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German Pages 336 Year 1997
HEINRICH AMADEUS WOLFF
Selbstbelastung und Verfahrenstrennung
Schriften zum Prozessrecht Band 129
Selbstbelastung und Verfahrenstrennung Das Verbot des Zwangs zur aktiven Mitwirkung am eigenen Strafverfahren und seine Ausstrahlungswirkung auf die gesetzlichen Mitwirkungspflichten des Verwaltungsrechts
Von
Heinrich Amadeus Wolfl
DUßcker & Humblot · Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolff, Heinrich Amadeus: Selbstbelastung und Verfahrenstrennung : das Verbot des Zwangs zur aktiven Mitwirkung am eigenen Strafverfahren und seine Ausstrahlungswirkung auf die gesetzlichen Mitwirkungspflichten des Verwaltungsrechts I von Heinrich Amadeus Wolff. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 129) Zugl.: Speyer, Hochsch. für Verwaltungswiss., Diss., 1996 ISBN 3-428-08714-3 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-08714-3
e
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1995/1996 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als Dissertation angenommen. Gesetze, Rechtsprechung und Literatur sind bis Anfang 1995 berücksichtigt. Spätere Änderungen wurden teilweise nachgetragen. Ohne die Unterstützung meines Doktorvaters, Herrn Professor Dr. Helmut Quaritsch, wäre die Untersuchung nicht fertiggestellt worden. Hierfür danke ich ihm herzlich. Dank schulde ich weiter Herrn Professor Dr. Hans Herbert von Amim für die Erstellung des Zweitgutachtens und meiner Familie, insbesondere natürlich meinen Eltern, für die immerwährende Hilfe. Gewidmet ist die Arbeit meiner Frau Ulrike Wolf!.
Heinrich Amadeus Wolf!
Inhaltsübersicht 1. Kapitel Das nemo tenetur Prinzip
21
§ 1 Geschichte des nemo tenetur Prinzips ..................................
21
I. Die religiösen Rechtsursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
11. Die Entwicklung in England .........................................
23
III. Die Entwicklung in Deutschland ....................................
25
§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung des nemo tenetur Prinzips
28
I. Strukturelle Grundlagen ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
11. Die in der Literatur vertretenen Begründungen ...................
30
111. Lösungsvorschlag ....... ................................... ....... .....
49
§ 3 Der Strafprozess .............................................................
68
I. Schweigerecht ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
11. Stellung bei sonstigen Beweismitteln ...............................
92
III. Folgen einer Verletzung der Rechte des Beschuldigten... .......
95
2. Kapitel
Die Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips
99
§ 4 Die Grundlagen der Ausstrahlungswirkung ...........................
99
I. Der Unterschied des nemo tenetur Prinzips zu seiner Ausstrahlungswirkung .....................................................
99
11. Die Begründung der Ausstrahlungswirkung in der Rechtsprechung und der Literatur .......................................... 105
III. Die Voraussetzungen der Ausstrahlungswirkung ................. 129
8
Inhaltsübersicht
IV. Die Bausteine des Schutzes der Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips ........................................... ...... 135 § 5 Die Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips auf die
besonderen Mitwirkungsptlichten im Verwaltungsverfahren ..... 145 I. Die Systematisierung der Mitwirkungspflichten nach der Art
der Pflicht ............................................................... 147
11. Die Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips auf die Mitwirkungspflichten ................................................. 185 § 6 (Ausblick) Die Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips
als Ausdruck eines allgemeinen rechtsstaatIichen Prinzips auf Verfahrenstrennung ........................................................ 233 I. Die speziellen Geheimnisse als Ausprägung eines einheitlichen
rechtsstaatlichen Prinzips auf Verfahrenstrennung .. ......... .... 233 11. Die fehlende Eignung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, das Trennungsgebot grundrechtliche zu begründen ............................................................... 244 III. Die Neuartigkeit der Fragestellung für die Grundrechtsdogmatik und den Gesetzesvorbehalt ............................... 257 IV. Die Verwirklichung des Trennungsgebotes durch die geltende Rechtsordnung ......................................................... 267 Zusammenfassung
273
Literaturverzeichnis
282
Sachwortverzeicbnis
325
Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel
Das nemo tenetur Prinzip
21
§ 1 Geschichte des nemo tenetur Prinzips ..................................
21
I. Die religiösen Rechtsursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
11. Die Entwicklung in England .........................................
23
III. Die Entwicklung in Deutschland ....................................
25
§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung des nemo tenetur Prinzips
28
I. Strukturelle Grundlagen ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 11. Die in der Literatur vertretenen Begründungen ................... 1. Die primär materiellrechtlichen Gewährleistungen ........... a) Allgemeine Handlungsfreiheit ............................... b) Gewissens- und Religionsfreiheit ........................... 2. Die primär verfahrensrechtlichen Gewährleistungen ..... .... a) Anspruch auf rechtliches Gehör ............................. b) Fair trail Grundsatz, insbes. die Waffengleichheit ....... c) Die Unschuldsvermutung .................................... 3. Die umfassenden Gewährleistungen ............................ a) Das Rechtsstaatsprinzip ...................................... b) Die Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht ....................................................... aa) Die Begründung der überwiegenden Ansicht ......... (a) Die Argumentation ................................... (b) Die Gründe für die Heranziehung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Eignung der Menschenwürde als Grundlage (aa) Konkretisierung des Würdebegriffs als Verfassungsauslegung ............................... (bb) Der Bezug der Aussagefreiheit zur Menschenwürde ....................................... bb) Kritik an der herrschenden Lehre ......................
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30 30 30 31 32 32 33 35 37 37 39 39 39 40 42 42 45 46
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Inhaltsverzeichnis
III. Lösungsvorschlag ...................................................... 1. Kriminalstrafe ...................................................... a) Äußerliche Betrachtung der Kriminalstrafe ............... aa) Die einzelnen Gesichtspunkte ........................... bb)Zwischenergebnis ......................................... b) Strafe als staatliches Sanktionsmittel ....................... aa) Die materiellen Anforderungen an die Strafe ......... bb) Die verfahrensrechtlichen Folgerungen ............... (a) Die Anerkennung der Selbständigkeit des Beschuldigten im Strafprozeß .......................... (b) Die verfahrensrechtliche Voraussetzung zur eigenen Unrechtseinsicht ............................ (c) Das Gegenübertreten des Staates und des einzelnen nach der Staatsvertragstheorie als Verdeutlichung ...................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Pragmatische Gesichtspunkte ....................... (e) Zwischenergebnis ..... ........................ .... .... ce) Der Schuldgrundsatz ..................................... (a) Rechtsgrundlage des Schuldgrundsatzes ....... ... (b) Verfahrensrechtliche Anforderungen aus dem Schuldgrundsatz ....................................... (c) Weitere Gesichtspunkte, die für den Schuldgrundsatz sprechen ........................ . . . . . . . . . . . 2. Die Ordnungswidrigkeiten ....................................... a) Die Gleichsetzung der Kriminalstrafe mit strafähnlichen Sanktionen im Grundgesetz .......................... b) Kriminalunrecht und Ordnungswidrigkeiten .............. c) Ordnungswidrigkeiten und der nemo tenetur Grundsatz 3. Disziplinarmaßnahmen ...........................................
49 49 49 49 51 52 52 55
§ 3 Der Strafprozess .............................................................
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I. Schweigerecht .......................................................... 1. Rechtsgrundlage ................................................... a) Die Hinweispflicht der §§ 115 III 1, 136 I 2, 243 IV 1 StPO ................................................. b) § 136a I StPO .................................................. 2. Inhalt ................................................................ a) Unterschiedlicher Wortlaut in §§ 115 III 1, 136 I 2 und 243 IV 1 StPO ................................................. aa) Beschuldigung und Anklage ............................. bb) Äußerung zur Beschuldigung!Anklage und zur Sache ........................................................
69 69
55 56 57 58 58 59 59 60
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Inhaltsverzeichnis
b) Persönliche Verhältnisse mit Ausnahme der Personaldaten ............................................................. aa) Der Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Lösungsvorschlag ......................................... (a) Einfachgesetzliche Auslegung ...................... (b) Verfassungskonforme Auslegung .................. (aa) Verfassungswidrigkeit der wörtlichen Auslegung ............................................. (bb) Verfassungskonforme Auslegungsmöglichkeit ................................................. (cc) Die Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung ............................................... c) Personaldaten .................................................. 3. Zeitpunkt ........................................................... a) Der Beschuldigtenstatus .................. ............ .... .... b) Problemfälle .................................................... aa) Freiraum der Verfahrensbehörde bei Herbeiführung des Beschuldigtenstatus .................................. bb) Erstreckung der Aussagefreiheit des Beschuldigten auch auf weitere selbständige Aussagepersonen ...... cc) Vergleich der Rechtsstellung des Beschuldigten mit der des Zeugen hinsichtlich des nemo tenetur Prinzips ..................................................... (a) Wahrheitspflicht ...................................... (b) Aussagefreiheit ........................................ (c) § 55 I Alt. 1 StPO und die Anforderungen des nemo tenetur Prinzips ................................ c) Gesamtvergleich ...... ...................... .......... ...... ... 4. Rechtsfolgen ........................................................ a) Schweigerecht .................................................. b) Keine Schweigepflicht ........................................ c) Beweisverbot ................................................... aa) Zur Frage der Täterschaft ............................... bb) Strafzumessung ............................................ (a) Die Ansicht der Rechtsprechung ................... (b) Begründungsvorschlag ............................... d) Lügerecht ....................................................... 11. Stellung bei sonstigen Beweismitteln ...... ........ ................. 1. Grundsatz der Freiheit vor aktiver Mitwirkung .............. 2. Ausnahmen ......................................................... 3. Geltung des nemo tenetur Grundsatzes für andere als Aussagepflichten ...................................................
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71 71 72 72 73 73 74 74 75 76 76 77 77 78 80 80 80 82 84 86 86 86 87 87 88 88 89 90 92 92 93 94
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Inhaltsveneichnis
4. Nemo tenetur und die Zulässigkeit der Duldungspflichten III. Folgen einer Verletzung der Rechte des Beschuldigten .. ........ 1. Verletzung der Aussagefreiheit .................................. a) Rechtlicher Eingriff ........................................... b) Faktischer Eingriff .. ...... ......... ..... .................. .... 2. Verletzung sonstiger Mitwirkungshandlungen ................
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2. Kapitel Die Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips
99
§ 4 Die Grundlagen der Ausstrahlungswirkung ...........................
I. Der Unterschied des nemo tenetur Prinzips zu seiner Ausstrahlungswirkung ................................................ 1. Die Beschränkung des Verbots von Zwang zur aktiven Mitwirkung auf die Strafverfahren Lw.S. ..................... 2. Die Herleitung der Ausstrahlungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Die Begründung der Ausstrahlungswirkung in der Rechtsprechung und der Literatur .......................................... 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ......... a) Der Gemeinschuldnerbeschluß des Bundesverfassungsgerichts.......................................................... b) Sonstige Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausstrahlungswirkung ......................... aa) Der Beschluß vom 22. Oktober 1980 ..... ............. bb)Das Urteil vom 3. November 1982 .................... cc) Das Urteil 15. Dezember 1983 ......................... dd) Der Beschluß vom 1. Juni 1989 ........................ ee) Der Beschluß vom 14. November 1989 ............... c) Sonstige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Ausstrahlungswirkung ............ ... •........ .... 2. Die Lösungsansätze der Literatur. .............................. a) Ausdrückliche Betonung der gleichen Rechtsgrundlage des nemo tenetur Prinzips und der Ausstrahlungswirkung ......................................................... b) Verweis auf verfassungsrechtliche Grundsätze als Grundlage der Ausstrahlungswirkung ...................... c) Ausdrückliche Trennung zwischen Ausstrahlungswirkung und dem nemo tenetur Prinzip ...................
99 99 100 101 105 105 105 114 114 116 117 118 119 120 125 125 127 128
Inhaltsverzeichnis
13
III. Die Voraussetzungen der Ausstrahlungswirkung ...... ........... 1. Faktische Gefahr der Aushöhlung .............................. 2. Vergleich mit dem Strafverfahren ................. ....... ....... 3. Das Erfordernis des Zwangs ..................................... IV. Die Bausteine des Schutzes der Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips ................................................. 1. Die Schutzkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die erste Schutzkategorie: Die Verweigerungsrechte .... b) Die zweite Schutzkategorie: Die Abschottung der Verfahren ....................................................... c) Die dritte Schutzkategorie: Die folgenlose Mitwirkungsverweigerung ........................................... d) Die vierte Schutzkategorie: Die Strafbefreiungsvorschriften ......................................................... 2. Die Wahl der Schutzmechanismen .............................. a) Die Freiheit des Gesetzgeber bei der" Abwägung" der widerstreitenden Interessen ........ ............ .......... .... b) Die Gefahr der strafverfahrensrechtlichen Verwertung von selbstbelastenden Äußerungen ......................... c) Sonstige Gesichtspunkte .............. .... ........ ........ .... 3. Fehlen einer notwendigen gesetzlichen Regelung .. ..........
129 129 130 130
§ 5 Die Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips auf die besonderen Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren ..... I. Die Systematisierung der Mitwirkungspflichten nach der Art der Pflicht ............................................................... 1. Die Auskunftspflicht .............................................. a) Tatbestandsvoraussetzungen der speziellen Auskunftspflichten ........................................................ aa) Auskunftsverlangen ....................................... bb)Reichweite des Rechts, Auskünfte zu verlangen ..... (a) Informationsbedürfnis der Verwaltung ........ .... (b) Zweck des verwaltungsrechtlichen Gesetzes als Grenze der Auskunftspflicht ........................ (c) Kein Einsatz der Auskunftspflichten zum Zwecke der Ermittlung von Ordnungswidrigkeiten ................................................... cc) Pflichtiger Personenkreis ...... ..... .......... ........ ... b) Rechtsfolge ............................ ............... .......... aa) Inhaltlicher Bezug der Antwort zum Auskunftsverlangen ....................................................... bb) Wahrheitspflicht .... ............ .............. ......... ....
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14
Inhaltsverzeichnis
ce) Form ........................................................ dd) Rechtzeitigkeit ............................................. c) Sanktion bei Verletzung der Auskunftspflicht ............ d) Die Besonderheiten der steuerlichen Auskunftspflicht .. 2. Vorlagepflichten .... ...... .................................. ....... 3. Pflicht zur Eigenüberwachung ................................... 4. Meldepflichten ..................... ... ........... ............. ..... a) Tatbestand und Rechtsfolge der Meldepflichten ... ....... b) Typologie ............. ... .......... .............. .......... ..... aa) Genehmigungsersetzende Anzeigen .................... bb) Änderung von genehmigungspflichtigen Sachverhalten bzw. von Anspruchsvoraussetzungen .......... ce) Laufende Überwachungsverfahren ..................... dd) Ständige Zugriffsmöglichkeit ........................... ee) Beendigung eines genehmigten oder anzeigepflichtigen Vorgangs ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Unglücksfalle oder Abhandenkommen ................ gg) Indienstnahme Dritter .................................... hh) Statistische Zwecke ....................................... 5. Erscheinungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kennzeichnungspflicht ............................................ 7. Ausweispflichten .................................................. 8. Pflichten zu Bestellung eines Betriebsbeauftragten ........ ... 9. Duldungspflichten ................................................. a) Duldung des Betretens von Grundstücken ................. aa) Tatbestand .................................................. bb) Rechtsfolge ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Mitwirkungspflicht des Pflichtigen .. ..... ...... ... (b) Zusätzliche Bereitstellung ................. ....... ... b) Entnahme von Proben ........................................ c) Erkennungsdienstliche Maßnahmen und ärztliche Untersuchungen ................................................... 11. Die Ausstrahlungswirkung des nemo tenetur Prinzips auf die Mitwirkungspflichten ................................................. 1. Pflichten, die denen des Strafverfahrens vergleichbar sind. a) Die Duldungspflichten ........................................ b) Die Ausweispflichten und Erscheinungspflichten ........ 2. Die speziellen Auskunftspflichten ......... ................. .... a) Das Auskunftsverweigerungsrecht ... .... ....... ............ aa) Begriff der Gefahr ........................................ bb) Begünstigter bei juristischen Personen ..... . . . . . . . . . . .
159 160 161 161 162 164 167 167 169 169 170 171 171 172 172 172 173 173 174 175 175 178 178 179 181 181 182 183 184 185 185 186 187 188 189 190 193
Inhaltsverzeichnis
ce) Sonstige Rechtsfragen im Zusammenhang des Auskunftsverweigerungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Berufung auf das Auskunftsverweigerungsrecht notwendig ....................................... (b) Hinweispflicht ......................................... (c) Rechtsfolge ............ ........................ ........ b) Die fehlenden Auskunftsverweigerungsrechte ............ aa) Die Analogie ............................................... (a) Die planwidrige Lücke ............. ......... ......... (b) Vergleichbare Interessenlage oder Rechtsähnlichkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verletzung des Art. 3 GG ............................... cc) Verwertungsverbot ....................................... (a) Auskünfte des Versicherungsnehmers gegenüber seiner Haftpflichtversicherung ...................... (b) Verwertungsverbot auch bei nachkonstitutionellen Gesetzen ........................................... (c) Keine Ergänzung des Verwertungsverbots durch ein Weitergabe- oder Offenbarungsverbot ........ (d) Alleiniges Weitergabe- oder Offenbarungsverbot ....................................................... (e) Reichweite des Verwertungsverbots . ........ ...... (f) Femwirkungsverbot .................................. (g) Zeitpunkt des Eingreifens des Verwertungsverbots ..................................................... (h) Die Regelung der Selbstbezichtigungsproblematik im allgemeinen Steuerrecht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (i) Auskunftspflichten ohne Vollstreckungsmöglichkeiten am Beispiel des Asylverfahrens ........ 3. Eigenüberwachung ................................................ a) Aufzeichnungs- und Vorlagepflicht als Einheit ..... ...... b) Analoge Anwendung des § 27 I 2 BlmSchG .............. c) Verwertungsverbot ................................. ...... ..... aa) Die Literatur ............................... ....... ......... bb) Lösungsvorschlag ......................................... ce) Die hinsichtlich der Ausstrahlungswirkung mit der Eigenüberwachung vergleichbaren Pflichten ..... (a) Kennzeichnungspflicht ............ ......... ..... ..... (b) Pflicht zur Bestellung eines Betriebsbeauftragten ....................................................... 4. Gemischte Konstellationen ....................................... a) Vorlagepflichten ...............................................
15 194 194 195 196 197 199 199 200 201 202 202 204 204 206 206 207 208 209 212 214 214 214 215 215 217 221 221 222 224 224
16
Inhaltsverzeichnis
aa) Keine unmittelbare oder analoge Anwendung der Auskunftsverweigerungsrechte ......................... 224 bb)Anerkennung eines Verwertungsverbots .............. 228 b) Meldepflichten ................................................. 230 § 6 Ausblick: Die Ausstrablungswirkung des nemo tenetur Prinzips als Ausdruck eines allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzips auf
Verfahrenstrennung ........................................................ 233 I. Die speziellen Geheimnisse als Ausprägung eines einheitlichen rechtsstaatlichen Prinzips auf Verfahrenstrennung ............... 233 11. Die fehlende Eignung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung, das Trennungsgebot grundrechtlich zu begründen .................................................................. 244 III. Die Neuartigkeit der Fragestellung für die Grundrechtsdogmatik und den Gesetzesvorbehalt ............................... 257 IV. Die Verwirklichung des Trennungsgebotes durch die geltende Rechtsordnung ......................................................... 267
Zusammenfassung
273
Literaturverzeichnis
282
Sachwortverzeichnis
325
Abkürzungsverzeichnis Neben den geläufigen Abkürzungen werden für die Gesetze folgende Abkürzungen verwendet: AbfG
Abfallgesetz
AEG
Allgemeines Eisenbahngesetz
AFG
Arbeitsförderungsgesetz
AKB
Allgemeine Kraftfahrtversicherungsbedingungen
AMG
Arzneimittelgesetz
AO
Abgabenordnung
AsylVfG
Asylverfahrensgesetz
AuslG
Ausländergesetz
AWG
Außenwirtschaftsgesetz
BAföG
Bundesausbildungsförderungsgesetz
BAZG
Backzeitgesetz
BauGB
Baugesetzbuch
BBG
Bundesbeamtengesetz
BDO
Bundesdisziplinarordnung
BDSG
Bundesdatenschutzgesetz
BeamtVG
Beamtenversorgungsgesetz
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BlmSchG
Bundes-Immissionsschutzgesetz
BJagdG
Bundesjagdgesetz
BLG
Bundesleistungsgesetz
BNatSchG
Bundesnaturschutzgesetz
BRAO
Bundesrechtsanwaltsordnung
BRRG
Beamtenrechtsrahmengesetz
2 Wolff
18
Abkürzungsverzeichnis
BSchVG
Binnenschiffahrtsgesetz
BSeuchenG
Bundes-Seuchengesetz
BSHG
Bundessozialhilfegesetz
BStatG
Bundesstatistikgesetz
BtMG
Betäubungsmittelgesetz
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
BVerfSchG
Bundesverfassungsschutzgesetz
BWaldG
Bundeswaldgesetz
BZRG
Bundeszentralregistergesetz
ChemG
Chemikaliengesetz
DenkmalschG Ns.
Niedersächsisches Denkmalschutzgesetz
EnWG
Energiewirtschaftsgesetz
FAG
Fernmeldeanlagengesetz
FahrpersG
Fahrpersonalgesetz
FGO
Finanzgerichtsordnung
FlHG
Fleischhygienegesetz
FlurbG
Flurbereinigungsgesetz
GaststättenG
Gaststättengesetz
GenTG
Gentechnikgesetz
GerSiG
Gerätesicherheitsgesetz
GetreideG
Getreidegesetz
GewO
Gewerbeordnung
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
GüKG
Güterkraftverkehrsgesetz
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
GWB
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
GlO
Gesetz zu Artikel 10 GG
HandwO
Handwerksordnung
HSOG
Hessisches Sicherheits- und Ordnungsgesetz
KulturgutG
Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes
KWG
Kreditwesengesetz
Abkürzungsverzeichnis
KWKG
Kriegswaffenkontrollgesetz
LadschlG
Ladenschlußgesetz
LMBG
Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz
MeldeG Bayer.
Bayerisches Meldegesetz
MRRG
Melderechtsrahmengesetz
OrdenG
Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen
OWiG
Ordnungswidrigkeitengesetz
PaßG
Paßgesetz
PBefG
Personenbeförderungsgesetz
PersonalauswG
Gesetz über Personalausweise
PflSchG
Pflanzenschutzgesetz
PflVG
Pflichtversicherungsgesetz
PStG
Personenstandsgesetz
19
RVO
Reichsversicherungsordnung
SGBAT
Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil
SGBX
Sozialgesetzbuch Zehntes Buch
SGG
Sozialgerichtsgesetz
SprengG
Sprengstoffgesetz
StGB
Strafgesetzbuch
StPO
Strafprozeßordnung
StrahlenSchVO
Strahlenschutzverordnung
StrbEG
Gesetz über die stratbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen
StVG
Straßenverkehrsgesetz
StVO
Straßenverkehrs-Ordnung
StVZO
Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung
TierSchG
Tierschutzgesetz
TierSG
Tierseuchengesetz
UrhG
Urheberrechtsgesetz
ViehFIG
Vieh- und Fleischgesetz
VersammlG
Versammlungsgesetz
20
Abkürzungsverzeichnis
VVG
Versicherungsvertragsgesetz
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes
VwVfGNW
Nordrhein-Westfälisches setz
VwVG
Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz des Bundes
VZG
Volkszählungsgesetz
WaffG
Waffengesetz
WaschmitteiG
Waschmiuelgesetz
WaStrG
Bundeswasserstraßengesetz
WDO
Wehrdisziplinarordnung
WGHes.
Hessisches Wassergesetz
WHG
Wasserhaushaltsgesetz
WoBindG
Wohnungsbindungsgesetz
WoGG
Wohngeldgesetz
WPflG
Wehrpflichtgesetz
ZDG
Zivildienstgesetz
ZPO
Zivilprozeßordnung
Verwaltungsverfahrensge-
1. Kapitel
Das nemo tenetur Prinzip § 1 Geschichte des nemo tenetur Prinzips Das Verbot des Zwangs zur aktiven Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare), 1 untersagt es, den Beschuldigten zu zwingen, aktiv bei einem gegen ihn betriebenen Strafverfahren oder Ordnungswidrigkeitenverfahren mitzuwirken. Über die Geschichte des Grundsatzes gibt es ausführliche Untersuchungen. 2 Die Darstellung kann sich daher auf das notwendige Minimum beschränken. Wichtig ist die Geschichte insoweit, als sie zeigt, daß das Prinzip sich insbesondere in seiner praktischen Anwendung durchsetzte, ohne eindeutig einem einheitlichen Grundgedanken zugewiesen werden zu können. I. Die religiösen Rechtsursprunge Die Geschichte des nemo tenetur Grundsatzes geht in das talmudische Recht zurück. 3 Er galt als striktes Beweisverwertungsverbot für belastende Aussagen des Angeklagten. 4 Die ratio dieses Verbots im Talmud ist bis heute nicht endgültig geklärt. Es werden verschiedene Begründungen angeboten, die teils prozessualer und teils theologischer Natur sind. s Wie der jüdische Rechtskreis
folgenden: nemo tenetur Prinzip oder nemo tenetur Grundsatz. V. Gerlach, 1 ff.; Schreieder, 8 ff.; Rogall, 67 ff. 3 Müller-Boysen, 91; Schramm, 45; Rogall, 67; Stümpjler, DAR 1973, 1 (1 f.). 4 Die dafür herangezogene Stelle im Talmud Synhedrin I Fol. 9a lautet (wiedergegeben nach Goldschmidt, Bd. 7, S. 30): "Ferner sagte R. Joseph: [Bekundet jemand,] jener habe mit ihm gewaltsam Päderastie getrieben, so wird er mit noch einem [Zeugen] vereinigt, jenen hinzurichten; wenn aber mit seiner Einwilligung, so ist er ein Frevler, und die Gesetzlehre sagt, daß man keinen Frevler als Zeugen zulasse. Raba sagte: Jeder steht sich nahe und macht sich nicht selbst zum Frevler." Der TextsteIle ist am Ende des letzten Satzes eine Anmerkung (von Goldschmidt) beigefügt, die da lautet: "Seine Aussage wird ideell geteilt, sie ist gegen sich selbst ungiltig, wol aber gegen den Beschuldigten, er gilt somit als Zeuge. " sAusführIich Rogall, 67 - 69. 1 Im
2
22
§ 1 Geschichte
verneinte auch das frühe kanonische Recht eine Pflicht zur Selbstbelastung. 6 Ursprünglich war der Angeklagte im akkusatorisch aufgebauten Strafverfahren nicht zur wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet. 7 Eine Änderung zu Lasten des nemo tenetur Prinzips trat durch den Einfluß von Thomas von Aquin ein, der aus der dem Richter untergeordneten Rechtsstellung des Beschuldigten die uneingeschränkte Wahrheitspflicht folgerte. 8 Die Wahrheitspflicht griff jedoch erst dann ein, wenn die Verfehlung wenigstens gerüchteweise bekannt war. 9 Infolge des gewandelten Verständnisses wurde im Laufe des 13. Jh. der Anklagegrundsatz durch das inquisitorische VerfahrensprlDzip verdrängt, das den 6 Siehe etwa die Äußerung Johannes Chrysostomos, die bei Thomas v. Aquin, summa theologica, quaestio LXIX, Art. 1, (Bd. 18, S. 246) wiedergegeben ist: "Non tibi dico, ut te prodas in publicum, neque apud alium accuses" (ich sage dir nicht, daß du dich öffentlich bloßstellen oder dich bei einem anderen anklagen sollst); oder die Äußerungen von Aurelius Augustinus gegen die Folter (de civitate Dei, XIX, 6, S. 670): "Quando quidem hi iudicant, qui conscientias eorum, de quibus iudicant, cernere nequeunt. Unde saepe coguntur tormentis innocentium testium ad alienam causam pertinentem quaerere ueritatem. Quid cum in sua causa quisque torquetur et, cum quaeritur utrum sit nocens, cruciatur et innocens luit pro incerto scelere certissimas poenas, non quia illud commisisse detegitur, sed quia non commisisse nescitur ? Ac per hoc ignorantia iudicis plerumque est calamitas innocentis. Et quod est intoierabilius magisque plangendum rigandumque, si fieri possit, fontibus lacrimarum, cum propterea iudex torqueat accusatum, ne occidat nesciens innocentem, fit per ignorantiae miseriam, ut et tortum et innocentem occidat, quem ne innocentern occideret torserat. (Wenn Menschen Urteile zu fällen haben, die das Gewissen derer, über die sie urteilen, gar nicht durchschauen können, werden sie gezwungen, oft durch Folterungen unschuldiger Zeugen, die mit der Sache nichts zu tun haben, nach der Wahrheit zu forschen. Und was ist dann, wenn jemand in eigener Sache gefoltert wird ? Er wird gefragt, ob er schuldig sei, er wird gequält, und er leidet als Unschuldiger, er leidet eine sichere Strafe für ein unsicheres Verbrechen, nicht, weil es klar ist, daß er es begangen hat, sondern weil man nicht weiß, daß er es nicht begangen hat. Und aus solcher Unsicherheit des Richters erwächst sehr oft Unheil einem Unschuldigen. Und was ist unerträglicher und beklagenswerter als die Quellen von Tränen, wenn ein Richter den Angeklagten foltert, um nicht aus Unwissenheit einen Unschuldigen zu töten, und dabei, weil er nicht weiß, wer schuldig ist, den Schuldlosen, den er foltern ließ, tötet, in der Absicht, keinen Unschuldigen zu töten? - [Übersetzung vom Verf.]); s. dazu Rogall, 70. 7 Wa/der, 32 f. 8 Nothhelfer, 4; Dinge/dey, JA 1984, 407 (407). Die entscheidenden Ausführungen fmden sich in seiner "summa theologica", 11. Teil des 11. Buches, Band 18, Abschnitt: Recht und Gerechtigkeit - Frage 57 - 79, unter der Frage 69 (Bd. 18, S. 246 ff.): Über die Sünden, die gegen die Gerechtigkeit vom Angeklagten begangen werden. Unter dem 1. Artikel wird die Frage behandelt, ob der Angeklagte, ohne Todsünde zu begehen, die Wahrheit, aufgrund derer er verurteilt werden würde, leugnen könne. Als Antwort gibt Thomas: "... Pertinet autem ad debitum justitiae quod aliquis oboediat suo superiori in his ad quae jus praelationis se extendit. Judex autem, ut supra dictum est, superior est respectu ejus qui judicatur. Et ideo eo secundum formam juris exigit. Et ideo si confiteri noluerit veritatem quam dicere tenetur, vel si eam mendaciter negaverit, mortaliter peccat. " ( ... Es gehört aber zur Pflicht der Gerechtigkeit, daß einer seinem Vorgesetzten gehorcht in dem, worauf sich dessen Amtsbefugnis erstreckt. Nun ist der Richter der Vorgesetzte dessen, der gerichtet wird. Also ist der Angeklagte von Rechts wegen gehalten, dem Richter die Wahrheit darzulegen, die dieser von ihm in rechtlicher Form verlangt. Wenn er also die Wahrheit, die er zu sagen hat, nicht bekennen will oder sie lügenhaft leugnet, sündigt er schwer.) 9 Rogall, 70 f.; s.a. ThOlMS v. Aquin, quaestio LXIX, S. 248.
