aufbauen. Die Anwesenheit des "Schwarzen Prinzen" in Kastilien bewirkte, dass die Ritterromane in Mode kamen, und kurze Zeit später wurde der Amadis de Gaula verfasst. In Toledo und vielen anderen Städten stand die jüdische Bevölkerung eindeutig auf Pedros Seite, da er ihr Schutz gewährte und manche Juden dadurch auszeichnete, dass er sie mit wichtigen Posten betraute und ihnen seine Freundschaft anbot. Einer dieser Juden war allem Anschein nach Sem Tob. Seine Zeitgenossen gaben Pedro den Beinamen "der Grausame"; doch die Historiker des 17. und 18. Jahrhunderts nannten ihn "den Gerechten". Die bürgerliche Geschichtsschreibung der Aufklärung und der Romantik würdigte ihn ob seiner Opposition gegen den Hochadel und sah in ihm einen Freund des einfachen Volkes. Seine Grausamkeit wurde verschleiert, indem man ihn zum strengen und unnachgiebigen, jedoch integren Richter stilisierte. Doch von Integrität kann man kaum sprechen angesichts der Gräueltaten, die er beging. Die Literatur war ihm dennoch gewogen, insbesondere die Lyrik und das Theater: etwa in den Stücken El Infanzón de Illescas von Lope de Vega oder El arcediano de San Gil und El zapatero y el rey von José Zorrilla, wo er fast zum Idealbild eines Königs stilisiert wird.
TEIL 2 Die Proverbios morales-. Dialoge mit Sem Tob
W I D M U N G AN D E N K Ö N I G D O N P E D R O
"Wenn die Rose verwelkt und ihre Zeit abgelaufen ist, bleibt der Duft des Rosenwassers, das wertvoller ist als sie selbst." 1 Dieser Aphorismus könnte als Motto des Autors diesem Buch vorangestellt werden: die Idee von der Blume, deren geheimnisvoller Duft als Essenz jene Blätter durchtränkt, auf denen die Geschichte des menschlichen Geistes geschrieben wurde. Auch wenn sich die Verse offensichtlich auf den König Don Pedro beziehen, den Sem Tob als Erben und Vermächtnis des verstorbenen Vaters Alfonso willkommen heißt 2 , mag der Leser, dem jene Zeit fern ist, an Geschöpfe denken, die schön und ihrer Erscheinung nach perfekt sind und die im Tod über sich hinauswachsen; an das Samenkorn, das sich zerstört, um die Frucht wachsen zu lassen; an die bildliche Konkretisierung des Christentums, wo der Erlöser sterben muss, damit er selbst und die gesamte Menschheit aufersteht. Der besondere Vorzug der Metapher besteht in ihrer Fähigkeit, Bedeutungen zu schaffen, die sich nicht unbedingt auf die üblicherweise angenommene Bedeutung — jene, die aufgrund von Konventionen einem sprachlichen Zeichen zugewiesen wird — beschränken und die mit ihrer Suggestiv- und Schöpferkraft ein Eigenleben fuhren. Mit seiner Strategie, philosophische Gedanken zum Ausdruck zu bringen, erweist sich Sem Tob als unser Zeitgenosse, denn es ist kein Zufall, dass gegenwärtig
1. Anm. d. Übers.: Die hier vorgenommene Kapiteleinteilung entspricht der von Ilia Galán, die dieser der Ausgabe von García Calvo aus dem Jahr 2 0 0 0 entlehnte. Die Angabe der Verse bezieht sich hingegen auf die Alianza-Ausgabe von García Calvo (1974; hier V. 17-20); bei der Übersetzung der Zitate ins Deutsche wurden - neben der an García Calvo orientierten, jedoch gelegendich abweichenden neuspanischen Fassung von Ilia Galán - auch das altspanische Original sowie die in der Cátedra-Ausgabe (1998a) enthaltenen Kommentare herangezogen. 2. Zu den zitierten Versen schreibt Klausner: "Santob spoke sentimentally of Alfonso, likening him to a withered rose leaving behind the reddened water as a reminder of him" (1965: 787).
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die Metapher und ihre Verdichtung im Aphorismus als bevorzugte Stilmittel in Anspruch genommen werden, um die Grundlagen der Cyberkultur und der Philosophie einer nahen Zukunft zu schaffen. Der Grund hierfür, so erklären Andoni Alonso und Inaki Arzoz (2002), liegt in einer inhaltlichen Übereinstimmung: dem Mangel an Glaubwürdigkeit der Systeme, dem Niedergang des Rationalismus und einer vorgeblich wissenschaftlichen Philosophie. Dagegen bieten die Metapher und der Aphorismus, auf die auch Autoren wie Ramon Llull, Spinoza, Leibniz oder Wittgenstein zurückgriffen, als wesentliche Eigenschaften Flexibilität und Offenheit. Sie erlauben ein Denken ohne den Umweg über die Systeme, ein freieres und weniger dogmatisches Denken. Hierzu Alonso/Arzoz: "Anders als gemeinhin angenommen, ist der Aphorismus keine mindere Gattung, in der sich Dilettanten mit Geistesblitzen zu produzieren suchen, sondern eine Gattung, die es ermöglicht, hochkomplexe Konzepte begrifflich zu fassen und auszudrücken, bei denen man über andere Gattungen scheitern oder sie auf plumpe Weise verraten würde" (2002: 34-35). Sem Tobs Metapher erinnert an die Vergänglichkeit der Geschöpfe und die Bedeutung der Spur, die sie hinterlassen: was ist und was werden lässt - das Böse zum Zwecke des Guten, auch wenn die Erfüllung vom jeweiligen Standpunkt abhängt, denn nicht jedes Ding bringt im Moment seiner Zerstörung etwas Besseres hervor als es selbst. Sem Tob geht von einer klassischen Tradition aus, in der das Leben nicht allein Triumph ist, wie heute diejenigen meinen, die noch den Utopien der Aufklärung anhängen — Utopien, die sich auf einen vorgeblich immerwährenden, tendenziell hedonistischen Fortschritt berufen (was nicht selten zu existentieller Ernüchterung fuhrt) - , sondern in der das Leben, um ein erfülltes zu sein, sich verzehren muss. Durch die Zerstörung des Alten entsteht das Neue. Die Frage, die sich dann aber stellt, ist zu wissen, was zerstört werden muss und was daraus entstehen kann, worauf viele eine Antwort zu geben versuchten: von den christlichen Mystikern wie San Juan de la Cruz, die sich selbst verneinten und Gott bejahten, über die Stoiker bis hin zu den Buddhisten. Doch die Schwierigkeit besteht darin, genau den Punkt einer angemessenen Negation zu treffen; denn das Leben als solches zu verneinen, wie es der Puritanismus des 19. Jahrhunderts praktizierte, fuhrt offenbar auch zu keinem absolut besseren Leben, sondern nur zu mancherlei Frustrationen und Hysterien. Unsere Natur verlangt offenbar nach einer Verwirklichung ihres Potenzials, einer Umsetzung ihrer Möglichkeiten — der Vervollkommnung der Fähigkeiten, in biblischer Sprache —, wie dies zahlreiche Romantiker (Schiller, Goethe oder Schelling) und später Karl Christian Friedrich Krause sehr wohl erkannten. Denn wenn man gehindert wird, sich auf umfassende und harmonische Weise zu
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entwickeln, bleibt man verstümmelt, wird unser Lebensentwurf zerstört; und wenn dies unmotiviert geschieht und nicht durch eine unausweichliche äußere Macht, erscheint das Glück als eine allzu ferne Illusion - womit wir es mit einem Problem der Ethik zu tun bekommen, denn Gegenstand oder Ziel der Ethik ist nichts anderes als die Suche nach dem individuellen und allgemeinen Glück (was seit Piaton für viele Philosophen gilt, wobei einige es im Diesseits und andere es im Jenseits zu erlangen hofften). In diesem Zusammenhang ist es nicht von Belang, dass die Gesellschaft ihre Mängel, Zurückweisungen oder vitalen Verstümmelungen mit sittlichen Normen oder den unterschiedlichsten Vorurteilen zu verschleiern sucht. Nur wenn die Umstände (Krankheit, Inhaftierung usw.) die Möglichkeiten eines Individuums beschneiden oder die Rose, die es bei seiner Geburt erhielt, äußerlich welken lassen, ist eine Philosophie der Entsagung und der Dornen angemessen. Diese darf jedoch nicht im Negativen verharren, sondern muss es aus einer weisen inneren Haltung heraus zu überwinden suchen: eine Haltung, die, falls die Umstände nicht geändert werden können, die Menschen so annimmt, wie sie sind, und die das Negative, wie Spinoza (ein anderer großer jüdischer Philosoph spanischer Herkunft) sagen würde, sub specie aeternitatis betrachet, so als sähe man das eigene Leben aus der Ferne, wie jemand, der sich in einem Film agieren sieht. Die zentrale Frage ist, was im Leben zu verneinen und was zu bejahen ist; und hier gibt es keine eindeutigen Fährten, sondern nur die Wege, die man ohne exaktes Wissen, allein über das undurchsichtige Experiment der eigenen Erfahrung, unterstützt durch die der anderen, beschreitet. Zu der für ihn wichtigsten Erkenntnis gelangt der Mensch offenbar nicht auf eine berechenbare und eindeutige Weise, sondern eher wie jemand, der, im Nebel umherirrend, seine Wahl trifft.
BEKENNTNIS ODER ERSTER PROLOG
Sem Tob schreibt, "damit alle [...] erkennen mögen, wie groß das Wunder Gottes ist" (29-32). Damit folgt er den vielen klassischen Autoren, die ihre intellektuellen Bemühungen nicht vorrangig in den Dienst ihrer Eitelkeit stellten, um Lob zu ernten, oder die das Denken als spielerischen und vergnüglichen Reiz begriffen, indem sie literarische oder philosophische Werke verfassten, entweder um sich angesichts der eigenen Verwirrung Klarheit zu verschaffen oder um das eigene Chaos als bewundernswerte Ordnung zu präsentieren; dies bisweilen, ohne ernsthaft nach möglichen Wahrheiten zu suchen. Diese offenbaren sich uns auf vielfache Weise auf den Wegen, welche die Erkenntnis und ihr trügerisches Antlitz beschreitet: wie ein Wanderer mit vielen Gesichtern, die gelegentlich Gewissheit verraten, je nachdem, ob Schatten oder Licht, in vielerlei Farbschattierungen, auf sie fällt. Die Vorstellungen von der Funktion, die dem Schriftsteller von der Aufklärung zugeschrieben wurde, sind nicht eindeutig. Sie scheinen auf die Idee des Helden und Propheten oder Visionärs zu verweisen: ein Wesen, das den Mitmenschen etwas Kostbares und für sie Notwendiges vermittelt, ein Wissen um Erlösung; etwas, das - kostbar und nützlich - die Gesellschaft zum Besseren verändert. Sem Tobs Streben ist, dass alle, die ihn umgeben, ob der Wunder, die er beschreibt oder analysiert, staunen und sich ihrer erfreuen, um auf diese Weise Gott zu loben — über eine Philosophie, die wie bei Piaton auf die allerletzte Erkenntnis abzielt: die höchste Wahrheit, die größte Schönheit oder die Liebe, die in der göttlichen Natur gründet, je nach der Vorstellung, der Sichtweise oder dem Glauben eines jeden. Was ihn zum Abfassen seines Werkes bewog, erklärt Sem Tob unter Verweis auf jene, die rastlos den verschiedensten Tätigkeiten nachgehen; die meinen, große Geschäfte abzuwickeln, und das Wichtigste im Leben nicht zu erkennen vermögen, denn das Geäst der alltäglichen Banalitäten, in dem sie sich wie unbeholfene Vögel in einem Dornbusch verfangen, versperrt ihnen die Sicht auf den
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Wald des Lebens. (Vermutlich bezieht sich Sem Tob hier auf Handeltreibende, möglicherweise innerhalb seines Freundeskreises, und auf Höflinge, die damals in derselben Stadt, in der er lebte, im Umfeld des Königs zahlreich anzutreffen waren.) "Der viel beschäftigte Mensch weiß nicht, dass er sich angesichts der Hast in der Welt häufig zum Narren macht" (33-36). Wem ist dies nicht schon mehr als einmal passiert? Wenn man sich abarbeitet und abhetzt, um den von außen an einen herangetragenen Ansprüchen zu genügen, stellt man vielleicht fest, dass ein solcher Einsatz nicht lohnt. Nach außen seinen Geschäften nachgehend, bleibt man innerlich untätig und leer: eine Verschwendung von Energien, denn das Bewusstsein des Subjekts versickert im Nichts. Diese viel beschäftigte Person "weiß nicht, wie die Welt die Elenden behandelt. Die gemeinen Menschen gedeihen und sind stets oben, die ehrbaren Menschen dagegen sind ganz unten und vom ständigen Kampf geschwächt" (37-44). Das Verhältnis zwischen Einsatz und Anerkennung ist weder angemessen noch gerecht, zumindest nicht in der Welt, in der wir leben — trotz der Erfolge, die wir hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung erzielen konnten. Denn die Relation von Verdienst und Tugend ist häufig auf den Kopf gestellt. Marx würde sagen, dass die Herrschenden, um das Volk ausbeuten zu können, von dem leben müssen, was man gemeinhin unter Unrecht versteht. "Hebe den Blick, schau: du wirst sehen, wie tote Dinge auf hoher See und auf den Kronen der Wellen treiben" (45-48): Eine eigenartige Äußerung für jemanden, der unter Höflingen lebte, die sich mit allerlei Geschäften und Transaktionen abmühten, um in die höchsten und einflussreichsten Positionen der damaligen Gesellschaft aufzusteigen. Sem Tobs Perspektive steht in Einklang mit den Evangelien: Was am höchsten erscheint, mag in Wirklichkeit das Niederste sein, gemäß der Erkenntnis Piatons, dass der Schein trügt. Entscheidend ist jedoch, wie die Welt funktioniert, das heißt: Sie hilft denen aufzusteigen, die es am wenigsten wert sind, die am leichtesten zu korrumpieren sind (was schon der griechische Philosoph Trasymachos sagte, den Sem Tob vermutlich nie gelesen hat, und was ganz auf der kritischen Argumentationslinie der Anarchisten und Marxisten liegt, die Jahrhunderte später in Erscheinung treten werden). Wer aufsteigen will, muss sich häufig prostituieren - was zwar nicht immer, wohl aber üblicherweise geschieht; er muss, um sich den Umständen anzupassen, essentielle Wertvorstellungen aufgeben und sich pervertieren lassen, da jemand, der integer bleibt, von .denen da oben nicht anerkannt werden würde. So müssen sich darüber hinaus alle Beteiligten untereinander zum Schweigen verpflichten, denn Stoff für eine Klage gäbe es gegen jeden genug. Dagegen müssen sich die ehrbaren Menschen mit niederen Posten bescheiden, denn ihr unbeirrtes Festhalten an be-
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stimmten Wertvorstellungen, ihre Autonomie — ihre moralische Autonomie, würde Kant sagen — ist den Regierenden lästig, da sie ihnen möglicherweise widersprechen könnten. Es mag überraschen, solche Überlegungen in einem Werk zu finden, das der Autor dem König widmet; allerdings ist davon auszugehen, dass dieser allein aufgrund seiner Geburt den Thron bestieg und nicht, weil er sich anderen beugen musste. Zudem sagt Sem Tob über die ehrbaren Menschen, dass sie erschöpft sind und sich in einem erbärmlichen Zustand befinden, ohne Reichtümer, derer sie sich unangefochten und gefahrlos erfreuen könnten, denn sie fuhren einen unablässigen und verzehrenden Kampf gegen die Umwelt, welche sie mit ihrem Elend zu infizieren sucht. Die Moral in ihrer Vollkommenheit bedeutet Krieg, womit sich eine Mentalität enthüllt, die wie von selbst in einem Landstrich aufkeimte, in dem die Mönchsritter des Templerordens einen Krieg gegen die Unmoral führten. Das sittliche Leben, das nach dem wahren Glück und nicht allein nach Vergnügen strebt, das sich nach dem richtet, was man für die Pflicht hält, gründet sich folglich auf den Kampf, die Agonie; und dieser Kampf kann nicht gewonnen werden, wenn man sich verführen lässt von der Bequemlichkeit oder von wirtschaftlichen und strategischen Interessen und der mechanischen Materialität. Laut Sem Tob sind diejenigen, die oben sind, wie totes Holz, das auf der Krone der Wellen treibt und in alle Richtungen gelenkt wird, da es nirgendwo verankert ist, ohne Fundament und ohne Wurzeln, mit denen es sich ernähren könnte. Um oben zu bleiben, müssen sie häufig ihre Meinung ändern und sich dem fugen, der regiert (und nicht viel anders wird sich Jahrhunderte später Machiavelli äußern): "armselige Menschen", denn ihre Regierung liegt häufig in den Händen der Schlechtesten. Dagegen "liegen die Ladungen an Reichtümern und Edelsteinen der untergegangenen Schiffe versunken auf dem Meeresgrund" (49-52). Der platonische Einfluss - charakteristisch für das jüdische Denken jener Zeit - ist offensichtlich, wenn Sem Tob hervorhebt, dass der Schein trügt und das Wirkliche im Innersten der Menschen verborgen ist. Dort liegen die Schätze, die wir begehren: mehr im Innern als im Äußern, mehr im Geist als im Fleisch, mehr im Unsichtbaren als im Sichtbaren und sinnlich Wahrnehmbaren. Und was besonders erhaben oder mächtig erscheint, ist bisweilen von geringstem Interesse, was Sem Tob über das klassische, aus vielen Mythologien bekannte Motiv der Waage zum Ausdruck bringt, mit der die Tugenden und Laster der Menschen aufgewogen werden: "So senkt sich die volle Waagschale nach unten, während die leere nach oben geht" (53-56). "Der kluge Mann gestattet es sich nicht, sich an seinen guten Taten zu erfreuen, wenn er an seine schlechten Taten denkt" (57-60), denn er richtet sein Augenmerk mehr darauf, wie er das erreichen kann, was ihm fehlt, wie er sich
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vervollkommnen kann; und er ist bemüht, Verfehlungen durch eine große Menge tugendhafter Taten zu tilgen oder auszugleichen. Die orientalische Philosophie tendiert dazu, die Welt statisch zu sehen, in ihrer Tiefendimension, als das Wünschenswerte. Wird der Impuls des Verlangens wie im Buddhismus ausgeschaltet, schwindet auch das eigene Selbst — das, was den Menschen ausmacht, wie wir als Erben der Romantik sagen würden — mit dem Ziel, die ersehnte Erleuchtung und Frieden zu erlangen. Dieses Streben haben uns die Griechen hinterlassen: sei es über die Idee des Helden in der griechischen Tragödie, sei es über den platonischen Idealismus, der uns abverlangt, ein Ziel zu verfolgen, das außerhalb der sinnlich fassbaren Welt liegt. Durch das Christentum wurde dasselbe Streben noch verstärkt, wenn es heißt, dass das Himmelreich mit Gewalt erobert wird, oder wenn man an die Parabel von den anvertrauten Talenten denkt: Lehren, die den Konformismus verurteilen und die dem Westen die Entwicklung bescherten, die er erreicht hat. Denn der westliche Mensch hat sich nicht mit der reinen Natur zufrieden gegeben, sondern war bemüht, auf gesellschaftlicher Ebene im Sinne der Aufklärung und im Namen des Fortschritts ihre Grenzen zu überwinden und sie in allen Bereichen des menschlichen Lebens mit Hilfe von Wissenschaft und Technik zu vervollkommnen, um so alle Möglichkeiten auszuschöpfen und das Glück einzufordern. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts wissen allerdings, dass ein Übermaß an Idealismus gelegentlich genauso das Böse wie das Gute bewirken kann; und wir sehen das ebenso in Cervantes' Roman Don Quijote wie in der historischen Entwicklung des Marxismus, der im Namen einer vorgeblichen Vervollkommnung (gleich der arischen Rasse der Nationalsozialisten) mit Säuberungen und Konzentrationslagern seine Dissidenten ausschaltete. Auf der anderen Seite beklagt man heute als Übel der modernen Gesellschaft den exzessiven Ehrgeiz, die Gier und den Geiz sowie besonders in den großen Städten die ewige Hast und Betriebsamkeit. Laut Sem Tob erreichen wir Perfektion nicht, indem wir Reichtümer anhäufen und beständig in Bewegung sind, sondern indem wir uns nicht zufrieden geben mit dem, was wir sind, um der zu werden, der wir sein können und in unserem tiefsten Innern sein wollen; um unter allen Möglichkeiten, die uns für unsere Entwicklung und für die Beherrschung unserer chaotischen, nicht selten einander widersprechenden Wünsche und Sehnsüchte zur Verfügung stehen, die beste auszuwählen. "In seiner Maßlosigkeit bildet sich der Tor viel ein auf seine guten Taten, ohne sich an die vielen schlechten zu erinnern. Hätte er Verstand, wäre er mit vollem Recht traurig und mit sich wenig zufrieden" (65-72). Sem Tob knüpft an die griechische Tradition an, nach der Maßlosigkeit — im Gegensatz zur rechten
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Mitte, die Aristoteles als Paradigma tugendhaften Handelns propagiert - denjenigen charakterisiert, der dem Laster frönt. Heute haben wir es mit Überbleibseln der romantischen Tradition zu tun, die vom Christentum inspiriert war und die manche Exzesse als etwas Erhabenes begriff": Exzesse, die selbst dann, wenn sie dem Anschein nach verhängnisvolle Folgen haben können, es verdienen, ausgelebt zu werden - etwa Maßlosigkeit in der Liebe, im Heldentum oder in der Tugendhaftigkeit, die zum Martyrium fuhren mag. Im 21. Jahrhundert befinden sich die Werte der Aufklärung und der Romantik in einer eher mittleren Position, in gleichem Abstand von den Extremen, die sich eher als schädlich denn als nutzbringend erwiesen haben, wie etwa der aus dem Affekt der Leidenschaften begangene romantische Selbstmord oder das durch ein übermäßiges Ehrgefühl motivierte tödliche Duell. Und um einen weiteren, uns heute beschäftigenden Aspekt anzusprechen: In den Schulen sind es häufig die weniger fleißigen Schüler, die sich selbst gegenüber am wenigsten kritisch sind und dafür umso heftiger die Lehrer oder äußere Umstände für das eigene Versagen verantwordich machen, während die fleißigen Schüler die selbstkritischsten sind. Genauso begnügt sich der Tor, wie Sem Tob sagt, mit dem, was er in seinem Leben erreicht hat, und vergisst, was er zu tun versäumte oder an schlechten Taten vollbrachte. Wie in der Philosophie des Mittelalters üblich, ist die Sittenlehre Sem Tobs wie die von Thomas von Aquin und Augustinus Jahrhunderte zuvor dem religiösen Denken und einer bestimmten Vorstellung von der Theologie verpflichtet. Daher heißt es bei ihm: "Ich hatte große Furcht, denn ich hatte viele und schwere Sünden begangen, und ich hielt mich schon für tot; doch dann fand ich Trost in einem Gedanken, der mich glücklich machte: 'Du dummer und einfältiger Mensch, es wäre eine Kränkung Gottes, wolltest du das Gewicht deiner Ruchlosigkeit mit dem Gewicht seiner Barmherzigkeit vergleichen"' (73-84). Derlei Betrachtungen mögen heute fiir denjenigen Sinn machen, der den Gott, an den er glaubt, als ausgleichende Kraft begreift: ein Gott, der Gerechtigkeit schafft, indem er die Bösen für ihre Taten bezahlen lässt und die Guten, die unverdient leiden mussten, belohnt. So würde, wie es auch Piaton oder Kant sahen, die Welt, in der Unschuldige so oft Opfer schändlicher Gräueltaten werden, während anderen Gutes zuteil wird, ohne dass sie es verdient hätten, uns weniger absurd und qualvoll erscheinen. Die Vorstellung von einer ausgleichenden Gerechtigkeit in einer anderen Welt verleiht dem Ganzen eine gewisse Harmonie, auch wenn der einzelne Teil unverständlich, ungerecht oder unangemessen erscheint. Verstehen heißt, die Teile zueinander in Beziehung zu setzen und dort Verknüpfungen herzustellen, wo bereits Beziehungen bestehen. Nichts steht isoliert da — außer dem Nichts, das nicht ist und nicht wirklich gedacht werden kann.
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Sem Tob greift damit eine Vorstellung auf, die tief im Christentum wie im Islam verankert ist, was vielleicht für seine mögliche Konversion spricht: die Vorstellung von einem Gott, der grenzenlos barmherzig und gut ist, und weniger die vom grausam strafenden Gott des Alten Testaments. Die Theodizee des Sem Tob deckt sich in Teilen mit den Traditionen der negativen Theologie insofern, als davon ausgegangen wird, dass Gott nicht mit menschlichen Maßen zu messen ist, da er über die Menschen hinausreicht, und seine Dimension jenseits der unseren liegt. So kommt er zu dem Schluss, dass man, um zu leben, auf die Güte Gottes vertrauen muss, auch wenn man sich irren kann, und dass man so das Glück erreicht: "Er setzte dich in die Welt, ihm verdankst du dein Leben. Wie also kann dein Werk das Seine übertreffen? Du vermagst zu sündigen; er vermag zu verzeihen, den Zorn zu verdrängen, Vergehen zu vergessen. So wie der Himmel höher ist als die Erde, so ist auch seine Gnade größer als deine Sünde. Sein Werk entspricht seiner Macht, und deiner Macht entspricht dein Werk: das Werk eines Menschen, der nichts ist und dessen Taten und mühevolles Leben von so kurzer Dauer sind" (85-104). Wie bei so vielen anderen religiösen Autoren ist der Gott Sem Tobs ein Schöpfergott, der nicht allein in einer anderen Dimension ist oder lebt, sondern der sich um seine Schöpfung sorgt und in ihren Fortgang eingreift; dies ganz besonders, als er den Menschen in die Welt setzte, den er dann am Leben erhält, denn alles hängt von ihm ab. Das Tun des Menschen ist begrenzt und vermag nichts auszurichten angesichts der unendlichen Macht Gottes. Für Sem Tob beinhaltet die Religion ihrem Wesen nach keinen Zwang, sie ist auch nicht lebensfeindlich, wie Epikur, Feuerbach, Marx, Bakunin oder Nietzsche kritisierten; für ihn ermutigt sie, zu leben, und hilft, Not und Elend im je individuellen Dasein zu bewältigen. Sie ist nicht da, um das Allerhöchste zu furchten, sondern um auf das Wunder der Transzendenz zu vertrauen und im Bewusstsein des Grenzenlosen innerhalb der Grenzen intensiver zu leben. Das Unendliche wirkt als das, was es ist; und der Mensch handelt als der, der er ist: ein jeder entsprechend seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten, denn niemand vollbringt etwas, was er nicht vollbringen kann. Laut Sem Tob gibt es zwischen Ursache und Wirkung einen logischen Zusammenhang, ein Verhältnis, das zumindest als Metapher dazu dient, die Lage des Menschen zu Gott in Beziehung zu setzen. Im Vergleich zur Unendlichkeit ist der Beitrag des Endlichen, des Menschen, nichts: eine Vorstellung, die später Mystiker wie San Juan de la Cruz, Santa Teresa de Jesús oder Meister Eckhart gleichermaßen entwickeln werden. Für Sem Tob ist das Leben beschwerlich, ein irdisches Jammertal: eine Einstellung gegenüber dem Leben der Sterblichen, die man durchaus pessimistisch nennen kann - und in der Tat war die Epoche, in der er lebte, nicht die beste
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Zeit, die Spanien erlebte. Diese Vorstellung ist nicht notwendigerweise an das Christentum oder das Judentum gebunden, findet sie sich doch bei Philosophen mit unterschiedlichstem Hintergrund (wie etwa auch bei Nietzsche, der daher meinte, dass das Kreuz sich in allem dem Leben entgegenstellt). Wenn es aber schlimmer ist, zu leben als zu sterben, würden wir nicht weiterleben; wenn das Negative gegenüber dem Positiven überwiegt, würde Letzteres aufgehoben und aufhören zu existieren. Möglicherweise überlagert eine solche Vorstellung von Leid und Elend aber nicht unser tatsächliches Leben (das im Normalfall sehr viel besser ist als das jedes anderen animalischen Wesens, das sich unter Mühen Nahrung und Schutz suchen muss), sondern das, was wir in unserer Vorstellungswelt als Ideal entwerfen und fordern. So als wäre unser Maß nicht das, was wir haben, sondern das, was wir bekommen werden — ganz wie Thomas von Aquin sagte, dass wir mit den begrenzten Dingen, die uns die Welt bietet, nicht glücklich sein können, da wir dafür gemacht sind, nach dem Tode mittels des Geistes die Erfüllung zu finden; oder, wie Augustinus sagen würde, weil unser Herz nicht ruht, bis wir bei Gott sind, dem einzigen, der unser unendliches Sehnen und Verlangen zu stillen imstande ist. Und Rousseau sagt dasselbe, mit einer neuen Nuance versehen: "[...] das, was die Geschöpfe vom menschlichen Herzen in Besitz nehmen können, ist so wenig, dass es, wenn man es mit ihnen erfüllt zu haben glaubt, noch ganz leer ist."3 Andererseits hat gerade dieser ständige Vergleich mit dem Ideal, das wir mittels der Vernunft oder der Phantasie und des Willens erahnen können, die Menschheit dazu befähigt, sich zu etwas Besserem zu entwickeln, da sie sich nicht dem Elend, das uns umgibt, fugen mochte und kämpfte, um es zu überwinden. Diejenigen, die das religiös geprägte Mittelalter ausschließlich als eine obskurantistische und Furcht einflößende Epoche begreifen, mag das hier gezeichnete Bild überraschen: ein behutsam und warmherzig gezeichnetes menschliches Bild, das unsere Schwächen benennt und sie mit dem Vertrauen auf einen Gott umhüllt, der uns wie ein gütiger Vater das Leben schenkt. So zeugen auch die Ikonographie und die Architektur der Gotik ebenso wie die damalige Literatur wenig von moralischem Puritanismus und erweisen sich keinesfalls als prüde, zeigen doch in aller Öffentlichkeit die Darstellungen an vielen Kirchenportalen die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens. Das Gewicht unseres Seins oder unserer Leiden ist mit der göttlichen Dimension nicht vergleichbar: "Wie könnte [das Wirken des Menschen] so groß sein wie das des Schöpfers, der diese Welt regiert und bewirkt, dass das Rad des Himmels 3. Julie
oder Die neue Hébise,
5. Teil, 5. Brief, Anm. (Rousseau 1 9 7 8 : 6 1 9 ) .
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und der Sterne sich dreht und niemals stillsteht, und der ihre Zahl kennt und weiß, wann jeder je nach Jahreszeit erscheint und wie sie im Licht der Sonne und des Mondes verblassen? So wie dein Stand ist angesichts seiner Herrlichkeit, so verhält sich deine Sünde zu seiner Barmherzigkeit" ( 1 0 5 - 1 2 0 ) . Gott ist somit kein passives Wesen, das die Welt geschaffen und sie dann sich selbst überlassen hat, sondern er weiß alles und ist der Motor, der alles in Bewegung hält: die Sterne und die Jahreszeiten ebenso wie die Gesetze der Natur, so dass ihr zu folgen im Grunde bedeutet, dem göttlichen Gesetz zu folgen. Das, was Sem Tob Gott nennt, ist die ursprüngliche Energie des Universums - im Sinne des Aristoteles (Gott als der "erste Motor" des Universums) oder des Augustinus (Gott als der große Organisator) - und der unendliche Wille, der die Welt liebt. "Es wäre befremdlich und wider die Natur, würdest du den Fehler begehen, dich mit Gott zu vergleichen. Fürchte nicht, dies zu tun, denn es kann nicht sein. Verfalle nicht wieder in Rebellion, sondern zeige Reue, bete und bitte um Gnade und zeige, dass du auf dem Weg der Umkehr bist, denn du darfst darauf vertrauen, dass dir verziehen wird" (121-136). Nach Sem Tob ist es unmöglich, zu sündigen und Gott in einer Weise zu kränken, die von ihm nicht wieder gutgemacht werden könnte, da er in seiner Unendlichkeit über allem steht; daher muss der nicht rebellieren, der die Vorgaben Gottes nicht annimmt, liebt oder befolgt. Gott wird hier als Gesetzgeber und der Sünder als Rebell begriffen: ein Aspekt, der seit der Französischen Revolution und den vielen anderen Revolutionen, die der Welt (manchmal, aber nicht immer) Gutes brachten, neue Akzente erhielt. Denn für einen Anarchisten beispielsweise, der die Freiheit als höchstes Gut erachtet, wäre es positiv, sich dem Postulat der Unterwerfung entgegenzustellen. Die moderne Theologie geht daher davon aus, dass Unterwerfung aus Liebe keine Unterwerfung, sondern ein Akt absoluter Freiheit ist, und dass es nicht so sehr darum geht, Gott zu gehorchen als vielmehr ihn zu lieben. Sem Tob lebte in einer feudalherrschaftlichen Welt, in der man dem jeweiligen Herrn, war er nun gut oder schlecht, Treue und Gehorsam geloben musste. Eine Alternative gab es nicht; und es gab in der Vorstellung der Menschen auch keine Gesellschaft, die anders war und mit der man sich hätte vergleichen können, ausgenommen die in einer fernen Vergangenheit angesiedelten Griechen und Römer der Antike, über die man in den Geschichtsbüchern las.
ZWEITER PROLOG
"Ich werde in der mir eigenen Sprache von dem reden, dessen ich gewiss bin" (139-140), schreibt Sem Tob mit der Bescheidenheit des Weisen und erinnert damit an Sokrates, der sagte, er wisse nichts angesichts dessen, was ihm weiterhin verborgen bleibe. Anders als jene eitlen Philosophen, die - wie Descartes, Kant, Hegel, Marx oder Nietzsche — meinten, die Welt erklären und mit ihren Gedankengebäuden alle strittigen Fragen bereinigen zu können (so als ob sich alle anderen geirrt hätten und der Rest der Sterblichen auf ewig ihrer Meinung folgen müsse), schickt sich Sem Tob an, in der ihm eigenen Sprache von etwas zu reden, das er kennt: allein davon und von nichts anderem, denn ihm ist bewusst, dass alle menschliche Erkenntnis unvollständig ist, nur ein Teil gegenüber dem Ganzen. "Wenn es das, was mir gefällt, nicht gibt, soll mir das, was es gibt, gefallen: mag mir dies anfangs Verdruss bereiten, so bringt es mir am Ende doch Freude" (141-144). Wenn die Dinge nicht so sind, wie wir sie gern hätten, so sagt er, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf sie einzustellen, damit wir am Ende Freude und damit Wohlbefinden erleben. Gewiss, am Anfang steht die Enttäuschung angesichts dessen, was wir mit unseren Wünschen und unserem Willen zu erreichen suchten, was wir in unserem Innern als großartiges mentales Gebäude errichtet haben. Die Phantasie stattet uns mit Freiheit und mit einem Willen aus, der es uns erlaubt, die Menschen und sogar die ganze Welt um uns herum zu verändern. Doch der Wille erreicht häufig nicht das Ersehnte und muss hinterfragt oder wie der Lehm in der Hand des Töpfers neu geformt werden: zum einen der Wille, der außerhalb von uns liegt, und zum andern der Wille unseres eigenen Selbst, der in unserem Bewusstsein angesiedelt ist und auf den anderen Willen trifft, um sich ihn zu eigen zu machen oder auf ihn einzuwirken. Auf diese Weise gewinnt unser Wille eine andere Qualität, durch die wir mit der sich uns als Hindernis darstellenden Welt oder auch gegen sie den ersehnten
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Sieg davontragen können. Das bedeutet nicht in jedem Fall, dass wir dem zuvor Gewünschten auf kategorische Weise entsagen; es wird nur verändert, angepasst - vergleichbar der Metamorphose, welche die Raupe erlebt, wobei der aus ihr entstehende Schmetterling in sich doch stets einen Teil dessen bewahrt, was er einmal war. Erlebt das Ich beim Auftreffen auf die äußere Realität einen Schock, kommt es dann, wenn diesem Schock nicht angemessen begegnet wird, zu Frustration. Wer hingegen diesen Schock bewältigt, wird befähigt, mehr zu erreichen, wenn er das nächste Mal versucht, dem eigenen Selbst Geltung zu verschaffen und es in die äußere Realität einzubringen, die er formt und durch die er geformt wird, indem er die Welt zu einem Teil seiner selbst macht, und sich verwirklicht, indem er der Welt Wirklichkeit verleiht. Wer sich zu sehr angepasst hat, blickt auf die Vergangenheit zurück, ist selbst wesentlich Vergangenheit, Erfahrung, ist alt. Wer nicht abzuwägen weiß, bricht in Tränen und Geschrei aus, wenn er das Gewünschte nicht erreicht: wie Kinder, die mehr in der Phantasie und damit in der Zukunft dessen leben, was ihre Fähigkeiten bewirken können und eine unbekannte, in ihrer Vorstellung noch unstrukturierte Welt für sie bereithalten mag. Der eine lebt in der Vergangenheit, die nur brüchig gegenwärtig ist; der andere lebt in der Zukunft, die noch nicht ist und die sich nur im Ansatz in den vielfältigen Möglichkeiten abzeichnet, die jede Gegenwart bereitstellt. Wer wie ein Wagenlenker beide Zügel dessen, was war und was sein wird, so fuhrt, wie er möchte, und imstande ist, seinen Wagen in die gewünschte Richtung zu lenken, ist derjenige, der, mag er hinsichtlich seines Alters auch ein Greis sein, jung ist und sich als Weiser erachten kann. Der Weise aus Carrion steht den Stoikern nahe, auch wenn er dort, wo er als Ziel die Freude nennt, von den Epikureern beeinflusst scheint. Diese beiden großen philosophischen Schulen des Altertums verfolgten aber letztlich dasselbe Ziel: die Unerschütterlichkeit der Seele auf dem Weg zum Glück und das Anliegen, mit einem Minimum an Schmerz ein Maximum an Freude zu erreichen. Dieser Vorstellung steht die christliche Lehre entgegen, da in ihr Schmerz und Leid den Weg zur Erlösung ebnen und helfen können, durch die Liebe zu Gott und in Gott die Glückseligkeit zu erlangen. Ob dieser Schmerz (wie bei den Büßern und Flagellanten oder denen, die sich ganz allgemein bei an sich unnützen Dingen zu kasteien suchen) willkürlich herbeigeführt oder, weil wir uns dem Willen Gottes fugen, nur hingenommen werden muss, wenn er uns trifft, hängt von der jeweils unterschiedlichen Auslegung der Botschaft Christi ab. Die Romantik verweigerte sich dieser Haltung des Sich-Fügens und rebellierte im Namen der Freiheit — eine Rebellion, die manche als Teufelswerk begriffen, da sie sich an das non serviam der rebellischen Engel erinnert fühlten, während
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andere ihr folgten, da sie sich an das hielten, was die Revolution Christi für das Bewusstsein der Menschen bedeutet hatte: etwas zerschlagen, um etwas Neues zu schaffen, das sich nicht mit dem Gegebenen arrangiert oder dies allenfalls geschehen lässt in der Hoffnung auf einen günstigeren Augenblick, der es der Freiheit und der Größe des Menschen gestattet, das Joch der Tyrannei, das die Welt uns häufig auferlegt, abzuschütteln. So vermochte der Mensch zu fliegen, ohne ein Vögel zu sein, und zu tauchen, ohne ein Fisch zu sein... Der Romantiker verfolgte eine Synthese zwischen dem Geist des griechischen Helden und dem christlichen Messianismus, die nach Erlösung strebt und eine ideale, häufig bessere Welt zu schaffen sucht, dies allerdings im Normalfall fern von gesellschaftlichen Hierarchien oder religiösen Bürokratien, die an einen konkreten Kult gebunden sind — ein Kult, der nicht der des eigenen Ich ist. Der Romantik war nicht gelegen an einer kalkulierbaren Freude in der Behaglichkeit eines durchschnittlichen und farblosen, wohlgeordneten und angepassten Daseins, denn sie wandte sich gerade gegen die Bequemlichkeit des Bürgertums und das Unrecht, das diese gesellschaftliche Schicht in der Welt verursacht hatte. Deren Exzesse führten im 20. Jahrhundert - nach zwei Weltkriegen und den kommunistischen wie faschistischen Diktaturen — zur Suche nach einem gewissen Gleichgewicht, auch wenn es nur darum ging, sich auf dem stets instabilen Untergrund aufrecht zu halten, so wie ein Schiff, das schwankend über die Wellen gleitet und bei aller Wechselhaftigkeit doch stabil im Wasser liegt. Sem Tob ist hier aktueller, auch wenn er in Konflikt geraten würde mit dem Wunsch nach Konsum, den heute der Markt mit seinen Ausrufern (Werbung, Moden) mit aller Macht zu fördern sucht. Die kapitalistische Wirtschaft funktioniert, weil die Unternehmen die Konsumenten dazu bewegen, auch Dinge zu wollen, die sie sich nicht leisten können, die sie dann auf Kredit kaufen, wodurch sie sich von denen an die Kette legen lassen, die den Markt beherrschen. Diese evozieren eine Zukunft, die nie eintritt, da der Wunsch nach Konsum nie gesättigt wird; und die Gegenwart der Dinge ist schon sehr bald Vergangenheit, da Sofas, Schränke und selbst Kloschüsseln, entsprechen sie nicht mehr der Mode, auch ohne dass sie alt oder unbrauchbar geworden sind, auf die Müllhalde befördert werden: ein Strudel von Konsum und Verschwendung eines kleinen Teils des Planeten, der auf Kosten der restlichen Welt lebt, indem er das wegwirft, was die anderen brauchen. Diese Konsumgesellschaft mit ihren ständig wachsenden Müllbergen erscheint unvereinbar mit der Fähigkeit, sich der je individuellen Situation anzupassen und das Glück nicht im Haben, sondern im Sein zu finden. Doch dann greift das Schicksal ein, und die Dinge ändern sich; oder der Zufall oder das Chaos: ein Attentat, ein Erdbeben, ein großer Brand, ein Börsenkrach, ein
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Flugzeugabsturz... Die Zeiten haben sich kaum geändert seit dem Mittelalter, als die Carmina Burana entstanden, in denen die Fortuna als Imperatrix mundi besun-
gen wird: O Fortuna,
velud luna
statu variabilis, Semper crescis
aut descrescis,
vita detestabilis! 4
und: Fortune rota volvitur:
descendo minoratus,
alter in altum tollitur [...] 5
"Ich versuchte das Schwere und werde das Leichte versuchen. Vielleicht kann ich mein Schicksal verändern, wenn ich die Seiten wechsle; denn wer nichts ändert, findet nicht, was ihm gefällt" (157-162). So wie Sem Tob uns die Welt präsentiert - wandelbar und unbeständig, wie bereits Heraklit sagte —, unterscheidet sich unsere Welt nicht so sehr von seiner, sind wir ein Teil von ihr, miteinander verschmolzen durch dieselben Gedanken, Gefühle, Wünsche... Der Friede findet sich vielleicht in der Bewegung, in seinem Gegenteil, im Krieg der Gegensätze oder ihrem Dialog und der Harmonie dieser Bewegung zwischen den Extremen. Aus einer solchen Betrachtungsweise resultiert der Gedanke des Handelns: Geht es dir nicht gut, dann ändere etwas und bewege dich; hast du es auf dem Wasser versucht, dann geh an Land; forsch nach, sei neugierig, auch wenn du dabei von einem Extrem ins andere fällst; verschließ dich nicht durch Vorurteile gegenüber Neuem, sondern überlege, was du aus Alternativen lernen kannst. Das scheint uns Sem Tob zu sagen; und das ist, was im 19. Jahrhundert Goethe oder Schiller und im 20. Jahrhundert Hermann Hesse sagen werden — in offensichtlichem Gegensatz zu Parmenides oder der buddhistischen Vorstellung, dass der Geist angesichts der Unbeständigkeit der Welt nach Beständigkeit streben soll. Hier sind dagegen die Suche und der Wunsch, zu leben und Neues zu lernen, der Motor eines erfüllten Lebens: eine unverkennbar westliche Vorstellung. Was hierauf folgt, muss jedem, der etwas weiß, tröstlich erscheinen: "Ich fürchtete, Unmut hervorzurufen, wenn ich reden würde; doch wenn ich schwei-
4. " O Fortuna, veränderlich / wie die Phasen des Mondes, / nimmst du immer zu oder ab, / verabscheuungswürdig in deinem Wandel!" ("O Fortuna, velud luna", in: Carmina burana [1987: 48-49]). 5. "Fortunens Rad dreht sich: Entmachtet bewege ich mich nach unten, / ein anderer wird dafür nach oben getragen [...]" ("Fortune plango vulnera", in: Carmina burana [1987: 48-49]),
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gen würde, könnte man mich für töricht halten" (165-168). Er versuchte es mit dem Schweigen, doch es erging ihm schlecht dabei; und er fühlt sich anderen Menschen seiner Religion nicht unterlegen. Das feige oder ängstliche Schweigen ist nicht gleichzusetzen mit der vorsichtigen Entgegnung auf albernes Geschwätz. Wer etwas weiß, soll sprechen, denn kommunizieren und andere an dem teilhaben lassen, was man hat oder weiß, gehört zur Natur des Menschen. Daher ist die vernünftigste aller menschlichen Gemeinschaften die, in der Meinungsfreiheit herrscht: eine Welt, die Sem Tob nicht erleben durfte. "Wenn das, was einer sagt, richtig ist, darf es nicht gering geschätzt werden, nur weil es von einem gemeinen Menschen stammt. Denn manch makelloses Schwert aus bestem Stahl steckt in einer zerbrochenen Scheide, und aus der Raupe entsteht die feine Seide" (185-192). Es gibt in der Welt genügend Beispiele dafür, dass aus dem scheinbar Niederen etwas Höheres entsteht — so der Schmetterling aus der Raupe, der Erwachsene aus dem unvernünftigen und unwissenden Kind —, auch wenn dies der traditionellen Logik widerspricht, die davon ausgeht, dass das Niedere nie das Höhere, wohl aber das Höhere das Niedere hervorbringen kann. Denn: "Ein schmächtiger Bote kann gute Nachrichten bringen, und ein niederträchtiger Anwalt legt bisweilen sichere Beweise vor; die Rose ist nicht weniger wert, weil sie im Dornbusch wächst, und der gute Wein nicht, weil ihn die Rebe hervorbringt; der Habicht ist nicht weniger wert, weil er in einem erbärmlichen Nest schlüpft, und die guten Ratschläge nicht, weil sie ein Jude erteilt" (197-208). Somit darf niemand vom Dialog ausgeschlossen werden, nur weil er Jude oder sonstwie anderer Herkunft ist. Mit dieser Argumentation wendet sich Sem Tob an seine in ihrer Mehrheit christliche Leserschaft, und nicht ohne Grund greift er auf die christliche Tradition zurück, nach der man das Wesentliche in den Blick nehmen muss, Anschein in Zweifel zieht und auf das Wunder hofft, entgegen jeder einfachen und mechanischen Logik, die außerstande ist, das ureigentliche Wissen um den Menschen, die Welt und Gott in ihren elementaren Formen zu erfassen. Der Messias wird zwischen Tieren und Exkrementen in einem dreckigen Stall von einer Jungfrau geboren, zurückgewiesen von demselben Volk, das ihn seit Jahrhunderten erwartet hat. Gott wird Mensch, und dabei ist der Mensch die einzige Kreatur, die ihn verleugnen und hassen kann; und die Menschen, die er errettet und liebt, verurteilen, foltern und ermorden ihn, nachdem sie ihn vor seiner Mutter auf obszöne Weise verspottet haben. Der Ursprung der Wahrheit ist folglich nicht wichtig; was zählt, ist das Ziel: die Wahrheit als letzter Schluss, der globale Zusammenhang, die Aussöhnung des Willens, die Bereitschaft, sich dem Anderen anzunähern, um sich über das Andere selbst zu finden.
