Sein oder Schein: Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss
 9783205204428, 9783205202899

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Gerald Stieg

SE I N ODE R SCH E I N Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss

2016 BÖHL AU VERL AG WIEN KÖLN WEIMAR

Veröffentlicht mit Unterstützung des Centre d’études et de recherches sur l’espace ­germanophone (CEREG), Université Sorbonne Nouvelle-Paris 3

Titel der französischen Originalausgabe: L’Autriche: Une nation chimérique ? © Editions Sulliver, 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Ernst Grabovszki, Wien Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Balto print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20289-9



In memoriam Wendelin Schmidt-Dengler (1942–2008)



Inhaltsverzeichnis

  9 :

MOTTI

  11   11   15   20   34   38   40

I. GIBT ES EINE ÖSTERREICHISCHE NATION  ?

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  42 :

1. Vorrede 2. Was heißt Österreich  ? 3. Persönliches Vorspiel 4. Verfreundete Nachbarn 5. Über den Gebrauch des Wortes »national« in Österreich 6. Der »Staat, den keiner wollte« oder »l’Autriche c’est ce qui reste« 7. Das Dilemma der Nationalhymne

  51 :

II. DIE ÖSTERREICHISCHE IDENTITÄT IM HISTORISCHEN UND POLITISCHEN MACHTSPIEL

  51   65   75   92 107

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118 128 144 155

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1. Die österreichische Kaiserin und der preußische König 2. Die Revolution von 1848 und ihre Folgen 3. Alldeutsche symbolische Waffen 4. Vier Protagonisten 5. Die politischen Parteien und die nationale Identität (1868–1966) 6. Austromarxismus 7. Die Juden und die österreichische Identität 8. Der österreichische Katholik Adolf Hitler 9. Katholische Identitätsphantasmagorien

173 : 173 : 173 : 179 : 225 : 235 : 246 :

III. KULTURELLE IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN

1. Zwei österreichische Wunder (1809 und 1914) und ihre mythographischen Folgen 2. 1809  : Wie Österreich den Kampf der Symbole verloren hat 3. 1914–1918  : Die Epoche der Mythographien oder Delirium austriacum-germanicum 4. Das Prinzip Papageno 5. Der Österreicher Mozart 6. Gibt es eine österreichische Literatur  ? 7

Inhaltsverzeichnis

261 :

7. Gibt es eine österreichische Philosophie  ?

267 :

BIBLIOGRAPHISCHE NOTIZ

269 :

QUELLENVERZEICHNIS (DER IM BUCH AUSDRÜCKLICH ZITIERTEN TEXTE)

275 :

ANMERKUNGEN

277 :

PERSONENREGISTER

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Motti

Meine Völker sind eines dem anderen fremd – umso besser. Ich schicke Ungarn nach Italien und Italiener nach Ungarn. Aus ihrer Antipathie entsteht die Ordnung und aus ihrem wechselseitigen Hass der allgemeine Friede. Kaiser Franz I. Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint  ! Deutschösterreich muss wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlicher Erwägungen heraus. Nein, nein  : Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie schädlich wäre, so müsste sie dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Das deutsche Volk besitzt so lange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einen gemeinsamen Staat zu fassen vermag. Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens. Der Pflug ist dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot. So scheint mir dieses kleine Städtchen das Symbol einer großen Aufgabe zu sein. Adolf Hitler, Mein Kampf (1925) Unser neues Österreich ist ein kleiner Staat, aber er will dieser großen Tradition, die vor allem eine Kulturtradition war, treu bleiben als Hort des Friedens im Zentrum Europas. Wenn wir immer wieder mit allem Fanatismus heimatverwurzelter Treue zu uns selbst betonen, dass wir kein zweiter deutscher Staat sind, dass wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren noch werden wollen, sondern dass wir nichts anderes sind Österreicher, dies aber aus ganzem Herzen und jener Leidenschaft, die jedem Bekenntnis zu einer Nation innewohnen muss, dann ist die keine Erfindung von uns, die wir 9

Motti

heute die Verantwortung für diesen Staat tragen, sondern die tiefste Erkenntnis aller Menschen, wo immer sie auch stehen mögen in diesem Österreich. Diese Erkenntnis ist gegründet auf unsere alte Kultur, auf unsere kulturelle Mission. Leopold Figl, Regierungserklärung vom 21. Dezember 1945

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I. Gibt es eine österreichische Nation  ?

1. VORREDE Der Begriff der nationalen Identität ist in Misskredit geraten. Die meisten Theoretiker sind sich darin einig, dass die Nationen und ihre »Bilder­ welt« (Benedict Anderson) keine natürlichen und organischen Phänomene, sondern Erzeugnisse politisch anrüchiger Konstruktionen darstellen. Anderson ist nicht der einzige, der den Nationalismus so behandelt wie Freud die Religion, nämlich als pathologischen Seelenzustand, vergleichbar einer individuellen Neurose oder einem Rückfall in den Infantilismus, kurz als Ideologie der Sippschaft (parenté) oder eben als »Religion«. Die »politische und symbolische Macht« der Nation sei umgekehrt proportional zu ihrer »philosophischen Misere«. Man müsse sich fragen, wie es möglich sei, für »so beschränkte Produkte der Phantasie zu sterben« (Anderson, 19–21). Peter Sloterdijk hat dafür in seiner Rede über mein eigenes Land noch verächtlichere Worte  : »die deutsche Lektion dieses Jahrhunderts« habe uns gelehrt, »dass es nichts Bösartigeres als diese Schossnationen« gebe. […] Wir haben von dieser opferreichen, halbreligiösen Nationalpornographie genug«. Weiter  : »aber der Drang zum Ausgang steigt, das haben Flüchtlinge und der freie Geist gemeinsam  ; der Weg ins Freie führt mit Notwendigkeit über die Nation hinaus« (Sloterdijk 81). Dem ist vielleicht entgegenzuhalten, dass Flüchtlinge im Gegensatz zum nomadischen freien Geist der globalisierten Eliten gerne zu Hause geblieben wären. Das Hitlerzitat, das diesem Essay als Fanal vorangestellt ist, gibt a priori allen Verächtern der nationalen Phantasmagorien und ihrer quasireligiösen symbolischen Macht völlig Recht. In Masse und Macht hat Elias Canetti den »Massensymbolen der Nationen« (Canetti, 191–203) ein eigenes Kapitel gewidmet. Das Massensymbol der deutschen Nation war in seinen Augen das Heer. »Aber das Heer war mehr als das Heer  : es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland« (Canetti, 195–196). Der Wald ist ein unbestreitbarer »Erinnerungsort«, denn die deutsche Beziehung zum Wald hat ihren Ausdruck in einer spezifischen literarischen und musikalischen Produktion gefunden  : »Man soll die Wirkung dieser frühen Waldromantik auf den Deutschen nicht unterschätzen. In hundert Liedern und Gedichten nahm er sie auf, und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft ›deutsch‹«. Eine national-religiöse Aura umgibt den 11

Gibt es eine österreichische Nation  ?

Wald. Man hat Canetti insbesondere aufgrund seiner Symbolanalyse methodische Naivität vorgeworfen. Ihm, einem Opfer des wild gewordenen deutschen Nationalismus, ging es darum, das Wesen der Nation nicht über eine »objektive« Definition zu erfahren, sondern von innen her nachzuvollziehen, das heißt ausgehend vom naiven Interesse einer Nation an sich selbst. Diese Methode lehrt, dass jede Nation einen »unerschütterlichen Anspruch auf Überlegenheit« anmeldet  : »aus prophetischen Visionen über die eigene Größe  ; aus einem eigentümlichen Gemisch moralischer und animalischer Prätentionen«. Diese Gegebenheit führt Canetti zu einer lapidaren Feststellung  : Er assimiliert das Nationalbewusstsein eines Mannes, der in den Krieg zieht, einem »Glauben«, er sieht keine zielführendere Methode als die Nationen so zu behandeln, »als wären sie Religionen« (Canetti 192). Darum minimisiert er die üblichen Träger des Nationalgefühls (Territorium, Geschichte, historische Persönlichkeiten, ja selbst die Sprache)  : »Aber es ist nicht ein Wörterbuch, das hinter ihm steht und für das er zu kämpfen bereit ist.« »Weniger noch (als die Sprache) bedeutet dem normalen Menschen die Geschichte seiner Nation.« Doch  : »Die Figuren und Augenblicke, die in sein Bewusstsein eingegangen sind, sind jenseits von allem, was der ordentliche Historiker unter Geschichte versteht. Die größere Einheit, zu der er sich in Beziehung fühlt, ist immer eine Masse oder ein Massensymbol.« In den Massensymbolen (z. B. das Meer für England, die Revolution für Frankreich) denkt Canetti gefunden zu haben, was den Kern der Vorstellungen und Gefühle ausmacht, die die Nationen von sich selbst haben. Diese Symbole können sich ändern und mit ihnen das Nationalbewusstsein. In dieser Möglichkeit der Verwandlung sieht Canetti eine Chance, die Gefahren zu überwinden, die dem »Weiterbestand der Menschheit« (Canetti, 193) durch die Konflikte der Nationalismen drohen. Im Gegensatz zu den Theorien des Konstruktivismus und der damit einhergehenden Praxis der Dekonstruktion behandelt er die Macht der nationalen Bilder- und Gedankenwelten als anthropologische Konstanten. Es ist unmöglich, so zu tun, als hätten sie nie existiert und könnten darum einfach aus dem Gedächtnis und dem Bewusstsein gelöscht werden. In Masse und Macht steht kein Wort über die österreichische Nation, die 1960 noch immer in statu nascendi war und weiter unter der Abwesenheit eines mächtigen Massensymbols litt. Die Ironie der Geschichte hat gewollt, dass Canetti der erste österreichische Nobelpreisträger für Literatur geworden ist. Der Nobelpreis sanktioniert aber nicht nur ein Individuum, sondern eine »Nationalliteratur«. Angesichts dieser Konzeptionen der Nation bekommt die Frage der österreichischen Nation ein sonderbares Gesicht. Es ist unfest, vor dem machtvollen, 12

Vorrede

einheitsstiftenden deutschen Massensymbol findet es sich in einer hilflosen Defensive. Seit seinen historischen Anfängen ist es durch die Pluralität gezeichnet. Jahrhundertelang war der einzige einigende Faktor die Person eines Monarchen, anders gesagt die Figur eines absoluten Vaters, und in einem entscheidenden historischen Augenblick sogar die einer liebenden und schützenden großen Mutter. Was geschieht, wenn die Kinder plötzlich wie im Jahre 1918 zu Waisen geworden sind  ? Die »brüderlichen« Demokratien, die den patriarchalischen Monarchien nachfolgten, haben sich rasch in nationalistische Tyranneien verwandelt, die bis heute die Religion der Nation diskreditieren. Nun war es gerade der historische Moment, in dem von den Intellektuellen Europas die Nation als infantile psychopathologische Konstruktion verschrien wurde, in dem Österreich die puerile Konstruktion einer nationalen Identität zu einem offenbar guten Ende gebracht hat, um sich von der großen »Schoßnation« abzugrenzen, von der es 1938 verschlungen worden war. Unter den unveränderlichen Zügen der Frage nach der österreichischen Identität findet sich seit dem frühen 19. Jahrhundert die Überzeugung, die österreichische Nation sei keine Realität, sondern eine »Idee« oder gar eine »Chimäre«1, ein Wahngebilde also, auf jeden Fall eine »Kopfgeburt« ohne den dazugehörigen Leib. Diese Ideenkonstruktion stand im Gegensatz zu den wirklichen Natio­nen, die alle Welt als natürliche Gegebenheiten ansah, fest gegründet auf einer gemeinsamen Sprache. Deutschland war überall, »soweit die deutsche Zunge klingt«, also auch in Österreich. Im Gegensatz dazu beanspruchte Österreich für sich einen ontologisch höheren Status, den einer platonischen Idee. Wir stehen also vor dem erstaunlichen Paradox, dass die virtuelle österreichische Nation der Propagatoren der österreichischen Idee im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine historische, politische und mentale Wirklichkeit geworden ist. Die Österreicher sind also gewissermaßen noch viel später als die »verspätete« deutsche Nation ins Stadium der »tiefen horizontalen Kameraderie« (Anderson, 21) eingetreten, statt den nationalen Infantilismus durch die Idee einer Nation über und jenseits der Nationen endgültig zu überwinden. Für sie, die trotz ihrer 1000-jährigen Geschichte jüngste europäische Nation, hat die neue »horizontale Kameraderie« den Bruch der historischen Kameraderie mit den deutschen »Brüdern« und die Entwertung der sprachlichen Einheit nach sich gezogen. Ohne die Niederlage Hitlers existierte die österreichische Nation nicht (mehr). Haben ihre Verächter Recht, sie als »Erfindung aus dem Jahre 1942« zu bezeichnen, das heißt als miesen Verrat an der deutschen Nation nach der Katastrophe von Stalingrad, oder sie gar als »kommunistische Erfindung« und »historische 13

Gibt es eine österreichische Nation  ?