ß. Die Entwicklung in England
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Offizialeid vorsah. Der Offizialeid verlangte von dem Beschuldigten einen Eid, ohne daß dieser wußte, welche Fragen er wahrheitsgemäß beantworten müßte und welcher Delikte er beschuldigt worden sei. 10 11. Die Entwicklung in England In einer Gestalt, die der heutigen vergleichbar ist, wurde der nemo tenetur Grundsatz in England entwickelt, und zwar im Widerstand gegen den Offizialeid. 11 Dort hatte sich zu Beginn des 13. Jh. der Common Law-Strafprozeß herausgebildet, der durch Elemente des Anklagegrundsatzes geprägt war. 12 Der Angeklagte war zwar sowohl im inquisitorischen Vorverfahren, als auch in der akkusatorisch aufgebauten Hauptverhandlung verpflichtet, auszusagen, er konnte jedoch nicht dazu gezwungen werden. Erzwungen werden konnte nur seine Unterwerfung unter das Verfahren mittels der Jury überhaupt. 13 Auf diese Situation traf die im 13. Jh. eingeführte kanonische Verfahrensgestaltung mit ihrem Offizialeid und dem Inquisitionsprinzip. Es kam zu längeren Auseinandersetzungen zwischen dem Common Law-System und dem Inquisitionsverfahren samt Offizialeid, die im 15. Jh. zu einem Nebeneinander zweier Strafverfahrensordnungen führten. 14 Dies war möglich, da die kirchlichen und die weltlichen Gerichte selbständige Zuständigkeitsbereiche hatten. 15 Auf der Grundlage dieser Rechtslage setzte sich insbesondere Anfang des 16. Jh. der Grundsatz des nemo tenetur insgesamt zuerst auf der Ebene der Verweigerung des Eides durch einzelne Angeklagte durch. 16 Man berief sich auf das Prinzip der Selbsterhaltung und auf das Verbot des Schwörens im Neuen Testament. 11 Später wurde das Prinzip aus der Magna Charta von 1215 hergeleitet, die in Art. 39 eine Verurteilung nach dem hergebrachten Recht des Landes garantierte. 18 In der Folgezeit wurde das Prinzip auf ein umfassendes Schweigerecht be-
Erd11llJ1lll, 126 f.; Nothhelfer, 4. Guradze, in: FS. f. Kar! Loewenstein, 1971, 151 (153). 12 Guradze, in: FS. f. Kar! Loewenstein, 1971, 151 (152 f.). 13 Rogall, 73. 14 Ausfiihr!ch Rogall, 73 - 76. 15 Nothhelfer, 5; s. zu den einzelnen Zuständigkeitsbereichen Rogall, 75 f. 16 Ausführlich Guradze, in: FS. f. Kar! Loewenstein, 1971, 150 (153 Cf.). 10
11
17
Matthäus 5, 33 Cf.
18 Nothhelfer,
5.
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§ 1 Geschichte
züglich solcher Fragen, die den Angeklagten betrafen, ausgedehnt. 19 Es galt nur innerhalb des Strafverfahrens und in seiner endgültigen Form Mitte des 17. Jh. auch nur für solche Fragen, bei deren Beantwortung sich der Angeklagte der Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung im konkreten Fall aussetzte. 20 Mitte des 19. Jh. wurde den Friedensrichtern gesetzlich eine Hinweispflicht auf das Schweigerecht auferlegt. 21 In den Vereinigten Staaten wurde das Prinzip 1791 als 5. Zusatzartikel zur Bundesverfassung übernommen. 22 Trotz gleicher Wurzeln unterscheidet sich die heutige Konkretisierung des nemo tenetur Grundsatzes im anglo-amerikanischen Strafprozeß nicht unerheblich von der entsprechenden Regelung im deutschen Strafverfahren. In jenem Rechtskreis muß sich der Beschuldigte, wenn er aussagen will, wie ein Zeuge behan-
Der Art. 39 lautet: "nullus liber homo capiatur uel imprisonetur aut disseisiatur aut utlagetur aut exuletur aut aliquo modo destruatur nec super eum ibimus nec super eum mittemus nisi per legale iudicium parium suorum uel per legern terre." (Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gehalten, enteignet, geächtet, verbannt oder auf irgendeine Art zugrundegerichtet werden, noch werden Wir gegen ihn vorgehen oder veranlassen, daß gegen ihn vorgegangen wird, es sei denn auf Grund eines gesetzlichen Urteilsspruchs durch seinesgleichen oder auf Grund des Landesrechts.) Die erste englische Übersetzung von 1534 lautete: "The .XXiX. Chapiter. No fre man shalbe laken or imprysoned or be dyssesyd of his freholde or lybertees/or free customes/or be outlawed/or exyled/or otherwyse dystrayned/nor we shall not passe vpon hymlnor condempne hymlbut by lawfull iudgement of his peers/or by the lawe of the land .... "; - alle Texte aus Walder (Hrsg.), Magna Carta Libertatum von 1215, S. 24, 37, 51). 19 V. Ger/ach, 12. 20 Rogall, 81. 21 V. Ger/ach, 13; Rogall, 81; Müller-Boysen, 91. 22 Ausführlich Erdmann, 132 ff.; Dörr, 32 ff.; Pau/sen, ZStW 77 (1965), 635 (639 ff.); Pelckmann, NJW 1966, 1801 f. Der Artikel lautet: "No person shall be held to answer for a capital, or otherwise infamous crime, unless on an presentment or indictment of a grand jury, except in cases arising in the land or naval forces, or in the militia, when in actual service in time of war or public danger; nor shall any person be subject for the same offense to be twice put in jeopardy of life or limb; nor shall be compelled in any criminal case to be a witness against himself, nor be deprived of life, liberty, or property, without due process of law; nor shall private property be taken for public use, without just compensation. " (Niemand darf wegen eines Kapital- oder sonstigen schimpflichen Verbrechens zur Verantwortung gezogen werden, es sei denn auf Grund einer von Geschworenen erhobenen Anklage, außer in Fällen, die bei den Land- oder Seestreitkräften oder bei der Miliz im aktiven Dienst in Zeiten des Krieges oder der öffentlichen Gefahr vorkommen. Niemand darf zweimal der Gefahr einer schweren Verurteilung wegen desselben Delikts ausgesetzt werden oder in einem Strafverfahren gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen. Niemandem darf Leben, Freiheit oder Eigentum ohne gebührendes Verfahren entzogen werden; noch darf Privateigentum für öffentliche Zwecke ohne angemessene Entschädigung genommen werden. - Die Übersetzung ist Currie, 112 f. entnommen).
m. Die Entwicklung in Deutschland
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deIn lassen, d.h. er hat demnach nur die Wahl zwischen der völligen Passivität und der Stellung eines Zeugen. 23
m. Die Entwicklung in Deutschland Innerhalb der deutschen Rechtsgeschichte fmdet sich keine geradlinige Entwicklung des Prinzips.24 Das germanische Recht war als Parteiverfahren gestaltet und kannte daher keine Aussagepflicht. 2S Das Schweigen wurde jedoch als Geständnis gewertet. Demnach mußte sich der Beschuldigte, wollte er dieser Konsequenz entgehen, sachlich auf die Klage einlassen und diese Wort für Wort verneinen. 26 Im späten Mittelalter wandelte sich der Strafprozeß mit der Zeit in einen Inquisitionsprozeß,27 der in seiner praktizierten Form gerade durch die Verwendung des Beschuldigten als Beweismittel gekennzeichnet war. 28 Eine Verurteilung konnte nur auf der Grundlage von zwei Zeugen oder eines Geständnisses erfolgen. 29 Diese formale Beweistheorie ist Kern des Inquisitionsverfahrens. 30 Da meist zwei Zeugen fehlten, kam dem Geständnis eine zentrale Rolle ZU. 31 ZU dessen Erlangung durfte die Folter eingesetzt werden. 32 Nach der damaligen Rechtsauffassung trat durch die Straftat beim Täter ein Verlust an seinem Persönlichkeitsrecht ein. 33 Aus der Pflicht des Staates, Verbrechen zu bestrafen, folgerte man das Recht, alle Beweismittel, einschließlich den Beschuldigten, zur Erreichung des Ziels zu nutzen. 34 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 versuchte, die Folter in ihren Voraussetzungen und ihrer Ausführung einzuschränken. 35 Der durch die Auf-
23 Meyer, IR 1966, 310 (310); s. zu der geplanten Abschwächung der Aussagefreiheit in England Kirsch, in: Zustand, 229 (238). 24 Ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung in Deutschland vor allem Plöger, 6 Cf.; aber auch: Höra, 42 Cf.; Helgerth, 150 Cf.; Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (140 Cf.). 2S Helgerth, 150; ausführlich: Brunner, 251 Cf.; Plöger, 55 Cf. 26 Eberhard Schmidt, Einführung, 37; Brunner, 255; Sellert, 63 Cf.; Henkel, 24; Ruetz, 4. 27 Ausführlich zur Entwicklung Sellert, 107 Cf. 28 Walder, 39; Höra, 44 Cf.; ausführlich Plöger, 67 Cf. 29 Rüping, Grundriß, 40. 30 Rehbach, 149. 31 Wessels, Ius 1966, 169 (170). 32 Siehe zur Folter ausführlich Helbing, 40 Cf.; Edward Peters, 21 Cf. 33 Schreieder, 11. 34 Nothhelfer, 6. 35 CCC Art. 45 Cf.; Helgerth, 151; Sellert, 210; Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), 29 (40 Cf.); Karl Peters, 63. Eine Aussagepflicht des Beschuldigten war ausdrücklich vorgesehen (Art. 45) - vgl. Plöger, 112 Cf.
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§ 1 Geschichte
klärung bedingte Wandel 36 vollzog sich zunächst nur an der Folter selbst, aber nicht an der AussagepflichtY Die Beseitigung der Folter, beginnend mit der Kabinettsorder Friedrichs des Großen vom 3.6. 1740,38 änderte nichts an dem Ziel der inquisitorischen Befragung, ein Geständnis des Beschuldigten zu erlangen. 39 Die Pflicht des Beschuldigten zur Wahrheit blieb bestehen. 4O An die Stelle der Folter traten die Lügenstrafen. 41 Unter dem Einfluß der Französischen Revolution und Entwicklung des liberalen Gedankengutes erhoben sich auch im deutschen Rechtskreis Stimmen gegen die Aussagepflicht. Zum einen richteten sie sich gegen die Mißstände des Inquisitionsverfahrens42 und beruhten auf Bemühungen, diese durch ein Anklageverfahren zu ersetzen, wobei dessen genaue Fassung ganz unterschiedlich gesehen wurde. 43 Man orientierte sich zunächst am französischen Prozeßrecht, das durch die Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit und durch das Anklageverfahren (trotz inquisitorischen Vorverfahrens) gekennzeichnet war. 44 An der grundSätzlichen Pflicht des Beschuldigten zur Wahrheit hatte sich jedoch auch insoweit nichts geändert; nur der Zwang zur Durchsetzung dieses Zieles wurde beseitigt. 4s In der ersten Hälfte des 19. Jh. kamen auf wissenschaftlicher Ebene rechtsvergleichende Untersuchungen des englischen Strafprozesses unterstützend hinzu. 46 Zum anderen begann man aufgrund des gewandelten Staatsverständnisses allmählich, am Recht des Staates auf wahrheitsgemäße Auskunft zu zweifeln. 41 Auf diesen beiden Gedanken beruhte der Aufbau der Staatsanwaltschaft, die Einführung des Akkusationsprinzips, die Anerkennung der Unschuldsvermutung und der freien Beweiswürdigung, sowie die Abschaffung der Lügenstrafen. 48 So entwickelte sich langsam eine Verhaltensfreiheit des Angeklagten, die zunächst in die süddeutschen Prozeßordnungen 36
13 ff.
Siehe zum Einfluß der Aufklärung auf das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht Fischi,
ptenninger, in: FS. f. Theodor Rittler, 1957, 355 (358 ff.). Einführung, 258 ff. 39 Sellert, 377; Dieter Hoffmann, 17; Stümpjler, DAR 1973, 1 (2); Henkel, 49. 40 Gerhard Bauer, 39 f.; Helgerth, 152; Müller-Boysen, 92; Wesseis, JuS 1966, 169 (170). 41 Helgerth, 152; ausführlich Plöger, 314 ff. 42 Siehe dazu statt vieler Eberhard Schmidt, Einführung, 321 ff.; s.a. Zoepl, 451 ff. 43 Ausführlich Rogall, 98, Reiß, 147. 44 Henkel, 54 ff.; Mittermaier, 122 ff. 4S Eberhard Schmidt, Einführung, 322. 46 Ausführlich Reiß, 151 ff. 41 Döhring, 324; Gerhard Bauer, 41; Rogall, 95; s. zu Preußen auch E. R. Huber, Bd. I, 107. 48 Dieter Hoffmann, 18; Höra, 50; ausfiihrlichjüngst Wohlers, 67 ff. 31
38 Dazu Eberhard Schmidt,
Iß. Die Entwicklung in Deutschland
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aufgenommen wurde49 und in der Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 mittelbar durch die Fixierung des Anklagegrundsatzes zum Ausdruck kam. so Das grundlegende preußische Gesetz vom 3. Januar 1849, mit dem das Strafgerichtsverfahren reformiert wurde ,51 sah in § 18 vor: "Zwangsmittel jeder Art, durch welche der Angeklagte zu irgend einer Erklärung genötigt werden soll, sind unzulässig." Der Beschuldigte war nach herrschender Auffassung zwar noch sittlich, aber nicht mehr rechtlich zur wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet. 52 Eine Hinweispflicht auf die rechtliche Aussagefreiheit bestand nicht. Der Entwurf der Reichsstrafprozeßordnung von 1874 enthielt keinen ausdrücklichen Hinweis auf ein Schweigerecht oder eine Aussagepflicht. 53 Erst in der ersten Lesung wurde der spätere § 123 aufgenommen: "Der Beschuldigte ist zu befragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle."54 Trotz der Abschaffung der Aussagepflicht war die Verhaltensfreiheit des Beschuldigten noch nicht als Schweigerecht konzipiert, da es für zulässig gehalten wurde, 49 Württemberg, StPO v. 22.6.1843 - Baden, StPO v. 6.3.1845 s. dazu Schreieder, 14; Rüping, Grundriß, 84 f. so Vgl. Abschnitt VI: Die Grundrechte des deutschen Volkes, Artikel X, § 179 Abs. 1: "In Strafsachen gilt der Anldageprozeß"; vgl. zur Paulskirchenverfassung und dem nemo tenetur Prinzip Reiß, 146. 51 GS (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten) 1849, 14 (17). 52 Vgl. Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (140); Dieter Hoffmann, 19 f. 53 Siehe hinsichtlich der Aussagefreiheit ausführlich zu den Entwürfen Böhrle, 41 Cf. 54 Der § 136 der Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1871 (RGBI S. 253 Cf.) lautete: Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche strafbare Handlung ihm zur Last gelegt wird. Der Beschuldigte ist zu befragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle. Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit zur Beseitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Thatsachen geben. Bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen. Der § 136 StPO in der heute geltenden Fassung lautet: (1) Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen kann. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf hingewiesen werden, daß er sich schriftlich äußern kann. (2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. (3) Bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.
28
§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
aus dem Schweigen nachteilige Schlüsse zu ziehen. 55 Erst das Urteil vom 26. Oktober 196556 nahm dem vollständigen Schweigen jede Indizfunktion. Beim sogenannten Teilschweigen bleibt jedoch auch die heutige Rechtsprechung noch bei der Annahme, daß dieses Beweiswert besitzt. 57 Eine Belehrungspflicht wurde 1964 in die StPO eingeführt, die durch die kürzlich erfolgte Rechtsprechungsänderung des BGH hinsichtlich der Rechtsfolgen der Verletzung der Hinweispflicht im Ermittlungsverfahren eine erneute Aufwertung erfahren hat. 58
§ 2 Die verfassungsrechtliche VerbürguDg
des nemo tenetur Prinzips I. Strukturelle Grundlagen
Der geschichtliche Abriß bestätigte den eingangs erwähnten Gedanken: Das nemo tenetur Prinzip hat sich in der Praxis durchgesetzt, jedoch ging diesem praktischen Erfolg keine übereinstimmende dogmatische oder theoretische Begründung voraus. Die einhellige praktische Anerkennung bei gleichzeitiger unterschiedlicher theoretischer Herleitung setzt sich bis in die heutige Diskussion fort. Einigkeit herrscht über die verfassungsrechtliche Verbürgung als solche,59 Uneinigkeit über die konkrete Zuordnung. Herangezogen werden neben primär materiellrechtlichen Garantien, wie Art. 4 I GG, Art. 2 I GG und Art. 2 11 2 GG, bzw. primär verfahrensrechtlichen Garantien, wie Art. 103 I GG, Art. 104 III 1 GG, dem fair trail Grundsatz, insbesondere als Gebot der Waffengleichheit und der Unschuldsvermutung, vor allem umfassende Gewährleistungen, die da sind das Rechtsstaatsprinzip, Art. 1 I GG und Art. 1 I LV.m. Art. 2 I GG als allgemeines Persönlichkeitsrecht (mitunter in der Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung). Schon der kurze Blick auf die Geschichte ließ erkennen, daß zur Erklärung der Freiheit vor aktiver Selbstbelastung sowohl verfahrensrechtliche Gedanken (v.a. Widerstand gegen
55
Dieter HojJmann, 19 f. u. 55; Liepmann, ZStW 44 (1924),647 (669).
56 BGHSt 20,281 ff. 57 Vgl. statt vieler Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, § 261, Rn. 17. 58 BGHSt 38, 214 ff. 59 Statt vieler: Hartmut Schneider, 3; Schmidt-Aßmann, in: MaunzlDürig, GG, Art.
103, Rn. 89. Den Grundsatz nemo tenetur nur einfachgesetzlich abgesichert hält Peters, ZStW 91 (1979), 121 (123).
I. Strukturelle Grundlagen
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den Inquisitionsprozeß) als auch materiellrechtliche Gründe (Prinzip der Selbsterhaltung, Verhältnis Individuum zum Staat) angeführt wurden. Die Heranziehung der richtigen Grundlage ist nicht nur von dogmatischem Interesse. Das Prinzip liegt heute in seinem Kern fest, die Randbereiche befmden sich dagegen noch im Fluß, und diese Entwicklung läßt sich maßgeblich von der richtigen Rechtsgrundlage aus lenken. Die Frage nach der konkreten Verfassungsnorm stellt nicht den einzigen Streitpunkt im Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Grundlagen dar. Uneinigkeit besteht auch darüber, ob das nemo tenetur Prinzip mit einer konkreten Verfassungsnorm zu erklären ist, oder ob es dazu der Kombination mehrerer Normen und Prinzipien bedarf/i) Die Kombination mehrerer Verfassungsnormen als Nachweis einer verfassungsrechtlichen Verbürgung ist, soweit es um die Herleitung eines selbständigen Rechtsinstitutes geht, keine ungewohnte Erscheinung. 61 Andererseits darf auf die Kombination mehrerer Normen erst dann zurückgegriffen werden, wenn das nemo tenetur Prinzip nicht einer einzigen Verfassungsnorm zugewiesen werden kann. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung muß daher zunächst bei den einzelnen Grundgesetzbestimmungen ihren Ausgangspunkt nehmen. Dabei wird wieder, ähnlich wie bei der Geschichte, die Kenntnis und die Existenz des nemo tenetur Prinzips, zumindest dessen Kern, die Aussagefreiheit des Beschuldigten im Strafprozeß, vorausgesetzt. Dieses von der allgemeinen Methodik abweichende Vorgehen rechtfertigt sich aus der unumstrittenen Geltung des nemo tenetur Prinzips in der Rechtslehre und in der Praxis. 62 Das Verbot des Zwangs zur aktiven Selbstbelastung wird i.d.R. als nemo tenetur Prinzip oder -Grundsatz bezeichnet. 63 Eine ausdrückliche Begründung für diese Formulierung fmdet sich nicht; sie ist aber auch nicht unbedingt erforderlich. Da die Freiheit von aktiver Selbstbelastung nicht ausdrücklich im Grundrechtskatalog enthalten ist, ist sie auch kein Grundrecht. Die Herleitung 60 Siehe etwa Bottke, DAR 1980, 238, (240: Art. 1 I, Art. 2 I, Art. 19 n GG, fair trail Grundsatz); Seebode, JA 1980, 493 (496); Lorenz, JZ 1992, 1000 (1006); Bruns, in: FS. f. Erich Schmidt-Leichner, 1977, 1 (8 f.: Art. 1 I, Art. 2 I, Art. 20 GG); Bringewat, JZ 1981,289 (294: Art. 2 I GG i.V.m. Rechtsstaatsprinzip und fair traiI); Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 249 (Art. 1 I; Art. 1 I LV.m. Art. 2 I, Art. 2 I, Art. 20 GO). Um die Übersichtlichkeit der Nachweise zu gewährleisten, wird bei diesen im weiteren nicht differenziert, ob sie Kombinationslösungen vertreten oder nicht. 61 So wird z.B. auch der verfassungsrechtliche Schuldgrundsatz auf eine Kombination aus Art. 1 I und Art. 20 n, m GG zurückgeführt; der fair trail Grundsatz wird ebenfalls auf mehrere Verfassungsvorschriften gestützt. 62 Siehe ausführlich zu diesem methodischen Vorgehen, Reiß, 140 f. 63 Nothhelfer, 83; Schramm, 39; Dingeldey, JA 1984,407 (407).
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
subjektiver Rechte wird dadurch aber nicht ausgeschlossen. Auch das Schuldprinzip, die Unschuldsvermutung und das fair trail Prinzip sind keine Grundrechte, und dennoch kann sich jeder Betroffene bei einer Verletzung unmittelbar auf diese Prinzipien berufen. 64 Gleiches gilt für den nemo tenetur Grundsatz. Die Nähe des nemo tenetur Prinzips zur Struktur eines Grundrechts zeigt sich auch in seiner Aufnahme in den Grundrechtskatalog des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966 (Art. 14 III Buchstabe g] IPBPR).
n. Die in der Literatur vertretenen Begründungen 1. Die primär materiellrechtlichen Gewährleistungen
Vornehmlich ältere Ansichten ziehen Art. 2 I GG,6S Art. 4 I GG66 und Art. 211 2 GG67 heran.
a) Allgemeine Handlungsfreiheit Die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG bietet keine zureichende Rechtsgrundlage. Würde man das nemo tenetur Prinzip dem Art. 2 I GG unterstellen, hätte es keine über den in Art. 2 I GG niedergelegten einfachen Gesetzesvorbehalt LV.m. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinausgehende Schutzintensität. 68 Die einhellige Anerkennung des nemo tenetur Prinzips als verfassungsrechtliche Garantie einer strikten, zumindest im Strafprozeß keiner Abwägung zugänglichen Freiheit vor aktiver Mitwirkung wäre dann nicht zu begründen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann dem nemo tenetur Grundsatz kein eigenes Gewicht geben. 69 Für eine Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Le.S. muß man der nemo tenetur Garantie inhaltliche
64 Bei der Verletzung des Schuldgrundsatzes nimmt das BVerfG automatisch gleichzeitig die Verletzung des Art. 2 I GG an, vgl. BVerfGE 58, 158 (163); BVerfGE 20, 323 (331); s.a. BVerfGE 84, 82 (87). 6S Schol/er, 149 ff.; Castringius, 46 ff.; Helgerth, 171 ff.; s.a. Berthold, 12 f.; Gol/witzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 249. 66 Schol/er, 149 ff.; Hamel, in: BettermannlNipperdey/Scheuner (Hrsg.), Bd. 4 Hbd. 1, 37 (58 u. 85); s. jüngst wieder Lorenz, JZ 1992, 1000 (1006). 67 Wesseis, JuS 1966, 169 (171). 68 Rogal/, 137. 69 A.A. offenbar Helgerth, 171-178.
ß. Die in der Literatur vertretenen Begründungen
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Konturen geben. Allein durch die Abwägung mit einer anderen Position kann ein subjektives Recht keine weitergehende Schutzwirkung entfalten, als ihm tatbestandlich zukommt. Den Schutzumfang des nemo tenetur Prinzips durch Art. 2 I GG LV.m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu bestimmen, bedeutet daher schon eine Schutzposition vorauszusetzen, die es gerade nachzuweisen und zu konkretisieren gilt. 70
b) Gewissens- und Religionsfreiheit Auch Art. 4 I GG wird man als Grundlage aussondern müssen. 71 Eine historische Verbindung zwischen der Religionsfreiheit und der Entstehung des nemo tenetur Prinzips besteht freilich. 72 Diese kann jedoch den Unterschied zwischen den Schutzbereichen nicht unbeachtlich werden lassen. Die religiös motivierten Widerstände bezogen sich mehr auf den mit der Aussagepflicht verbundenen Eid und weniger auf die Aussagepflicht als solche. Überhaupt hat die Gewissensfreiheit einen selbständigen Schutzbereich entwickelt, der sich von dem der Aussagefreiheit unterscheidet. Art. 4 I GG beinhaltet das Recht, sich nach jeder ernsten sittlichen, d.h. an den Kategorien von "Gut" und "Böse" orientierten Entscheidung zu richten, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt. 73 Art. 4 I GG setzt also die Forderungen des Gewissens unmittelbar mit dem Recht in Beziehung. Das Schweigerecht des nemo tenetur Prinzips ist dagegen selbst als inhaltliches Rechtsprinzip gefaßt. Es soll dem Beschuldigten auch dann zustehen, wenn er es nicht aufgrund seiner moralischen Wertung als gut (oder aus religiösen Gründen als erforderlich) ansieht. Betrachtet er es selbst als verwerflich, zur Klärung des Sachverhaltes keinen Beitrag zu leisten, so steht ihm das Schweigerecht dennoch zur Seite, wenn er aus Zweckmäßigkeitsgründen davon Gebrauch machen will. 74 Es ist nicht die Respektierung der unmittelbaren inneren Wertsetzung und der daran gekoppelten Entscheidungsfreiheit des Betroffenen, die das Grundgesetz veranlaßt, dem Betroffenen das Schweigerecht zuzubilligen. 75 Art. 4 I GG scheidet demnach aus. 76 Gleiches gilt für Art. 2112 GG.77 Im Ergebnis ebenso: Nothhelfer, 35 ff.; Günther, GA 1978, 193 (194). Zur Gegenansicht s. oben S. 30, Fn. 66. 72 Rogall, 127; Nothhelfer, 55; s. oben S. 21 ff. 73 BVerfGE 12,45 (55); v. Münch, in: v. MünchlKunig, GG, Art. 4, Rn. 25. 74 Rogall, 128 f. 75 So aber Hahn, 160 f.; s.a. Nothhelfer, 54 ff.