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Wesentlich ist nicht die Quantität, sondern die Qualität dessen, was man gibt oder zeigt: "Wenige Zeilen können große Wahrheiten enthalten, und ein schmaler Gürtel kann weite Kleider schnüren. So kann ein weiser Mann, der, weil er zurückhaltend ist, als unbeholfen gilt und ein gemeiner Mensch gescholten wird, im richtigen Moment sein Anliegen weit besser und schöner vorbringen als der, der ihn beleidigt" (217-228). Ein Virus kann einen Elefanten oder einen Wal töten; das Kleine ist oft bedeutsamer als das Große. Will man sehen, so muss man die Welt stets aufs Neue auf andere Weise betrachten und stets den Verdacht hegen, dass sich hinter dem, was man vor sich hat, etwas anderes — oder aber auch nichts - verbirgt.
KAPITEL 1
"Über die Welt und wie sie ist - und wie ich an ihr zweifle - will ich wahre Dinge sagen, wobei ich mich nicht an Regeln halte oder mich irgendwem verpflichtet fühle" (229-234). Um aufrichtig zu sein, bedarf es des Zweifels — und sei es nur (wie bei Descartes) aus methodischen Gründen —, um aus dem Gegenteiligen Wissen herauszufiltern, das Echo unserer eigenen Gedanken zum Verstummen zu bringen und so die der anderen besser hören und verstehen zu können. Erst nach dem Zweifel und der Kritik ist es möglich, sich Wahrheiten anzunähern, die nicht aus einem Vorurteil oder dem Eigensinn des Narren resultieren. Dafür aber - und hier erweist sich Sem Tob als Denker der Moderne - ist es unabdingbar, dass wir uns keiner Autorität und allein unserem Wissen und Gewissen verpflichtet fühlen, dass wir frei und in der Lage sind, Normen und Konventionen dessen, was als üblich oder moralisch oder politisch korrekt gilt, hinter uns lassen, keiner Gruppe und keinem bereits existierenden System unbesehen Recht geben und den gewiss schwierigen Versuch der Unparteilichkeit wagen. Unsere äußere und innere Erfahrung hilft uns, allzu starre und dogmatische Annahmen hinter uns zu lassen: "jeden Tag widerrufe ich mehr als hundert Entscheidungen" (235236). Und weiter heißt es: "Was der eine verflucht, wird vom andern gelobt; was diesem gefällt, findet jener hässlich" (237-240). Jeder, der die Welt bereist oder aufmerksam beobachtet, kommt unweigerlich zu der grundlegenden Einsicht in die Relativität der Erkenntnis. Die Unsicherheit scheint der Ort zu sein, an dem der Mensch beheimatet ist, auch wenn er sich - nicht ohne Konflikte und niemals mit Gewissheit — durch seinen Glauben und sein Vertrauen auf das, was er sieht und was man ihm sagt, an einem scheinbar sicheren Ort wähnt. Werte sind oft verschieden und widersprechen einander, insbesondere im Bereich der Ästhetik, auch wenn es eine allgemein gültige Vorstellung von Schönheit geben mag, die der menschlichen Wahrnehmung entspricht und durch sie konditioniert ist.
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Dies gilt auch für den Bereich des praktischen Wissens: "dem, der eine Lanze wirft, mag sie langsam erscheinen; aber dem, den sie trifft, erscheint sie schnell" (245-248). Die Bewertung und damit auch die Wahrnehmung der Dinge und ihrer Wirkungen hängen von den jeweiligen Intentionen und Interessen ab, wodurch aber keineswegs ein gewisses Maß an Objektivität ausgeschaltet wird - ein Maß an Objektivität, das bisweilen ausgesprochen drastisch und unerbittlich sein kann: etwa wenn die Lanze an ihr Ziel gelangt und den andern trotz des Versuchs, ihr auszuweichen, trifft und verwundet. Unsere Interessen beeinflussen unseren Geschmack und das, was wir sehen; doch selten wird dies durch dieselben verhindert oder auf drastische Weise verändert: "Aus demselben Grund, warum einer etwas tut, tut es der andere nicht; und was mir gefällt, darüber mag ein anderer klagen" (253-256). Der Antrieb menschlichen Handelns, unsere ästhetischen Vorlieben und unsere Urteile werden folglich weniger durch äußere Gegebenheiten als durch unsere innere Einstellung, unsere Subjektivität und letztlich durch unseren Willen beeinflusst, der die Ziele nach seinem Dafürhalten neu definiert. Daher liegt der Schlüssel zu unserem Glück vor allem in uns selbst; Relativität ist folglich ideologisch und physisch: "Was Sancho gesund macht, macht Domingo krank" (259-260). Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: "Wer sich sorgt, seinem Nachbarn zu gefallen, ohne sich zuvor zu sorgen um das, was für ihn selbst richtig ist, kann einem großen Irrtum erliegen, denn Salz und Pech reagieren nicht auf dieselbe Weise: Das Salz wird durch die Sonne hart, das Pech hingegen weich; die Wange wird durch sie gebräunt, das Linnen gebleicht; und doch bleibt sie dort oben dieselbe, mag es kalt sein oder warm" (261-276). Das Prinzip der Bewegung muss autonom sein, und so muss auch das Individuum allein entscheiden, ob das, was anderen Erfolg beschert, auch für es selbst nützlich ist. Denn es gibt keine universell gültigen Muster, nur die Freiheit des Einzelnen, der seinen Weg und seine Strategie nach eigenem Gutdünken wählt, indem er Antworten auf seine eigenen Fragen sucht. Allgemeine Regeln sind abstrakt und können nur schwerlich auf die Wirklichkeit angewendet werden, denn diese reagiert - insbesondere, wenn sie etwas Lebendes ist - auf die unterschiedlichste Weise, und der Mensch besitzt die Freiheit, sie gleichermaßen auf unterschiedliche Weise zu begreifen. Daher besteht für den guten Erzieher, Arzt oder Ratgeber der Schlüssel zum Erfolg darin, dass er den anderen einbezieht, ihm in seiner Bewegung und seiner Freiheit Beachtung schenkt - sei es über die Sympathie (wie bei Hume), das Mitgefühl oder den Willen (wie bei Schopenhauer). Wichtig ist, sich mit dem Anderen zu verständigen; denn diesem den eigenen Willen aufzuzwingen, fuhrt zu nichts. Dennoch: die Sonne ist da, stets unverändert, unabhängig davon, ob uns kalt oder warm ist, denn wir sind nicht das Maß aller Dinge, und nicht alles ist relativ.
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"Wenn der Wind sich erhebt [...], löscht er die Kerze oder entfacht das große Feuer. Also sage ich, dass es gut ist zu wachsen, und ich gebe mir große Mühe, stark zu werden; denn die Kerze erlosch aufgrund ihrer Schwäche, und das Feuer lebte aufgrund seiner Kraft. Doch sehr bald verwarf ich diese Ansicht, denn ich sah, wie der Schwache entkam und der Starke zugrunde ging. Und der Wind, der beides bewirkte, vollbrachte am selben Tag auch dies: Er fällte den hoch gewachsenen Baum, doch das Gras der Wiese blieb unbehelligt" (281-304). Betrachtet man die Natur, so erkennt man die unablässige Abfolge gegensätzlicher Erscheinungen, gerade so, als wäre der Gegensatz, die Bewegung von einem Extrem zum anderen, der Natur und der Welt immanent. Wir sehen, dass alle biologischen Organismen wachsen, und es erscheint uns gut; doch ihr Wachsen bedingt auch ihren Verfall, fuhrt sie zu Alter und Tod. Es gibt folglich keine Gewissheiten, und wenn man genau hinsieht, erweist sich das Unbeständige als der Grund allen Seins. "Daher gelingt es mir nie, mich an eine feste Größe zu halten, und ich weiß nie, was für mich besser ist, ob schwarz oder weiß. Wenn ich denke, dass das, was recht und rechtens ist, bei allem das Richtige ist, entdecke ich dann, dass dies nicht stimmt: Für den einen mag etwas gut sein, den anderen aber kommt dasselbe teuer zu stehen. [...] Denn das Rechte beim Bogen ist, dass er gekrümmt ist; und beim Eichmaß ist rechtens, dass das Gewicht stimmt" (309-324). Indem Sem Tob diese Betrachtungen an den Beginn seines Buches stellt, dient ihre Aussage als Filter für alles, was folgt: Ausfuhrungen, die als mögliche Antworten auf Fragen angeboten werden, über die aber, dem skeptischen Zweifel unterzogen, entschieden werden muss, und sei dies auch nur vorläufig. Vorsicht und Argwohn werden zu Attributen, die der Natur des Menschen zu eignen scheinen. Einen äußeren sicheren Bezugspunkt gibt es allenfalls in Teilbereichen oder gelegendich. Die Philosophie versucht, Leitsätze aufzustellen und angesichts der Ungewissheiten etwas zu entdecken, das sich als stabil und allgemeingültig erweist. Doch dann entdecken wir, dass das, was wir für unverbrüchlich hielten, dies nicht ist. Die Konturen verwischen sich; was wir sehen oder zu sehen glauben, wird brüchig oder erweist sich als sein Gegenteil. Ein philosophisches System folgt auf das nächste. Daher verzichtete die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die großen Systeme oder allumfassenden philosophischen Fragestellungen und beschränkte sich auf Fragmente, Teilaspekte, einzelne Gesichtspunkte. Das Rechte und Angemessene beim Bogen ist, dass er gekrümmt ist; und das Vernünftige und Rationale im Menschen ist, dass er - zumindest gelegentlich - irrational und unvernünftig ist. Um gerecht zu sein, muss ein Gesetz nicht immer und buchstabengetreu Anwendung finden; denn es gibt Situationen, in denen diese "Gerechtigkeit" sich als ungerecht erweisen würde, da in dem Moment, als die Regel aufgestellt wurde, nicht alle sie möglicherweise betreffenden konkreten Fälle bekannt
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waren. So wird auch die Schönheit und Perfektion etwa eines alten Gebäudes nicht dadurch beeinträchtigt, dass es Beschädigungen aufweist - mit Würde getragene Narben, verursacht durch den Lauf der Zeit - oder sogar ein kleines als hässlich empfundenes Element enthält, das nun aber den Kontrast belebt. "Daher vermag ich nichts zu loben oder zu tadeln oder auch nur schön oder hässlich zu nennen. Je nach Ort und Umständen bedeutet Eile, langsam zu sein, und die Vorderseite wird zur Rückseite" (325-332). Das Spezifische des ästhetischen Phänomens liegt somit nicht in der Sache selbst; dasselbe Ding mag schön oder hässlich sein, je nach unserer Perspektive. Mit dieser Aussage nimmt Sem Tob die Moderne seit Kant vorweg, für die das Entscheidende nicht das Objekt, sondern der Standpunkt oder die Perspektive des Subjekts ist. Alice im Wunderland könnte vielleicht Sem Tobs Aussage beglaubigen, wenn sie auf die andere Seite des Spiegels zu gelangen sucht. Ihr Wunderland könnte am Ende unsere Welt sein: die Welt der Kehrseite, ein Trugbild, das sich als im Grunde absurd herausstellt. Dann wäre die Vernunft nur einer von mehreren Wegen, den der Weise wählt, um den Anderen und sich selbst zu erkennen, um die Wirklichkeit und sich selbst zu überleben.
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"Ich klage nie über die Welt, wie dies viele tun, die sich von ihr grausam behandelt fühlen, denn oft tut sie dem Unwissenden Gutes und dem Weisen oder Wissenden Böses - was mich nicht kränkt. Und wenn sie das Tier ebenso wie den Menschen, den Großen wie den Kleinen rettet und den Fleißigen arm und den Müßigen reich macht, dann geschieht dies auf Geheiß Gottes, damit nicht einer unter hundert denkt, dass er irgendetwas durch die eigene Einsicht erreicht" (333-348). Aus diesen Zeilen spricht erneut der Stoiker in Sem Tob, der keinen Grund sieht, zu klagen oder Beschwerde zu fuhren über eine Welt, die sich häufig nicht unseren Interessen fügt und sogar einer Logik zu folgen scheint, die unlogisch ist oder zumindest dem entgegensteht, was uns vernünftig oder verdient erscheinen könnte. Es gibt keine rationale Logik, die dergleichen bewirkt, auch wenn es jenseits der menschlichen Erfahrung einen Sinn geben könnte, mit dem die Welt erklärbar oder zumindest intuitiv fassbar wäre. Das Absurde — oder das Mysterium — ist das Fundament der dem Menschen bekannten und zugleich unbekannten Welt. Folglich kann man nicht erwarten, dass die Welt gerecht ist und den Weisen (die platonisch-sokratische Version des Guten) belohnt oder den Törichten bestraft. Denn die Sterne können blind und gefühllos sein, ebenso wie die menschliche Gesellschaft mit ihren zahllosen Beziehungen und Querverbindungen, wo der Einzelne sich wie auf einem toten Gleis in der Menge verliert. Angesichts der verwirrenden Vielfalt an Stimmen, die uns die Realität — häufig widersprüchlich — beschreiben, verhält sich diese so, als würde sie sich unserem Zugriff entziehen. Sem Tob erweist sich hier als Lebensphilosoph, dem es um die praktische Bewältigung des Lebens durch die Menschen geht, der ein gewissermaßen utilitaristisches Ziel verfolgt, keine reine und wenig nützliche Spekulation. Andererseits könnte man meinen, dass seinem Denken eine der Ethik Spinozas vergleichbare
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Weltsicht zugrunde liegt, in der es das Gute oder Schlechte an sich nicht gibt, sondern nur das, was dem einen oder dem anderen behagt oder nicht behagt. Doch dem ist nicht so, denn Sem Tob verneint zwar die Existenz einer konventionellen Logik, nicht aber den dauerhaften Wert bestimmter Tugenden. Nach seinem Dafürhalten hat Gott die Welt so, wie sie ist, geschaffen, weil die menschliche Vernunft nicht taugt, um die Welt in ihrer Einheit und Totalität vollständig zu erfassen, und wir vom Menschen nicht erwarten können, dass er uns den Schlüssel für das Verstehen der Dinge und unseres Lebens liefert. "Manchen war ihre Torheit von großem Nutzen, andere verloren alles durch Klugheit" (349-352) - oder wie Rousseau später Beispiele dafür geben wird, "wie die Torheit der Welt Weisheit ist".6 Die Torheit ist vielleicht keine solche: das Leben ein Traum, und der Traum ist vielleicht der Grund des Lebens. Es kommt auf den Standpunkt und den Moment an, auf den Ort und die Zeit, die nicht eine, sondern viele sind und uns nicht gänzlich gehören. Nichts ist gewiss, und die Klugheit oder das Vernünftige oder scheinbar Rationale kann unser Unheil sein: "Klugheit, die den, der sie besitzt, entehrt, ist nicht gut; und Torheit, die ehrt, ist nicht schlecht" (353-356). Der Schlüssel scheint nicht so sehr in den Theorien als vielmehr in den Taten zu liegen. Und man findet diesen Schlüssel über eine ihrem Wesen nach pragmatische Philosophie, in der die menschliche Erfahrung die Grundlage des Denkens bildet; das heißt, ein Teil dieser menschlichen Erfahrung, die allein über den Verstand nicht zugänglich ist. Dort enthüllt sich das Seiende und nicht nur das, was wir uns als Seiendes wünschen, was in unsere Schemata zu passen scheint, was in unseren geometrisch angeordneten mentalen Bahnen Platz hat, was wir uns — vergeblich — zurechtlegen, um die unerschöpfliche Welt zu greifen. Es gibt keine absolut wirksame Vorsicht, denn wir müssen mit dem Risiko leben, mit der Unbeständigkeit und der Ungewissheit, wo alles Wissen zunichte wird. "Ich sah viele, die unversehrt aus der Schlacht zurückkehrten, andere begaben sich im eigenen Zelt in Gefahr; und es stirbt der Arzt, der von Medizin viel weiß, und der unwissende Schäfer gesundet" (357-364). Das Rad der Fortuna dreht sich, und was oben war, fällt, und was unten war, steigt auf. Das Schicksal, die Vorsehung oder die - unsinnigen oder unverständlichen - "Gesetze" der Welt fegen unsere Vernunftgründe hinweg, weshalb man sich in einer anderen Dimension positionieren muss, um angemessener zu leben; und das heißt: mit einer anderen Logik, einer Supralogik oder auch im Bewusstsein der Abwesenheit von
6. Julie oder Die neue Heloise, 2. Vorrede ["Preface de Julie ou entretien sur les romans"] (Rousseau 1978: 19).
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Logik. Denn: "Denen, die Gott nicht furchten, nützt ihr Wissen nichts, so wie ein Besitz wenig einträglich ist, an dem die Armen nicht teilhaben" (365-368), da es einen höchsten Ort gibt, an dem alles ins Gleichgewicht gebracht und Gerechtigkeit walten würde. Die Welt hiernieden und ihre Widersprüche finden ihre Klärung in einer göttlichen Instanz. Das Fehlen von Logik findet seine Lösung in Gott. Aber zu Gott gelangt man nicht nur auf geistigem Wege, nicht allein mit viel Wissen, wie einige Platoniker meinten und sich aus der intellektualistischen Tradition ableiten lässt, sondern durch einen Willen, der sich in guten Taten niederschlägt. Daher taugt es nichts, reich zu sein, wenn von diesem Reichtum nicht die Armen profitieren: wenn die, welche bedürftig und um uns sind, unsere Hilfe nicht erreicht. Zu Gott als der universellen Harmonie und Liebe zu gelangen bedeutet, gewissermaßen nach sozialer Gerechtigkeit zu streben und zu helfen, das Leid der anderen zu lindern, indem man die Grenzen, die uns der eigene Egoismus setzt, in Richtung auf die anderen überschreitet und teilt. Die Zuordnung zu Gut und Böse ist relativ, abhängig von den Wertvorstellungen und der Positionierung eines jeden in der Welt: "Wenn das, was ich begehre, etwas wahrhaft Gutes ist, warum erfreut sich dessen nicht der, der es besitzt? Daran erkennt man, dass es in der Welt kein eindeutig Gutes und kein wahrhaft Böses gibt" (373-380). Entscheidend ist somit nicht das Ding an sich, sondern die Haltung; und ein auf die Dinge ausgerichteter Hedonismus erweist sich als einfältig und plump, da er unsere potentiell unendliche Begierde nicht befriedigen kann — oder, wie Augustinus es fasste, unsere Begierde, die untröstlich ist, solange sie sich nicht mit dem Unendlichen allen unendlichen Seins vereint: Gott. Ähnlich sieht es Sem Tob: "Gott dienen ist das einzige sichere wahrhaft Gute; doch weil sie dem Laster frönen, vergessen es die Menschen" (381-384). Das Laster verhüllt die Wirklichkeit der Transzendenz, verschleiert den Blick auf das Göttliche; die schändlichen Taten verletzen das "Organ" des Herzens und das Auge der Seele, mit dem das Göttliche zu schauen wäre. Sem Tob ist ein praktischer Philosoph, und er beweist dies mit der vielfachen Zielsetzung seiner Schriften: "Ein weiteres Gutes ist, dem König zu dienen, denn er sorgt unter den Menschen für Recht und Gesetz" (385-388). Uns, die wir Teil einer kritischen Moderne sind, erscheint es problematisch, den göttlichen Vorsatz und den eines Monarchen in dieser Weise in Ubereinstimmung zu bringen. Doch man mag diese Aussage auf verschiedene Weise deuten: Z u m einen mag man sie verstehen als gängige Phrase eines Schmeichlers, welcher des königlichen Schutzes bedurfte und sich wie der Rest der jüdischen Gemeinde behaupten musste in einer krisengeschüttelten und von Gewalt beherrschten Gesellschaft, in
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der jedwede Äußerung von der einen wie von der anderen Partei als Verrat interpretiert werden konnte. Zum andern bedeutete der Schutz der Krone nicht selten für viele die Gewähr größerer Freiheiten, da die Feudalherren als den Menschen nahe und oft nahezu absolut herrschende Gebieter diejenigen waren, die vom Volk, so sein Wille missachtet wurde, als Unterdrücker empfunden wurden. Sich an eine höhere Instanz und einen — häufig fernen - König zu wenden, bedeutete auch, etwas Abstraktes anzurufen, das einte und das der Mehrheit mehr Gerechtigkeit versprach und vor dem in Schutz nahm, der nah war und dem man bekannt war. Die Krone bedeutete fiir die Feudalherren jener Zeit das, was heute für die Autonomen Regierungen in Spanien die Verfassung ist; und so verstand man die Macht des Königs als Befreiung von der Willkür des Adels. In einer so turbulenten Zeit wie der des Sem Tob mochte dieser Momente der Anarchie erlebt haben, in denen die Macht an den geht, der sich als der Stärkste und Grausamste erweist. Die jüdische Bevölkerung war als ethnische und religiöse Minderheit, deren Vertreter es zudem in vielen Fällen zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatten und daher Neid erweckten, in besonderer Weise durch Machtmissbrauch und Ubergriffe gefährdet. Wenn sich Sem Tob auf die Gesetze beruft, die mittels Androhung von Strafe den Starken davon abhalten sollen, dem Schwachen zu schaden, dann bedeutet dies ein Sichberufen auf die Gerechtigkeit — ähnlich dem, was Jahrhunderte später Hobbes in einer vergleichbaren politischen und gesellschaftlichen Situation dazu veranlassen sollte festzustellen, dass dann, wenn es an einem starken Staat mangelt, der Mensch für den Menschen ein Wolf ist. Angesichts des von Pedro I., "dem Grausamen", begangenen Machtmissbrauchs könnte man allerdings auch im Sinne anarchistischen Gedankenguts gegen den Tyrannen argumentieren. Die fortwährenden Bürgerkriege, die in jener Zeit Spanien verwüsteten, hatten ihren Ursprung in Erbstreitigkeiten und im Falle Pedros gleichermaßen in seinem ausgesprochen jähzornigen und despotischen Charakter sowie seinem Hang zu Grausamkeit. Man könnte meinen, dass fiir die Menschen jener Zeit eine Lösung ohne Schrecken und Gräuel unvorstellbar war und Macht durch den Terror, den sie bewirkt, rechtfertigt und gestärkt wird. "Zusammenfassend sei gesagt: Es ist überaus töricht, wollte man zu jeder Zeit derselbe sein; ganz im Gegenteil muss man sich drehen, so wie sich die Welt dreht: und mal Schild, mal Lanze sein" (389-396). Oder, wie wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts sagen würden: Es gibt keine reine universelle und statische Vernunft, wie sie ein Parmenides preist; jede Zeit (und jeder Ort) erfordert entsprechend den Umständen eine je spezifische Betrachtungsweise. Die Vernunft ist ebenso wie das Wissen veränderlich und bleibt bezogen auf ihre unmittelbare
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Quelle — unser (oft konfuses) Verstehen - ebenso wie auf das, was sie umgibt. Dadurch wird Wissen nicht ausgeschlossen, sondern anwendbar entsprechend seiner Beschaffenheit und dem jeweiligen Zeitpunkt; wandelbar, anpassungsfähig und flexibel, das heißt: lebendig und folglich perfekter, fähig zu wachsen und sich zu reproduzieren. Diese Vorstellung von einer universellen Relativität bei Sem Tob überrascht umso mehr, als wir es hier mit einem mittelalterlichen Text zu tun haben, galt doch im Mittelalter gemeinhin das Ideal ideologischer und sozialer Stabilität.7 Das Modell seiner Erkenntnistheorie wäre folglich nicht die starre Mechanik der leblosen Körper, sondern die Biologie; und daraus resultiert seine Aktualität. Denn während im 18., 19. und teilweise noch im 20. Jahrhundert das Modell auch fiir die Philosophie die Physik war, wurde diese seit dem Ende des 20. Jahrhunderts durch die Biologie abgelöst. "Jeder gute Brauch hat sein Maß, und wenn dieses überschritten wird, geht seine Qualität verloren. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob dies einen Fingerbreit geschieht oder um die Entfernung einer Tagereise" (397-404). Die Tugend braucht folglich Mäßigung und Selbstbeherrschung, darf nicht zum Exzess werden, ganz im Sinne der aristotelischen Tugend als das Finden der rechten Mitte. Es ist nicht das Objekt oder die Sache, was etwas zur Tugend macht, sondern die Art und Weise und die Frage der Angemessenheit. Sem Tob scheint hier bereits auf Kant zu verweisen, der zwischen objektbezogenen materialen Ethiken und subjektbezogenen formalen Ethiken unterscheidet. Dabei mag es unwichtig sein, ob man das Maß etwas oder viel überschreitet, denn durch das Überschreiten an sich wird die Tugend bereits korrumpiert. Das heißt, die Tugend hängt nicht so sehr von der Quantität ab, sondern von der Qualität vor allem des Subjekts und seines individuellen Handelns. Das Maß, von dem Sem Tob spricht, ist somit nicht als etwas Quantitatives zu verstehen, sondern vielmehr als eine Haltung, als eine Art und Weise, sich den Objekten zu nähern: subjektiv oder spirituell und nicht vermeintlich objektiv. "Der Narr denkt, er hat etwas verloren, wenn es um viel geht, nicht aber, wenn es um wenig geht; und wenn er, was er sucht, durch einen geringfügigen Anlass verliert, ist er ob des großen Kummers für immer untröstlich. Er weiß nicht, dass er sich mit einem Stück Stoff den Blick ebenso verdecken kann wie mit einem wehrhaften Turm" (405-416). Ein kleiner Virus vermag einen groß gewachsenen und starken Körper zu töten; das heißt, es kommt nicht auf die Proportionen an, wenn es um das Werden der Welt geht. Kleinigkeiten können fundamental sein, und wenn wir sie missachten, kann dies unser Verderben bedeuten; und wenn
7. Vgl. hierzu Joset ( 1 9 7 3 : 178).
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eine Winzigkeit uns zum Irrtum verleitet, kränkt es uns mehr, als wenn uns etwas Überwältigendes besiegt hätte. Denn hier fugen wir uns wie auf natürliche Weise dem Schicksal - etwas, gegen das wir nichts ausrichten können - und unseren eigenen weit überschrittenen Grenzen, während wir dagegen bei der Winzigkeit meinen, wir wären mit ein wenig mehr Umsicht doch zum Erfolg gekommen. Doch die Quantität ist eher unerheblich ebenso wie das Messbare der Pythagoräer. Die Qualität, der die Zahl fremd ist, auch wenn sie durchaus - etwa bei der Liebe, der Sympathie oder der Abneigung - hinsichdich der Abstufung und Intensität unterschiedlich sein kann, erweist sich als nicht greifbar, da sie sich dem annähert, was dem Spirituellen eigen ist. Und vielleicht ist sie daher der Schlüssel zu allem. "Ich weiß so viel von dem, was hinter dem Verschlag liegt, wie von dem, was jenseits des Flusses Tajo geschieht. Es ist einerlei, ob das, was mir nicht mehr gehört, zwei Schritt oder zwanzig Tagereisen entfernt ist. Das Gestern ist so weit weg wie das vergangene Jahr" (417-426). Auch wenn es für uns nicht ohne Bedeutung ist, ob etwas, das wir hergeben mussten, nah oder fern ist, oder ob die Vergangenheit einen Tag oder ein Jahr zurückliegt, in jedem Fall stehen wir vor dem radikalen Faktum des Unerreichbaren. Die Vergangenheit ist gewesen, mag dies nun einen Augenblick oder Jahrhunderte her sein; ändern können wir sie nicht mehr. Wir verdecken sie mit dem Handeln der Gegenwart, oder aber wir richten den Blick in die Zukunft. Genauso verhält es sich mit dem, was wir nicht wissen, denn es ist einerlei, ob es sich nun als Unbekanntes in meiner Nähe in einer Grube, die ich nicht sehe, versteckt oder in Toledo oder irgendeiner anderen fernen Stadt — auch wenn wir normalerweise eher in der Lage sind, das uns Nahe zu lösen als das uns Ferne. Sem Tob stellt fest, dass das uns Unbekannte für unsere Erkenntnis ohne Bedeutung ist, so wie das, was in unserem Gedärm geschieht, ohne Balang ist, wenn wir es nicht spüren. Er sucht die Aporien und scheinbaren Widersprüche, denn sie liefern den Schlüssel, mit dem wir die zahllosen Türen im unermesslichen Schloss und Palast des Wissens öffnen. Nichts ist, wie es scheint, und die äußeren Dimensionen täuschen; denn das, was vor allem zählt, ist die innere Wirklichkeit, auch wenn sie nie vollkommen gesichert ist, weil sie sich — bisweilen auf undifferenzierte Weise — mit der äußeren Welt sowie unseren Wünschen und Phantasien ebenso wie mit denen der anderen vermischt. Was für uns nicht greifbar ist, was sich unserem Verstand und unserem Willen entzieht, existiert für uns nicht, auch wenn es nah — oder, in der Terminologie Heideggers, ein Zuhandenes — ist. Es entbehrt jeder Relevanz für unsere Subjektivität, insofern als sich uns seine Notwendigkeit oder auch Kontingenz nicht erschließt und wir sterben können, ohne es zu wünschen oder auch nur zu kennen.
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"Wer sich vor einer Verwundung schützen muss, dem nützt ein Schild zwischen sich und dem Pfeil ebenso, wie wenn er die ganze Welt dazwischenstellen würde; denn wenn er ihn nicht verwundet hat, ist es ohne Bedeutung, ob der Pfeil ihn um eine Handbreit verfehlte oder jenseits der Mauer landete" (427436). Will man sich vor dem Angriff eines feindlichen Pfeils schützen, ist nicht entscheidend, welche Substanz oder welches Objekt man einsetzt; entscheidend ist, dass er uns nicht erreicht. Nicht das Außere zählt, sondern der Schutz unseres Innern. Das praktische Leben funktioniert oft wie aufs Geratewohl, grosso modo-, und was das lebende Subjekt nicht tangiert, rückt für dasselbe in die Nähe des Nichts, unsichtbar für das Auge seines Willens. "Der gestrige Tag ist für uns ebenso wenig erreichbar wie der Tag vor tausend Jahren. Auch wenn wir weit gehen, erreichen wir das Vergangene doch nie; und auch wenn wir stehen bleiben, verpassen wir doch nie das, was noch nicht geschehen ist" (437-444). Hier spricht Sem Tob erneut das Problem der Zeit an, denn sein Denken ist gewunden und repetitiv, so als würde er jedes Mal, wenn er ein Problem wieder aufgreift, aus dem Gegenstand noch mehr Gehalt herauspressen, wie man den Saft aus einer Frucht herauspresst. So sind in der Vergangenheit beide Momente unerreichbar. Allerdings berücksichtigt Sem Tob nicht, dass die Vergangenheit in gewisser Weise in den Menschen, die waren und weiterhin sind, durch die Erinnerung oder die Spuren, die sie in der Psyche eines jeden hinterlassen hat, überdauert. So kann man über das Gegenwärtige das Vergangene gewissermaßen umkehren. Heute können wir die Geschichte umdrehen, nicht nur indem wir sie neu erfinden — was bedeutet, dass wir sie verschleiern und tilgen, wie es uns passt (und wie dies manche Historiker tun, indem sie über das, was geschah, fabulieren) - , sondern weil sich in den Folgen von etwas der im Ursprung eingeleitete Verlauf ändern kann. Das Erbe, das uns jemand hinterlassen hat, kann sich in etwas verwandeln, das der ursprünglichen Absicht entgegensteht; und das wunderbare Land, das uns anvertraut wurde, kann in Blut und Feuer untergehen. Mit der Zukunft verhält es sich ähnlich: Sie kommt, ob wir sie nun sehnlich erwarten oder nicht. Doch je mehr wir sie herbeisehnen, umso mehr werden wir rein subjektiv den Eindruck haben, sie verspätet sich. Denn jeder Augenblick wiegt schwer für den, der in Sorge lebt, weil er die Gegenwart nicht zu genießen weiß und an ihr leidet, weil er nicht warten und nicht das lieben kann, was er angesichts dessen, was ihn erwartet, besitzt. Die Zukunft - die Bewegung der übrigen Lebewesen und der Gestirne, die uns umgeben und in denen wir sind — erreicht uns, indem wir uns, mal schneller und mal langsamer, mit der Zeit
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fortbewegen. So mag die Zukunft so oder anders sein, je nach unserer inneren und äußeren Bewegung; denn sie ist nicht gleichbleibend und unverrückbar, sondern sie wird gemacht, und bisweilen machen wir sie selbst. Allerdings enthüllt das Vergehen der Zeit — indem alles ohne unser Zutun sich bewegt und fließt —, dass der Mensch angesichts der Totalität des Übrigen fast ein Nichts ist.
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"Kaum etwas erreicht der Mensch in dieser Welt ohne sein Gegenteil, weder das Hässliche noch das Schöne" (445-446). Je nach dem Blickwinkel des Betrachters und dem äußeren Aspekt des Gegenstands, der sich uns enthüllt, erscheint dieser schön oder hässlich, anziehend oder abstoßend und somit flir uns gut oder schlecht, wobei häufig auch der Moment des Betrachtens ins Spiel kommt und wir beide Betrachtungsweisen mischen, indem wir etwas als mehr oder weniger schön oder mehr oder wenig hässlich empfinden. Die Ästhetik erweist sich als ideale Disziplin, um uns der Metaphysik und der Frage unseres Seins im Universum zu nähern. Allem Endlichen ist, da es begrenzt ist, das Nicht-Sein des Anderen zu eigen; folglich entbehrt es Vollkommenheiten, die andere Dinge oder Wesen besitzen. Gut und Schlecht, Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Schönheit und Hässlichkeit, Wahrheit (Sichenthüllen) und Lüge (Sichverbergen) finden sich in ein und derselben Kreatur: eine Dialektik, die (wie Hegel es sah) in den Menschen enthalten ist; reiner Widerspruch oder Absurdität, vor deren Hintergrund sich die verschiedenen Harmonien und vielfältigen Logiken, die uns ausmachen, entfalten. Man darf jedoch nicht vergessen, dass der Untergrund schwankend ist, dass unten das Unbekannte liegt und alles fließt — trotz unserer Sehnsucht nach Stabilität oder einem Zustand der Unerschütterlichkeit, wie sie besonders dann zu beobachten ist, wenn in unserem Leben oder in der Gesellschaft ein Sturm losbricht. Sem Tob hatte den Vorteil, die Gesellschaft zu betrachten und eine Philosophie zu entwickeln, indem er jenen privilegierten Standpunkt einnahm, an dem Konsistenz brüchig wird, und nicht in der Perspektive eines Scheins von Stabilität und Ordnung. Sem Tob hatte das Glück - das er in seinem Leben gleichzeitig als Unglück erlebte die Welt von einigen ihrer vielen Bruchstellen aus zu sehen; dies nicht hinter verschlossener Tür, sondern durch einen Türspalt, der den Blick frei gibt auf den Abgrund, über
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den wir in unserer Kontingenz, als nicht notwendig Seiendes, fliegen. So als würden wir in einem großen Flugzeug auf den Boden schauen, in dem sich eine Klappe öffnet, die den Blick frei gibt auf Wolken, wo wir glaubten, festen Boden unter den Füßen zu haben. "Wer nicht zuvor den Weizen sät, erntet nicht; wenn dieser nicht in der Erde ist, wird aus ihm keine Ähre" (449-452). Hätte Sem Tob in unserer Zeit gelebt, in der so viele Pflanzen auf künstliche Weise in angereichertem Wasser und ohne Erde gezogen werden, hätte er vielleicht gezögert, eine Metapher zu verwenden, die bis vor kurzem noch als ewig galt und die deutlich macht, dass so manche Bezüge, die wir herstellen, vergänglich sind.. Doch wenden wir uns der zentralen Aussage zu: Ohne die Aussaat gibt es keine Ernte und keine Frucht; und um nach oben zu gelangen und die Früchte zu genießen, muss man zuvor unten im Schlamm versinken - so wie der Messias, der, wie ihn die christliche Ikonographie darstellt, als König in einem stinkenden Stall geboren wird. Es gibt somit keine Größe, wenn man nicht Elend auf sich nimmt; es gibt keine Freude ohne Schmerz, und die Befriedigung schließt das dem Wunsch und dem Mangel eignende Leiden mit ein: "Die Rose kann man nicht pflücken, ohne auf Dornen zu treten; der Honig ist süß, doch hat er schmerzhafte Nachbarinnen" (453-456). Die Gegensätze sind Teil dessen, was uns umgibt; und in dieser Opposition, der wir uns mit der Einfalt unserer Logik nähern, könnte das Geheimnis liegen, das zu ergründen wir immer wieder mit Bündeln von immer neu strukturierten und neu klassifizierten Konzepten ansetzen, ohne dass es uns jemals gelingt, vielleicht auch nicht gelingen kann, den metaphysischen Urgrund des Seins zu erkennen. "Frieden erreicht man nur durch Krieg, Muße gewinnt man nur durch Arbeit; wer Freuden will, muss zuvor leiden; wer Frieden will, ziehe zuvor in den Krieg" (457-464). Aus der dialektischen Konzeption der Welt ergibt sich der Tatbestand einer häufig konfliktiven Realität, auch wenn Harmonie und Dialog grundsätzlich möglich sind: ein oft unausweichlicher oder sogar wünschenswerter Krieg als Weg, der zum Frieden fuhrt, entweder in politischem Sinne — wie nicht wenige Interpreten meinen — oder in spirituellem Sinne, wie dies bei vielen asketischen Praktiken vorgesehen ist. Der Schmerz führt zur Freude, und ohne Kreuz gibt es keine Auferstehung. Etwas anderes ist es, wenn das Kreuz verherrlicht wird oder Schmerz und Krieg ohne Not provoziert werden. Denn die vernünftigste Einstellung scheint darauf abzuzielen, dass das Leiden gemindert und der Schrecken verringert wird, dass so weit als möglich der Friede und das Glück verherrlicht werden. Hier unterscheidet sich die Philosophie Sem Tobs nur wenig von der, die seit Beginn des Christentums in radikaler Form vertreten wurde.