Missgeburt« zu denunzieren  ? Während die Deutschen sich abmühten, ihren nationalen Wahn abzubüßen, begannen die Österreicher, die an diesem Wahn freiwillig oder gezwungen teilgenommen hatten, eine Nation zu konstruieren, deren Wesen darin bestand, nicht (mehr) deutsch zu sein. Um sicher zu diesem Resultat zu gelangen, hat das Ausland in Gestalt der siegreichen Alliierten der souveränen Republik ein ewiges Anschlussverbot an Deutschland auferlegt, als zweifelte es an der Glaubwürdigkeit dieser neu- bzw. wiedergeborenen Nation, das heißt an der endlichen Inkarnation der Idee. Heute existiert sie. Zumindest lassen die Meinungsumfragen keinen Zweifel mehr an der Vollendung der »Bewusstwerdung der österreichischen Nation«, der ein langer »Lernprozess mit Hindernissen« (Felix Kreissler) vorausgegangen war. Die Österreicher haben tatsächlich – unter Schwierigkeiten – gelernt, Österreicher zu sein. (Das »Ausland« neigt trotzdem in kritischen Momenten (1986, 2000) dazu, virulente Zweifel anzumelden.) Österreich hat es schwer gehabt, einhellig akzeptierte nationale Symbole zu schaffen, ein wirklich mächtiges Massensymbol wird es wohl nie geben, obwohl der Skisport beinahe die Funktion einer nationalen Religion erfüllt. Ein dunkler Schatten lässt sich nicht vertreiben. Anderson zitiert unter den kulturellen Wurzeln des Nationalbewusstseins den »Kenotaph des unbekannten Soldaten« (Anderson, 23), der die »geisterhafte« Seite der nationalen Bilderwelt repräsentiere. Was in einem Land wie Frankreich eindeutige und gelebte Tradition ist, leidet in Österreich unter einer beträchtlichen Ambivalenz. Die Kriegerdenkmäler des zweiten Weltkriegs fordern die Frage heraus, wofür, für welchen nationalen Glauben diese Toten gefallen sind. Nach Canettis Analyse geht es weniger darum, »wofür sie kämpfen«, sondern um das rätselhaftere »als was sie kämpfen«. Und wenn die Toten sprechen könnten, bestünde noch seltener ein Zweifel an ihrer Antwort als bei jenen Überlebenden, die sich in Veteranenvereinen zusammengetan hatten. Man darf die anthropologische Gegebenheit nicht missachten, dass seit der Nacht der Zeiten sich keine Gemeinschaft, sei sie wirklich oder phantasiert, nur auf die Lebenden beschränkt. Sloterdijk nennt unter den »ursprungsmythologischen« Aspekten der Nationen »Bindung an die Begräbnisplätze der Vorfahren« (Sloterdijk, 78). Kriegerdenkmäler sind imaginär potenzierte Gräber. Die folgenden Überlegungen sind keine Beschreibung des historischen Prozesses der Nationswerdung nach 1945. Sie konzentrieren sich im Wesentlichen auf den historischen, politischen, kulturellen und symbolischen Hintergrund einer Frage, die im Jahre 1938 ihre »Endlösung« gefunden zu haben schien. Canetti sagt, dass diese Art der Fragestellung nichts mit dem Horizont des »nor14

Was heißt Österreich  ?

malen«, sich objektiv gebenden Historikers zu tun hat. Im Grunde handelt es sich um die Wandlungen mythographischer Versuche, einer gesicherten Identität habhaft zu werden. Ich bekenne mich darum offen zu der unumgänglichen Dosis von ironischer Subjektivität, die diesen Essay, beginnend mit seinen Motti, bestimmt. Es scheint mir unmöglich, von meiner gelebten Erfahrung als Österreicher abzusehen, der 1941 als Untertan des Dritten Reiches geboren und 1975 französischer Staatsbürger wurde. Die Geschichte der Geburt, bzw. Wiedergeburt Österreichs habe ich zuerst unbewusst, dann bewusst, schließlich von außen her als Akteur am Rande miterlebt. Ich erlaube mir also, persönliche Erinnerungen und Erfahrungen mit den vielfältigen Dokumenten zu vermengen, die meine Reflexion genährt haben und deren Auswahl ihren subjektiven Charakter nicht (immer) verleugnen kann. Ich werde viele dieser Dokumente in Form einer Disputatio, eines Kampfes der Ideen und Hirngespinste, vorstellen, in der die advocati Austriae sich mit den advocati Germaniae messen werden. Manchmal spielt sich der Streit in ein und derselben Person ab. (Wer dabei der Teufel ist, überlasse ich dem Leser.) An meinen eigenen Sympathien in diesem ideologischen Zweikampf, der, hoffe ich, hinter uns liegt, bestehen keine Zweifel, doch sind sie nicht Ausdruck eines religiös getönten Glaubens an eine absolute, geheiligte Wesenheit, zu der sich die Nationen erhoben haben. Das Duell lässt viele Identitätskonstruktionen zu Wort kommen, die man heute als Wahngebilde ansehen muss, weshalb mir das Heilmittel Ironie unentbehrlich scheint. Als Robert Musil 1936 gefragt wurde, ob er an die Existenz einer österreichischen Literatur glaube, antwortete er, ihr wohl bedeutendster Vertreter im 20. Jahrhundert, mit einem ironischen »Ja, aber mit Maß«.

2. WAS HEISST ÖSTERREICH  ? 1918–2015 Der Name ist der erste Garant der Identität. Das Wort Österreich erscheint zum ersten Mal schriftlich 996 unter der Form »Ostarrichi«. Heute sind der Name und die Grenzen Österreichs klar definiert, dem war aber nicht immer so. Der offizielle Name des heutigen Staates lautet »Republik Österreich«. Ihre Verfassung ist das Bundesverfassungsgesetz (von 1920) in der Fassung von 1929. Ihre Grenzen wurden endgültig 1921 nach der Eingliederung eines Teils des ehemals zu Ungarn gehörigen Burgenlandes festgesetzt. Österreich ist ein aus neun Bundesländern bestehender Bundesstaat. Die Hauptstadt Wien erhielt 1921 den Status eines Bundeslands. Die Bezeichnung »Republik Öster15

Gibt es eine österreichische Nation  ?

reich« war dem Staat von außen aufgezwungen worden, denn die Provisorische Nationalversammlung hatte für den Staat, der im Artikel 2 zum Bestandteil der Deutschen Republik erklärt wurde, den Namen »Deutschösterreich« vorgesehen. Trotz des Verbots dieses Namens durch die Alliierten im Friedensvertrag von Saint Germain en Laye wurde er in der offiziellen Bundeshymne (»Deutsch-Österreich, du herrliches Land«) beibehalten. 1934 wurde die Republik in den »christlich deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage« umgewandelt. 1938 wurde Österreich vom Dritten Reich annektiert und verlor sofort seinen Namen, der zunächst durch »Ostmark« in Erinnerung an die Funktion des Territoriums zur Zeit Karls des Großen ersetzt wurde. Die Ostmark wich dem Terminus »Donau- und Alpengaue«, wobei Ober- und Niederösterreich in Ober- und Niederdonau umgetauft wurden. Der Name Österreich war sieben Jahre lang ausgelöscht. Eine Organisation des österreichischen Widerstands verwendete den Code O5, das heißt O + E (der fünfte Buchstabe des Alphabets). An der Fassade des Stephansdoms ist eine Spur dieses OEsterreichs konserviert. Am 27. April 1945, also noch vor der deutschen Kapitulation, wurde die »demokratische Republik Österreich« wiederhergestellt. In der Unabhängigkeitserklärung ist im Artikel II stipuliert  : »Der im Jahre 1938 dem österreichischen Volke aufgezwungene Anschluss ist null und nichtig.« Im Artikel IV werden alle »dem Deutschen Reiche und seiner Führung geleisteten militärischen, dienstlichen oder persönlichen Gelöbnisse« für »nichtig und unverbindlich« erklärt. In der ausführlichen antinationalsozialistischen Präambel wird auch die Moskauer Deklaration von 1943 zitiert, in der von den Alliierten gefordert wurde, »dass Österreich, das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist, von der deutschen Herrschaft befreit werden muss«. Die andere Seite der Moskauer Deklaration, in der von einer österreichischen Mitverantwortung die Rede war, wurde mit Schweigen übergangen. Dieser Doppelstatus als Opfer und (Mit)-Täter ist noch heute ein zentrales Element aller Auseinandersetzungen um die nationale Identität. 1867–1918 Noch viel komplexer ist die Frage nach dem Namen in der Periode der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie seit 1867. Für diese Epoche muss man das Wort Österreich unter Anführungszeichen setzen, denn es ist faktisch unmöglich, eine korrekte historisch-geographische Definition des Wortes zu geben. Gebräuchlich sind die Bezeichnungen »österreichischungarische« oder k. u. k. Monarchie für den Gesamtstaat oder k. k. Monarchie für die »österreichische« Seite, die durch Musil zu dem ironischen Spitznamen 16

Was heißt Österreich  ?

»Kakanien« kam. Das »k. u. k.« bedeutete, dass Franz Joseph I. in Realunion Kaiser von »Österreich« und König von Ungarn war, das »k. k.« bedeutete, dass er in der »österreichischen Reichshälfte« Kaiser von Österreich und u. a. König von Böhmen war. Doch offiziell hat dieses »Österreich« keinen wirklichen Namen, sondern die administrative Nomenklatur »der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« bzw. das rein geographische an die Terminologie Julius Cäsars erinnernde »Zis-Leithanien«. Erst im Herbst 1915 wurde es durch kaiserlichen Beschluss offiziell auf Österreich getauft. Die Namensfrage wird noch undurchsichtiger, wenn man die zwei wichtigsten symbolträchtigen Dokumente heranzieht, den »Großen Titel« Kaiser Franz Josephs I. und die Kaiserhymne. Beide benützen uneingeschränkt den Begriff »Österreich«. Der »Große Titel« in seiner Fassung von 1869 beginnt so  : »Seine Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät Franz Joseph von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungern und Böhmen etc.« In der Hymne, die in allen Ländern der Monarchie in allen Sprachen gesungen wurde, gab es für die Doppelmonarchie nur den Begriff »Österreich«, von dem gesagt wurde, dass er in alle Ewigkeit innig mit dem Haus Habsburg vereint bleiben werde. Dieses dynastische »Österreich wird ewig stehn«. In der Optik des »Hauses ÖsterreichHabsburg« umfasste der Begriff Österreich alle Erbländer der Krone, also alle Nationalitäten, selbst die Ungarn. Im Gegensatz zur Eindeutigkeit der Hymne herrscht im »Großen Titel« eine seltsame Konfusion  : In hierarchischer Ordnung (Kaiser, König, Erzherzog, Herzog, Graf ) wird die lange Reihe der Titel des Kaisers aufgezählt. Darunter finden sich »Erzherzog von Österreich« und neben vielen anderen »Herzog von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain« und »Gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol«, also acht der zukünftigen Bundesländer, denn das Erzherzogtum Österreich umfasste Ober- und Niederösterreich, Vorarlberg war noch mit Tirol vereint. Franz Joseph I. ist also zugleich Kaiser von Österreich und Erzherzog von Österreich. Diese Konfusion erklärt in hohem Maß die unentwirrbare Nationalitätenfrage der Monarchie, denn seit dem Erwachen der Nationalismen gab es zwei konfliktgeladene Lesarten des Wortes Österreich  : eine supranationale, die von der friedlichen Koexistenz von Austroslawismus und Austrogermanismus ausging und sogar den Plural »die österreichischen Nationen« (Karl Renner) erlaubte, und eine nationalistische, die den Namen Österreich auf Deutschösterreich reduzierte. Da das heutige Öster­reich weitgehend mit den deutschsprachigen Gebieten der Monarchie (mit Ausnahme der Sudeten) identisch ist und die anderen Nachfolgerstaaten ihre jeweilige nationale Identität entwickelt haben, beschränkt sich unsere Frage logischerweise auf die Besonderheiten der Deutschösterreicher, die je 17