70 71
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
2. Die primär verfahrensrechtlichen Gewährleistungen
Zahlreicher sind die Stimmen, die stärker den Charakter des nemo tenetur Grundsatzes als einen Grundsatz des Prozeßrechts betrachten und daher weitgehende verfahrensrechtliche Verfassungsgarantien heranziehen, und zwar, neben Art. 104 III 1 GG (Gelegenheit zu Einwendungen),78 Art. 103 I GG,79 den fair trail Grundsatz oder die Unschuldsvermutung. a) Anspruch auf rechtliches Gehör Auch Art. 103 I GG kann die gesuchte Begründung nicht leisten. Art. 103 I GG hat im System der Schutzgewährleistungen eine andere Funktion als die, die Aussagefreiheit zu normieren. so Vom Wortlaut her entfaltet Art. 103 I GG unmittelbar nur ein Recht gegen das Gericht; die Aussagefreiheit gilt aber auch im Ermittlungsverfahren. 81 Zum anderen gilt Art. 103 I GG in jedem gerichtlichen Verfahren gleichermaßen82 und ist kein Ausdruck des spezifischen Schutzes bei einem auf die Verhängung einer Strafsanktion gerichteten staatlichen Verfahren. Dem läßt sich noch ein systematisches Argument hinzufügen. Art. 103 I GG legt dem Gericht die Pflicht auf, die Beteiligten über den Prozeßstoff zu informieren, ihnen die Möglichkeit der Stellungnahme einzuräumen und ihr Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. 83 Er gewährt dem Betroffenen ein aktives Mitwirkungsrecht, das Verbot des Zwangs zur aktiven Selbstbelastung dagegen ein speziell auf das Strafverfahren i. w .S. bezogenes Mitwirkungsverweigerungsrecht. Beide Garantien ergänzen sich demnach. 84 Gleiches gilt für Art. 104 III 1 GG.8S
Rogall, 127 ff.; s.a. Nothhelfer, 54 ff.; Bährle, 80. Diese (nicht näher begründete) Ansicht (s. oben S. 30, Fn. 67) dürfte auf einem Mißverständnis hinsichtlich des Begriffes der Freiheit in Art. 2 11 GG beruhen. In Art. 2 11 GG ist nur die Bewegungsfreiheit und nicht eine umfassende persönliche Freiheit gemeint. 78 Castringius, 21; Niese, ZStW 63 (1951), 199 (219). 79 Castringius, 51; Gerhard Bauer, 51. so Vgl. Rüping, 133; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103, Rn. 89. 81 Nothhelfer, 52. 82 Bleckmann, 1017; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103, Rn. 11. 83 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103, Rn. 3, 4, 8. 84 So auch: Rogall, 125; Rüping, 133 f.; Fischer, 108 f.; Nothhelfer, 53 f.; Bährle, 78. 8S Vgl. o. Fn. 78. Aus der Tatsache, daß Art. 104 m GG dem Beschuldigten die Möglichkeit geben will, sich vor dem Richter zur Sache zu äußern, läßt sich jedoch noch nicht das Schweigerecht folgern. 76
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ll. Die in der Literablr vertretenen Begründungen
33
b) Fair trail Grundsatz, insbes. die Waffengleichheit Vertreten wird weiter die Rückführung des nemo tenetur Prinzips auf den Grundsatz des fair trail und insbesondere auf das daraus hergeleitete Gebot der prozessualen Waffengleichheit. 86 Über den fair trail Grundsatz als solchen besteht weitgehend Einigkeit. Er gilt als prozessualer Grundsatz in allen staatlichen Verfahren, insbesondere Gerichtsverfahren,81 fmdet sein Schwergewicht jedoch im Strafprozeß. Dort erfassen die einfach-gesetzlichen und speziellen verfassungsrechtlichen Verfahrensregeln die Rechte des Beschuldigten nicht erschöpfend, sondern bedürfen einer Ergänzung durch das "allgemeine Prozeßgrundrecht" ,88 dem Recht auf ein faires Verfahren. 89 Die Grundlage des allgemeinen Prozeßgrundrechts auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren wird in dem Rechtsstaatsprinzip,9O teilweise in Verbindung mit den allgemeinen Freiheitsrechten,91 unter Berücksichtigung der Menschenwürde92 und dem Schuldgrundsatz93 gesehen. Das Gebot verlangt nicht nur eine formelle, sondern auch eine materielle Gleichstellung. Es sichert dem Beschuldigten innerhalb eines ausgewogenen Wahrheitsfmdungsprozesses eine zusätzliche selbständige Möglichkeit der Einflußnahme. 94 Es hat zum einen die Funktion, durch extensive Auslegung oder durch Ergänzung von bestehenden gesetzlichen Prozeßrechten dem Beschuldigten eine seinem Verteidigungsinteresse angemessene, d.h. faire prozessuale Stellung zu gewährleisten. 9S Zum anderen soll es den Gesetzgeber dazu verpflichten, eine Verfahrensordnung aufzustellen, die dem Gedanken 86 BVerfGE 38, 105 (111); BGHSt 25,325 (330); BGH NJW 1992, 1637 (1638); MüllerBoysen, 98 f.; Tettinger, 25 f.; Rnnsiek, 7 und 53 f.; Schramm, 50 f.; Günther, GA 1978, 193 (198 f.); Bottke, DAR 1980, 238, (240); ders., Iura 1987, 356 (361); Bringewat, IZ 1981,289 (294); Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1208); Kühne, EuGRZ 1986, 493 (493); Roxin, § 15 C II 2 b aa, S. 82; s.a. Geppert, DAR 1981, 301 (305). 81 Siehe dazu ausführlich Dörr, 157 ff. (Zivilprozeß) und 169 ff. (Verwaltungsprozeß); Tettinger, 36 ff. (Zivilprozeß), 42 ff. (Verwaltungsprozeß) und 46 ff. (Verwaltungsverfahren). 88 So die Fonnulierung in BVerfGE 57,250 (275). 89 Ransiek, 5. 90 Dörr, 141 f.; Tettinger, 5 ff. 91 Siehe z.B. instruktiv BVerfGE 86,288 (317). 92 Satlanis, 44; Hili, in: HStR, Bd. VI, § 156, Rn. 35. Ausführlich zu den unterschiedlichen Begriindungsansätzen Heubel, 40 ff.; Dörr, 94 ff.; für den Zivilprozeß s. Vollkommer, in: GS. f. Rudolf Bruns, 1980, 195 (214 f.); ders., in: FS. f. Karlheinz Schwab, 1990,520 ff. 93 BVerfGE 57,250 (275); s.a. BVerfGE 74,358 (370 f.); BVerfGE 80,367 (378); BVerfGE 86,288 (317 f.). 94 BVerfGE 38, 105 (111). 9S Störmer, 55; Hili, in: HStR, Bd. VI, § 156, Rn. 35. Vgl. etwa seine Bedeutung zur Kronzeugenregelung Jung, 80 ff.; Bocker, 92 f.; zum Recht auf einen Verteidiger, Oswald, IR 1979, 99 f.; ein Überblick über die aktuellen strafprozessualen Fragen hinsichtlich des Anspruchs auf ein faires Verfahren findet sich bei Brause, NJW 1992,2865 ff. 3 Wolff
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
der Fairneß gerecht wird. 96 Der Fairneßbegriff ist dabei, soweit dies möglich ist, aus der Kombination der genannten Verfassungsprinzipien zu gewinnen. 'TI Der fair trail Grundsatz hat eine ähnliche Struktur wie das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung. Er bezieht sich zumindest in seinem Kern auf das Strafverfahren und geht, obwohl er seinem Gehalt nach als prozessuales Institut einzuordnen ist,98 auf materielle Rechtspositionen zuliick. Die gesuchte Grundlage des nemo tenetur Prinzips kann er dennoch nicht bieten. Er ist inhaltlich wesentlich unbestimmter als dieser und kann daher keine normativen Vorgaben für den nemo tenetur Grundsatz leisten. Vielmehr gestaltet umgekehrt das nemo tenetur Prinzip als ein wesentlicher Grundsatz des Strafverfahrens den Inhalt des fair trail Grundsatzes mit. Daliiberhinaus spricht seine (wenn auch im Vergleich zum Strafverfahren unbedeutendere) GeltUng in den anderen Verfahrensordnungen ebenfalls gegen seine Eignung als Grundlage des nemo tenetur Prinzips.99 Dogmatisch kommt noch hinzu: Wegen der Reichweite des fair trail Prinzips und der Unbestimmtheit der zweifachen Ableitung zum nemo tenetur Grundsatz - von der Kombination der Verfassungsprinzipien auf den fair trail Grundsatz und von diesem zur konkreten Frage müssen diesem andere konkretere Verfassungsgewährleistungen vorgehen, 100 falls bei ihnen eine unmittelbare Ableitung möglich ist. 101 Es bleibt demnach zunächst zu untersuchen, ob nicht speziellere Grundsätze die nemo tenetur Garantie verbürgen. Rogall wendet ein, der Grundsatz der Waffengleichheit könne nicht die Grundlage des nemo tenetur Prinzips sein, sonst müßte auch dem Staatsanwalt im Prozeß das Privileg gegen Selbstdiskriminierung zugebilligt werden, was aber offenbar sinnlos sei. 102 Dieses Argument stützt das richtige Ergebnis nicht. Ihm liegt ein zweifacher Irrtum zugrunde. Zum einen ist die Bezugsgröße für die Gleichheit der Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht ausschließlich die Staatsanwaltschaft, sondern die zur Ausübung des StrafanSchmidt-AfJfTUl1I1I, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103, Rn. 171; BVerfGE 64,45 (61). Ransiek, 5 f.; Hili, in: HStR, Bel. VI, § 156, Rn. 35. 98 Die verfahrensrechtliche Komponente unter Bezugnahme materieller Grundrechte kommt im Urteil des BVerfG zu den Anforderungen der Schuldfeststellung im Urteil bei der lebenslangen Freiheitsstrafe deutlich zum Ausdruck, BVerfGE 86,288 (317 ff.). 99 Siehe dazu schon zu Art. 103 I GO oben S. 32. 100 Peres, 116; Störmer, 55 f.; Hili, in: HStR, Bd. VI, § 156, Rn. 38. 101 Den Rückgriff auf den fair trail Grundsatz für überflüssig halten: Heubel, 73 f., 122 ff., 138 ff.; Kunig, 379 ff. und Schmidt-AfJfTUl1I1I, DÖV 1987, 1029 (1033, 1036) hinsichtlich Art. 103 I GG. 102 Rogall, 113 f. 96
'TI
ß. Die in der Literatur vertretenen Begründungen
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spruchs des Staates legitimierten staatlichen Organe; dazu gehört nach deutschem Prozeßrecht auch das Gericht. Im Zum anderen interpretiert dieses Argument die Waffengleichheit zu wörtlich. Das Prinzip der Waffengleichheit kann den Umstand, daß es um ein staatliches Verfahren der Wahrheitsfindung geht, zu dem Zweck, auf rechtsstaatliche Weise festzustellen, ob der Beschuldigte die im Raum stehende Tat begangen hat, nicht verändern. Diese Einbindung in das staatliche Verfahren mit dem potentiellen staatlichen Strafanspruch kann und will der Grundsatz der Waffengleichheit nicht aufheben. 104 Er will aber trotz der darin liegenden Unterworfenheit des Angeklagten diesem innerhalb des Verfahrens eine der Verfolgung des staatlichen Strafanspruchs möglichst gleichwertige Verteidigungsmöglichkeit einräumen; und dies, obwohl die staatlichen Organe selber schon zur Wahrung seiner Interessen aufgerufen sind (§ 160 11 StPO).
c) Die Unschuldsvermutung Nach der Unschuldsvermutung hat jeder Angeklagte als unschuldig zu gelten, bis seine Schuld in einem gesetzlich geregelten Strafverfahren nachgewiesen werden konnte. lOS Dieser Gedanke wird teilweise als Rechtsgrund des nemo tenetur Prinzips angeruhrt. 106 Wer als unschuldig vermutet wird, könne nicht gehalten sein, selbstbelastende Umstände vorzutragen. 107 Die Unschuldsvermutung ist in Art. 6 11 EMRKI08 sowie in Art. 14 11 IPBPR verankert. 109 In der grundgesetzlichen Verbürgung wurde sie bislang Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1209). § 11 V, S. 60. lOS BVerfGE 82, 106 (114 f.). Die konkreten Folgerungen und die Reichweite des Prinzips befmden sich zur Zeit noch im Fluß, vgl. Kühl, 11 ff.; Karlheinz Meyer, in: FS. f. Herbert Tröndle, 1989, 61 (64 ff.). Zur verfahrenslirnitierenden Wirkung der Unschuldsvermutung siehe ausführlich Gropp, JZ 1991, 804 (806 ff.). Zu dem Verhältnis von dem materiellen Grundsatz der Unschuldsvermutung und der reinen Beweisregel in dubio pro reo, die ein "non Iiquet" voraussetzt: Gropp,IZ 1991, 804 (806 Fn. 39); ausführlich Paeffgen, 44 ff. 106 Peres, 121; Guradze, in: FS. f. Karl Loewenstein, 1971, 151 (160); Amdt, NIW 1966, 869 (870); Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (139); Puppe, GA 1978, 289 (299); Dingeldey, IA 1984,407 (409); Lorenz, IZ 1992, 1000 (1006); s.a. Rüping, IR 1974, 135 (138). 107 Guradze, in: FS. f. Karl Loewenstein, 1971, 151 (160). lOS Siehe dazu Peukert, EuGRZ 1980,247 (259 ff.). Zum Verhältnis der Konventionsgarantie und der Verfassungsgewährleistung s. BVerfGE 74, 358 (370); Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 107. 109 Siehe zu der Frage, ob die Unschuldsvermutung eine aIlgemeine Regel i.S.d. Art. 25 GG ist, Paeffgen, 59 ff.; zu den Verbürgungen in den Landesverfassungen vgl. Gropp, IZ 1991, 804 (804 Fn. 14). 103
104 Roxin,
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet,110 meist unter Heranziehung der Menschenwürde 111 oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 1l2 In jüngerer Zeit stellt das BVerfG jedoch stärker auf die verfahrensrechtlichen Wirkungen des Schuldgrundsatzes ab.ll 3 Die theoretische Herleitung der Unschuldsvermutung ist, ähnlich wie die des nemo tenetur Prinzips, bis heute nicht vollständig geklärt. 114 Kühl bindet die Unschuldsvermutung eng an das sozialethische Unwerturteil des Strafausspruchs und weniger an die durch die Strafe bewirkte Rechtsgütereinbuße an. 1IS Er kommt so zu dem Verständnis der Unschuldsvermutung als Verbot, ohne den Nachweis der Schuld, durch staatliche Reaktionen sozialethisch deklassierende Wirkungen hervorzurufen. 116 Beachtet man diese gebotene Anbindung der Unschuldsvermutung an die Strafe, so ist ein Zusammenhang zwischen dem nemo tenetur Grundsatz und der Unscb-uldsvermutung nicht zu leugnen. Auch der nemo tenetur Grundsatz ist auf die Strafe zugeschnitten. Die Unschuldsvermutung ermöglicht es dem Beschuldigten real, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen, da er unter keinem mittelbaren psychischen Druck steht, sich durch seine Aussage entlasten zu müssen. 1l7 Zudem liegt beiden Garantien der Gedanke zugrunde, daß es Aufgabe des Staates (unter Ausschluß der Mitwirkung des Beschuldigten) ist, dem Beschuldigten die Tat nachzuweisen. 118 Die Anerkennung des Zusammenhanges beider Garantien verdeutlicht zugleich, daß diese nicht aufeinander aufbauen.ll 9 Nur wenn man das nemo tenetur Prinzip mit der Begründung ablehnen würde, ein Schuldiger habe die Pflicht auszusagen, weil er als Straftäter einen 110 BVerfGE 82, 106 (114 ff.); BVerfGE 74, 358 (370); BVerfGE 19, 341 (347); Paeffgen, 65 f.; Satlanis, 57; Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik, 153 (165); Vogler, in: FS. f. Theodor K1einknecht, 1985, 428 (436); Karlheinz Mtryer, in: FS. f. Herbert Tröndle, 1989, 61 (62); lÜTten Wolter, 26 f.; Gollwirzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 105. 111 Kunig, 343 hält diese für allein ausschlaggebend. 112 Kühl, 20. 113 BVerfGE 84, 82 (87); BVerfGE 82, 236 (259); BVerfGE 82, 106 (114 f.); BVerfGE 74, 358 (371). 114 Kühl, 9; Montenbruck, 68; Nothhelfer, 38; Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik, 153 (153 f.); Niemäller/Schuppen, AöR 107 (1982), 387 (470 f.); Roxin, § 11 11, S. 59. 115 Kühl, 12 ff. 116 Kühl, 16; im wesentlichen zustimmend Paeffgen, 53 f. Fn. 194; Gollwirzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 133. 117 Arndt, NJW 1966, 869 (870); Stümer, NIW 1981, 1757 (1757); s.a. BVerfGE 38, 105 (115) hinsichtlich des Zeugen. 118 Vgl. Reiß, 177. 119 Rogall, 112; Nothhelfer, 39 f.; Puppe, GA 1978, 289 (299 Fn. 42); Gollwirzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 248.
ß. Die in der Literahu vertretenen BegIÜndungen
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geminderten Rechtsstatus innehabe, wäre dies eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Nun ist aber eine hypothetische Argumentation gegen den nemo tenetur Grundsatz auch ohne diesen Hinweis möglich, denn eine neutrale Mitwirkungspflicht am staatlichen Wahrheitsfmdungsprozeß läßt sich auch ohne Rückgriff auf einen angeblich geminderten Rechtsstatus herleiten und somit ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung begründen. An diesem Gedankenbeispiel erkennt man den unterschiedlichen Schutzbereich beider Prinzipien,120 der auch zu einer getrennten Regelung im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte führte (vg. Art. 1411 und Art. 14 III Buchstabe g] IPBPR). 3. Die umfassenden Gewährleistungen
a) Das Rechtsstaatsprinzip In jüngerer Zeit wird wieder verstärkt das Rechtsstaatsprinzip unmittelbar zur Begründung für die Freiheit vor zwangsweiser aktiver Mitwirkung herangezogen. 121 Grundlage ist dabei ein materiell verstandenes Rechtsstaatsprinzip.122 Diese Ansicht vertritt insbesondere Reiß123 in seiner Habilitationsschrift; Schneider l24 übernimmt sie in seiner Dissertation. Beide Arbeiten gehen davon aus, daß für die verfassungsrechtliche Grundlage nur das Rechtsstaatsprinzip oder Art. 1 I GG, Art. 2 I GG in Frage käme. 125 Anschließend wird Art. 1 I GG, Art. 2 I GG als Grundlage ausgeschieden. Das Rechtsstaatsprinzip bleibt dann übrig, ohne daß dieses als Grundlage des nemo tenetur Prinzips positiv begründet worden wäre. 126
120 Rogall,
112; Nothhelfer, 39 f.
121 Das Rechtsstaatsprinzip ziehen (meist schon fruher) heran (oft in Kombination mit anderen
Verfassungsnormen): PaejJgen, 70 ff.; Gerling, 53; Bringewat, JZ 1981,289 (294); Salditt, GA 1992, 51 (67); Stern, Bd. I, § 20 IV 5 d, S. 848; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 249; Hanack, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 21; s.a. Petry, 38. 122 Paeffgen, 71; Hanmut Schneider, 39 f.; s. zur Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Rechtsstaatsbegriff Schmidt-Aßmann, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 18. 123 Wolfram Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 1987. 124 Haronut Schneider, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips, 1991. 125 Reiß, 155-163; Haronut Schneider, 37 - 42. 126 Reiß, 164-169; Hanmut Schneider, 45 - 49.
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
Paeffgen l21 zieht etwa zeitgleich mit Reiß das Rechtsstaatsprinzip mit einer abweichenden Begründung heran. Wie bei der Unschuldsvermutung sei auch bei dem nemo tenetur Grundsatz das allgemeine Rechtsstaatsprinzip die sachnähere Norm im Vergleich zu Art. 1 I GG und Art. 2 I GG. Es gehe um prozessuale Grundrechte, die mangels ausdrücklicher Normierung nicht der materiellen, alles umfassenden Position der Art. 1 I GG und Art. 2 I GG zuzuweisen seien, sondern dem nächsten übergeordneten Gesichtspunkt, und der sei das Rechtsstaatsprinzip.l28 Der nemo tenetur Grundsatz ist als ein elementares verfahrensrechtliches Beschuldigtenrecht ein Ausfluß des Rechtsstaatsprinzips.129 Mag nun in den genannten Darstellungen eine positive Ableitung nicht vorgestellt sein, so ist im Ansatz dennoch ein wichtiger Gegenstand richtig gesehen. Das materielle Rechtsstaatsprinzip verlangt u.a.: Der einzelne muß sich im Verhältnis zum Staat in seiner selbstorientierten Daseinsbewältigung den bestehenden Rechtsprinzipien einordnen können. Nun verlangt der allgemeine Gehalt des Rechtsstaatsprinzips jedoch, erst dann auf diesen direkt zurückzugreifen, wenn konkrete Einzelnormen, die als solche ebenfalls ein Ausfluß und eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips sind, eine Begründung nicht leisten können. 13O Das Rechtsstaatsprinzip ist als Prinzip selbst zwei stufig und verweist zunächst auf eine gegebene einfachgesetzliche Konkretisierung der Verfassungsordnung. Auf das Rechtsstaatsprinzip kann daher erst dann zurückgegriffen werden, wenn der fair trail Grundsatz, die Unschuldsvermutung, Art. 1 I i. V .m. Art. 2 I GG, Art. 1 I GG und der Schuldgrundsatz als Begründung ausscheiden. 131 Entgegen der Ansicht von Paeffgen ist auch Art. 1 I, Art. 2 I GG als die speziellere Norm im Vergleich zum Rechtsstaatsprinzip anzusehen, da ersteren im Gegensatz zu diesem originäre subjektiv-rechtliche Wirkung zukommt, und die Grundrechte gerade als spezielle Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips zu verstehen sind. 132
127 Hans-Ulrich Paeffgen, VOTÜberiegungen zu einer Dogmatik des UntersuchungshaftRechts, 1986. 128 Paeffgen, 70 ff. unter Bezugnahme auf S. 65 ff. 129 So wird einheitlich von rechtsstaatlicher Errungenschaft, rechtsstaatlicher Selbstbeschränkung oder rechtsstaatlichem Grundsatz gesprochen, vgl. statt vieler: Volk,IZ 1982,85 (91). 130 Siehe dazu ausführlich Nothhelfer, 17 ff., 51; s.a. Schmidt-Aß1nil1I1I, in: HStR, Bd. I, § 24, Rn. 7 f. 131 Bährle. 89. 132 Vgl. statt vieler Hofmann, Staat 34 (1995), 1 (3, 16 ff.).
ll. Die in der Literatur vertretenen Begründungen
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b) Die Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht aa) Die Begründung der überwiegenden Ansicht
(a)
Die Argumentation
Die ganz überwiegende Ansicht zieht die Menschenwürde 133 oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht l34 als Grundlage heran. Mitunter wird auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung bemüht. 135 Überwiegend wird der nemo tenetur Grundsatz darauf zurückgeführt, daß es dem Beschuldigten unzumutbar sei, gegen sich selbst auszusagen. 136 Es sei unzumutbar, dem Betroffenen eine Pflicht zur Aussage aufzuerlegen, wenn mit der wahrheitsgemäßen Aussage gravierende Nachteile für ihn verbunden seien. 137 Der Betroffene solle vor dem notstandsähnlichen Zwiespalt bewahrt werden, sich wider seine eigenen Interessen dem staatlichen Wahrheitsfmdungsprozeß unterordnen zu müssen. 138 Die
133 Kühne, 131; Gross-Spreirzer, 73 f.; Gerling, 113 ff.; Kunig, 380; ders., in: v. MünchlKunig, GG, Art. I, Rn. 36 Stichwort "Aussageverweigerung"; Lammer, 156; Benda, in: Benda u.a. (Hrsg.), Handbuch, 161 (171); Bruns, in: FS. f. Erlch Schmidt-Leichner, 1977, 1 (8); Jürgen Wolur, 26 f.; ders., in: GS. f. Karlheinz Meyer, 1990, 493 (498); ders., NStZ 1993, 1 (6); Habscheid, in: GS. f. Hans Peters, 1967,840 (871); Schäfer, in: FS. f. Hans Dünnebier, 1982, 11 (12); Rinck, DVBI 1964,706 (708); Kunl!rt, MDR 1967, 539 (539 ff.); Rüping, IR 1974, 135 (136); Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (136, 144 f.); GTÜnwald, IZ 1981,423 (428); Salditl, GA 1992, 51 (66); Boujong, in: KK-StPO, § 136, Rn. 10; BGHSt 14, 358 (364). 134 Helgerth, 170; Rogall, 145; Heckei, 225 ff.; Fischer, 100 ff.; Wolfgang Schmidt, 45 f.; PaejJgen, 73 Fn. 299; Nothhelfer, 82 f.; Keller, 132; Ransiek, 53 f.; Bährle, 83 ff.; Störmer, 164 f.; SüdhojJ, 52; Bruns, in: FS. f. Erlch Schmidt-Leichner, 1977, 1 (8); Wolter, in: GS. f. Arrnin Kaufmann, 1989, 761 (770); Günther, GA 1978, 193 (198); BOtlke, DAR 1980, 238, (240); ders., Iura 1987, 356 (361); Stümer, NIW 1981, 1757 (1757 f.); Dingeldey, NStZ 1984, 529 (529); ders., IA 1984, 407 (409); Kühl, IuS 1986, 115 (117); Kirsch, in: Zustand, 229 (229 u. 234); Schmidt-Aßf1JIlII1I, in: Maunz/Dürlg, GG, Art. 103, Rn. 89; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 249, so auch schon Ernst Beling, 37; aus der Rechtsprechung siehe BGH NIW 1992, 1637 (1638); OLG Celle NStZ 1982, 393 (394). 135 Nothhelfer, 82; Keller, 132. 136 Stümer, 184; Müller-Boysen, 92; Schramm, 46; Lammer, 156; Günther, GA 1978, 193 (194); Kirsch, in: Zustand, 229 (234); s.a. Hahn, 159, mit dem zusätzlichen Argument, bei Fehlen des Schutzes des nemo tenetur Grundsatzes werde sich der Betroffene Ld.R. einer erneuten Straftat, nämlich eines unechten Unterlassungsdeliktes durch Offenbaren schuldig machen, was unzumutbar sei (unter Berufung auf Ernst Beting, 37, der sich seinerseits jedoch nur auf das Strafverfahren selbst bezieht). Dem ist entgegenzuhalten, daß es nicht der Schutz vor einer strafrechtlichen Folgetat ist, die den nemo tenetur Grundsatz begründet, sondern die Besonderheit der Mitwirkung am eigenen Strafverfahren. 137 Lammer, 156; Schneider, IuS 1970,271 (275); Günther, GA 1978, 193 (194, 204 f.). 138 Rogall, 146; Gerting, 115 f.; Schramm, 46; Eberhard Schmidt, NIW 1969, 1137 (1139).
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
grausame Wahl zwischen einer Selbstbelastung oder einem Meineid solle dem Beschuldigten erspart bleiben. 139 Mitunter wird das Prinzip der Unzumutbarkeit auch mit dem naturrechtlichen Prinzip der Selbsterhaltung angereichert. 14O Es werde als anstößig empfunden, den Menschen als Waffe zur Zerstörung eigener Rechtsgüter zu benutzen. 141 Ein solches Vorgehen sei "unnatürlich" .142 Neben der Unzumutbarkeit (oder mit ihr verbunden) wird der Gedanke angeführt, ohne die Garantie des nemo tenetur Grundsatzes würde der einzelne zum bloßen Objekt staatlicher Tätigkeit werden,I43 und ihm bliebe nur durch das Prinzip ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit. l44 Geschützt werde die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten bei seiner Entscheidung, ob er an der eigenen Überführung mitwirken wolle. 145 (b)
Die Gründe für die Heranziehung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
Die Unterschiede zwischen der Ansicht, welche die Menschenwürde zur Erklärung heranzieht, zu der, die in dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht die gesuchte Grundlage fmdet, sind in der Argumentation eher graduell, als qualitativ zu werten. l46 Begründet wird der Vorzug des Art. 1 I, Art. 2 I GG zum 139 Erdmann, 132 (zum 5. Amendment der Verfassung der Vereinigten Staaten); Rinck, DYBl 1964,706 (708); ähnlich Grünwald, JZ 1981,423 (428): Die Qual, zwischen der Mitwirkung an der eigenen Überführung und dem Hinnehmen anderer Übel, wie Ordnungsgeld, Ordnungshaft oder Beugehaft wählen zu müssen, solle dem Beschuldigten erspart bleiben. 140 Rogall, 145; Heckei, 227; Müller-Boysen, 92 f.; Gerling, 115; Schramm, 46; Lammer, 156; Rüping, JR 1974, 135 (136); s.a. Rupp, JuS 1967, 163 (164). 141 Rogall, 145; Heckei, 227. 142 Rogall, 145. 143 Hahn, 159; Kühl, JuS 1986, 115 (117); Dingeldey, JA 1984, 407 (409). 144 Rogall, 145 Cf.; Hahn, 159; Dingeldey, JA 1984,407 (409). 145 Ransiek, 51 Cf., zugleich gegen die Heranziehung des Zumutbarkeitsgedankens, von dem er seine eigene Ansicht über den Schutz der freien Entscheidungssituation des Menschen als Subjekt absetzt. Wieso die Entscheidungsfreiheit des einzelnen im Strafverfahren so gefaßt sein muß, wie es der nemo tenetur Grundsatz gewährleistet, begründet Ransiek allerdings nicht. 146 Müller-Boysen, 96: es sei zweckmäßiger, auf Art. 1 I, Art. 2 I GG abzustellen; Nothheller,77 "Der Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) garantiert mit dem strafprozessualen Schweigerecht zwar einen grundlegenden Aspekt des "Nemo-tenetur-Gedankens", enthält aber keine erschöpfende verfassungsrechtliche Regelung der Selbstbezichtigungsproblematik. "; Günther, GA 1978, 193 (197 f.), der darauf hinweist, daß eine Aussageptlicht keine Mißachtung der Persönlichkeit ausdrückt, und daher Art. 1 I GG als Grundlage ablehnt und zu Art. 1 I, Art. 2 I GG kommt, ohne jedoch zu begründen, wieso der von ihm gebrachte Einwand nicht auch für Art. 1 I, Art. 2 I GG gilt; s.a. Jung, 42; Rogall, 144; ders., in: SK-StPO, Vor § 133, Rn. 132; Wolfgang Schmidt, 45 f.; Ltipold, 47; Bruns, in: FS. f. Erlch Schmidt-Leichner, 1977, 1 (8); Stümer, NJW 1981, 1757 (1757 f.).