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"Gott schuf den Menschen, damit er sich abmüht und von Marktplatz zu Marktplatz zieht, um Obdach zu finden, um auf Straßen und durch Einöden sein Glück zu suchen; denn anmaßend ist der, der durch Müßiggang etwas gewinnen will. Nicht Müßiggang, sondern Mühen und Lohn waren für den bestimmt, der auf vernünftige Weise etwas erreicht hat" (469-480). Die Vorstellung, dass der Mensch leiden muss, um sein Paradies zu finden oder von Gott belohnt zu werden, der ihn in ein Jammertal gesetzt hat, wo er von einer bitteren Erfahrung zur nächsten sich müht, ist ein Topos der pessimistischsten Versionen des Christentums. Indem Gott den Menschen als unvollkommenes Wesen schuf, zwang er ihn, von Marktplatz zu Marktplatz zu ziehen, um zu kaufen und zu verkaufen, was er besitzt, um über das Erworbene Verbindungen einzugehen und auf dem großen Welttheater zu schauen und zu agieren. Die Mühen haben ihren Sinn darin, dass uns der Lohn umso größer erscheint. So wird derjenige, der aus Armut heraus zu Wohlstand gelangt, das, was er besitzt, höher schätzen als derjenige, der reich geboren wurde und der vielleicht nicht einmal begreift, was fiir andere Menschen Not bedeutet. Heute, wo wir durch die Werbung unablässig ermuntert werden, ununterbrochen zu konsumieren, um uns schnelle, jedoch nur vorübergehende Befriedigung zu verschaffen, haben wir es mit einer simplen und materialistischen Form des Hedonismus zu tun, die uns vom Kapitalismus aufgezwungen wird und die mit der von Epikur entwickelten hedonistischen Lehre nichts gemein hat. Ohne eine gewisse Askese, ohne Selbstbeherrschung, Mäßigung und Selbstüberwindung erscheint es unmöglich, die höheren Freuden des Geistes zu erringen, mit denen man auch die Freuden der Sinne tiefer und dauerhafter genießt. "Wer besonnen sein Werk vollenden will, wird in hundert Fällen nicht ein einziges Mal erfolgreich sein; denn Gewinn hängt am Wagnis, und unüberlegtes Handeln fuhrt zum Erfolg" (481-488). Vernünftmäßiges Handeln bietet keine Garantie dafür, dass man sein Ziel erreicht. Das heißt, der menschlichen Logik gelingt es nicht, den Sinn des Lebens zu durchschauen, der sich - komplex und wandelbar, barock und absurd — unserer Erkenntnis entzieht. Diese ist nie etwas Abgeschlossenes und in sich Ruhendes, sondern Prozess und Handlung und bietet folglich keine Sicherheit. Das Streben nach Sicherheit, das fiir die moderne Gesellschaft charakteristisch ist, scheitert nicht allein an den großen Katastrophen (Kriege, Attentate, Erdbeben), sondern bereits dadurch, dass das Gerüst, auf das wir in unserem Alltag bauen, ins Wanken gerät. Die Welt ist nicht das, was wir meinen; sie entzieht sich unserer Kontrolle. Daher mögen unsere Empfindungen, die Einsicht in unsere Endlichkeit, der Tod, die Religion, die Mythen oder die Kunst uns beständig daran erinnern, dass der Schein von Wissenschaftlichkeit
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oder mathematischer Präzision, mit dem wir uns vermeintliche Sicherheit und Genauigkeit verschaffen, nicht taugt. Demnach wäre der Gedankengang Sem Tobs, der in seinem Irrationalismus dem Wahnsinn das Wort zu reden scheint, im Grunde nichts anderes als Besonnenheit, welche auf die Welt auf eine Weise reagiert, die ihrem Wesen als etwas Unkontrollierbarem und Unvernünftigem entspricht — was bedeuten würde, die "Logik" des Unlogischen zu entdecken. "Wer alle Dinge in Zweifel zieht, bewegt sich nicht; und von seinen Vorhaben wird er wenig vollenden" (493-496). Ein Übermaß an Erkenntnis und intellektueller Argumentation kann kontraproduktiv sein und zum Stillstand fuhren, denn wer sich nicht traut und sich nicht ohne Ansehen von Verstandesgründen dem Leben stellt, erreicht nichts. Absolute Sicherheit gibt es nicht, und das Leben entwickelt sich schneller als die Erkenntnis, häufig sogar an ihr vorbei. Das Kind wird in die Welt geworfen, ohne etwas zu wissen, geleitet durch seinen vitalen Impuls. Mit seinem Lebenswillen und seiner Bereitschaft, zu lieben statt zu hassen und positiv statt negativ zu denken, muss der Mensch auf die Ereignisse zugehen und auf annähernd vernünftige Weise - entsprechend dem, was er sieht oder zu sehen glaubt, und dem, was er mit seinen Idealen oder Träumen verbindet — seine Wahl treffen; dies jedoch, indem er darauf bedacht ist, das Beste nicht nur allein für sich zu erlangen und sich nicht dem zu verschließen, was ihn umgibt. Um dies zu erreichen, ist es bisweilen nötig, die eigenen Träume oder (häufig unvermeidbaren) Vorurteile zurückzustellen, damit wir (fern von unseren Feuern) die Sterne sehen, die neue Lichter erstrahlen lassen. Den Weg dorthin finden wir nicht Schritt für Schritt über logische Argumente, sondern sprungweise über die Intuition. Schon Zenon von Elea stellte fest, dass die Strecke zwischen zwei beliebig angeordneten Punkten, mögen sie auch noch so nah beieinander liegen, unendlich teilbar ist. Genauso gibt es zwischen zwei Anschauungen oder zwei Objekten eine unendliche Zahl möglicher Positionen, denen nacheinander und Schritt fiir Schritt zu folgen unmöglich ist, denn das Unendliche ist per definitionem ohne Ende. Ans Ziel gelangen wir nur, wenn wir gewissermaßen einen Abgrund überspringen; und dies geschieht mittels der Intuition. "Zu viel Besonnenheit ist abträglich fiir den Erfolg, denn dieser liegt im Wagnis begründet" (497-500). Zu viel Vorsicht ist unvernünftig, denn die Welt ist nicht nur logisch; und indem sich das Wagnis über die geltende Norm hinwegsetzt, befreit es sich aus dem Gefängnis unserer Lebensverhältnisse (die uns als gesellschaftliche Konventionen oder physische Bedingungen oft gefangen halten). "Besonnenheit lasse man so weit walten, dass daraus keine Trägheit wird, und Scham so weit, dass man sie nicht Dummheit nennt" (489-492). Was viele Vorsicht nennen, ist häufig nur Faulheit und Mangel an Antriebskraft, die sich hin-
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ter allgemein anerkanntem Brauch versteckt. D e n n die Gesellschaft begegnet mit Wohlwollen dem Mittelmaß, ist aber (wie Nietzsche richtig erkannte) grausam gegenüber dem, der sich darüber erhebt oder darunter fällt. Besonnenheit, die sich nicht traut, den eigenen Uberzeugungen zu folgen, weil Rücksichtnahmen geboten scheinen, die für einen noch unreifen und unsicheren Menschen kennzeichnend sind, erscheint als verwerflich, da sie das Ich entleert und zu einer Hülle verkommen lässt, aus der die bis dahin unantastbaren Inhalte entweichen. Scham angesichts des Beschämenden - dessen, was entsprechend den eigenen Kriterien und nicht denen der anderen unmoralisch erscheint — ist jenen Menschen eigen, die unbeirrt und entschlossen, so weit wie möglich, das Leben selbst in die Hand nehmen und sich nicht ziellos von wechselnden Winden treiben oder vom üblen Dunst ideologischer Verirrungen kontaminieren lassen. Wer aber nichts wagt, der unternimmt und investiert nichts; etwas erbauen oder ein Unternehmen starten, ist immer ein Wagnis. Der Mensch muss etwas wagen, nichts anderes bedeutet zu leben; allein das Ausmaß ebenso wie das Wie und Wo entscheidet, ob er sich als klug oder als einfältig erweist. "Da die Welt nicht festen Regeln gehorcht, stürzt zu viel Zweifel den Menschen ins Elend. Ich sage nicht, er möge unvernünftig handeln, denn einer drohenden Gefahr soll er aus dem Wege gehen. Da man aber ebenso gewinnen wie verlieren kann, soll er dem Zufall entgegengehen" (501-512). Sem Tob begreift auf logische Weise, dass die Welt ein unlogisches Element enthält, dass es keinen gesicherten und verlässlichen Plan gibt und dass man folglich unerschrocken handeln muss. Wer den Versuch nicht wagt, entdeckt nicht den Weg, der für ihn der richtige ist, und lernt nicht, welche Optionen er verwerfen muss. So wie das Kind laufen lernt und erprobt, was es kann und was nicht, ist der Irrtum für den Fortschritt der Erkenntnis notwendig. Dasselbe gilt für den, der sich anschickt, über einen Graben zu springen: Je mehr er über die Gefahren nachdenkt, umso hilfloser und unentschlossener wird er, und umso größer wird fiir ihn die eigentliche Gefahr. Sem Tob zeigt sich weise, indem er sich durch das, was ihn umgibt, nicht täuschen lassen will; doch er vertritt auch die Auffassung, dass wir unser Leben auf die bestmögliche Art leben sollen. Daher ist er kein Verfechter eines reinen Skeptizismus, geht auch nicht aus von einem absoluten Irrationalismus. D e n n es gibt Erscheinungen wie den Schmerz oder die Erfahrung des Bösen und der Liebe, die uns etwas von dem vermitteln, was wir rein intuitiv als die zentralen Koordinaten der Welt begreifen. Die jedem lebenden Wesen eigene natürliche Vorsicht veranlasst uns, Gefahren zu umgehen. Dass unsere Vorsicht sich möglicherweise als unbotmäßig erweist oder wirkungslos bleibt, dass unser Handeln vielleicht
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nicht zu dem gewünschten Ergebnis fuhrt: All das erscheint unvermeidlich, liegt nicht in unserer Macht. Mathematische Präzision ist keine Sache von uns Sterblichen, hinsichtlich der Moral wie in der Liebe; oder wie Goethe schrieb: "Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das schnellste zu erholen und herzustellen, ist schön und preiswürdig. Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet. Wer macht nicht irgend eine Anlage und wird darin gestört! Wie oft schlägt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft werden wir von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt, um ein höheres zu erreichen!"8 Wenn die Welt auch in nicht geringem Maße absurd erscheint, so gibt es doch partielle Logiken, Augenblicke der Harmonie und bestimmte Erscheinungsformen der Vernunft. Es gibt eine Reihe physischer Gesetze, die uns prägen, die der Welt innewohnen, auch wenn sie sich unserer Erkenntnis entzieht. Daher, so Sem Tob: "Wer sich nur ungenügend bedeckt, wird die Kälte doppelt spüren. Wer viel gewinnen will, muss Verluste hinnehmen. Wer die Forelle fangen will, muss sich in den Fluss wagen" (513-520). So skeptisch jemand auch sein mag, er wird sich — sofern er nicht wahnsinnig ist — kaum ein Messer in die Brust stoßen, um Lust zu empfinden; denn unser körperliches Empfinden ist einigermaßen funktionsfähig. Um ans Ziel zu gelangen, ist der direkte Weg nicht immer der kürzeste; und häufig werden wir durch die Widersprüche behindert oder gestoppt. So muss man, um etwas zu gewinnen, etwas verlieren: Wer säen und ernten will, wirft Korn in die Furche; wer investiert, trennt sich von seinem Geld, damit es vermehrt zu ihm zurückkommt. Man muss etwas wagen und ins kalte Wasser springen, will man den Fisch fangen, der sich im tiefen Strom des Lebens verbirgt, und die Struktur unseres Denkens sich bis auf den Grund vollsaugen lassen: die Schemata, mit denen wir glauben, uns über Wasser halten und schwimmen zu können; die Systeme, die zerschlagen oder unvollendet sind, die wachsen, sich entwickeln oder gar mutieren. Nur zum Teil können wir in diesem Strom schwimmend die Richtung bestimmen; und nur gelegentlich können wir mit unseren Werken den natürlichen Lauf des Flusses verändern. Das Ideal wird bei Sem Tob durch die Praxis gefiltert; und seine Präferenz liegt eindeutig bei dem, was Sancho Panza (den er nicht kannte) verkörpert: ein Realismus, der aber manch wagemutige Aktion Don Quijotes bewundert. "Wer sich vor allen Winden in Acht nimmt, sät nicht; wer ständig nach den Wolken sieht, wird niemals ernten" (521-524). Wer danach strebt, alles unter Kontrolle zu haben - unterworfen dem klassifizierenden Willen seiner Vernunft - , der
8. Die Wahlverwandtschaften, 2. Teil, Kap. 10 (Goethe 1987: 468).
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ist anmaßend und eitel, denn er will das Unmögliche, dem Menschen Unerreichbare. Sem Tob würde sagen: Die Schöpfung beherrschen, ist Sache des Schöpfers, der einen Teil — und nur einen Teil - an die Sterblichen abtritt; und diesen Teil auch nur unvollständig, da nichts an sich ist, sondern alles vom Ganzen abhängt. Der große Zusammenhang entzieht sich uns. Daher ist das Wagnis ein unverzichtbarer Teil des Lebens: das Vertrauen in uns selbst (Nietzsche) oder in das Andere (Religion), wodurch wir die Angst vor dem Irrtum überwinden. "Es gibt keinen Tag ohne die Nacht, keine Ernte ohne Saat, keine Hitze ohne Kälte, kein Lachen ohne Weinen; es gibt nicht kurz ohne lang, nicht spät ohne früh, und es gibt kein Feuer ohne Rauch, kein Mehl ohne Kleie, kein Gewinnen ohne Verlieren, keinen Aufstieg ohne Abstieg und — außer in Gott — keine Macht ohne Schwäche" (525-536). Die Lehre von den Gegensätzen, die bereits seit Heraklit bekannt ist und dann um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Schelling und Hegel mit größerer Präzision und Beweiskraft vorgebracht wurde, verlangt fiir alles Seiende sein Gegenteil, wie die zwei Seiten ein und desselben, wie wenn sich das eine aus seinem Gegenteil speist. Heute wissen wir, dass der Tag und die Nacht vom Stand der Erde zur Sonne abhängen; und damit sich das eine ergibt, muss auf der anderen Seite des Planeten sein Gegenteil auftreten. Andere Beispiele verweisen auf das Prinzip der Relativität als ein Mehr oder Weniger: Jede Abstufung ergibt sich in Beziehung zu etwas anderem, wodurch wir zum Beispiel unterschiedliche Stufen an Helligkeit ebenso wie völlige Dunkelheit oder blendendes Licht einstellen können (auch wenn wir nie wissen, ob wir den Grenzwert erreicht haben oder nur etwas, das uns mehr oder weniger diesen Eindruck vermittelt). Daher gibt es nicht kurz ohne lang, da sich das eine im Verhältnis zum andern definiert; es gibt keine Verspätung ohne das, was zuvor geschieht, und kein Oben ohne Unten, da beides von der jeweiligen Position des Subjekts abhängt. Die genannten Bezüge sind bloße Ideen und als solche relativ und in ihrer Bedeutung voneinander abhängig. Sogar im Christentum wird (zumindest teilweise) die Notwendigkeit von Gegensätzen offenbar: Für die Auferstehung bedurfte es des Kreuzes, das ewige Leben fordert den Tod, und in der Askese bedarf es des Leidens, um die Freuden Gottes zu genießen. Dagegen wird nicht ohne Weiteres akzeptiert, wie es die Manichäer taten, dass es das Gute ohne das Böse nicht gibt; denn dies würde bedeuten, dass fiir die Existenz Gottes die des Teufels in gewisser Weise unerlässlich und dieser folglich ein positives Element wäre, da ohne ihn nichts sein würde. Das Sein braucht offenbar nicht sein Gegenteil, um zu existieren, denn das Nichts existiert nicht, auch wenn wir das eine wie das andere begrifflich zu fassen vermögen. Im Bereich der Ethik geht es um das, was als Wert, als das Gute oder das Böse, begriffen wird. Möglich ist durchaus, alles als gut zu begreifen. Dann
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läge das Böse in der Wenigkeit des Guten als etwas, das an die Vorstellung von Menge oder Umfang gebunden wäre; etwas, das begrenzt oder begrenzt ist, gering oder geringfügig, mehr Mangel als Präsenz. Genauso kann man im Bereich der Ästhetik — was auch auf die meisten zeitgenössischen ästhetischen Theorien zutrifft — entsprechend dem jeweiligen Standpunkt alles als schön betrachten. Dann würde das Hässliche sich allein aus dem Vergleich mit etwas ergeben, das dem betrachtenden Subjekt in diesem Moment besser, interessanter oder annehmbarer erscheint als das Gegenwärtige, das somit als unzulänglich bewertet wird. Allein in Gott, so Sem Tob, fallen die Gegensätze zusammen oder werden aufgehoben; dies in einer Art Inversion dessen, was Nikolaus von Kues sagte: Für Gott gibt es insofern keine Gegensätze, als seine Macht keinen Widerstand zulässt, denn alles ist in Gott und durch Gott. "Nichts ist ohne Makel, nichts ohne Zweifel; es gibt keine Schönheit ohne Hässlichkeit, und keine Sonne ist ohne Schatten. Das Gute an etwas erkennt man durch sein Gegenteil: durch das Bittere das Wohlschmeckende, die Vorderseite durch die Rückseite. Gäbe es keine Nacht, würden wir das Tageslicht nicht zu schätzen wissen. Es gibt kein Fell ohne Mängel, kein Sofort ohne Später, keinen Bauch ohne Rücken und keinen Kopf ohne Füße" (537-552). Man könnte sagen, dass alles Seiende neben dem, was es nicht ist, das offenbart, was ihm fehlt (Grenzen, Fehler, Mängel); und dies ganz besonders mit Blick auf das, was es werden kann. Je nachdem, was der Betrachter für wichtig oder wertvoll hält, wird er bestimmte Aspekte vermissen. Nur das absolut Ganze kann als namentlich perfekt angesehen werden, denn es enthält die Perfektion eines jeden Seienden — aber auch dessen jeweilige Grenzen und Widersprüche, wobei allerdings in der umfassenderen Sphäre des Seins die Unvollkommenheit überwunden wird. Die Tatsache, dass es nichts Schönes ohne etwas Hässliches gibt und umgekehrt, erklärt sich dadurch, dass sich das eine vom anderen abhebt und wir unterschiedliche Abstufungen und sogar verschiedene Arten oder Dimensionen von Schönheit und Hässlichkeit wahrnehmen. Haben wir Sonne und Licht, dann haben wir auch Schatten und Dunkelheit (was auf so etwas wie einen onthologischen Manichäismus hinauszulaufen scheint); doch letztlich zeigt sich darin nur die Widersprüchlichkeit der Welt, die über die reine Vernunft allein nicht zu begreifen ist.
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"Der Sanftmütige wird mit Füßen getreten und der Grausame verabscheut; der Geizige wird gering geschätzt und der Freigebige für verrückt erklärt" (553560). Ganz im Sinne der aristotelischen Ethik von der rechten Mitte kann eine Tugend, wenn sie übertrieben wird, das Gute in sein Gegenteil verkehren: etwa die Klugheit in Dummheit. Doch hier geht es um etwas, das über den Stagiriten hinausweist, das heißt: Offenbar ist in allem, das in der Welt existiert und zu dem wir Zugang haben, sein Gegenteil enthalten — so wie der Engel in sich die Möglichkeit barg, sich in den Teufel zu verwandeln. Mehr noch: Das Paradoxon, welches darin besteht, dass eine Qualität allein aufgrund ihrer Quantität bzw. durch Verstärkung oder Zunahme zu ihrem Gegenteil werden kann, wird häufig deutlicher sichtbar als ihre Stärke. Ist einer in hohem Maße aufrichtig oder beschreibt einer ohne Umschweife, wie er innerhalb der Gesellschaft mit übermäßiger Rechtschaffenheit handelt, dann wird er von vielen für verrückt erklärt. Sem Tob selbst bestätigt die eigene Maxime: Er ist zu aufrichtig und konsequent in seinen Lehren, um nicht von Philosophen, die der Ratio huldigen und einem strikten Rationalismus verpflichtet sind, für schwachsinnig gehalten zu werden. Denn für sie ist die Realität, auch wenn dies durch die Erfahrung nicht bestätigt wird, in sich stimmig und folgerichtig, sind ihre Phänomene exakt messbar und fügen sich problemlos in ihr System, in ihre geistigen Kategorien und Strukturen, so armselig sie auch sein mögen. Aufgrund des Elends vieler in der Welt erkennen wir, "dass es nichts Wertvolleres gibt als die Freigebigkeit" (563-564). Der Egoismus, der uns von Natur aus eigen ist und uns (genetisch bedingt) von Geburt an, ein jeder als Konkurrent des anderen, heranwachsen und entwickeln lässt, wird durch die Freigebigkeit überwunden, die ein göttliches Gut ist (denn Gott gibt alles, ohne etwas dafür zu bekommen, da er alles, was er sein kann, bereits ist - wie die Tradition besagt, aus
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der sich auch das Denken Sem Tobs speist). Dieser fährt fort: "Doch die Freigebigkeit enthält einen Makel, der sie sehr beeinträchtigt: Wie der Mond nimmt sie ab, nimmt aber nie zu. Bei der Freigebigkeit ist es nicht so wie bei den anderen Bräuchen: dass man aus der Gewohnheit lernt, wie man es macht (was man am häufigsten betreibt, das lernt man am besten), ausgenommen diese Eigenschaft, die verloren geht, wenn man sie praktiziert: Wer sich in Freigebigkeit übt und dies großzügig tut, der kann nicht verhindern, dass er in Armut fällt. Denn wenn man beständig gibt, bleibt nichts, was man noch geben kann; so wird durch den, der freigebig ist, die Freigebigkeit geschmälert. So wie die Kerze ist auch der freigebige Mensch, denn sie verbrennt, um anderen zu leuchten. Allein dem König gebührt es, sich in Freigebigkeit zu üben, denn er ist davor geschützt, in Armut zu fallen; für andere ist es nicht gut, sie sollten das Übliche geben und haben, denn alles Weitere ist von Übel" (565-596). Aus diesen Strophen scheint das spezifische Wissen der Juden jener Zeit zu sprechen, da sie die einzigen waren, denen gestattet wurde, sich dem in der christlichen Kultur als unmoralisch erachteten Geschäft des Geldverleihs gegen Zinsen zu widmen. Wer hätte damals fiir möglich gehalten, welch hohes gesellschaftliches Ansehen Banken und Bankiers, viele von ihnen Christen, Jahrhunderte später in Ländern der christlichen Welt erringen sollten! Zinswucher war das Böse schlechthin; unsere Marktwirtschaft heute ist ohne Bankkredite, wenn auch zu gemäßigteren Zinsen als in jener Zeit, nicht vorstellbar. Vorstellungen von Moral ändern sich von Epoche zu Epoche, ebenso wie die Auslegung mancher Aspekte der Religionen. Ihr Fundament oder Wesenskern wird je nach den vorherrschenden Interessen, den Vorurteilen oder den Sichtweisen, die eine jede Epoche und Gesellschaft ermöglicht, neu strukturiert. Daher rührt die Vielfalt von Lebensweisen und die Tendenz vieler, sich der herrschenden Moral anzupassen. Möglich ist aber auch die naturgemäße Opposition der Dissidenten, die das Befolgen derartiger Vorschriften als verzichtbar erachten und sich bewusst für einen eigenen Weg entscheiden - eine Haltung, die nicht zu bestrafen, sondern zu respektieren ist, denn sie sind häufig die scharfsinnigsten und weitsichtigsten Mitglieder einer in ihren Gewohnheiten gefangenen Gemeinschaft. Sem Tob greift den Gedanken der Mäßigung im Geben auf, denn weder in der Sphäre der Moral noch ganz konkret kann man geben, was man nicht besitzt; und es erscheint wenig zweckmäßig zu geben, wenn man das, was man besitzt, zu verlieren droht. In diesem Zusammenhang sollte man heute aber auch nicht die Einsichten von Karl Marx außer Acht lassen, der feststellte, dass die Anhäufung gesellschaftlichen Reichtums stets über die Ausbeutung fremder Arbeitskraft erfolgt. Der Unternehmer erwirbt sein Kapitel, indem er den Arbeitern das vorenthält, was er
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im Sinne einer größeren Gerechtigkeit unter allen aufteilen müsste, da sie es gemeinsam erarbeitet haben (wobei ihm selbst durchaus etwas mehr zugestanden werden kann). Und wenn wir die Erkenntnisse des Marxismus sowie die Ideen (nicht so sehr die Aktionsformen) des Anarchismus mit dem klassischen christlichen Gedankengut zusammenbringen, kommen wir zum Kamel, das wenig Chancen hat, durch ein Nadelöhr zu passen: eine Anspielung auf den Reichen, der, mit einem Höcker beladen, gleichermaßen wenig Chancen hat, in das Reich Gottes zu gelangen. Der Reiche oder der, der viel besitzt, muss seine Habe auch den anderen zur Verfugung stellen, wenn er nicht ungerecht sein will. Er muss der Gesellschaft, der er seinen Wohlstand verdankt, zumindest anteilmäßig etwas zurückgeben; was nicht bedeutet, dass er seinen Reichtum verschwenden, verschenken oder in exzessiver Nächstenliebe unter die Menschen bringen muss, sondern dass er diesen einsetzt - und möglicherweise noch vermehrt - , indem er Unternehmen, Industrieanlagen und Bauten schafft, die nicht nur einigen wenigen Nutzen bringen, sondern der Gesamtgesellschaft, die ihm derlei Privilegien zugesteht, ihm aber auch sehr viel mehr Pflichten als anderen abverlangen muss. Sem Tob ist Praktiker, und seine Philosophie ist pragmatisch; wenig hilfreich erscheint da das "reine" Denken eines Aristoteles, wenn es in unserem Alltag nicht von Nutzen ist. Wissen ist eine Handlung unter vielen; und Wissen erreichen wir, angetrieben von unseren Wünschen oder unserem Willen, aufgrund vitaler Notwendigkeiten und seiner Nützlichkeit. Wissen ist in gewisser Weise Aktion; daher die verständliche Irritation mancher gegenüber den Intellektualisten, den sterilen Gelehrten oder denen, die ausschließlich in (für den Rest der Gesellschaft kostspieligen) Bibliotheken und in einer Traumwelt leben, auf Kosten der anderen und ohne Gegenleistung. Wissen ist, sofern es Wesentliches tangiert, seiner Natur nach nützlich und praktisch, da es sich im Blick auf die Wirklichkeit entäußert, nicht in einer Anhäufung von Ideen, Bücherwissen oder Computerdaten. Nutzloses Wissen erweist sich als etwas Sinnloses; handelt es sich um ein angemessenes Wissen, vervollkommnet es den Wissenden, wie Sokrates und Piaton erkannten. "Ist der Mensch süß, wird man ihn wie Wasser trinken; und ist er bitter, werden ihn alle ausspucken" (597-60). Die Natur lehrt uns, dass die Tugend Hand in Hand gehen muss mit Schläue und dass eine einfältige Tugend sich am Ende als schlecht herausstellen kann. Mäßigung, nicht in Extreme verfallen, zu denen andere uns verleiten wollen, ist unabdingbar, wollen wir nicht leer dastehen. Die Tugend, die Sem Tob propagiert, ist nicht platonisch, auch nicht für Engel erdacht, sondern für menschliche Lebewesen: folglich Wesen, die nicht nur vernünftig, sondern auch verwirrt, chaotisch und unbeständig sind. Und den, der
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sich im Sinne dieser Tugend perfektioniert, muss die Gesellschaft pfleglich behandeln, da dies nicht nur der Tugendhafte selbst, sondern auch der Gemeinschaft zum Vorteil gereichen wird. "Um sich wenigstens vor den Intriganten zu schützen, muss man seine Wesensart häufig verändern. Denn der Mensch ist wahrhaftig wie die Furt: Bevor die Menschen sie durchquert haben, misstrauen sie ihr. Ruft der eine dem anderen zu: 'Wo wollt Ihr da rein? Das ist hundert Armlängen tief. Warum wollt Ihr Euch der Gefahr aussetzen?' Und nachdem er ans andere Ufer gelangt ist, heißt es: 'Was habt Ihr befurchtet? Das Wasser reicht nicht mal zum Knie. Nur zu, habt keine Furcht.'" (601-616). Sem Tob zeigt uns nicht - wie Machiavelli in seinem Werk II Principe — Tricks, mit denen wir alles und alle zu unserem Vorteil ausnutzen können und uns auf Kosten der anderen allein von unserem Egoismus leiten lassen, sondern verweist auf die Notwendigkeit, flexibel zu sein — sei es auch nur, um die Intriganten auszuschalten und nicht selbst von ihnen ausgeschaltet zu werden. Deshalb muss man nicht genauso falsch wie die anderen sein, wohl aber mit Bedacht handeln und sich nicht in allem offenbaren, um keine Angriffsflächen zu bieten. Vielleicht war es die Zeit, in der Sem Tob lebte und die vom Chaos der Bürgerkriege heimgesucht wurde, die von den Menschen verlangte, sich auf bestimmte Weise zu arrangieren, wollte man nicht als Held sterben und einfach nur überleben in einem Krieg, in dem sich bisweilen Interessen gegenüberstanden, die ihr eigenes Leben in keiner Weise tangierten. Der Mensch ist ein undurchsichtiges Wesen, dem man nicht unbedingt trauen kann; denn aus Eigennutz, Unüberlegtheit oder auch Geschwätzigkeit mag er uns verraten und uns zu Fall bringen. Das bedeutet nun nicht, dass Sem Tob mit seiner Lehre Kant widersprechen würde, der als rigider Moralist als Fundament seiner Ethik die Pflicht um ihrer selbst willen propagiert, und auch nicht, dass der Mensch grundlegenden Prinzipien entsagen soll. Es geht vielmehr darum, dass man es versteht, sich flexibel auf möglicherweise gravierende Umstände einzustellen und auf Mitmenschen zu achten, die einem, ist man nicht auf der Hut, schaden können. Hier wird einmal mehr deutlich, was Fichte hinsichtlich des Ich-Bewusstseins als Zentrum seiner Philosophie sagt; und so propagiert ein mittelalterlicher jüdischer Philosoph angesichts der Bedrohung durch die verschiedenen Fraktionen der Bürgerkriege und deren Gewaltausbrüche die Notwendigkeit, mit Bedacht zu handeln. Es geht um die Frage, ob man auf das Böse mit etwas Bösem antworten darf oder im Sinne des Guten handelt, das sich möglicherweise für einen selbst und für andere als nachteilig erweist (etwa, wenn es darum geht, die eigene Familie zu beschützen). Dass man keine unerlaubten Mittel einsetzen darf, um Gutes zu er-
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reichen, ist als abstraktes Gebot eine feine Sache. Aber die Realität besteht nicht aus Abstrakta; sie ist undurchschaubar, komplex, häufig diffus. Folglich kann man, genau genommen, niemanden richten. So wie der Chirurg den Patienten verletzt, um ihn zu heilen (was allerdings nicht immer gelingt), mag es sich auch bisweilen mit der Moral verhalten. Gut und Böse sind nur mentale Kategorien: Etiketten, die in der Wirklichkeit nicht immer eine eindeutige Entsprechung haben. Die Ansicht Nietzsches, dass weder Gut noch Böse existieren, mag man auch in dem Sinne deuten, dass Eindeutigkeit nicht existiert und vielleicht unmöglich ist. Keiner konkreten Gesellschaft, Kultur oder Religion ist es gelungen, sie zu umreißen. Daher versucht jedes Subjekt auf die ihm eigene Weise, sie zu ergründen — auch wenn es gelegentlich, etwa wenn Kinder hungers sterben, wo Wohlstand und Überfluss vorhanden sind, an Eindeutigkeit nicht mangelt. So ist auch der Mensch aufgrund seiner Natur (trotz Rousseau und Hobbes) weder besonders gut noch besonders schlecht, sondern eine genetisch programmierte Kreatur, der es nach und nach mehr oder weniger gelingt, sich seiner bewusst zu werden: dies im Kontakt und in der Auseinandersetzung mit anderen, indem man lernt und wieder verlernt, bis einem zugestanden wird, entsprechend den empfangenen Lehren den Gebrauch der Vernunft erlangt zu haben. Der anfängliche Egoismus ist naturgegeben und gut ebenso wie das Streben nach Wettbewerb und Kampf, was wir unserer animalischen Seite verdanken. Verstand, Gefühle, Intuition, Bräuche, der Kontext oder die Gesellschaft und ihre Kultur liefern uns dann die zu befolgenden Regeln, die aber stets nur orientierenden Charakter haben. "Daher müssen die Menschen, wollen sie sich vor Schaden bewahren, ihre Handlungsweisen wechseln, wie man die Kleider wechselt: heute streitsüchtig und morgen friedlich, heute bescheiden und morgen anmaßend, heute freigebig und morgen geizig, heute Hügel und morgen Ebene; mal mit Demut und mal mit Überheblichkeit, mitunter Rache und mitunter Vergebung" (621-632). Der Sem Tob zugeschriebene moralische Relativismus bezieht sich nicht allein auf Fragen der Ethik, sondern (wie bei Spinoza) auch auf die Praxis des Alltags. Er entspringt nicht allgemeinen Prinzipien, sondern ergibt sich aus dem, was Sem Tob bei den Menschen beobachtet: aus ihren Handlungen, die mehr oder weniger mit Fragen der Moral zu tun haben, auch wenn es hier keine klaren Grenzen gibt. N u n ist es keineswegs so, dass Sem Tob (wie Spinoza) den genuin ethischen Wert moralisch guten oder schlechten Handelns bestreitet. Er ist aber kein Platoniker, der sich an Idealen orientiert, sondern er erforscht die Bedingungen der menschlichen Existenz, die für ihn flexibel und wandelbar sind — wie weit, wäre dann die entscheidende Frage. Sich den Verhältnissen anzupassen und entspre-
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chend zu handeln, mag als unmoralisch, weil opportunistisch, gewertet werden. Doch erscheint dies als wenig vereinbar mit dem, was Sem Tob an anderer Stelle über Gott und die Tugenden sagt - auch wenn ihm ein Sich-Anpassen an die Umwelt, das die Verfechter eines moralischen Rigorismus als feige, opportunistisch und inakzeptabel verurteilen, kaum verwerflich erscheint. "Es ist nicht ratsam, alle Menschen gleich zu behandeln, sondern einige gut und andere schlecht" (637-640). Sem Tob ist nicht jemand, den wir in diesen Versen mit der Aufklärung in Verbindung bringen können, denn die Vorstellung, dass alle Menschen ihrem Wesen nach gleich sind und vor dem Gesetz gleich sein müssen, war zu seiner Zeit nahezu undenkbar — und wenn überhaupt, dann nur als Schimäre, als Utopie. Offensichtlich ist, dass wir weder hinsichtlich unserer geistigen Fähigkeiten noch hinsichtlich unserer Werte, weder in unserem Charakter noch in unserem Wissensstand und unseren Moralvorstellungen gleich sind. Folglich könnte die gleiche Behandlung Ungleicher sich als ungerecht erweisen - außer in der grundsätzlichen, abstrakten Frage des Respekts gegenüber der anderen Person. Wir Menschen sind konkrete, partikulare Lebewesen und keine abstrakten Entitäten. Wir produzieren Abstraktionen, erfinden Ideen, konstruieren Gedanken, auch wenn wir uns in ihnen verfangen und nicht einmal zu sagen wissen, ob es einen Menschen gibt, der nicht träumt. Im Verein mit der Menschheit fuhrt der Traum oder das Ideal — Ideengebäude, die vielfältig und wandelbar sind - noch sehr viel weiter, als es selbst Calderön de la Barca zu beschreiben vermochte. Wir sind Träume, weil wir diese aus unserer eigenen Materie, aus unseren Gedanken heraus produzieren; und wir sind Träume im Schlafen und Wachen des Universums. Wie mit den Träumen, in denen die Wirklichkeit sich nur verworren und wie in einem Nebel offenbart, steht es auch mit den moralischen Kategorien: "Es gibt in der Welt kein Böses, in dem nicht auch das Gute enthalten ist. Vom Bösen den geringsten Teil und vom Guten den größten zu nehmen, ist das, was sich für die Guten wie für die Bösen empfiehlt. Respekt gebührt dem Guten aufgrund seiner guten Taten, und Respekt gebührt dem Bösen, damit man sich vor ihm hüte" (643-652). Sem Tob, fiir den zumeist die realistische und negative Sicht auf die Welt betont wird, erweist sich hier als ein optimistischer Autor. Denn er verweist darauf, dass sich aus allem Bösen auch das Gute entnehmen lässt, wie es in dem nach christlicher Auffassung optimistischen Spruch heißt: omnia in bonum timentibus Deum (alles wird gut für die, die Gott fürchten). Alle, die Guten wie die Bösen, gilt es zu respektieren: die Guten um ihrer selbst willen; die Bösen, damit sie uns keinen Schaden zufügen. Zweckmäßig erscheint stets, die Extreme zu meiden oder zumindest auf radikalisierte Positionen achtzugeben, denen gegen-
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über ausgewogenere Positionen in der Mehrzahl sind. "Das Schlimmste, was Euch bei einem guten Menschen widerfahren kann, ist, dass er Euch kein Gutes tut (denn Böses kommt von seiner Seite nie); und das Beste, was Euch vom bösen Menschen widerfahren kann, ist, dass er Euch nichts Böses tut, denn Gutes werdet Ihr von ihm nicht erfahren" (653-660). Dies scheint im Widerspruch zu dem zu stehen, was Sem Tob zuvor ausgeführt hat; denn wenn im Guten Böses steckt, wird man von einem guten Menschen auch Böses erfahren können (und umgekehrt). Doch hier geht es vor allem um einen praktischen Aspekt: Besser ist, sich dem ruchlosen Menschen nicht zu nähern, denn seinem Wesen nach wird er früher oder später den Menschen in seiner Umgebung so begegnen, wie es seiner schändlichen Natur entspricht. "Allen Menschen mit Sanftmut zu begegnen, ist nicht ratsam. Sondern: heute schnell, morgen langsam; mal böse und mal gut" (661-664). Der Mensch ist kein abstraktes Wesen, unveränderlich und universal; auch kein lebloses Mineral, kein gleichförmiger Stein — was er auch nicht sein muss und was auch nicht als Ideal gelten kann, denn alles Lebende kennzeichnet ja gerade Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Ist man sanft wie ein Lamm, wird man dorthin geführt, wohin man nicht möchte, und vielleicht sogar geschlachtet; ist man ein Lamm unter Wölfen und verteidigt sich nicht, so ist das eine Dummheit oder aber ein Unrecht und sogar eine moralisch verwerfliche Tat, wenn man (zum Beispiel) gegenüber anderen Verantwortung trägt. Was Sem Tob in diesen Versen sagen will, entspricht in etwa dem, was Jahrhunderte später Rousseau zum Ausdruck bringt, wenn es in Julie oder Die neue Heloise heißt, dass ein vormals gegebenes wohlmeinendes Versprechen in einen kriminellen Akt münden kann, wenn es unter veränderten Umständen eingelöst wird und dadurch etwas eintritt, was ursprünglich nicht beabsichtigt war. Das Fazit von Julie in einem Brief an SaintPreux: "Sich verändern, wenn die Pflicht sich ändert, das ist nicht Leichtsinn, das ist Beständigkeit. Sie taten vielleicht damals gut daran, daß Sie das versprachen, was nunmehr zu halten unrecht wäre. Tun Sie zu allen Zeiten, was die Tugend fordert, so werden Sie sich niemals Lügen strafen."5 Entscheidend ist somit nicht, dass wir feste Regeln oder rigide Normen befolgen, selbst wenn wir sie uns selbst auferlegt haben, so als wollten wir uns zu Sklaven von etwas machen, das im Laufe der Zeit seine Gültigkeit verloren hat; entscheidend ist vielmehr, dass wir in jeder Situation das Gute auszumachen suchen. Damit nimmt Sem Tob die Vision Kants vorweg: Der Schlüssel sittlichen Handelns findet sich nicht im Objekt, sondern die ethische Entscheidung liegt im Subjekt.