Gibt es eine österreichische Nation  ?

nach ihrer Überzeugung für das bestehende multinationale Groß-Öster­reich oder ein virtuelles Groß-Deutschland optierten. Anders gesagt, unser Essay befasst sich mit den nationalen Ausdifferenzierungen in der Monarchie nur dann, wenn sie direkt auf das Bewusstsein der Deutschösterreicher einwirken. Dagegen wird sich unser Interesse auf die Identitätskonflikte konzentrieren, die sich daraus ergeben, dass zwei »deutsche« Dynastien, die Habsburger und die Hohenzollern, um die Hegemonie rivalisierten. Vor der Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1871 gab es eine deutsche Nation ohne Staat und einen österreichischen Staat ohne definierbare Nation. Der »österreichische« Staat zwischen 1867 und 1918 ist das Ergebnis des »Bruderkriegs« zwischen den beiden Dynastien, der mit der Niederlage Österreichs bei Königgrätz 1866 endete und als kalkuliertes Ergebnis die Gründung des kleindeutschen Reiches hatte, das eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die alldeutsch gesinnten Deutschösterreicher ausübte. 1804–1866 Der »Große Titel« des Kaisers stammt aus dem Jahre 1804. Franz II., der letzte Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher ­Nation«, hatte dessen Ende im Jahre 1806 vorweggenommen und das Kaiserreich Österreich gegründet. Man kann diese Entscheidung als Geburtsakte Österreichs als Staat ansehen. Nach den Kriegen gegen Napoleon, die eine ungeheure Rolle bei der Ausformung des deutschen Nationalbewusstseins gespielt hatten und in denen der Dynastie der Habsburger 1809 die Mission eines Erretters der Nation zugeschrieben wurde, übernahm Österreich nach dem Wiener Kongress von 1815 den Vorsitz im Deutschen Bund, der Nachfolgeorganisation des untergegangenen Heiligen Römischen Reiches. Seit dieser Zeit träumte ein katholisch-romantischer Nationalismus von der Wiederkehr dieses Universalreiches, das vorübergehend die Gestalt Österreichs angenommen hatte, doch viel mächtiger als diese Strömung, die immerhin im Ständestaat der dreißiger Jahre ihre Nachwirkungen gehabt hat, war der an der französischen Revolution orientierte Nationalismus, dessen Wunschziel die Errichtung einer demokratischen großdeutschen Republik war. Das Kaiserreich Österreich und sein mächtiger Staatskanzler Fürst Metternich bekämpften diese Vision der nationalen Zukunft mit allen Mitteln. Die von diesem Geist genährten Jahre 1848/1849 hätten durchaus zum Verschwinden des Reiches führen können, das sich zwei zentrifugalen Bewegungen gegenübersah  : auf der einen Seite die nichtdeutschen Nationalitäten, an ihrer Spitze die Ungarn und die Italiener des lombardo-venetischen Königreichs, die die nationale Au18

Was heißt Österreich  ?

tonomie suchten  ; auf der anderen die Deutschösterreicher und ihre Abgeordneten im Frankfurter Parlament, die die Schaffung Großdeutschlands ersehnten. Finis Austriae  ? Die multinationale österreichische Armee hat mit Hilfe Russlands den Weiterbestand des Kaiserreichs gesichert. Beide Revolutionen wurden Opfer der zynischen Strategie Franz I., die Franz Joseph I. zur seinen gemacht hatte  : »Meine Völker sind eines dem anderen fremd – umso besser. Ich schicke Ungarn nach Italien du Italiener nach Ungarn. Aus ihrer Antipathie entsteht die Ordnung und aus ihrem wechselseitigen Hass der allgemeine Friede.« In diesem »Lager«, das der Feldmarschall Radetzky befehligte, war nach Grillparzer »Österreich«. Die Slawen haben zur Erhaltung Österreichs doppelt beigetragen  : die Tschechen, indem sie gegenüber der großdeutschen Drohung die historische Notwendigkeit der Monarchie behaupteten, die Kroaten, indem sie die ungarischen und deutschösterreichischen Revolutionäre niederwarfen. Nach der Wiederherstellung des Absolutismus gelang es Österreich noch einmal, die Führung im Deutschen Bund zu übernehmen. Doch der Hegemoniestreit mit Preußen führte schließlich zum Ausschluss Österreichs aus Deutschland. Vor 1804 Vor der Gründung des Kaiserreichs Österreich bedeutete Öster­ reich entweder das Territorium, das seit 1453 offiziell das »Erzherzogtum Öster­reich« hieß und Bestandteil des Heiligen Römischen Reichs war, oder die Besitzungen des Hauses Österreich, der Casa Austria, deren Territorium im Wandel der Zeiten Burgund, Norditalien, die Niederlande, Neapel, Ungarn, Galizien etc. einschloss. Die berühmte Devise A EIOU (Austriae est imperare orbi universo), die Kaiser Friedrich III. 1453 an öffentlichen Gebäuden anbringen ließ, war nicht auf das Erzherzogtum Österreich gemünzt, sondern auf das Haus Österreich, seine Familie, die seit 1278 das aus dem heutigen Ober- und Niederösterreich gebildete Herzogtum besaß. Es war der Keim des künftigen Reiches Karls V., in dem die Sonne nicht unterging, aber auch der heutigen Republik. Selbst nach der Trennung des spanischen Zweigs der Habsburger vom österreichischen hieß Karls illegitimer Sohn, der Sieger über die Türken bei Lepanto, Don Juan d’Austria. 1919 hat die Republik Österreich dieser Familien­ geschichte unter dem Namen Österreich ein Ende gesetzt und die Mitglieder des Herrscherhauses aus Österreich verbannt. Trotzdem bleibt sie im Hintergrunde jeder Befragung der österreichischen Identität allgegenwärtig. Als Erinnerungsort ist sie unzerstörbar. Der jüngste Beweis dafür war das Requiem für Otto Habsburg2, den Sohn des letzten Kaisers, im Wiener Stephansdom. Es 19

Gibt es eine österreichische Nation  ?

wurde in Anwesenheit des Präsidenten der Republik vom Kardinal-Erzbischof von Wien zelebriert und mit dem Absingen der Kaiserhymne beschlossen.

3. PERSÖNLICHES VORSPIEL Der Leser dieses Essays, ursprünglich als Auftragsarbeit auf Französisch verfasst, hat das Recht zu wissen, von welchem Standpunkt aus die komplexe Frage nach der österreichischen Identität gestellt wird. Ich habe als Motto den Beginn von Mein Kampf gewählt, denn ich gehöre selbst zu jenen Söhnen des deutschen Volkes, die es endlich in »einen gemeinsamen Staat« gefasst hatte  : ich bin 1941 in Salzburg geboren, in jenem Augenblick, in dem das Dritte Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht war. (Ich zitiere Hitler nach dem Exemplar von Mein Kampf, das meine Eltern als Hochzeitsgeschenk ihrer Gemeinde erhalten hatten.) Gleich nach meiner Geburt war ich dem Dilemma der österreichischen Identität ausgesetzt. In meinem hakenkreuzgeschmückten Geburtsschein heiße ich Gerald Joseph, in meinem katholischen Taufschein lautet mein Name Joseph Gerald. Die Umstellung der beiden Vornamen erklärt sich daher, dass der Ortspfarrer meiner obersteirischen Gemeinde eine fromme Lüge benützt hat, um meiner Mutter einen biblischen Namen für ihren Sohn aufzuzwingen. Er behauptete nämlich, es gäbe keinen katholischen Heiligen namens Gerald. (Es gibt ihrer zwei, einen irischen und einen portugiesischen.) Durch diese List setzte er einen Akt des Widerstands gegen die nationalsozialistische Praxis, die traditionellen katholischen Taufnamen durch heidnisch-germanische zu ersetzen. Es war ihm bewusst, dass meine Eltern bei der Wahl meines Vornamens die Absicht verfolgten, mich mit einem edlen kriegerisch-germanischen Namen zu versehen. Mein Fall ist sicherlich keine Ausnahme gewesen. Er hat eine gewichtige symbolische Bedeutung für die Thematik dieses Essays  : Im Augenblick, in dem der Nationalsozialismus in Europa triumphierte, im Augenblick, wo selbst der Name Österreich von der Landkarte verschwunden war, hat ein katholischer Priester das Risiko auf sich genommen, eine wesentliche Komponente der kulturellen Identität des verblichenen Österreich in meine Wiege zu legen. Der Name Joseph entsprach natürlich auch der Familientradition, den Großvater im Enkel zu ehren. Es gab aber noch einen zusätzlichen Grund  : Joseph war der Landespatron der Steiermark. (In meiner Kindheit war das Fest des heiligen Joseph noch Feiertag. Der Katholizismus hat seit jeher Universalismus und lokale Verankerung zu kombinieren gewusst.) Der Vorgang wiederholte sich 1945 bei der Taufe meines 20

Persönliches Vorspiel

Bruders, dessen germanischer Name in der Tat in keinem Heiligenkalender zu finden war. Er wurde also mit Alois kombiniert, dem Vornamen des Vaters, dessen jesuitischer Namenspatron als vergoldete Statue auf dem barocken Altar der Ortskirche prangte. Im Gegensatz zu einem Gutteil der Mitglieder der NSDAP des Ortes waren meine Eltern nicht aus der Kirche ausgetreten. Ich gehörte also nicht zu dem seltsamen Clan der Söhne und Töchter des Nibelungenlieds und der Wagner’schen Tetralogie, den Gernot, Gunther, Siegfried, Hagen, Kriemhild, Brünhild, Waltraute, Gudrun und Edda, die die Ostmark zu bevölkern begannen. Ich war auch dem Schicksal entkommen, Horst genannt zu werden, nach dem national-sozialistischen Märtyrer Horst Wessel, dem Autor der Parteihymne Die Fahne hoch  ! Mein Pfarrer pflegte diesen Vornamen, der überall gedieh, mit einem dialektalen Wortspiel zu verhöhnen, das ihn hätte teuer zu stehen kommen können  : »Wos  ? Horst hoasst nix  !« Ich habe also das Glück gehabt, einen Vornamen zu bekommen, der trotz seiner germanischen Etymologie in ganz Europa und darüber hinaus gebräuchlich ist. Mein biblischer Taufname wurde in meiner Kindheit in seiner diminutiven dialektalen Form »Seppi« gebraucht, hat sich aber langsam verloren. Doch noch immer habe ich ein kindliches Raldi-Seppi im Ohr. 1945 sind die »Söhne des deutschen Volkes« der »Donau- und Alpengaue« offiziell (wieder) Österreicher geworden. Das war ganz und gar nicht die herrschende Meinung meiner Familie und meiner Gemeinde und wohl kaum der Mehrheit der österreichischen Staatsbürger. Die Entnazifizierung, die meinen Vater betroffen hatte – er hatte 1938 seinen Beruf als Tischler aufgegeben, um Gendarm zu werden, und war nun gezwungen, wieder als Tischlermeister zu arbeiten – hatte nicht eine Spur von Entnazifizierung des Geistes zur Folge. Antisemitismus, Negationismus, Komplott-Theorien (man habe die von den Deutschen fabrizierte Atombombe durch Verrat den Amerikanern geliefert) und Antiamerikanismus beherrschten das politische Bewusstsein und die Wirtshausdiskussionen. Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich war greifbar, und die Umerziehung einiger national-sozialistischer Lokalgrößen durch die Amerikaner wurde als ungerechtfertigtes Martyrium angesehen und hatte nicht die geringste Wirkung. Ich bin also in einer Atmosphäre aufgewachsen, wo Nationalsozialismus und Katholizismus ein merkwürdiges Gemisch bildeten, das Thomas Bernhard in seinen autobiographischen Büchern meisterhaft beschrieben hat. Um diese Atmosphäre voll zu verstehen, braucht es einen kleinen historischen Rückgriff. Die gebirgige Region der Obersteiermark an der Grenze zu Salzburg ist in der Zeit der Gegenreformation teilweise der gewaltsamen Rekatholisierung der Protestanten entgangen, aber selbst in der rekatholisierten 21

Gibt es eine österreichische Nation  ?