ll. Die in der Literatur vertretenen Begtiindungen
41
Beispiel mit dem Hinweis, Art. 1 I GG vermittle kein subjektives Recht, 147 und die Subsumtion unter Art. 1 I GG sei wegen der Weite des Menschenwürdebegriffs zu schwierig. l48 Art. 1 I GG sei sehr von dem Vorverständnis der Menschenwürde abhängig und daher ganz verschiedenen Interpretationen zugänglich. Dieser Unbestimmtheit könne man den nemo tenetur Grundsatz nicht aussetzen. 149 Der wohl erheblichste Unterschied zwischen den beiden Konstruktionen liegt in der Art der Begründung, mit der die Reichweite des Prinzips umgrenzt wird, wobei jedoch die Ergebnisse wieder weitgehend übereinstimmen. Die Zuordnung des Prinzips zu Art. 1 I, Art. 2 I GG hat zur Folge, daß die Schutzposition bei Vorliegen eines einschränkenden Gesetzes mit dem von diesem verfolgten Zweck abgewogen werden muß. Für das Strafverfahren selbst wird allerdings ein eindeutiges Überwiegen des nemo tenetur Schutzes angenommenISO und eine Abwägung insoweit abgelehnt. lsl Nur Mitwirkungspflichten in anderen staatlichen Verfahren werden der Abwägung zugänglich gehalten. 1S2 Die Ergebnisse dieser Abwägung differenzieren je nach Verfahrenstyp und konkreter Rechtsansicht. ls3 Ausgangspunkt dieser Abwägungsüberlegungen ist immer die vom BVerfG im Gemeinschuldnerbeschluß lS4 zugrundegelegte Konstruktion der Aussagepflicht im konkreten nicht-strafrechtlichen Verfahren, in Kombination mit einem Verwertungsverbot dieser Aussage für ein potentielles oder schon laufendes Strafverfahren. ISS Wird dagegen dem nemo tenetur Prinzip Art. 1 I GG zugrundegelegt, so besteht insofern keine Möglichkeit, diese Rechtsposition mit anderen Gesichtspunkten abzuwägen lS6 und auf der Schrankenebene zum Ausgleich zu bringen. Ein gewisser Aus-
Schramm, 49. Fischer, 96; Müller-Boysen, 96; Schramm, 49. 149 Siehe dazu Nothhelfer, 63 ff.; Ramiek, 48 f. ISO Helgerth, 176 f. (zu Art. 2 I GG); Rogall, 147; Lammer, 156; Günther, GA 1978, 193 (205) großzügiger bei Ordnungswidrigkeitenverfahren; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387 (422); a.A. für geringe strafrechtliche Sanktionen Fischer, 102 f. ISI Instruktiv Hassemer, in: FS. f. Werner Maihofer, 1988, 183 (203); ausführlich aus strafprozessualer Sicht Wolter, in: GS. f. Karlheinz Meyer, 1990,493 (502 ff.); ders., in: GS. f. Armin Kaufmann, 1989, 761 (770). IS2 Rogall, 144 ff.; Nothhelfer, 77 und 85 ff.; Ramiek, 53; Berthold, 12; Bährle, 86; Günther, GA 1978, 193 (205). IS3 Siehe etwa zu § 142 StGB (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) statt vieler Leipold, 50 und 220 ff. IS4 BVerfGE 56, 37 ff.; dazu Mebler, in: FS. f. Theodor Kleinknecht, 1985,298 (306); Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387 (423). ISS VgJ. etwa Lammer, 156. IS6 Starck, in: v. MangoldtlKleinlStarck, GG, Art. 1, Rn. 21. 147 148
42
§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
gleich ließe sich jedoch wiederum bei der Auslegung des Umfanges des Menschenwürdeschutzes erreichen. 157 (c)
Die Eignung der Menschenwürde als Grundlage
(aa) Konkretisierung des Würdebegriffs als Verfassungsauslegung Bei der Frage, ob der Gedanke der Unzumutbarkeit der zwangsweisen aktiven Selbstbelastung der Menschenwürde zugewiesen werden kann, kommt die Schwierigkeit zum Vorschein, die auftritt, sobald mit der Garantie der Menschenwürde argumentiert wird. Nach verbreiteter Auffassung lasse sich die Würde nicht konkret bestimmen l58 oder, noch weitergehender, seien die gefundenen Definitionen inhaltsleer. 159 Zudem wird jede Definition einer geschichtlichen Richtung zugewiesen und daher als eine unzulässige Verengung aufgefaßt. 160 Dieser Handhabung des Art. 1 I GG kann nicht zugestimmt werden. Sie weicht von der Handhabung sonstiger weltanschaulich geprägter Begriffe, wie Ehre und Gewissen, ohne erkennbaren Grund ab. 161 Durch das Unterlassen einer Konkretisierung mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden nimmt man sich die Möglichkeit, sie auf ihre Leistungsfcihigkeit am Einzelfall zu überprüfen und notwendigerweise zu korrigieren. Bemerkenswert ist insoweit, daß bei den Ergebnissen unter Anwendung des Art. 1 I GG, besonders wegen der Hilfe der sog. Objektformel, 162 keine größeren Schwierigkeiten oder Differenzen auftreten, als bei den anderen Verfassungsnormen. 163 Der überragenden Stellung der Menschenwürde, die durch ihre Normierung am Anfang der Verfassung und durch Art. 79 III GG verdeutlicht wird,l64 entspricht es nicht, sie selbst im Kern diffus zu lassen und auf das intuitive Vorverständnis der Norm-
157 Aus strafprozessualer Sicht Woller, in: GS. f. Karlheinz Meyer, 1990,493 (510).
Nothhelfer, 68; Badura, IZ 1969, 337 (342). Nothhelfer, 64; Badura, IZ 1969,337 (342). 160 Nothhelfer, 69 f.; Frister, 29. 161 Ähnlich Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. I, Rn. 18. 162 Siehe ausführlich Geddert-Steinacher, 58. 163 Quaritsch, Asyl, 69; PierothlSchlink, Rn. 407 ff.; Kritik ausgesetzt sieht sich meist nur die Abhör-Entscheidung des BVerfG (E 30, 1 ff.), die hinter den eigenen Erkenntnissen des BVerfG zurückbliebe, so Häberle, in: HStR, Bd. I, § 20, Rn. 9 m.w.N. 164 BVerfGE 50, 166 (175); Valentin, 37 f. m w. N. u. 105. 158
159
ll. Die in der Literatur vertretenen Begründungen
43
anwender ZU verweisen. l65 Durch die Normierung der Garantie der Menschenwürde wurde bewußt ein Begriff, der geistesgeschichtlich - wenn auch durchaus auf vielfältigen Grundlagen l66 - geprägt war, zum Schlüsselbegriff einer Verfassungsnorm erhoben und ihm so normativer Gehalt beigemessen. 167 Dieser normative Gehalt kann nicht zur Folge haben, Art. 1 I GG von der Geschichte losgelöst zu betrachten. l68 Dadurch würde der Verfassungsnorm ihr Bezug auf eine differenzierte kulturelle Wirklichkeit genommen, obwohl dieser es erst ermöglicht, Geltungsbereiche zu unterscheiden, die einer Normativität zugänglich sind. Sie müssen in die Interpretation einbezogen werden. l69 Dabei sind diese Geltungsbereiche nicht nur in ihrem historischen Gewande, sondern auch in ihrem gegenwärtigen Wirkungskreis zu bestimmen. 170 Der Bezug zur differenzierten Wirklichkeit verbietet es andererseits, die gesamte Verfassung unmittelbar aus Art. 1 I GG abzuleiten. 171 Die Grundrechte der Art. 2 GG bis Art. 19 GG sowie Art. 38 GG, Art. 101 GG bis Art. 104 GG sind nicht nur hilfreiche Konkretisierungen des Würdebegriffs. Sie bilden vielmehr den normativen Rahmen der kulturellen und staatlichen Wirklichkeit, in der der Schutz der Menschenwürde entstanden ist und gelten soll. 172 Der Begriff der Würde des Menschen erfaßt den Bereich des Daseins, der nur dem Menschen zukommt. 173 Das ist im Wesentlichen die Fähigkeit zur Selbstreflexion und diese ist, als praktische Existenz, die Autonomie. 174 Zur Würde gehört Selbstbestimmung. 175 Es geht demnach bei der Menschenwürde um eine Beziehung zu sich selbst, welche die Gleichheit der Menschen untereinander ausmacht und für jeden wechselseitig gegenüber dem anderen und geWenenbruch, 181; Geddert-Steinacher, 57; Vitzthum, JZ 1985,201 (202). Vgl. statt vieler den Überblick bei Schütz, BayVBl1991, 615 ff. 167 Montenbruck, 184; Geddert-Steinacher, 80; Häberle, in: HStR, Bd. I, § 20, Rn. 70; Vitzthum, JZ 1985, 201 (205); Schütz, BayVBI 1991, 615 (619); Starck, in: v. Mangoldt/KleinlStarck, GG, Art. I, Rn. 2; a.A. Badura, JZ 1969,337 (340). 165
166
168 Holmüter, 46.
169
Valentin, 66.
170 Ausgewogen
Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. I, Rn. 19,21. S. z.B. zum Zurückdrängen christlicher Begründungselemente Geddert-Steinacher, 112. 171 Siehe Quaritsch, Asyl, 68 f.: kritisch zur angeblichen Stärkung eines speziellen Grundrechts durch dessen Verknüpfung mit Art. 1 I GG. 172 Starck, JZ 1981,457 (458); Stern, Bd. I, § 20 IV 2 a, S. 788; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. I, Rn. 3. Zum Zusammenhang des Art. 1 I GG zu dem Rechtsstaatsprinzip und dem Demokratieprinzip vgl. aus jüngerer Zeit Wussow, VerwR 1991, 43 ff. 173 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. I, Rn. 4; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. I, Rn. 18. 174 Geddert-Steinacher, 32; Klein, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. I, Rn. 1,4. Diese Grunderkenntnis geht auf Kant zurück, vgl. GMS, AA, Bd. IV, 4040. 175 Starck, in: v. Mangoldt/KleinlStarck, GG, Art. I, Rn. 7.
44
§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
genüber der organisierten Gemeinschaft einen Anspruch auf Achtung begründet. 176 Der Achtungsanspruch kommt dem Menschen aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion zu. Er erstreckt sich auch auf die Voraussetzungen des gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses unter den Menschen, welches die Entstehung und Aufrechterhaltung des Selbstbewußtseins ermöglicht. 177 Die Personenwürde kennzeichnet den Menschen also nicht in einem bloßen "Gegenüber", sondern als Wesen, dem etwas "aufgegeben" ist. Er ist als sittlich-geistiges Wesen darauf angelegt, in Freiheit und Selbstbewußtsein sich selbst zu bestimmen und in der Umwelt dieser Selbstbestimmung gemäß zu wirken. 178 Dies liegt auch der sog. Objektformel zugrunde. l79 Sie lautet: Dem Menschen kommt in der Gemeinschaft ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu; deshalb widerspricht es der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. l80 Dieser Bestimmung zufolge haben weite Bereiche des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens einen Bezug zur Menschenwürde. 181 Eine Verletzung liegt jedoch erst vor, wenn die Bedingungen so gestaltet sind, daß dem Betroffenen in der konkreten Situation keine sinnvolle Aufrechterhaltung seines Selbstbewußtseins mehr möglich, und diese Gegebenheit dem Staat zurechenbar ist. 182 Dies ist insbesondere bei einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch den Staat gegeben. 183 Dieses komplexe Verhältnis des menschlichen Selbstbewußtseins zu seiner Umwelt verhindert auch, dem Würdebegriff einen über die Objektformel hinausgehenden, solchermaßen definierten Inhalt zu geben, der einen schlichten Subsumtionsvorgang ermöglicht. l84 Wertende Verfassungskonkretisierungen sind jedoch im Verfassungsrecht keine ungewöhnlichen Erscheinungen.
176 BVerfGE
28, 386 (391). Gedden-Steinacher, 32; Häberle, in: HStR, Bd. I, § 20, Rn. 47 ff. 178 BGH NIW 1961,1397 (1398); Klein, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, Art. I, Rn. 1. 179 In der Sache geht die Objektformcl auf die zweite Fassung des kategorischen Imperativs Kants zurück: Der Mensch ... existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum Gebrauch diesen oder jenen Willens, sondern muß in allen seinen ... Handlungen jedeneit zugleich als Zweck betrachtet werden (GMS, AA, Bd. IV, 428). 180 BVerfGE 50, 166 (175); s.a. den Überblick bei Niebier, BayVBl1989, 737 (741 f.). 181 Häberle, in: HStR, Bd. I, § 20, Rn. 12. 182 Vgl. dazu Kunig, in: v. MünchlKunig, GG, Art. 1, Rn. 24. 183 Quaritsch, in: HStR, Bd. V, § 120, Rn. 134; BVerfGE 45, 187 (228). 184 Kunig, in: v. MünchlKunig, GG, Art. 1, Rn. 22; Starck, in: v. MangoldtlKleinlStarck, GG, Art. I, Rn. 13. 177
11. Die in der Literatur vertretenen Begründungen
45
(bb) Der Bezug der Aussagefreiheit zur Menschenwürde Schon die Entstehungsgeschichte der Vorschrift,l85 die sich als Abkehr und Schutz vor einer Erneuerung der nationalsozialistischen Staatspraxis darstellt,l86 verbietet es, eine Aussagepflicht des Betroffenen im Strafverfahren aus Art. 1 I GG für ableitbar zu halten. Die Begründung für eine Ableitung, die dies gleichwohl versucht,l87 geht davon aus, es sei eine Respektierung der Würde des Menschen, ihm die Verantwortung für sein Fehlverhalten gerade nicht abzunehmen. Es könne von ihm erwartet werden, kraft seines Personseins für die Folgen menschlichen Versagens einzustehen. Diese Argumentation übersieht, daß der nemo tenetur Grundsatz dem Beschuldigten nicht die Folgen für seine Tat abnehmen will, sondern nur die aktive Mitwirkungspflicht. Darüber hinaus verlangen gerade der Sinn und die geistesgeschichtliche Grundlage, die Subjektivität des einzelnen als Bezugspunkt der Menschenwürde zu nehmen, und nicht die Moralitätsvorstellung der Mehrheit. Unter der Geltung des Art. 1 I GG können die Ansichten und der Nutzen der Mehrheit nicht als das objektive Gute gesetzt werden, zu dem der einzelne in seinem eigenen Interesse gezwungen werden darf. l88 Die Garantie der Menschenwürde bedeutet gerade eine Absage an jede Form des Kollektivismus. 189 Aus Art. 1 I GG läßt sich nicht nur keine Aussagepflicht herleiten, er steht vielmehr einer solchen gerade entgegen. Müßte der Betroffene im Strafverfahren gegen sich selbst aussagen, würde er sein Denken, d.h. seine geistige Sphäre, dazu einsetzen, einen herabsetzenden staatlichen Akt, d.h. einen Zugriff auf seine Persönlichkeit, zu ermöglichen, obwohl es gerade diese Persönlichkeit ist, die das Denken trägt. l90 In solch einem gedanklichen Widerspruch 191 kann sich die Selbstreflexion nicht halten, m.a.W., die Mitwirkungspflicht stellt eine ethische Überforderung gerade des Schuldigen dar. 192 Daraus 185 Ausführlich Va/entin, 4 ff.; s.a. Starck, JZ 1981, 457 (457 f.); s.a. Denninger, in: AKGG, Art. 1 I, Rn. 1 ff. 186 Starck, in: v. MangoldtiKleinlStarck, GG, Art. I, Rn. 7; Badura, JZ 1969,337 (341 f.). 187 B/um, 51; Fischer, 97; Paeffgen, 48 Fn. 169; Hartmut Schneider, 49 f.; Günther, GA 1978, 193 (197). 188 Puppe, GA 1978, 289 (299). 189 B/eckmann, 450; Schütz, BayVBI 1991, 615 (616). 190 Noch schlimmer ist es, wenn die Aussage zu außenpolitischen Zwecken erzwungen wird; hier wird der Beschuldigte in besonderem Maße seiner Autonomie beraubt; vgl. zur politischen Justiz gegen Kriegsverbrecher im kommunistischen System Quaritsch, in: FS. f. Armin Mohler, 1995, 271 (274 f.). 191 Diesen Gesichtspunkt übersieht Fischer, 97 ff. 192 Puppe, GA 1978,289 (299).
46
§ 2 Die verfassungsrechtliche Vcrbürgung
folgt nicht nur ein Bezug zur Menschenwürde, der im übrigen i.d.R. nicht geleugnet wird,l93 sondern eine so direkte Zuordnung des Zumutbarkeitsgedankens zu Art. 1 I GG, daß bei Zugrundelegung obiger Begründungen die Zuordnung zu Art. 1 I GG nur davon abhängt, ob man diesem Grundrechtscharakter zuspricht, bzw. als unmittelbar subjektive Rechte vermittelnde Norm begreift. l94 Begründet man den nemo tenetur Grundsatz mit den oben unter 3) b) aa) (S. 39 f.) dargestellten Argumenten der überwiegenden Ansicht, so muß man demnach der selbst gewählten Unbestimmtheit treu bleiben und Art. 1 I GG als wesentliche Grundlage heranziehen. Eine ganz andere Frage ist jedoch, wie überzeugend diese sind. Eine nähere Betrachtung ergibt, daß diese Argumente der überwiegenden Ansicht in dieser Form nicht ausreichend sind. Diese genauere Überprüfung ist auch wegen des Vorrangs konkreter Verfassungsgewährleistungen vor der Heranziehung des Art. 1 I GG geboten. Vor allem das Verhältnis der Garantie der Menschenwürde zur den übrigen Verfassungsbestimmungen (s. o. S. 43) gebietet es, soweit möglich, zunächst die konkreteren Verfassungsgewährleistungen heranzuziehen. bb) Kritik an der herrschenden Lehre Die oben (S. 39 f.) referierten Begründungsansätze des nemo tenetur Prinzips sind zwar weniger im Ergebnis, als vielmehr im Begründungsgang unzureichend. Sie können in dieser Form weder eine Herleitung aus Art. 1 I GG, noch eine aus Art. 1 I, Art. 2 I GG tragen. Die genannten Argumente sind in sich unabgeschlossen. Die Frage, wieso denn nicht auch die Mitwirkungspflicht bei einem Steuerverfahren oder einem sonstigen Verwaltungsverfahren für verfassungswidrig gehalten wird, drängt sich geradezu auf. l95 Die angebotenen Begründungen führen bei wörtlicher Anwendung auch zu der Verfassungswidrigkeit der Mitwirkungspflichten vieler staatlicher Verfahren, obwohl dieses Ergebnis - zu Recht - offensichtlich nicht gewollt ist. So kann zum Beispiel auch die Wahrheitspflicht bei den Steuerangaben (§ 90 I 2 AO) mit gravierenden Nachteilen für den betreffenden Bürger verbunden sein. Diese durch die eigene Mitwirkung herbeizuführen, bedarf erheblicher Selbstüberwin193 BVerfGE 56, 37 (43); BVerfGE 38, 105 (114 f.); BVerfG (ohne weitere Angaben) VkBl 1985,303; BVerfG (3. Kammer des zweiten Senats) wistra 1988, 302 (302 f.). 194 Siehe zum Streit, ob Art. 1 I GG Grundrechtscharakter zukommt einerseits bejahend: BVerfGE 61, 126 (137); Stern, Bd. III/l, § 58 11 5, S. 27; Zippelius, in: BK-GG, Art. I, Rn. 26; anderseits ablehnend Wertenbruch, 31; Geddert-Steinacher, 83 f.; Va/emin, 107, 149; Dürig, in: MaunzlDürig, GG, Art. I, Rn. 4 f. 195 So auch die Kritik bei Ransiek, 47 f.; Puppe, GA 1978,289 (299).
ß. Die in der Literatur vertretenen Begründungen
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dungskräfte, an denen es den Betroffenen oft mangelt. 196 Wieso greift das Verbot, den Bürger zum Objekt einer staatlichen Maßnahme zu machen, bei der Mitwirkungspflicht im Strafverfahren oder Ordnungswidrigkeitenverfahren ein, aber - wie allgemein bekannt - nicht bei dem Steuerverfahren oder der polizeilichen Zustandshaftung? Diese Frage läßt sich auch für das Argument der notwendigen inneren Freiheit stellen; wieso berührt die Offenbarung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten diese Freiheit in anderer Weise als die Offenbarung von Steuertatbeständen oder von Gründen im Sinne des § 35 I 1 GewO ? In diesen Verfahren wird der Betroffene auch zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht. l97 Zudem wird in einem Steuerverfahren und in einem Konkursverfahren gerade die Offenbarung von Straftaten verlangt. Es ist daher nicht die Offenbarung als solche, sondern die Mitwirkung zum Strafverfahren, die den Schutz des nemo tenetur Prinzips auslöst. 198 Die Antwort auf all diese Fragen läßt sich, abstrakt gesprochen, leicht geben. Es ist die Besonderheit der Eingriffe in Form von Strafe und Geldbuße, die den Schutz des nemo tenetur Grundsatzes auslöst und auf die jene Begründung stillschweigend zugeschnitten ist. l99 Man kann aber die Besonderheiten des Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahrens nicht verstehen, ohne die Besonderheit der Sanktionen, die diesen Verfahren zugeordnet sind, zu berücksichtigen. 200 Wer die Strafe und die strafähnlichen Sanktionen als Eingriffe versteht, die sich von den sonstigen staatlichen Eingriffen nur in der Quantität der Belastung, jedoch nicht in der Qualität des Rechtsgüterzugriffs unterscheiden, kann den nemo tenetur Grundsatz nicht erklären. 201 Der qualitativ andere Status des von der Strafe Bedrohten läßt sich auch daran sehen, daß die StPO gegen den Beschuldigten nur unmittelbaren Zwang zuläßt, während im Verwaltungsvollstreckungsrecht der unmittelbare Zwang nur als letztes Mittel angewendet werden darf (vgl. zum
196 So Günther, GA 1978, 193 (194) als Begründung für den nemo tenetur Grundsatz; wieso wegen dieser Begründung nicht auch die aktiven Mitwirkungspflichten im Steuerrecht abgeschaffl werden müßten, erklärt er jedoch nicht. 197 So aber Dingeldey, JA 1984,407 (409) für den nemo tenetur Grundsatz. 198 Das übersieht Hanmut Schneider, 47 f.; Günther, GA 1978, 193 (196 f.). 199 Peres, 120; Puppe, GA 1978,289 (229). Sieht man in diesen Sanktionen im Verhältnis zu anderen nachteiligen Folgen für den Bürger, wie Steuerbelastungen, nur graduelle Unterschiede, dann ist es nur konsequent, den Grundsatz des nemo tenetur Prinzips einzuschränken; so Fischer, 101 ff. 200 Dagegen ohne wesentlichen oder ganz ohne Bezug zur Sanktion Strafe: Müller-Boysen, 96 ff.; Schramm, 48 ff.; Hanmut Schneider, 40 ff.; Dingeldey, JA 1984,407 (409); Rogall dagegen weist zu Recht darauf hin, daß der Schutz der eigenen Ehre und der eigenen Existenz, um die es im Strafverfahren gehe, ein völlig legitimes Anliegen sei, S. 14. 201 Ransiek, 47 f.
48
§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
Beispiel: § 12 VwVG).202 Läßt man diese Besonderheit der Strafe und den Bezug des nemo tenetur Prinzips zu dieser Besonderheit offen und zieht auch noch Art. 1 I, Art. 2 I GG oder Art. 1 I GG als Grundlage heran, bei denen wegen deren Weite die Subsumtion von vornherein schwerfälIt, überrascht es nicht, wenn genau das als Ergebnis erzielt wird, was als Begründung hineingegeben wurde. 203 Als Zwischenergebnis läßt sich daher festhalten, daß die bisher gebotenen Begründungsansätze zwar überwiegend in ihren Ergebnissen plausibel und nachvollziehbar sind; sie können dennoch nicht übernommen werden, da ihre Argumentation die entscheidende Begründung nicht leistet, die sich erst dann eröffnet, wenn man den Bezug zur Besonderheit der Sanktion herstellt, um die es primär geht, nämlich die Strafe. 204 Erst die Konkretisierung der Begründung auf die Strafe entspricht der oben genannten Struktur des Begriffs der Menschenwürde. Diese setzt voraus, daß der aus der Subjektivität stammenden Kraft der Selbstorientierung eine genügend nach Lebenssachverhalten spezialisierte Gliederung des Zusammenlebens, in Form von "Rechtsprinzipien", zur Verfügung steht. 205 Es gilt demnach, das in der Strafgewalt des Staates liegende "Rechtsprinzip" zu erarbeiten. Macht man sich diese Mühe, dann werden sich qualitative Strukturen für die Ermöglichung der Selbstorientierung durch die konkrete Rechtsordnung bestimmen lassen, die eine Erweiterung der im Strafrecht gefundenen Grundsätze in andere Rechtsgebiete hinein ermöglichen (s. unten § 6 [Ausblick)). Es wird sich zeigen, daß die dem nemo tenetur Prinzip zugrundeliegende Struktur über das Rechtsstaatsprinzip eine allgemeine Bedeutung erlangt.
202
Reiß, 177. Rogall, 145 und 147 f.; Müller-Boysen, 92 f. und 96 ff.
203 Siehe 204
So auch Kühl, 14 ff. zur Unschuldsvermutung.
205 Siehe zur Freiheit des einzelnen als Grund und Grenze des Staates bei Kant jüngst
mann, Staat 34 (1995), 1 (14 f.).
Hof-
m. Lösungsvorschlag
49
m. Lösungsvorschlag 1. Kriminalstrafe
a) Äußerliche Betrachtung der Kriminalstrafe aa) Die einzelnen Gesichtspunkte Bei einer äußerlichen Betrachtung der Strafe fällt zunächst ihr Sanktionscharakter auf; d.h. sie knüpft allein an das Vorliegen einer tatbestandlichen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung an. Sie reagiert auf diese, ohne eine Wiederherstellung der äußeren Güterwelt zu bewirken, oder einen Verwaltungszweck zu verfolgen. 206 Die Bestrafung eines Diebstahls oder einer Sachbeschädigung bringt dem Opfer nicht die Sache zurück bzw. deren Wert; dafür existieren die zivilrechtlichen Instrumente. 207 Auch regelt die Strafe nicht primär das geordnete Miteinander im Staatsverband wie das Verwaltungsrecht. Selbst wenn man das Unterbleiben von Verletzungen strafrechtlich geschützter Güter als Verwaltungszweck ansähe, wären nicht die Strafe, sondern höchstens die Maßregeln der Besserung und Sicherung die diesem Zweck dienenden Instrumente. 208 Diese Begründung soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Strafe auch der Verhinderung künftiger Straftaten dienen soll und muß;209 dennoch ist sie mit dieser Funktion allein nicht zu erklären, wie der Unterschied von Strafe und Maßregeln zeigt. Die Sanktion ist einerseits Ld.R. mit einer Minderung eines Teils der äußeren Rechtsgüter des Täters in Form von Geldstrafe oder Freiheitsentzug verbunden. Aus der Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung gern. §§ 56 ff. StGB und dem in bestimmten Fällen die Strafe ersetzenden Institut der Verwarnung unter Vorbehalt einer bestimmten Strafe gern. § 59 I StGB210 sowie dem Absehen von Strafe gern. § 60 S. 1
Vgl. die §§ 38 ff. StOB (Rechtsfolgen der Tat). Jean-Claude Wolf, 84. 208 Frisch, ZStW 102 (1990), 343 (358). 209 Schwan, VerwArch 70 (1979), 109 (122). An dieser Stelle sei angemerkt, daß Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (830 f.) zu Recht kritisiert, daß Schuld und Prävention im Modell der h.M. als beziehungslos gegenüberstehende Größen gedacht werden - zustimmend Tiemeyer, ZStW 100 (1988), 527 (565). Dadurch versperrt man sich die Möglichkeit, das präventive Element einer schuldausgleichenden Strafe richtig zu erfassen - s. dazu etwa Kunz, a.a.O., S. 834 ff. 210 Dazu jüngst ausführlich Schöch, in: FS. f. Jürgen Baumann, 1992,255 ff.; Dölling, ZStW 104 (1992), 259 (269 ff.). 206
2(J/
4 Wolff
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
StGB ergibt sich, daß die Rechtsgütenninderung nicht das primäre mit der Strafe verfolgte Ziel ist. Diese Rechtsgütenninderung dient vielmehr dazu, die durch die Strafe ausgesprochene hoheitliche sozialethische Mißbilligung des schuldhaften Verhaltens zu verdeutlichen und gegebenenfalls zu verwirklichen. 21I Der Betroffene wird durch ein Strafurteil in den Rechtsstatus des "Bestraftseins" versetzt. An diesen Rechtsstatus knüpft die gesamte Rechtsordnung in vielfältiger Weise an. Es handelt sich dabei um Rechtsfolgen, die nicht Gegenstand des Rechtsfolgenausspruchs des Strafurteils selbst sind, sondern an den Zustand des "Bestraftseins" und der damit verbundenen rechtlichen Statusminderung anknüpfen. So ist ein Bewerber, der in nicht unerheblichem Maße vorbestraft ist, für das Beamtenverhältnis nicht geeignet,212 kann Ehrenämter nicht bekleiden,213 bekommt keine Orden,214 wird, falls er Ausländer ist, in aller Regel abgeschoben,215 bzw. wird selbst bei der neuen erleichterten Einbürgerungsmöglichkeit nicht eingebürgert. 216 Darüber hinaus hat eine strafrechtliche Verurteilung, sofern ein gewisser Sachbezug besteht, fast immer Einfluß auf die Zuverlässigkeit oder Geeignetheit, die zahlreiche Gesetze bei den inhabern von Genehmigungen,217 Berufen218 oder Titeln219 verlangen. Diese durch das Strafurteil bewirkten Folgen beruhen auf dem Umstand, daß dem Betroffenen sein Verhalten zum Vorwurf gemacht wird. Die objektive Verletzung des Straftatbestandes allein löst daher die Strafsanktion noch nicht aus. 220 Hinzutreten muß noch die Schuld, d.h. ein "Dafürkönnen". 221 Dieses Erfordernis wird
Kühl, 14 ff. m.w.N.; Köhler, Begriff, 51. § 9 I Nr. 2; § 24 I Nr. 1 BRRG; § 48 BBG; § 45 I StOB. Im Arbeitsrecht kann selbst eine Straftat im Bereich außerhalb des dienstlichen Bereichs zur außerordentlichen oder personenbedingten Kündigung führen, vgl. v. Hoyningen-Huene, in: Heucklv. Hoyningen-Huene, KüSchG, § I, Rn. 255; Schaub, § 13011 Nr. 33 u. Nr. 9, § 125 VII Nr. 37. 213 Siehe etwa § 32 Nr. 1 GVG und § 45 I StOB. 214 Siehe § 4 S. lOrdenG. 215 § 47 lAusiG. 216 § 85 I Nr. 4, § 86 I Nr. 2 LV.m. § 88 AusiG. 217 Siehe nur § 35 I 1 GewO (vgl. dazu Mare/es, in: Landmann/Rohmer, GewO, § 35, Rn. 37 ff.); § 5 I Nr. 3 BtMG (vgl. dazu Körner, BtMG, § 5, Rn. 3); § 8 I LV.m. § 5 11 WaffG (vgl. dazu Steindoif, WaffG, § 5, Rn. 13 ff.). 218 § 7 Nr. 5 BRAO (vgl. Feuerich, BRAO, § 7, Rn. 39 a.E.). 219 Vgl. z.B. § 11 Nr. 3 der PromO der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Ld.F.v. 17.08.1989) LV.m. § 4 I b) des Gesetzes über die Führung akademischer Grade v. 07.06.1939 (RGBI. I, S. 985). 220 Siehe §§ 16 I, 11, 17, 20 StGB (Irrtum über Tatumstände, Verbotsirrtum, Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen). 211
212 Siehe z.B.
m. Lösungsvorschlag
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über die Garantie der nulla poena sine culpa verfassungsrechtlich abgesichert, welche wiederum von der hier zugrundegelegten überwiegenden Ansicht aus Art. 1 I, Art. 2 I GG LV.m. dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird. 222 Als weiteres Element läßt sich festhalten: Bei dem auf Feststellung über die Schuld gerichteten Verfahren tritt selbst bei Verletzungen von Individualrechtsgütern dem Straftäter nicht das Opfer, sondern der Staat gegenüber. 223 Der staatliche Strafverfolgungsanspruch wird auch dann durchgesetzt, wenn die Rolle der Staatsanwaltschaft vom Opfer in dem Privatklageverfahren gem. §§ 374 ff. StPO übernommen wird. 224 Weiter sanktioniert die Strafe nicht jede Rechtsverletzung, sondern nur dann, wenn ein bestimmtes Gesetz dies vorschreibt, Art. 103 11 GG (s. a. § 1 StGB). Die Strafe reagiert auf die Verletzung qualiftzierter Rechtsgüter .22S Als letztes Merkmal fällt auf, daß der Strafausspruch immer auf einem Richterspruch beruht und dies verfassungsrechtlich durch Art. 92 GG gefordert wird. 226 bb) Zwischenergebnis Strafe läßt sich daher fassen als die auf Gesetz beruhende, durch einen (hoheitlich handelnden) Richter ausgesprochene staatliche mißbilligende Sanktion einer vorwertbaren qualiftzierten Rechtsgutsverletzung durch den Täter. 221
221 BGHSt 2, 194 (200); Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 13 ff., Rn. 118. Zu der Frage der Willensfreiheit und der Determination des Menschen s. statt vieler Dreher, universitas 44 (1989), 1040 ff. 222 BVerfGE 80, 244 (255); BVerfGE 58, 159 (163); BVerfGE 57, 250 (275); BVerfGE 20, 323 (331); BVerfG NJW 1994, 1577 (1579); s.a. Miehe, 97. 223 Vgl. §§ 151, 152 I StPO (Anklagegrundsatz und Anklagebehörde). 224 BVerfGE 74, 358 (374 f.); Eberhard Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 5 f.; Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, Vor § 374, Rn. 5. 225 BVerfGE 88, 203 (257 f., 273); BVerfGE 45, 187 (254); s.a. jüngst BVerfG NJW 1994, 1577 (1578); Kindhäuser, GA 1989, 493 (494 f., 505 f.); Otto, in: GS. f. Horst Schröder, 1978, 53 (55). 226 BVerfGE 27, 36 (40); BVerfGE 27, 18 (28); BVerfGE 22, 125 (130); BVerfGE 22, 49 (79 ff.); Paeffgen, 67; Eberhard Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 7 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 92, Rn. 2. 221 Jean-Claude Wolf, 18, definiert Strafe als Übel, welches einem Gesetzesbrecher von einer menschlichen Instanz absichtlich zugefügt werde, wobei diese Instanz von der Rechtsordnung autorisiert ist, deren Gesetze der Täter verletzt hat.