9. Julie oder Die neue Hebi'se, 6. Teil, 8. Brief (Rousseau 1978: 726).
KAPITEL 5
"Nur wenige sind es, die Verstand haben; und es gibt beinah so wenig kluge Menschen wie es Verrückte gibt" (665-668). Folglich herrscht die Unvernunft was wenig vereinbar ist mit Aristoteles' Vorstellung vom Menschen als vernunftbegabtem Wesen — in einer absurden Welt, in der die Menschen die eigenen Schimären, Phantasmen und Irrtümer glauben und in Szene setzen. Man könnte bisweilen meinen, dass die Welt, die wir uns schaffen, ein Wahn ist, den zu durchschauen nur wenigen, vielleicht sogar niemandem gelingt. Wie bei Calderón de la Barca ist die Welt der Menschen ein Traum; und von Träumen, denen die Gesellschaft Wirklichkeit verleiht, leben wir. Auch heute sind (trotz verbesserter Bildungschancen) die Weisen eine Minderheit, denn Weisheit ist mehr eine Geisteshaltung und moralische Disposition - ein Weg, um sich dem Anderen zu öffnen — als ein Wissen um Daten und Fakten. "Der eine weiß nicht ein Viertel von dem zu beschaffen, was er schuldet; der andere nimmt sich das Doppelte von dem, was ihm gebührt. Der eine forderte mehr, als ihm zustand, der andere weniger; und keinem von beiden hat es genutzt. Denn die guten Exempla haben nie gelogen: zu viel oder zu wenig kommt auf dasselbe heraus. Mit dem gesunden Menschenverstand trifft derjenige leicht das Richtige, dem Gott beisteht, und nicht weil er klug ist. In allem geschieht, was Gott gefällt; nichts vermag der Mensch durch seinen Verstand. Doch wenn durch Zufall das geschieht, was ihm gefällt, sieht er den Grund in seiner Klugheit und Weisheit" (669-692). Der Sinn dieser Strophen überrascht, vergleicht man sie mit den Lehren Spinozas, auch er ein Jude spanischer Herkunft, der in der westlichen Philosophie einen ungeheuren Einfluss hatte. Bis hin zum Bösen, Unmoralischen und Verwerflichen geschieht das, was Gott gefällt, denn der Mensch ist frei in seinem Handeln und daher auch frei, das Gute oder das Böse zu wählen. Wenn Gott als persönliches Wesen verstanden wird, schließt dieser Gedanke,
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dass ihm jegliches Handeln "gefällt", nicht aus, dass ihm gute Taten mehr "gefallen". Gut und Böse erscheinen als die zwei Seiten ein und derselben Medaille, die sich gegenseitig verstärken, so wie in einem Gemälde von Caravaggio Licht durch Schatten noch heller erstrahlt. "Aber, um keinen Irrtum zu begehen — und hier kann man sicher sein —, sei der Mensch bestrebt, Mühsal auf sich zu laden; so wird er wenigstens ohne Tadel sein. Niemand soll von ihm sagen, er sei faul, und niemand ihn verhöhnen und ihn armselig nennen. Stattdessen soll er sich plagen, so als würde es von ihm selbst abhängen, ob er gewinnt oder verliert. Und um sich zu trösten, wenn er vergebens Mühsal erleidet, soll er nicht vergessen, dass dies nicht in seiner Macht steht. Um sein Dasein zu bestreiten, soll sich der Mensch abmühen und den Ertrag Gott zuerkennen, der ihn geschaffen hat, damit er nicht müßig sei. Er wird den Menschen für sein Werk belohnen und nicht wollen, dass seine Pein umsonst ist. Nichts Lebendes kann ohne Mühen überdauern; und überleben wird nur der, der sich regt" (697-724). Niemand hält die Welt in seinen Händen. Nicht einmal unsere persönliche Welt gehört uns ganz, da die Bezüge, in die wir eingebunden sind, sich unserer Kontrolle entziehen und uns häufig mit manch Unvorhergesehenem überraschen. Doch, so sagt Sem Tob, obgleich wir nicht völlig wir selbst sind — denn wir sind auch unsere Umstände, das Gewirr von Verbindungen, in dem wir uns bewegen —, können oder dürfen wir uns nicht einfach dem überlassen, was um uns herum geschieht. Ein Teil des Netzwerks korrespondiert mit unseren Impulsen; daher ist es richtig, dass wir aktiv werden und die Welt oder zumindest unsere eigene, ganz persönliche Welt verbessern. Wenn unsere Mühen erfolglos sind, bleibt uns immerhin als Trost die Einsicht, dass wir nicht schuld sind, vorausgesetzt, wir haben getan, was wir konnten. Der Pessimismus, den man Sem Tob angelastet hat, wird hier zum Optimismus, indem er nach einem Ausweg sucht, um im Unglück nicht zu verzweifeln. Dabei stellt er sich in die westliche, auf die Griechen zurückgehende Tradition, die besagt, dass man sich nicht auf die reine Kontemplation beschränken oder in das fügen soll, was uns von außen widerfährt, sondern dass man den Geist (die Wissenschaft) im Handeln (Technik) weiterentwickelt, um, so weit wie möglich, die Welt für uns und zu unserem Wohl zu gestalten. Gleichzeitig steht Sem Tob aber auch in der biblischen Tradition, die gemäß der Schöpfungsgeschichte davon ausgeht, dass der Mensch geschaffen wurde, um zu arbeiten; das heißt, um zu handeln und in Erweiterung der Schöpfung neue Welten zu schaffen. Und um seinen Gedankengang zu vertiefen, verweist Sem Tob auf die Sterne: Himmelskörper, die im mittelalterlichen Universum als perfekt gal-
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ten: "Nicht einen Moment bleiben die Sterne an einem Ort; es wäre nicht recht, wenn sie sich abmühen und der Mensch untätig bleibt. Die Sterne bewegen sich nicht, weil es ihnen so gefällt; sie bewegen sich, u m Gott zu dienen. U n d der Mensch bewegt sich, um ein Besserer zu werden; allein aus diesem Grund soll er Mühsal auf sich laden" (725-736). Entscheidend ist das Handeln, der Vorsatz und damit der Wille, der den Wunsch bewegt und darum ringt, dass dieser in die Tat umgesetzt wird. Hat man viel versucht und unternommen, bleibt etwas bestehen, auch wenn so mancher Versuch gescheitert ist: die Beharrlichkeit, die der Möglichkeit des Scheiterns entgegenwirkt. "Das Mühlrad wird geschätzt, weil es sich dreht; und weil sie still steht, wird die Erde zertreten. Der Stall ist ein Garten, in dem Früchte nicht wachsen; und nicht mehr wert als ein Toter ist der, der sich nicht rührt. Seine Pflicht verletzt der, der nichts verdient und das Erworbene verliert, indem er ein nutzloses Leben fuhrt und sein Kapital verschwendet. Es gibt kein größeres Streben als das nach Müßiggang, das dem Menschen Schande und Unglück bringt: Der müßige Körper beschwert das Herz mit düsteren Gedanken, die ihn zum Irrtum verleiten" (749-768). Sem Tob betont nachdrücklich, wie unerlässlich Arbeit ist; dies in einer Zeit der Wirren, Epidemien und Kriege, in der nicht wenige Bauern angesichts von Raub, Zerstörung u n d Ungerechtigkeit versucht waren aufzugeben; eine Epoche, in der zudem die vorwiegend platonisch orientierte Philosophie die Aktion gegenüber der Kontemplation gering schätzte, wobei letztere nicht nur (nach Aristoteles) als Vollkommenheit des Geistes und höchstes Glück des Menschen, sondern auch von der Kirche im kontemplativen Mönchtum gepriesen wurde. So wird Sem Tob zu einem Philosophen der Aktion. Der Mensch, der bewegungslos verharrt, sagt er, ist ein Toter, gerade so, als hätte er für die menschliche Natur einen anthropologischen Kern entdeckt. Durch ein nutzloses, müßiges Leben ohne ein konstruktives Projekt wird das Individuum ausgelöscht; Nichtstun fuhrt zu Trägheit und zersetzt den Menschen wie die Fäulnis von stehendem Wasser. Der Mensch, so könnte man sagen, strebt stets nach einem Ziel, das über ihn hinausweist, getrieben von einem unstillbaren Verlangen, zu wachsen und sich zu entfalten, als könnte er sich (entsprechend der platonischen u n d aristotelischen Tradition) dem reinen Akt oder dem Sein an sich oder (nach Spinoza) der einzigen Substanz annähern. Handeln ermöglicht, den Schlüssel für das Verständnis der Welt zu finden. Wer dagegen sein Leben mit Nichtstun vergeudet, wird schwerlich die Komplexität der realen wie der idealen Welt mit all ihren Konfusionen und Mutationen erkennen. "Außerdem", so Sem Tob, "wer stets nur
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dem Müßiggang frönen will, dem wird fehlen, was er am dringlichsten braucht; und der, den er vermisst, wenn er ihn nicht sieht, der wird ihm lästig sein, wenn er ständig präsent ist" (769-776). Nicht die Objekte sind es, die uns Befriedigung verschaffen, sondern die Handlung, durch die wir sie erreichen, weshalb wir — gesehen aus der heutigen Perspektive - stets das ersehnen, was wir nicht besitzen. Wer in der Wüste lebt, sehnt sich häufig nach Wald (und umgekehrt); und wem die Berge vertraut sind, den reizt das Meer (und umgekehrt), wenn für ihn nicht die Handlung, sondern allein das Objekt zählt. Allerdings könnte man diesen Drang nach immer N e u e m als etwas deuten (wie es Joseph Addison 1 0 tut), das Vergnügen schafft und das G o t t d e m Menschen eingibt, damit dieser bestrebt ist, zu lernen und die Wunder der Schöpfung zu durchdringen — oder, so könnten wir folgern: ein besserer Mensch zu werden. In jedem Fall befriedigt das O b jekt allein über die Handlung des Subjekts, das mit seinem Blick jedem D i n g eine unendliche Vielfalt an Bedeutungen verleiht. So wird auch die ästhetische Erfahrung zu einer aktiven Kontemplation, die in dem, was das Subjekt sieht oder hört, stets Genuss und Substanz oder Bedeutung entdeckt. D e m aber, der nicht aktiv handelt und sich allein dem oberflächlichen Vergnügen hingibt, werden die Objekte schnell als gleichbleibende Wiederholung erscheinen; er wird sich langweilen mit dem, was er hat, und nach dem verlangen, was für ihn unerreichbar ist. In der Kunst gibt es durchaus das Phänomen der gleichbleibenden Wiederholung von Formen; doch indem diese über die aktive Kontemplation ergründet werden, ergibt sich in gewissem Sinne unendlich Neues. "Wenn beizeiten kein Regen fällt, werden Reliquien und Kreuze durch die Straßen getragen, wird laut u m Regen gefleht; und wenn es häufig regnet, wird er lästig, und man verflucht die Welt und den Segen, den der Regen bringt. [...] Was reichlich vorhanden ist, das ist nie von Nutzen, auch wenn es von guter Qualität ist; eine kleine Dosis vom Gegengift ist mehr wert als viele Medikamente. Nichts kann auf ewig endlos wachsen: Wenn der M o n d voll ist, n i m m t er wieder ab" (777-800). Hier begegnen wir erneut der Idee der Mäßigung, die an die "rechte Mitte" des Aristoteles erinnert, nachdem Sem Tob in anderen Passagen in mancher Hinsicht zum Exzess aufzurufen schien. Die Flucht in den Exzess ist ein Topos, der von den Philosophen bis zum Uberdruss wiederholt wird: bis hin zur Romantik und noch über die Leuchtspur hinaus, die Nietzsche hinterließ. Dagegen heißt es bei Rousseau, in Julie ou La Nouvelle Helotse, in einem Brief von Saint-Preux an Julie: "Sie wissen, daß es nichts Gutes gibt, bei d e m es
10. In: "Essays on the Pleasures of the Imagination", Nr. 4 1 2 und 4 1 3 (Addison 1884: 397ff.).
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nicht auch tadelnswerte Übertreibungen gäbe; sogar Frömmigkeit kann in Aberwitz ausarten."11 (1967: 521). [VI, Lettre VII]. Man könnte sagen, nichts ist beständig, mit Ausnahme des Göttlichen - begriffen als transzendente Wesenheit oder als ein Ganzes im Sinne der Mystik und des Pantheismus - , weil es der Exzess aller Exzesse an sich ist, vielleicht aber auch die mittlere Position aller Extreme, der Nexus, mit dem alles eine direkte Verbindung besitzt.
11 .Julie oder Die neue Heloise, 6. Teil, 7. Brief (Rousseau 1978: 720).
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"Ich rate jedem, sich mehr vor sich selbst zu hüten als vor irgendeinem Feind; dann braucht er sich keine Sorgen zu machen. Er hüte sich vor seinem Neid; er hüte sich vor seinem Zorn; er hüte sich vor seiner Habgier, der übelsten aller Eigenschaften" (801-808). Wie die Ritter des zu seiner Zeit bereits aufgelösten Templerordens ist auch Sem Tob der Ansicht, dass der wichtigste Kampf, dem sich der Mensch in seinem Leben stellen muss, in seinem Innern stattfindet. Im Grunde strebt jeder danach, ein Ubermensch zu sein; doch diese Steigerung und Potenzierung des Ich muss nicht notwendigerweise auf Kosten anderer geschehen. Nach außen hin mag man an Raum gewinnen, das Innere aber verengt sich. Der sichtbare, äußere Reichtum erstickt den des Innern wie das Unkraut den heranwachsenden Weizen - so wie das im Prinzip nutzbringende Wasser bei Überflutung die Ernte vernichtet. Ahnlich verhält es sich mit dem Neid und der Rachsucht: wie Nietzsche sagen würde, Eigenschaften des Sklaven, der frei sein möchte, aber nicht den Willen oder die Möglichkeit hat, frei zu sein; der denjenigen, der frei ist, bedroht und die Größe des Anderen verflucht, weil er glaubt, dass durch diese seine eigene materielle und geistige Erbärmlichkeit noch deutlicher sichtbar wird. Das Streben nach Wachstum und Vermehrung — ein genetischer Impuls, der die Verbreitung des Guten und den Triumph derer erklärt, die am besten ausgestattet sind - darf im Fall des Menschen nicht aufgrund negativer Eigenschaften erfolgen; ganz besonders nicht über die Habgier, denn sie ist ein Refugium des Egoismus, der sich, den anderen verschließt und auf deren Kosten agiert: "Habgier kennt kein Maß: sie ist wie ein tiefes Meer ohne Ufer und ohne Hafen. Hat der Mensch etwas erreicht, verlangt sie nach etwas, das größer und noch schwerer zu erlangen ist, denn aus dem Überfluss entsteht das Verlangen" (809-816). Sem Tob spart nicht mit Beispielen, und viele beziehen sich auf die Kälte, die im Norden der Provinz Palencia über viele Monate des Jahres anhält. So sagt er in
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diesem Zusammenhang: "Es gab einen, der eine gute Felljacke besaß, die ihn vor Kälte schützte; und er hätte nie einen Mantel gewollt, außer um damit zu protzen. Weil sein Nachbar einen warmen Mantel trug, lebte der Arme vor Neid in der Sorge, wie auch er sich einen Mantel beschaffen könnte. Er bekam ihn. Daraufhin war er in noch größerer Sorge um einen noch feineren Mantel für die Feiertage. Hätte er den ersten Mantel nicht erlangt, wäre ihm der zweite nie eingefallen" (821-836). Wir Menschen leben in Beziehung zu anderen, mit denen wir uns ständig vergleichen; daher rühren Unterschiede, die ebenso Bewunderung und Respekt wie Neid auslösen können. Doch nur wer oberflächlich urteilt, schätzt und neidet derlei Äußerlichkeiten. Wer dagegen reich ist an inneren Werten, wird bemüht sein, dem Anderen, sofern er ihn bewundert, nachzueifern, ohne den, der vieles besitzt, zurückzuweisen oder zu beneiden — es sei denn, es handelt sich um knappe Güter oder ein singuläres Amt, die Wettstreit und Ausschluss verlangen, wobei es aber darum gehen sollte, dem Besten zum Sieg zu verhelfen. "Erreicht man das Wenige, wächst die Gier nach mehr; je mehr der Mensch besitzt, umso mehr vermisst er; und je mehr er erreicht, zehnmal mehr begehrt er" (837-842). Es gibt für den Menschen kein Mittel gegen sein unablässiges Streben nach mehr, wodurch der Besitz jedweder Menge von Gegenständen gleichzeitig Mangel bedeutet und das Anhäufen von Dingen dazu führt, dass der Wunsch nach quantitativer Zunahme weiter zunimmt. Hier führt Sem T o b ein weiteres Beispiel an: "Wer zu Fuß geht und Stiefel trägt, dem wird zur Last werden, seinen Weg zu Fuß zurückzulegen, und er sucht sich ein Pferd. U n d weil er Stiefel trug, wünscht er sich immer mehr: für das Pferd Gerste und einen M a n n , der ihm Futter gibt, sowie einen Stall und eine Krippe. Von alldem vermisste er nichts, als er die Stiefel noch nicht hatte; und hätte er seine Schuhe besohlt, wäre er sehr wohl ans Ziel gekommen" (843-856). So ist der Mensch gefangen in einer Falle, die ihm die Objekte stellen, da sie immer neue Bedürfnisse hervorbringen. Die menschliche Natur macht deutlich, wie nichtig es ist, sich in Objekten zu verlieren. Sem Tob hält sich an die stoische Weisheit, die darin besteht, dass man das Vorhandene nutzen und lernen soll, mit wenig glücklich zu sein; so wie im Buddhismus versucht wird, die Wünsche zu neutralisieren, weil sie Schmerz verursachen und den Genuss des Erreichten verhindern. Allerdings bleibt das Streben, sich selbst zu perfektionieren, erhalten, denn ohne ein solches Streben ad in-
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wäre die Menschheit ebenso undenkbar wie Fortschritt: Ein Mensch
ohne Wünsche und ohne Gefühle, ohne irgendeine Leidenschaft wäre mehr wie ein Stein als ein von einem vitalen Impuls beseeltes Lebewesen. Sem Tob analysiert zwei Typen von Menschen, zwei Einstellungen, die ihm als paradigmatisch gelten, auch wenn der Leser begreift, dass sie in der extremen
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Form nicht existieren. Den einen Typus repräsentiert derjenige, der sucht und nie findet, was er begehrt, und der leidet, da ihn letztlich nichts befriedigt; der andere Typus, der als Variante des ersten gelten kann, erlangt das Gewünschte, das ihn dann aber — als Realität und damit auch defizient gewordene Utopie — enttäuscht. Vom Weisen, der etwas erreicht und mit dem, was er hat, glücklich ist, sagt Sem Tob, dass er ihn unter den Menschen nicht zu finden vermag. Aber er verweist auf ihn als ein Ideal, dem der Einzelne sich annähern kann und soll, damit er sein Verlangen beherrscht, statt von demselben beherrscht zu werden. Sich mit dem, was man hat, zu begnügen, heißt nicht notwendigerweise, dass man sich nicht bemüht oder aufhört, nach mehr zu streben. Entscheidend aber ist nicht das Streben nach Besitz oder (im Sinne Nietzsches) der Wille zur Macht in äußeren Dingen, sondern das eigene Sein zu erschließen. Und ein Mittel, dies zu erreichen, besteht darin, vorrangig das zu betrachten, was man erreicht hat und besitzt, und nicht das, was fehlt. Das heißt, man soll das Seiende und nicht dessen Negation, das Positive und nicht das Negative berücksichtigen, um daraus geistige Nahrung zu ziehen. Stets fehlt unendlich viel angesichts dessen, was man erreicht hat; das heißt, der Wille muss auf das Vollendete und die Tat gerichtet sein, nicht auf das Unvollendete und die Potentialität, die mehr enthält, als das Leben uns zu verwirklichen erlaubt. Doch wenn wir nur auf das Äußere achten, mag auch die Freude am Erreichten getrübt sein, weil wir furchten, es zu verlieren, und wir uns abmühen, es zu bewahren. Wie viele Klassiker und Sem Tob selbst erkannten, ist ein wesentlicher Grundsatz das carpe dient von Horaz. "Wenn der Mensch sich mit dem, was er hat, begnügt, ist es ihm von Nutzen. Was darüber hinausgeht, macht ihn, solange er lebt, zum Sklaven: Tagsüber müht er sich ab, seinen Besitz zu mehren, und des Nachts wacht er aus Angst, ihn zu verlieren. Seine Freude an dem, was er besitzt, ist geringer als die Sorge, es zu verlieren. Er ist unersättlich, auch wenn nichts mehr in seine Truhen passt, und müht sich weiter, ohne zu wissen, für wen er das alles anhäuft" (877-892). Sem Tob plädiert dafür, sich auf das Notwendige und Unerlässliche zu beschränken: eine Haltung, die angesichts unserer auf Konsum und Verschwendung ausgerichteten wesdichen Ökonomien nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Wie Marx richtet er sich gegen die Mechanismen des Marktes, dies jedoch aus einer anderen, eher klassischen Perspektive, indem er sich auf die Askese stützt und (wie Hippias) so etwas wie Autarkie fordert, um den durch äußere Abhängigkeit entstehenden Mangel zu vermeiden. Heute ist allerdings nicht mehr zu erkennen, was unentbehrlich ist und was nicht, hängt dies doch wesendich von dem jeweiligen Lebensstil ab. "Die in ihrem Sinnen und Trachten begehrlich sind und das Erstrebte erreichen wollen, schinden ihren Körper, um ihre Wünsche zu befriedigen. Um ihre
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Ziele zu erreichen, ruhen sie nicht und ziehen als Reisende von Ort zu Ort. Wer in seinem Sinnen und Trachten begehrlich ist, den erfüllt mit Neid der Gedanke, dass sein Nachbar mehr besitzt; und er ist voller Angst, dass der ihn übertreffen könnte. Er denkt nicht an den Tod, vor dem sie beide gleich sein werden" (893908). Der Tod, ein für den mittelalterlichen Menschen charakteristischer Bezugspunkt, erscheint Sem Tob als solcher unausweichlich, will man dem Leben auf Erden seinen Platz zuweisen. Geburt und Tod bestimmen die menschliche Existenz; in diesen beiden Momenten sind alle Menschen ohne Ansehen von Macht, Besitz und Wissen gleich. Bei der Geburt verfugen wir noch nicht über ein Bewusstsein, im Tod dagegen ja. Und auch wenn wir im Tod alle gleich sind, gibt es doch unterschiedliche Bewusstseinsformen angesichts des Nicht-Seins oder der Transzendenz. Heute, da wir dem Jugendwahn verfallen sind und den elementarsten Vergnügungen nachjagen, wird der Tod tabuisiert. Was Nietzsche in gewisser Weise in seine Vorstellung vom Ubermenschen einbezog, mag für die meisten Menschen schwierig sein: bewusst in den Abgrund zu blicken, dem wir gegenüberstehen und der uns verschlingen wird. Doch es ist ein Irrtum, nicht hinzusehen und so zu leben, als wüssten wir es nicht, wo wir es doch im Grunde alle wissen. Unabhängig davon, ob wir die Unsterblichkeit des Geistes in Betracht ziehen, ist es das Faktum unserer Sterblichkeit, das dem Text unseres Lebens, den wir tagtäglich schreiben und rezitieren, seinen Inhalt und seine Bedeutung verleiht. Wozu ist der Mensch? Sem Tob erwähnt den Tod als Bezugspunkt menschlichen Lebens, doch er fährt fort mit den praktischen Dingen, fern von metaphysischer Spekulation und spitzfindigen Diskussionen, die sich als steril erweisen könnten. "Wir leiden daran, dass wir nach Überflüssigem trachten; für das Notwendige braucht es keine großen Mühen. Wenn du erreichen willst, was du begehrst, begehre nur, was du erreichen kannst. Verzichte auf das, was deine Wünsche übersteigt, und wähle von allem stets die rechte Mitte" (909-920). Dieser Rat mag dem, der Hunger leidet, wenig nützen. Doch im Prinzip trifft Sem Tob hier den Kern einer Einstellung, die er immer wieder in stets neuen Wendungen zum Ausdruck bringt - wie man einen Nagel mit mehreren Schlägen in die Wand schlägt, wobei die Wiederholung jene Festigkeit hervorbringt, die erforderlich ist, um an dem Nagel ein Bild aufzuhängen, welches uns ein Fenster öffnet und den Blick frei gibt auf Licht und Schönheit. Seine Aussage mag besonders für unsere Gesellschaft relevant sein, sind wir doch mehrheitlich reich insofern, als wir nicht nur das Notwendige begehren, sondern im Uberfluss leben, aber viele unter uns unersättlich nach dem streben, was uns der Markt im Geiste unserer Konsumgesellschaft beständig als unerlässlich suggeriert.
KAPITEL 7
"Den Weisen fragte einmal sein Schüler, warum er keinen Handel treibt und von Ort zu Ort zieht, um reich zu werden und ein Vermögen zusammenzutragen; worauf der Weise entgegnete, er würde, um etwas zu verdienen, sich nie veranlasst sehen, Mühen auf sich zu nehmen. 'Warum', so sagte er, 'sollte ich nach etwas streben, das, wenn ich es denn besitze, mich doch nicht befriedigen würde?' Und er fuhr fort: 'Besitz erlangt man weder durch Fleiß noch durch Klugheit, sondern durch den Zufall, nicht aus eigenem Verdienst oder durch Wissen. Man verliert ihn durch Freigebigkeit und gute Werke, und man bewahrt ihn durch Geiz und Niedertracht. Aus diesem Grund würde der Weise töricht handeln, würde er mit einem solchen Unterfangen seine Zeit verlieren" (953-980). Hier erscheint die Figur des Weisen, der imstande ist, fernab der Zwänge zu leben, welche die Menschen umtreiben - und damit auch in gewisser Distanz zu den jüdischen Händlern und Geldverleihern. Sem Tob greift erneut ein bereits zuvor behandeltes Thema auf: die Welt als ein Ort der Unvernunft, wo rationale Argumente nur unvollständig oder gar nicht greifen. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaft, wo es zu viele Variablen gibt, wie wir noch heute - trotz der vielen Finanz- und Wirtschaftsexperten — feststellen, wenn es darum geht, die Weltwirtschaft auf eine rationale und zweckmäßige Basis zu stellen. Nach wie vor kommt es immer wieder zu unerklärlichen und unkontrollierten Börsenhochs und Börsenkrachs, zu Finanzkrisen, Staatsbankrotten und hohen Inflationsraten, je nachdem welche Politik gerade angesagt ist — was nun aber nicht bedeutet, dass der Markt nicht nach bestimmten Regeln funktionieren könnte. Der Weise wird seine Zeit nicht mit etwas verschwenden, was er weder braucht, noch sich auf Dauer sichern kann; und es gibt viele Möglichkeiten, seine Kräfte nutzlos einzusetzen. Wenn Sem Tob hier vom Weisen spricht, meint er nicht den Gelehrten und auch nicht den Spezialisten in Wirtschaftsfragen. Der Weise, den
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Sem Tob im Auge hat, erhebt seine Stimme, wenn es um Tiefgründigeres geht. In unseren postindustriellen Gesellschaften, in denen trotz Zunahme des Dienstleistungssektors die Produktionsmittel unverändert geblieben sind, kann es keine Mehrheit von Weisen geben. Auch wenn Wissen die Basis unserer modernen Gesellschaft ist - eine Gesellschaft, in der die Informations- und Kommunikationstechnologien und die Forschung eine eminent wichtige Rolle spielen —, wird die Gruppe der Weisen immer eine Minderheit sein. Denn tiefgründiges Wissen fordert die Askese und Anstrengungen, zu denen nur wenige bereit sind. "Für den, der über Reichtum verfugt, ziemt es sich, damit viel Gutes zu tun, so viel er nur kann. Denn wenn der Reichtum sich steigert, wird er durch Freigebigkeit nicht geringer; und durch Geiz lässt er sich nicht halten, wenn er sich einmal verflüchtigt hat" (981-988). In nur zwei Strophen schlägt Sem Tob hier eine Lösung flir das Problem der Extreme von Armut und Reichtum vor, das sehr viel später ebenso den Marxismus wie den Kapitalismus beschäftigen sollte: der Reichtum, der die einen von den anderen unterscheidet und der gemäß der Marxschen Theorie vom Mehrwert vorrangig durch die Ausbeutung der Arbeiter entsteht. Nicht nur das, was man ererbt, sondern auch das, was man erwirbt, muss den anderen zugute kommen. Denn Reichtum kommt nicht von ungefähr; er geht auf Kosten derer, die sich unterordnen, die für den Reichen arbeiten, so dass dieser, will man Gerechtigkeit walten lassen, in einem angemessen Verhältnis zu dem, was er bekommt, etwas geben muss. Zu Zeiten von Sem Tob sprach man von Barmherzigkeit; doch recht eigentlich geht es um eine moralische — und sogar um eine rechtliche - Verpflichtung, die darin besteht, dass Reichtum nicht nur den, der ihn besitzt, sondern die Gesamtgesellschaft begünstigt. Sem Tob fordert nicht, dass der Reiche alles gibt; doch je mehr Möglichkeiten er hat, Gutes zu tun, umso größer ist die moralische Verpflichtung, da er größere Verantwortung hat. Er muss sich nicht in Armut stürzen, sollte aber auch nicht allein den eigenen Bedürfnissen leben, sich dem Luxus und der Verschwendung hingeben. Wir würden heute sagen, dass Vermögen an das Prinzip der Rentabilität geknüpft ist; dies in der Form, dass Arbeitsplätze geschaffen und für eine anständige Entlohnung gesorgt wird, die es den Arbeitnehmern erlaubt, in Würde zu leben. Die Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten, auch wenn sie bereit waren, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen, hatten Recht, wenn sie feststellten, dass die Reichen (mit wenigen Ausnahmen) sich nicht zu gütigen, um das Wohl der anderen bemühten Menschen wandeln und ihren Reichtum verteilen würden, sondern dass es des Kampfes bedarf, um die Forderungen der Mehrheit Gesetz werden zu lassen. Während des 20. Jahrhunderts entwickelte sich allmählich das Modell des Wohlfahrtsstaates, der nicht wenige der Forderungen der Sozialis-
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ten und sogar der Kommunisten und Anarchisten mit dem Kapitalismus der mehr oder weniger freien Marktwirtschaft zu einer einzigartigen Synthese verband. So war man bemüht, über das Erheben von Steuern und indem man die (bereits gesetzlich verankerten) Rechte der Arbeitnehmer stärkte, die anstehenden Probleme zu lösen. Allerdings reichte dies nicht aus. Man könnte meinen, dass die Politik Zwang ausüben muss, damit der Mensch sich gegenüber seinen Mitmenschen nicht wie ein Wolf verhält - und dies nicht nur, um Raub und Mord zu verhindern, sondern auch wenn es darum geht, eine mehr oder minder gerechte Gesellschaft zu organisieren. Das entspräche dem erzieherischen Prinzip, dass das Individuum nur dann zu einem besseren Menschen wird, wenn man es zwingt, möglicherweise über institutionalisierte Gewalt; der Mensch ist nicht, wie Rousseau meinte, von seiner Natur aus gut (ausgenommen einige wenige außergewöhnliche Menschen). Das Problem greift tiefer und betrifft die Frage: Ab wann wird durch die gesellschaftliche Organisation die Freiheit erstickt oder bis zu welchem Punkt darf die Freiheit eingeschränkt werden, um Gewalt vorzubeugen? Ist eine weitgehende Einschränkung der Freiheit nicht bereits ein Akt der Gewalt? Sem Tob entwickelt seine Gedanken vor dem Hintergrund der klassischen Ethik: "Es gibt keinen Schatz, der so groß ist wie der, Gutes zu tun, und keinen Besitz, der so sicher ist und der dem, der ihn besitzt, so viel Freude bereitet. Er ehrt ihn zu Lebzeiten wie nach dem Tod. Das gute Werk furchtet nicht, von Dieben gestohlen zu werden, auch nicht, im Feuer zu verbrennen oder durch andere Gefahren umzukommen; es muss nicht versteckt und bewacht werden, auch nicht in eine Truhe gesperrt und eingeschlossen werden" (989-1004). Hier stimmt Sem Tob mit nicht wenigen Klassikern überein, mit Piaton und Aristoteles, oder den Grundlinien der jüdischen und christlichen Religion. Zwar verweist er in anderen Passagen auf den wankelmütigen Charakter des Menschen und seines Willens und betont als dessen Grundzug den Undank; doch vertritt er auch die Meinung, dass derjenige, der ein gutes Werk vollbringt, in der Regel im Leben wie nach dem Tod geehrt wird - es sei denn, dieses Werk bleibt unverstanden, wie etwa eine neue Lehre (Sokrates, Christus) oder die Werke der Avantgarde in der Wissenschaft (Galileo, Newton, Einstein) wie in der Kunst (Beethoven, Wagner, Stravinsky, Picasso, Gaudi usw.). Das gute Werk ist ein Wert an sich, ein Absolutes, und kein Werkzeug, das anderen nützen könnte. Daher muss es nicht wie die materiellen Werte, die verloren gehen können, bewacht werden. Es ist auf das Subjekt bezogen sowie auf diejenigen, die es umgeben; es bedarf keiner externen Bewertung und ist keinem Zweck verpflichtet, der ihm nicht immanent ist.
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Wer Gutes getan hat, "dessen guter Name bleibt, auch wenn er sein Vermögen, das Bett und die reichen Kleider verloren hat. Um seinetwillen wird man seine Nachfahren ehren, wenn sie verloren haben, was sie ererbten. Sein guter Name wird nie verloren gehen, alle Menschen werden seinen Namen stets in Ehren halten. Aus diesem Grund beweist du Stärke, wenn du Gutes tust; und du wirst dich zügeln in allen anderen Dingen und der Habsucht entsagen, welche die Menschen am meisten dazu bringt, Böses zu tun" (1005-1021). Ganz ohne Zweifel übertreibt Sem Tob, wenn er sagt, dass der gute Name dessen, der reichlich gibt, durch die, welche von ihm begünstigt wurden, auf immer erhalten bleibt. Hier griff er zum Stilmittel der Hyperbel, die in den hebräischen und biblischen Texten so häufig anzutreffen ist; und hyperbolisch ist auch, wenn er sagt, dass alle Menschen den, der Gutes tat, stets in Ehren halten werden. Sem Tob wusste sehr wohl, dass viele Menschen mit der Zeit vergessen und manche nicht erkennen, wenn jemand Gutes tut — selbst dann nicht, wenn ihnen selbst dies geschieht. Was er vorträgt, ist überspitzt formuliert; der Exzess, das Fehlen der rechten Mitte, ist in Fragen moralischen Handelns der Grund und die Ursache des Bösen. In der Schöpfungsgeschichte lassen sich Adam und Eva von der Schlange betören, die zu ihnen sagt: "Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist" (1. Mose 3, 5). Doch der Mensch kann nicht zur Erkenntnis gelangen wie die Götter und kann daher notwendigerweise Gut und Böse nicht unterscheiden. Denn Gut und Böse sind das Eine und Dasselbe und geben sich nur in unseren auf den Anderen gerichteten Handlungen zu erkennen — auch wenn eine moralisch gute Handlung an sich gut sein kann, was unserem Verstand im Moment des Handelns oft wie in einem Nebel verborgen bleibt.
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"Wer sich mit unrechtem Gewinn die Taschen füllen will, wird von der Sorglosigkeit verlassen" (1025-1028). Sem Tob hält sich an die klassische Ethik: Wer auf unrechte Weise Gewinn macht, auf Kosten anderer und zu deren Schaden Vermögen anhäuft, findet weder Frieden noch Sicherheit, denn die Gewissensbisse ebenso wie ein Umschwung in den Verhältnissen können ihn ins Unglück stürzen - was der weniger furchtet, der recht handelt (außer es wird ihm Heldenhaftes abverlangt). "Nichts ist so angenehm wie Sicherheit, und kein Honig ist so köstlich wie der Friede und die Freundschaft. Nichts wird mehr geschätzt als Bescheidenheit, und kein Anblick ist wohltuender als der einer glücklichen Existenz. Nichts bereitet so viel Freude wie der Gehorsam und nichts so viel Vergnügen wie die Geduld" (1029-1040). Sicherheit ist ein über alle Maßen geschätztes Gut für diejenigen, die in einer Zeit der sozialen Unsicherheit oder gewaltsamer Unruhen leben, von denen sie selbst oder ihre Familie betroffen sein können. Auf dieses vitale Bedürfnis wird sich später Hobbes' Leviathan stützen; und aus demselben Grund entscheidet sich Sem Tob für die folgende Lösung: Gehorsam gegenüber der unangefochtenen Autorität (in jener Zeit der König) und das Gebot, Ausschreitungen und Übergriffe der anderen zu erdulden; sich zu beherrschen, um nicht von der Gewalt beherrscht zu werden. In einer Gesellschaft, in der Missbrauch, Gewalt und Verrat herrschen, erkennt Sem Tob - ähnlich wie die Epikureer und nicht wenige unter den Stoikern - , dass wahre Freundschaft eines der höchsten Güter und Quell größter Freuden ist. Denn Freundschaft ist Liebe in ihrer reinen Form, frei von Erotik und den Leidenschaften der fleischlichen Liebe, bei der häufig weniger die Liebe als egoistische Bedürfnisse im Spiel sind. Frieden und Freundschaft sind gewöhnlich Attribute eines erfüllten Lebens; und Bescheidenheit wird in dem Maße geschätzt, wie unter Freunden der andere so geliebt wird, wie er ist. Unterschiede trennen nicht; der
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Stand oder Dienstgrad ist ohne Bedeutung, und keiner will mehr als der andere sein. Denn wie in der Liebe sind die Menschen ihrer Natur und ihrem innersten Wesen nach gleich, jenseits aller gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen, politischen oder religiösen Unterschiede. Entscheidend sind nicht die äußeren Gegebenheiten, sondern die Wesensart eines jeden, seine Einstellung gegenüber dem Leben. Wer sein Gegenüber als Person behandelt - als das, was den anderen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung in seinem tiefsten Innern auszeichnet —, wird ihn für sich gewinnen, denn der Einklang überwindet jede konjunkturelle äußere Differenz. Die Betonung derselben bewirkt dagegen den Neid und die Feindschaft derer, die, voller Ressentiments und den Konventionen verpflichtet, die Moral eines Sklaven besitzen. "Der Mensch ist am besten beraten, wenn er sich beherrscht und nicht im Zorn etwas tut, was er später bereut. Wer sich beherrscht und deshalb erniedrigt fühlt, wird am Ende im Vorteil sein" (1041-1048). Die Selbstbeherrschung und die Liebe - oder: die Liebe und die Selbstbeherrschung als Notwendigkeit für den, der liebt und folglich nicht schaden will - erweisen sich als Kern der Ethik: Uber unsere Partikularität und unsere Endlichkeit hinaus verbunden mit der Totalität, schauen wir wie der Weise Spinozas den Augenblick unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit und das Endliche unter dem der Unendlichkeit. Wollen wir unseren Platz unter den Menschen erkennen, ist für einen großen Teil unserer Handlungen Mäßigung gefordert. Auch wenn die Selbstbeherrschung zunächst Negation zu sein scheint, beinhaltet sie doch ein positives Element und eröffnet dem, der sie übt, mehr Möglichkeiten - so wie der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel und Mußestunden der Gesundheit des Körpers zugute kommt, indem wir ihn durch Sport trainieren und in gewisser Weise auch leiden lassen. Letzten Endes bedeutet sich nicht selbst zu beherrschen, von anderen beherrscht zu werden. Nicht zu sprechen und sich zurückzuhalten, wenn das Gegenteil allzu kontraproduktiv sein kann, muss nicht bedeuten, dass man sich erniedrigt oder nachgibt, sondern ist eher Ausdruck von Schläue und letztlich von Vorteil. "Nichts ist friedlicher, als in Armut zu leben; und nichts bringt mehr Feindseligkeit, als reich zu sein. Ich sage: der Arme ist ein Prinz ohne Ansehen, während der Reiche angesehen, aber zu bedauern ist" (1049-1056). Keiner oder nur ganz wenige streiten darum, arm zu sein, während es des Wettstreits und Kampfes bedarf, um reich und den anderen überlegen zu sein. Der Wert der Ökonomie, der Bequemlichkeit und Vergnügen - und fiir den, der ihn zur Schau stellt, auch Handlungsmacht — hervorbringt, ist ein universaler Wert. Wer würde schon gern wenig besitzen wollen, wenn er viel besitzen könnte? Der Mensch, der danach strebt, immer mehr zu besitzen, mag dem Irrtum erliegen, Objekte anzuhäufen, die nichts anderes
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sind als ein Surrogat oder Stimulus für einen Wunsch, den er sich nicht erfüllen kann. So entdeckt der jüdische Philosoph durch seine kritische Haltung - möglicherweise auch gegenüber einigen seiner Glaubensbrüder, die sich dem Geldverleih (in jener Zeit gleichgesetzt mit Wucher) und dem Handel widmeten - das Positive an dem Umstand, nicht reich zu sein (das Negative ist offensichtlich). Soll heißen: man hat keine Sorgen und Mühen, um den Reichtum zu bewahren; es gibt keinen Neid und keinen Konkurrenzkampf — es sei denn, man muss allein, um zu überleben, mit anderen konkurrieren. Geld wird vergöttert; es bewirkt Respekt und Schmeichelei bei denen, die den Reichen bewundern, die von ihm zu profitieren suchen, und sogar bei denen, die ihn beneiden. Dem Reichen wird viel Ehre zuteil, was aber noch nicht bedeutet, dass er Ehre besitzt und als Ehrenmann handelt. Im Gegenteil: Häufig ist er anfällig für Korruption, beutet seine Mitmenschen aus und neigt zu Lastern, die dem, der kaum über das Notwendige verfügt, fremd sind. (Allerdings: Der Bedürftige muss überleben, und da die Natur über dem Eigentumsrecht und dem Gebot der Sittlichkeit steht, neigt der, der Hunger hat und nur durch Schwindel und Betrug sein Uberleben sichern kann, zu Lüge, Raub und anderen Missetaten.) Wenn der Reiche unter Armen seine Position behalten will, muss er kämpfen, um seinen Besitz zu sichern und zu verhindern, dass jene ihn betrügen oder gegen ihn rebellieren. Seiner Umgebung wird eine Differenz, die nicht aus Arbeit entsteht und auf eklatante Weise nur ihn begünstigt, als offenkundige Ungerechtigkeit erscheinen; und dies gilt ganz besonders für diejenigen, die von Geburt an und unverdient über alles verfügen, ebenso wie für diejenigen, die von Geburt an unter Entbehrungen leiden, die sie nicht verdient haben. "Wer durch den Zuwachs an Ehre überheblich wird, lässt erkennen, dass er sie nicht verdient. Der gesunde Menschenverstand hat eine solche Abneigung gegen den Hochmut, dass er mit ihm nicht unter einem Dach leben könnte; und diejenigen, die bemüht waren, zwischen ihnen Frieden zu stiften, erwiesen sich als töricht. Denn hätten sie solchen Frieden zuwege gebracht, könnte man leicht glauben, dass sie Feuer und Wasser mischen würden. Wer seinen Hochmut beibehält, gibt zu erkennen, dass er im Kopf nicht einen Funken Verstand hat. Denn wäre er nicht verrückt und würde nur ein bisschen die Welt und sich selber kennen, dann würde er so nicht handeln" (1057-1080). Der gesunde Menschenverstand meidet den Hochmut, denn die Weisheit lehrt den Menschen, dass die Entwicklung des Individuums von den Umständen abhängt; etwa davon, ob es eine gute Erziehung genoss. Die Größe des Menschen besteht auch darin, dass er um die eigene Unbeständigkeit weiß und ihm bewusst ist, wie mühsam er sich sein Fortkommen sichert. Daher ist es den großen Seelen — anders als den ge-
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wohnlichen Menschen, denen es um Äußeres geht - kein Bedürfnis, ihre Mitmenschen zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Der Hochmut, der mit Geringschätzung einhergeht, ist ein Irrtum und gleichzeitig eine Verengung des Blickwinkels, Ausdruck der eigenen Borniertheit, denn der Hochmütige verkennt, dass es in der Welt unendlich viel Großes gibt, in dessen Angesicht seine Anmaßung nur lächerlich ist. So wird der Lokalpatriot, der nie aus seinem Dorf herauskam, die Welt auf die eigene kleine Welt reduzieren und meinen, dass es keine anderen Wunder gibt als die, welche er kennt und schätzt. Wer aber aus sich selbst heraus und in die Welt tritt, erkennt, indem er die eigenen Werte mit denen der anderen vergleicht, die eigenen Grenzen ebenso wie die der anderen. Sem Tob greift hier auf Sokrates zurück und erneuert somit auch die Gültigkeit jenes Sinnspruchs (Erkenne dich selbst!), der als Inschrift am Apollotempel in Delphi zu lesen war. Denn das Problem besteht darin, dass der Hochmütige weder sich noch die Welt erkennt und ihm somit Kenntnis dessen fehlt, was ihm als Bezugs- und Vergleichsgröße dienen kann. "Der edle Mensch gibt sich machtvoll gegenüber den Mächtigen, doch einfach und umgänglich gegenüber dem niederen Stand. Dem Selbstgefälligen begegnet er mit all seiner Macht, dem, der erniedrigt wurde, hingegen einfach und bescheiden" (1081-1088). Sem Tob zeigt sich hier als Anwalt der Armen und der Menschen niederer Herkunft gegenüber den Reichen und denen, die ihre Macht hochmütig zur Schau stellen. Denn wer stark ist, mag dies gegenüber denen zeigen, die seinesgleichen sind; lachhaft ist dagegen der Löwe, der seine Stärke einer Maus beweisen will. Derjenige, der um seine Größe und Stärke weiß, muss nicht bestrebt sein, diese unter Beweis zu stellen. Das gilt für den hervorragenden Lehrer oder großen Philosophen, der auf überflüssige Gelehrsamkeit verzichten kann, während der eitle Anfänger versucht, sein begrenztes Wissen zur Schau zu stellen; und es gilt genauso für den Neureichen, der dazu neigt, mit seinem Reichtum zu protzen, während demjenigen, der schon immer über Reichtum verfugte, ein einfacher Lebensstil gefallen mag. So wie es im Sprichwort heißt: Sag mir, womit du prahlst, und ich sage dir, was dir fehlt. "Ist der edle Mensch arm, so ist er fröhlich und zufrieden; ist er reich, so ist er einfach und gemäßigt. Er verbirgt seine Armut, zeigt sich glücklich, und seine Not erduldet er gut gestimmt. Ganz anders der gemeine Mensch: Vor den hohen Herren ist er demütig, gegenüber den ihm Unterlegenen überheblich; sein Unglück übertreibt er maßlos, und sein Glück stellt er zur Schau. In seinem Unglück will er im Boden versinken, in seinem Glück fordert er den Himmel heraus" (1089-1108). Derjenige, der einen edlen Charakter hat, ist nicht wehleidig und beklagt sich nicht bei seinen Mitmenschen, um diese nicht unnötig zu belasten. Und wenn es ihm gut geht, stellt
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er dies nicht zur Schau und vermeidet es, andere dadurch zu erniedrigen, denn in seiner Beziehung zu sich selbst wie zu seiner Umwelt ist er stark und gefestigt. Die äußere Stärke, die er im Umgang mit widrigen Umständen besitzt, ist ein Spiegel seiner inneren Stärke und der Fähigkeit, sich über materielle Not hinwegzusetzen. Der gemeine Mensch hingegen rächt sich aus Gehässigkeit und Groll an denen, die ihm unterlegen sind: ein Faktum, das in der Theorie — so in Nietzsches Konzept von der Sklavenmoral — wie in der Praxis vielfach belegt ist — etwa in den Statistiken zur familiären Gewalt, die deudich machen, dass Kinder, die von ihren Eltern misshandelt wurden, häufig die eigenen Kinder misshandeln. "Hört, wie sich der gemeine Mensch verhält, damit Ihr ihn sogleich erkennt, wenn Ihr ihm begegnet: Bitten lässt er sich nicht, er reagiert nur auf Zwang. Setzt ihn also unter Druck, dann wird er Euch gefällig sein. Ich vergleiche sein Handeln mit dem Bogen: Erst wenn man ihn krümmt, wird er etwas Rechtes tun" (1109-1120). Es ist nicht ratsam und vielleicht auch gar nicht möglich, auf arglose Weise nach Tugend und Glück zu streben. Das heißt, man muss lernen, das Böse zu erkennen, um nicht zertreten zu werden und in dem Sumpf, der uns umgibt, unterzugehen. Der Weise muss auf das Böse achtgeben, damit es ihn nicht mit seinen Klauen erfasst oder den Sinn seiner Handlungen in sein Gegenteil verkehrt; wie es im Evangelium des Matthäus heißt: "darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben" (Mt. 10, 16). Sem Tob verweist auf die Handlungsweise des verächtlichen Menschen zu einem praktischen Zweck: damit man einen solchen erkennt und sich vor ihm in Acht nimmt, denn wie im Dschungel muss man auf der H u t sein, um von den menschlichen Bestien in der Gesellschaft nicht zerfleischt zu werden. Damit entsagt er jeder Form des Puritanismus und zeigt sich wenig kleinlich oder spröde. In diesem Zusammenhang ist es interessant, Sem Tobs Lehren mit einigen gegenwärtig hoch im Kurs stehenden pädagogischen Tendenzen zu vergleichen: Tendenzen, die darauf abzielen, das Kind zu erziehen, indem ihm bestimmte zentrale Aspekte der Wirklichkeit vorenthalten werden. Auf diese Weise wird das Kind nicht nach und nach behutsam mit den Härten des Lebens vertraut gemacht, sondern sieht sich diesen, sobald es mit ihnen konfrontiert wird, hilflos ausgeliefert, da man ihm - aus Furcht, es zu traumatisieren - über niedliche Zeichentrickfilme eine verzerrte und einseitige, folglich falsche Sicht von der Welt vermittelt hat. Dadurch wird das Kind für die Welt untauglich; es ist nicht vorbereitet, um zu kämpfen, und aus Angst vor der Wirklichkeit bleibt es ohne jede Initiative — wie jene, die noch mit 30 Jahren unproduktiv im elterlichen Brutkasten verweilen und einer manichäischen Weltsicht huldigen, die sich aus den Zeichentrickfilmen von Walt Disney und anderen Hollywood-Produktionen
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speist. Was natürlich nicht ausschließt, dass es für eine gesunde mentale Entwicklung des Kindes zweckmäßig ist, es stufenweise, entsprechend seinem Alter und seiner Aufnahmefähigkeit, mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Der verächdiche Mensch missachtet das Begehren der Schwachen und verachtet den, der um etwas bittet, da dieser bedürftig und folglich nach seinem Dafürhalten unterlegen ist. Setzt man ihn aber unter Druck, reagiert er in der Weise, die man bezweckt; denn er ist seinem Wesen nach feige und bietet nur den Schwachen die Stirn oder widersetzt sich nur jenen, denen er mit seinen Waffen ohnehin überlegen ist. Die großen Geister - gemeint sind die erhabenen und noblen Geister, nicht Nietzsches Ubermensch, der sich nur schwer zum Helden oder Heiligen eignet - sind stark und gefestigt, und ihre Beständigkeit macht sie immun gegenüber Einflussnahme oder Machenschaften, mit denen man sie gefugig machen möchte. Daher sind die ehrbaren und integren Menschen für diejenigen, die einen tyrannischen Charakter haben, überaus unbequem. Der Tyrann umgibt sich mit erbärmlichen und feigen Gestalten, sie sich im Geist und in ihrem Handeln prostituieren, solange jener Macht über sie hat; sobald aber der Tyrann Gefahr läuft, seine Macht zu verlieren, fallen sie schnell von ihm ab und laufen zur Gegenpartei über. Hier scheint Sem Tob mehr Nietzsche als Machiavelli nahezustehen, indem er an einer Ethik festhält, die mit keiner konkreten Moral identifiziert wird. Der gemeine Mensch muss sich beugen, so wie ein Bogen gekrümmt wird, damit er seine Aufgabe erfüllt und der Pfeil geradeaus fliegt; er muss das Gewicht einer adäquaten Autorität spüren, damit seine Handlungen positiven Nutzen bewirken. "Gewiss ist es schlimmer, wenn ein schlechter Mensch in Erscheinung tritt, als wenn zehn gute Menschen zugrunde gehen. Mit dem Verlust der guten Menschen wird das Gute zwar weniger; doch der Schaden ist größer, wenn das Böse zunimmt" (1121-1128). Nach Sem Tob entfaltet das Negative eine größere Wirkkraft als das Positive, was nun aber nicht bedeutet, dass das Negative an sich mehr ist als das Positive. Allein im Kontext eines allgemeinen Positiven tritt das, was das Andere ist, stärker hervor. So wird ein Ort mit nur 3.000 Einwohnern durch die Präsenz allein eines Mörders, der unterschiedslos Menschen tötet, in Aufruhr sein; und eine kleine bewaffnete Gruppe mag einen grausamen Krieg herbeiführen, den die wehrlose Mehrheit nicht wünscht. So liegt es nahe anzunehmen, dass Sem Tob die Neutralisierung des Schurken auf dieselbe Weise wie Hobbes befürwortet. Und das konnte in jener Zeit nur seine physische Eliminierung bedeuten — außer bei einem geringeren Vergehen, aufgrund dessen man ihn ins Gefängnis schickte, wo er dann unter inhumanen Bedingungen häufig gleichermaßen sein Leben ließ.