Bevölkerung hat sich eine spezifische Form des Kryptoprotestantismus erhalten, nicht etwa in der geheimen Ausübung des Kults, sondern in einem dumpfen Misstrauen gegenüber der Stiefmutter Österreich und in der Sehnsucht nach dem eigentlichen Vaterland Deutschland. Die Spuren dieses Kryptoprotestantismus ließen sich im 20. Jahrhundert deutlich an den Wahlergebnissen ablesen, die durch eine überproportionale Neigung zu politischen Formationen pangermanischer und neonazistischer Tendenz auffielen. In meiner Umgebung wurde die offizielle Schul- und Unterrichtspolitik mit Wut und Sarkasmus kommentiert, darunter die verbindliche Einführung eines Österreichischen Wörterbuchs, ganz besonders aber der Gebrauch des Terminus »Unterrichtssprache« in den Schulzeugnissen, um das Wort »Deutsch« zu vermeiden. Ab 1952 lautete die Bezeichnung »deutsche Unterrichtssprache«. Der Unterrichtsminister Felix Hurdes, ein Mann des katholischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, wurde angeklagt, der Bevölkerung eine neuerfundene Sprache, das »Hurdestanisch«, aufzuzwingen. Der Text der Bundeshymne, die »Deutschland, Deutschland über alles« ersetzt hatte, wurde parodiert in »Land der Erbsen, Land der Bohnen, Land der vier Besatzungszonen«. Denn die Befreiung vom Nationalsozialismus wurde als Besatzung empfunden. Die sogenannten Befreier hätten Österreicher nur »von Butter und Eiern« befreit. Trotz der intensiven offiziellen Bemühungen um eine kulturellen Austrifizierung blieb der Großteil der jungen Nibelungen aus meiner Familie und meiner Umgebung (und eine Zeitlang ich mit ihnen) der Ideologie ihrer Herkunft treu, und als sie an der Universität zu studieren begannen, fanden sie logischerweise ihre geistige Heimat in den Burschenschaften mit den programmatischen Namen »Germania«, »Gothia«, »Teutonia« oder »Arminia«. Auf den Mauern des Kapuzinerklosters meines Dorfs war die Inschrift »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« mit Hakenkreuzen als Interpunktion 1945 mit Kalk übermalt worden. Doch mit der Zeit wurde sie wieder fast leserlich, und meine Kameraden fassten den Entschluss, sie nächtens aufzufrischen. Wie ihre Väter glaubten sie sich fremd in ihrem eigenen Land, untröstliche Waisen des verlorenen deutschen Vaterlands. Meine erste politische Erinnerung beweist, dass auch ich als Kind ganz unter dem Einfluss der Sehnsucht nach dem Dritten Reich stand  : Bei der Bundespräsidentenwahl des Jahres 1951 war ich überzeugter Parteigänger des Kandidaten des Verbands der Unabhängigen (wie sich seit 1949 das deutschnationale Lager nannte), des Professors Burghard Breitner, der seit 1932 der illegalen NSDAPÖ angehört hatte. Er hat es im ersten Wahlgang auf 15,7 Prozent der Stimmen gebracht. (Gewählt wurde der General a. D. Theodor Körner, Bürgermeister des »Roten Wien«, mit der diskreten Unterstüt22

Persönliches Vorspiel

zung der »Unabhängigen«, die Antiklerikalismus und großdeutsches Ideal mit der Sozialdemokratie geteilt hatten.) Trotz dieser Umgebung habe ich mich vom national-sozialistischen Gedankengut losgelöst. Das war ein schmerzlicher Prozess, denn er bedeutete eine frontale Opposition gegen meinen Vater, der bis zu seinem Tod fanatisch seinem gestürzten Idol treu geblieben ist. (Er ist im Grunde niemals aus dem Krieg zurückgekehrt, der für ihn die »Hochzeit« seines Lebens gewesen war. Er war wahrlich nicht der einzige, diese gesegneten Zeiten zu bedauern.) Wie tief der Antisemitismus verwurzelt war, musste ich schmerzlich feststellen, als ein mir teurer Mensch mich Anfang der 70er Jahre fragte  : »Gerald, wie ist das, wenn man einem Juden (Elias Canetti) die Hand gibt  ?« Die alte föderalistische Struktur Österreichs hat den Schock der »nationalen« Katastrophe gemindert, denn eine starke Identifikation mit der steirischen Lokalidentität in Opposition zur beneideten und verachteten Hauptstadt fungierte als Ersatz für das verlorene wahre Vaterland, das Deutsche Reich. Der Anschluss von 1938 vollzog sich unter der Parole »Heim ins Reich  !« Die Bundesländer waren seit jeher stolz darauf, vor dem Staat existiert zu haben. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, warum meine Großmutter sagen konnte  : »Morgen fahren wir nach Österreich« (gemeint war Hallstatt  !), als gehörte die Steiermark, immerhin habsburgischer Besitz seit 1282, nicht zur Republik Öster­reich. Dieser Lokalpatriotismus konnte ein sehr hässliches Gesicht zeigen. Deutsche Flüchtlinge aus Rumänien, Ungarn oder Jugoslawien, die in meinem Dorf Zuflucht gesucht hatten, wurden nicht als deutsche Brüder, sondern als »Beutedeutsche« oder gar »Zigeuner« willkommen geheißen, weil ihr Dialekt missfiel. (In den 90er Jahren habe ich an einer Veranstaltung über »Heimat« in einem Dorfgasthof als »Auslandsösterreicher« teilgenommen. Zu ihrem Unheil waren auch Erich Fried und Helene Maimann eingeladen. Der Saal forderte lautstark, dass sie als »Fremde« und Juden die Goschen zu halten hätten. Doch das Redeverbot galt bereits für Menschen aus der Bezirkshauptstadt. Ich wurde seltsamerweise als »Einheimischer« geduldet.) Es war nicht das Benediktinergymnasium, sondern ein vor der Roten Armee geflüchtetes Wiener Ärzteehepaar, das eine fundamentale Rolle bei meiner Loslösung von der national-sozialistischen Ideologie gespielt hat. Es ist für mich im Rückblick die Inkarnation der idealen österreichischen Identität geworden. Es hat dementsprechend anfangs Schwierigkeiten bei der Integration in die Dorfgesellschaft gekannt. Denn niemand in dieser Familie hatte deutsche Wurzeln, die Eltern waren Tschechen, Jugoslawen und Juden. Die Religion (ein weltoffener Katholizismus) und die Kultur (wissenschaftliche, musikalische 23

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und literarische) bildeten in dieser Familie eine harmonische Einheit, die mich träumen ließ. Der junge Arzt hatte die gesamte Kriegszeit von 1939 bis 1945 an der Ostfront verbracht, wie viele andere Österreicher, die als ideologisch unzuverlässig galten. Auf jeden Fall war eine solche Familie nach den Kriterien des »Ahnenpasses« trotz ihrer exemplarischen Assimilation unwürdig, der ­N SDAP beizutreten. In meiner Familie war man stolz, makellose, den Nürnberger Rassegesetzen konforme Ahnenpässe zu besitzen. Es hat einige Zeit gebraucht, bis mir zum Bewusstsein gekommen ist, dass diese Familie, die mir eine kleine spirituelle Heimat geworden war, eine späte Verkörperung der alten supranatio­ nalen »österreichischen Idee« war. Trotz dem Weiterbestehen des national-sozialistischen und alldeutschen Fundus in der Gesellschaft begann ab den 50er Jahren ein stark emotionaler österreichischer Patriotismus zu erwachen. Er war häufig mit sportlichen Ereignissen verbunden. Während der Fußballweltmeisterschaft von 1954, die für die junge Bundesrepublik mit dem »Wunder von Bern« endete, hatte Österreich im Semifinale eine bittere 6  : 1-Schlappe gegen die Deutschen hinnehmen müssen, die bei manchen Kommentatoren die Niederlage von Königgrätz von 1866 wachrief. (Und selbst in meinem Dorf waren beim Finale BR D –Ungarn nicht wenige auf der Seite von Puskas und Hidegkuti.) Der Sieg Österreichs über die BR D bei den Weltmeisterschaften 1978 in Argentinien ist bekanntlich als »Rache für Königgrätz« gefeiert worden. Der Gegensatz Österreich–Preußen hatte auch Anteil an dem legendären Sieg von Rapid Wien über Schalke 04 im Jahre 1941, der später beinahe als ein Akt des österreichischen Widerstands angesehen wurde. 1955 erhielt Österreich seine volle staatliche Souveränität. Selbst für viele alte Nationalsozialisten aus meiner Umgebung, die nie das Wort »Befreiung« für das Jahr 1945 akzeptiert hatten, wurde dieses freie Österreich akzeptabel. 1956 hat ein Skifahrer eine riesige Welle patriotischer Begeisterung ausgelöst  : Toni Sailer gewann bei den olympischen Winterspielen in Cortina d’Ampezzo alle drei Goldmedaillen und wurde zu einer nationalen Ikone. Österreich wurde zur »Skination«. Der Ausschluss einer anderen Ski-Ikone, Karl Schranz, von den olympischen Spielen 1972 in Sapporo wegen Verletzung des Amateurstatus hat unglaubliche Szenen nationalistischer Hysterie ausgelöst. Ich gebe zu, dass mein Österreichbewusstsein seine Wurzeln auch in der Verführung durch diesen Sportpatriotismus hat. Ich bin überzeugt, dass der Sport, ein mächtiger Religionsersatz, wahrscheinlich der sicherste Maßstab für die Identifikation mit der nationalen Identität in der großen Masse der Bevölkerung ist. Ich stelle fest, dass meine Anhänglichkeit an die österreichische Sportnation im 24

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Schwinden ist, außer beim Skifahren und Skispringen. (Ich gebe zu, mich von diesem Massensymbol verführen zu lassen, und rate allen Verächtern des Sports, über seine massenpsychologische Funktion nachzudenken, statt die Nase zu rümpfen.) Doch wird mein Sportpatriotismus sofort wach, wenn es sich um eine Auseinandersetzung mit Deutschland handelt. In meinem Dorf hat es merkwürdigerweise zwei Sportvereine und darum zwei Fußballmannschaften gegeben, eine katholische und eine »freiheitliche« deutsch-nationaler Tendenz. Der Arzt präsidierte den katholischen Club, dessen Mitglied ich war. Ich habe also eine Zeit lang katholischen österreichischen Fußball gegen germanischen österreichischen Fußball gespielt. (Die Macht der Kombination Sport und Nation erweist sich unseligerweise in der letzten Zeit in Frankreich. Auf die euphorische Phase der vielfarbigen Identität [weiß-arabisch-schwarz] des Weltund Europameisters, der die gelungene Integration zu verkörpern schien, folgte eine Desillusion und Desintegration, deren sichtbarer Ausdruck die Ablehnung der zentralen nationalen Symbole [Marseillaise und Trikolore] war. Nicht nur weigern sich Spieler der Nationalmannschaft, die Nationalhymne zu singen, auch ein guter Teil des Publikums protestiert gegen die eigene Hymne, wenn es sich um ein Spiel gegen eine Mannschaft aus den früheren Kolonien handelt. Nicht auszudenken, wenn sich Sport und Religion in dieser Form zu gatten beginnen.) Ministrant in der Dorfkirche, dann Gymnasiast im Benediktinerstift Admont mit seiner prunkvollen Bibliothek, Symbol der geistig-geistlichen, aber auch der ökonomischen Macht in einem dumpf kryptoprotestantischen Ambiente, ließ ich mich gerne von den katholischen Riten verführen, besonders von der Kirchenmusik, ihrer volkstümlichen und klassischen Form, die die Sonnund Festtage rhythmisierte. So wurde die Religion zu einer entscheidenden Form meines Lebens, und das trotz meiner Abneigung gegen den zänkischen ressentimentgeladenen Religionsunterricht eines fanatischen Mönchs, der die Republik im Namen des politischen Katholizismus hasste. Während die alten Nationalsozialisten sich über den Text der neuen Bundeshymne lustig machten, wütete unser Religionsprofessor gegen ihre Melodie (damals noch Mozart zugeschrieben), denn es handelte sich um das freimaurerische »Bundeslied«, das auch noch heute in den französischen Logen in Gebrauch ist. Besonders grimmig wurde die Republik angegriffen, weil sie in Sachen Ehe die Regelungen des Konkordats von 1934 missachtete und die »deutschen Gesetze« anwendete. Die nahezu teuflische Illegitimität der Republik war jedoch offenbar in der Gestaltung der 1-Schilling-Münze. Der Sämann aus einem Bild von EggerLienz, der darauf zu sehen war, war nicht der brave Bauer, sondern der nackte 25