52
§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
b) Strafe als staatliches Sanktionsmittel
aa) Die materiellen Anforderungen an die Strafe Versucht man, den Grund für die Sanktion anzugeben, stößt man auf eine fast unübersehbare Flut von wissenschaftlichen Stellungnahmen. Es wurde eine Fülle von Konzeptionen herausgebildet. 228 Die unterschiedlichen Positionen differenzieren in dem Umfang, in dem sie die Strafe dem Zweck des reinen Schuldausgleichs, 229 der Spezialprävention230 oder der Generalprävention, 231 in ihrer abschreckenden Funktion (sog. negative Generalprävention) oder ihrer normstützenden Funktion (sog. positive Generalprävention)232 zuweisen. Die überwiegende Ansicht - sog. Vereinigungstheorie - sieht den Zweck der Strafe in einer Kombination aller drei Zweckelemente. 233 Für die hier interessierende Fragestellung des Zusammenhangs zwischen Strafe und nemo tenetur Grundsatz muß der genauen Strafzweckbestimmung nicht nachgegangen werden. Es genügt festzuhalten, daß die Strafe nach ganz überwiegender Ansicht zumindest auch eine schuldausgleichende Funktion hat. 234 Mit dieser Feststellung nämlich ist die ausschließliche Begründung der Strafe bloß von ihrer Wirkung in der Zukunft, im Sinne der präventiven Theorien, verneint. Es bedarf jedenfalls auch einer Rechtfertigung von der Schuld her,235 das ist die Verbundenheit des Täters mit der in dem selbstverantwortli-
Vgl. z.B. die Literaturangaben beiJakobs, AT, S. 1 - 5 und Roxin, Strafrecht, 26 - 28. ZStW 98 (1986), 823 (834 ff.). 230 MaurachlZipf, § 7, Rn. 9, S. 83. 231 Noll, in: FS. f. Hellmuth Mayer, 1966,219 (223 ff.). 232 Jakobs, Schuld, 8 ff.; ders., AT, 1. Abschn., Rn. 4 ff. 233 Frisch, ZStW 102 (1990), 343 (359 ff.); Lackner, StGB, § 46, Rn. 2; Jescheck, in: LKStGB, Eint., Rn. 24 ff.; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 38 ff., Rn. 2; Horn, in: SKStGB, § 46, Rn. 6. Die unterschiedlichen Ansichten über die Strafzwecke setzen sich in den unterschiedlichen Ansichten über den Schuldbegriff fort - s. etwa ausführlich Noll, in: FS. f. Hellmuth Mayer, 1966, 219 (222 ff.); Otto, GA 1981, 481 ff.; TIemeyer, ZStW 100 (1988), 527 (547 ff.); vgl. aus der Rspr. BVerfGE 45, 187 (253 ff.); BVerfGE 32, 98 (109); BVerfGE 28, 264 (278), dazu Benda, in: FS. f. Hans Joachim Faller, 1984, 307 (308); und jüngst statt vieler BVerfGE (2. Kammer des zweiten Senats) NJW 1995, 713 (713). 234 Stree, in dubio, 16; ders., Deliktsfolgen, 53; Müller-Dietz, Grenzen, 31 f.; Jakobs, Schuld, 1 ff.; Sax, in: Bettermann/Nippcrdey/Scheuner (Hrsg.), Bd. 3 Hbd. 2, S. 909 (934); Otto, in: GS. f. Horst Schröder, 1978, 53 (54); Schöneborn, ZStW 92 (1980), 632 (697); MaurachlZipf, AT, § 7, Rn. 11, S. 83 f.; Jescheck, in: LK-StGB, Eint., Rn. 27. 235 Siehe statt vieler Noll, in: FS. f. Hellmuth Mayer, 1966, 219 (231); Müller-Dietz, in: FS. f. Hans-Heinrich Jescheck, Bd. n, 1985,813 (824). 228
229 Kunz,
m. Lösungsvorschlag
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ehen Willen begründeten Tat. 236 Die Schuld muß dabei in einer den Täter schon vor der Tat ergreifenden Verbindlichkeit dem anderen gegenüber ihren Grund haben. Die älteren Straftheorien fanden die Basis dieser Verbindlichkeit direkt in einem Absoluten, in der Gestalt des christlich begriffenen Gottes. 237 Die heutigen Lehren fmden wiederum überwiegend in der Evidenz des Schuldausgleiches selbst und in der offensichtlichen Unvollständigkeit einer Präventionstheorie ihre ausreichende Legitimation. 238 Bei diesem Vorgehen bleibt meist der Kern der Schuld unbestimmt, und der Verweis auf das Schuldprinzip wird zu einem Verweis auf ein abstraktes Prinzip.239 Was unter einer schuldangemessenen Strafe zu verstehen ist, bleibt offen. 24O Da die strafrechtliche Schuld aber das Element ist, das die Strafe von den übrigen staatlichen Sanktionen qualitativ unterscheidet, dürfen deren Grundlagen für eine Herleitung des nemo tenetur Prinzips nicht offenbleiben. Die neueren Versuche, dieses abstrakte Element genauer zu erklären, wenden sich, soweit ersichtlich, fast ausschließlich241 von der praktischen Philosophie Kants242 - und deren Veränderungen durch Fichte243 und HegeF44 - ihren Ausgang nehmend, auf den einzelnen zurück. 24s Sie legen ihn mit dem absoluten Moment seiner praktischen Einsicht ihren Überlegungen zugrunde. 246 Die durch eine kritische Reflexion ermöglichte Selbststeuerung, wie sie im katego236 Frister,
16 ff.; Lampe, in: FS. f. Jürgen Baumann, 1992,21 (25).
237 Jescheck, 56 f. und 63. 238 Besonders deutlich wird dies in der Argumentation etwa bei Frister, 14 f., 25 ff.; Roxin,
JuS 1966, 377 (381 ff.); Roxin, SchwZfStr 104 (1987), 356 (372); und bei Welzel, 241; s.a. Stree, Deliktsfolgen, 39 f.; Rüdiger Schäfer, 164 f.; Müller-Dien, in: FS. f. Hans-Heinrich Jescheck, Bd. ß, 1985, 813 (824); Otto, GA 1981,481 (494 ff. - Verweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) - kritisch zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in diesem Zusammenhang Seelmann, Jura 1980, 505 (510); Arthur Kaufmann, Jura 1986, 225 (227 f.); Stree, in: Schönke/Schröder, StOB, Vor. §§ 38 ff., Rn. 3: ("Vorbeugen durch gerechte Vergeltung", wobei offen bleibt, was "gerecht" ist); Jescheck, in: LK-StGB, Einl., Rn. 27. 239 Kritisch auch das Urteil bei Felix Henog, 137; Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (828 ff.); Griffel, GA 1989, 193 (205); s.a. Seelmann, Jura 1980, 505 (508). 240 Stree, in: Schönke/Schröder, StOB, Vor §§ 38 ff., Rn. 6. 241 Felix Henog, 104 ff.; Sproß, 324 ff.; s. a. auch Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (830 ff.) der von einem Diskursmodell ausgeht. 242 Zu den allgemeinen Grundlagen vgl. insbes. die GMS Teil 3; für das Recht vgl. die MdS insbes. Einleitung der Rechtslehre B 2, AA, S. 273 ff. und die §§ 41 ff., AA, S. 305 ff. 243 Fichte, vgl. schon § 1, S. 17 ff. und § 20 ff., S. 253 ff. - s. dazu ZLlczyk, Strafrecht, 104 ff. 244 Vgl. die berühmte Stelle des Strafbegriffs in Hegels Rechtsphilosophie, § 90 s.a. auch § 218 und § 220; vgl. dazu Felix Henog, 72 ff.; Klesczewski, 232 ff. 24S Sie werden mitunter einer modemen absoluten Straftheorie zugeordnet - vgl. Lackner, StGB, § 46, Rn. 2. • 246 Instruktiv Hofmann. JZ 1992, 165 (169).
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
rischen Imperativ beschrieben ist, wird zum entscheidenden Element menschlichen Daseins. Im Recht wird sie in einem äußeren Verhältnis genauer gefaßt. Danach hat der Schuldausgleich zum Ziel, die durch die Tat erfolgte Überhebung247 auszugleichen248 und so ein faires Gleichgewicht der Menschen untereinander herzustellen. 249 Die Überhebung erfolgt einmal dem direkten Opfer gegenüber,2S0 zum anderen aber - durch die Verletzung der das staatliche Miteinander konstituierenden elementaren Rechtsordnung - auch der Allgemeinheit gegenüber. 151 Der Vorwurf ist nur berechtigt, wenn schuldhaftes Handeln, d.h. eine steuerbare Entscheidung für das Unrecht, vorliegt. 152 Der Ausgleich für diese Verletzung des elementaren Gleichheitssatzes erfolgt wiederum durch unmittelbaren Zugriff auf die Persönlichkeit. 153 Dem Täter wird partiell sein Achtungsanspruch entzogen, um so das durch das Verbrechen erfolgte Ungleichgewicht des allgemeinen gegenseitigen Anerkennungsverhältnisses wieder auszugleichen. 154 Auf diese Weise wird auch das für die Wirkung der Strafe notwendige Dialogverhältnis wieder hergestellt. 155 Der Staat tritt demnach hier dem einzelnen als Einheit gegenüber156 und entzieht ihm partiell den allgemeinen Gleichheitsstatus hinsichtlich des Achtungsanspruchs. Der einzelne wird nicht aus dem Staatsverband hinausgestoßen,157 aber in einen verminderten Rechtsstatus versetzt,158 an den die Rechtsordnung in vielfältiger Weise anknüpft. 159 Dieser partielle Rechtsverlust gilt auch nicht für immer. So unter247 Köhler, Fahrlässigkeit, 325; Zacrsk, Unrecht, 198 ff.; Felix Herzog, 131 ff.
248 Köhler, Begriff, 50 f.; lAmpe, in: FS. f. Jürgen Baumann, 1992,21 (25); WoljJ, ZStW 97 (1985), 786 (820). 249 Jean-Claude Wolf, 76. 150 Insofern sind die Bestrebungen, die direkten Beziehungen von Täter und Opfer wieder stärker zu berücksichtigen, systemgerecht, s. dazu: RO:A:in, in: FS. f. Jürgen Baumann, 1992,243 (246 ff.); ders., in: FS. f. Peter Lerche, 1993, 301 (303 ff.); Dölling, ZStW 104 (1992), 259 (282 ff.). 151 Köhler, Begriff, 31 f.; Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (819); Dölling, ZStW 104 (1992), 259 (282 ff.). 152 Geddert-Steinacher, 157; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem §§ 13 ff., Rn. 118. 153 Schmidt-Aß11Ul1I1I, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103, Rn. 165. 154 Sproß, 391; WoljJ, ZStW 97 (1985), 786 (822). 155 WoljJ, ZStW 97 (1985), 786 (821). Diesen, auf die Wiederherstellung des gebotenen rechtlichen elementaren Gleichheitsverständnisses gerichteten Strafzweck hält Schünemann, in: HirschlWeigend (Hrsg.), 147 (156) für Racheausübung. 156 Köhler, Begriff, 52. 157 Köhler, Begriff, 53; s.a. Zacrsk, Strafrecht, 111. 158 Wolff, ZStW 97 (1985), 786 (822); Eberhard Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 30: An die Stelle des rechtlichen Zustandes des "Nicht-Bestraftseins" tritt der rechtliche Zustand des "Bestraftseins" . Das verurteilende Strafurteil wirkt also konstitutiv oder rechtsändernd. 159 Siehe oben S. 50.
m. Lösungsvorschlag
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liegt sowohl die Straftat einer Verfolgungsverjährung (§§ 78 ff. StGB) als auch die Möglichkeit, an eine Verurteilung weitere Nachteile zu knüpfen, gewissen zeitlichen Grenzen (§§ 45 ff LV.m. §§ 51 f. BZRG).260 Wegen dieses Zugriffs auf seine Persönlichkeit wird der Betroffene in besonderem Maße in seiner Individualität zum Gegenstand einer staatlichen Maßnahme gemacht. 261 Er wird nicht primär in seiner Funktion als Mitglied einer staatlichen Gemeinschaft angesprochen, die den Staat konstituiert und gleichzeitig von diesem verwaltet und geordnet wird, sondern in der davor liegenden Funktion der Bildung dieser Gemeinschaft und der Eingliederung in diese. Der Betroffene wird so stark durch keine andere staatliche Maßnahme in seiner persönlichen Selbständigkeit getroffen. 262 Daher greifen besondere Sicherungen ein, die ihm in seiner Funktion als Mitglied der zu verwaltenden Rechtsgemeinschaft nicht zukommen. 263 So versteht es sich, daß nicht jede Rechtsverletzung eine Strafsanktionierung rechtfertigt. Sowohl bei der Frage des "Ob" der Strafe, als auch bei der Frage des Strafmaßes muß ein strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab eingehalten werden. 264 Nur qualiflZierte Unrechtsverletzungen dürfen zu Straftatbeständen gefaßt werden. 26S Zudem muß die Frage der Art und des Umfangs der Sanktion wegen deren Besonderheit in weitgehendem Maße vom Gesetzgeber getragen werden (Art. 103 11 GG).266 bb) Die verfahrensrechtlichen Folgerungen
(a)
Die Anerkennung der Selbständigkeit des Beschuldigten im Strafprozeß
Die besonderen Sicherungen beschränken sich nicht nur auf die materiellrechtlichen Grundlagen der Strafe, sondern erstrecken sich auch auf die ver260 Siehe zu den Löschungsfristen im BZRG - Rebf1lil1llllUhlig, BZRG, Einl., Rn. 59 f. und 68 f.) und zur Verjährung - z.B. Stree, in: Schönke/Schröder, StOB, Vorbem. §§ 78 ff., Rn. 3. 261 Zaczyk, Strafrecht, 112; Wolf!, in: Hassemer (Hrsg.), 137 (208 ff.); Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 113. 262 Frister, 14; Kühl, 12. 263 In anderer Weise, aber ähnlich, wirkt ein Grundrechtsentzug nach Art. 18 GG. Siehe dazu BVerfGE 25, 88 (99); Hartmann, AöR 95 (1970), 567 (576). Auch hier wird der Betroffene in spezifischer Weise in einer der Gleichheit des Staatsvolkes vorgelagerten Sphäre erfaßt; konsequent wird auch in diesem Verfahren keine Mitwirkungspflicht des Betroffenen normiert. 264 BVerfG NJW 1994, 1577 (1578 f.); BVerfGE 88, 203 (258). Das Verhältnis des Schuldgrundsatzes zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist bisher ungeklärt. 265 Otto, in: GS. f. Horst Schröder, 1978,53 (54 f.); s. zur Konkretisierung des qualifIZierten Unrechts Zaczyk, Unrecht, 208 f.; Woljf, in: Hassemer (Hrsg.), 137 (194 ff.). 266 Schmidt-Aßf1Iil1III, in: MaunzlDürig, GG, Art. 103, Rn. 165.
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
fahrensrechtlichen Anforderungen des Strafprozesses. 261 Die verfahrensrechtliche Verbürgung der richterlichen Entscheidung (Art. 92 GG) und der Einmaligkeit der Entscheidung über den gleichen Sachverhalt (Art. 103 III GG) tragen dem Rechnung. 268 Im Strafrecht setzen sich im besonderen Maße die materiellen Anforderungen, die an den Zugriff auf die Selbständigkeit der Person gestellt werden, in den Prozeß fort. 269 Deutlich sichtbar wird dies an der verfassungsrechtlich abgesicherten und in Art. 611 EMRK und Art. 1411 IPBPR verbürgten Unschuldsvermutung. Sie verlangt gerade, daß auch der Täter, dem eine Straftat vorgeworfen wird, als unschuldig zu behandeln ist, bis ihm seine Schuld in einem rechtsstaatlichen Verfahren nachgewiesen ist. Erst durch das gerichtliche Urteil wird der verminderte Rechtsstatus verwirklicht. 21O Dann muß dem Straftäter aber im Strafverfahren noch die Position gewährt· werden, um die es geht, nämlich seine Selbständigkeit. 211 Dies wird auch durch den Grundsatz der Waffengleichheit im Strafverfahren zum Ausdruck gebracht. 272 Aus der Notwendigkeit, den Straftäter wegen der in Aussicht stehenden Sanktion in besonderem Maße im Strafverfahren als Selbständigen zu betrachten, folgt die Garantie des nemo tenetur Prinzips. Selbständigkeit im Prozeß heißt, ihn von jeglichen Pflichten inhaltlicher Art freizustellen. Der Beschuldigte tritt der Rechtsgemeinschaft gegenüber und muß diese daher auch nicht unterstützen.
Die verfahrensrechtliche Voraussetzung zur eigenen Unrechtseinsicht
(b)
Eine weitere Überlegung vertieft die besondere Selbständigkeit des Beschuldigten. Die Strafe soll den Täter dazu bewegen, in einem eigenen VemunftVolk, ZStW 83 (1971), 405 (431). Siehe dazu Henning Müller, 17 f. 269 Felix Henog, 123 f.; Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (835 f.). Siehe zur Wechselwirkung von materiellem Recht und formellem Recht im Strafprozeß Zaczyk, GA 1988, 356 (360 f.); Henkel, 17; Peters, 7; Schlüchter, Rn. 367. 210 Zaczyk, GA 1988, 356 (364); ders., StrVert 1993, 490 (491 f.); Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 113; Eberhard Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 29 ff. 211 Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1207); Zaczyk, GA 1988, 356 (364). 212 Daher wird der nemo tenetur Grundsatz völlig zu Recht mit dem fair trail Grundsatz in Verbindung gebracht. Da jedoch dessen Geltung sich auch auf das Zivilrecht und das Verwaltungrecht erstreckt, geht es bei diesem mehr um eine systemimmanente Weiterbildung der jeweiligen Verfahrensordnung und der formellen Rechte, während das nemo tenetur Prinzip ein konstituierendes Prinzip gerade des Sanktionsverfahrens ist, so daß der fair trail nicht die ausreichende Grundlage der Mitwirkungsfreiheit bildet. 261
268
m. Lösungsvorschlag
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schluß das Unrecht der Tat zu begreifen und ihn so veranlassen, das allgemeine gegenseitige Anerkennungsverhältnis wieder aufzunehmen. 273 Diesen Vernunftschluß kann er aber nur fassen, wenn er die eigene Verurteilung für sich verobjektivieren kann,274 d.h. er muß sich selbst, seine Tat, zum Gegenstand seiner Überlegungen machen können. Dies setzt voraus, daß er die Rolle eines Selbständigen eingeräumt bekommt. 275 Eine Pflicht zur Mitwirkung an der eigenen Herabsetzung der Person würde voraussetzen, daß der Vorwurf der anderen, seine Tat sei falsch und sie müsse mit Sanktionen belegt werden, für den Täter schon feststehe. Ein Mensch kann aber nicht sein eigenes Handeln, das er durch sein Tun als richtig setzt, gleichzeitig als unrichtig und daher persönlichkeitsmindernd anklagen, es sei denn, er hat seine alte Handlungsposition aufgegeben. Rechtlich ist er zu dieser Aufgabe aber erst nach dem Urteil und nicht schon vorher aufgefordert. 276 Eine grundsätzliche Mitwirkungspflicht würde zu einer in sich widersprüchlichen Rechtsstellung führen. 277
(c) Das Gegenübertreten des Staates und des einzelnen nach der Staatsvertragstheorie als Verdeutlichung Wegen dieses Bezuges der Strafe zur Stellung des einzelnen im Verhältnis zum Staat überrascht es nicht, daß bei den einzelnen strafprozessualen Prinzipien wie dem Schuldgrundsatz und der Unschuldsvermutung nicht allein die Grundrechte herangezogen werden, sondern auch das Rechtsstaatsprinzip.278 Dies geschieht nicht etwa deshalb, weil sich aus den Grundrechten allein die Garantie nicht plausibel ableiten ließe. Es erfolgt vielmehr deshalb, weil trotz des starken Individualbezuges der Strafe für den Betroffenen auch immer das Staatsgefüge bei Verhängung der Strafe betroffen ist. 279 Aus diesem Grund hat die Theorie des Staatsvertrags mit der Erklärung des nemo tenetur Prinzips keine Schwierigkeiten. 280 Dem Betroffenen wird bei dieser Sichtweise vorge273 Köhler, Begriff, 52 f.; Smid, 191; Jean-Claude Wolf, 85; Arthur Kaufmann, Jura 1986, 225 (231); s.a. Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (834). 274 Sproß, 391; Wolf!, ZStW 97 (1985), 786 (821 f.). 275 Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (835 f.). 276 Peres, 121; ähnlich Pfenninger, in: FS. f. Theodor Rittler, 1957,355 (369). 277 Siehe a. Eberhard Schmidt, NJW 1969, 1137 (1139): dem Menschen würde Übermenschliches abverlangt. 278 Hartmul Schneider, 40 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG; Art. 20, Rn. 70 f. 279 Instruktiv insofern Paeffgen, 64 ff.; bzgl. des Strafverfahrens Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1181). 280 Gerhard Bauer, 41. Ausführlich zu den Staatsvertragstheorien Beccaria, Kapitel XVI, S. 92 ff. und XXX, 137 ff.; Klieml, 31 ff.
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
worfen, den Staatsvertrag verletzt zu haben, und es wird deshalb auf seinen vorvertraglichen Rechtsstatus zugegriffen, in welchem er, nicht in die staatlichen Pflichten eingebunden, als Selbständiger existiert. 281 Geschichtlich geht die Anerkennung daher auch mit der Anerkennung der Selbständigkeit der Bürger trotz des Eingebundenseins in staatliche Pflichten einher; verkürzt ausgedrückt, mit dem Übergang vom "Wohlfahrtsstaat" zum "Nachtwächterstaat" .282 Im Strafverfahren muß dann dem Selbständigen, der die Frage der Verletzung des Staatsvertrages für seine Person soll ungebunden verhandeln können, wenigstens dem Gedanken nach ein Vertreter des Vorwurfes der Vertragsverletzung entgegengesetzt werden. Die Einführung der Staatsanwaltschaft fällt, geschichtlich ebenfalls verständlich, mit der Einführung des nemo tenetur Prinzips zusammen. Auch die Abschaffung der Lügenstrafe beruht auf dem gleichen Gedanken und erfolgte gleichzeitig mit der Einführung der Staatsanwaltschaft. 283 (d)
Pragmatische Gesichtspunkte
Weil sie sachangemessen ist, kann sich die Aussagefreiheit auch als instrumental richtig erweisen. Der nemo tenetur Grundsatz stellt gleichzeitig eine verfahrensrechtliche Sicherung zur Feststellung des wahren Sachverhaltes dar. Er bewirkt eine Kumulierung der Vorzüge der Amtsermittlung mit denen des Verhandlungsgrundsatzes. 284 Einerseits verpflichtet die StPO die staatlichen Organe zur Objektivität und läßt andererseits noch zusätzlich die freie Gegenrede oder genauer das pflichtenfreie, allein von dem eigenen Interesse geprägte Verhalten des Betroffenen zu, mit dem sich die staatlichen Organe auseinandersetzen müssen. (e)
Zwischenergebnis
Es ist die aus der rechtlichen Bestimmung der Strafsanktion abgeleitete Pflicht, dem Betroffenen im Strafverfahren jene Selbständigkeit zu gewähren, die den Grundsatz des nemo tenetur begründet. Diese Erklärung des nemo tenetur Grundsatzes ermöglicht zugleich die Zuordnung zu einer verfassungsBeccaria, Kapitel XVI, S. 92 (bzgl. der Folter); Naucke, in: Deimling (Hrsg.), 37 (45). Hartmut Schneider, 41. 283 Höra, 49 ff.; Beneke, 29 f.; s. dazu oben § 1 ill. 284 Ähnlich Kindhäuser, NStZ 1987,529 (531).
281
282
ill. Lösungsvorschlag
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rechtlichen Position. Der nemo tenetur Grundsatz stellt sich als notwendige Folgerung aus den speziellen Rechtsstrukturen dar, die der Verhängung von Strafe zugrundeliegen. Dogmatisch streng genommen ist er daher kein von außen kommendes Schutzprinzip zugunsten des Beschuldigten, sondern realisiert nur die Zuweisung der Position an den Beschuldigten, die ihm vom Staat im Rahmen der Strafgewalt zugewiesen wird. Grundlage des nemo tenetur Prinzips ist daher auch nicht ein Grundrecht als Abwehrrecht im klassischen Sinne, sondern das prinzip, nach dem die Strafgewalt inhaltlich konstituiert ist; dieses Prinzip ist der Schuldgrundsatz. 285 cc) Der Schuldgrundsatz
(a)
Rechtsgrundlage des Schuldgrundsatzes
Der Inhalt des Schuldgrundsatzes ist in seinem Kern Allgemeingut. Niemand darf mit Strafe286 für eine Tat belegt werden, für die ihn keine Schuld trifft - nulla poena sine culpa. 287 Schuld wird verstanden als Vorwerfbarkeit. 288 Dem Grundsatz kommt Verfassungsrang ZU. 289 Als Begründung wird von der hier zugrundegelegten überwiegenden Ansicht das Rechtsstaatsprinzip i. V . m. Art. 1 I, Art. 2 I GG herangezogen. 290
So wohl auch im Ansatz Lorenz, IZ 1992, 1000 (1006). Siehe zum Stratbegriff in der Rspr. des BVerfG ausführlich Volk, ZStW 83 (1971), 405 ff. 287 Vgl. statt vieler aus strafrechtlicher Sicht Müller-Dietz, Grundfragen, 29 ff. 288 Vitzthum, IZ 1985, 201 (204). 289 BVerfGE 80, 244 (255); BVerfGE 57, 250 (274); BVerfGE 45, 187 (228); BVerfGE 20, 323 (331). 290 Stree, In dubio, 16 (nur Art. 1 I GG); Peres, 118 f.; Dannecker, 261 ff.; Schmidt-A,ßmann , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103, Rn. 170; s. aus der Rspr. BVerfGE 80, 244 (255); BVerfGE 54, 100 (108); BVerfGE 50, 205 (214); BVerfGE 50, 125 (133); BVerfGE 50, 5 (12); BVerfGE 25, 269 (285 f.); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NIW 1995, 2405 (2405); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NIW 1995, 1016 (1017); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NIW 1995, 383 (383); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NIW 1993, 190 (191). Mitunter zieht das BVerfG auch nur eine der beiden Grundlagen heran; vgl. zum Rechtsstaatsprinzip: BVerfGE 84, 82 (87); BVerfGE 41, 121 (125); BVerfGE 20, 323 (331); BVerfGE 6,389 (439) und zu Art. 1 Abs. 1 GG (mitunter im Kombination mit Art. 2 I GG): BVerfGE 90, 145 (173); BVerfGE 80, 109 (120); BVerfGE 45, 187 (228); BVerfGE 25,269 (285); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NIW 1995,248 (249); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NIW 1994, 2412 (2413); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NIW 1995, 3244 (3245). 285
286
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
(b)
Verfahrensrechtliche Anforderungen aus dem Schuldgrundsatz
Den Schuldgrundsatz als verfassungsrechtliche Grundlage heranzuziehen, ist aus mehreren Gründen geboten. Zum einen kann nur der Schuldgrundsatz die notwendige Beziehung des nemo tenetur Grundsatzes mit der Sanktion Strafe herstellen. Er ermöglicht es, aus einer materiellen Position eigenständige verfahrensrechtliche Folgerungen zu ziehen. Er ist das rechtliche Prinzip des materiellen und formellen Verhältnisses, das durch die Strafverhängung begründet wird. Dem Schuldgrundsatz verfahrensrechtliche Anforderungen zu entnehmen, ist keine neue Rechtskonstruktion, sondern entspricht auch der Rechtsprechung des BVerfG.291 Zum Schutz des Betroffenen vor einer materiell oder formell rechtswidrigen Verhängung der Strafe werden besondere Verfahrensvorkehrungen gewährt. Diese sollen eine Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine culpa schon im Vorfeld abwehren können. 292 Nach dem BVerfG "muß das Strafverfahren, dem von Verfassungs wegen die Aufgabe gestellt ist, das Schuldprinzip zu sichern, wegen der einschneidenden Folgen für den Betroffenen entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen zur Ermittlung des Sachverhaltes bereitstellen. "293 Demnach ist zumindest im Strafverfahren ein Anscheinsbeweis UDZUlässsig. 294 Das Gericht läßt es jedoch mit der Ableitung der verfahrensrechtlichen Vorkehrung zur Sachverhaltsermittlung nicht bewenden. Der Grundsatz in dubio pro reo, nach dem der Schuldvorwurf dem Angeklagten nachgewiesen werden muß,295 wird, ebenso wie die damit verbundene Kehrseite, die Unschuldsvermutung, 296 aus der verfahrensrechtlichen Anforderung des Schuldgrundsatzes hergeleitet. 297 Diese Herleitung stellt den Zusammenhang von den Grundsätzen des Schuldprinzips und der Unschuldsvermutung bzw. dem Prin291 BVerfGE 57,250 (275 f.); Smid, 191; s. a. S. 36, Fn. 113.
292 SaJ:, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Bd. 3 Hbd. 2, S. 909 (987) der die Unschuldsvennutung als die selbstverständliche Folge eines nach Inhalt und Grenze durch das Gebot der Menschenwürde bestimmten, auf dem Schuldprinzip aufbauenden materiellen Strafrechts bezeichnet. 293 BVerfGE 84, 82 (87). Auch Art. 103 II, III GG wird mit dem Schuldgrundsatz in Verbindung gebracht; BVerfGE 25, 269 (285 f.); Dannecker, 261 ff.; SaJ:, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 3 Hbd. 2, 1959,909 (998 f.). 294 BVerfGE 84,82 (87). 295 BVerfGE 84, 82 (87); BVerfGE 9, 167 (170); früher schon Stree, in dubio, 16; Montenbruck, 75 jedoch unter Berufung auf Art. 103 II GG und nicht auf Art. 1 I GG. 296 BVerfGE 74, 358 (370 ff.); Peres, 119; Karlheinz Meyer, in: FS. f. Herbert Tröndle, 1989, 61 (62). 297 Ebenso für den in dubio pro reo Satz: Andreas Michael, 2 f. und 20 f.; Frister, 77 ff.; SaJ:, in: FS. f. Ulrich Stock, 1966, 143 (164).