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In der Sphäre dessen, was der Mensch erschaffen hat, ist es häufig leichter zu zerstören, als Neues zu erbauen; leichter, auf die Mängel eines Systems als auf seine relative Stabilität zu verweisen; leichter zu kritisieren, als einen sinnhaften und kohärenten Gedanken zu artikulieren — so, als wären unsere Handlungen stets von Kontingenz und der Gebrechlichkeit infiziert, die uns als Sterblichen eigen ist. Vielleicht liegt der Grund aber auch darin, dass das, was wir an Positivem besitzen, die reine Natur übersteigt, und wir folglich die Handlung als verdienstvoll oder gut ansehen, die nicht unserem natürlichen, genetisch bedingten Impuls entspringt. So erscheint der Umstand, dass eine liebevolle Mutter ihr Kind behütet und dafür Opfer bringt, nicht unbedingt als gute Tat, auch wenn sie an sich eine solche ist; wohl aber erscheint uns das Gegenteil als widernatürlich und abscheulich. Das Positive ist mehr, doch wird es häufig, weil es zu unseren Gewohnheiten gehört und unter dem, was wir üblicherweise an Objekten oder in unserer Lebensweise an Gutem erleben, nicht wahrgenommen. "Wenn der Hohe fällt, steigt der Niedere auf; das Feuer, das erlischt, lässt den Rauch entstehen; wenn der Tau fällt, richten sich die Gräser auf; für die Dienerinnen ist es eine Ehre, sich mit dem zu schmücken, was die Herrin nicht mehr braucht" (1129-1136). Aus dem Gesagten könnte man ableiten, dass es richtig ist, wenn der gute Mensch oben bleibt; dass er sogar verpflichtet ist, zu leuchten - wie in der Parabel von den Talenten12 oder wie Christus sagt, dass man das Licht nicht anzündet, um es unter dem Bett zu verstecken13. Sonst würde seinen Platz der Schurke oder der Unfähige einnehmen. Andererseits: aus diesen gingen viele Sprösslinge hervor, so wie aus umgestürzten Bäumen Pilze wachsen. Aus Unrat, Fäulnis und Humus sprießen Pflanzen, hohe Bäume, Blumen. Es scheint, als ob die Natur — ebenso wie die Gesellschaft — reversibel wäre.
12. Mt. 25, 14-30; Lk. 19, 12-27. 13. Mt. 5, 15; Mk. 4, 21; Lk. 8, 16.
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"Mensch, der du willst, dass Frieden herrscht und du den Ratsherrn nicht furchten musst, behandle deinen Nachbarn so, wie du von ihm behandelt werden willst" (1137-1140). Das Grundprinzip des Christentums — die Menschen lieben wie sich selbst und dem Nächsten so begegnen, wie man möchte, dass er einem selbst begegnet 14 — oder (annähernd) die kantianische Version des kategorischen Imperativs wird hier ganz praxisbezogen interpretiert. Wer von seinen Nachbarn und Freunden geschätzt wird, der wird kaum unter Repressalien zu leiden haben oder denunziert werden: ein nicht unwesentlicher Vorteil besonders in Zeiten von Aufruhr oder Bürgerkrieg, wo Verleumdung aus persönlicher Rache oder partikularen Interessen an der Tagesordnung ist und falsche Beschuldigungen erhoben werden, um diejenigen auszuschalten, die lästig sind. "Menschensohn, der du dich beklagst, wenn nicht das geschieht, was dir gefällt, und dich gegen Gott erhebst, weil er nicht alles tut, was du dir wünschst: hier begehst du einen schweren Irrtum. Hast du vergessen, dass du aus einer gemeinen Materie hervorgegangen bist, aus einem unreinen, verderbten und verkommenen Tropfen, und hältst dich dennoch für einen leuchtenden wertvollen Stern. Zweimal gingst du einen so niederen Weg hindurch, da ist es ein Wahn, dich so hoch zu schätzen. Du hältst dich für benachteiligt und wunderst dich; du hältst dich fiir zurückgesetzt, weil du nicht herrschst über alle Städte im Reich und dein Körper nicht mehr wert ist als eine Mücke, sobald der Geist, der ihn bewegt, ihn verlässt. Du vergisst, was dein Ende ist, und rennst, du Narr [...]" (1141-1167). Der Mensch ist beherrscht von dem Verlangen, mehr zu sein, wie es in den satanischen Worten heißt, welche die Schlange zu Adam und Eva sprach, als sie noch im Paradies lebten: "Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist" (1. Mose 3, 5). Doch wir
14. Mt. 22, 39; Mk. 12, 31; Lk. 10, 27.
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können nicht vergessen, dass unser Dasein für die Ewigkeit nur einen Augenblick bedeutet und wir im Universum kaum mehr als ein Staubkorn sind. Und wir wollen alles, als hätten wir Anspruch darauf — was die Religion auf einer anderen Ebene mit der Idee des Paradieses in Aussicht stellt. Doch auf Erden bleibt dies unerreichbar, und es ist sinnlos zu rebellieren, weil wir endlich sind und den Sinn nur dann finden, wenn wir uns in unsere Endlichkeit fugen. Aufgrund unserer biologischen Grundausstattung sind wir aus einem Stoff, der in mancherlei Hinsicht erbärmlich ist. Betrachten wir den Menschen, wie er ist: als Exkremente ausscheidendes Wesen, als Kranker oder bei seiner Geburt, wenn er sich aus einer Öffnung windet, in die er als Mann zurückzukehren sich sehnt, ein Ort der Verunreinigung und Sekretionen, Ort des Todes und des Lebens zugleich. "Auch wenn du schon reich bist, bist du nicht zufrieden und hältst dich für arm. In deiner Habsucht merkst du nicht, dass du dich für andere abmühst; denn von deinem Besitz bleibt dir nur Stoff, ein paar Meter groben Leinens, um deine Knochen zu umhüllen. Alles andere erbt einer, der dich nicht liebt. Von dir bleibt nur der schlechte Ruf, den du dir zu Lebzeiten daheim und vor aller Welt mit Falschheit und bösen Taten verdient hast" (1173-1188). Wenn wir sterben, nehmen wir nichts mit uns; wir sind nackt wie bei unserer Geburt. Kinder, Neffen oder entfernte Erben werden den angehäuften Besitz für ihre Zwecke verwenden oder ihn auf eine Weise verschwenden, die den vormaligen Besitzer schockieren würde. Dies gilt für materiellen Besitz ebenso wie für jedes menschliche Werk: Ein von einem Architekten entworfenes Bauwerk kann die verschiedensten Umbauten erleben; Denkgebäude oder Religionen können sich im Laufe der Zeit so entwickeln, dass ihre Urheber darüber entsetzt wären; Institutionen können sich verändern und sogar den Grundsätzen derer, die sie einst geschaffen haben, entgegenwirken. So wäre vermutlich auch Marx entsetzt über so manche Marxisten und Lehrmeinungen, die sich auf ihn berufen und vorgeblich auf seinen Grundsätzen fußen: Grundsätze, die verfälscht, verwässert und mit anderem vermengt wurden. Dasselbe gilt fiir Kant und die Kantianer oder für Nietzsche und seiner Gefolgschaft unter den Nationalsozialisten: Massen von Sklaven, die, angeführt von einigen Fanatikern, sich in ihrem blinden Gehorsam fiir Übermenschen hielten. "Wenn du das, was du begehrst, durch Lügen erwirbst, hältst du dich für klug und den, der unter gar keinen Umständen auf Betrug verfällt, für einen jämmerlichen Kerl. Du verspottest ihn, nennst ihn einen Narr, und dabei häufst du Reichtümer an, indem du betrügst, stiehlst, die Unwahrheit sagst und diese noch beschwörst. Erkenne deinen wahren Wert, und du wirst nie fehlgehen, und in deinem ganzen Leben wirst du vor Hochmut bewahrt sein" (1189-1204). Der Dieb hält alle Menschen für Diebe, sagt ein spanisches Sprichwort in Ubereinstimmung
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mit dem, was Sem Tob in diesen Zeilen zum Ausdruck bringt. Schließlich folgt der Intellekt in der Regel dem Willen und dem Handeln. Und wer jenseits jeder Moral lebt, neigt dazu, die Welt als Dschungel zu betrachten, in dem diejenigen triumphieren, die intelligent, stark und ohne Skrupel oder naive Gefiihlsanwandlungen sind, und wo diejenigen, die ohne jeden Vorteil und Profit gut sind, als d u m m und feige gelten, weil sie es nicht wagen, sich über das Gesetz zu stellen oder durch dessen Maschen zu schlüpfen. In unserer heutigen Gesellschaft geschieht im Wirtschaftsleben nichts anderes, wenn hoch bezahlte Führungskräfte sich wie Sozialhaie verhalten und eine Parodie dessen liefern, was manch einer mit Nietzsches Ubermensch assoziiert. Angesichts der herrschenden Tendenz, finanziellen Gewinn — Dreh- und Angelpunkt des gesellschaftlichen Lebens sowohl für Marxisten wie fiir Kapitalisten - um jeden Preis, also auch jenseits aller wahren menschlichen Werte zu erlangen, zeigt sich Sem Tob ausgesprochen weise. Die Begrenzung des Lebens macht deutlich, dass ein solches Anhäufen von Besitz töricht ist, da sich uns spätestens im Tod alles Materielle entzieht. "In dem Maße, wie man dir gibt, musst auch du geben. Du musst dienen, wenn du möchtest, dass man dir dient; du musst ehren, wenn du möchtest, dass man dich ehrt. Stell die Menschen zufrieden, und auch sie werden dich zufriedenstellen" (1205-1212). Taten und nicht vorrangig Theorien oder intellektuelle Konstrukte sind nach Sem Tob Ausdruck der genuin menschlichen Werte. Gutes tun, dem Anderen dienen, ihn ehren und ihm das Leben angenehm machen bewirkt, dass man dasselbe erhält, was man gibt. Sem Tobs praktische Ethik steht im Gegensatz zur Position derer, die davon ausgehen, dass es legitim ist, ein Recht einzufordern, was im sozialen Kontext nützlich sein kann (sofern dies in Maßen und nicht ohne Gegenleistung geschieht), was sich aber in der Ehe, in der das Prinzip der Gegenseitigkeit gilt, ebenso wie in der Liebesbeziehung, in der das Glück des geliebten Partners vor egoistischen Wünschen Vorrang hat, als verhängnisvoll erweisen kann. Es gibt kein menschliches Wesen, das geboren wurde, um ausschließlich zu empfangen; denn dies wäre gegenüber dem Rest der Menschheit ein allzu ungerechtes Ungleichgewicht. "Nie wurde ein Mensch geboren, dem alles, was ihm gefiel, entsprechend seinen Wünschen erfüllt wurde" (1213-1216). Unsere Wünsche können nicht alle in Erfüllung gehen, und keine uneingeschränkte Freude dauert ewig; dies zu wünschen oder zu wollen, heißt etwas Unmögliches verlangen. Daher ist es sinnvoll und vernünftig, das Unabänderliche zu akzeptieren und auf Widerstände, Ärger und sogar Schmerz gefasst zu sein. Denn die letztliche Bestimmung des Menschen ist nicht, wie die Epikureer meinten, die Freude oder, wie die Stoiker verkündeten, die Abwesenheit von Schmerz.
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"Wer anderen Schaden zufügen will, möge darauf gefasst sein, dass er sich nicht davor hüten kann, selber Schaden zu erleiden. Wenn du Böses tun willst, dann tu dies in der Voraussicht, dass dir Gleiches geschehen wird. Denn ganz gewiss kannst du nicht verhindern, wenn du Böses tust, dass man es dir mit Bösem vergilt" (1217-1228). Hier benennt Sem Tob gewissermaßen die Kehrseite dessen, was er in den voraufgegangenen Zeilen sagt: Mit der Zeit lernen sich die Menschen in einer Gemeinschaft kennen, und wer sich als schädlich erweist, verliert die Zuneigung und Freundschaft der anderen; wer gewohnheitsmäßig lügt, dem glaubt schließlich niemand mehr. So gesehen, gäbe es in der Welt - trotz des allgemein herrschenden Irrsins — zumindest in einem Teilbereich so etwas wie Stimmigkeit und Gerechtigkeit. Sem Tob macht deudich, worin der Kern unseres Seins besteht: " D u sollst wissen, dass du nicht geboren wurdest, um zurückgezogen zu leben; du kamst nicht auf die Welt, um gegenüber anderen im Vorteil zu sein" (1229-1232). Eine solche Aussage mochte problematisch sein in einer Gesellschaft, in der die Angehörigen eines privilegierten Standes mancherlei Vorrechte und Sonderrechte für selbstverständlich hielten. 15 Wie Aristoteles vertritt Sem Tob die Ansicht, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das in einer Gemeinschaft lebt; und der Sinn unseres Daseins besteht nicht darin, unsere Mitmenschen zu übertreffen oder zu überragen. Im Folgenden scheint Sem Tob zuvor gemachten Aussagen zu widersprechen. Doch entspricht seine dialogische Argumentation durchaus seiner dialektischen, nahezu irrationalen Sicht von der Welt, wenn er sagt: "Der Mensch verliert oder gewinnt entsprechend seinen Fähigkeiten, und entsprechend seinen Gewohnheiten wird er gesund oder er erkrankt" (1237-1240). Demnach ist es die Beschaffenheit jedes Einzelnen selbst, die sein Schicksal beeinflusst und dem Zufall - zuvor als für das Leben der Menschen einzig entscheidende Instanz gesehen - die Karten präsentiert, welche dieser dann mischt und verteilt. Hier zeigt sich Sem Tob ausgesprochen modern, widerspricht er doch der mittelalterlichen Weltsicht, in der das Wohlergehen nahezu ausschließlich als von Gott gegeben angesehen und Krankheit - als Strafe, Prüfung oder Fluch - auf die Sünde oder den Willen der Vorsehung zurückgeführt wird. Nach Sem Tob ist es der Mensch selbst, der zumindest zum Teil bewirkt, wer und was er ist: durch seine Ernährung, seine Gewohnheiten, seine Arbeit und seine sonstigen Aktivitäten, vor allem aber
15. Die nachfolgende Strophe enthält ein Lob des Königs, das Sem Tob möglicherweise einfugte, um sich seinerseits einen Vorteil zu sichern, oder aber weil er dessen Funktion tatsächlich so sah: "Denk an den König und nimm ihn dir zum Vorbild: Er arbeitet mehr für die anderen als diese für ihn" (1233-1236).
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durch seinen Willen, der dann, wenn er (wie beim so genannten Placebo-Effekt) von der Illusion getragen wird, leichter Krankheit zu überwinden vermag. "Nichts ist wirkungsvoller, will man sich Freunde machen, als aufrichtig zu sein und in klaren Worten zu sprechen. Auch wenn er nicht anwesend ist, erkennst du einen Menschen sofort an seinem Geschenk oder an seinem Botschafter. An seinem Brief erkennt man ihn sicher, denn in ihm zeigt sich sein Verstand" (1241-1252). Geradewegs und intuitiv aufeinander zugehen, ohne falsches Spiel oder Doppelzüngigkeit: das scheint der reinste Ausdruck der Liebe zu sein, denn diese eint und bedarf keiner vermittelnden Instanz. Und die Freundschaft ist neben den anderen mehr oder minder herzlichen Beziehungen zwischen den Menschen eine der hervorragendsten Erscheinungsformen der Liebe. So erkennen wir, wer jemand ist, nicht nur durch sein Handeln, sondern auch über seine Freunde oder die Personen, in deren Gegenwart er sich wohlfuhlt — wie es im Sprichwort heißt: Sag mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist. Hinsichtlich des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung bleibt stets ein Rest Ungewissheit, wie Hume eindrücklich gezeigt hat. Sem Tob aber ist davon überzeugt, dass wir von dem, was jemand verfasst hat, auf sein Wesen schließen können; dies nicht nur aufgrund der Sprache, sondern auch aufgrund des Stils sowie der Auswahl und Anordnung der zum Ausdruck gebrachten Gedanken, so als gäbe es keine zufallsbedingte oder einer Nachlässigkeit geschuldete Schreibweise. Damit kommt Sem Tob in gewisser Weise Herder und Schelling zuvor, die meinten, dass der Mensch als solcher durch die Sprache definiert ist, woraus sich auch die Bedeutung der Kunst ableiten lässt. Sem Tob versucht zu zeigen, dass sich der Mensch in seinen Werken wiederfindet — analog zum Evangelium dort, wo es heißt: "An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen" (Mt. 7, 16) — und weniger in seinen Wünschen, die häufig unerfüllt bleiben, oder seinen flüchtigen Gedanken.
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"Es gibt auf der Welt keinen größeren Schatz als die Erkenntnis und das Wissen, keinen Grundbesitz oder sonstiges Vermögen oder Reichtümer. Das Wissen ist die Herrlichkeit Gottes und sein Geschenk. Es gibt kein edleres Kleinod, keinen größeren Gewinn und keinen besseren Freund als das Buch; und mit ihm zu streiten, ist besser als Frieden. Je beharrlicher der Mensch mit dem Buche ringt, umso mehr Wissen wird er erlangen. Die Weisen, die er suchte, wird er im Buche finden, und mit ihnen wird er fortwährend reden" (1253-1272). Aus diesen Zeilen spricht der für die platonische Tradition so charakteristische Intellektualismus: Wissen als höchstes Gut und göttliche Gabe, als Teilhabe am universellen und unbegrenzten Wissen Gottes, so wie die partiellen Wahrheiten Elemente der absoluten Wahrheit sind. Für die Zeitgenossen Sem Tobs bedeuteten Bücher, die selten und wertvoll waren — die guten Bibliotheken besaßen gerade mal ein paar Dutzend —, gleichzeitig die Weihe und die maximale Speicherung von Wissen, auch wenn es weise Männer gab, deren Wissen nie aufgeschrieben wurde. Ein gutes Buch lesen, so Sem Tob, ist so, als würde man den größten Weisen zuhören. Wovon er nicht spricht, ist die Tatsache, dass es auch Bücher von der schlechtesten Sorte gibt, in denen es von Fehlern nur so wimmelt und mit denen (häufig gefährliche) Ammenmärchen als wissenschaftliche Erkenntnisse verkauft werden. Vielleicht war Sem Tob der Ansicht, dass auch Lügen im Grunde eine Form des Wissens sind, dass sie das Denken auf der Suche nach Wahrheiten stimulieren und man stets dazulernt, auch durch das, was der Wahrheit entgegensteht. Oder aber er kannte gar keine verabscheuungswürdigen Bücher. Generell waren Bücher nur schwer zugänglich, da sich die einzigen Bibliotheken in Palästen und Klöstern befanden; und manches, was an Büchern aus vergangenen Epochen erhalten war, enthielt ein durch zahlreiche Kopisten gefiltertes Wissen. Bücher wiederum, die man nicht (mehr) für relevant hielt, wurden nicht weiter kopiert oder vervielfältigt
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und verschwanden in dem Maße, wie die vorhandenen Exemplare mit der Zeit verfielen oder in Vergessenheit gerieten. In jenen Bibliotheken herrschte so etwas wie Darwinismus, zusätzlich verschärft durch politische, kulturelle und religiöse Zwänge, so dass man nur die stärksten oder bedeutungsvollsten Texte für wert erachtete, reproduziert und kommentiert zu werden. "Die angesehenen Weisen und berühmten Philosophen, die man kennenlernen wollte: wollte man das nicht, um ihre Texte und ihre Verse zu lesen? Bestimmt nicht, weil man sie als Menschen aus Fleisch und Blut kennenlernen wollte. Was man von jenen Weisen wollte, waren ihre Lehrsätze und ihre Weisheit; und die findet man im geschriebenen Buch, wo man durch ihre Rede Antworten findet. Man wird Neues und Wissenswertes erfahren und viele gute Kommentare lesen, die sie zum Text hinzufugten. Ihre reine Weisheit hinterließen sie im geschriebenen Wort: verdichtet ohne irdische Beimengung eines physischen Elements, himmliches Wissen, reine Vernunft. Allein darum will jeder vernünftige Mensch die Weisen kennenlernen, nicht wegen ihrer leiblichen Gestalt. Deshalb gibt es keinen besseren Freund als das Buch; und das sage ich den Weisen, denn mit den Einfältigen rede ich nicht" (1273-1308). Das Buch besteht zweifelsohne aus Materie (Tinte und Papier oder Pergament), und die Sprache (beispielsweise) in ihrer spezifischen syntaktischen Struktur oder Graphie ist gleichermaßen ein wichtiges Element. Dies bedeutet aber nicht, dass etwa die Verse Sem Tobs nicht in andere Sprachen übersetzt werden könnten. Auch wenn durch den Ubersetzungsvorgang die spezifische Klangfülle des Originals verloren geht, bleibt sein Gehalt, der Geist des Buchstabens, erhalten. Nach Sem Tob steht das Buch für die Welt des Geistes und somit letztlich für das Göttliche. Unerwähnt bleibt bei ihm das Wissen, das nicht mittels Sprache und jenseits aller formalen Regeln vermittelt wird und das vom Gegenüber intuitiv erfasst wird; Wissen, das sich in einem Blick oder einer bestimmten, den allgemein anerkannten sprachlichen Codes zuwiderlaufenden Sprechweise artikuliert und doch bisweilen einen Sachverhalt überzeugender vermittelt, als dies mit einem grammatikalisch korrekten Satz möglich wäre. Diese Formen des Wissens und der Kommunikation sind kein Privileg der Mystik, sondern Teil unseres Alltags, weil das Individuum in seiner Totalität sehr viel mehr übermittelt, als es über eine entsprechend bestimmten Gesetzmäßigkeiten und Regeln strukturierte Sprache zu übermitteln vermag. In der Gesellschaft von Büchern zu sein ist häufig angenehmer, als mit jemandem ein Gespräch zu führen, den man nicht versteht oder mit dem man sich nichts zu sagen hat. Das Leben erscheint demjenigen kurz, der es intensiv lebt und begierig sein Wissen zu erweitern sucht; folglich muss er eine Auswahl treffen,
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auch in Bezug auf seine Gesprächspartner. Wollte man leben, allein um über Bücher nach Wissen zu streben, wäre ein Scheitern vorprogrammiert. Bücher sind wohl weise und gute Freunde; doch ist auch der persönliche Umgang mit Menschen erforderlich, denn das Buch ist eine zeitlich ferne Instanz der Vermittlung, was auf die mündliche Kommunikation, bei der das Gegenüber präsent ist und sich auch über Blicke und Berührungen artikuliert, nicht zutrifft. Sem Tob aber scheint die Ansicht zu vertreten, dass Erkenntnis ausschließlich in Sprache geschaffen wird — eine Einsicht, die konsequent auch auf die Ästhetik übertragen werden könnte und der er über seinen poetischen, vielfach metaphorischen Sprachstil Rechnung trägt. Das bedeutet auch, dass ihn die Lebensumstände eines Autors nicht interessieren, sind sie doch eher Ausdruck einer kontingenten Existenz und zum größten Teil dem Vergessen geweiht. Genauso wenig ist er daran interessiert, mit einfaltigen Menschen zu verhandeln, denn wenn der Wille zu lernen nicht vorhanden ist, wird das Gespräch zu einem Dialog mit einem Tauben, der aus Eitelkeit oder Unfähigkeit auch noch lieber blind sein möchte, als mit Hilfe eines anderen zu sehen. Dabei ist der Narr sich seiner Dummheit zumeist nicht bewusst, wie Sokrates richtig erkannte; und daher besteht der erste Schritt der sokratischen Methode darin, die eigene Dummheit zu erkennen. " O b nun der Weise ein Sklave oder der Herr eines Narren ist, das ist für mich ohne Bedeutung, denn beides wird gleich gewertet" (1309-1312). Damals wie heute ist der seelenlose Mensch, der mit seiner ausschließlich praktischen Intelligenz nur das Materielle, das Außere, im Auge hat, nur darauf aus, sich zu bereichern. Und der Herr, dem schon bei seiner Geburt alles zu Füßen gelegt wurde, verfällt häufig dem Genuss der Sinne, ohne sich zu bemühen, sein Wissen zu erweitern und sein Leben wie das der anderen zu verbessern. Dagegen musste der Weise vom Augenblick seiner Geburt an kämpfen und sich abmühen, um sein Leben zu meistern. Daher fragt er nach den Widersprüchen des Lebens, auch wenn ihm die Mittel und die freie Zeit (allerdings auch die Anfechtungen) fehlen, über die der Reiche oder Mächtige verfügt. Die äußeren, weltlichen Genüsse decken sich nicht mit denen des Geistes, die auf die Ewigkeit abzielen: gewiss ein Gemeinplatz, dem aber nur wenig entsprochen wird. Wer d u m m ist, ohne es sein zu müssen, wird boshaft (wie Sokrates und Piaton sagen würden), denn Dummheit und Bosheit gehen oft Hand in Hand — insbesondere dann, wenn man der eigenen Dummheit hätte abhelfen können. "Der einfältige Mensch ist das grässlichste Getier, das es auf der Welt gibt: dessen kannst du gewiss sein. Er trachtet nur danach, unehrlich zu handeln; und seine Freude besteht allein darin, Böses zu tun. Was er dem Tier an Verstand voraus hat, verwendet er auf betrügerische Intrigen und arglistige Täuschung" (1313-
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1324). Der Dumme mag, auch wenn er gutmütig ist oder so erscheint, boshafter sein als der, der Böses tut; ist er aber außerdem noch herzlos, ist er geradezu verabscheuungswürdig. "Der Mensch kann auf der Welt keinen besseren Freund haben als das Wissen und keinen schlimmeren Feind als die eigene Dummheit. Das blindwütige Vorgehen des Dummen wiegt wahrlich schwerer als Sand, und kein Zustand ist so bedrohlich oder so sehr mit Gefahr verbunden: nicht einmal das Wagnis, allein ein unsicheres Gebiet zu durchwandern" (1325-1336). Der Mangel an Erkenntnis, die eine göttliche Gabe ist, erweist sich als verhängnisvoll; denn eine grundlegende Lebensnotwendigkeit ist, zu lernen, zu forschen und sein Wissen zu erweitern. "Nichts ist wertvoller als die Wahrheit und nichts feiger als Verrat" (13371340). Die Wahrheit ist bisweilen schwer zu ertragen; und sich ihr zu stellen, ist (wie Nietzsche zeigt) manchmal geradezu heldenhaft (man erinnere sich an den Fall Sokrates). "Ich muss stets die Wahrheit sagen, auch wenn ich mir damit schade, und nie die Unwahrheit sagen, auch wenn sie mir nutzt. Es gibt keine Zunge, die länger ist als die des Lügners, und kein Ende, das bitterer ist als das, welches auf einen schönen Anfang folgt. Mit seinen Versprechungen macht der Lügner die Menschen reich; am Ende stehen sie arm da, wie mit Luft gefüllte Schläuche. Wer ihm zuhört, dem klingen die Ohren, und sein Herz ist hungrig: so viele Dinge sagt er, ohne jedes Fundament" (1345-1360). Sem Tob äußert hier eine praktische Weisheit, die denjenigen leitet, der die Lüge verabscheut. Möglicherweise spielt er auch auf die am Hof oder in den Zentren der Macht üblichen leeren Versprechungen an, mit denen mancher hingehalten wird in der Hoffnung auf etwas, das niemals eintreffen wird — eine Aussage, mit der Sem Tob vielleicht auf poetische Weise eigene Erfahrungen zum Ausdruck bringt. Auf jeden Fall ist seine Aussage eindeutig und verbindlich, womit er, so könnte man meinen, mit dem Relativismus zuvor gemachter Aussagen in Konflikt gerät. Doch scheinen beide Positionen möglich und komplementär in einer Weltsicht, die sich der Pluralität der Standpunkte verpflichtet sieht.
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"Keine Burg ist mächtiger als die Treue und kein Spalt im Mauerwerk so breit wie die Lüge. Kein Mensch ist so feige wie der, der Böses tut, und keiner so mutig wie der, der im Recht ist. Nichts ist so unbefangen wie das Recht: Es erfasst den Schaden ebenso wie den Gewinn. Ohne Erbarmen tötet es den Armen wie den Reichen, und mit demselben Auge wacht das Gesetz über die Großen und die Kleinen. Es schmeichelt dem Herrn nicht mehr als dem Diener, und den König behandelt es nicht besser als den Sekretär" (1361-1380). Für Treue, in der feudalen Gesellschaft die Tugend schlechthin, setzen wir heute das Konzept der Freundschaft oder das der Dankbarkeit dessen, der Beistand und Unterstützung erhält. Dem, der sich als zuverlässig erweist, wird Vertrauen entgegengebracht; dagegen bewirkt die Lüge Misstrauen und Mangel an Unterstützung gegenüber dem, von dem man nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Menschen, die zueinander stehen, sind wie eine Festung; unter Lügnern entsteht dagegen selbst dann, wenn sie zahlreicher sind, nichts, was stabil wäre, strebt doch ein jeder nur nach dem, was für ihn von Vorteil ist. Wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht, sind nach Sem Tob der Reiche wie der Arme und der König wie sein Untertan gleich zu behandeln — womit er liberales und republikanisches Gedankengut späterer Jahrhunderte vorwegzunehmen scheint. Jedoch kann man Sem Tob kaum eine antimonarchische Gesinnung zuschreiben, trotz der verheerenden Auswirkungen, die in seiner Zeit die dynastischen Kämpfe um den Thron von Kastilien auf die Gesamtgesellschaft hatten. Vielmehr spricht aus seinen Zeilen die damals herrschende jüdisch-christliche Vorstellung, dass vor Gott alle Menschen gleich sind; und wenn Sem Tob, wie er es tat, sein Werk dem König Pedro, "dem Grausamen", widmete, dann deutet dies darauf hin, dass er mit den zitierten Zeilen eine allgemein verbindliche Auffassung wiedergab, die sich erheblich von dem unterscheidet, was später
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die Theoretiker des Absolutismus mit der Vorstellung von der gottgegebenen Macht der Könige propagieren sollten. 16 "Die Welt wird zusammengehalten durch das Wirken dreier Dinge: Urteilskraft, Wahrheit und der Friede, der aus beiden resultiert. Die Urteilskraft ist unter allen drei das Fundament; sie ist das Wichtigste, denn sie bewirkt, dass die Wahrheit entdeckt wird und mit der Wahrheit Friede und Freundschaft gestiftet werden" (1385-1396). Wie in der platonischen Philosophie ist die Urteilskraft - besonders, wenn sie als Klugheit auftritt - entscheidend für den Weg zur Erkenntnis, die Frieden schafft, womit sich Sem Tob in die intellektualistische Tradition stellt, auch wenn er andernorts die Notwendigkeit des Handelns gleichermaßen hervorhebt. Indem er vom Universellen zum Partikularen schreitet, kommt er schließlich auf das "so ehrenvolle Amt" des Richters zu sprechen, "das zu schmähen nicht recht wäre" (1399-1400). Doch bevor ein solches Amt vergeben wird, so Sem Tob, müsse man sich vergewissern sowohl hinsichtlich der Fähigkeiten, die der Kandidat mitbringt, wie hinsichtlich der Absichten, die er mit dem angestrebten Posten verknüpft, um zu verhindern, dass er sein Richteramt zum eigenen Vorteil nutzt. Damit kritisiert Sem Tob die Vergabe von Ämtern an Personen, die inkompetent sind oder solche, die sich auf Kosten der Justiz Vorteile verschaffen wollen. Doch er verweist auch auf ein grundlegendes Problem der Erkenntnistheorie: die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, zu einem angemessenen, objektiven Urteil zu gelangen, wenn der Wille oder die Intention bereits eine bestimmte Richtung vorgibt. Für ein öffentliches Amt wie das des Richters gilt, dass dieser seiner gesellschaftlichen Funktion entspricht und nicht partikularen Interessen, sondern der Allgemeinheit dient, "denn der Schäfer dient dem Wohl der Herde und nicht die Herde dem Wohl des Schäfers" (1409-1412) - was besonders dann gilt, wenn der Schäfer im Auftrag handelt und ihm die Herde nicht gehört. Inhaber öffentlicher Amter sind dem Volk Rechenschaft schuldig. So verweist Sem Tob auf Korruption und Nepotismus, wodurch das, was zum Wohle aller sein sollte, einem exklusiven Kreis derer zugute kommt, die dem Amtsinhaber nahe sind; denn, so Sem Tob weiter: "Er soll nicht glauben, dass er zum Richter gemacht wurde, damit er seinem Verwandten das Recht eines anderen zum Geschenk macht; auch nicht, damit er den, der sein Freund ist, widerrechtlich freispricht, und auch nicht, damit er über seinen Feind ungerecht richtet" (1415-1420). Für Sem Tob ist der Verstoß
16. Direkt im Anschluss an die zitierten Zeilen und wie um die königliche Autorität von der Verantwortung fiir das in jener Zeit herrschende Unrecht freizusprechen, bringt Sem Tob den "schlechten Richter" ein, der "das Recht nicht achtet: Er spricht es dem zu, der nicht im Recht ist, und macht aus dem [gekrümmten] Bogen einen [geraden] Stab" (1381-1384).
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gegen das Gebot der Gerechtigkeit eine schwere Sünde, denn "richten dürfen allein Gott und der König; und der Richter ist der Stellvertreter Gottes und des Königs, damit er die Menschen richtet nach Recht und Gesetz" (1431-1436). Sich einem Einzelnen zuwenden darf nicht bedeuten, dass man der Gesamtheit die Zuwendung verwehrt und damit falsch handelt; ebenso wenig zulässig ist Bestechung zum Schaden dessen, was man zu vertreten hat. Denn beides ist Verrat am König und somit auch - entsprechend der damaligen Weltsicht — an Gott, da der Herrscher als Vertreter Gottes auf Erden betrachtet wurde. Hier setzt Sem Tob (wie ebenfalls in seiner Zeit geläufig) das zivile Gesetz mit dem göttlichen Willen gleich, der durch die Figur des Monarchen zum Ausdruck kommt. Das kritische Denken der Aufklärung, welche die religiösen von den bürgerlichen Pflichten strikt getrennt sah, ist noch fern. Erst im 19. Jahrhundert sollte (vor allem durch anarchistische und marxistische Autoren) aufgedeckt werden, zu welchen Auswüchsen die Verquickung von Macht und Religion geführt hatte. Wer Recht spricht, soll seinen Lohn von dem erhalten, der ihm sein Amt verlieh, "und entsprechend seinem Handeln wird man ihn entlohnen" (1445-1446). Eine solche Vorstellung mag naiv erscheinen, wenn derjenige, der den Richter in sein Amt einsetzte, also der Herrscher, selbst nicht gerecht ist. Das Amt des Richters, so Sem Tob, "bringt dem, der es ohne Tücke und Arglist ausübt, Mühen und Verdruss; für den aber, der es aus Habgier ausübt, ist es lukrativer als ein Bistum. Habgier und Recht — das ist unbestritten — wohnen niemals unter einem Dach und liegen niemals gemeinsam unter einer Decke" (1449-1456). Sem Tob meint hier das maßlose Streben nach materiellem Gewinn; man könnte in diesem Zusammenhang aber auch an das Streben nach exzessiver Macht oder Ruhm denken. Bereits Piaton erkannte, dass in einer Oligarchie oder dort, wo jenseits von Gesetz und Gemeinwohl Geld und partikulare Interessen das Handeln bestimmen, Gerechtigkeit nicht möglich ist. "Wenn die Habgier auf den Plan tritt, verschwindet das Recht; wo sie regiert, ist das Recht wenig wert" (1461-1464). "Das Amt eines Menschen ist eine geliehene Zierde, der Anstand dagegen ist sein Besitz" (1465-1468). Ein Regierungs- oder Richteramt wird dem, der es bekleidet, von der Gesellschaft verliehen; und diese erwartet im Gegenzug, dass jener seine Arbeit gut macht. Woraus sich folgern lässt, dass, entspricht der Amtsinhaber nicht dieser Erwartung, jene, die ihm das Amt übertrugen, es ihm wieder nehmen müssten, um es einem anderen zu übertragen, der für die Allgemeinheit nützlicher ist. Denn, so Sem Tob, "durch Missetaten verliert der Mensch, was sein Eigen ist, und durch gute Taten kann er gewinnen, was anderen gehört" (1473-1476).