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Teufel, der hinter ihm Unkraut säte  ! Zu den politischen Phobien des Religionsunterrichts zählte auch die schroffe Ablehnung jeder Form sozialistischer oder sozial-demokratischer Ideologie. Doch das alles beherrschende Zentrum der Religion war die Verteufelung der Sexualität. Ich bin trotzdem im Gegensatz zu manchen Kameraden ein braver Katholik geblieben und habe nach der Matura beschlossen, in Innsbruck Theologie zu studieren, um Jesuit zu werden und der barock-repräsentativen Form des österreichischen Katholizismus zu entkommen. Die katholische Erziehung durch das Gymnasium, das während des Dritten Reichs geschlossen war, vermochte sichtlich wenig gegen das historische und soziale Gewicht bestimmter Traditionen  : Ein Viertel meiner Kameraden ist einer deutsch-nationalen Burschenschaft beigetreten. An den Literaturunterricht des Gymnasiums habe ich kaum Erinnerungen, außer an ein Epigramm von Karl Kraus (aus dem Jahr 1921), das im Lesebuch der 8. Klasse stand. Der Bezug dieses Gedichts zum Thema meines Essays liegt auf der Hand  : Nationalismus Dass du nicht meiner Mutter Sohn, Das wird mich dauernd empören. Es ist und bleibt der Stolz der Nation, Zur anderen nicht zu gehören. (Fackel 551,3)

Kurz nach Beginn meines Theologiestudiums an der Universität Innsbruck, wo ich mich plötzlich in einem kosmopolitischen Milieu fand, dessen Unterrichtssprache in Philosophie und Moraltheologie die lateinische war, bin ich per Zufall in der Bibliothek der Jesuiten auf jenes Buch gestoßen, dass mich definitiv in allen Fragen der österreichischen Identität geprägt hat. Es war Die Dritte Walpurgisnacht von Karl Kraus. Dieses schon 1933 geschriebene, aber erst 1952 im katholischen Kösel-Verlag veröffentlichte Buch, war der unglaublichste Lektüreschock meines Lebens  : Ich hielt in meinen Händen die beste, die tiefgehendste, die luzideste Analyse des Nationalsozialismus, verfasst nicht nach der Katastrophe, sondern an ihrem Beginn. Als Kind und Heranwachsender hatte ich ununterbrochen zu hören bekommen, dass man 1933 oder 1938 nicht wissen konnte, was der Nationalsozialismus war und was er werden sollte. Gleichzeitig beklagte man seine Niederlage und leugnete die Judenvernichtung, um im selben Atemzug zu bedauern, dass die nicht existierende Endlösung zu viele Überlebende hinterlassen habe. 1933 hatte Karl Kraus buchstäblich alles 26

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gesehen und gewusst über den Pakt, den Deutschland mit dem Satan geschlossen hatte. In Innsbruck lebte damals der von allen respektierte Ludwig von Ficker (1880–1967), der Herausgeber der Zeitschrift Der Brenner, ein gläubiger Katholik, der enge Beziehungen zur Welt der Jesuiten unterhielt, wo der Geist des kommenden Konzils Vatikan II (1962–1965) wehte. Ficker war ein enger Freund Karl Kraus’ und des Dichters Georg Trakl gewesen, des lyrischen Hausgottes der Stadt. Als ich das Studium der Theologie abbrach, war die Entscheidung für das Literaturstudium entscheidend bestimmt durch die Liebe zu diesen beiden Autoren. Kraus wurde rasch zur Zentralfigur meines Denkens und meiner Forschungsarbeit. Heute bin ich stolz darauf, in Gemeinschaft mit dem Philosophen Jacques Bouveresse, Professor am Collège de France, zur späten Anerkennung Kraus’ in Frankreich beigetragen zu haben  : 2016 werden Die letzten Tage der Menschheit ins Repertoire der Comédie Française aufgenommen. Parallel zu dieser Wahl, die einem Glaubensbekenntnis nicht unähnlich war, verwandelte sich mein musikalischer Geschmack substantiell  : Beethoven verlor seine imperiale Stellung in meinem Pantheon zugunsten Mozarts. In der Literatur ging Schillers rhetorische Anziehungskraft gegenüber Goethe verloren, der in der Dritten Walpurgisnacht als Folie von Kraus’ Abrechnung mit dem Teufel gewirkt hatte. (Anders gesagt, zwei deutsche Kulturheroen, Meister der Rhetorik, verloren ihre Macht über meine Seele.) Jedermann weiß um die entscheidende Bedeutung von Modellen in der Jugend. Für mich, der dabei war, den Glauben zu verlieren, war das unmögliche Paar Kraus–Mozart im Begriff, seine Stelle einzunehmen. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass dieses Paar später die Basis meines persönlichen nationalen Identitätsgefühls werden sollte, dem ich unwandelbar treu geblieben bin. Karl Kraus war einer der raren, wenn nicht der einzige österreichische Intellektuelle, der ununterbrochen jede Form des Pangermanismus bekämpft hat, zur Zeit der ausgehenden Monarchie wie während der anschlusssüchtigen Ersten Republik. Der Anschluss war für ihn eine geistige Unmöglichkeit. Mozart war durch die Salzburger Festspiele schon seit langem die wichtigste Figur der kulturellen Identität des Landes. Doch war es damals keineswegs die kulturpolitische Dimension, deren Ikone Mozart geworden war, die mich interessierte, sondern eine emphatische Beziehung zu seiner Musik. In ihr verwirklichte sich für mich eine einzigartige Fusion zwischen der Volkskultur des Landes und einer universalistischen Vision der Humanität, deren »letzte Tage« Kraus beklagt hatte. Jede seiner Melodie klingt in mir, »als wär’s ein Stück von mir«. Selbst die anscheinend »verformten« Fassungen der Zauberflöte wie die südafrikanische Produktion mit ihrem 27

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Marimba-Orchester oder die »arme«, minimalistische Flöte Peter Brooks in Paris erfüllen mich mit einem unsäglichen Gefühl der Erkenntlichkeit. Im Jahr 2000 habe ich an dem Dokumentarfilm des fünften französischen Fernsehens L’Autriche  : les trous de mémoire als Berater mitgewirkt und Mozarts Musik bewusst als Kontrapunkt zu Jörg Haiders und Hitlers Rhetorik eingesetzt. (Schon 1934 hatte François Mauriac in Mozart den Antipoden Hitlers gesehen.) Nach dem Ende meines Studiums wurde ich Assistent am Institut für deutsche Philologie, an dem die beiden Ordinarien sehr markante politische Positionen vertraten. Der eine, ein aus Siebenbürgen geflohener protestantischer Pastor, den mein Vater vermutlich als »Beutedeutschen« bezeichnet hätte, kultivierte weiter seine großdeutschen Träume, der andere repräsentierte eine militante und intolerante Variante des politischen Katholizismus der dreißiger Jahre. Beiden war Karl Kraus ein Gräuel. An der Universität Innsbruck war die geistige Offenheit in der kosmopolitischen theologischen Fakultät beheimatet, wo neben Sartre und Camus auch die Psychoanalyse auf dem Lehrplan stand, selbst wenn es nur darum ging, den Gegner besser kennenzulernen. Der Großteil der jungen Assistenten rebellierte gegen diese beiden Welten von gestern. Die Literatur der österreichischen Moderne, die im Programm des Ordinarius zur Gänze fehlte, war eine unserer »Waffen«. 1965 hatte ich wieder durchaus zufällig ein »Erleuchtungserlebnis« durch Lektüre, vergleichbar meiner Entdeckung der Dritten Walpurgisnacht  : Ich las Die Blendung des damals fast unbekannten Elias Canetti, ein Leseabenteuer, das unerwartete Folgen für mein Leben haben sollte. In dieser Zeit war der Begriff einer spezifisch österreichischen Literatur noch im Entstehen begriffen. Die Lehrstühle für österreichische Literatur, die sich in den 70er Jahren rapid vermehrten, existierten noch nicht. Diese Frage war übrigens für uns zweitrangig, es ging uns eher darum, unseren neuen literarischen Kanon, insbesondere Kraus, als Mittel im Kampf gegen den herrschenden Konservativismus einzusetzen, nicht zuletzt im Bereich der Sexualität. Wir belieferten eifrig den Professor für Strafrecht, der für die Entkriminalisierung der Homosexualität und der Abtreibung eintrat, mit fulminanten Argumenten aus Sittlichkeit und Kriminalität und der Chinesischen Mauer. (Dasselbe tat Adorno im Spiegel.) Unser Mai 1968 hatte vor allem dieses Gesicht. Die französische Revolte hatte in unserem Bewusstsein wenig Gewicht gegenüber dem »Prager Frühling«. Die ersehnte »Veränderung« ist schließlich mit der Wahl des exilierten Juden Kreisky aus den Urnen gekommen  : Es schien einige Zeit, als ob in Österreich eine harmonische Verbindung von politischer Macht und Kultur existierte, die selbstverständlich das nationale Selbstbewusstsein stärkte. 28

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Doch in dieser Zeit hatte ich Innsbruck bereits verlassen, um einen Posten als »wilder« (sprich nicht institutionell gedeckter) österreichischer Lektor an der Sorbonne Nouvelle-Paris III anzunehmen. Rasch wurde mir bewusst, dass ich in meinem familiären und beruflichen Umfeld über einen völlig unverdienten und ungerechtfertigten Sympathie-Bonus verfügte, nämlich den simplen Umstand, Österreicher zu sein. Dahinter steckte eine mehr oder weniger zugegebene Germanophobie. Später hat sich gezeigt, dass das positive nationale Vorurteil brutal in sein Gegenteil umschlagen konnte. Meine ersten Pariser Jahre, in denen ich unter beträchtlichem Druck Französisch lernte, waren geprägt von drei entscheidenden Begegnungen, abgesehen von der reibungslosen Integration in meine französische Familie. Wenn ich mir erlauben konnte, diesen Essay über die österreichische Identität zunächst auf Französisch zu schrei­ ben, so verdanke ich das drei außergewöhnlichen Männern. Der erste war Pierre Bertaux, der Direktor des germanistischen Instituts, ein international angesehener Hölderlinforscher, ein »homme de lettres«, aber auch ein homo politicus von Rang im französischen Widerstand und in der Sicherheitspolitik der Vierten Republik. Er war unter anderem Chef de la sûreté nationale gewesen. Er hatte die Anarchie von 1968 genützt, um eine radikale Neudefinition der »Etudes germaniques« durchzusetzen. »Civilisation« lautete das Schlagwort, um die Allmacht der Literatur als Werkzeug der Erkenntnis des Anderen zu brechen. Als purer Philologe (Germanistik plus Altphilologie) wurde ich buchstäblich gezwungen, nicht mehr deutschsprachige Autoren zu lehren, sondern kurzerhand Deutschland, von dem es damals noch zwei gab. Österreich interessierte Bertaux kaum, aber er hat sich bereit erklärt, meine Dissertation Der Brenner und die Fackel zu betreuen, und er hat mir die Möglichkeit gegeben, die österreichische »civilisation« und Literatur in den Lehrplan des Instituts einzugliedern. Seit der Lektüre der Blendung 1965 war ich vom Werk Elias Canettis fasziniert. 1971 ergab sich die Gelegenheit, ihn in Paris zu treffen, wohin er gekommen war, um von seinem todkranken Bruder Georges Abschied zu nehmen. An diesem Tag begann eine Freundschaft, die bis zu seinem Tod 1994 gedauert hat. Karl Kraus war das nie erschöpfte Thema vieler unserer Gespräche. Canetti hat sich bis zu seinem Lebensende die Frage gestellt, wie er über Jahre hindurch der Sklave Kraus’ und als solcher Partikel einer Hetzmasse aus Intellektuellen sein konnte.3 Merkwürdigerweise erschien mir dieser polyglotte Kosmopolit, der die beiden Sprachen des jüdischen Exils, das Spaniolische und das Deutsche, als Muttersprachen sprach und seit 1938 in England lebte, als authentischer homo austriacus, der 1981 den Nobelpreis im Namen von vier österreichi29