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zip des in dubio pro reo dogmatisch her, das sachlich außer Frage steht. Zum. anderen berücksichtigt diese Herleitung die Besonderheiten des Verfahrens für die Verhängung der Sanktion. Materielles und formelles Recht sind im Strafrecht nicht richtig voneinander zu trennen, sondern normieren die Entstehung und Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches. 298 Sie werden als eine Einheit verstanden. 299 Beide werden von der Art der Sanktion geprägt, und diese unterliegt den Anforderungen des Schuldgrundsatzes. 300 Diese dogmatischen Zusammenhänge gelten aber nicht nur für den in dubio pro reo Satz und die Unschuldsvermutung, sondern auch für das nemo tenetur Prinzip. Dafür läßt sich auch die Argumentation des BVerfG gewinnen. Nach ihr sichert das Strafverfahren das Schuldprinzip. Die Aussagefreiheit wiederum ist ein tragendes Prinzip des Strafverfahrensrechts,301 so daß auch unter diesem Aspekt die Beziehung zum. Schuldgrundsatz naheliegt. Darüber hinaus ermöglicht das nemo tenetur Prinzip unter dem Gesichtspunkt der kontradiktorischen Erörterung die verfahrensrechtlichen Gewährleistungen für die Ermittlung des wahren Sachverhaltes. Die Erforschung der Wahrheit wird aber wiederum von der verfahrensrechtlichen Seite des Schuldgrundsatzes gefordert. Die verfahrensrechtliche Ableitung des nemo tenetur Grundsatzes aus dem materiellen Prinzip des Schuldgrundsatzes hindert nicht, die Besonderheiten und die Selbständigkeit des nemo tenetur Prinzips als eigene Garantie zu wahren.
(c)
Weitere Gesichtspunkte, die für den Schuldgrundsatz sprechen
Die Heranziehung des Schuldgrundsatzes ermöglicht eine Vereinheitlichung der im Strafprozeß bestehenden Grundsätze. Mit der Unschuldsvermutung, der Beweisregel "in dubio pro reo," dem fair trail und dem nemo tenetur Prinzip bestehen mehrere verfahrensrechtliche Grundsätze, deren Beziehung untereinander bisher eher ungeklärt war. 302 Mit der Rückführung mehrerer Prinzipien 298 BVerfGE 74, 358 (371 f.); Zaczyk, GA 1988, 357 (362 ff.); Eberhard Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 29 ff. 299 Henkel, 17; Peters, 7; Schlüchter, Rn. 367; kritisch dazu Smid, 195. 300 Der Schuldgrundsatz wird hier in einem weiteren Sinn gebraucht und bestimmt ein durch die Straftat konkretisiertes Verhältnis der einzelnen. Die Einheit von materiellem und formellem Recht wird dabei nicht nur durch die Rechtsgemeinschaft repräsentiert, sondern auch vom einzelnen her. Er ist als Selbstorientierter "für sich selbst" ein Individuum innerhalb des Ablaufs der Ereignisse, die da sind: Normverletzung, der Status bleibender Verantwortung, die Verhandlung im Prozeß über die Tat, die Wiedergutmachung durch die rechtliche Statusminderung. 301 Rupp, JuS 1967, 163 (164): strafprozessuale Fundamentalnorm freiheitlich-rechtsstaatlicher Rechtsordnungen. 302 Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1196); Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (835 f.).
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
als selbständige Ausprägungen des Schuldgrundsatzes wird so eine Harmonisierung erreicht. Oben wurde dargelegt, daß der nemo tenetur Grundsatz zwar nicht aus der Unschuldsvennutung folgt, jedoch beide Prinzipien auf dem gleichen Grundgedanken beruhen, und das ist der Schuldgrundsatz. Die Rückführung auf den Schuldgrundsatz erlaubt es weiter, die Geltung des nemo tenetur Prinzips außerhalb des Kernbereichs plausibel zu begründen. Der Schuldgrundsatz gilt nicht nur für Kriminalstrafen, sondern auch für andere Sanktionen mit ethischem Unwerturteil, für die auch der nemo tenetur Grundsatz diskutiert wird. Zieht man den Schuldgrundsatz, und nicht die Menschenwürde, zur Erklärung des nemo tenetur Prinzips heran, hat dies noch einen weiteren Vorteil. Man umgeht dann die merkwürdige Situation, ein durch internationalen Vertrag anerkanntes strafprozessuales Institut, wie die Aussagefreiheit, im Verfassungsrecht mit einer Vorschrift zu erklären, die in dieser Fonn international bisher eher eine Ausnahmeerscheinung ist. 303 Der Unterschied zu den oben (S. 39 ff.) referierten Ansichten ist im Ergebnis nicht groß. Hinter dem Schuldgrundsatz steht nach der hier zugrundegelegten überwiegenden Auffassung letztlich Art. 1 I GG LV.m. dem Rechtsstaatsprinzip. Auch die Rechtsprechung des BVerfG läßt sich mit dem gefundenen Ergebnis harmonisieren. Das BVerfG hat den nemo tenetur Grundsatz bisher als einen von der Achtung der menschlichen Würde geprägten rechtsstaatlichen Grundsatz bezeichnet. 304 Dies entspricht der hier zugrundegelegten Herleitung insofern, als dieses Prinzip nicht unmittelbar einem Grundrecht zugewiesen, sondern als ein Rechtsprinzip verstanden wird. 30S Andererseits wird der Bezug zum Schuldgrundsatz nicht ausdrücklich betont. Die wesentlichen Ableitungen aus dem Schuldgrundsatz sind erst jüngeren Datums,306 und der enge Bezug des nemo tenetur Prinzips zur Stratbegründung ist in der Literatur bisher nicht ausreichend hergestellt worden. Es ist demnach durchaus offen, ob das Gericht nicht in Zukunft eine engere Anbindung an den Schuldgrundsatz vornehmen wird. Zum anderen versteht das BVerfG auch das Schuldprinzip wie das nemo
303 Vgl. aber zum Vordrängen der Würdegarantie in jüngeren Verfassungen Häberle, in: HStR, Bd. V, § 20, Rn. 4. 304 BVerfGE 56, 37 (43); BVerfGE 55, 144 (150): BVerfGE 38, 105 (112); BVerfG (ohne weitere Angaben) Verkehrsblätter 1985, 303; BVerfG (3. Kammer des zweiten Senats) wistra 1988, 302 (302 f.). 30S Besonders deutlich in BVerfG (3. Kammer des zweiten Senats) wistra 1988, 302 (302 f.). 306 BVerfGE 74, 358 (370 f.).
m. Lösungsvorschlag
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tenetur Prinzip als ein auf die Menschenwürde bezogenes rechtsstaatliches Prinzip307 und schafft so selbst eine Parallele. 2. Die Ordnungswidrigkeiten
N ach überwiegender Ansicht gilt das nemo tenetur Prinzip auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht. 308 Diese Parallelität von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht bedarf hinsichtlich der Geltung der Freiheit vor Selbstbelastung der Erläuterung. Zunächst fällt auf, daß die Literaturstimmen, die sich ausführlich mit dem nemo tenetur Prinzip beschäftigen, ihre Begründung immer auf das Kriminalunrecht beziehen. 309 Das Ordnungswidrigkeitenrecht wird entweder nachgeschoben310 oder ohne zusätzliche Begründung mit erwähnt. 311
a) Die Gleichsetzung der Kriminalstrafe mit strafähnlichen Sanktionen im Grundgesetz Das Verhältnis der Strafe zum Ordnungswidrigkeitenrecht sowie zu anderen Sanktionen, die ein staatlich ausgesprochenes Unwerturteil darstellen, wie Disziplinarmaßnahmen und ehrengerichtliche Sanktionen, ist schwierig. Je nach Funktion der strafrechtlichen oder strafverfahrensrechtlichen Garantien werden diese auch auf andersartige Sanktionen übertragen. Bei der Immunität gern. Art. 46 11 GG wird der Begriff nach herrschender Meinung 312 im weiten Sinne verstanden, wobei jedoch bzgl. Ordnungswidrigkeitensanktionen313 und Disziplinarmaßnahmen314 andere Ansichten bestehen. Unter Art. 103 11 GG werden 307
BVerfGE 80, 244 (255); BVerfGE 57, 250 (275); BVerfGE 20,323 (331).
308 BVerfGE 56, 37 (42 f.); Paeffgen, 73; Schäfer, in: FS. f. Hans Dünnebier, 1982, 11 (48
f.); Seebode, JA 1980, 493 (497); Göhler, OWiG, § 55, Rn. 8; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 251. A.A.: PaejJgen, 73; s.a. Stümer, Aufldärungspflicht, 59; ders., NJW 1981, 1757 (1757 f.): Herausnahme wäre vertretbar; Stümpjler, DAR 1973, 1 (6 ff.) zumindest erheblich verminderter Schutz. 309 Rogall, 139 ff.; Fischer, 100 ff.; Müller-Boysen, 92 ff.; Hahn, 155 ff.; Nothhelfer, 82; Schramm, 39 ff. 310 Rogall, 164 f. 311 Müller-Boysen, 105; Hahn, 155 ff. Auch die vorliegende Arbeit ließe sich als Beispiel anführen. 312 Ausführlich Butzer, 170 ff.; s.a. Magiera, in: BK-GG, Art. 46, Rn. 62 f.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 46, Rn. 6; Maunz, in: MaunzlDürig, GG, Art. 46, Rn. 40. 313 Rauball, in: v. Münch, GG, Art. 46, Rn. 22; weitere Nachweise bei Butzer, 175 Fn. 55. 314 BVerwGE 83, 1 (8 f.); Geltinger, in: FS. f. Hans Rudolf Claussen, 1988, 127 (134 ff.); weitere Nachweise bei Butzer, 187 Fn. 94.
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
unstreitig zumindest die Ordnungswidrigkeiten gefaßt, während neuere Ansichten die Disziplinarmaßnahmen ausgliedern möchten, entgegen der noch überwiegenden Ansicht. 315 Das Begnadigungsrecht des Art. 60 11 GG umfaßt die Befugnis, im Einzelfall eine rechtskräftig anerkannte Strafe ganz oder teilweise zu erlassen, sie umzuwandeln oder ihre Vollstreckung auszusetzen. 316 Darunter werden Kriminalstrafen, Disziplinarmaßnahmen, Verwirkung von Grundrechten gefaßt; bzgl. Ordnungswidrigkeiten ist dies umstritten. 3t7 Der aus Art. 92 GG abgeleitete Richtervorbehalt gilt für die Verhängung von Kriminalstrafen jeder Art,318 nicht aber für Disziplinarmaßnahmen3\9, Nebenstrafen320 und auch nicht für Ordnungswidrigkeitenmaßnahmen. 321 Unter Strafrecht in Art. 74 Nr. 1 GG fällt auch das Ordnungswidrigkeitenrecht. 322 Der Begriff wird bei Art. 9611 1 u. 2 GG genauso verstanden wie bei Art. 74 Nr. 1 GG.323 Unter Art. 103 III GG wird dagegen einhellig nur das Kriminalunrecht gefaßt. 324
b) Kriminalunrecht und Ordnungswidrigkeiten Für das hier interessierende Verhältnis von Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht läßt sich demnach aus diesem Überblick schließen, daß die Ordnungswidrigkeitensanktionen und die Strafe zwar ähnlich, aber nicht gleich sind. 325 Beide enthalten ein sozialethisches Unwerturteil, das jedoch unterschiedliche Ausmaße besitzt. 326 Ob dieser Unterschied im Unwerturteil als qua315
Schmidt-AjJ1TUl1IJI, in: MaunzlDürig, GG, Art. 103, Rn. 196.
316 BVerfGE 25, 352 (358).
311 Für einen Einbezug Jakewitz, in: AK-GG, Art. 60, Rn. 7. Gegen einen Einbezug Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 60, Rn. 28. 318 BVerfGE 27, 36 (40); BVerfGE 27, 18 (28); BVerfGE 22, 125 (130); BVerfGE 22, 49 (79 ff.). 319 BVerfGE 22, 311 (317); BVerfGE 8, 197 (207). 320 BVerfGE 27, 36 (40 ff.). 321 BVerfGE 27, 18 (28); BVerfGE 22,49 (81); BVerfGE 8, 197 (207). 322 BVerfGE 31, 141 (144) (dort ist allerdings von Art. 74 I GG die Rede); BVerfGE 29, 11 (16). 323 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 96, Rn. 2; Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 96, Rn. 15; a.A. Wassermann, in: AK-GG, Art. 96, Rn. 19 und Meyer, in: v. Münch, GG, Art. 96, Rn. 7 die das Ordnungswidrigkeitenrecht ausschließen wollen. 324 BVerfGE 66, 337 (357); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103, Rn. 28. 325 Ausführlich und klar zu dem Verhältnis von Strafe und Ordnungswidrigkeiten Patzig, DVB11967, 309 ff. 326 Siehe z.B. den Bericht von Fischer, ZStW 82 (1970), 108 (109) über eine Diskussion über die Umwandlung der Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit den Verkehrsdelikten.
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litativ327 oder quantitativ328 zu bewerten ist, stellt den wesentlichen Streitpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung dar; ein Unterschied als solcher besteht jedoch unbestritten. Für eine Vergleichbarkeit spricht vor allem, daß die Ordnungswidrigkeiten lange Zeit als Übertretungen im StGB eingegliedert waren,329 wenn auch ihr erheblich geringerer Sanktionscharakter schon früh erkannt und trotz der formellen Einheit in einem Gesetzbuch betont wurde. 330 Der Unterschied wurde durch den Begriff des Verwaltungsunrechts verdeutlicht. 331 Wie immer man den Unterschied auch fassen mag, er geht nicht so weit, den Gesetzgeber im Grenzbereich zu binden, vielmehr steht dem Parlament insoweit ein nicht unerheblicher Spielraum der Bewertung des Unrechts ZU,332 andererseits gibt es wiederum einen Kembereich des Strafrechts, den der Gesetzgeber nicht den Regeln des Ordnungswidrigkeitenrechts unterwerfen darf. 333 Vergleicht man die Ordnungswidrigkeiten mit den oben anband der Kriminalstrafe entwickelten Grundsätzen, so läßt sich für diese nicht behaupten, daß durch die Verhängung einer Ordnungswidrigkeitensanktion der Bürger in seinem vorstaatlichen Zustand betroffen ist. Ihm wird zwar vorgeworfen, er hätte die Regeln des Staates nicht eingehalten, dies bezieht sich aber auf Ordnungsregeln. 334 Dm trifft nicht der Vorwurf, den Staatsvertrag verletzt zu haben.
c) Ordnungswidrigkeiten und der nemo tenetur Grundsatz Die Gemeinschaft greift aber auch bei den Ordnungswidrigkeiten durch das rechtlich gefaßte sozialethische Unwerturteil auf die Persönlichkeit des Täters 327 So mit ausführlicher Begründung Woljf, in: Hassemer (Hrsg.), 137 (162 ff.); lAnge, JZ 1957,233 (237); Göhler, OWiG, Vor § I, Rn. 6 - 8; s.a. BVerfGE 51, 60 (74); BVerfGE 45, 272 (288 f.); BVerfGE 27, 18 (29). 328 Ausführlich Mattes, 288 ff.; Trunk, 5; Butzer, 180 f.; Volk ZStW 83 (1971), 405 (431). 329 In das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 25.3.1952 (BGBI I 177 ff.) wurden mit dem Reformgesetz des Strafgesetzbuches vom 24.5.1968 (BGBI I 481 ff.) alle Übertretungstatbestände eingegliedert, soweit sie nicht ersatzlos gestrichen wurden. 330 Paulduro, 15. 331 Ausführlich Huang, 32 ff.; s.a. Gemot Schubert, 28 ff.; Goldschmidt, in: FS. f. Richard Koch, 1903,417 (423 ff.); Patzig, DVBI1967, 309 (309 f.). 332 BVerfGE 37,201 (212); BVerfG NStZ 1989,478. 333 BVerfGE 27, 18 (28); BVerfGE 23, 113 (126); BVerfGE 22, 125 (133); BVerfGE 22,49 (81); Huang, 40; Göhler, OWiG, Vor § I, Rn. 8. 334 Butzer, 178. 5 Wolff
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§ 2 Die verfassungsrechtliche Verbürgung
zu, wenn auch mit verminderter Schärfe. 335 Dem Täter wird ein Verhalten als falsch vorgeworfen, d.h. eine Handlung, von der er selber hätte einsehen können, daß sie nicht sein darf. 336 Genau genommen reagiert hier der Staat auf die Handlung eines Bürgers in einer Form, die nur zulässig ist, wenn dem Bürger die Handlung vorzuwerfen ist. Maßgebend für die Schutzgarantie bei den Ordnungswidrigkeiten ist daher weniger die Qualität des Delikts, als vielmehr die Tatsache, daß der Staat auch bei den Ordnungswidrigkeiten sanktioniert. insoweit bleibt von obiger Begründung, daß sich der Staat eine überlegene Position bzgl. des Kembereichs der Person zumißt. Die Reduzierung der inhaltlichen Anforderungen an das materielle Unrecht als Grundlage des Vorwurfes beruht auf einem Zugeständnis der demokratisch organisierten einzelnen, bestimmte Gef3hrdungen nicht überblicken zu können und sich deshalb äußeren Regeln zu unterwerfen. 337 Die so legitimierte "Kümmerform" des Strafens kann in den prozessualen Rechten nicht zu Lasten des Betroffenen gehen. Die selbständige Stellung in der Verhandlung über die Falschheit eigenen Verhaltens wird daher nicht aufgehoben. Deswegen gilt der nemo tenetur Grundsatz auch für die Ordnungswidrigkeiten. Da auch im Verfahren der Ordnungswidrigkeiten sich Staat und Persönlichkeitsbewertung des einzelnen "gegenüberstehen", muß auch hier wieder verfahrensrechtlich die Selbständigkeit gewahrt werden. Die einfachgesetzlich gewährleistete Aussagefreiheit im Ordnungswidrigkeitenverfahren338 beruht demnach auf einer verfassungsrechtlichen Grundlage. 339 An der Situation der Ordnungswidrigkeiten zeigt sich auch die Tragfähigkeit der Rückführung des nemo tenetur Prinzips auf den Schuldgrundsatz. So gilt einerseits der Schuldgrundsatz für alle strafähnlichen Sanktionen,34O andererseits differenzieren die verfahrensrechtlichen Anforderungen des Schuldgrundsatzes je nach Sanktion. 341 Die Unterschiede innerhalb der Strafsanktionen i.w.S. können auf diese Weise angemessen berücksichtigt werden.
335 Schmidt-Aßmann, in: MaunzlDürig, GG, Art. 103, Rn. 196. 336
337
Mattes, 288.
Kunz, ZStW 98 (1986), 823 (826). Es zeigt sich an dieser Stelle, daß die Rechtfertigung
der Ordnungswidrigkeiten wegen ihres geringeren Bezuges zu den in dem menschlichen Dasein vorfmdlichen Strukturen schwerer fällt und stärker auf einen zusätzlichen freiwilligen Entschluß der Gemeinschaft, dieselben anzuerkennen, angewiesen ist. 338 Siehe dazu Rosenkötter, Rn. 252. 339 Göhler, OWiG, § 55, Rn. 8. 340 BVerfGE 9, 167 (170); s.a. für § 890 I ZPO BVerfGE 84, 82 (87); BVerfGE 58, 159 (162 f.); BVerfGE 20, 323 (332 f.); Frister, 16; Göhler, OWiG, Vor § 1, Rn. 10. 341 BVerfGE 84, 82 (85 f.).
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III. Lösungsvorschlag
3. DiszipUnarmaßnahmen
Disziplinarmaßnahmen (und ehrengerichtliche Maßnahmen) werden teilweise nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot des nemo tenetur unterstellt. 342 Einfachgesetzlich ist die Aussagefreiheit in diesen Verfahrensordnungen anerkannt. 343 Andererseits wird mit dem Hinweis auf die vergleichbare innere Zwangslage des Betroffenen mitunter eine Anwendung des Grundsatzes befürwortet. 344 Auch wenn man den Grundsatz des nemo tenetur weniger in der psychischen Zwangslage des Betroffenen, sondern mehr in der Art und dem Maß der Selbständigkeit des Betroffenen begründet sieht, wird man das Disziplinarrecht nicht völlig ausscheiden können. Die Besonderheiten des Disziplinarrechts müssen jedoch bewahrt bleiben. Bei diesem wird zwar auch die Persönlichkeit des Bürgers betroffen,345 aber in unmittelbarem Bezug zu der Stellung des Betreffenden als Amtsträger oder Berufsangehöriger .346 Der Betroffene wird nicht partiell aus dem allgemeinen Gleichheitsstatus, sondern partiell aus einem Sonderverhältnis gestoßen;347 er hat sich selbst freiwillig den besonderen Pflichten des Berufskreises unterworfen und unterliegt daher besonderen Anforderungen. 348 So bezweckt das Disziplinarrecht (und die ehrengerichtlichen Sanktionsverfahren)349 auch keine Vergeltung des bewirkten Unrechts,350 sondern Aufrechterhaltung und Wiederherstellung eines ordnungsgemäßen Dienstbetriebes. 351 Dieser Unterschied zum Kriminalunrecht wird in zunehmendem Maße als ein qualitativer verstanden. 352 Jedoch gilt auch im Disziplinarrecht 342 Siehe etwa Henkel, 209; weitere Nachweise bei Rogall, 343 § 26 11 BOO; § 28 IV WDO;- Schramm, 54.
165 Fn. 4.
344 Rogall, 165; Müller-Boysen, 104; Buchho/z, 95 f.; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, An. 6 EMRK, Rn. 251; s. zu dem einem Disziplinarverfahren vorgelagertem Verfahren Feuerich, AnwBI 1992,61 ff. 345 Claussen, in: ClaussenlJanzen, BOO, Eint. A, Rn. 4 (Erziehungsfunktion); s.a. BVerfGE 26, 186 (204) "mißbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten". 346 Geltinger, in: FS. f. Hans Rudolf Claussen, 1988, 127 (129). 347 Das sieht man auch daran, daß die stärkste Sanktion des Disziplinarrechts die Entlassung aus dem Dienstverhältnis darstellt - vgt. Claussen, in: ClaussenlJanzen, BDO, Eint. A, Rn. 4. 348 Butzer, 189; BGHSt 27, 374 (375). 349 Dazu Butzer, 194. 350 Wunh, in: FS. f. Hans Rudolf Claussen, 1988, 157 (169); Amdt, in: Behnke, BOO, Eint., Rn. 24; Claussen, in: ClaussenlJanzen, BOO, Eint. A, Rn. 5a. 351 Fliedner, 34; Amdt, in: Behnke, BOO, Eint., Rn. 24; Claussen, in: ClaussenlJanzen, BOO, Eint. A, Rn. 2. Zu der Schutzfunktion für den Amtsträger s. Fliedner, 47; Claussen, in: ClaussenlJanzen, BOO, Eint. A, Rn. 3. 352 BVerfGE 32, 40 (48); BVerfGE 27, 180 (186 ff.); BVerfGE 21, 391 (403 f.); BVerfGE 21,378 (384); Paulduro, ll; MaurachlZipf, AT, § I, Rn. 18, S. 9; Amdt, in: Behnke, BOO, Eint., Rn. 30 ff.; Claussen, in: ClaussenlJanzen, BOO, Eint. A, Rn. 5a.
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§ 3 Der Strafprozeß
der Schuldgrundsatz. 353 Dies führt zu einer gewissen Modifikation der Wirkung des nemo tenetur Grundsatzes im Disziplinarrecht. Für die Aussage im Disziplinarverfahren selbst ergibt sich dadurch kein Unterschied im Vergleich zu der Aussage im Strafverfahren. 3S4 Aber für die Stellung in anderen Verfahren ergeben sich insofern Konsequenzen, als die Folgerungen, die in den sich anschließenden Kapiteln für die Kriminalstrafen und die Ordnungswidrigkeiten gezogen werden, nicht ohne weiteres auf die disziplinar- und ehrengerichtlichen Maßnahmen übertragen werden können.
§ 3 Der Strafprozeß Das Verbot des Zwangs zur aktiven Selbstbelastung gilt primär für das Strafverfahren. Daher darf dieses, selbst bei einer Untersuchung des nemo tenetur Grundsatzes aus "öffentlich-rechtlicher" Sicht, nicht vollständig ausgeblendet werden. Erörtert wird er daher, soweit es für das Verständnis des untersuchten Prinzips und seiner Reichweite auf das Verwaltungsrecht notwendig ist. Insbesondere werden die Probleme der Hinweispflichten, die Verwertbarkeit des Teilschweigens und die Lehre von den Beweisverboten und Beweisverwertungsverboten mitsamt evtl. Fernwirkung ausgeklammert bzw. nur insoweit angesprochen, als sie unmittelbar den hier interessierenden Fragenkreis betreffen; dies fällt um so leichter, als es dazu ausreichend Monographien jüngeren Datums gibt. 355 Die Belehrungspflichten werden nicht aus dem nemo tenetur Prinzip selbst hergeleitet,356 sondern diesem als ergänzendes Recht zugeordnet357 und wegen des fair trail Gedankens für notwendig gehalten.
353 BVerfGE 26, 186 (204); BVerfG (2. Kammer des zweiten Senats) NJW 1995, 1016 (1017); MaurachIZipf, AT, § 1, Rn. 17, S. 9; Claussen, in: ClaussenlJanzen, BDO, Ein!. B, Rn. 13. 354 lanzen, in: ClaussenlJanzen, BDO, § 74, Rn. 4a. 355 Rainer Störmer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote, Marburg, 1992; Svenja Schröder, Beweisverwertungsverbote und die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung im Strafprozeß, Berlin, 1992; Dieter KnolI, Die Fernwirkungen von Beweisverwertungsverboten, Augsburg, 1992; Holger Peres, Strafprozessuale Beweisverbote und Beweisverwertungsverbote, München, 1991; Li-Chi Wu, Rechtsfehler bei der Beweisgewinnung und ihr strafprozessuales Rechtsmittel, München, 1990; Gössel, Die Beweisverbote im Strafverfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland, GA 1991,483 ff. 356 Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (147 ff.); Stümer, NJW 1981, 1757 (1758). 357 Rogall, 186.
I. Schweigerecht
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I. Schweigerecht 1. Rechtsgrundlage
Dem Beschuldigten steht es frei, ob er sich zur Beschuldigung äußern will oder nicht; er hat das Recht, die Aussage zu verweigern. a) Die Hinweispflicht der §§ 115 1II 1, 136 I 2, 243 IV 1 StPO
Die StPO normiert das Recht, die Aussage zu verweigern, nicht ausdrücklich. 358 Sie erwähnt es aber im Zusammenhang mit der Pflicht der Strafrechtsorgane, den Beschuldigten bei seiner Vernehmung auf dieses Recht hinzuweisen (§§ 115 III 1, 136 I 2, 243 IV 1 StPO).359 Da die Pflicht, auf ein Recht hinzuweisen, notwendig voraussetzt, daß dieses besteht, geht die StPO demnach von der Existenz der Aussagefreiheit aus. 360 Die Qualifizierung der Aussagefreiheit als Recht ergibt sich aus ihrem Sinn und aus dem Wortlaut des § 115 III 1 StPO. b) § 136a I StPO
Zum Teil wird vertreten, die Regelung über die verbotenen Vernehmungsmethoden (§ 136a I StPO) normiere keinen Ausschnitt des nemo tenetur Grundsatzes. 361 § 136a I StPO enthalte nur ein Beweismethodenverbot, sage aber nichts darüber aus, ob vom Beschuldigten überhaupt eine aktive Förderung des Strafverfahrens verlangt werde. 362 Diese Auffassung kann letztlich nicht überzeugen. 363 So richtig die historisch getrennte Entwicklung vom nemo tenetur Prinzip und dem Folterverbot
358
Bährle, 67; Rieß, JA 1980, 293 (294).
359 Andere Normen wiederum verweisen auf diese Hinweispflicht (§ 128 I 2 StPO [Verneh-
mung des vorläufig Festgenommenen] auf § 115 III 1 StPO; § 163a III 1, § 163a IV 1 StPO [Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft und Polizei] auf § 136 I 2 StPO). 360 Rogall, 42; Störmer, 132; Fezer, JuS 1978, 104 (105 f.); Meyer-Goßner, in: K1einknechtlMeyer, StPO, § 136, Rn. 7. 361 Rogall, 105 ff., 205; Peres, 120; Bährle, 70; Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (147); Dingeldey, JA 1984, 407 (408) (wobei jedoch zu der Auffassung der Täuschung auf S. 414 ein gewisser Widerspruch besteht.). 362 Rogall, 106. 363 Degener, GA 1992,443 (451, 455 f.); Boujong, in: KK-StPO, § 136a, Rn. 1.
70
§ 3 Der Strafprozeß
als Grundlage des § 136a I StPO sein mag, so wenig läßt sich daraus herleiten, daß beide Garantien eines einheitlichen Gedankens entbehrten. Das Folterverbot läßt sich ohne weiteres aus dem nemo tenetur Prinzip entwickeln .. Weil historisch die speziellere Garantie (das Folterverbot) zuerst entwickelt wurde, wird es einer Gemeinschaft nicht verwehrt sein, nach Errungenschaften der generellen Garantie den Zusammenhang beider nachträglich herzustellen. Gäbe es heute § 136a I StPO nicht, wäre die Rechtslage keine andere,364 da der Inhalt des § 136a I StPO unmittelbar aus Art. 1 I GG LV.m. dem Rechtsstaatsprinzip gefolgert werden müßte. 36S Die in § 136a I StPO angeführten Methoden sind allesamt Verletzungen des nemo tenetur Grundsatzes. 366 In diesen Fällen ist die Eigenverantwortlichkeit der Aussage nicht mehr gewährleistet. 367 § 136a I StPO beschreibt finale, also gezielte, und unmittelbare - ohne Einschreiten Dritter - verursachte Beeinträchtigungen des nemo tenetur Prinzips durch staatliche Realhandlungen. 368 Verfassungsrechtliche Schranken, welche die in § 136a I StPO umschriebenen mittelbaren Eingriffe rechtfertigen könnten, bestehen nicht. 2. Inhalt
a) Unterschiedlicher Wortlaut in §§ 115 IIl1, 13612 und 2431V 1 StPO
aa) Beschuldigung und Anklage § 115 III 1 StPO (Vernehmung des verhafteten Beschuldigten) spricht von dem Recht, sich zur Beschuldigung zu äußern, oder nicht zur Sache auszusagen. § 136 12 StPO (erste. Vernehmung) geht davon aus, daß es dem Beschuldigten nach dem Gesetz freisteht, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und § 243 IV 1 StPO (Vernehmung in der Haupt-
364 Degener, GA 1992,443 (463); a.A. Rogall, 211.
365 Mit dieser theoretischen Überlegung soll nicht der Gewinn, der in der klaren und die Verfassungslage konkretisierenden Regelung des § 136a I StPO liegt, nivelliert werden; s. etwa Kirsch, in: Zustand, 229 (231). 366 Boujong, in: KK-StPO, § 136a, Rn. 1. 367 Ausführlich zu dem Kriterium der Eigenverantwortlichkeit der Aussage Ransiek, 47 ff. u. 62 ff.; s. a. BGH IZ 1994,686 f. m. Anm. v. Fezer. 368 SlÜmer, NIW 1981, 1757 (1757); s. dazu allgemein: Isensee, in: HStR, Bd. V, § 111, Rn. 63; Bleckmann/EckhojJ, DVBl1988, 373 (374).