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Es gibt drei Faktoren, die eine Gesellschaft zugrunde richten können: "wenn derjenige einen weisen Ratschlag zu geben weiß, der nicht gehört wird; wenn die über Waffen verfügen, die sie nicht zu gebrauchen wissen; und wenn diejenigen Reichtümer besitzen, die sie nicht ausgeben" (1479-1484). Wie Piaton verlangt auch Sem Tob nach dem Rat der Weisen, nach der Regierung der Philosophen wenn auch nur in der Form, dass man sie anhört und um ihren Rat befragt; die Polizei und das Heer sollen effizient sein und der Gesellschaft dienen; und schließlich soll derjenige, der wohlhabend ist, seinen Reichtum investieren, um mehr Reichtum zu generieren. Denn ruhendes Geld ist wie ein totes Gewässer, etwas Abstraktes, dessen symbolischer Wert abnimmt und sich nach und nach verflüchtigt, wenn es nicht in ökonomische Objekte und Transaktionen investiert wird. Und eine stagnierende Wirtschaft ist wie ein Sumpf voller Moskitos und Schlangen, der die Gesellschaft mit Fäulnis überzieht, statt sie mit klarem Wasser zu wässern, damit ihre Bäume wachsen und Früchte tragen. Gleichzeitig benennt Sem Tob drei gesellschaftliche Grundübel, für die er kein Heilmittel weiß: "die Faulheit der Armen [...], die Böswilligkeit der Neider und die Gebrechen des Alters" (1489-1492) — wobei letzteres Übel besondere Aktualität gerade in unserer Zeit besitzt, da wir in einer überalterten Gesellschaft leben, die, um sich wie an Krücken aufrecht zu halten, Arbeitskräfte importieren muss. Sodann widmet sich Sem Tob ausfuhrlich den Übeln, die ihn besonders beschäftigen und welche Gesellschaften wie Individuen gleichermaßen betreffen: Habgier und Neid. "Habgier und Neid stürzen die Menschen ins Verderben; es gibt nur wenige auf Erden, die nicht an diesen Übeln leiden. Voller Neid auf den anderen ist der Große wie der Kleine und auch der, der viermal mehr besitzt, als er braucht; und der Geizige, der glaubt, sein Nachbar besäße mehr als er, hält das, was er besitzt, für nichtig. Geht es dir gut, fühlt er sich schlecht, auch wenn
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du ihm kein Leid zugefügt hast. Weil du in Frieden lebst, glaubt er, er ist am Ende. Könntest du dich besser am Neider rächen, als dass er traurig ist, wenn du fröhlich bist?" (1501-1520). Neid ist schädlich; doch derselbe Impuls kann auch konstruktiv wirken, indem er den Wettstreit fördert, der dem anderen den Erfolg nicht neidet, sondern sich durch diesen beflügeln lässt, um über sich hinauszuwachsen und nicht in Mittelmäßigkeit zu verharren. Der Neider hingegen verschließt sich und verweigert sich dem, was ihn bereichern könnte. Und so wird er sich nicht an dem erfreuen, was seine Freunde oder andere in seinem Umfeld erreicht haben — wo doch die Brosamen, die vom üppig gedeckten Tisch so manches Reichen fallen, wiederum ein üppiges Mahl liefern und der Arme sich noch begütert fühlen mag im Vergleich zu denen, die im Elend leben. "Die nach meiner Ansicht unglücklichsten und am meisten zu bedauernden Menschen sind ihrer drei: der Adlige, der auf die Hilfe eines Menschen aus dem gemeinen Volk angewiesen ist und sich diesem zu seinem Nachteil fügen muss (der Adlige von Geburt, der an Großmut gewöhnt ist und der schicksalhaft der Niedertracht anheimfiel); der Gerechte, der das zu tun verpflichtet ist, was ihm ein ungerechter Herr befielt; und schließlich der Weise, der gezwungenermaßen einen Narren zum Herrn hat - angesichts einer solchen Pein ist jede andere eine wahre Freude" (1521-1540). Für den Menschen ist es ganz allgemein schwer zu ertragen, wenn sich seine äußeren Lebensumstände - etwa hinsichtlich seiner physischen Verfassung oder seiner wirtschaftlichen Situation — verschlechtern, denn die bessere Vergangenheit dient als Vergleichsbasis für die schlechtere Gegenwart, was überdies noch schwerer zu verkraften ist, wenn die aktuell erlebte Armut mit dem Reichtum eines anderen kontrastiert. An das Gute gewöhnt sich der Mensch schnell und vergisst dabei die schlechten Momente, so als wäre er dafür geschaffen, glücklich zu sein und auf unabsehbare Zeit in steigendem Maße genießen zu können. Doch die von Sem Tob angeführten Beispiele sind spiritueller Natur: der als edel und großmütig geltende Adlige, der sich erniedrigen muss, um Hilfe zu erbitten, und der in die Abhängigkeit eines Schurken gerät; der Gerechte, der dem Ungerechten folgen muss; und der Weise, der dem Dummkopf dient. Dank der kritischen Geisteshaltung, die sich mit der Aufklärung Bahn brach, ist das zweite Beispiel, das des Gerechten in Diensten des Ungerechten, heute kaum noch aktuell. Selbst Thomas von Aquin könnte das Gebot des Gehorsams gegenüber jemandem, etwa einem Tyrannen, der von Grund auf ungerecht ist, in Frage stellen. In dem Maße, wie der Diener auf Befehl seines Herrn immer schwerer wiegende Unrechtstaten vollbringen muss, wächst die moralische Pflicht, zu rebellieren oder diesem Herrn den Gehorsam zu verweigern. Derarti-
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ges geschah in jener Zeit, wenn die Monarchen exkommuniziert wurden und ihre Untertanen keinen Anlass hatten, ihnen weiterhin zu gehorchen. Aber der Gedanke der Rebellion oder der Gehorsamsverweigerung erscheint ausgesprochen ungewöhnlich für eine Zeit, in der das Feudalsystem und die philosophischen wie theologischen Lehren der Juden ebenso wie der Christen und Muslime größtenteils dahin tendierten, Macht — und zwar jegliche Form von Macht — zu rechtfertigen (als könne ein Scherge der Nationalsozialisten seine Verbrechen moralisch dadurch entschuldigen, dass er sich auf Befehle beruft und nicht bedenkt, dass es Momente gibt, in denen heldenmütiges Handeln gefordert ist, zu dem der Mensch aufgrund der ihm eigenen Größe berufen ist). Rechtfertigung erfolgte, indem man auf die Verantwortung verwies, die in vollem Umfang dem Herrscher und damit in letzter Instanz dem König zugesprochen wurde, wodurch die ihm Untergebenen der Verantwortung enthoben wurden, so als wäre Gehorsam gleichbedeutend mit dem Verlust des Menschseins und der Verwandlung in einen Automaten. Das letzte Beispiel, das des Weisen im Dienst eines törichten Herrn, ist nach Sem Tob die leidvollste Erfahrung, möglicherweise weil er selbst, der dem Wissen eine so große Bedeutung beimaß, eine solche Erfahrung machen musste. Jemanden etwas lehren, der nicht lernen will oder der d u m m ist, dies aber nicht weiß und vorgibt, viel zu wissen, ist allemal Zeitverschwendung, aber noch schwerer zu ertragen, wenn es nicht nur darum geht zu lehren, sondern auch zu dienen und bisweilen fremde Befehle auszufuhren, die mit dem eigenen Wissen in Konflikt geraten. Ein derartiges Vorgehen gehörte zur gängigen Praxis in manchen Klöstern, um mit dem Superior des Ordens Einvernehmen herzustellen und dies Gott als Opfer darzubringen, so als wäre es eine gute Tat, sich in der Form zu erniedrigen und sich selbst aufzugeben. Zur Zeit von Sem Tob, in der die Gesellschaft auf der Basis des Gehorsams funktionierte, lag der Gedanke an eine Rebellion oder (für den Weisen) auch nur die Möglichkeit eines Dialogs fern, sah man hierin doch das Werk des Teufels. Daher "leiden sie an Leib und Seele, ihr Leben lang verbittert und betrübt; Tag und Nacht sind sie unglücklich und traurig, da sie stets das tun, was ihrem Wesen widerspricht: Sie lieben die Aufrichtigkeit, müssen sich aber drehen und wenden; und sie verfallen in Irrtümer, obgleich sie nur mit klarem Verstand zu handeln bestrebt sind" (1541-1552). Sem Tob unterlässt es, darauf zu verweisen, dass ein solches Leben gegen die eigenen Uberzeugungen bedeutet, die eigenen Ideale zu verraten, zutiefst menschliche Prinzipien zu zerstören und damit unbillig und unmoralisch zu handeln. Wenn moralisches Verhalten zum Glück fuhrt in dem Sinne, dass der Mensch mit sich im Reinen ist, dann wird er bei der Feststellung,
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dass etwas in seinem moralischen Verhalten fragwürdig erscheint, zutiefst unglücklich, weil er eben nicht mit sich im Reinen ist." Und hier setzt die Verpflichtung ein, die Knechtschaft abzuschütteln und zum Herrn über sein eigenes Schicksal zu werden, auch wenn dies um den Preis geschieht, dass man mit der gesellschaftlichen Ordnung bricht oder sich dem politischen Gehorsam verweigert. Doch solche Gedanken zu äußern, mochte problematisch erscheinen in einer Schrift, verfasst von einem vorgeblichen Höfling und gerichtet an den König. Und so beschränkt sich Sem Tob darauf, die Schrecken einer solchen Befindlichkeit aufzuzeigen. "Es wurde noch kein glücklicher Mensch geboren außer der, welcher sich nicht darum sorgt, mehr zu besitzen, als er hat: geringgeschätzt, zerlumpt, ohne dass er sich dessen schämt, lebt er vergnügt. Er sieht sich nicht veranlasst, nach mehr zu streben; und er fühlt sich nicht erniedrigt, weil er schlecht gekleidet ist. Er ernährt sich von Brot, das er auf dem Markt stiehlt, und von entwendeten Früchten; und in jeder Taverne trinkt er, bis er genug hat. Er lebt ein angenehmes Leben, doch es gibt auch Menschen, die noch glücklicher sind: der Dummkopf, dem es gut geht und dem es in seiner unendlichen Dummheit nicht in den Sinn kommt, dass Armut existiert. Indem ihm das widerfährt, was ihm gefällt, begreift er nicht, wie die Welt ist und dass das Rad einen häufigen Wechsel bewirkt. Er glaubt, dass er immer am selben Platz sein wird und von seiner gedeihlichen Position nie herunterfallen wird. Vergnügt und fröhlich wie ein Fisch im Wasser, sieht der Dumme nicht das Netz, das man ihm knüpft" (1553-1558). Ahnlich wie Aristoteles betrachtet Sem Tob die Wirklichkeit polyedrisch in ihren verschiedenen, gegensätzlichen Perspektiven, als würde er das vorwegnehmen, was Jahrhunderte später Ortega y Gasset als Perspektivismus formulierte. Nachdem er das Wissen und die Weisheit gewürdigt und die der Dummheit inhärenten Übel aufgezeigt hat, beschreibt er das Glück dessen, der in den Tag hineinlebt: der sich nicht um die Zukunft sorgt, welche ohnehin, so wie das Rad der Fortuna sich dreht, sich wandeln kann; der ohne Ambitionen lebt, ohne Habgier und ohne Scham, und der zusieht, wie er zurecht kommt, bei Hindernissen abtaucht und den Weg des geringsten Widerstands geht; der ohne Ideale ist, die aus ihm etwas Besseres machen könnten, ohne Ordnung und System, ohne an das Unheil zu denken, das lauert und ihn in jedem Moment ereilen kann. Sem Tob zeigt so die Kehrseite der Medaille mit ihren Vor- und Nachteilen, um nicht nur eine Perspektive aufzuzeigen, auch wenn er dann das genaue Gegenteil, gleichermaßen mit seinen Vorzügen und seinen Schattenseiten, darlegt: "Dagegen wird dem mit einem klaren Verstand ausgestatteten Weisen, so gut es ihm auch gehen mag, die Welt nichts bieten können, was ihn zufriedenstellt, da er der Welt mit
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ihren Wandlungen und den wechselhaften Winden misstraut. Er weiß, dass Reichtum in Armut mündet und unterhalb der Höhe ein tiefer Abgrund liegt, denn er kennt die Welt und weiß, dass sein Werk sehr schnell dahin ist und wie ein Schatten vorübergeht. Je mehr die Position des Menschen das übersteigt, was ihm zusteht, umso größer ist seine Angst vor dem Fall; und je tiefer er fällt, umso stärker verletzt er sich. Je größer sein Besitz ist, umso größer ist seine Furcht, ihn zu verlieren. Wer in der Ebene sich bewegt, muss nicht hinabsteigen; und wer nichts besitzt, furchtet nicht, etwas zu verlieren" (1589-1616). Die Bestimmung der Menschen ist stets dieselbe. Denn so reich einer auch sein mag, er endet in der Armut des Todes; und was aufsteigt, kann nach dem gleichen Gesetz, das den Aufstieg bewirkte, wieder fallen. Wissen erzeugt eine gewisse Unruhe. Und auch wenn Nietzsches Ubermensch den Blick in den Abgrund wagt, ertragen es viele nicht, die Unbeständigkeit der Welt zu akzeptieren und hinzunehmen, dass nicht alles in ihrer Hand liegt und ihnen gerade das Wesentliche entgleitet. Daher mag manch einer sagen, dass er es vorzieht, nicht zu wissen, um nicht zu leiden — was auf die Schwachen zutrifft ebenso wie auf die Starken, die irgendwann an die Grenze ihrer Belastbarkeit gelangen; nach dem Motto: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." Aber nicht zu wissen und nicht zu fühlen als Heilmittel gegen sämtliche Übel würde uns auf eine Stufe mit der unbelebten Materie stellen. Und es scheint nicht so zu sein, dass der Idealzustand des Menschen oder die von ihm angestrebte und realisierte beste aller Möglichkeiten dem Zustand des Steins (oder dem Selbstmord) entspricht. Vielmehr bewirkt Leiden größere Freude, wenn wir etwas in seinen Zusammenhängen erkannt haben, auch wenn wir stets fürchten, diese Freude wieder einzubüßen, so wie wir anderes verlieren mögen: Reichtum, Macht, Ruhm oder geistige Attribute wie die Erinnerung und unser Empfindungsvermögen, die sich mit dem körperlichen Verfall im Alter verflüchtigen. Das Leben lohnt gelebt zu werden, trotz all der Übel und Schrecken, die es bedroht, um so das Höchste zu erfahren, das der Mensch fühlen, erkennen, lieben und sein kann; wie der Renaissance-Dichter Juan del Encina schrieb: "Besser ist, Freude um Leiden zu tauschen als ohne Liebe zu sein." Im Gegensatz zu den orientalischen Strömungen, denen Schopenhauer zum Teil folgte und die alles Begehren streichen wollen, so als würde man zur Empfindungslosigkeit der unbelebten Materie oder zum Nicht-Sein zurückkehren, muss es darum gehen, das Begehren mit den anderen Empfindungen in Einklang zu bringen und in der Totalität der Welt zu situieren. Der Weise, so Sem Tob, kennt die Welt und weiß um die Schleier, welche die Wirklichkeit verhüllen. Und je höher man steht, umso bescheidener muss man sein, um nicht zu fallen oder, wenn man denn
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fällt, nicht von den Trümmern des Gebäudes, das einen in die Höhe trug, erschlagen zu werden. Hier mag man an Schiller erinnert werden, wenn er vom Philosophen oder Weisen sagt: Sag an, du kleiner großer Mann, Der Turm, von dem dein Blick so vornehm niederschauet, Wovon ist er - worauf ist er erbauet? Wie kamst du selbst hinauf - und seine kahlen Höhn, Wozu sind sie dir nütz, als in das Tal zu sehn?17 (1968: 164).
17. "Der Metaphysiker" (Schiller 1968: 164).
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"Es gibt zwei Dinge, die, weil sie so wechselhaft sind, der Mensch nicht beherrschen kann: die Welt und das Meer. Das Gute, das beide bewirken, ist nicht sicher (sicher ist dagegen der Wandel); und auch die Freuden, die beide bewirken, sind nicht ungetrübt, da sie Ungemach hervorrufen. Das ruhige Meer kann von einem Moment auf den anderen stürmisch werden; und die Welt verachtet heute den, den sie gestern noch gepriesen hat. Daher bewirkt die gehobene Position eines Menschen, der zudem noch klug ist, dass er voller Sorge und traurig ist. Der wahre Mensch lebt stets in Sorge; mag er nun reich sein oder arm, sorgenfrei ist er nie. Der Mann von Stand leidet an seinen Sorgen, und der gemeine Mann leidet an seiner vielen Arbeit" (1617-1640). Nach Sem Tob bleibt dem Menschen nur, die Bedingungen der menschlichen Existenz mit all ihrem Schmerz und ihrem Leid hinzunehmen und zu versuchen, größeres Leid zu vermeiden und nach dem Besten oder dem möglichst wenig Schmerzhaften zu streben, auch wenn die Welt widersprüchlich erscheint. Ähnlich verhält es sich mit der Ästhetik und den Kategorien des Schönen und des Hässlichen, die sich gleichermaßen vermischen. So gibt es für den Ästheten, so sehr er auch nach dem Schönen oder dem Erhabenen sucht, im Vergleich zu dem Besten, das er in einem Werk oder beim Anblick einer Landschaft entdeckt, stets auch Erfahrungen, die ihn enttäuschen. Sogar ein und dasselbe Werk, das ihm in einem bestimmten Moment gefiel, mag ihm, nimmt er es erneut und in einer anderen Stimmungslage zur Hand, sehr viel weniger bedeutsam oder gar irrelevant erscheinen. Zudem erschafft die Natur unaufhörlich Dinge und Wesen, die schön und hässlich zugleich sind, je nachdem, wie oder wann man sie betrachtet. Und selbst dann, wenn wir meinen, etwas künstlerisch Perfektes vor uns zu haben, taucht stets ein Element auf, das störend wirkt - sei es auch nur, weil wir etwas anderes zu sehen gewohnt sind. Sem Tob sieht die Welt nicht anders als die christliche Lehre, wenn er von ihr sagt, dass man in ihr auf nichts bauen kann und
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dass sie unberechenbar wie das Meer ist: mal ein ruhiger Wellengang der Gedanken und Ideologien, dann der Sturm von Fanatismus, Revolution, Krieg. "Der Arme wird nicht mehr geschätzt als der Tote; und der Reiche wird bekriegt, auch wenn er nichts Unrechtes getan hat. Solange der Mensch lebt, spricht man von seinen Untaten; sobald er stirbt, ist nur noch die Rede von seinen guten Taten. Wenn es ihm nichts mehr nützt, wird er gelobt; und von dem, was ihm nicht mehr nützt, wird großzügig verteilt" (1641-1652). Niemand ist somit sicher vor der Bosheit anderer, auch wenn manchem Lob gezollt wird. Sem Tob betont vor allem, dass man in der Regel den lobt, der kein Störfaktor oder kein Konkurrent mehr ist, während die Lebenden kritisiert werden; wie er sagt: "Solange einer lebt, werden all seine Qualitäten aus Missgunst verschwiegen; sobald er stirbt, hat er doppelt so viele. Solange er lebt, hat er überall Neider; sobald er stirbt, verschwinden die Neider und treten die Lügner auf" (1653-1660). Dem Toten wird Lob zuteil, weil seine Größe keinen Schatten mehr auf diejenigen zu werfen droht, die neben ihm wachsen wollten. Getadelt wird er nur dann, wenn sein Handeln sich auch nach seinem Tod noch negativ auswirkt oder schmerzt. Da er nicht mehr unter den Lebenden weilt, sehen diese auch seine kleinen Schwächen nicht mehr, die leicht vergessen werden, so dass man wie bei den Heiligen oder Helden dazu neigt, sich nur noch an die Tugenden zu erinnern. "Wer sich richtig verhalten und sich vor Irrtümern schützen will, der tue nie etwas im Verborgenen, von dem er nicht möchte, dass es jemand erfährt" (16611668). Wie später Kant folgt Sem Tob hier der jüdisch-christlichen Tradition, nach der Gott alles sieht; demzufolge muss das Handeln des Menschen transparent sein. Dies entspricht nun aber nicht einer oberflächlichen Moral, nach der man auf heuchlerische Weise handelt, um gesehen zu werden. Gemeint ist hingegen, dass man so handelt, wie es einer konsensuellen Ethik entspricht, welche nur wenig vereinbar ist mit dem individualistischen und revolutionären Geist jener Ethiken, die nach der Aufklärung entworfen wurden. Denn es kann durchaus geschehen, dass die Mehrheit, möglicherweise aufgrund von Vorurteilen, Handlungen tadelt, die an sich gut und fiir den Handelnden oder sogar für alle von Vorteil sind — Handlungen, die sich nicht an dem orientieren, was die Mehrheit denkt. Es ist ein Irrtum zu meinen, dass das Gute von allen gesehen werden kann und muss. Ebenso wenig sollte man das Öffentliche mit dem Privaten vermischen, denn wir brauchen einen Bereich des Privaten und Intimen. Sem Tob scheint das zu befürworten, was ihm unter praktischen Gesichtspunkten am angemessensten erscheint; und hier hält er sich an die Vorstellung von einer Moral im Sinne der lateinischen mores, der Sitten und Gebräuche, die es erlauben, sich hinter dem zu verstecken, was mehr oder weniger die Mehrheit tut.
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"Ein Geheimnis, das man vor seinem Feind verbirgt, wird man auch seinem Freund nicht verraten. D e n n indem man seinem Freund vertraut, kann es geschehen, dass dieser aufgrund einer Verstimmung zum Feind wird — ein kleiner Streit genügt, u m das gegenseitige Einvernehmen zu trüben - u n d man lieber sterben möchte, als dass dieser dann von dem, was man getan hat, etwas weiß. U n d man wird es bedauern, wenn es zu spät ist" (1669-1684). Erneut geht es Sem Tob nicht u m die Theorie, sondern u m die Praxis des alltäglichen Handelns. Gibt es etwas zu verheimlichen, dann sollte man es niemandem sagen, nicht einmal dem Freund, denn dieser kann aus nichtigem Anlass zum Feind werden. Dabei berücksichtigt Sem Tob jedoch nicht die Notwendigkeit, interne Probleme oder Streitigkeiten zu klären, u n d das Bedürfnis, sich auszusprechen — vielleicht weil dies in der Zeit, in der er lebte, aus religiösen G r ü n d e n oder aufgrund von Neid u n d Streitigkeiten gefährlich war u n d das im Bürgerkrieg vorherrschende Klima, das Racheakte u n d Denunziation begünstigte, davon abhielt, auf die Standhaftigkeit des Menschen zu vertrauen. Daher betont er, dass, wenn der Freund das Geheimnis an einen seiner Freunde weitergibt, die Gefahr wächst; denn, so Sem Tob weiter: "Wie das Sprichwort richtig sagt: Was drei wissen, ist öffentlich u n d wird von allen gewusst" (1697-1700). Auch w e n n die Zahl nicht wörtlich zu n e h m e n ist u n d es so nicht immer geschehen muss, scheint es doch so zu sein, dass, wenn etwas von mehreren gewusst wird, in der Regel Informationen nach außen dringen, wie es bei manchen Verschwörungen der Fall war, die scheiterten, weil zu viele davon wussten. D e m Menschen fällt es schwer, zu schweigen u n d ein Geheimnis zu bewahren, so als müssten wir von N a t u r aus miteinander kommunizieren, u n d schweigen würde folglich unserer N a t u r zuwiderlaufen. D e n n wir sind unserem Wesen nach gesellig u n d bedürfen der emotionalen N ä h e der anderen. Viele Geheimnisse werden nicht aus Böswilligkeit, sondern aufgrund des menschlichen Mitteilungsbedürfnisses
weitergegeben,
auch wenn wir fürchten müssen, dass der andere dieses Geheimnis wiederum an andere weitergibt, so dass es schließlich zu einem öffentlichen Geheimnis wird. "Tugenden zu benennen, ist einfach; doch nur wenig Menschen wissen entsprechend zu handeln" (1701-1704). Benennen u n d Kategorien bilden, u m die Wirklichkeit zu klassifizieren, mag einfach sein, w e n n m a n die angemessenen sprachlichen Mittel herausgebildet hat. Doch entsprechend diesen für gut befundenen Kategorien zu handeln, ist ein beständiger Kampf. Sem Tob meint, dass "derjenige ein guter Mensch wäre, der so viele Tugenden lebt, wie er kennt oder nennen kann" (1705-1708). Benennen, sagen u n d zeigen sind Fähigkeiten, die ein jeder beherrschen mag; doch nicht jeder handelt entsprechend. U n d wer sich darauf beschränkt zu benennen, ohne zu handeln, von d e m kann gesagt werden:
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"Sein Herz ist eng, doch sein Mund ist weit geöffnet" (1719-1720). Wird das Wort nicht in die Tat umgesetzt, bleibt alles nur ein mentales Konstrukt, etwas Abstraktes, ein Hirngespinst. Viel reden (wie im Fall des Gelehrten) bringt nichts, will man die Wirklichkeit einfangen; diese entzieht sich wie das Leben der leeren Syntax eines oberflächlichen Diskurses. Doch Sem Tob erkennt an, dass auch diese inexistenten Wesen, die Wörter genannt werden, etwas bewirken, indem sie Emotionen und Handlungen hervorrufen und so auf die Wirklichkeit einwirken: "Ich bin bestrebt, sie zu nennen, so als könnte ich sie in Handlung verwandeln und, indem ich sie nenne, Wirklichkeit werden lassen. Wenn ich sie nenne, ohne zu handeln, mag es mir nichts nützen; doch ein anderer, der sie hört, mag aus ihnen etwas lernen. Nichts zu sagen und nichts zu tun, ist wenig lobenswert: Wie bei der Freude ist etwas besser als nichts" (1721-1732). Sem Tob ist in seinen Ansichten nicht radikal und folgt nicht dem Gebot des "alles oder nichts", sondern meint differenzierter, dass etwas besser ist als nichts: etwas erkennen und benennen, auch wenn dies nicht in Handeln mündet, denn nichts zu erkennen, macht tugendhaftes Handeln umso schwerer. Dabei bleiben aber die Fälle unberücksichtigt, in denen eine Rede, die nicht von Handeln begleitet wird, den gegenteiligen Effekt hervorrufen kann; denn das Leben ist mehr als das Wort, und das Handeln ist das Wort oder der Ausdruck eines starken Willens. Doch das Wort zeigt die Richtung an, und selbst wenn derjenige, der es sagt, nicht entsprechend handelt, mag es auf andere einwirken, getreu dem Motto "Tu, was ich sage, und nicht, was ich tue". Andererseits gibt es unter den Menschen, wie es scheint, keine perfekte Ubereinstimmung zwischen dem gesprochenen Wort, dem Abstrakten, und dem Handeln in konkreten Lebenszusammenhängen, denn das Leben ist komplexer als die Welt der Worte.
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"Halte niemanden für unbedeutend, so klein er dir auch erscheinen mag" (1733-1734). Was sich zunächst wie eine Betrachtung über die Würde des Menschen liest, erweist sich in den nachfolgenden Zeilen als rein praktische, auf den Krieg oder den Kampf bezogene Fragestellung. Niemanden sollte man als ungefährlich erachten; denn wenn man ihm Schaden zufugt, kann man selber den Kürzeren ziehen, weil andere ihm zu Hilfe eilen oder er selber verborgene Eigenschaften besitzt, mit denen er dem Aggressor schadet. Die Strategie, die man im Leben verfolgen soll, ist einfach, muss aber genau beachtet werden: "Erst wenn er sein eigenes Reich gesichert hat, zieht der kluge König gegen andere in den Krieg" (1753-1756) — eine Maxime, die sich auch auf intellektuelle Auseinandersetzungen, Handelskonflikte und jede Art von Konfrontation übertragen lässt. Auf derlei pragmatische Betrachtungen folgen bei Sem Tob weiterführende Gedanken, die im übertragenen Sinn zu verstehen sind: "Was du schnell erledigen willst, tu es in Ruhe. Denn wenn du dich beeilst, musst du Zeit darauf verwenden, um den Irrtum zu beheben, der aus der Eile entsteht, und du brauchst länger, weil du es eilig hattest. Wer Hast sät, erntet Reue; wer gelassen handelt, erreicht, was er sich vorgenommen hat. Geduld hat noch nie bewirkt, dass jemand etwas verlor; und wer Eile walten ließ, hat es bereut" (1757-1772). Nicht schnell, wohl aber hastig vorgehen, bedeutet, dass sich unser Handeln unserer Kontrolle entzieht und uns dominiert, weil wir fundamentale Faktoren oder mögliche Auswirkungen übersehen, die uns dann zwingen, neu zu beginnen, oder weil die Objekte oder Handlungen so in Unordnung geraten, dass wir später Mühe haben, sie wieder in die Ordnung einzupassen, die wir der Welt in Beziehung zu uns geben möchten. So wird auch in der orientalischen Philosophie, insbesondere im Zen-Buddhismus, angeraten, sich auf die momentane Handlung zu konzentrieren, und das bedeutet auch: die Gegenwart auszukosten. Andernfalls besteht die
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Gefahr, dass man hinweggetragen wird, mitgerissen von einer Zukunft, die ungewiss ist und von der wir nicht einmal wissen, ob sie je eintreten wird. Sem Tob erscheint hier besonders aktuell, wenn wir etwa an die heutige vom Stress geplagte Arbeitswelt denken, in der sich viele, von außen gelenkt und ohne eigene Entscheidungsmacht, wie in einem Labyrinth verlieren. Allerdings ist es unmöglich, hier allgemeingültige Regeln aufzustellen, da (wie bei der Nahrung) ein jeder das für ihn gültige Maß selbst bestimmen muss und es ein exaktes Maß vermutlich ohnehin nicht gibt. "Willst du dich hüten vor Gefahren und Verlust, so gib acht auf das, was du sagst, und noch mehr auf das, was du schreibst. Ein einziges Wort kann zum Krieg und damit zum Tode fuhren, und ein erstes Treffen kann eine große Liebe entstehen lassen. Doch wenn das, was du sagst, nicht niedergeschrieben wurde, magst du es leugnen, wenn es für dich von Vorteil ist. Bisweilen kann man leugnen, was man gesagt hat; doch wenn es geschrieben steht, ist Leugnen nicht möglich. Das gesprochene Wort ist schnell vergessen. Was aber geschrieben wurde, bleibt für immer erhalten. Ein Argument, das nicht niedergeschrieben wurde, ist wie ein Pfeil, der nicht ins Schwarze trifft. Einige berichten es so, andere wiederum anders; nie wird man herausfinden, was wirklich gesagt wurde. Von denen, die zugegen waren, werden sich nur wenige an das, was sie hörten, erinnern, und sie werden sich nicht einig sein" (1773-1804). Erneut zeigt sich Sem Tob als praktischer Ratgeber, der zur Vorsicht mahnt - dies mit Blick auf die Intellektuellen seiner Zeit, jene Minderheit, die lesen und schreiben konnte. Er verweist darauf, dass das gesprochene Wort wenig greifbar ist, da es im Prinzip (außer wenn es, wie heute, aufgezeichnet und wieder angehört wird) schnell vergessen wird. Darüber hinaus verhindert die gesprochene Sprache aufgrund der zeitlichen Sukzession der einzelnen Laute, dass wir das Gesamte der sprachlichen Äußerung präsent haben, was nur über die Erinnerung an diese Laute möglich ist, jedoch dadurch behindert wird, dass die Erinnerung wie jede Form der Erkenntnis durch unsere Wünsche, Interessen und Vorurteile verzerrt wird. Daher erscheint das geschriebene Wort gewichtiger: nicht nur aufgrund des in jener Zeit verwendeten Materials - zumeist Pergament, das teuer und schwierig zu handhaben war - , sondern auch aufgrund der Tatsache, dass man, um Fehler zu vermeiden, in der Regel sehr viel umsichtiger und vorsichtiger formulierte. Eine schriftlich verfasste Äußerung musste (und muss) vor ihrer Niederschrift genau überlegt und jedes Wort in seinem Bedeutungsgehalt genau geprüft werden, zumal ein Schriftstück eine aufmerksame Lektüre erlaubt und immer wieder neu gelesen werden kann. Dabei kann man prüfen, welche Assoziationen sich mit dem einen oder anderen Wort verbinden, warum eine Satzfolge so und nicht anders gewählt
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wurde, ob sich zwischen den Zeilen eine weiterführende, vom Verfasser möglicherweise versteckte Aussageintention verbirgt (wobei aber der Leser auch gelegentlich zu forcierten, der eigenen Phantasie oder den eigenen Interessen verpflichteten Interpretationen gelangen mag). Seitdem das Schreiben als erschwingliche und schnell verfugbare Ressource vielen zugänglich ist, hat es sich hinsichtlich seines reflexiven Charakters stark verändert, auch wenn es diesen nicht ganz verloren hat. Dies gilt besonders für den Computer, mit dem man mit großer Geschwindigkeit Texte verfassen kann, ohne furchten zu müssen, dass Schreibfehler Spuren hinterlassen, zumal Fehler durch das Korrekturprogramm sogar automatisch getilgt werden können. So kann man mit Hilfe des Computers den mündlichen Sprachduktus verschriftlichen, so dass ein Text, wird er nicht nachträglich korrigiert, so etwas wie eine Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit liefern kann (was bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Stenographie leistete, wenn auch noch eher rudimentär und nur für diejenigen einsichtig, die diese Schreibweise beherrschten). Andererseits kann man die Fixierung des Wortes in der Schrift als Verdinglichung von etwas Lebendigem sehen, denn im geschriebenen Wort geht die menschliche Wärme desjenigen verloren, der etwas zum Ausdruck bringt und in dessen (mündlicher) Äußerung häufig auch Gefühle oder ein Wille einfließen, die sich ebenso durch Mimik und Gestik wie durch den Tonfall oder die Schnelligkeit des Sprechens artikulieren. Somit kann der mündliche Vortrag einer Person selbst durch eine Tonaufnahme nicht ersetzt werden, denn auch dort geht viel verloren: die Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit der Präsenz, das Erfühlen und Erleben des Anderen nicht als Ding und als Sprache, sondern als ein konkretes Gegenüber. Das geschriebene Wort wäre nur etwas Lebloses, gäbe es nicht ein Subjekt, das es vom Tod oder vom Schlummern im Bücherregal erlösen würde - wie die Partitur, die erst dadurch zu Musik wird, dass die Noten von jemandem gelesen und im Geist oder durch das Spiel in Töne verwandelt werden. Zu den Geheimnissen der Sprache gehört jene Macht, die sie auf die Wirklichkeit ausübt und die sie in eine Waffe verwandelt; wie etwas, das für sich genommen unerheblich sein mag, das aber für den, der es aufgreift und deutet, zu einer tragischen und beklemmenden Wirklichkeit werden kann - wie das Wort "Feuer!" vor einem Erschießungskommando. Die Tätigkeit des Geistes bewirkt, dass Gedanken, Träumereien, Hirngespinste oder Worte sehr viel stärker sein und eine größere Gestaltungskraft haben können als die äußere Wirklichkeit, denn es gibt Umstände, unter denen sich ein Wort wie durch Magie in eine Explosion unerhörter oder auch furchterregender Gegebenheiten verwandeln kann, so als würde die Welt jeglicher Logik entbehren und keine vernünftige Beziehung bestehen zwi-
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sehen dem, was die Sprache zur Anschauung und zum Ausdruck bringt, und der realen, physischen Welt. Diese mag sich gegenüber dem Wort passiv verhalten, wird aber auch durch das Wort verändert, indem es Muskeln bewegt und sogar Berge versetzt. Eine Schmähung oder ein falsch verstandenes Wort, vor einem Tyrannen geäußert, kann einen Krieg nach sich ziehen oder eine qualvolle Pein für den bewirken, der es — möglicherweise in bester Absicht oder auch ohne die möglichen Folgen zu bedenken — ausgesprochen hat. Sem Tob, der wohl die Tugend verteidigt und den Standpunkt vertritt, dass Aufrichtigkeit das beste Mittel ist, Probleme zu umgehen, ist dennoch kein puritanischer Geist und hält es für annehmbar, dass eine Äußerung, die in einem bestimmten Augenblick gemacht wurde, nach einer gewissen Zeit, in der die Erinnerung verblasst ist, geleugnet werden kann, wenn sie zum eigenen Nachteil gereicht. Denn die Umstände, unter denen jene Äußerung fiel, sind nicht dieselben, unter denen sie wieder aufgegriffen wird; und es kann durchaus sein, dass nicht der Unwahrheit entsprochen wird, weil sich mit dem Kontext auch der Text verändert. Zudem bewirkt das Vergehen der Zeit, dass ein jeder die Trümmer dessen, was gesagt wurde, nach eigenem Gutdünken wieder aufbaut. Andererseits kann auch eine Lüge Sinn machen und nicht als Verrat am Gebot der Aufrichtigkeit gewertet werden, wenn sie an jemanden gerichtet ist, der dem (ehrlichen) Wort verhängnisvolle Taten folgen lassen würde. Das Wort zielt ab auf eine Information, die Vertrauen voraussetzt. Ist dieses Vertrauen nicht gegeben, kann das Gebot der Aufrichtigkeit unerheblich werden und die Lüge angemessen sein — etwa wenn ein paar Schurken einen Mann verfolgen, den sie töten oder dem sie anderweitig Schaden zufügen wollen, und dessen Freund lügt, indem er behauptet, nichts über dessen Aufenthaltsort zu wissen, oder sie auf eine falsche Fährte lockt. Dennoch: außer in außergewöhnlichen Situationen sollte man sich nicht bewusst einer formalen Lüge bedienen, die auf der eindeutigen Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Faktischen basiert. Häufig geschieht, dass wir beim Sprechen in unserer Vorstellung das, was wir glauben, und das, was sich tatsächlich ereignet, miteinander vermengen. So übertreiben oder bagatellisieren wir Ereignisse, nennen überhöhte Zahlen und vermischen Erinnerungen, so dass unser Gegenüber selbst zu einer Synthese finden muss, unabhängig vom wörtlich Gesagten, das nicht nur in der Umgangssprache und in der geselligen Unterhaltung, sondern auch in der schriftlichen Mitteilung und sogar in Publikationen, die von einem ausgeprägten Sprachbewusstsein zeugen, eben nicht wörtlich zu nehmen ist. Sem Tob verweist darauf, dass das geschriebene Wort auf unbestimmte Zeit für immer, sagt er - erhalten bleibt, wenn die materielle Basis der Sprachzeichen
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nicht zerstört wird, dass sich aber der Kontext ändert und die Botschaft eine andere sein kann, wenn sie unter ebendiesen veränderten Bedingungen gelesen und gedeutet wird. Geht es um das gesprochene Wort, vor allem bei Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten, so erweist sich der Zeitfaktor als besonders problematisch, da jeder in der Erinnerung eine Auswahl trifft (was natürlich auch für das geschriebene Wort gilt, da wir etwa ein von uns gelesenes Buch nie in seiner Vollständigkeit erinnern und stets nur Bruchstücke zitieren, dabei aber darauf achten sollten, den Grundtenor des Buches nicht zu verraten). Daher gelangt man, wenn zwei miteinander streiten, hinsichtlich einer vergangenen mündlichen Äußerung nur schwer zu einer Übereinstimmung, und am Ende herrscht hinsichtlich dessen, was der eine gesagt hat oder glaubt, gesagt zu haben, und der andere meint, gehört zu haben, ein Chaos, in dem das, was tatsächlich gesagt wurde und mitgeteilt werden sollte, untergeht. "Das Wort, sei es nun ungezügelt oder sanft, ist wie ein Schatten, der vorüberzieht, und hinterlässt keine Spur. Keine Lanze durchstößt alle Rüstungen und ist so durchschlagend wie die Schrift: Die Lanze wird auf ein Ziel geschleudert, der Buchstabe gelangt von Burgos nach Ägypten; die Lanze trifft den, der am Leben ist, der Buchstabe triumphiert zu Lebzeiten und über den Tod hinaus; die Lanze verletzt nur den, der gegenwärtig ist, die Schrift erreicht den, der fern und jenseits des Meeres ist. Vor der Lanze schützt den Menschen der Schild, vor dem Buchstaben schützt ihn niemand auf der Welt" (1805-1828). Das Mysterium der Sprache bewirkt, dass das gesprochene Wort, das in der physischen Umwelt keinen beständigen Eindruck hinterlässt, ohne ein Zeichen zu setzen verschwindet — unabhängig davon, ob es einer tief empfundenen Uberzeugung entspringt und in der Wirklichkeit Wunderwerke oder Katastrophen hervorruft. Wenn es allerdings ein denkwürdiges Ereignis bewirkt, das durch mündliche Uberlieferung erinnert wird, dann verwandelt sich in der Regel das gesprochene in das geschriebene Wort und bleibt erhalten. Dagegen verflüchtigt sich die immense Mehrheit der Worte - um nicht zu sagen: nahezu alle - , sofern sie nicht auf einem Tonträger festgehalten werden und damit für einen künftigen Hörer zugänglich bleiben. Die Sprache erreicht Menschen noch Jahrhunderte später und an weit entferntem Ort, und so wirkt sie zu Lebzeiten wie auch nach dem Tod dessen, der sich ihrer bediente, als Ausdruck und Zeichen, in denen jemand einen Teil von sich selbst preisgibt, ohne selbst anwesend zu sein: ein nahezu magisches Geschehen. Eine minimale Materialität wirkt so auf das Subjekt ein, von diesem vielleicht Jahrhunderte später empfangen, geschrieben auf Pergament, Papyrus, Papier oder zu lesen auf dem Bildschirm eines Computers. Gegen eine physische Aggression mag man sich verteidigen, etwa durch einen Schild; doch konfron-
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tiert mit der Sprache, die man versteht und die eigene Positionen angreift oder vernachlässigt, gibt es keine Möglichkeit des Ausweichens - es sei denn, man hört nicht hin oder meidet die Lektüre. Hat man aber hingehört oder gelesen, dann hinterlässt das Gesagte oder Geschriebene seine Spur in unseren Gedanken und wirkt wie ein tödlicher Stich: der Stich, den bisweilen die von einem anderen in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebrachte Wahrheit hinterlässt. Die Sprache, von den Menschen geschaffen und ebenso konventionell wie arbiträr, vermag Menschen zu verbinden und sie zu trennen. Wichtig ist nicht das materielle Sprachzeichen, sondern der Gehalt, die Seele der Sprache, die ohne diejenigen, die sie hören oder schaffen, nicht existieren würde.
KAPITEL 15
"Jede Freude, so die Weisen, währt nur eine bestimmte Zeit, dann schwindet sie nach und nach. Die Freude am neuen Gewand bleibt einen Monat, dann nutzt es sich ab, bis es zerreißt; die Freude am neuen Haus ein Jahr, solange der Putz weiß ist und bis es regnet und er gelb wird. Zudem liegt es in der Natur des Menschen, sich zu langweilen, wenn etwas sehr lange anhält, und seiner überdrüssig zu werden. Um beständig das Alte gegen das Neue einzutauschen, tauscht er fast noch das Gute gegen das Hässliche ein" (1829-1848). Von der Sprache kehrt Sem Tob zum Thema der Freude zurück, nachdem er bereits ausgeführt hat, dass es unmöglich ist, den Schmerz und manche Niederlagen zu vermeiden, und der Mensch daher derartige Wechselfälle des Lebens überwinden muss. Wie bereits die Epikureer - weniger Aristoteles und Piaton - dargelegt haben, sind Freuden vergänglich, wenn auch einige länger andauern als andere. Und selbst das, was sich nicht verändert, verliert bisweilen seinen Reiz, allein weil wir uns daran gewöhnt haben oder weil es seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Daher können wir nicht nur mit der Freude leben, die uns die Gegenstände bereiten. Wie schon Piaton und Aristoteles feststellten, speist sich das Glück nicht wesentlich aus der sinnlichen Wahrnehmung des Äußeren, der Dinge und Objekte, in denen sich das Subjekt verlieren kann. Das Glück als die am tiefsten empfundene und dem Menschen ureigene Freude erringt man nicht über die Dimension des Physischen, da diese an Raum und Zeit gebunden ist. Den Menschen stört, was von Dauer ist, was dem Wandel, der Bewegung und der Veränderung zum Besseren entgegensteht; denn der Wunsch nach Verbesserungen impliziert das Ende von etwas. Daher rührt für den Menschen auch die Notwendigkeit zu reisen, immer wieder neue (innere und äußere) Landschaften zu erleben, um dann, bereits eroberte Räume hinter sich lassend, an neuen Erfahrungen zu wachsen. So mag dem, der nicht in seinem Innern und an den kleinen Dingen
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wächst, die Kontinuität von Raum, Milieu und uns umgebenden Dingen bedrückend erscheinen. Dagegen mag ein anderer ablehnen, was beständigem Wandel unterworfen ist, denn die häufige Veränderung ermüdet und erfordert besondere innere Festigkeit und Stärke, damit sich das Individuum nicht in den Dingen verliert und von den Ereignissen fortgerissen wird. "Die Freude, die der Mensch durch jemanden empfindet, der sich dessen nicht bewusst ist, ist nur eine halbe Freude und nicht von Dauer. Denn wenn die Sache, die mir Freude bereitet, nicht darum weiß, wird es sie nicht kümmern, ob die Freude anhält oder endet. Dagegen wird jene, die weiß, dass sie mir Freude bereitet, alles daran setzen, damit diese noch größer wird. Daher nimmt die körperliche Freude ab, während die geistige wächst" (1849-1864). Wie die Epikureer zieht auch Sem Tob den Schluss, dass die größten Freuden die geistigen sind, die unaufhörlich wachsen, während die körperlichen Freuden nur flüchtige Freuden sind (wobei sich Epikur allerdings auf die Gefühle und Seelenzustände bezieht). Der Mensch muss sich über die reine Materie erheben, um eine andere Dimension zu erreichen; von daher der Gedanke, dass die der Kontingenz geschuldete Freude stets von Schmerz begleitet ist, sie das Begehren einschließt - was heute so manchen veranlasst, insbesondere im Zusammenhang mit dem sexuellen Begehren über bestimmte Techniken die Lust zu vergrößern. Das Begehren aber ist auf die noch inexistente Zukunft gerichtet und verhindert, dass man die Gegenwart lebt; wie Sem Tob sagt: "Nichts bekümmert mich mehr als die Freude, von der ich mit Sicherheit weiß, dass sie enden muss" (1865-1868). Analog zu jemandem, der an einer Zukunft leidet, die noch nicht eingetreten und zudem zweifelhaft ist und der nicht das sieht, was er hat, beschreibt Sem Tob hier eine Situation, die häufig sogar auf jemanden zutrifft, der zwar zu genießen weiß, dessen Genuss sich aber angesichts der Endlichkeit der Freude auflöst. So nimmt Sem Tob — wie Epikur18 — Zuflucht zu etwas, das er als eine der größten, weil dauerhaften Freuden betrachtet (auch wenn er zuvor darauf verwies, dass man sich nicht auf die Menschen und nicht einmal auf die Freunde verlassen darf, wenn es um Verschwiegenheit geht): "Freude, die von Dauer ist, schafft der gute Freund: Ich verstehe, was er mir sagt, und er versteht, was ich ihm sage. Große Freude bereitet mir, dass er mich versteht; und sie ist noch grö-
18. In der "Vatikanischen Spruchsammlung" heißt es: "Jede Freundschaft ist um ihrer selbst willen zu pflegen. Sie enstand aber, weil sie nützlich war" (Nr. 23). Wichtig ist dabei die subjektive Gewissheit, die mit der Freundschaft verbunden ist: "Wir brauchen unsere Freunde nicht so sehr, weil sie brauchbar sind, wie wir sie brauchen, weil wir auf ihre Brauchbarkeit bauen" (Nr. 34) (Epikur 2003: 261, 265).