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schen Autoren (Kraus, Kafka, Musil und Broch) entgegennehmen sollte. Ein in Bulgarien geborener sephardischer Jude im englischen Exil sah sich selbst als legitimen Erben der österreichischen Tradition und überdies als Hüter der Würde der deutschen Sprache gegen die Lingua Tertii Imperii. In London war er sogar Mitglied des Free Austrian Movement gewesen. In den siebziger Jahren hat er mit dem Gedanken gespielt, nach Wien zurückzukehren, aber ein antisemitischer Skandal bei der Aufführung der Komödie der Eitelkeit im Burgtheater, einen Tag nach der Wiederwahl Kreiskys im Mai 1979, hat diesem Traum ein brutales Ende gesetzt. Niemals werde ich den nächtlichen Spaziergang am Graben nach der Premiere vergessen, der sich bis 4 Uhr früh in Gesprächen über »sein Österreich« hinzog. Es ist wahrscheinlich, dass das Interview, das er 1980 der Zeitschrift Austriaca gab, ausschlaggebend war für die Entscheidung des Nobelkomitees, den britischen Staatsbürger als österreichischen Autor zu ehren. Er war selbst das lebendige Beispiel seiner anthropologischen Überzeugung, dass der Mensch ein Verwandlungswesen sei, bestehend aus vielfachen Identitäten und keineswegs gezwungen, die eine gegen die andere auszuspielen oder zu verraten. Ich selbst war dabei, eine Metamorphose durchzumachen  : Ich war nach Frankreich gekommen, ohne die Sprache zu kennen. Ich lernte begierig wie ein Kind, ohne je zu einer Grammatik zu greifen, und eignete sie mir fast natürlich an. Dieser Prozess einer bewussten und gewollten Akkulturation affizierte aber keineswegs meine ursprüngliche Identität. Im Gegenteil. Erst in Frankreich bin ich ein bewusster Österreicher geworden. Ich habe mich sogar geweigert, mit meinen Kindern Deutsch zu sprechen, denn für mich war die deutsche Sprache meine Berufssprache, zu weit entfernt vom Dialekt meiner Mutter, um das legitime Organ der Beziehung zu meinen Kindern sein zu können. Fast zur selben Zeit habe ich im weiland österreichischen Kulturinstitut die Bekanntschaft Felix Kreisslers gemacht, eines leidenschaftlichen Kämpfers für die Anerkennung der österreichischen Nation, der sich selbst als französischen Staatsbürger und österreichischen Patrioten definierte. Als Mitglied einer verbotenen sozial-demokratischen Gymnasiastenvereinigung war er vom austrofaschistischen Staat verhaftet worden. Nach seiner Haftentlassung wurde ihm das Weiterstudieren in Österreich verboten. Daraufhin emigrierte er noch vor dem Anschluss nach Frankreich, wo er sich ab 1940 im kommunistischen Widerstand engagierte. Im Gefängnis lernte er flüchtig Pierre Bertaux kennen.4 Unter einer gefälschten Identität wurde er als französischer politischer Häftling nach Buchenwald deportiert. Nach dem Krieg war er kurz mit der Umerziehung (rééducation) österreichischer Kriegsgefangener beauftragt. In den 70er Jahren 30

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gründete er an der Universität Rouen ein Zentrum für Österreichforschung. 1979 habilitierte er sich unter der Leitung von Pierre Bertaux mit einer umfangreichen Arbeit über das Thema seines Lebens  : La prise de conscience de la nation autrichienne, auf Deutsch unter dem Titel Die österreichische Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen 1984 erschienen, nahezu gleichzeitig mit Friedrich Heers Kampf um die österreichische Nation. Das Buch ist in Österreich nicht ohne Wirkung geblieben. Mit Canetti und Kreissler hatte ich zwei exzentrische Varianten der österreichischen Identität kennen gelernt, die ihre Wurzeln im Wien der 20er und 30er Jahre hatten. Beide waren in Bezug auf das damalige offizielle Österreich Borderliners, aus politischen und rassischen Gründen zum Exil verurteilt. Beide sind für mich mehr als Freunde gewesen. Ich zögere nicht zu gestehen, dass ich in ihnen das ersehnte Vaterideal gefunden habe, das der trübseligen, von Hass und Trostlosigkeit genährten Weltanschauung meines Vaters in allem widersprach. Mitte der 70er Jahre erwachte in Frankreich ein ungewöhnliches Interesse an Österreich. Es begann mit einer Nummer der renommierten Zeitschrift Critique, die ausschließlich »Vienne 1900« gewidmet war. Jacques Bouveresse hatte das Heft unter das doppelte Zeichen von Kraus und Wittgenstein gestellt. Wir wurden bald Freunde und arbeiteten gemeinsam an der Vorbereitung der großen Ausstellung »Vienne – naissance d’un siècle« mit, die 1986 im Centre Pompidou einen unerhörten Erfolg hatte. Als Felix Kreissler 1975 die Zeitschrift Austriaca gründete, bat er mich, in das Gründungskomitee einzutreten, das bald um Jacques Bouveresse und Jacques Le Rider erweitert wurde. Die beiden repräsentierten in ihrer jeweiligen Disziplin einen wahren Paradigmenwechsel. Bouveresse galt als der Philosoph, der die triumphierende deutsche Triade Hegel-Marx-Heidegger durch die österreichische Triade Kraus-MusilWittgenstein abgelöst habe. Le Rider lieferte mit seinen Studien zu den Bruchlinien in der österreichischen Kultur der Moderne wesentliche Einsichten in die Kenntnis des weitgehend unbekannten Kontinents Österreich. Michael Pollak, ein Schüler von Pierre Bourdieu, trug mit seiner soziologischen Analyse der »verletzten Identität« und der Analyse des Publikums der Ausstellung Wesentliches zur Aufhellung des rätselhaften Erfolgs der »Viennomania« bei. Obwohl das Interesse für die politische Geschichte Österreichs unvergleichlich geringer war als das für Literatur, Musik, Psychologie, Philosophie und, vor allem, Malerei, hat der Wahlsieg von François Mitterrand 1981 zur Folge gehabt, dass man sich für den Austro-Marxismus zu interessieren begann, der einige französische Sozialisten, darunter den damaligen germanophoben Forschungsminister 31

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Jean-Pierre Chevènement, inspiriert hatte. Für einige Zeit war sogar von einem »modèle autrichien« die Rede. Die Konfusion zwischen Austro-Marxismus und Kreiskys Sozialdemokratie hat sich rasch aufgelöst, ich erinnere mich noch an die Empörung eines kommunistischen Gewerkschaftsfunktionärs über das öster­reichische »Modell« der Sozialpartnerschaft  : »Ich habe nicht gewusst, dass Österreich ein faschistischer Staat ist  !« Das Jahr 1986 war gleichzeitig der triumphale Höhepunkt der Austromanie und der Beginn eines abgründigen Sturzes. Der Sympathiebonus für das »erste Opfer des Nationalsozialismus«, von dem Österreich profitiert hatte, wandelte sich in sein Gegenteil. Eine Art Duell zwischen dem Bundespräsidenten Waldheim und dem obersten Verächter Österreichs, Thomas Bernhard, hat jahrelang das hässliche Bild Österreichs in den französischen Medien beherrscht. Der Aufstieg Jörg Haiders hat aus Österreich das Land gemacht, »das wir liebend gern hassen«. Eine spektakuläre Rückkehr des Verdrängten zerstörte total das Ansehen des Landes und führte zu einer radikalen Umwertung aller positiven Stereotypen in ihr Gegenteil. Die fatalen Waffen in diesem medialen Feldzug gegen Österreich lieferten die bekanntesten österreichischen Schriftsteller  : Bachmann, Bernhard, Handke und Jelinek. Österreich wurde zum europäischen Naziland erklärt. Die Wirklichkeit sei noch schlimmer als das Österreichbild Thomas Bernhards. Selbst meine jüngere Tochter wurde an ihrem Arbeitsplatz in einem bekannten Verlag mit »Heil Hitler  !« begrüßt. Dieses politische Ungewitter, das sich nach dem Abgang Waldheims und dem Tod Bernhards ein wenig beruhigt hatte, erreichte einen absoluten Höhepunkt im Jahr 2000. Mein Kollege Joseph Rovan, langjähriger Berater von Bundeskanzler Kohl, hat vermutlich die beste Erklärung für diese politische und diplomatische Katastrophe gefunden. Er sagte mir, die französischen Medien griffen Österreich deshalb mit einer völlig disproportionierten Gewalt an, weil es ihnen nicht mehr möglich sei, ihr eigentliches Objekt, Deutschland, auf dem Minenfeld der nationalsozialistischen Vergangenheit anzuvisieren. Die Deutschen hätten ihre Vergangenheit endgültig »bewältigt«, während die Österreicher sie (bisher) nur erfolgreich »verdrängt« hätten. Hinter der Koalition ÖVP-FPÖ sähe man den Riesenschatten des Pangermanismus und Nationalsozialismus. Öster­reich könne niemals völlig seinen Anteil an der deutschen Geschichte, vor allem an ihrer finstersten Zeit, verleugnen. Ich komme einen Augenblick zurück auf die Geschichte meiner Familie  : Vier Cousins und Cousinen deutsch-nationaler Gesinnung waren aus beruflichen Gründen Mitglieder sozialdemokratischer Organisationen, ohne je für die SPÖ zu stimmen. Einer, Mitglied der Burschenschaft »Germania«, hat sogar einen Aufruf zur Wiederwahl Kreiskys 32

Persönliches Vorspiel

unterzeichnet(!), was ihm Spott und Hohn seiner Bundesbrüder eintrug. Jörg Haider war der Zerstörer dieser modernen Form eines verlogenen Kryptoprotestantismus. Er hat es möglich gemacht, dass seine Partei am Geschäft der Macht teilnehmen konnte wie die anderen. Ich habe aus ihm nahezu meinen persönlichen Feind gemacht, doch ich war mir dabei bewusst, dass auch ich – nicht zuletzt durch die Ähnlichkeit der Familiengeschichte – einer seiner Anhänger hätte werden können wie so mancher meiner Klassenkameraden. Gemeinsam mit Felix Kreissler habe ich als Reaktion auf die Regierungsbildung in Wien, die eine nicht unbeträchtliche Massendemonstration und öffentliche Proteste (Bernard-Henry Lévy, Gérard Mortier etc.) in Paris provoziert hatte, eine »Société franco-autrichienne« gegründet, deren erklärtes Ziel es war, der österreichischen Kulturpolitik in Frankreich die Legitimität abzusprechen. Als Chefredakteur der Zeitschrift Austriaca, die seit 1975 von österreichischer Seite subventioniert wurde, habe ich Anfang 2000 die Subvention der Außenministerin, die die französischen Reaktionen hätte voraussehen können und müssen, retourniert. (Man kann nicht in Paris Joseph Roth feiern und in Österreich mit Haider paktieren.) Wir hatten den Eindruck, dass die österreichische Regierung dabei war, unverantwortlicherweise die Grundlagen der Republik und ihren internationalen Kredit aufs Spiel zu setzen. Selbst wenn sich inzwischen das Verhältnis zu Österreich normalisiert hat, verschattet ein diffuses Unbehagen weiterhin das Bild des Landes in Frankreich. Das zeigt sich unter anderem darin, dass Verbrechen (wie die Fälle Kampusch und Fritzl) in den Medien, aber auch in der Literatur als Symptome einer unheimlichen österreichischen Identität gewertet werden, z. B. in einem Roman mit dem sprechenden Titel Claustria. Es schien mir unabdingbar, die persönlichen Voraussetzungen dieses Essays offen zu legen. Lange Zeit habe ich die Rolle eines nichtoffiziellen Mittlers zwischen meinem Heimatland und dem Land meiner Wahl gespielt. Ich bin Franzose geworden und bekenne mich voll und ganz zu den Prinzipien der Republik und sehe mit Trauer und Sorge die Schwierigkeiten, denen dieses Modell nationaler Identität heute ausgeliefert ist. Die österreichische nationale Identität ist das Ergebnis eines langen und komplexen Prozesses, dessen Vollendung (?) ich miterlebt habe und das ich ohne Rückhalt bejahe. Ich kann mich aber nicht enthalten, Karl Kraus im Ohr, den leisen bitteren Nebengeschmack dieses Prozesses zu erwähnen  : Die österreichische Identität konstituierte sich durch Abgrenzung und Differenz, durch eine Art feindselige Konkurrenz mit Deutschland, also durch das, was Freud den »Narzissmus der kleinen Differenz« genannt hat. Doch im Gegensatz zu den »Reichsdeutschen«, zu denen 33

Gibt es eine österreichische Nation  ?

man einst heim wollte, und deren Nationalbewusstsein unbezweifelbar war, war die österreichische Identität seit jeher gebrechlich und mit Zweifeln beladen. Sichtbarer Ausdruck dafür war die Unsicherheit und Unklarheit der nationalen Symbole (Hymne, Fahne, Krone, Nationalfeiertag). Denn diese Identität konnte nur in der Rivalität mit Deutschland gewonnen werden, die die Diplomatin Gabriele Matzner-Holzner in einer Freud würdigen Formel als Geschichte der »verfreundeten Nachbarn« definiert hat.