I. Schweigerecht
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verhandlung), daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Die Bezeichnung der Freiheit einmal als Recht und dann wiederum eher als Befugnis, hat keine Bedeutung für den Inhalt der Aussagefreiheit. Die Beschuldigung in §§ 115 III 1, 136 I 2 StPO wird in § 243 IV 1 StPO als Anklage bezeichnet, da § 243 StPO eine Norm innerhalb der Hauptverhandlung ist, und in dieser nicht mehr die Beschuldigung, sondern die Anklage (-im Sonderfall der Abänderung der Anklage [§ 20711 StPO] der Eröffnungsbeschluß-) den Umfang der Wahrheitsforschung begrenzt. 369 bb) Äußerung zur Beschuldigung/Anklage und zur Sache Interessanter erscheint die in allen drei Normen auftauchende Unterscheidung zwischen der Beschuldigung bzw. Anklage und der Sache. Der Grund für die gesetzliche Formulierung liegt in der Betonung der umfassenden Reichweite der Aussagefreiheit durch den zweiten Teil. Der Beschuldigte hat das Recht, zur Sache, d.h. zum gesamten Sachzusammenhang, und nicht nur zur Anklage, zu schweigen.
b) Persönliche Verhältnisse mit Ausnahme der Personaldaten aa) Der Streitstand Das Schweigerecht bezieht sich zunächst unbestritten auf das Tatgeschehen; die Erstreckung auch auf die persönlichen Verhältnisse wird dagegen im Kern zwar einhellig, im Umfang jedoch differenzierend angenommen. 310 Begründet
369 Dies führt zu der Unterscheidung dahingehend, daß der Angeklagte auf den durch die Anklage beschriebenen Streitgegenstand gern. § 243 IV StPO hingewiesen werden muß und bezüglich eventuell in der Hauptverhandlung zusätzlich zutagetretender anderer Straftaten gern. § 136 StPO zu belehren ist. 370 Für einen umfassenden Einbezug der persönlichen Verhältnisse: Helgerth, 180 Cf.; Rogall, 155; Wolfgang Schmidt, 53; Bruns, in: FS. f. Erich Schmidt-Leichner, 1977, 1 (9 f. u. 15.); Seebode, MDR 1970, 185 (186); ders., JA 1980, 493 (493 Cf.); Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (152); Rüping, JR 1974, 135 (137); Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1226); Dingeldey, JA 1984, 407 (411 f.). Für einen Einbezug, falls die Angaben im konkreten Fall zu einer Selbstbelastung führen: Müller-Boysen, 139; Dähn, JA 1979, 579 (581); Kirsch, in: Zustand, 229 (235); Fezer, 3/19; Roxin, § 25 III 2, Rn. 8, S. 169; Treier, in: KK-StPO, § 243, Rn. 22; Müller, in: KMR-StPO, § 136, Rn. 2. Für einen Einbezug der persönlichen Verhältnisse, ohne die Personaldaten: BGH StrVert 1984, 190 (192); Wesseis, JuS 1966, 169 (176); Dencker, MDR 1975, 359 (365); Meyer-Goß-
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§ 3 Der Strafprozeß
wird dies u.a. mit einem argumentum a maiore ad minus zu § 136 I 2 StPO. Bestehe eine Schweigebefugnis zur Sache, dann müsse erst recht eine solche zu den Angaben zur Person anerkannt werden. Weiter wird auf die zumindest mitunter vergleichbar belastende Wirkung der Angaben zur Person (wegen deren Relevanz für die Strafzumessung) im Vergleich mit denen zu einer Ausführung zur Sache hingewiesen. bb) Lösungsvorschlag
(a)
Einfachgesetzliche Auslegung
Die StPO erwähnt die persönlichen Verhältnisse bei der Vernehmung zunächst in § 136 III StPO und unterscheidet sie so von der in § 136 I 1 StPO geregelten, die Tat betreffenden Vernehmung. Die Hinweispflicht in § 136 I 2 StPO bezieht sich auf die Vernehmung zur Tat, und nicht auf die Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen. Da davon auszugehen ist, daß die Hinweispflicht und die Aussagefreiheit kongruent verlaufen,371 klammert § 136 StPO die Vernehmungen zu den persönlichen Verhältnissen aus dem Schutzbereich der strafprozessualen Aussagefreiheit aus. 372 Dies ergibt auch die Auslegung des § 243 StPO.373 Die Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen ist in § 243 11 2 StPO geregelt, die zeitlich später liegende Vernehmung zur Sache und die Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht in § 243 IV 2 bzw. 1 StPO. Sollte sich die Aussagefreiheit auch auf die persönlichen Verhältnisse beziehen, hätte die Belehrung schon in § 243 11 1 StPO normiert werden müssen. 374
ner, in: K1einknechtIMeyer, StPO, § 243, Rn. 12; Boujong, in: KK-StPO, § 136, Rn. 21; Hanaek, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 39; s.a. Walder, 117. Gegen jeden Einbezug der persönlichen Verhältnisse: BGH MDR 1975, 368 (bei Dallinger); Eberhard Sehmidt, Nachtrag, § 243, Rn. 18 - mit Ausnahme der Vorstrafen. 371 A.A. ohne Begründung Wolfgang Sehmidt, 53. 372 Wesseis, JuS 1966, 169 (175). 373 So auch Hanaek, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 10; Treier, in: KK-StPO, § 243, Rn. 22 mit Hinweis auf den Willen des damaligen Gesctzgebers. 374 Ähnlich Treier, in: KK-StPO, § 243, Rn. 22.
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I. Schweigerecht
(b)
Verfassungskonforme Auslegung
Die gefundene Gesetzesauslegung könnte wegen des nemo tenetur Prinzips evtl. im Wege der verfassungskonformen Auslegung korrigiert werden müssen. Die verfassungskonforme Auslegung besitzt drei Voraussetzungen: 37S (1) Die sonst gewählte oder vom Gesetz nahegelegte Auslegung muß verfassungswidrig sein; (2) es gibt eine andere, mittels gängiger Auslegungsmethoden gewonnene Auslegung, die dem Grundgesetz nicht widerspricht: (3) jene verfassungsgemäße Auslegung überschreitet nicht die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung. Die verfassungskonforme Auslegung darf demnach den normativen Gehalt der Vorschrift nicht grundlegend neu bestimmen376 und gegen das gesetzgeberische Ziel verstoßen. 377 Änderungen in diesem Umfang müssen vielmehr die Aufgabe des Gesetzgebers bleiben. 378 Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung werden somit bei den methodischen Grenzen der Auslegung gezogen. (aa) Verfassungswidrigkeit der wörtlichen Auslegung Die persönlichen Verhältnisse sind für die Frage des "Ob" der Strafe in aller Regel irrelevant,379 besitzen aber, wie den Grundsätzen der Strafzumessung (§ 46 StGB) zu entnehmen ist, für die Strafzumessung eine erhebliche Bedeutung. 38O Die Höhe der Strafe enthält das Maß des Rechtsgüterentzuges, das die Gemeinschaft für die rechtliche Wiedereingliederung für erforderlich ansieht. Da nach dem nemo tenetur Prinzip niemand bei einem Verfahren aktiv mitwirken muß, das den Zugriff des Staates auf seine Persönlichkeit (durch die Zuweisung von Schuld) betrifft,381 bezieht es sich auch auf die persönlichen Verhältnisse, soweit sie für die Strathöhe relevant sind. 382 37S Hesse, § 2, Rn. 79 ff.; ausführlich zu der Legitimierung der verfassungskonformen Auslegung Bette17TUlM, 24 Cf. 376 BVerfGE 54, 277 (299 f.); Löwer, in: HStR, Bd. 11, § 56, Rn. 111 Cf.; Hesse, § 2, Rn.
80.
377 BVerfGE 86, 288 (320 f.); BVerfGE 70, 35 Cf. (abw. Meinung des Richters Steinberger, 59 [63 f.]); BVerfGE 54, 277 (299 f.). 378 BVerfGE 71,81 (l05 f.). 379 Rogall, 45 f. Die Fälle der Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (§ 20 StOB) sei-
en insoweit ausgeklammert. 380 Rogall,
39.
46; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 243, Rn. 42.
381 Helgtrth, 182; ausführlich s. oben S. 52 Cf. 382 Treitf, in: KK-StPO, § 243, Rn. 22; Gollwitzer,
in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 243, Rn.
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§ 3 Der Strafprozeß
(bb) Verfassungskonfonne Auslegungsmöglichkeit Eine Auslegung der StPO dahingehend, daß die Aussagefreiheit sich nicht auf solche Umstände beziehe, die für die Strafzumessungsfrage relevant sind, ist mittels der gewöhnlichen Auslegungsmethoden möglich, wenn man beachtet, daß die eigentlich vorrangigen wörtlichen und systematischen Auslegungsmethoden in der zunächst angewandten Fonn wegen eines Verfassungsverstoßes ihres Ergebnisses modifiziert werden müssen. Der Begriff "persönliche Verhältnisse" in § 243 11 2 StPO läßt sich dahin verstehen, daß damit nur die Verhältnisse gemeint sind, die nicht für die Strafzumessung relevant sind, d.h. die nicht zu den in § 46 11 StGB genannten Verhältnissen gehören. 383 Erfaßt werden danach im wesentlichen nur noch die in § 111 I OWiG (falsche Namensangabe) genannten Personalien. 384 § 136 III StPO regelt dann keinen zweiten getrennten Teil der Vernehmung, sondern begründet die Pflicht, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt die persönlichen Verhältnisse zu erkunden. 385 Die Vernehmung im Sinne des § 136 I 1 StPO erfaßt dann nicht nur die Schuldfrage, sondern auch die Strafzumessungsfrage. (ce) Die Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung werden durch die vorgeschlagene Auslegung nicht überschritten. Der Gesetzgeber wollte bei Erlaß der StPO ersichtlich dem Gebot der Aussagefreiheit Rechnung tragen. 386 Die verkürzte Normierung der Garantie beruht darauf, daß die Reichweite des nemo tenetur Prinzips nach damaligem Verständnis enger zu ziehen war als heute. Verändert sich eine verfassungsrechtliche Garantie im Wege veränderter objektiver Auslegung und veränderten Staatsverständnisses, dann liegt es in der Konsequenz des Vorranges der objektiven Interpretation, daß auch die Gesetze, die auf überholtem Verfassungsverständnis beruhen, soweit wie möglich 383 So auch Hanack, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 10; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 243, Rn. 39 mit gleicher BeglÜndung, jedoch ohne ausdlÜckliche Berufung auf die verfassungskonfonne Auslegung. 384 Eine Ausnahme wird man für die Angabe des Berufes machen müssen, da dies keine reine Personalie, sondern ein Ausdruck der persönlichen Lebenswahl und damit eher ein strafzumessungsrelevanter Gesichtspunkt ist (so auch Seebode, NIW 1969, 2057 [2059]; Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 243, Rn. 34). 385 Seebode, MDR 1970, 185 (186). 386 Vgl. die Heranziehung des gesetzgeberischen Willens, einen verfassungskonfonnen Zustand herzustellen, als Argument für die Zulässigkeit der verfassungkonfonnen Auslegung bei BVerfGE 86, 288 (321).
I. Schweigerecht
75
objektiv ausgelegt werden, und nicht im Sinne des historischen Gesetzgebers. 387 c)
Personaldaten
In der Literatur wird teilweise weitergehend die Aussagefreiheit auch auf die Personaldaten im Sinne des § 111 I OWiG (falsche Namensangabe) erstreckt. 388 Nach der hier zugrundegelegten Konzeption ließe sich eine Aussagefreiheit für die Personalien nur begründen, wenn dies von dem nemo tenetur Grundsatz gefordert werden würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Durch Bekanntgabe seiner Personalien wirkt der Beschuldigte grundsätzlich nicht an dem eigenen Statusverlust mit. Das Verfahren bezieht sich sowieso auf die gerade anwesende konkrete Person. Das Führen eines Namens oder eines sonstigen Unterscheidungsmerkmals ist die unerläßliche Mindestpflicht in einer staatlichen Gemeinschaft. 389 Der durch die staatliche Gemeinschaft erreichte Gewinn der Reflexion des einzelnen, durch Zuordnung selbständiger Handlungsräume, nicht zuletzt durch das Privatrecht geht einher mit dem Verlust des unmittelbar Überschaubaren und Erreichbaren. 390 Der Verlust der Überschaubarkeit kann nur so ausgeglichen werden, daß die Last einer Identifizierbarkeit von jedem zu tragen ist. Davon geht auch die Regelung des § 1 I 1 PersonalauswG aus. 391 Eine Pflicht zur Angabe der Personaldaten berührt demnach den nemo tenetur Grundsatz nicht. Eine andere Frage ist, ob eine Pflicht zur Angabe der Personaldaten den Beschuldigten überhaupt trifft. § 111 I OWiG setzt sie voraus und normiert sie
Stärker an den historischen Gesetzgeberwillen angelehnt dagegen Eckardt, 55 f. Nachweise s. oben S. 71, Fn. 370. A.A.: BGHSt 25, 13, (17); BGHSt 21, 334 (364); Rieß. JA 1980, 293 (294); Henkel, 174; Pfeiffer, in: KK-StPO, Einl., Rn. 88; Boujong, in: KK-StPO, § 136, Rn. 7; Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, § 136, Rn. 5; Göhler, OWiG, § 111, Rn. 17. 389 Hanack, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 13. 390 Siehe zur Staatsentwicklung Grimm. in: Voigt (Hrsg.), 27 (42 ff.). 391 Hanack, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 13. Darüber hinaus erscheint es ausgesprochen schwierig, sich ein Beispiel vorzustellen, bei dem die Angabe der Personalien nicht nur erleichternd, sondern auch notwendig für die Verurteilung ist; meist werden sonstige IdentifIkationsmöglichkeiten wie Aussehen, Fingerabdruck und genetischer Fingerabdruck zur Konkretisierung des Täters ausreichen. 387 388
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§ 3 Der Strafprozeß
nicht selbst. 392 Auch aus den Vorschriften über die Identitätsfeststellung (§ 163b I StPO)393 und der vorläufigen Festnahme (§ 127 StPOp94 läßt sich eine solche aktive Pflicht nicht herleiten. Sie ergibt sich aber dennoch aus der StPO.395 Diese geht von einer Aussagepflicht hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse aus (§§ 136 III, 243 11 2 StPO) und nimmt diese Pflicht nur innerhalb der Reichweite des Aussageverweigerungsrechts zurück. Als Ergebnis läßt sich ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten, mit Ausnahme der Personaldaten, im Strafverfahren als wichtigste Teilgewährleistung des nemo tenetur Prinzips festhalten. 3. Zeitpunkt
a) Der Beschuldigtenstatus Die Aussagefreiheit steht dem Beschuldigten, sobald er die BeschuldigtensteIlung einnimmt, zu. Die StPO erwähnt zwar den Begriff des Beschuldigten, defmiert ihn jedoch nicht. 396 Über die Voraussetzung des Beschuldigtenstatus bestehen im Detail Unterschiede, die hier ohne Bedeutung sind. 397 Der Tatverdacht allein begründet noch nicht die Beschuldigteneigenschaft, die Strafverfahrensbehörde muß zusätzlich das Verfahren gegen einen oder mehrere als Beschuldigte führen. 398 Beschuldigter ist der Tatverdächtige, gegen den aufgrund eines Willensakts der zuständigen399 Strafverfolgungsbehörde ein Ermitt-
392 Rogall, 176 f.; Bruns, in: FS. f. Erleh Sehmidt-Leiehner, 1977, 1 (13); Seebode, NIW 1969, 2057 (2058); Rieß, JA 1980, 293 (294); Seebode, JA 1980, 493 (493); jüngst BVerfG NIW 1995, 3310 (3311). 393 Bruns, in: FS. f. Erleh Sehmidt-Leiehner, 1977, 1 (10 f.); Dingeldey, JA 1984,407 (412). 394 Bruns, in: FS. f. Erleh Sehmidt-Leiehner, 1977, 1 (11). 395 So wohl BGHSt 25, 13, (17); BGHSt 21, 334 (364); Dähn, JA 1979, 579 (581); ablehnend Bruns, in: FS. f. Erleh Sehmidt-Leiehner, 1977, 1 (14); Seebode, NJW 1969, 2057 (2058); Dingeldey, JA 1984, 407 (412). 396 Gerling, 26. 397 Siehe ausführlich zur Beschuldigteneigenschaft: Gerhard Bauer, 16 ff.; v. Heydebreck, 35 ff.; AmJ, Kriminalistik 1970, 379 ff.; Fincke, ZStW 95 (1983), 918 ff.; v. Gerlach, NJW 1969, 776 (777 ff.); Rogall, MDR 1977, 978 (978). 398 Bruns, in: FS. f. Erleh Sehmidt-Leiehner, 1977, 1 (4); v. Gerlach, NIW 1969, 776 (776); Hanack, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 4. 399 Zu den Problemen bei der Vernehmung durch einen nicht ermittelnden Beamten vgl. Kleinknecht, Kriminalistik 1965, 449 (452); zu den Ermittlungsbehörden s. Fincke, ZStW 95 (1983),918 (939 ff.).
I. Schweige recht
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lungsverfahren geführt wird. 400 Dazu ist sie verpflichtet, wenn die Ermittlungen aufgrund einer Strafanzeige geführt werden401 oder wenn Tatsachen vorliegen, die auf eine naheliegende Möglichkeit der Täterschaft oder Teilnahme schließen lassen. 402 Der Zeitpunkt des Beginns der Stellung als Beschuldigter hängt demnach auch davon ab, ob die Ermittlungen aufgrund einer Anzeige einer konkreten Person oder aufgrund einer Anzeige gegen Unbekannt aufgenommen wurden. 403 Für letztere Fallgruppe läßt sich der in § 397 I AO speziell für das Steuerrecht formulierte Gedanke verallgemeinem. 404 Als Maßstab für die notwendige Verdachtsintensität lassen sich die Vorschriften über die Aufnahme der Ermittlung und der Erhebung der Anklage (§§ 152 11, 160 I StPO) fruchtbar machen. 40S b) Problemfälle
aa) Freiraum der Verfahrensbehörde bei Herbeiführung des Beschuldigtenstatus Zu klären bleibt, ob der nemo tenetur Grundsatz von der Verfahrensbehörde verlangt, möglichst schnell die Beschuldigteneigenschaften herbeizuführen; d.h. sobald es die Strafprozeßordnung zuläßt,406 von einer Zeugenbefragung zu einer Beschuldigtenbefragung überzugehen. Dies hängt davon ab, ob sich die Rechtsstellung ab dem Zeitpunkt des Vorliegens der Beschuldigteneigenschaft für den Betroffenen verbessert. 407
400 BGHSt 37, 48 (51); BGHSt 34, 138 (140); Fincke, ZStW 95 (1983), 918 (945); wobei sich der Willensakt des Strafverfolgungsbehörde auch aus objektiven Umständen ergeben kann vgl. Gerling, 31 ff.; Lenckner, in: FS. f. Kar! Peters, 1974, 333 (340); Geppert, in: FS. f. Dietrich Oehler, 1985,323 (328); ter Veen, StrVert 1983, 293 (294). 401 V. Gerlach, NJW 1969, 776 (778); Hanack, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 7; differenzierend Bruns, in: FS. f. Erich Schmidt-Leichner, 1977, 1 (5). 402 BGHSt 10, 8 (12); Hauser, KriminaJistik 1978, 369 (372). 403 Siehe statt vieler Helgerth, 42 ff.; Gerling, 33; ArtzI, KriminaJistik 1970, 379 (382). 404 Gerling, 37 f.; Bringewat, JZ 1981,289 (292). § 397 1 AO lautet: (I) Das Strafverfahren ist eingeleitet, sobald die Finanzbehörde, die Polizei, die Staatsanwaltschaft, einer ihrer Hilfsbeamten oder der Strafrichter eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen. 40S Dingeldey, JA 1984, 407 (410). 406 Zu dem Freiraum bzgl. der Beurteilung der BeschuldigtensteUung siehe begrifflich scharf Fincke, ZStW 95 (1983), 918 (935). 407 Davon geht z.B. Rieß, JA 1980, 293 (297) aus.
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§ 3 Der Strafprozeß
bb) Erstreckung der Aussagefreiheit des Beschuldigten auch auf weitere selbständige Aussagepersonen Vergleichbar gelagert und daher für eine zusammenfassende Erörterung geeignet ist die Frage, wie die Aussagen von Tatverdächtigen, die noch keine Beschuldigten sind, bzw. deren Rolle insgesamt noch unklar ist, zu behandeln sind. In der Literatur werden diese Konstellationen im Rahmen der Diskussion über den "Verdächtigen" als eigenständige, schweigeberechtigte Aussageperson und unter dem Begriff der "informatorischen Befragung"408 erörtert. Die Stellung des "Verdächtigen" erklärt sich durch den Begriff selbst, d.h. es handelt sich um einen Tatverdächtigen, der jedoch noch keinen Beschuldigtenstatus eingenommen hat. Die "informatorische Befragung" erfaßt die ersten Ermittlungen hinsichtlich einer Person oder eines Vorfalles mit dem Zweck, zu erkennen, ob der Befragte als Zeuge oder als Beschuldigter in Frage kommt. 409 Beide Probleme können im konkreten Fall zusammenfallen, müssen es jedoch nicht. 410 Die rechtlichen Probleme hinsichtlich des nemo tenetur Prinzips sind dagegen identisch. 411 Die Aussagen bei "informatorischer Befragung" bzw. seitens eines "Verdächtigen" stammen nicht von einem Beschuldigten. 412 Da die StPO als Auskunftsperson nur den Zeugen oder den Beschuldigten kennt,413
408 Von der "informatorischen Befragung" ist die spontane Äußerung zu unterscheiden, vgl. Beulke, StrVert 1990, 180 (181). Die spontanen Äußerungen erfassen die augenblicklichen Aussagen von Auskunftspersonen, meist von Beschuldigten, die in der jeweiligen Situation so überraschend abgegeben werden, daß den Strafverfolgungsbehörden keine Möglichkeit zukommt, den Betroffenen gemäß seiner prozessualen Situation zu behandeln, d.h. für den Regelfall, daß ihnen keine Gelegenheit gegeben war, den Beschuldigten gern. § 136 StPO zu belehren, instruktiv BGH NStZ 1990, 43 (43 f.) und OLG Köln, NStZ 1991, 52 (52 f.). Die Aussagefreiheit wird durch die spontanen Äußerungen nicht beeinträchtigt. Die Frage, ob diese Äußerungen in einem Strafverfahren verwertet werden können, ist wie die Problematik der Belehrungsvorschriften eine Frage des fair trail Grundsatzes und nicht eine des nemo tenetur Prinzips. 409 Siehe etwa BGH StrVert 1983, 267; KG JR 1992, 437; s.a. AG Tiergarten, StrVert 1983, 277 (277 f.); ausführlich Gerling, 9 ff.; s.a. ter Veen, StrVert 1983, 293 ff. (m.w.N. in Fn. 5. auf S. 293); Beulke, StrVert 1990, 180 (181). 410 Gerling, 47; Geppert, in: FS. f. Dietrich Oehler, 1985, 323 (323). 411 Siehe a. Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, Einl., Rn. 79. 412 Zu der Zeugenrolle als Negativabgrenzung zum Beschuldigten Gerling, 43. 413 Vgl. statt vieler Wol/gang Schmidt, 30 ff.; Prittwitz, 180; Gerling, 49; v. Gerlach, NJW 1969, 776 (777); Artd, Kriminalistik 1970, 379 (379); Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, Einl., Rn. 79. Neuerdings kennt die Strafprozeßordnung auch die Stellung des Täters innerhalb eines Ermittlungsverfahrens, vgl. §§ 98a I, l00c I Nr. 1 b u. Nr. 2, l00c 11, 163e StPO s. zu diesem "Redaktionsversehen" , das eine rechtsstaatliehe "Schande" darstellt, Zaczyk, StrVert 1993,490 (491).
I. Schweigerccht
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sind sie demnach Aussagen von Zeugen. 414 Dagegen will eine Ansicht den "Verdächtigen" als schweigeberechtigte Auskunftsperson einführen,41s bzw. die "informatorische Befragung" als eine eigenständige Aussagesituation anerkennen. Da die StPO die Position des "Verdächtigen" kennt (s. § 60 Nr. 2 StPO [Vereidigungsverbot], § 97 11 3 StPO [Ausnahme vom Beschlagnahmeverbot der Zeugnisverweigerungsberechtigten], § 102 StPO [Durchsuchung], § 163b I StPO [Identi1ätsfeststellung]),416 die Aussagefreiheit jedoch nur in Verbindung mit der BeschuldigtensteIlung nennt, ließe sich diese vom Gesetz nicht vorgesehene Position nur begründen, wenn sie im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung notwendig wäre. 411 Vergleichbares gilt für die Anerkennung der Äußerungen im Rahmen einer "informatorischen Befragung" als selbständige Aussagesituation. Die StPO kennt diese Situation nicht ausdrücklich,418 jedoch wäre auch hier die rechtliche Neubestimmung einer Aussagesituation, die weder die des Zeugen, noch die des "Verdächtigen" ,419 noch des Beschuldigten ist,42O im Rahmen des hier interessierenden Untersuchungsrahmens nur dann geboten, wenn dies der nemo tenetur Grundsatz fordere. Beide Fragestellungen hängen von der Art des Unterschiedes der Rechtsstellungen des Beschuldigten einerseits und des Zeugen andererseits ab. 421 Der Unterschied ist erheblich und wird allgemein auch so eingestuft. 422
414 Zu dem "Verdächtigen": Bruns, in: FS. f. Erich Schmidt-Leichner, 1977, 1 (4); Rogall, NJW 1978, 2535 (2536); Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1221); s. zu der "informatorischen Befragung": v. Gerlach, NJW 1969, 776 (777); ter Veen, StrVert 1983, 293 (295). 415 Siehe dazu Helgerth, 149 ff.; Bruns, in: FS. f. Erich Schmidt-Leichner, 1977, 1 (2 ff.); Bringewat, JZ 1981,289 (294); s. a. ter Veen, StrVert 1983, 293 (296), der zwar den "Verdächtigen" als eigene Kategorie verwirft, aber bei der "informatorischen Befragung" eine "qualifizierte Belehrung" des noch - nicht - Beschuldigten fordert. 416 Siehe zu dem Begriff des "Verdächtigen" Wache, in: KK-StPO, § 163a, Rn. 2. 411 Rogall, NJW 1978, 2535 (2536); insoweit übereinstimmend Bringewat, JZ 1981, 289 (293). 418 Gerling, 131. 419 So ausdrücklich Gerling, 47. 420 So die Ansicht von Gerling, 129 ff. 421 Siehe dazu ausführlich v. Gerlach, NJW 1969, 776 (777). 422 Hauser, Kriminalistik 1978, 369 (370).
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§ 3 Der Strafprozeß
ce) Vergleich der Rechtsstellung des Beschuldigten mit der des Zeugen hinsichtlich des nemo tenetur Prinzips Beide Ansichten ließen sich zum einen dann begründen, wenn der Schutz, den der Betroffene als Zeuge genießt, den Anforderungen aus dem nemo tenetur Prinzip nicht genügen würde. 423
(a)
Wahrheitspflicht
Hinsichtlich der Aussagefreiheit ist die Position des Beschuldigten günstiger, als die des Zeugen, da ihm eine umfassende Aussagefreiheit zugute kommt und er keiner Wahrheitspflicht unterliegt.424 Für den Zeugen gilt dies dagegen nicht. 425 Der obligatorische Lehrsatz jedes Strafprozeßlehrbuches über die Mitwirkungspflicht des Zeugen lautet: Der Zeuge hat drei Pflichten: Erscheinen, Aussagen und Beeiden. 426 Dabei gilt für den Zeugen eine Wahrheitspflicht,427 allerdings nur im Rahmen des Aussagegegenstands. 428 (b)
Aussagefreiheit
Dem Beschuldigten kommt eine umfassende Aussagefreiheit zu. Das Gesetz regelt in den §§ 52- 55 StPO Fälle, in denen die Zeugen zur Verweigerung des Zeugnisses bzw. der Aussage berechtigt sind. Hier soll nur das Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 IStPO) interessieren. 429
§ 55 I StPO enthält die Kombination der Regelungen für ein potentielles Strafverfahren, die in der Aussagefreiheit (bzw. Freiheit von dem Zwang zur aktiven Mitwirkung) des Beschuldigten und dem Zeugnisverweigerungsrecht
423 Ebenso
Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 (1222).
424 Die Herausgabepflicht des § 95 StPO entspricht für den Beschuldigten und den Zeugen
der Aussagepflicht, vgl. Rogall, 57 f., 157 f. 425 Ausführlich zu der Stellung des ZeugenjÜDgst Meier, lZ 1991,639 ff. 426 Roxin, § 26 B m 2, Rn. 11, S. 177; Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, Vor. § 48, Rn. 5. 427 Roxin, § 26 B m 2, Rn. 12, S. 177 f. 428 Geerds, in: FS. f. Ulrich Stock, 1966, 171 (173 f.); dies läßt sich schon den ausdrücklichen Formulierungen der §§ 57 und 66c StPO (Zeugenbelehrung und Eidesformel) entnehmen. 429 Zur Geschichte des § 55 StPO vgl. ausführlich Gerling, 54 ff.