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ßer, weil ich weiß, dass er sich an meiner Freude erfreut. Ich erfahre von ihm stets Verständnis und er von mir stets Zustimmung" (1869-1880). Nach Sem Tob ist ein Freund der, der ihn versteht, wodurch er die intellektualistische Tradition unterstreicht, aus der er kommt — auch wenn implizit Gefühle, Mitleid, Sympathie als notwendig erachtet werden (wie H u m e später hervorhob). Die Bereitschaft, mit dem anderen zu leiden und zu genießen, ist unerlässlich, damit sich ein beidseitiges Einverständnis ergibt. Ist diese Freundschaft tief und innig, wird sie ohne Weiteres von Dauer sein, da sie nicht von äußeren Gegebenheiten abhängt (was den Freunden eine gewisse geistige und intellektuelle Reife abverlangt, die sie erst zur Freundschaft befähigt). Mit dem Freund erfreut man sich der Freuden und Siege, die dem anderen zuteilwurden — ohne Neid, denn wer Neid empfindet, hat sich flir die Freundschaft disqualifiziert. Freundschaft bereichert, auch wenn man am Leid des anderen leidet. Denn dieses Leid bleibt stets umhüllt von der Liebe, die man für den anderen empfindet, wodurch der Schmerz in etwas eingebettet wird, das ihm einen Sinn und sogar ein tiefes Glücksgefühl verleiht, wenn die Gegenwart des Freundes Trost spendet. Sem Tob kann nun aber gewiss nicht als naiv verstanden werden, ist ihm doch sehr wohl bewusst, wie komplex ein menschliches Wesen ist. So sagt er, indem er einen (uns unbekannten) Weisen zitiert: "Der Weise, der in seinen Glossen unablässig wahrhaftige Dinge sagt, sagt auch, dass es unter den Dingen, die zur selben Kategorie gehören, auf der Welt nichts gab — nicht einmal Eisen im Vergleich zum Gold
das so verschieden war wie ein Mensch vom andern:
'Denn das beste Pferd der Welt ist nicht so viel wert wie hundert. Und ein Mensch', so sagt er, 'ist so viel wert wie eine Million.' Eine Unze an geistiger Überlegenheit könnte man nicht kaufen fxir alles Geld der Welt" (1881-1896). Die Dimensionen des Körperlichen und ihre Maße taugen nicht, um die geistigen oder genuin menschlichen Dimensionen zu erfassen. Wollte man - was eigentlich unmöglich ist — den Unterschied etwa zwischen einem zutiefst guten und einem perversen Menschen messen und begreifen, dann würde man versuchen, eine Distanz zu messen, die unendlich ist. Und auch wenn entsprechend der christlichen Tradition jeder Mensch an sich einen unendlichen Wert besitzt, werden, sobald man ihn in Beziehung zu anderen setzt, nach Sem Tob die abgrundtiefen Unterschiede deutlich - Unterschiede, die weit größer sind als die zwischen einer Münze aus Eisen und einer aus Gold. Die menschliche Natur ist in ihrer Vielfalt unendlich, doch die spezifische Entwicklung des Einzelnen fuhrt zu verblüffenden Ergebnissen. Die Unterschiede im Bereich des Spirituellen lassen sich nicht wettmachen durch materielle Werte. Die Metalle, so Sem Tob, "haben keine Empfindungen; was sie in ihrem Wert unterscheidet, ist nur wenig,
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und in wenigen Tagen können sie ihren Wert verlieren" ( 1 9 0 0 - 1 9 0 4 ) . Denn der Wert derartiger Objekte, die "weder eine Sprache noch Verstand besitzen" ( 1 9 0 5 1 9 0 6 ) , verfällt, da sie ihn nicht benennen oder verteidigen können. Wenn Sem Tob betont, dass die Dinge keine Sprache - also nicht die Fähigkeit, sich auszudrücken - und keinen Verstand haben, erweist er sich als Erbe der über Jahrhunderte vorherrschenden Tradition des Intellektualismus, auch wenn er sich nicht auf die Erkenntnis beschränkt und sein Augenmerk auf andere Werte richtet: "Daher muss sich die Freude des Menschen vermehren, indem er Dinge sagt und tut, die ihn neu beleben" ( 1 9 1 3 - 1 9 1 6 ) . " D e r Mensch ist aus zwei Substanzen gefertigt: verschiedene Substanzen, von denen die eine gemein und die andere edel ist. Eine ist irdisch - in ihr gleicht er dem Tier - , die andere ist himmlisch - durch sie ist er dem Engel gleichgestellt. Indem er isst und trinkt, entspricht er dem Tier, wie die Tiere lebt und stirbt er unausweichlich; durch seinen Verstand ist er wie der Engel, mit dem einzigen Unterschied, dass er in einem Körper steckt" ( 1 9 1 7 - 1 9 3 2 ) . Der Mensch als eine Mischung aus Engel und Tier ist ein Topos, der an die platonische Tradition der Opposition von Körper und Seele anknüpft und hier die Seele mit dem Verstand, jedoch nicht mit dem Willen und dem Begehren assoziiert. Durch unseren Körper sind wir bei unserer Geburt dem Tier gleichgestellt; doch durch die Erziehung, die Kunst, die Religion wird ein neuer Sinn geschaffen, transzendiert der Mensch seinen Zustand und schafft neue Formen und neue Welten. Dass der menschliche Verstand mit dem der Engel übereinstimmt, ist eine Position theologischer Provenienz, die wenig mit dem Aristotelismus und viel mit dem Platonismus zu tun hat. Zwischen zwei Extremen, die uns ausmachen, bewegt sich unsere Existenz.
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"Wer nur eine Unze mehr Verstand besitzt als die anderen, ist so viel wert wie hundert Menschen zusammen. Denn von dieser Seite kommt alles Gute, das ihm eigen ist; von daher kommen seine Gesittung und seine Mäßigung, sein Großmut und seine Klugheit, Besonnenheit, Genügsamkeit und Erkenntnisvermögen. Von der anderen Seite stammen seine schlechten Eigenschaften; von daher kommen seine Gier und Grausamkeit, kommen Bosheit und Verlogenheit, Unzucht und Krankheit, alle Arten von Gebrechen, Schwindel, Betrug und böser Wille, denn hier kennt das Böse keine Grenzen" (1933-1956). Auch hier erscheint die Erkenntnis als das höchste Gut, unabhängig vom Willen oder dem Begehren, denn der Voluntarismus eines Ockham sollte sich erst später auf der Iberischen Halbinsel verbreiten. Sem Tob ist weit davon entfernt; er folgt der sokratischen Tradition, der von Piaton und Aristoteles. Sie postulieren als oberstes Prinzip die Vernunft, das Rationale, wobei es der Klugheit als höchster Tugend gelingen kann, das Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen herzustellen und die einzelnen Elemente zu einem Ganzen zusammenzufügen — zum Terrain der Seele, die den Menschen auszeichnet. Ihr gegenüber steht der Körper als Begehren und unerschöpflicher Wille, im Gegensatz zur Seele stets in Bewegung, als wäre Erkenntnis nicht auch Bewegung oder ein Handeln, das bisweilen von Leidenschaft zeugt und seelische Erschütterungen hervorrufen kann. Wie im Neoplatonismus steht der Körper für das Böse, das Begehren, das unersättliche Verlangen, den Exzess. Daher ist ein Quentchen mehr an Vernunft das entscheidende Kriterium, wenn es darum geht, den einen Menschen unter hundert anderen herauszuheben. Unberücksichtigt bleibt allerdings, dass Vernunft und Wille nicht zu trennen sind, dass der Wille den Verstand wie das Gemüt dazu bewegt, etwas auf bestimmte Weise zu sehen und zu verstehen. Und schließlich sind Ehrgeiz, Eitelkeit und manch andere Laster Attribute, die der geistigen Dimension des Menschen
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eigen sind. Hier wird besonders deutlich, welcher philosophischen Tradition sich das Denken Sem Tobs verdankt. "Daher ist die Freude nicht geringer, wenn der Mensch sich in der Gesellschaft anderer Menschen befindet, sondern wird größer und schöner. Er erfreut sich an ihnen und sie erfreuen sich an ihm; er versteht sie, und sie verstehen ihn. Darum gibt es auf der Welt keine größere Freude als die Gesellschaft eines klugen Freundes. Doch einen verständigen, aufrichtigen und wahrhaftigen Freund zu finden, kostet viel: Für Geld kann man ihn nicht kaufen. So wie man nur schwer jemanden findet, der so aussieht wie man selbst, genauso schwierig ist es, einen guten und treuen Freund zu finden" (1957-1976). Unter Freunden zu sein, bereitet die größte Freude. Doch diese zu finden, ist äußerst schwierig, da Menschen unterschiedliche Charaktere und Interessen haben und Missgunst oder Neid das gegenseitige Verstehen erschweren. Sem Tob sieht den Menschen als gesellschaftliches Wesen, das auf die Zuwendung und das Mitgefühl seiner Mitmenschen angewiesen ist. Er weiß aber auch um die Schwierigkeit, das soziale Umfeld zu finden, in dem man verstanden und geschätzt wird und in dem man der Freundschaft begegnet. Nun muss der Einzelne aber auch ofFen und willens sein, eine solche Freundschaft einzugehen; und nicht jeder ist dazu befähigt. Daher verweist Sem Tob auf die falschen Freunde, die nicht unsere Freundschaft wollen, sondern das, was wir besitzen oder für sie von Vorteil sein kann: "Wer uns in Zeiten des Wohlergehens ein Freund ist, wendet sich ab, sobald es uns schlechter geht. Dem Freund, der dich preist flir etwas Gutes, das du nicht getan hast, darfst du nicht trauen, denn für das Böse, das du nicht getan hast, wird er dich hinter deinem Rücken tadeln — dessen sei gewiss. Wer aus Gewohnheit schmeichelt, dem glaube nichts; wer, um dir zu schmeicheln, schlecht über jemand redet, der wird bei anderen genauso schlecht über dich reden. Der Schmeichler belügt jeden, denn echte Zuneigung bringt er niemand entgegen. Mit Freuden erzählt er dem einen das Unglück des anderen; schlecht über jemand reden zu können, ist für ihn ein Geschenk. Einen solchen Menschen lass nie in deine Nähe, denn mit seinem Schmeicheln begeht er Betrug" (1977-2004). Wie später Machiavelli verweist auch Sem Tob — allerdings in der deutlichen Absicht, zu warnen und dem Übel vorzubeugen — auf Mittel und Wege, um den falschen Freund, der nur den eigenen Nutzen im Auge hat, zu entlarven. Wer gewohnheitsmäßig andere lobt und, um sich mit ihnen gut zu stellen, vom Lob zur Schmeichelei übergeht, dem kann man nicht glauben, da er nur darauf aus ist, andere für sich einzunehmen, und ihm an der Wahrheit nichts liegt. Besondere Vorsicht müssen hier jene walten lassen, die über Einfluss oder Macht verfugen, wie etwa der Herrscher oder allgemein die Leser, für die Sem Tob schrieb: der kleine
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Kreis der Gebildeten, darunter der Klerus und diejenigen, die im Staat hohe Positionen innehatten und damit in besonderem Maße von servilen Schmeichlern umgeben waren. Wer wissen will, was Freundschaft ist, so Sem Tob, möge sich an die Schere halten, womit er auf einen bekannten literarischen Topos rekurriert: Die zwei Schneiden "verletzen den, der sie trennt; nicht, u m sich zu rächen, sondern weil sie danach streben, wieder zusammen zu sein [...] Indem sie vereint sind, machen sie aus zwei eins und aus eins zwei" (2017-2044). Freundschaft und Kameradschaft in einer Gruppe Gleichgesinnter ist ein natürliches Verlangen des Menschen. Die primäre Sozialisation vollzieht sich in der Familie; doch deren Mitglieder kann man sich nicht aussuchen, und obgleich innerhalb der Familie aufgrund eines natürlichen Instinkts ein besonderer Zusammenhalt bestehen mag, sind die individuellen Unterschiede doch oft trennender, als dies bei einer Freundschaft der Fall ist, in der eine gewisse Affinität zum Tragen kommt. Gruppen, die sich aufgrund gemeinsamer Interessen - sei es politischer, kultureller oder auch sportlicher Natur - zusammenfinden, kommen dem Bedürfnis nach Freundschaft und Anerkennung entgegen und ermöglichen dem Einzelnen, seinen Platz in der globalen Welt zu finden. Das Bild, das Sem Tob verwendet, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Losung der Arbeiterbewegung, die in der Einheit ihre Stärke sah. Denn der Zusammenhalt einer Gruppe erhöht die Macht und die Sicherheit ihrer Mitglieder, die einzeln häufig ohnmächtig der Gesellschaft ausgeliefert sind.
KAPITEL 17
"Es gibt keinen größeren Wohlstand als die Freundschaft und keine Armut, die so bitter ist wie die Einsamkeit" (2045-2048). Sem Tob sagt dies in einer Zeit der Bürgerkriege, des Verrats und der Intrigen, in der manch einer versucht sein mag, vor einer so gefährlichen und wankelmütigen Gesellschaft zu fliehen. Wenn man Freunde findet, seien es auch nur einige wenige, ist dies die größte Bereicherung. Dagegen ist Einsamkeit gleichbedeutend mit einem Mangel, da das Individuum auf sich zurückgeworfen ist und ein Bezug zu anderen Individuen fehlt. Ein solcher Zustand ist wider die Natur des Menschen als soziales Wesen, ebenso wie es seiner geistigen Natur widerspricht, denn der Mensch lernt durch seine Lehrer, die ihn in Dingen unterrichten, welche er, auf sich gestellt, erst nach Jahren oder überhaupt nicht entdecken würde. Der Reichtum, der im Wissen vieler liegt, vervielfacht und festigt das eigene Wissen. Einsamkeit fuhrt nach Sem Tob zu negativem Denken und zu Depression; und so zitiert er einen Weisen mit den Worten: "Geselligkeit oder Tod" (2052). Denn Einsamkeit ist wie ein Abschied vom Leben, das der Gemeinschaft mit anderen bedarf. Es kann aber auch geschehen, dass Einsamkeit der Gesellschaft eines Menschen vorzuziehen ist; dies nicht, so betont Sem Tob, wenn es sich um einen Verwandten oder einen guten Freund handelt, "der meine Absichten kennt, dem ich vertrauen kann und vor dem ich keine Geheimnisse habe", wohl aber gegenüber einem Menschen, so fährt er fort, "der aufdringlich ist und der fortwährend, in guten wie in schlechten Zeiten, besondere Beachtung fordert. Mit so jemand wollte ich freiwillig nicht reden und noch weniger mit ihm in meinem Heim plaudern" (2065-2076). Für solche Menschen findet Sem Tob harte Worte der Kritik, und er empfiehlt, von vornherein den Kontakt zu Personen abzubrechen, mit denen man später nicht in Verbindung gebracht werden möchte und mit denen man nur schlechte Erfahrungen machen würde, wie auch immer man sich
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verhält. Denn derart aufdringliche Menschen, die anderen die Lebenskraft aussaugen und auf Kosten fremden Wissens und fremder Hingabe existieren, erfüllen nicht die Bedingungen für Freundschaft, da sie nicht zuhören und wie Kinder, die nur zu fordern und nicht zu geben wissen, am anderen nur das schätzen, was sie von ihm erlangen können. "Einsamkeit ist schlecht, doch schlechter ist die Gesellschaft eines Menschen, der falsch ist und dich betrügt. Und noch schlechter ist die eines Menschen, der dumm und aufdringlich ist" (2077-2082), denn eine solche Gesellschaft ist Verrat am wahren Wesen der Geselligkeit, welche weniger die körperliche als die innerseelische Nähe und Übereinstimmung sucht. Sem Tob stellt sich vor, wie man höflich und ohne den anderen unnötig zu beleidigen sich seiner entledigen kann, denn möglicherweise glaubt dieser aufgrund falsch verstandener gesellschaftlicher Konventionen, sich aufdrängen zu müssen: "Er glaubt, dass seine Gesellschaft mir Freude bereitet; doch ich würde es vorziehen, allein in der freien Natur zu sein, wo mir Gefahr von Schlangen droht, als in der Gesellschaft eines dummen und aufdringlichen Menschen. Er glaubt, zu gehen könnte unhöflich sein, und ich furchte, dass uns der Dachbalken erschlägt; denn er bedrängt mich so sehr, dass ich mir selber fast aufdringlicher vorkomme als er" (2097-2112). Dem, der aufdringlich ist, dies direkt zu sagen, würde bedeuten, dass man ihn verletzt und sich ihn zum Feind macht. Also muss man einen anderen Weg finden, denn es ist keinesfalls ein Zeichen von Nächstenliebe, wenn man einen solchen Menschen erträgt, sich mit dessen oft läppischen Problemen herumschlägt und sich selbst dabei überfordert. Wenn doch, so Sem Tob weiter, dieser Mensch wenigstens schweigen würde, statt unablässig zu reden, "dann würde ich ihn wie einen Pfosten ignorieren" (2115-2116). Stattdessen: "Er begnügt sich nicht damit, all den Unsinn zu reden, der ihm in den Sinn kommen mag, sondern stellt mir noch dumme Fragen, auf die ich antworten soll. Lieber wäre ich stumm, als ihm antworten zu müssen, und lieber taub, als ihm zuhören zu müssen. Gewiss kommt Alleinsein dem Tod gleich; doch mit einem solchen Gefährten ist man besser allein" (2121-2132). Wenn ein derart oberflächlicher Mensch Fragen stellt, können diese nur nichtssagend sein; und auf solche Fragen kann man nur nichtssagend antworten. Denn Wissen erkennt man nicht nur in Antworten, sondern häufig auch in Fragen, die eine Annahme oder Hypothese enthalten — so wie Sokrates für seine Technik der mäeutischen Gesprächsfiihrung als entscheidendes Element die Frage nannte, da sie Offenheit signalisiert, während die Antwort sich tendenziell in ihren Bedeutungen verschließt. So kommt Sem Tob zu dem Schluss, dass es besser ist, allein zu sein als in schlechter Gesellschaft, wie der Volksmund sagt. Doch, so fahrt er fort: "Kaum
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ist der eine gegangen, kommt schon der nächste. [...] Hört, wie er an der Tür fröhlich nach mir fragt, dabei könnte meine Frau tot im Zimmer liegen. Er möchte, dass man ihn freudig empfängt, und fragt nicht, wie es dem anderen ergeht" (2133-2148). Es gibt aufdringliche Menschen, deren Fröhlichkeit keine echte Fröhlichkeit ist, entweder weil sie innerlich hohl sind oder weil es ihnen gut ergeht im Leben und sie in ihrem Egoismus nicht imstande sind, die Sorgen und Nöte anderer nachzuempfinden, und die sich nur ein schönes Leben machen und so die innere Leere überdecken. Denn es erscheint unmöglich, zutiefst glücklich zu sein, wenn man nicht die Not, die in der Welt herrscht, wahrnimmt und den eigenen Schmerz wie den der anderen überwindet. Die eine falsche Fröhlichkeit zur Schau tragen, haben ein armseliges, ein vorprogrammiertes Lächeln, das traurig macht, weil es aus Traurigkeit oder innerer Leere gespeist wird. Sem Tob scheut sich nicht, auch weniger ernste Themen mit einer gewissen Leichtigkeit abzuhandeln. So ermahnt er die geladenen Gäste, nicht allzu lange zu bleiben, denn es ist problematisch, bisweilen auch nicht angebracht, sie aus dem Haus zu werfen. Jeder braucht aber eine Privatsphäre oder einen Ort, an den er sich zurückziehen kann. Nicht umsonst stecken manche Tiere ihr Revier ab und ziehen sich, wenn auch nur zu bestimmten Zeiten, aus der Gemeinschaft der anderen zurück; oder, wie Sem Tob sagt: "Der Gast und der Fisch stinken am dritten Tag" (2155-2156). Nur in den großen Herrenhäusern und Palästen, wo Platz ist wie in einer ganzen Stadt, kann sich ein jeder eine Privatsphäre erhalten und so leben, wie es ihm gefällt. Doch Sem Tob ist nicht reich, und er fuhrt die Gründe an, warum es bei Menschen, die ein normales oder sogar ärmliches Leben fuhren, angebracht ist, nicht allzu lange auf ihre Kosten zu leben und ihre Gastfreundschaft auszunutzen. Die Speisen und sonstigen Aufmerksamkeiten, mit denen man den Gast erfreuen möchte, könnten den Gastgeber in den Ruin treiben, da er selbst sich mit sehr viel weniger bescheiden würde, dies aber aus Scham seinem Gast nicht zumuten mag, welcher vielleicht seinerseits die Notlage seines Gastgebers nicht durchschaut, da er selbst in einer besseren finanziellen Lage ist. Gastfreundschaft, die sich großzügig zeigen will, kann sich nur der leisten, der über materiellen (und inneren) Reichtum verfügt. "Wenn es schlecht ist, allein zu sein, ist es noch schlechter, in solcher Gesellschaft zu sein. Wo gibt es schon Vollkommenheit? Wer ist imstande, sie zu erreichen?" (2193-2196). Damit kehrt Sem Tob zu dem zurück, was sich wie ein Leitmotiv durch sein Werk zieht: Nichts auf dieser Welt ist rein, in allem vermischt sich das Gute mit dem Schlechten, erscheint ein jedes als solches je nach der Perspektive des Betrachters. Daher soll man sich einstellen auf das, was man bekommt: "Es gibt nichts, das nur schlecht oder nur gut ist. Mehr als die eigene
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schöne Frau wünscht man sich die hässliche eines andern; denn der Mensch begehrt stets das, was er nicht besitzt, und achtet es gering, sobald er darüber verfügt. Daraus folgt: Alles auf der Welt hat seine Zeit, das Hässliche wie das Schöne. Was aber alle Menschen an den Gepflogenheiten rühmen, ist das gemeinhin Übliche" (2197-2212). W i e wir bereits gesehen haben 19 , vertritt Sem Tob einen Relativismus, der sich als praktischer Realismus versteht: ein für das Leben nützliches Denken, hier als Hinweis darauf, dass wir nicht Sklaven unserer momentanen Wünsche sein sollen. Alles ist stets in Bewegung; und es ist nicht möglich, die Zeit anzuhalten oder sich an Objekte zu klammern, indem man versucht, ihre Bewegung zu stoppen — allein ihr Verschwinden können wir bremsen, etwa wenn wir Werke in ein Museum stellen. Doch immerhin sieht Sem Tob, geht es um die Tugenden, einen Konsens, welcher den Kriterien der Allgemeinheit entspricht. Hier erweist er sich als klassischer Denker, auch wenn er nicht von Tugenden, sondern von Gepflogenheiten spricht, das heißt: sich nach Art der Sophisten dem unterzuordnen, was die Gemeinschaft als gut erachtet. Doch wäre dies unvereinbar mit seinen Verweisen auf Gott und seinen Ausfuhrungen zu einigen Tugenden wie etwa der Klugheit, die sich über das Gute als gleichbleibender Wert definiert. Weit entfernt ist die romantische Idee vom Helden, der gegen alles rebelliert, oder die Vorstellung eines Nietzsche vom Ubermenschen, welcher der Welt seinen Willen aufzwingt oder sich ihrem Willen entzieht — dem Willen der Allgemeinheit, den er als vulgär und allein für die Masse oder die Sklavenseele angemessen erachtet. Für Sem Tob ist dagegen der Wille der Mehrheit ein Kriterium, das sehr wohl beachtet werden muss, besonders wenn es um die Moral und die Frage von Gut und Böse geht. Denn indem wir mit unseren Mitmenschen in Beziehung treten, wird die Qualität von vielen unserer Handlungen durch die Wirkung bestimmt, die sie auf andere haben. Und mit Blick auf diese Wirkung kann das sie provozierende Subjekt sich nicht der Verantwortung entziehen.
19. Vgl. Kapitel 3
KAPITEL 18
Nachdem Sem Tob die Vorzüge des Schweigens im Zusammenhang mit unerwünschter Gesellschaft erörtert hat, widmet er sich den Vorzügen des angemessenen Redens, die er der unmäßigen Redseligkeit entgegenstellt: "Viel reden ist schlecht; doch schlechter ist, stumm zu sein, denn ich meine, die Zunge ist nicht zum Schweigen gedacht. Den Vorteil des Schweigens können wir aber nicht leugnen, folglich müssen wir ihn auch nennen: Damit wir halb so viel reden, wie wir hören, besitzen wir eine Zunge und zwei Ohren. Wer viel reden will, ohne viel zu wissen, sollte lieber schweigen. Der Weise, der Schweigen loben und Reden tadeln wollte, begründete dies wie folgt: 'Würden wir Reden für Silber halten, dann wäre Schweigen reines Gold. Unter den Wohltaten des Schweigens ist der Friede eine von hundert; bei dem Arger, den das Reden bringt, ist noch der geringste die Kritik.'" (2213-2240). Sem Tob kritisiert nicht das vernünftige und maßvolle Reden, das unter den jeweiligen Umständen als angemessene Äußerung gelten kann, denn zu diesem Zweck wurde die Zunge geschaffen. (Wie Aristoteles und viele mittelalterliche Philosophen geht auch Sem Tob davon aus, dass die Welt zweckhaft geschaffen wurde; dass es nichts gibt, was durch Zufall oder versehentlich entstanden ist, sondern dass alles einem Zweck unterliegt, auch wenn wir diesen nicht immer erkennen.) Argerlich ist für ihn das Reden dessen, der dumm ist oder nichts Wesentliches zu sagen hat, der allzu verschwenderisch mit Worten umgeht, so dass diese im Wortschwall untergehen und somit an Aussagekraft verlieren. Dieselbe Klage fuhrt Joan Maragall in seinem Band Elogio de la palabra y otros artículos (Lob des Wortes und andere Essays) hinsichtlich des Schriftstellers, der nicht schreiben sollte, wenn er nichts Wichtiges zu sagen hat: "[...] sein Sinn für Moral, verkümmert durch das öffentliche Laster des Redens, erlaubt es ihm, das mit einer gewissen Wurde und Stolz zuzugeben. 'Ich bin ein Arbeiter der Intelligenz!', wird er mit heuchlerischer Bescheidenheit rufen" (Maragall 1970: 136) - was nichts anderes ist
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als Ausdruck von Eitelkeit. "Der integre Mensch redet, wenn er im Rahmen seiner sozialen Beziehungen reden muss oder wenn ein starker innerer Impuls ihm Worte diktiert, die er für seine Mitmenschen als wohltuend, fast würde ich sagen: als notwendig erachtet. [...] Niemals, selbst wenn er hungers sterben müsste, würde der integre Mensch auf den Gedanken kommen, eine Menschenmenge um sich zu versammeln, sich vor sie hinzustellen und munter in Worthülsen die Leere seiner Seele nach außen zu kehren, um dann, nachdem er die Seele seiner Mitmenschen mit dieser Leere vollgepumpt hat, zur Kasse zu bitten. Verdammt sei die Kunst, die Leere als Substanz zu verkaufen weiß!" (135). Für Maragall wie für viele andere Autoren "ist Reden etwas Heiliges; darin zeigt sich das Mysterium der Menschheit: sich zum Ausdruck bringen, den Mitmenschen unsere Seele öffnen [...]" (134). Das Problem ist nicht das Reden an sich, denn ein Weiser mag sich gezwungen sehen zu reden, etwa damit andere keine Lügen oder Torheiten verbreiten, damit größerer Schaden abgewendet wird oder sich über das Wort nicht partikulare Interessen gegenüber denen der Allgemeinheit durchsetzen. Sem Tob verweist auf die Gefahr der Überflutung durch sprachliche Reize, die extreme Vielzahl an Diskursen, welche die Welt bevölkern. Denn auch wenn alles, selbst die Natur, als Zeichen gelesen werden kann, geht es doch darum zu wissen, wie man sie liest, damit ihre Verknüpfungen uns zum eigentlichen Zusammenhang, dem Nexus, flihren, wo jedes Wort seinen Sinn erhält. So argumentiert Sem Tob im 14. Jahrhundert ähnlich wie im 20. Jahrhundert Jean Baudrillard, wenn er vom Informationslärm und dem Überschuss an wertloser Information spricht, die, statt Wissen zu enthüllen, dieses verhüllt und verschleiert. Die Menge an Informationen, über die wir verfügen, häufig repetitiv und unzuverlässig, macht es unmöglich, dass wir genau die finden, die wir brauchen. Angesichts der in der Welt herrschenden Tendenz zu unproduktivem, leerem Geschwätz sollten wir daher die Stille fördern. Und das bedeutet: empfangen und zuhören, lernen und unser Wissen erweitern, indem wir aus der Flut an Informationen das herausfiltern, was entscheidend ist oder uns berührt und unser Interesse weckt. Das bedeutet nun aber nicht, dass wir darauf verzichten müssen, zum Zeitvertreib und aus reinem Vergnügen frei und ungezwungen zu reden; dies aber im passenden Moment und nicht, indem wir die Ausnahme zur Regel machen — was ohnehin schwierig zu bewerkstelligen ist, denn der Narr oder Witzbold ist nur zeitweise witzig, und seine Masche wirkt, variiert er sie nicht, auf Dauer langweilig und öde. Es überrascht somit nicht, dass Sem Tob empfiehlt, halb so viel zu reden, wie man hört; denn das Schwierige ist zuzuhören, um vom anderen zu lernen. Der Narr ist in der Regel derjenige, der diese Bereitschaft am wenigsten entwickelt
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hat. Das Wenige, das er zu wissen glaubt, trägt er dem Weisen vor, damit dieser es erhärtet, denn häufig besitzt er nicht einmal die Fähigkeit, Fragen zu stellen. Das Gesagte könnte auch gelten für den, der schreibt und liest, denn wer unentwegt Texte verfasst, braucht Zeit zum Überlegen und Reflektieren; auch Zeit, sich der Lektüre zu widmen, die ihn bereichert, damit sein eigener Diskurs nicht verarmt und sich in Wiederholungen erschöpft. Unter den vielen positiven Auswirkungen des Schweigens betont Sem Tob den Frieden, den man erreicht, wenn man entdeckt, dass das, was man vor einem Publikum, das einem nicht zuhört, sagt, gar nicht so wichtig ist oder dass es sich lohnt, anderen zuzuhören, statt selber als Redner aufzutreten. Das geringste Übel des Redens ist, so Sem Tob, dass man einmal Gesagtes widerrufen und in Abrede stellen muss, was unsachgemäß, übertrieben oder schlicht falsch war. Man mag sich bisweilen ärgern, wenn jemand schüchtern oder vorsichtig ist und nicht redet oder wenn gerade derjenige schweigt, der intervenieren müsste, damit ein dringlicher Sachverhalt geklärt wird. Der Regelfall aber ist das Gegenteil: der Wortschwall, der in die Stille einbricht; das Gerede, das ein Zuhören nicht mehr gestattet. Angemessenes Reden produziert Inhalte, aus denen der, welcher zuzuhören weiß, Nutzen ziehen kann; und Sem Tob rekurriert noch einmal auf den bereits zuvor zitierten Weisen: "seine Ohren brachten nur ihm Gewinn; aber seine Zunge nutzte allein den anderen, nicht ihm selbst. [...] Daher zog es der Weise vor zu schweigen, weil sein Reden nur dem zugute kam, der ihn hörte; und er wollte lieber von einem andern lernen, indem er schwieg, als dass ein anderer von ihm lernte, indem er redete. Die Tiere erleben Mühsal und Entbehrungen, weil sie nicht sprechen können, und die Menschen erleben dasselbe, weil sie nicht schweigen können" (2245-2264). Auch wenn der Weise, indem er vor dem richtigen Publikum spricht, Ruhm erlangen kann und das Wissen, dem er vor anderen Ausdruck verleiht, gewissermaßen auf ihn zurückfällt, zeigt Sem Tob Bedenken, wenn es darum geht, dass der Weise zum Nutzen der anderen redet und gibt, selber aber daran gehindert wird, zu hören und zu empfangen. Denn so wie es zum Wesen des Narren gehört, nicht lernen zu wollen, gehört es zum Wesen des Weisen, dies gerade zu wollen. Und ein Weiser zeichnet sich sogar weniger aus durch das, was er lehrt oder sagt, sondern durch das, wonach er fragt und forscht. So gesehen, mag es verständlich erscheinen, wenn ein Hochschullehrer kein Interesse daran hat, seinem Publikum sein Wissen vorzutragen, und lieber auf seine Bücher verweist, in denen dieses Wissen in komprimierter Form enthalten ist. Auf diese Weise erspart er sich, sich ständig wiederholen zu müssen, und konzentriert seine Energie lieber auf die Gelegenheiten, die ihm zusätzliches Geld einbringen oder die ihn wirklich interessieren. Sem Tob aber scheint es
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mehr um die Gefahr zu gehen, dass man — zudem in einer Zeit, da Krieg und Verrat herrschten — etwas sagt, was falsch ausgelegt werden könnte, denn andere könnten über den Weisen Dinge erfahren, die sie besser nicht wissen sollten. Und während es für die Tiere ein Fortschritt wäre, wenn sie ihre Wünsche über eine Sprache wie die unsere artikulieren könnten, leiden die Menschen daran, dass sie zu viel reden und nicht schweigen können. Denn indem sie sich über die Sprache äußern und sich den anderen öffnen, zeigen sie sich in gewisser Weise nackt; und es kann durchaus geschehen, dass ein solch intimer Akt von den anderen nur belächelt oder aber für die eigenen obskuren Interessen genutzt wird. Nachfolgend analysiert Sem Tob, was geschieht, wenn man in seiner Rede etwas weglässt, was durchaus relevant hätte sein können: "Wer einen Gedanken weglässt, den er besser erwähnt hätte, wird später dazu Gelegenheit haben, so dass er durch sein Schweigen nichts verloren hat. Wer aber einen Gedanken ausspricht, den er besser verschwiegen hätte, hat eine Gelegenheit verpasst, die nicht wiederkommt. Was man heute nicht sagt, kann man morgen sagen; was man aber heute sagt, kann man nicht ungesagt machen. Was einmal gesagt ist, ist gesagt; was du nicht gesagt hast, kannst du später sagen: wenn nicht heute, dann morgen" ( 2 2 6 9 - 2 2 8 4 ) . Die seltenen Gelegenheiten, bei denen man die Möglichkeit, etwas zu sagen, verpassen kann - etwa wenn uns eine hochstehenden Persönlichkeit zuhört, zu der man nur schwer Zugang hat — sollte man gut vorbereiten, indem man sich zuvor genau überlegt, was man sagen will und wie man dies in wenigen Worten konzentriert zum Ausdruck bringt. D o c h in der Regel kann man das, was man zu sagen vergessen hat oder nicht sagen wollte, weil man fürchtete, etwas Unpassendes zu sagen, zu einem späteren Zeitpunkt und bei einer anderen Gelegenheit nachholen. Auch wenn, wie Sem Tob an anderer Stelle betont, das gesprochene Wort vom Winde verweht wird und kaum Spuren hinterlässt, kann es, bis dies geschieht, Schaden anrichten - besonders dann, wenn das Gesagte von anderen interpretiert und kommentiert wird. Zwar ist auch das Schweigen offen für Interpretation; doch sind hier die Deutungsmöglichkeiten so vage, dass selbst der größte Scharfsinn nicht reicht, um zu einer einigermaßen sicheren Auslegung zu gelangen. "Worte, denen wir nichts Böses nachsagen können, sind jene, die wir darauf verwenden, das Schweigen zu preisen" ( 2 2 8 5 - 2 2 8 8 ) . Sem Tob verwendet hier ein anschauliches Paradoxon: W i r sollten sprechen oder schreiben, um die Stille mit Worten zu verteidigen - gegenüber dem Lärm einer Sprache, die kaum etwas vermittelt und folglich ihre Funktion verloren hat. Und nachdem er beteuert hat, dass man das Schweigen preisen soll, auch wenn dies mit Worten geschieht, vollzieht er eine Wende und nimmt den gegensätzlichen Standpunkt ein, ganz im
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Sinne seines pluralen und dialektischen Denkens: "Doch damit wir begreifen, dass das Böse nicht ohne das Gute existiert, und weil wir das Gute zusammen mit dem Bösen behandeln wollen, soweit dies möglich ist, erscheint es mir angebracht, nachdem wir das Reden genügend getadelt haben, es von nun an zu preisen. Denn das Schweigen haben wir zur Genüge gelobt, jetzt werden wir seine Schwächen offenbaren und das Reden preisen. Da niemand sonst ihm Beifall zollt, ist es nur gerecht, dass es gepriesen wird; und da niemand es für nützlich hält, sollt es sich selbst als nützlich erweisen. Mit dem Reden sagten wir viel Gutes über das Schweigen; doch indem wir schweigen, können wir nichts Gutes über das Reden sagen. Daher ist es nur gerecht, wenn wir von seinen guten Seiten berichten, denn das Reden hat viel Gutes vollbracht, und das sollten wir nicht vergessen" (2289-2312). Bisweilen gibt es keine Entsprechung zwischen dem einen Extrem und dem anderen, so als wären sie nicht jeweils das Spiegelbild des anderen und funktionierten jedes auf seine Weise. "Am Anfang", so heißt es am Beginn des Johannes-Evangeliums, "war das Wort". Daher ruht das Wort in sich selbst, vermag sich selbst zu rechfertigen und zu begründen, im Gegensatz zum Schweigen, welches das Wort verneint — es sei denn, es handelt sich um ein "sprechendes" Schweigen, das nicht der Worte bedarf. "Jedermann sollte erkennen, dass es auf der Welt nichts gibt, was nur hässlich oder nur schön ist und wir nicht ausschließlich das Schweigen preisen sollten. Würden wir nicht reden, wären wir nicht mehr wert als die Tiere. Würden die Weisen schweigen, würde ihr Wissen verloren gehen; würden sie nicht reden, gäbe es keine Schüler. Das Reden würden wir vermissen, weil es Achtung gebietet und es nur wenige gibt, die es auf rechte Weise beherrschen. Wer aber das Reden beherrscht, dem ist niemand vergleichbar. Wer sagt, was angebracht ist, und alles andere umgeht, der wird als guter Redner überall Ehren empfangen und Ruhm und Wohlstand erlangen" (2313-2336). Während Sem Tob zunächst davon sprach, dass das Gute vom Bösen nicht zu trennen ist, geht es ihm nun darum, dass auch das Schöne und das Häßliche stets gemeinsam auftreten — entsprechend unserer Perspektive und unseren Erwartungen, entsprechend unseren Vorlieben und Vorstellungen oder entsprechend unseres Blickwinkels in einem spezifischen Augenblick. Dass er hier zwischen dem Gegensatzpaar Gut-Böse und Schön-Hässlich eine Parallele zieht, erscheint nicht zufällig, denn für ihn besteht zwischen beiden Gegensatzpaaren eine Einheit20: die Übereinstimmung
20. Dies zeigt sich auch im spanischen Sprachgebrauch, in dem das Wort "feo" (häßlich/abscheulich oder schändlich/niederträchtig) sich sowohl auf ein ästhetisches als auch auf ein ethisch-moralisches Urteil beziehen kann.