4. VERFREUNDETE NACHBARN 2005/2006 hat das »Haus der Geschichte« der Bundesrepublik Deutschland eine Wanderausstellung (Bonn, Leipzig, Wien) unter dem Titel »Deutschland-Österreich. Verfreundete Nachbarn«5 organisiert. Dieser paradoxe Neologismus6 fasst konzentriert durch die Verbindung von »befreundet« und »verfeindet« das ambivalente Verhältnis der beiden Staaten, Länder, Nationen zusammen. Das Präfix »ver«, das die Liste der Freud’schen Fehlleistungen vom Verschreiben und Versprechen bis zum Verlegen beherrscht, hat einen eindeutig negativen Charakter, der normalerweise den Begriff der Freundschaft ausschließt. »Verfreundet« verwischt die Grenzen zwischen Freund und Feind, indem es die beiden vermischt. Ich gehe so weit, zu behaupten, dass in diesem Wort die tiefe Zweideutigkeit der Beziehung zwischen Österreich und Deutschland kristallisiert ist. Ein wesentlicher Teil dieser Ausstellung war der Rolle des Österreichers Adolf Hitler und dem Anschluss von 1938 gewidmet. Ich habe für den Katalog einen Beitrag mit dem Titel »Die Grundlagen der österreichischen Identität« geschrieben, in dem ich die bewegte Geschichte der deutschen und österreichischen Nationalhymnen in der Optik des »verfreundet« analysiert habe. Ich komme in einem eigenen Kapitel auf diese Frage zurück. 2005/2006 scheinen die historischen Konflikte zwischen den beiden Nationen endgültig »Geschichte« zu sein. Nach der Auflösung Österreichs zwischen 1938 und 1945 hatte sich endlich eine österreichische Nation konstituiert. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der diversen Staaten, die den Namen Österreich getragen hatten, waren Staat und Nation identisch geworden. Freilich herrscht auch heute noch keine absolute Einhelligkeit über die Existenz einer österreichischen Nation. Innerhalb Österreichs ist der Zweifel Sache einer Minderheit geworden, doch ein Teil der deutschen Historiographie verteidigt weiterhin die These vom »einen Volk« (dem deutschen), aufgespalten in 34

Verfreundete Nachbarn

zwei Nationen (Deutschland und Österreich) und bis 1990 drei Staaten (BR D, DDR, Österreich). Außerhalb der DDR hat in der Tat niemand die Chimäre einer sozialistischen deutschen Nation ernst genommen. (Es wäre ein fataler Irrtum, eine Parallele zwischen der DDR und Österreich zu ziehen, außer man betrachtet die österreichische Nation wirklich als pur ideologische Konstruktion ohne Geschichte.)7 Die Anerkennung einer österreichischen Nation schien akzeptiert und zugleich durch den Begriff des einen Volkes in Frage gestellt. In einer »verfreundeten« Diskussion mit einem bekannten deutschen Historiker, damals Berater von Bundeskanzler Kohl und Gastprofessor in ­Paris, hatte ich die unangenehme Überraschung, Folgendes zu hören  : »Ach, ihr Öster­reicher  ! Österreich ist eine Erfindung aus dem Jahre 1942  !« Im Klartext  : Erst die deutsche Niederlage hätte die Österreicher dazu gebracht, sich eine gesonderte Identität zu erfinden. Eine Sprache, die in Österreich nur bei den Nostalgikern des Dritten Reichs zu vernehmen ist. In der deutschen und österreichischen Geschichte waren Staat und Nation lange getrennt. Nach dem Dreißigjährigen Krieg zählte man im Inneren des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation mehr als 300 »deutsche« S­ taaten, und selbst nach der europäischen Restauration auf dem Wiener Kongress von 1815 bildeten 36 Staaten (Königreiche, Herzogtümer, Fürstentümer und freie Städte) den Deutschen Bund, den Österreich präsidierte. Selbst das von Preußen 1871 geeinigte Reich behielt seine föderalistische Struktur mit Monarchien von Gottes Gnaden und freien Städten bei. Die nationale Identität beruhte auf der Sprache und Kultur, aber auch auf dem jus sanguinis, das bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts in Geltung blieb. Seine eminente Rolle zeigte sich nach 1990 bei der automatischen Einbürgerung der »Wolgadeutschen«, die nicht mehr Deutsch sprachen. Ginge man von dieser Definition der Nation aus, würde das deutschsprachige Volk Österreichs ohne jeden Widerspruch zur deutschen Nation gehören. Und nahezu niemand, selbst nicht die entschlossensten Verteidiger des österreichischen Staats zwischen 1918 und 1938, hätten diese Tatsache in Frage gestellt. Unter diesen Voraussetzungen konnte der Anschluss von 1938 nur als Naturnotwendigkeit empfunden werden, selbst wenn er sich in einer wenig freundschaftlichen und brüderlichen Form vollzogen hat. Jeder ernsthafte Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland war zum Scheitern verurteilt, solange sich Österreich selbst als zweiter deutscher Staat ansah. Darin bestand die grundsätzliche Schwäche des Ständestaats zwischen 1934 und 1938, der sich als christlich-deutscher Schutzwall gegen die neudeutsche Barbarei und Paganisierung verstanden wissen wollte. Doch fallen in diese Zeit die ersten, eher seltenen Versuche, die Kriterien der Definition 35

Gibt es eine österreichische Nation  ?

dessen, was eine Nation ist, zu modifizieren. Sie kamen aus politisch radikal konträren Horizonten, einerseits von den Kommunisten, andererseits von den Monarchisten. 1945 wurde Ernst Fischer, ein kommunistischer Intellektueller, der aus dem Moskauer Exil heimkehrte, Staatssekretär für das Unterrichtswesen. Er war ein überzeugter Vertreter der nationalen Identität. Seine Person hat sicherlich zur Behauptung, die österreichische Nation sei eine kommunistische Erfindung, beigetragen. Vermutlich war er der Inspirator des Dekrets, durch das in den Schulen das Fach »Deutsch« durch »Unterrichtssprache« ersetzt wurde. Die Herausforderung war nicht gering  : Die kulturelle Identität Österreichs musste definiert werden, ohne den Zusammenhang mit der deutschen Kultur zu erwähnen. Symptomatisch dafür war auch der Titel der Literaturgeschichte für Gymnasien  : Die österreichische Literatur im Rahmen der Weltliteratur. In dem Essay Die nationale Frage in Österreich aus dem Jahre 1937 griff der Kommunist Alfred Klahr heftig die Positionen der Sozialdemokratie und des austrofaschistischen Regimes über die Zugehörigkeit der Österreicher zur deutschen Nation an. Er begründete seine eigene These durch einen Rückgriff auf die Broschüre Marxismus und nationale Frage, die Stalin 1912 in Wien ­verfasst hatte, um die austromarxistischen Theorien über die Nation zu bekämpfen. Eine Konsequenz dieser Theorien sei nach Klahr die These von der Notwendigkeit des Anschlusses an Deutschland gewesen. Für Stalin waren die vier »materialistischen« Kriterien für die Konstituierung einer Nation eine gemeinsame Sprache, ein Territorium, ein gemeinsames Wirtschaftsleben, schließlich ein psychischer Charakter, der sich in der gemeinsamen Kultur manifestiere. Wie der Generalsekretär der Vaterländischen Front Guido Zernatto in seinen Arbeiten zum Begriff der Nation bemühte sich Klahr, die zentrale Rolle der gemeinsamen Sprache als Kriterium zu entkräften. Er beschuldigte Otto Bauer, den führenden Theoretiker der nationalen Frage, durch seine Überschätzung der linguistischen und kulturellen Identität einen unhistorischen Idealismus zu vertreten, nach dem Österreich »›selbstverständlich‹ ein Teil der deutschen Nation« sei  : »Die Auffassung, nach der das österreichische Volk ein Teil der deutschen Nation sei, hat keine theoretische Grundlage. Eine Einheit der deutschen Nation unter Einschluss der Österreicher hat nie existiert und existiert auch heute nicht« (Klahr 4, 7). Es seien die »wirtschaftlichen und politischen Bedingungen«, die eine Nation schaffen. Wie der Monarchist Ernst Karl Winter behauptet Klahr, Öster­reich habe eine »Eigenexistenz unter besonderen Bedingungen«. Doch selbst Klahr muss zugeben, dass in Österreich die Nationswerdung noch ein unabgeschlossener Prozess sei, da den meisten Österreichern das Nationalbewusstsein fehle  : »Deshalb ist die nationale Entwicklung der deutschen Öster36

Verfreundete Nachbarn

reicher zu einer besonderen österreichischen Nation nicht abgeschlossen« (Klahr, 7). Das gelte besonders für die politischen und kulturellen Eliten. Das ist ein Paradox für Klahr, denn bei den slawischen Nationen der Monarchie waren es eben jene bürgerlichen Eliten, die den Prozess der nationalen Bewusstwerdung getragen haben, was Otto Bauer in seinem Buch Die österreichische Revolution von 1923 meisterhaft gezeigt hat. Der »materialistische« Theoretiker ist also gezwungen, die Macht bestimmter Überbaustrukturen wie der Religion oder eben des Natio­nalbewusstseins anzuerkennen, vor allem wenn dieses das Gesicht eines Glaubens annimmt. Von Klahr wird die Idee einer österreichischen Nation als Werkzeug im antifaschistischen Kampf gewertet  : der Kampf um die österreichische Nation »schärft unsere ideologische Waffe gegen den Hitlerfaschismus«. Hitlers Ansprüche auf Österreich »sind eine imperialistische Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes des österreichischen Volkes« (Klahr, 11). Auf der monarchistischen Seite wurden die Wurzeln der österreichischen Identität logischerweise in der Geschichte des Hauses Habsburg und des Heiligen Römischen Reichs gesucht. Das Schlagwort »Heim ins Reich  !« der österreichischen National­sozialisten musste als Betrug entlarvt werden, denn das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sei über ein halbes Jahrtausend vom Haus Österreich und nicht von Preußen-Deutschland regiert worden, diesem Emporkömmling ohne die geschichtliche und territoriale Legitimität der Habsburger. Eines ist gewiss  : es gibt keine Debatte über die österreichische Identität, die nicht von der historischen Rivalität mit Preußen und einem prussifizierten Deutschland ausgeht. Man kann sogar behaupten, dass sich die Frage der nationalen Identität erst ernsthaft in dem Moment stellt, in dem der multinationale Staat verschwindet und mit ihm das chimärische Gebilde, das man als »österreichische Idee« bezeichnet hatte und das nur im platonischen Ideenreich existierte. Nach 1945 geht es nun ernsthaft um die Verwirklichung der Idee. Die Regierung, allen voran das Unterrichtsministerium, hat einen konsequenten Kampf für die Austrifizierung der Österreicher unternommen. Die Losung betreffend das Verhältnis zu Deutschland, das lange als »Schicksalsgemeinschaft« angesehen worden war, lautete nun, jede Gemeinsamkeit zu leugnen, die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen ausschließlich Deutschland zuzuschreiben und sich selbst als armes erstes Opfer Deutschlands zu sehen. Es ist wahr, dass viele österreichische Politiker Opfer des nationalsozialistischen Systems waren, und man konnte nicht ganz zu Unrecht die Behauptung wagen, die österreichische Identität sei in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches geboren worden. 37

Gibt es eine österreichische Nation  ?

Zu den demonstrativen symbolischen Gesten in diesem Prozess der Abgrenzung gehörte der Verzicht auf die Melodie von Haydns Kaiserhymne, auf die ich noch ausführlich zu sprechen kommen werde. Viel t­iefgehender war die schon erwähnte Entscheidung, das Wort »deutsch« zu verbannen und für die Unterrichtssprachler 1951 ein Österreichisches Wörterbuch ­einzuführen, das die Regeln für die deutsche Rechtschreibung ersetzte. Doch im Gegensatz zu einigen chauvinistischen Utopisten, die die Existenz einer vom Deutschen unabhängigen österreichischen Sprache proklamierten, verstand sich das Österreichische Wörterbuch als Wörterbuch einer guten und korrekten »deutschen (!) Gemeinsprache«. Freilich verteidigte es auch die Verwendung mancher österreichischer Besonderheiten, die es an Korrektheit und ­schönem Ausdruck mit der Gemeinsprache aufnehmen konnten, warnte aber ausdrück­lich vor der Versuchung, dialektale und familiäre Ausdrücke in den Schulunterricht einzuschleusen. Das Ziel des Ministeriums war in der Tat, den Faktor Sprache in der Definition der Nation abzuwerten, und das, obwohl die österreichische Verfassung im Artikel 8 ausdrücklich festhält  : »Die deutsche Sprache ist, unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten Rechte, die Staatssprache der Republik.« Dieselbe Strategie war am Werk in der schon erwähnten österreichischen Literaturgeschichte. Demonstrativ wurde hier die gemeinsame Sprache abgekoppelt von der Definition der Nationalliteratur. In dieselbe Richtung ging die Schaffung einer Taschenbuchreihe mit dem Titel Das österreichische Wort, die Autoren vom Mittelalter bis zu den jüdischen Emigranten (wie Canetti) umfasste. In der Musikgeschichte hatte man nicht gezögert – die Idee hatte ihren Keim schon bei Hofmannsthal –, Beethoven und Brahms ins ohnehin schon reiche österreichische Pantheon aufzunehmen. Man hat sich also vom »verfreundeten« Nachbarn nicht nur distanziert, man hat sogar sein Bestes für sich beansprucht. Das wird uns noch beschäftigen.