I. Schweigerecht
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des Angehörigen (§ 52 StPO) bestehen. 43O § 55 I Alt. 1 StPO entspricht der Aussagefreiheit des Beschuldigten und § 55 I Alt. 2 StPO dem § 52 StPO. Der Wortlaut des § 55 I StPO ist insoweit ungenau, als das Auskunftsverweigerungsrecht sich nicht nur auf Fragen im Sinne des § 69 11 StPO bezieht, sondern auf jede Art Auskunft, und zwar in jedem Stadium des Verfahrens. 431 Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 I StPO besteht nicht unbeschränkt, sondern nur bei konkreten Punkten, welche die in § 55 I StPO genannte Gefahr begründen. 4J2 Insoweit sind das Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 I StPO) und das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen (§ 52 StPO) verschieden. 433 Jedoch sind an den Grad der drohenden Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne des § 55 I StPO keine allzu strengen Anforderungen zu stellen. 434 Ein Anfangsverdacht im Sinne des § 152 11 StPO (Legalitätsgrundsatz) reicht zumindest sicher aus, um den Schutz eingreifen zu lassen. 43s Oft erfüllt der gesamte Inhalt der Aussage die Voraussetzungen von § 55 I StPO, wodurch das Auskunftsverweigerungsrecht dazu führen kann, daß die Aussage, wie bei einem Zeugnisverweigerungsrecht, in vollem Umfang verweigert werden darf. 4J6 Das Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen unterscheidet sich demnach von der Aussagefreiheit des Beschuldigten dadurch, daß bei ihm der Umfang des Verweigerungsrechts konkret festgestellt werden muß, während zugunsten des Beschuldigten ein umfassendes Verweigerungsrecht besteht.
430 Dagegen will Gerling, 76 den § 55 I StPO auf die zweite Variante reduzieren, da die erste Variante von § 52 StPO (Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichen Gründen) vollständig abgedeckt sei. Hier wird ohne Grund von der klaren Systematik des Gesetzes abgewichen. 431 Helgenh, 67; Ruell, 29. 432 Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (163). 433 BGHSt 27, 139 (143); BGHSt 10, 186 (190). Fragen, deren wahrheitsgemäße Beantwortung eine Strafverfolgung zwar nicht alleine auslösen würden, die aber ein Teilstück eines mosaikartigen Beweisgebäudes betreffen und demzufolge zu einer Belastung des Zeugen beitragen können, rechtfertigen die Auskunftsverweigerung nach § 55 I StPO (vgl. BGH StrVert 1987, 328 [328 f.]). Entscheidend ist ebenfalls nicht, ob nur die Angabe der Wahrheit die strafrechtliche Verfolgungsgefahr nach sich zieht, sondern ob die Beantwortung der Frage diese Folge hat (s. RGSt 36, 114 [117]; vgl. zu diesem Urteil Helgenh, 69 f. und Gerling, 72 f.). 434 BGH StrVert 1991, 145; Gerling, 52; Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (163); s. ausfiihrlich zum Gefahrbegriff Ruell, 45. 43S Dingeldey, JA 1984, 407 (410). 4J6BGH StrVert 1987, 328 (328 f.); BGH NStZ 1986, 181; RGSt 2,263 (263 f.); Eser, ZStW 86 (1974), Beiheft, 136 (163); lhomtls, NStZ 1982, 489 (493). 6 Wolff
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§ 3 Der Strafprozeß
Der Zeuge muß die Auskunftsverweigerung ausdrücklich erklären und darf die belastenden Tatsachen nicht einfach verschweigen. 437 Der Beschuldigte kann dagegen zumindest sanktionslos Tatsachen aussparen. Darüber hinaus verlangt § 56 S. 1 StPO vom Zeugen, auf Aufforderung des Vernehmenden, sein Auskunftsverweigerungsrecht glaubhaft zu machen. Um den durch Auskunftsverweigerungsrecht bewirkten Schutz nicht über § 56 S. 1 StPO illusorisch werden zu lassen, dürfen an die Glaubhaftmachung keine hohen Ansprüche gestellt werden,438 eventuell muß auf sie zum Schutz vor Selbstbelastung vollständig verzichtet werden. 439 Weiter wird die Belehrung nach § 55 11 StPO erst dann rechtlich gefordert, wenn ein Grund zu der Annahme besteht, daß die Voraussetzungen des § 55 I StPO vorliegen,440 während die Belehrungspflicht bei der ersten Vernehmung (§ 136 I 2 StPO) eingreift, sobald die Beschuldigteneigenschaft vorliegt. Da die Belehrung jedoch vom nemo tenetur Grundsatz nicht gefordert ist (s. o. S. 68), ist deren Fehlen ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt unerheblich. 441
(e)
§ 55 I Alt. I StPO und die Anforderungen des nemo tenetur Prinzips
Die Erweiterung der Rechtsstellung des (tatverdächtigen) Zeugen hinsichtlich der Aussagesituation wäre dann notwendig, wenn das Auskunftsverweige437 Geerds. in: FS. f. U1rich Stock. 1966. 171 (171); Dingeldey. JA 1984. 407 (410). Ob Gerling. 77 von diesem Grundsatz abweichen will. ist nicht klar. 438 BGH StrVert 1986. 282 (282 f.); Rogall. 157; Buchholz. 107. Dies wirkt sich bis in die beschränkte revisionsrechtliche Überprufungsmöglichkeit der Zubilligung des Auslcunftsverweigerungsrechts durch den Tatrichter fort - vgl. BGH StrVert 1986. 515. 439 BGH StrVert 1987. 328 (328 f.); Rogall. 156; Gomolla. 217. Auch bei einer restriktiven Auslegung der Vorschrift über die Glaubhaftmachung des Verweigerungsrechts (§ 56 StPO) kann es dennoch bei juristisch unerfahrenen Zeugen zu einer faktischen Selbstbelastung kommen (vgl. Eser. ZStW 86 [1974]. Beiheft. 136 [163]). Die vom BVerfG vorgesehene Möglichkeit. als Zeugen einen Rechtsbeistand heranzuziehen (BVerfGE 38. 105 [111 ff.]) beruht gerade auf dieser Konstellation und hat bei dieser ihren guten Sinn (Gomolla. 220 ff.; Steinke. Kriminalistik 1975. 250 [251]; 7homas. NStZ 1982.489 [491]). Andererseits bedarf es des § 56 StPO zu der Verhinderung des Mißbrauchs des § 55 I StPO. die oft auch im Interesse des Beschuldigten liegt (Rogall. 156 f.; s. z.B. den Sachverhalt bei BGH NJW 1989. 2703). Eine ausdifferenzierte. dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtete Rechtsordnung kann mitunter nicht umhin. den Bürgern eine gewisse "Obliegenheit". sich über ihre Rechte kundig zu machen. aufzuerlegen. Ebenso wie sich das Verfassungsprinzip der Demokratie nur umsetzen läßt. wenn die Gemeinschaft die damit erforderliche Initiative auf sich nimmt (Hesse. Rn. 133 ff.). kann auch der Rechtsstaat nur umgesetzt werden. wenn er von den Bürgern mitgetragen wird. und ihnen nicht nur wie eine ServiceLeistung dargeboten wird. 440 BGH MDR 1953. 402 (bei Dallinger); Dingeldey. JA 1984. 407 (410 f.); kritisch Eser. ZStW 86 (1974). Beiheft. 136 (163 f.). 441 Müller-Dietz. ZStW 93 (1981). 1177 (1222).
I. Schweigerecht
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rungsrecht bei der Gefahr der Selbstbelastung (§ 55 I Alt. 1 StPO) den verfassungsrechtlichen Anforderungen des nemo tenetur Prinzips nicht gerecht würde. § 55 I Alt. 1 StPO genügt jedoch materiell dem Gebot, nicht selbst an der eigenen Herabsetzung der Persönlichkeit mitwirken zu müssen. 442 Von Rechts wegen hat der Betroffene keine Pflicht zur Aussage. Die bei § 55 I Alt. 1 StPO im Vergleich zu einem Beschuldigten höher einzustufende Gefahr einer faktischen Selbstbelastung, die darauf beruht, daß § 55 I Alt. 1 StPO dem Betroffenen mehr zur Wahrnehmung seiner Rechte zumutet, könnte nur dann zu einem anderen Ergebnis führen, wenn diese Anforderungen an die Wahrnehmung des Rechts dieses selbst aushöhlen würden. 443 Das ist jedoch bei § 55 I Alt. 1 StPO bei unbefangener Betrachtung nicht der Fall. 444 Hinzu kommt, daß die Tatsache, daß das Verfahren noch nicht gegen den Zeugen selbst betrieben wird, seinerseits die Gefahr der Verurteilung im Verhältnis zum Beschuldigten erheblich vermindert. Das Argument, daß derjenige, der sich auf § 55 I Alt. 1 StPO berufe, die Strafverfolgungsbehörden eventuell gerade auf sich aufmerksam mache,445 ist zutreffend, berührt jedoch den nemo tenetur Grundsatz nicht, da es an der Schweigemöglichkeit nichts ändert. 446 Die daraus gezogene Schlußfolgerung, es müsse der "Verdächtige" als schweigeberechtigte Person anerkannt werden,447 überzeugt insoweit nicht; denn die Nachteile, denen der Zeuge sich durch die Berufung auf § 55 I Alt. 1 StPO aussetzt, reichen maximal so weit, daß er in Verdacht gerät, eine Straftat begangen zu haben und damit erst zum "Verdächtigen" wird. 448 Die Anerkennung der Figur des "Verdächtigen" kann somit die Nachteile, die in der Praxis als Folge der Anwendung des § 55 I Alt. 1 StPO entstehen, gerade nicht ausgleichen, weil dieser Schutz zeitlich nach der Anwendung des § 55 I Alt. 1 StPO folgt. Ein markanter Unterschied zu der Rechtstellung des Beschuldigten bleibt jedoch auch bei dem durch § 55 I Alt. 1 StPO geschützten Zeugen. Macht er als (tatverdächtiger) Zeuge Angaben, müssen diese der Wahrheit entsprechen. Er hat nicht wie 442 A.A. Bringewat, lZ 1981, 289 (294) der jedoch ohne Begründung die Konkretisierung des Schweige rechts des Beschuldigten in der StPO als den von dem nemo tenetur Prinzip geforderten Minimalschutz auffaßt. 443 Kleinknecht, Kriminalistik 1965,449 (452). 444 Ausführlich Buchholz, 102 ff.; s.a. Rogall, 155; ders., NIW 1978, 2535 (2537); Stümer, 190 hinsichtlich § 384 Nr. 2 ZPO; Nothhelfer, 92; Glauben, DRiZ 1992, 395 (396); a.A.: Gerling, 65; Helgenh, 68 ff. und 149 ff.; Bruns, in: FS. f. Erich Schrnidt-Leichner, 1977, 1 (6 f.); kritisch auch Geerds, in: FS. f. Ulrich Stock, 1966, 171 (186). 445 Helgerth, 68 ff.; Gerling, 73. 446 Siehe a. Rogall, 178. 447 Helgerth, 68 ff. und 149 ff.; insoweit vergleichbar Gerling, 73 ff. und 93 ff. 448 Buchholz, 105.
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§ 3 Der Strafprozeß
der Beschuldigte die Möglichkeit, sanktionslos zu lügen. 449 Unabhängig von der Frage, ob die Lügebefugnis des Beschuldigten von dem nemo tenetur Prinzip umfaßt ist, läßt sich dieser Unterschied mit der unterschiedlichen Prozeßrolle rechtfertigen. 45O Ein Nachteil trifft den verdächtigen Zeugen dadurch nicht. Will er durch Lügen etc. seine Verteidigungsposition verbessern, kann er damit warten, bis er die Rolle des Beschuldigten inne hat. Auch die Fälle der "informatorischen Befragung" als selbständige Fallgruppen anzuerkennen, erscheint nicht notwendig, da auch der informatorisch Befragte unter den Schutz des § 55 I Alt. 1 StPO fällt 451 und somit dem verfassungsrechtlichen Gebot Genüge getan ist. 452 c)
Gesamtvergleich
Genügt somit § 55 I Alt. 1 StPO den verfassungsrechtlichen Anforderungen des nemo tenetur Prinzips, so könnte eine Pflicht der Strafverfolgungsbehörde, dem Betroffenen die BeschuldigtensteIlung möglichst schnell einzuräumen, dennoch dann bestehen, wenn diese günstiger als die Zeugenstellung ist. Hinsichtlich der Aussagefreiheit ist sie, wie gerade dargelegt, günstiger. Andererseits unterliegt der Beschuldigte weitergehenden Duldungspflichten als der Zeuge. 453 Die stärkste Eingriffsmaßnahme der Zwangsbefugnisse im Ermittlungsverfahren, die Verhängung von Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) und die vorläufige Festnahme (§ 127 11 2 StPO) sind nur gegenüber Beschuldigten möglich. 454 Die in § 164 StPO vorgesehene Möglichkeit der Festnahme von Störern bis zur Beendigung der Ermittlungshandlung ist mit den §§ 112 ff. StPO nicht zu vergleichen. Die Zwangsmaßnahmen der Beobachtung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 81 I StPO), der körperlichen Untersuchung (§ 81a I StPO) und die Aufnahme von Lichtbildern (§ 81b StPO) sind ebenin: FS. f. Karl Peters, 1974, 333 (336). 105 u. 151 ff. 451 Geppert, in: FS. f. Dietrich Oehler, 1985, 323 (341 f.); es handelt sich dabei um eine Vernehmung, so daß die Belehrung nach § 55 11 StPO notwendig ist; Schlüchter, Rn. 85; a.A. Krause, DP 1978, 305 (305); Meyer-Goßner, in: K1einknechtiMeyer, StPO, Einl., Rn. 79, m.w.N. Letztere übersieht freilich, daß die Annahme, § 55 I StPO könne vorliegen, ohne daß die Voraussetzungen des § 55 ß StPO gegeben seien, widersprüchlich ist. 452 Die Ansicht von Gerling, 25 ff. u. 129 ff., den informatorisch Befragten als selbständige Auskunftsperson anzuerkennen und dann den § 55 I StPO analog auf diesen anzuwenden, überzeugt methodisch nicht. Auch wenn der historische Gesetzgeber die "informatorische Befragung" nicht gesehen haben mag, löst die StPO diese Situation bei objektiver Auslegung über den § 55 I StPO befriedigend. Für eine analoge Anwendung ist daher kein Raum. 453 Rogall, 35; Wolfgang Schmidt, 17; Reiß, 176 f. 454 Rogall, 35; Meyer-Goßner, in: K1einknechtlMeyer, StPO, Vor. § 112, Rn. 4. 449 Lenckner,
450 Buchholz,
I. Schweigerecht
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falls nur gegen den Beschuldigten möglich. 455 Die der körperlichen Untersuchung des Beschuldigten (§ 8Ia I StPO) entsprechende Maßnahme ist bei dem Zeugen nur unter den strengeren Voraussetzungen des § 8Ic I u. 11 StPO möglich. Der weitgehende Schutz des Beschuldigten beschränkt sich somit auf dessen geistiges Zentrum als Ausfluß seiner mentalseelischen Integrität. 456 So sind die weitgehenden Duldungspflichten des Beschuldigten auch meist solche, die sich auf die Ausübung von vis absoluta durch den Staat beziehen. 4S7 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Rechtsstellung des Beschuldigten für den Betroffenen zwar hinsichtlich der Aussagefreiheit, aber nicht insgesamt günstiger ist als die Stellung des Zeugen. 4S8 Zu Recht wird daher davon gesprochen, daß die Rolle des Beschuldigten im Strafprozeß nicht eindimensional sei. 459 Die Rechtspositionen sind unterschiedlich und den Bedürfnissen und Erfordernissen der konkreten Rechtsstellung angepaßt. 460 Der Unterschied zwischen beiden Schutznormen erklärt sich aus der unterschiedlichen Verfahrensstellung. Während dem unbeteiligten Dritten die Schutzbedürftigkeit bzgl. der Aussage konkret nachgewiesen werden muß, wird sie beim verfahrensrechtlich Betroffenen abstrakt vermutet. Dagegen besteht beim Dritten nur in viel eingeschränkterem Maße die Möglichkeit, über das Interesse der Allgemeinheit an der Strafverfolgung Beeinträchtigungen seiner Person zu begründen. Ein allein auf die Aussagesituation reduzierter Vergleich wird daher der Situation nicht gerecht, da er nur einen Aspekt aus dem Pflichten- und Rechtengeflecht des Beschuldigten und des Zeugen herausgreift. Da der Betroffene durch die Erlangung der Beschuldigtenrolle insgesamt rechtlich nicht besser steht als der Zeuge, kann es zumindest aus dem Gesichtspunkt des nemo tenetur Prinzips nicht als unzulässig angesehen werden, wenn der Verfolgungsbehörde ein gewisser Freiraum für den Zeitpunkt zur Schaffung der Voraussetzung der Beschuldigteneigenschaft eingeräumt wird. 461 Dies umfaßt aber nicht das Recht, bei eindeutigem Vorliegen der Voraussetzungen die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen eine bestimmte Person vorläufig noch zu unterlassen,
Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, § 81a, Rn. 2 u. § 81c, Rn. 5. Siehe dazu auch unten S. 93. 457 Reiß, 173 ff.; Grünwald, JZ 1981,423 (428 f.). 458 Fincke, ZStW 95 (1983), 918 (968). 459 Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793 (797 f.). 460 V. Heydebreck, 10 f.; Buchholz, 109. 461 BGHSt 37, 48 (51 f.); BGHSt 10, 8 (12); so auch die überwiegende Ansicht, vgl. Kohlhaas, NJW 1965, 1254 (1255); Schünemann, DRiZ 1979, 101 (104); Beulke, StrVert 1990, 180 (181); kritisch Fincke, ZStW 95 (1983), 918 (935 f.). 455
456
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§ 3 Der Strafprozeß
um so die bei der Vernehmung gegebene Erleichterung der Zeugenvernehmung im Vergleich zur Beschuldigtenvernehmung auszunutzen. 462 4. Rechtsfolgen
a) Schweigerecht Die Aussagefreiheit gestattet dem Beschuldigten, in jedem Stadium seines Verfahrens zu schweigen; er darf auch jederzeit sein Schweigen aufgeben. Die Befugnis der Strafverfolgungsbehörden, gem. § l00a S. 1 StPO gegebenenfalls das Telefon abzuhören, stellt zu diesem Grundsatz keine Ausnahme dar, und kann auch nicht als Verletzung des nemo tenetur Grundsatzes gewertet werden. 463 Der Beschuldigte macht seine Angaben nicht gegenüber dem Strafverfolgungsorgan, sondern freiwillig am Telefon. Daß er dabei unbewußt sich selbst belastet, ändert nichts daran, daß für den Beschuldigten keinerlei Zwang besteht, und zwar auch kein mittelbarer, gegen sich selbst aussagen zu müssen; eine Mitwirkung am Ermittlungsverfahren im Sinne des nemo tenetur Prinzips liegt insofern nicht vor. 464
b) Keine Schweigepflicht Andererseits verwehrt es die Aussagefreiheit dem Betroffenen nicht, sich auf die Sache einzulassen. 465 Dies ergibt sich schon aus § 136 11 StPO, nach dem der Beschuldigte Gelegenheit bekommen muß, den Verdacht gegen ihn zu entkräften, aber auch aus den Hinweispflichten der §§ 115 III 1, 136 I 2, 243 IV 1 StPO. Freiwillige, zurechnungsfähig gemachte Äußerungen können sowohl für die Täterschaft, als auch für die Strafzumessung berücksichtigt werden. 466 Die Einlassung des Beschuldigten hat in der Beweiswürdigung ein ganz erhebliches Gewicht, unabhängig davon, daß sie im "technischen Sinne" kein
462 BGHSt 22, 129 (132); BGHSt 10, 8 (12); Kleinknecht, Kriminalistik 1965, 449 (452); Rieß, JA 1980,293 (297 f.); Hanack, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 136, Rn. 7. 463 Welp, 59; Rogall, 181 f.; Gross-Spreitzer, 74; Nack, in: KK-StPO, § lOOa, Rn. 1; a.A. wohl Kirsch, in: Zustand, 229 [243]. 464 Ausführlich Welp, 56 ff. 465 Instruktiv Meyer, JR 1966, 310 (310). 466 Meyer-Goßner, in: KleinknechtIMeyer, StPO, § 136, Rn. 18.
I. Schweigerecht
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Beweismittel ist. 467 Die Möglichkeit der aktiven Verteidigung des Beschuldigten fördert nicht nur die Wahrheitsfmdung im Prozeß, insbesondere die Entlastung des Beschuldigten,468 und gewährt dem Beschuldigten rechtliches Gehör,469 sondern entspricht auch dessen Stellung als Subjekt des Verfahrens. 470 c) Beweisverbot
aa) Zur Frage der Täterschaft Das Recht, zu schweigen, zieht das Verbot nach sich, aus dem Schweigen irgendwelche Nachteile hinsichtlich der Schuldfrage Lw.S. zu folgern. 471 Das gilt auch für den Fall, daß der Beschuldigte erst im Laufe des Verfahrens mit dem Schweigen beginnt oder dieses aufgibt. 472 Dies rechtfertigt sich aus der einfachen Überlegung: Das Schweigerecht würde ausgehöhlt, wenn aus dessen Ausübung nachteilige Schlüsse hinsichtlich der Täterschaft gefolgert werden dürften.473 Wegen dieses Verbots der Berücksichtigung bei der Beweiswürdigung kommt der Frage, was unter Schweigen zu verstehen ist, erhebliche Bedeutung zu. Der Beschuldigte schweigt nicht nur dann, wenn er nicht redet, sondern schon dann, wenn er sich sachlich nicht zu dem Vorwurf äußert. 474
467 Rogall, 32 f.; Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793 (793, 801); zur dogmatischen Rechtfertigung siehe ausführlich Prittwitz, 209 ff. 468 HartmuJ Schneider, 28. 469 Siehe zu dem Streit, ob die Aussagefreiheit nur das rechtliche Gehör des Beschuldigten gewährleisten will, oder auch der Wahrheitsfindung dient, z.B. Grünwald, StrVert 1987, 453 (453 f.). 470 Rüping, 133 f.; Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, Einl., Rn. 80. 471 Ausführlich Stree, JZ 1966, 593 (594 ff.); Kühl, JuS 1986, 115 (118); s.a. Rogall, 247 ff.; Wolfgang Schmidt, 48; Hürxthal, in: KK-StPO, § 261, Rn. 39; Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, § 261, Rn. 16; ausführlich zum Beweisverwertungsverbot, speziell zu dem nemo tenetur Grundsatz Rogall, 199 ff. 472 BGH wistra 1992, 191 (192); Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, § 261, Rn. 18 m.w.N. 473 Statt vieler Rogall, 248; HartmuJ Schneider, 29. 474 Siehe die Beispiele bei: BGHSt 34, 324 (326); BGH NStZ 1990,447 (447 f.); OLG Düsseldorf JZ 1992, 978 f. m. Anm. Mitsch; BayObLG MDR 1988, 882 (883); BayObLG DAR 1983, 252 (bei Rüth); BayObLG DAR 1985, 245 (bei Rüth); BayObLG StrVert 1982, 258; Stree, JZ 1966,593 (598); Hürxthal, in: KK-StPO, § 261, Rn. 39.
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§ 3 Der Strafprozeß
bb) Strafzumessung
(a)
Die Ansicht der Rechtsprechung
Neben der Frage, ob der Täter die angeklagte Tat begangen hat, steht das Problem der angemessenen Strafzumessung. § 46 I 1 StGB bestimmt in Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlichen nulla poena sine culpa Grundsatz, daß die Schuld des Täters Grundlage für die Strafzumessung ist. 475 § 46 11 2 StGB läßt dabei dem Verhalten nach der Tat ein erhebliches Gewicht zukommen, zu letzterem zählt auch das Verhalten in der Hauptverhandlung. Auch hier kommt der Aussagefreiheit Bedeutung zu. Leugnen ist eine zulässige Verteidigungsstrategie, mit der Folge, daß das gesamte mit dem Leugnen zusammenhängende Verhalten nicht straferschwerend wirken darf. 476 Vom Angeklagten kann nicht ein Verhalten verlangt werden, das sich mit dieser Verteidigungsstrategie in Widerspruch setzt. Dagegen läßt die Rechtsprechung Leugnen, fehlende Reue usw. dann straferschwerend wirken, wenn das Verhalten trotz der dem Angeklagten zustehenden Verteidigungsfreiheit eine gefühllose oder rechtsfeindliche Gesinnung kennzeichnet477 oder das Verteidigungsverhalten des Angeklagten in Rechte Dritter eingreift. 478 Dagegen wird das Geständnis strafmildernd berücksichtigt; streitig ist insoweit, ob dies immer gelten so1l479 oder nur, wenn es als Indiz für den Grad der Schuld des Täters und dessen Einsicht in das begangene Unrecht gelten kann. 480 Die Frage, inwiefern diese Praxis mit dem nemo tenetur Grundsatz zu vereinbaren ist, drängt sich nahezu auf.
475 BGH NStZ 1985,545.
Rieß, JA 1980,293 (295); s. die Beispiele: BGH StrVert 1987, 530; BGH wistra 1987, 251; BGH NStZ 1985, 545; BGH NStZ 1983, 118; BGH StrVert 1982, 418 (418 f.); BGH StrVert 1981, 122; BGH StrVert 1981, 516; Hans-Jürgen Bruns, 232; Schäfer, Rn. 291. 477 BGHSt I, 105 (106); BGH NStZ 1983, 118; BGH StrVert 1981, 122; Rieß, JA 1980, 293 (297). 478 Rogall, 41; Wessels, JuS 1966, 169 (174); s.z.B. OLG Düsseldorf JZ 1992, 978 f. m.Anrn. Mitsch. 479 So Schäfer, Rn. 296. 480 Hans-Jürgen Bruns, 233; Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793 (805 f. m.w.N.). Zu Recht 476
wird darauf hingewiesen, daß die allgemeine Übung einer starken Strafmilderung bei Geständnissen eventuell die Bereitschaft, sich streitig zu verteidigen, beeinträchtigen kann (s. etwa Schäfer, Rn. 296; Grünwald, StrVert 1987, 453 [454]; ausführlich Kirsch, in: Zustand, 229 [239 ff.]).
I. Schweigerecht
(b)
89
Begründungsvorschlag
Ob ein Angeklagter eine (angeklagte) Straftat begangen hat, ist von der Frage, welche Gesichtspunkte bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind, zu trennen. Den maßgeblichen Ausschlag für die Strafzumessung gibt die Art des Delikts. Sie legt den sogenannten Strafrahmen fest. 481 Die Gesichtspunkte des § 46 11 StGB können sich nur in dem Rahmen bewegen, der durch die Schuld gebildet wird, die wiederum auf der Straftat beruht. 482 Andererseits soll die Strafe die in der Tat zum Ausdruck kommende Selbsterhebung des Täters über einen Mitmenschen ausgleichen und die Wiedereingliederung ermöglichen. 483 Schon der Gedanke des Ausgleiches setzt voraus, daß die Tat kein punktuelles, bei allen Menschen gleich zu bewertendes Ereignis ist. Eine zeitlich der Tat nachfolgende Strafe kann die Erhebung des Täters nur ausgleichen, wenn diese beim Täter noch vorhanden ist. Das Maß des Ausgleichs hängt erheblich davon ab, welche Einstellung ursächlich für die Tat war und wie diese Einstellung sich entwickelt hat. 484 Aus diesem Ansatz ergeben sich die strafrelevanten Gesichtspunkte. Maßgeblich ist das durch den Täter bewirkte Unrecht, die Tat, und zweitrangig relevant ist, aufgrund welcher subjektiven Verfassung des Täters die Tat begangen und wie sich diese Tätereinstellung durch die Tat oder danach gewandelt hat. 48S Die Relevanz der Beurteilung der Tat durch den Täter selbst für die Strafzumessung kann nun in Konflikt mit der Aussagefreiheit geraten. Die Regel der Rechtsprechung, die Motivation bzw. den Hintergrund des Schweigens nur in Extremfällen zu berücksichtigen, scheint die richtige Lösung zu sein. 486 481 Die Festlegung des Strafrahmens über die Fälle des besonders schweren Falles bleibt als Sonderfall außer Betracht. 482 BGH NStZ 1985, 545; ausführlich jüngst Horstkotte, in: Jehle (Hrsg.), 151 ff. und HartHönig, 13 ff. Eine Lebensführungsschuld oder eine Gesinnungsschuld bleibt auch bei der Strafzumessung außer Betracht (vgl. Müller-Dietz, Grenzen, 62). 483 Lampe, in: FS. f. Jürgen Baumann, 1992,21 (31). 484 Stree, in: Schönke/Schröder, StOB, § 46, Rn. 8 f. Dieser Situation ist sich unsere Rechtsordnung bewußt. Die Institute des Beschleunigungsgebots im Strafprozeß (s. dazu Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer, StPO, Eint., Rn. 160), der Löschungsfristen im BZRG und der Verjährung (s. dazu oben Fn. 260) sind keine von außen kommenden, einer anderen rechtsstaatlichen Garantie zuzuordnenden, sondern dem Wesen der Strafe immanente Gesichtspunkte. 48S Stree, in: Schönke/Schröder, StOB, § 46, Rn. 8, 39. Daher mißt die überwiegende Ansicht völlig zu Recht der eigenen Beurteilung der Tat durch den Täter eine Bedeutung für die Frage der Strafzumessung bei (vgl. Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 46, Rn. 39). Dabei kann auch das Verhalten in der Hauptverhandlung in engen Grenzen berücksichtigt werden (vgl. Lackner, StOB, § 46, Rn. 43). 486 Stree, in: Schönke/Schröder, StOB, § 46, Rn. 39, 41; kritisch dagegen Grünwald, StrVert 1987,453 (454).
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§ 3 Der Strafprozeß
Der nemo tenetur Grundsatz beruht darauf, daß von dem Beschuldigten nicht verlangt werden kann, am Teilentzug seines Rechtsstatus aktiv mitzuwirken. Dann kann diese Weigerung zur Mitwirkung aber auch kein Gesichtspunkt sein, der zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden kann; der ist in der durch die Tat bewirkten Strafe miterfaßt. 487 Andererseits läßt sich ein Mitwirken als ein Verhalten zu Lasten des Angeklagten, das nicht gefordert werden kann, zu seinen Gunsten berücksichtigen,488 weil der Teil der Strafe, der dem Täter verdeutlichen soll, Unrecht begangen zu haben, wegen der vorhandenen Unrechtseinsicht nicht in gleicher Weise notwendig ist. 489 In Extremfällen dagegen, in denen deutlich wird, daß der Angeklagte es nicht einmal für nachvollziehbar hält, die Frage, ob sein Verhalten eine Straftat darstellt, überhaupt aufzuwerfen und zu erörtern, wird man die Motivation wohl berücksichtigen dürfen. Die Erkenntnis, in ein Gemeinwesen eingebunden zu sein, das unter gewissen Voraussetzungen berechtigt ist, das eigene Verhalten zu beurteilen, wird von jedem einzelnen gefordert. 49O Auch das Grundgesetz geht nicht von dem einzelnen als isolierter Person aus, sondern als einem in die Gemeinschaft eingebundenen Wesen,491 und dies gilt auch für den Beschuldigten, unabhängig von dem nemo tenetur Prinzip.