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und Harmonie zwischen dem Ethisch-Moralischen und der Ästhetik — aufgrund des platonischen Einflusses allgemein ein Topos des mittelalterlichen Denkens und auch ein Topos bei vielen Vertretern der Scholastik, die beide Eigenschaften als transzendental erachteten. W i e wir an der zeitgenössischen Kunst erkennen, kann jedes Objekt, kann auch jedwedes Horrorszenario als ästhetisches Objekt betrachtet werden, dem zumindest ein M i n i m u m an Schönheit anhaftet — sei es auch nur als Sublimierung von etwas Ungeheuerlichem oder Ekelerregendem, wie seit einem Jahrhundert an den Werken mancher Künstler, die der "Ästhetik des Hässlichen" verpflichtet sind, zu erkennen ist. Es gibt durchaus Menschen, die derlei Werke als schön oder zumindest als interessant empfinden, wobei wir "interessant" als eine abgemilderte Form des Schönen begreifen können. U n d so mögen manchem die Musik und die Videoclips einer Marilyn Manson ebenso gefallen wie die plastinierten Leichen eines Gunter von Hagen - so wie es Menschen gab, die sich in der römischen Arena an den spektakulären Foltermethoden und als Theater in Szene gesetzten Toden etwa der Christen ergötzten. Sem Tob möchte die schöne und nützliche Seite des Redens zeigen, indem er vom negativen und hässlichen Aspekt des Schweigens ausgeht, denn sonst wären wir nicht anders als das Tier. Somit vertritt er (wie manche moderne, von der Sprachphilosophie beeinflusste Anthropologen) die Ansicht, dass es die Sprache ist, die uns vom Affen unterscheidet. Die Sprache wäre somit das ureigenste Attribut des Menschen, das Aufblitzen des Geistes, so als gäbe es keinen Gedanken ohne Sprache, keine Intuition und kein Fühlen oder Empfinden durch die poetische Sprache dessen, was jenseits der Sprache liegt und durch sie nicht gesagt werden kann. Auch wenn es kaum zulässig ist, für Sem Tob aus einem einzigen Satz eine ganze Theorie ablesen zu wollen, kann man doch den Eindruck gewinnen, dass er die Fähigkeit des Sprechens als für die Verstandestätigkeit grundlegend erachtet — als würde Wissen und Erkenntnis nicht auch durch Handeln, durch die direkte und insbesondere die ästhetische Erfahrung gewonnen, denn die Kunst ist nicht reine Syntax, keine simple Alltagssprache, sondern lebt vor allem durch das Symbol und ihre Fähigkeit, das Faktische zu transzendieren. Die sprachlichen Begriffe, mit denen das Bewusstsein sich entäußert, bewirken nun aber zuweilen eine Einengung oder Beschränkung; sie sind unzureichend und vermögen nicht auszusagen, was der Mensch weiß. Viele Erfahrungen, in Sprache ausgedrückt, bleiben obskur und undurchsichtig; und das rudimentäre Getriebe der Syntax ebenso wie die reichhaltige Lexik gelangt an ihre Grenzen, wenn es darum geht, das zu erfassen oder zu übermitteln, was jemand weiß und lebt oder fühlt. D o c h ohne Zweifel ist die Sprache die grundlegende Quelle des Wissens und das am weitesten reichende Medium seiner Uber-
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mittlung. Daher betont Sem Tob, dass es ohne die Sprache keine Schüler gäbe und die Lehrer ihr Wissen mit in den Tod nehmen würden. Daher müssen Wege gefunden werden, die den Weisen zum Reden bringen, ihm Anreize bieten und ihn motivieren durch die zweckdienlichsten Mittel, über die eine Gesellschaft verfugt: finanzieller Lohn, Ansehen, Fürsorge, Wohlwollen. Tatsächlich zeigt sich Sem Tob überzeugt davon, dass dem, der das Wort auf angemessene Weise verwendet, Lohn, Ehre und Wohlstand zuteil werden. D e n n er weiß das Richtige zu sagen mit dem, was er sagt, und zu schweigen, u m sich vor übler Nachrede zu hüten, was nach Sem Tob eine unübertroffene G a b e ist. U n d wie Maragall sieht auch Sem Tob im Reden so etwas wie Magie, die uns das Fühlen und Wollen des anderen vermittelt - etwas, das allerdings nur wenigen gelingt. Alle Menschen verfügen (sofern sie nicht an einer spezifischen Krankheit leiden) über Intelligenz, doch nicht alle sind gleichermaßen genial oder mit herausragenden Talenten ausgestattet. Die Mehrheit nutzt ihre Intelligenz nur mangelhaft und vergeudet Talente oder Fähigkeiten, die bei entsprechender Förderung ihre Umwelt in Erstaunen und Bewunderung versetzt hätten. Dasselbe gilt für das Wort, das allen gegeben ist und das mit einem M i n i m u m an Ausbildung zu einem angemessenen Instrument der Kommunikation entwickelt werden kann. Sem T o b fuhrt Klage darüber, dass sich nur wenige der Sprache in angemessener Weise bedienen können, da sie beispielsweise über einen äußerst eingeschränkten Wortschatz verfugen, der zudem unerwünschten Missverständnissen und Zweideutigkeiten Vorschub leistet. Während man im Sport nicht gleichzeitig mehrere Disziplinen mit dem gleichen Erfolg betreiben kann, ist es im Geistesleben durchaus möglich, aus verschiedenen Disziplinen zu lernen. Z u berücksichtigen ist hier allein der Faktor Zeit, und es ist nur schwer vorstellbar, dass jemand — wie der bedeutende Dichter Miguel Hernández - arbeitet, indem er Ziegen hütet und gleichzeitig Gedichte schreibt. Sem Tob stellt an die Sprache hohe Ansprüche, auch u m zu betonen, dass ohne sie der Mensch zum Tier wird. Unter vielen Anthropologen ist es ein G e meinplatz zu behaupten, dass die artikulierte Sprache einer der eindeutigsten Unterschiede zwischen Mensch und Tier ist. Neuere Experimente haben gezeigt, dass Schimpansen, die entsprechend abgerichtet wurden, zwar unbeholfen und in ihren Mitteln eingeschränkt, aber dennoch in der Lage sind, eine konventionelle Sprache zu verwenden und zu artikulieren, die eben nicht auf der für sie leicht zu erkennenden Verbindung zwischen dem jeweiligen Ding und dem sie repräsentierenden Symbol basiert. Dass auf Lauten und Gesten basierende Sprachen kein ausschließlich menschliches Attribut ist, war seit jeher geläufig; doch hat man diese Sprachen vor allem auf biologisch-genetische Faktoren zurückge-
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fuhrt und nicht wie beim Menschen auf einen im Prinzip freien Willen der Artikulation. Beeinflusst wurde das Bestreben, die Bedeutung der Sprache als Manifestation der menschlichen Ratio besonders hervorzuheben, durch die Vorstellung, die sich seit Herder durchgesetzt hat und derzufolge jede Sprache eine spezifische Art und Weise ist, die Welt zu begreifen. Von hier aus zog man sodann den Schluss - und dem folgten nicht wenige Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts —, dass Denken und Sprechen (oder das Bilden syntaktischer Konstruktionen) eine Einheit bilden oder auch dass rationales Denken ohne Sprache nicht möglich ist — gerade so, als gäbe es keine Intuition und keine Zusammenhänge, die die Syntax überspringen, so, als würden die Dichter in ihrem experimentellen Gestus nicht beständig die Grenzen der Sprache überschreiten. Die Sprache oder die Symbole implizieren eine annähernde oder sogar genaue Vorstellung von etwas. Auch die Primaten besitzen eine, wenn auch minimale, Fähigkeit zur Abstraktion; doch scheinen sie nicht imstande zu sein, auf irgendeine Weise nach dem Metaphysischen zu streben, um selbiges zu verstehen und sich dadurch über das rein Körperliche hinaus mit dem Unendlichen, dem Absoluten zu verbinden. Das Streben nach dem Absoluten scheint somit den anderen Lebewesen, die nicht die Fähigkeiten des Menschen besitzen, nicht zu eigen zu sein.
KAPITEL 19
"Wenn einer vernünftig argumentiert, wird er geschätzt; und ohne dass er dafür bezahlt, ist man ihm stets zu Diensten. Nichts ist so billig und von so großem Nutzen wie eine passende Antwort, sei sie kurz oder lang; und kein Riese ist so stark wie die sanfte Zunge, die der Wut ein Bein brechen kann. Das richtige Wort erweicht, was hart ist, und stimmt das schroffe Gemüt friedlich und versöhnlich" (2337-2352). Wer gut argumentieren kann, sich klar ausdrückt und es versteht, anderen den Weg zu weisen und auf die Gefahren der Welt oder die Tücke der Mitmenschen hinzudeuten, dem wird es an Anhängern nicht fehlen: Menschen, die begierig sind, an seinem Wissen teilzuhaben, das, verständlich ausgedrückt, von ihnen verstanden werden kann. Auf diese Weise vermittelt der Philosoph denen einen Sinn, die im Chaos ihrer Existenz nach einem solchen suchen, aber ihn nicht finden, auch wenn er dadurch Gewissheiten erschüttert, inhaltsleere Wahrheiten zunichte macht oder Dogmen und vorgefasste Meinungen außer Kraft setzt. Denn ein solches zerstörerisches Werk ist gleichzeitig konstruktiv, auch wenn dabei nur ein armseliges Boot herauskommt, das auf den Wogen des Skeptizismus oder Agnostizismus schwankt, oder Gebäude, die auf keinem soliden Fundament gebaut sind, die aber andere blenden und mit ihrer Bedeutsamkeit für sich einnehmen. Auf ihrer Sinnsuche - sei es über verstandesmäßige Erklärungen oder den Glauben - braucht die Gesellschaft das Wort der Priester, Dichter und Philosophen. Nicht alle Menschen, die den Dingen auf den Grund gehen wollen, sind in der Lage, ihre Gedanken und Erkenntnisse in eine verständliche Sprache zu kleiden; manchmal scheint es, als wollte die Sprache sie verraten. Wer es aber versteht, verbindlich und einfühlsam zu argumentieren, kann auch den, der ihm mit Wut entgegentritt, besiegen. Denn kaum etwas (ausgenommen vielleicht die nackte Gewalt) ist besser geeignet, den Zorn eines Menschen zu besänftigen als
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die Zuneigung, die ihm in einem bestimmten Moment mit den passenden Worten entgegengebracht wird - wobei vielleicht eher die Zuneigung und Zuwendung als die Sprache und das Wort den gewünschten Effekt hervorbringen. "Wenn dem übermäßigen Reden klare Grenzen gesetzt wären (so dass nur das gesagt werden könnte, was angebracht ist), gäbe es in der Welt nichts Besseres, und seine Vorteile wären immens. D a es sich aber falsch ausdrücken kann, ist sein Schaden größer als sein Gewinn. Denn es gibt tausend Mal mehr törichte Menschen als kluge Menschen, und sie wissen nichts von den Gefahren, in die sie geraten können. Daher wird durch das Reden das Schweigen gepriesen" (2353-2370). Was für viele andere Attribute des Menschen gilt, gilt auch fiir die Sprache: Je mehr Macht sie besitzt, umso mehr Positives aber auch Negatives kann sie bewirken, denn sie dient als Kommunikations- und Ausdrucksmittel, kann aber gleichzeitig auch verwirren und manipulieren. Sem Tob argumentiert aus einer Perspektive, die im Mittelalter weit verbreitet war. In jener Zeit hatte nur eine Minderheit Zugang zu Bildung, und die von ihm genannten törichten Menschen bildeten die Mehrheit: Zeugnis eines gewissermaßen elitären Bewusstseins (das allerdings heute keineswegs als überwunden gelten kann). Unter diesem Aspekt - angesichts des ungelenken und falschen Sprachgebrauchs vieler — preist er das Schweigen als das, was vom allgemein vorherrschenden barbarischen Sprachgebrauch nicht affiziert ist. Dann aber lesen wir Folgendes: "Dem Reden können wir so viele schöne Namen geben, wie wir mit hässlichen Namen das Schweigen betiteln können: Reden ist Klarheit, Schweigen dagegen Dunkelheit; Reden ist Freigebigkeit, und Schweigen ist Geiz; Reden ist Behändigkeit, Schweigen ist Trägheit; Reden ist Reichtum, und Schweigen ist Armut. Schweigen ist Torheit, Reden ist Gelehrsamkeit; und Schweigen ist Blindheit, Reden dagegen Weitsicht. Der Körper ist Schweigen, und Reden ist seine Seele; der Mensch ist Reden, und Schweigen ist sein Bett. Schweigen ist Schlafen, und Reden ist Erwachen; Schweigen ist Unterjochen, und Reden ist Erhöhen. Schweigen heißt später, und Reden heißt gleich; Reden ist das Schwert und Schweigen seine Scheide. Der Beutel ist das Schweigen, und das Gute, was drin steckt, ist das Reden, das zu nichts taugt, solange es darin eingeschlossen bleibt [...] Das Schweigen ist ein Niemand, der keinen Namen verdient; das Reden ist ein Jemand: um seinetwillen ist der Mensch, was er ist. Das Reden vergegenwärtigt das Schweigen und sich selbst; das Schweigen kennt weder anderes noch sich selbst. Das Reden weiß viel über das Schweigen zu sagen, das wenig gerüstet ist, ihm dies zu vergelten" (2377-2424). In der Tat bedeutet Reden Klarheit, wenn es erklärt und Wissen vermittelt, kann aber auch durch den Irrtum oder die Lüge verdunkeln; und es bedeutet
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Freigebigkeit, wenn es opportun ist, da es ein Geben und Teilen beinhaltet. Schweigen kann Geiz sein, etwa wenn jemand ein geheimes Wissen nicht mit anderen teilen will oder sich aus Feigheit zurückhält, wenn eine klare Aussage gefordert ist; andererseits kann Schweigen zur rechten Zeit und am rechten Ort auch eine Aussage beinhalten und Zustimmung signalisieren. Reden ist Handeln und erfordert daher den Einsatz von Energie, während Schweigen aus Trägheit resultieren kann, wenn beispielsweise jemand etwas aufschreiben oder erklären müsste, was sonst verloren ginge, es aber einfach nicht tut. Allerdings bedarf es auch der Energie, um das Wort zurückzuhalten, es zu zähmen und zu beherrschen, vielleicht sogar zum Schweigen zu bringen — wie ein wildes Pferd, das wir an der Leine zu führen lernen, damit es uns dahin trägt, wo wir wollen, und nicht dahin, wo es selber will. Das angemessene Reden bedeutet Reichtum, ein Mehr an Erkenntnis und Sein, ein Mehr an Verknüpfungen zwischen den Menschen wie zwischen diesen und dem Universum des Sinns, während Schweigen Mangel ist, Mangel an Erkenntnis wie an Verknüpfung. Bei Sem Tob ist das Schweigen als das Passive mit dem Körper, dem Materiellen, assoziiert, das Reden als das Aktive dagegen mit der Seele. Der Mensch ist Rede, insofern er sich in ihr zum Ausdruck bringt und durch sie seinem Bedürfnis, sich zu entäußern, entspricht — ein Bedürfnis, das sich auch über den Wunsch artikuliert, Spuren zu hinterlassen, sei es durch die Kunst oder durch die eigene Nachkommenschaft. Reden ist das Schwert, wie Sem Tob sagt, und Schweigen ist seine Scheide. Das heißt, Worte können als Waffe eingesetzt werden, nicht nur in Form der Beleidigung, sondern auch indem etwas ausgesprochen wird, was besser unausgesprochen geblieben wäre. Das Reden ist fiir Sem Tob Ausdruck dessen, was den Menschen zum Menschen macht; und die Sprache als Mittel der Erkenntnis ist für ihn eine Syntax und Logik der menschlichen Ratio. "So ist es bei allen Eigenschaften: Wenn du es recht bedenkst, findest du in jedem Menschen etwas zu loben und etwas zu tadeln. So wie seine Wurzel beschaffen ist, so wächst der Baum; wie und wer ein Mensch ist, erkennst du an seinen Taten. Genauso wie seine Stimmung ist, wird seine Miene sein; und so vernünftig wie er ist, werden seine Reden sein. Wie der Zufall, der ihn ereilt, wird der Herr sein, dem er dient; und wie der Herr ist, dem er dient, wird der Lohn sein, den er erhält" (2425-2440). Wer wir sind, erkennt man an unseren Taten, unserem Handeln - ein Prinzip, das an den bekannten biblischen Vers erinnert: "An ihren Taten sollt Ihr sie erkennen." Was wir sind, zeigt sich weniger in unseren Gedanken, Wünschen oder Gefühlen, die in unserem Innern verborgen sind, als in dem, was sie bewirken, wenn sie sich entäußern: in unserem Handeln, in dem wir unseren Willen und unseren Verstand bündeln und über das wir in der
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Welt aufgehen. Unser Handeln bewirkt, dass wir uns auf einer ethischen oder ästhetischen Ebene entäußern. Dies hängt jedoch von unserer Wurzel ab, die wie die Baumwurzel verborgen ist und von der niemand weiß, wie tief sie reicht und wie fest sie in einem tragfähigen Fundament verankert ist. Ohne starke und tiefe Wurzeln kann der Baum nicht in die Höhe wachsen, und schon beim kleinsten Windstoß würde er den Halt verlieren und umstürzen. Genauso ist es mit der Kunst und dem Leben: Wer nicht selber Gefühle tief empfunden hat, wird keinen tiefgreifenden Roman etwa über die Liebe schreiben können, auch wenn er die erforderliche Technik beherrscht. Techniken sind mechanische Hilfsmittel, die man zur Korrektur verwenden kann, die aber Gefühle oder Empfindungen nicht ersetzen — genauso wenig wie der Stock, der den Menschen beim Gehen unterstützt, an seine Stelle tritt. Schließlich sind nach Sem Tob auch die Umstände zu berücksichtigen; das heißt, wem wir innerhalb der Gesellschaft unterstellt sind und wer uns in unserem Umfeld bei einem Teil unserer Aktivitäten zur Seite steht. So sind es weniger die ökonomischen Strukturen oder genetische Faktoren, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, sondern der Charakter und die moralische Verfasstheit dessen, der uns leitet oder dem wir unterstehen. Hier, so scheint es, spricht Sem Tob aus eigener Erfahrung.
KAPITEL 20
"Es gibt nur zwei Tugenden, die ohne Makel sind; sie sind einander ebenbürtig und ohnegleichen: die eine ist die Weisheit, die andere ist das gute Handeln; und eine der beiden zu besitzen, bereitet wahre Freude. Alles, was er tut, bereut der Mensch; was ihm heute gefällt, wird ihm morgen missfallen. Wahre Freude ist die Freude an der Weisheit; Handeln ohne Reue ist das gute Handeln. Je mehr man lernt, umso größer ist die Freude; und nie wird man bereuen, gut gehandelt zu haben" (24412460). Sem Tob vertritt zwar einen Relativismus, doch ist dieser nicht radikal, da er mit der Weisheit und dem guten Handeln jenseits aller Relativität zwei allgemein gültige Werte annimmt. (Ahnlich ist es mit der Frage nach der Existenz des Bösen, worauf André Glucksmann verweist; denn man mag alles oder fast alles in Zweifel ziehen, doch beim Anblick eines gefolterten Kindes wird angesichts der Evidenz des Bösen jeder Zweifel hinfällig.) Weisheit oder Wissen ist immer wertvoll und bereitet Freude - allerdings gelegentlich auch Schmerz. Der Schlüssel zu unserer Existenz liegt nicht in unserem Wissen, da dieses immer unvollständig ist und dem Irrtum unterliegt, sondern darin, die Existenz selbst intensiv zu leben, und dies geschieht über unser Handeln. Mit guten Taten bestätigen wir uns und unserer Umwelt das Bild, das wir uns von uns selbst geschaffen haben. Was wir Gutes getan haben, ruft keine Reue hervor, auch wenn wir bisweilen wünschen, dasselbe nicht getan und unsere Energie auf etwas anderes verwendet zu haben, das vielleicht angemessener oder besser gewesen wäre. Unser Handeln ist stets von Ungewissheit begleitet; allein durch den Reifungsprozess gewinnen wir eine gewisse Sicherheit, mit der wir lernen, die Prädispositionen wie die Konsequenzen unseres Handelns richtig einzuschätzen. "Wer besonnen ist, wird nicht auf die Reichtümer setzen, die er besitzt; er wird sich auf sie nicht verlassen. Denn Reichtümer kann man verlieren, ohne dass man schuld ist; und Weisheit schützt nicht vor dem Los, arm zu sein. Aber das Gute, das man mit dem Reichtum vollbringt, bleibt einem erhalten und wird
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für immer gehütet. Möge man daher nie auf einen anderen Besitz vertrauen, so reichhaltig dieser auch sein mag; denn die Dinge in der Welt sind unbeständig und häufig Widersprüchen unterworfen" (2461-2480). Von neuem meditiert Sem Tob über die Unbeständigkeit der Objekte, die wir besitzen. Auf die äußeren Dinge können wir nicht vertrauen, denn der weiseste Mensch kann nach einer Katastrophe oder durch eine Wendung des Schicksals verarmen. Erhalten bleibt hingegen die tugendhafte Tat: das Gute, das in uns wohnt und mit dem wir anderen wie auch uns selbst Gutes tun. Entscheidend ist das Sein, nicht das Haben; doch das Sein bereichert und manifestiert sich im Handeln, indem es auf eine Welt einwirkt, die oft mehr einem Chaos als einer geordneten Welt gleicht. Die Sonne, die unberührbar und unerreichbar erscheint, deren Kraft: uns wärmt und durch die wir sehen können, mag durch eine kleine Wolke verdunkelt werden; genauso "kann ein und dieselbe Zahl, die an einer bestimmten Position den Wert vier hat, an einer anderen Position vierzig oder ein Viertel bedeuten. Dem Menschen ergeht es ebenso, mal steigt er und mal fällt er: wie sich die Kugel dreht; und derselbe, der in seinem Abstieg erniedrigt wird, dem wird bei seinem Aufstieg Ehre erwiesen werden. Daher soll der kluge Mensch allzeit auf die Wechselfälle des Lebens gefasst sein. Wer derart gewappnet ist, wird den Aufruf zum Kampf nicht furchten; einer, der sich gewappnet hat, ist mehr wert als viele, die bewaffnet sind. Wer klug ist, soll nicht lachen, wenn er einen anderen trifft, und sich an seinem Leid ergötzen; denn niemand kann sicher sein, dass ihm nicht dasselbe passiert. Daher freue er sich nicht über das Unglück, das einem anderen geschieht, und glaube nicht, dass es Freude ohne Leid gibt, so wie es den Tag nicht ohne die Nacht geben kann" (2501-2532). Der Relativismus des Sem Tob ist keine Position, die der Willkür des Individuums entspringt, sondern gehorcht der natürlichen Beschaffenheit der Welt, die sich wie das Rad der Fortuna ewig dreht. So wie der Wert einer Zahl davon abhängt, an welcher Position sie steht, so hängen auch die Handlungsmöglichkeiten des Menschen davon ab, an welchem Ort er sich befindet; das heißt: unter welchen Umständen er lebt. Doch im Gegensatz zur Zahl, die unveränderlich ist, können die Umstände die Menschen verändern und zu etwas werden lassen, was sie nicht waren: gebrochen durch ein unerbittliches Schicksal oder den weltlichen Vergnügungen verfallen. Nicht immer ist das Außere in seiner Wirkung auf das Innere entscheidend; doch seine Kraft ist groß, und es ist schwer, sich seinem Einfiuss zu entziehen. Wer auf die Wechselfälle des Lebens gefasst ist, kann möglicherweise das Schlimmste verhindern oder aber das, was ihm geschieht, mit stoischer Gelassenheit hinnehmen, ohne dass das Ende seiner Wünsche und Hoffnungen für ihn zugleich das Ende der Welt bedeutet. Freude und Schmerz gehen immer Hand in Hand; daher ist — wie etwa Ernst Jünger in Der
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Waldgang nahelegt - ein erfülltes Leben nur dann möglich, wenn wir den Schmerz annehmen und auf ihn vorbereitet sind, um so nicht nur die Freude, wenn sie sich einstellt, intensiver zu genießen, sondern auch das Grauen der menschlichen Existenz, in der wir stets vom Absturz bedroht sind, zu überwinden. "Nur auf die Gnade Gottes können wir mit Sicherheit vertrauen; wo gibt es auf der Welt etwas, das nicht trügerisch war? Was Gott gefällt, soll uns nicht verdrießen. Gut ist, was Er tut, auch wenn wir es nicht verstehen" (2533-2540). Ist die Welt dialektisch und instabil, entzieht sich uns die Totalität; und wir können allein auf Gott als das einzig Beständige vertrauen: absolutes Fundament von allem, was ist und aufhört zu sein, Gott als absolutes Sein oder Totalität. Wer auf die Menschen vertraut, wird, enttäuscht und entmutigt, am Ende verzweifeln, denn die Welt ist nichts, worauf man vertrauen kann. Hier erinnert Sem Tob an den Platonismus, der das Spirituelle sucht und nach der Einheit mit dem göttlichen Sein strebt, weit ab von den trügerischen Reflexen der in permanenter Bewegung befindlichen Welt. Er ermutigt die Menschen, sich in ihr Schicksal zu fugen, wenn es unabänderlich erscheint. Doch er tut dies unter der Annahme, dass die Vorsehung über das, was geschieht, wacht und jeder daraus einen spirituellen Nutzen ziehen kann, auch wenn die Welt ein absurd anmutendes Chaos zu sein scheint. Doch fragt man sich, ob diese Logik funktioniert, ob es gerecht ist, dass häufig gerade diejenigen, die ohne Schuld sind, etwa die Kinder, die schlimmsten Grausamkeiten erleiden. Eine Lösung gibt es nicht, meint Sem Tob wie so viele Theologen und Philosophen des Mittelalters, wenn wir unsere begrenzte Vernunft und unser gleichermaßen defizitäres Sprachsystem bemühen, die außerstande sind, das Mysterium zu erfassen und zu beschreiben. Gott handelt gut, er ist gut. Aber wir verstehen ihn nicht, mögen sogar angesichts des Unrechts in der Welt auf das Gegenteil schließen. Doch die Welt erklärt sich nicht durch sich selbst, sondern durch ihren Ursprung, der ihr Ausgang und ihr Fundament ist. Gott, so Sem Tob weiter, gab dem Menschen von dem, was er am dringlichsten benötigt, im Uberfluss: Luft und Wasser. So soll sich der Mensch im Leben auch an das Wesentliche halten, nicht an die entbehrlichen Dinge. Und er nennt als Beispiel das Eisen, von dem Gott den Menschen mehr gab als Gold: Eisen, um mit einem Pflug die Felder zu bestellen und zur eigenen Sicherheit die Häuser zu verriegeln. Verzichtet der Mensch darauf, nach dem zu streben, was entbehrlich ist und überdies nur in geringen Mengen existiert, dann hält er sich fern vom Schlachtfeld, auf dem der Ehrgeiz herrscht und einer des anderen Feind ist. Die Welt entbehrt somit nicht gänzlich der Logik, gibt es doch hier eine gewisse Folgerichtigkeit, die dem Menschen als Orientierung dienen kann.
KAPITEL 21
"Wir reden schlecht über die Welt; dabei gibt es auf der Welt als einzig Schlechtes nur uns selbst, keine phantastischen Monster noch sonst irgendwas. Die Welt hat keine Augen und trachtet nicht danach, dem einen Verdruss und dem anderen Freude zu bereiten. Jeder beurteilt sie gemäß seiner eigenen Situation; sie aber ist weder des einen Freund noch des anderen Feind. Weder freut sie sich, noch ärgert sie sich. Sie empfindet weder Zuneigung noch Abneigung, hat keine moralische Sinnesart, antwortet und ruft nicht. Sie bleibt immer dieselbe, wenn man sie schmäht genauso wie wenn man ihr Beifall spendet. Der, dem es gut geht, sagt Gutes über sie und sieht sie als Freund; wer voller Sorgen ist, beschimpft sie und sieht sie als Feind. Die Weisen sehen in ihr keine Veränderungen; die gibt es allein in denen, die sie als solche erfahren. Veränderungen bewirkt nicht die Himmelssphäre; denn sie bewegt sich nicht, weil Liebe und Sorge ihr fremd sind" (2561-2592). Das Böse liegt nicht in den Dingen selbst, sondern in dem, wie sie auf uns einwirken. So wird das Messer, das zum Brotschneiden gut ist, zu etwas Bösem, wenn es gegen einen Menschen gerichtet wird. Die Welt in ihrem globalen Zusammenhang, so Sem Tob, ist nicht schlecht; nicht die Natur ist schlecht, sondern wir selbst. Entsprechend der christlichen Tradition seit Augustinus ist das wahrhaft Böse moralischer Natur; und es liegt im Menschen, von dem in der Tat unendlich viel Unheil ausgeht. "Wir sind allzeit gefangen unter dem Himmel; er bringt uns die Nacht und den Tag, und mehr wissen wir nicht. Dieser weiten Erde gaben wir den Namen 'Welt'; niemand weiß, ob das Wahrheit oder Lüge ist, und kein Weiser hat je den wirklichen Namen gefunden" (2593-2602). In platonischer Perspektive sieht Sem Tob die Welt, wie sie in ihrem erbärmlichen irdischen Dasein daliegt und hinauf sieht zum Himmel, zu den Ideen, zum Geist, der sie regiert. Der Mensch weiß wenig über sie: ein Universum, das nur Schein und voller Widersprüche ist und von dem wir nur einige
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wenige Phänomene benennen können, ohne dass sich uns eine allumfassende Logik erschließt. Die Grenzen der menschlichen Erkenntnis erlauben es nicht, dass wir das Andere erfahren. Denn wir formen unser Wissen entsprechend den uns geläufigen unzulänglichen Kategorien, gefiltert durch unsere Gefühle und Instinkte, unsere Phantasie und unseren Willen, unsere mehr oder minder diffuse Erinnerung und die Logik unserer mehr oder minder rationalen Denksysteme. Aus demselben Grund, aus dem wir auf einige Intuitionen vertrauen, misstrauen wir der Vernunft, die als reine Vernunft zu begreifen unmöglich ist. So wird Sem Tob auch hier zum Skeptiker, denn wir sind außerstande, die Welt zu benennen, sie begrifflich zu fassen und zu bestimmen - womit er ähnliche Positionen vertritt wie Ludwig Wittgenstein, wenn dieser in seinem Tractatus logico-philosophicus schreibt: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."21 So ist es konsequent, wenn Sem Tob sein multisystemisches Denken in seinen Versen über Aphorismen oder Sentenzen entwickelt, die sich als Einzelelemente einer eindimensionalen Systematisierung entziehen. Denn die Welt ist weit mehr als der Inhalt einzelner Systeme und kann von uns allein in Einzelelementen erfasst werden: Blitze der Erkenntnis im Dunkel des Chaos, das uns umgibt. Wir können, so fährt Sem Tob fort, zwar die Bewegung der Himmelskörper berechnen; doch ein Wissen um Zahlen ist ein quantitatives Wissen, das nur wenig erklärt und das Wesentliche außer Acht lässt: die Qualität, die über die mechanischen Operationen der Berechnung hinausgeht — dasselbe, das wir jenseits der Syntax zwischen den Zeilen lesen, um nicht am Buchstaben, an der toten Materie, hängen zu bleiben und um uns dem Geist zu nähern, der sich hinter dem Wort versteckt. Über die Welt heißt es dann weiter: "Sie ist immer die eine Welt. Aber die in ihr leben, sind verschieden wie die zwei Seiten einer Medaille: Was dem einen nützt, schadet dem anderen; und wo der eine für sich einen Vorteil sieht, fühlt sich der andere benachteiligt" (2613-2620). Die Welt in ihrer Totalität bleibt einheitlich, dagegen sind die Lebewesen verschieden; und was für den einen gut ist, bringt dem anderen Unheil - womit wir auch hier wieder dem für Sem Tob charakteristischen Relativismus begegnen. Man könnte hier auch auf die Idee des Kampfes der Elemente untereinander schließen: den Konkurrenzkampf in einer von Krisen erschütterten und in sich gespaltenen Welt oder Darwins Anwendung seiner Ideen vom Überlebenskampf der Arten auf die Evolution der Menschheit. Liebe oder Solidarität wären, da beides eint und nicht trennt, unter diesem Postulat nicht dieser Welt, sondern allein der Totalität zu eigen, die aber als Materie nicht intelligent ist. Die Natur an sich ist nicht vernunftbegabt; das wäre Gott, der sie schuf - so wie 21. Tractatus logico-philosophicus,
5.6 (Wittgenstein 1960: 64).
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nicht die Uhr und der Computer vernunftbegabt sind, sondern nur diejenigen, die sie bauen. Die Natur besitzt weder ein Bewusstsein, noch verfligt sie über eine Subjektivität, die sich allein im Menschen manifestiert; wie Sem Tob sagt: "Sie ist weder dumm, noch besitzt sie Intelligenz; man sagt Gutes und Schlechtes über sie, ohne dass sie sich dies verdient hätte. Der Tag, der ein guter Tag ist fiir den, dem eine Schuld zurückgezahlt wird, ist für den anderen, der diese bezahlen muss, ein schlechter Tag. Der Tag ist ein und derselbe; er veränderte sich nicht, als er dem einen das Gegenteil von dem gab, was er dem anderen bescherte" (2621-2632). Folgen wir dem Gedanken Sem Tobs, dann gebührt weder Lob noch Tadel dem, was eine Manifestation von etwas anderem ist, was sich allein dem Bewusstsein und dem Willen seines Schöpfers verdankt und folglich nicht frei ist. Gut oder schlecht ist die Welt oder ein Tag je nach dem Nutzen, den der davonträgt, welcher urteilt. So gesehen, wäre die Welt in gewisser Weise Objektivität, so wie das Ding an sich; wir können uns ihr nur nähern und sie intuitiv erfassen über unsere Subjektivität, der wir nur unter Mühen entkommen, wenn wir eine andere Perspektive einnehmen und das Andere als das Andere erkennen. "Die Welt befindet sich immer in ein und demselben Zustand, ebenso wie der Mensch in seinem Körper ein und derselbe ist. Sein Gemütszustand wechselt von Fröhlichkeit zu Traurigkeit, und den einen verletzt, was den anderen erfreut. Dem, der über sie klagt, wie dem, der mit ihr zufrieden ist, denen tut sie weder Böses noch Gutes an. Beides kommt von ihnen selbst" (2633-2644). So sehr der Körper sich äußerlich verändern und einzelne Elemente wie etwa Zellen ersetzen mag und wie sehr wir an verschiedenen Tagen unterschiedliche Gefühle entwickeln mögen, die Welt in ihrer Totalität bleibt doch gleich — wobei allerdings darauf verwiesen werden muss, dass Sem Tob nichts von Evolutionstheorien wissen konnte, es sei denn, er glaubte (was unwahrscheinlich ist) an das, was Anaximander sagte, der von einer gewissen Evolution der Lebewesen durch Anpassung an die Umwelt sprach, oder er hielt sich (was schon wahrscheinlicher ist) an den biblischen Bericht von der Schöpfung, nach dem die Welt bis zur Schaffung des Menschen sehr wohl Veränderungen erfuhr. Mag nun die Welt entsprechend den uns geläufigen Theorien, einschließlich der des Big Bang oder Urknall, eine Evolution durchlaufen, hinsichdich des Essentiellen wandelt sie sich nicht. Die Dinge folgen ihrem Rhythmus, unberührt von unseren Affekten; zumindest die Totalität scheint unseren Gefühlen gegenüber indifferent zu sein. In ihrer Totalität bliebe folglich die Welt, auch wenn sich die Teile verändern können, ein und dieselbe. Wer sich über die Welt beklagt, so sagt Sem Tob, für den erwächst das Übel aus ihm selbst, denn er müsste imstande sein, diesem die Stirn zu bieten - auch wenn es bei aller guten Absicht schwierig sein mag, sich manchem Leid, etwa einer Krebserkrankung oder dem Verlust eines geliebten Menschen, zu trotzen.
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"Nichts auf der Welt ist so gefährlich wie der Mensch, nichts so unheilbringend und verderblich. Die Tiere, sobald sie sich gesättigt haben, sind es zufrieden; sie suchen niemand mehr Schaden zuzufügen und bleiben friedlich. Wenn der Mensch hungrig ist, stiehlt und mordet er und begeht hundert Missetaten, selbst wenn er schon satt ist. Denn er fühlt sich erst dann gesättigt, wenn ein anderer Hunger hat, und erst dann reich, wenn ein anderer seinen Besitz verloren hat. Er freut sich über seinen Verdienst erst, wenn ein anderer ebenso viel verliert, und über seine Genesung erst, wenn ein anderer stirbt" (2469-2668). Dass der Mensch das gefährlichste Wesen auf Erden ist, wird heute niemand bezweifeln. Wenn der, der gut ist, sich korrumpiert, ist er schlechter als das Mittelmaß. Je intelligenter der ist, welcher sich korrumpiert, umso übler sind seine Eigenschaften, mit denen er zu schaden sucht (wie bereits Aristoteles erkannte). Und besser ist ein lasterhafter Mensch, der faul ist, als einer, der betriebsam ist. Heute, da wir über Atombomben verfugen und von Umweltkatastrophen heimgesucht werden, erweist sich der Mensch aus Ehrgeiz und Hochmut als das wildeste und wahnwitzigste Raubtier von allen, denn er begnügt sich nicht damit zu töten, um seinen Hunger zu stillen. Gewiss: es gibt auch Tiere, die mehr töten, als sie verschlingen können, etwa der Wolf inmitten einer Schafherde oder der Löwe, der scheinbar aus einer Laune heraus - jedoch, wie wir heute wissen, um diejenigen auszuschalten, die er fiir Rivalen hält - andere Raubtiere tötet. Doch in der Regel ist dies eher die Ausnahme. Der Mensch gibt sich dagegen nie zufrieden, da er nach dem Unendlichen strebt, dieses Streben aber entartet und auf das Materielle ausgerichtet ist. Sem Tob richtet sein Augenmerk hier auf den anthropologischen und moralischen Aspekt; doch könnte man hier auch an die Marx'sche Theorie vom Mehrwert denken, durch die sich erklärt, warum der Reichtum einiger weniger nicht nur einfach ererbt ist oder sich von selbst einstellt, sondern —
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Teil 2
durchaus legal - auf Diebstahl und Ausbeutung beruht. Der Weise freut sich dagegen über die Vermehrung seines Besitzes, wenn diese von einem allgemeinen Wachstum begleitet ist, denn wenn die Mehrheit im Wohlstand lebt, sind die Chancen, selber glücklich zu leben, größer und die Möglichkeiten, in Armut zu geraten, geringer. Nachdem Sem Tob betont hat, dass die Tiere sich um das, was sie besitzen, nicht sorgen und nicht furchten, beraubt zu werden — wobei er nicht zu wissen scheint, was wir heute wissen, dass dies, abhängig von der Spezies, doch geschieht - , verweist er darauf, dass der Mensch sehr wohl seinen Besitz bewachen muss und nicht einmal denen trauen kann, die in seinen Diensten stehen: "Wer vergisst, seine Schatulle zu verschließen, dem wird alles, was sie enthält, gestohlen" (26852688). Denn der unzähmbaren und selbstsüchtigen Natur des Menschen müssen Hindernisse in den Weg gelegt werden; dies ganz besonders in jener turbulenten und gewalttätigen Zeit, in der die durch Kriege und durch die Pest hervorgerufene generelle Unsicherheit die Gefährdung der einzelnen Bürger ebenso wie den moralischen Verfall unter den Menschen noch verstärkte. "Daher braucht der Mensch eine Rüstung, muss seinen Besitz unter Verschluss halten, um sich vor der Schlechtigkeit der Bösen zu schützen und vor ihrer ruchlosen Habgier sicher zu sein" (2693-2700). Die Schlechtigkeit mancher Menschen zwingt die anderen, sich mit der Waffe zu verteidigen, und fuhrt zu einer Militarisierung. Die Gewalt der anderen zwingt den guten Menschen, Vorsorge zu treffen, um auf die Gewalt mit Gewalt zu antworten — sofern andere Mittel wie die Erziehung zum Frieden gescheitert sind und der Gesellschaft die Werte abhanden gekommen sind, die ihren Zusammenhalt und ein friedliches Miteinander garantieren könnten. In Zeiten, in denen viele Hunger leiden und bedürftig sind, ist es nahezu unmöglich, den Respekt vor dem Eigentum einzufordern, da es wider die Natur ist, dass die einen hungern und die anderen im Überfluss leben. Am besten wäre es, so meint Sem Tob, wenn sich die Starken und die Schwachen, die Alten und die Jungen zusammentun, um ihre Handlungsmöglichkeiten optimal zu nutzen und in der Einheit Stärke zu beweisen. Dies, so Sem Tob weiter, sollte auch der König beherzigen, der die schlechten Menschen aus seiner Umgebung entfernen wird - und dabei schmeichelt Sem Tob in offensichtlicher, wenn auch unbeholfener Weise, seinem König Don Pedro, der später "der Grausame" genannt werden wird. Der König ist nach Sem Tob die Verkörperung aller Tugenden; die Geschichte wird später die Dinge zurechtrücken. Nicht umsonst handelt er hier als Höfling, denn er hofft auf Entlohnung. Doch in jener Zeit war es durchaus gang und gäbe, Pedro zu verteidigen, denn er verteidigte seinerseits das einfache Volk gegen den Adel, der sich gegen ihn erhob. Das heißt: es mochte angemessener sein, auf den
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stärkeren und durchsetzungsfähigeren Machtfaktor zu setzen, der als einziger in der Lage war, die Schwachen zu verteidigen. Denn der dem Volk am nächsten stehende Feudaladel missbrauchte auf häufig barbarische Weise seine Macht über diejenigen, die ihm unterstellt waren. So verkörperte der König, der fern und nicht direkt in die lokalen Konflikte involviert war, in gewisser Weise das Prinzip der Objektivität, indem er sich der Macht der lokalen Feudalherren entgegenstellte. Macht, die maßlos ausgeübt wird, ist etwas Hässliches, denn sie beraubt andere der eigenen Macht. Dagegen ist Macht, die maßvoll ausgeübt wird, etwas Schönes, da sie aus der Bescheidenheit und dem gesunden Menschenverstand gespeist wird und den H o c h m u t ebenso bricht wie den Wahn. Mit diesem Gedanken beschließt Sem Tob sein Buch, gerade so, als wollte er dem König, dem er seine Überlegungen widmet, einen direkten Rat erteilen. Die Kritik an der Macht und die Forderung nach Mäßigung im Umgang mit ihr ist eine Konstante in jedem philosophischen Diskurs, der einer moralischen Haltung verpflichtet ist und Ungerechtigkeit zu bekämpfen sucht. Eine Ausnahme sind jene Philosophen, die (wie Hobbes) das Chaos der Gewalt in der Anarchie von Bürgerkriegen erlebten und die nach einer starken Ordnungsmacht rufen, um schlimmere Übel zu vermeiden. Der gerechte und angemessene Einsatz von Macht, der Stärke nicht in unverhältnismäßige Gewaltanwendung münden lässt und eingesetzt wird, um das Gemeinwohl zu schützen, sollte, so Sem Tob, nüchtern und unvoreingenommen erfolgen. Er, der in einer Zeit lebte, die ebenso von Gewalt geprägt war wie die von Hobbes, erachtet als etwas außerordentlich Wichtiges den Wert des Gesetzes: "Zwei Dinge erhalten die Welt aufrecht: das eine ist das Gesetz, das gesetzliche Regelungen schafft; das andere ist der König, den Gott einsetzte, damit er darüber wacht, dass niemand gegen Sein Gesetz verstößt (und wenn doch, bestraft wird), und Sorge dafiir trägt, dass die Menschen fürchten, Böses zu tun, und die Starken die Schwachen nicht verschlingen" (2749-2760). Nachdem Sem Tob unterstrichen hat, dass Macht nicht missbraucht werden darf, fordert er die Ordnung des Gesetzes für eine Welt, die er als widersprüchlich und chaotisch bestimmt hat und auf die der Weise nicht vertrauen kann — eine Welt, in der dem König als Garant des Rechts die Aufgabe zukommt, dafür Sorge zu tragen, dass niemand und besonders nicht die lokalen Kräfte die ihnen zugestandene Macht missbrauchen. Die Funktion des Königs als Friedensstifter sah sich allerdings in der Wirklichkeit durch die vielen Bürgerkriege und dynastischen Auseinandersetzungen ebenso wie die von ihm begangenen Grausamkeiten beeinträchtigt. Diesen offensichtlichen Konflikt löst Sem Tob am Ende durch das Lob des Königs und die Bitte an Gott, dass er "dem König, der uns ernährt und der diese Herde hütet und beschützt, ein langes Leben schenken möge" (2761-2764) - als
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würde Gott sich mit dem arbiträren menschlichen Gesetz identifizieren und sich dafür interessieren, ob nun der eine oder der andere König ist. Der König, den Sem Tob preist und bittet, den Krieg abzuwenden, brach fast mehr Kriege vom Zaun als sein Vorgänger und war für die Herde mal Hüter, mal Wolf. Am Ende des Buches, das der Autor mit "Santob, der Jude" unterzeichnet, geht es nicht mehr um Widersprüche, sondern um ganz Konkretes und Eindeutiges, indem Sem Tob nur noch der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass die ihm vom Vater des Königs versprochene Zuwendung gewährt wird — wobei wir nicht wissen, ob das gegebene Versprechen eingelöst oder wie die Worte vom Winde verweht wurde.
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