5. ÜBER DEN GEBRAUCH DES WORTES »NATIONAL« IN ÖSTERREICH Das heutige Österreich hat einen Nationalfeiertag, einen Nationalrat, Nationalmannschaften, eine Nationalbank und eine Nationalbibliothek, doch im Unterschied zu Frankreich ist die Eisenbahn nicht national, sondern föderal, auch die Straßen gehören nicht der Nation, sondern dem Bund. Das gilt auch für die Bundeshymne. Die Oper heißt Staatsoper. Dass sich die führende Bühne Burg38

Über den Gebrauch des Wortes »national« in Österreich

theater und nicht Nationaltheater nennt, versteht sich aus der Geschichte des Begriffes. Wer auf Deutsch Nationaltheater sagt, meint auch heute ausschließlich deutsches Nationaltheater, eines der großen Symbole der werdenden Kulturnation. Also im heutigen Österreich ganz und gar unmöglich. Österreich schwankt semantisch zwischen Frankreich, wo die Nation, und Deutschland, wo der Bund alles beherrscht, seit das »Reich« verloren war. Trotzdem ist in diesem sensiblen Punkt der »Lernprozess mit Hindernissen« glücklich abgeschlossen, die Österreicher sind endlich Österreicher, wenn man den empirischen Umfragen trauen will. Um die Größe der Hindernisse richtig einzuschätzen, muss man sich die Situation von 1933 bis 1938 vor Augen halten, als der Führer des Dritten Reiches den Anschluss seiner Heimat an das Deutsche Reich als eines der Hauptziele seiner Außenpolitik ansah. Vor dieser Drohung wandelte sich die Anschlusssehnsucht, ein Motor der außenpolitischen Forderungen, in sein Gegenteil. Als 1934 die Republik in einen katholischen Ständestaat verwandelt wurde, hieß die faschistische Einheitspartei »Vaterländische Front« und nicht »Nationale Front«. (In Frankreich gibt es einen »Front national«, eine Benennung, die in Österreich weiterhin undenkbar ist.) Denn 1934 bedeutete »national« ausschließlich deutsch-national, und das ist noch weit über 1945 hinaus so geblieben. Der österreichische Faschismus unterschied sich vom italienischen und deutschen nicht zuletzt darin, dass ihm die nationale Massenbasis fehlte. Diese Rolle war der katholischen Kirche zugedacht. Unzählig sind die Anekdoten über die Schwäche der »Vaterländischen Front«, deren Emblem, das Kruckenkreuz, keine Chance hatte, mit dem Hakenkreuz zu rivalisieren. Dieses österreichische Kreuz symbolisierte im Gegensatz zum heidnisch vorchristlichen Hakenkreuz die Vermählung von Christentum und Deutschtum, also das erklärte Ziel des Ständestaates. Wie war es möglich, die Souveränität eines Landes zu verteidigen, dessen politische und kulturelle Eliten sich als Vertreter der deutschen Nation empfanden  ? Als Österreich 1936 die Protektion durch seinen bisherigen Schutzherrn Mussolini verlor, blieb ihm nichts übrig, als den »deutschen Weg« zu gehen, das heißt nichts gegen die deutschen Interessen zu unternehmen und die inhaftierten illegalen Nationalsozialisten zu amnestieren und ins politische Leben zu integrieren. Die österreichische Universität hat diesem »deutschen Weg« die historischen und ideologischen Grundlagen geliefert  : in dem Buch Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum (1936), erarbeitet von einem Kollektiv der damaligen Größen der Wiener Universität, findet sich ein Artikel, dessen Titel allein die Situation vollkommen resümiert  : »Das Deutschtum der Deutsch-Österreicher«. Die darin entwickelte These ist von höchster Eindeutigkeit  : »Österreich ist das Land der Peripherie … Im39

Gibt es eine österreichische Nation  ?

mer etwas abseits und darum etwas bewusster deutsch als Binnendeutschland« (Nadler/Srbik, 369). Ich versuche, mich an meine eigenen semantischen Erfahrungen zu erinnern. Es ist evident, dass solche nationalistischen Überzeugungen nicht mit einem Schlag verschwinden konnten. In meiner Umgebung hatte das Wort »national« keine andere Bedeutung als »deutsch«. Ein »Nationaler« war ein »Deutsch-­Nationaler«. Auch das Wort »Reich« bezeichnete ausnahmslos das Land, aus dem die Österreicher eben heimgekehrt waren. Deutsche waren automatisch »Reichsdeutsche«. Daneben gab es noch die Kategorie der »Auslandsdeutschen«, zu der die Minderheiten auf dem Balkan, in der Tschechoslowakei oder in Polen zählten. Die Österreicher gehörten natürlich nicht dazu. Dagegen kann ich mich nicht erinnern, je das Wort »Deutsch-Österreicher« gehört zu haben, obwohl diese Bezeichnung seit dem 19. Jahrhundert gängig war und 1918 vorübergehend zum Namen des neuen Staates wurde. In der Tat gab es nach 1945 kaum mehr nicht-deutsche Österreicher, abgesehen von den kleinen kroatischen und slowenischen Minderheiten. Ein Österreicher war also ein Deutscher wie die Bayern oder Preußen, nur noch eine Nuance deutscher aufgrund seiner Situation an der Grenze. Der Prozess der Austrifizierung der Österreicher erwies sich also als schwierig. Der Umstand, dass dieser Prozess von außen durch die Alliierten gefördert wurde, erleichterte die Bewusstseinsarbeit nicht. Der Staatsvertrag von 1955, der dem Land die Souveränität gab, hatte als Garantie ein ewiges Anschlussverbot, das offiziell auch von Österreich gewünscht wurde. Denn im Gegensatz zum Jahre 1918 waren 1955 die politischen Eliten Österreichs mit den Absichten der siegreichen Alliierten einverstanden. Die jüngste Nation Europas begann ihre Geschichte.

6. DER »STAAT, DEN KEINER WOLLTE« ODER »L’AUTRICHE C’EST CE QUI RESTE« Obwohl die Republik Österreich 1945 ihre Wiedergeburt dem Willen der Alliierten verdankt, darf nicht übersehen werden, dass sie diesmal auch selbst die Unabhängigkeit wollte. Sie wurde noch vor der deutschen Kapitulation am 27. April 1945 proklamiert in den Grenzen, die durch die Friedensverträge von 1919 (Versailles, Saint Germain en Laye, Trianon) und die Volksabstimmungen von 1920 und 1921 festgelegt worden waren. Dieser kleine Nachfolgerstaat der Monarchie war vom französischen Ministerpräsidenten Clemenceau als das bezeichnet worden, »was übrigbleibt« nach der 40

Der »Staat, den keiner wollte« oder »l’Autriche c’est ce qui reste«

Konstituierung der diversen Nationalstaaten auf dem Territorium der Monarchie. Die Republik Österreich war ein von außen erzwungener Staat, der selbst nicht die geringste Lust auf eine eigene Existenz hatte. Denn die provisorische österreichische Nationalversammlung (die deutschsprachigen Abgeordneten des aufgelösten Reichsrates) hatte am 12. November 1918 die Republik »Deutsch-Österreich« ausgerufen und gleichzeitig im Artikel 2 stipuliert, dass diese Republik Bestandteil der deutschen Republik sei. Österreich lieferte also der Welt das unglaubliche Schauspiel, eine Verfassung zu verabschieden, die zugleich Geburtsurkunde und Totenschein war. Der Anschluss an Deutschland, den Hitler in Mein Kampf so heiß ersehnte, war 1918 der Ausdruck des einstimmigen Willens der deutsch-österreichischen Abgeordneten. Auf deutscher Seite war der Wille, Österreich anzuschließen, nicht weniger stark. Friedrich Ebert, der zukünftige Präsident der Weimarer Republik, hatte in seiner Rede bei der Eröffnung der konstituierenden Nationalversammlung in Weimar ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker für die deutsche Nation gefordert. Im Namen dieses vom Präsidenten Wilson versprochenen Rechts erklärte er unter heftigem Applaus  : »Wir können auch nicht darauf verzichten, die ganze deutsche Nation im Rahmen eines Reiches zu einigen.« Denn  : »Unsere deutsch-österreichischen Brüder haben auf ihrer Nationalversammlung bereits am 12. November vorigen Jahres sich als Teil der großen deutschen Republik erklärt.« Er äußerte den Wunsch, dass es den beiden konstituierenden Nationalversammlungen gelingen möge, das 1866 zerrissene Band zu erneuern und Deutsch-Österreich für immer mit dem »Mutterland« zu vereinigen. »Unsere Stammes- und Schicksalsgenossen dürfen versichert sein, dass wir sie im neuen Reich der deutschen Nation mit offenen Armen und Herzen willkommen heißen. Sie gehören zu uns und wir gehören zu ihnen.« Er versprach, dass die Konstituante und die zukünftige deutsche Regierung alles daransetzen werde, um die Verhandlungen für den »endgültigen Zusammenschluss« im Rahmen eines Bundesstaates zu einem glücklichen Ende zu führen. »Dann soll kein Grenzpfahl mehr zwischen uns stehen. Dann wollen wir sein ein einig Volk von Brüdern.« Eberts Rede ist mit Zitaten aus der klassischen deutschen Literatur gespickt – Weimar verpflichtet. Um den Willen zur brüderlichen Einheit aller Deutschen zu unterstreichen, zitiert er eine sprichwörtliche Passage aus Schillers Wilhelm Tell (1804). In ihrem Kampf gegen die Habsburger sprechen die Schweizer den Rütlischwur »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern«. 1804/1805 las sich das so  : Die Schweizer repräsentieren das deutsche Volk im Kampf gegen Napoleon-Habsburg. 1919 konzentriert dieser Schwur nationale Identität und demokratischen Geist. Ebert betont, dass diese Einigung nur 41

Gibt es eine österreichische Nation  ?

durch den Untergang des »ancien régime« der Hohenzollern und, mehr noch, der Habsburger möglich wurde. Schiller wurde damit zum Propheten der Revolution von 1918  ! Die Friedensverträge haben diesem Traum ein Ende gesetzt, die Republik Deutsch-Österreich musste das Wort »deutsch« aus ihrem Namen streichen, und der Artikel 88 des Vertrags von Saint Germain en Laye untersagte Österreich jede Form des Anschlusses an Deutschland, aber auch jeden Versuch der Wiederherstellung der Monarchie. »Der Staat, den keiner wollte«, begann seine tragische Laufbahn.

7. DAS DILEMMA DER NATIONALHYMNE Am 11. März 1938 um 19.50 Uhr übertrug der österreichische Rundfunk die Rede des Bundeskanzlers Schuschnigg, der zur Ankündigung gezwungen war, dass der Bundespräsident und er selbst sich den Forderungen der Regierung des deutschen Reiches fügen. Er erklärte, dass »wir der Gewalt weichen« und dass die österreichische Wehrmacht selbst im Falle einer militärischen Invasion keinen Widerstand leisten würde. Denn »auch in dieser ernsten Stunde« ist die österreichische Regierung nicht »gesonnen, deutsches Blut zu vergießen«. Dieser Verzicht auf Widerstand stand in schreiendem Widerspruch zu seiner Erklärung vom 24. Februar über die Verteidigung der österreichischen Freiheit, die mit dem Ruf »Darum Kameraden, bis in den Tod rot-weißrot  !« endete. Um die Absichten Hitlers zu durchkreuzen, hatte Schuschnigg für den 12. März eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs angesetzt. Um diese Volksabstimmung zu vermeiden, hatte das Deutsche Reich die »Operation Otto« ausgelöst, das heißt die militärische Invasion. Die Rede vom 11. März endete so  : »So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort, einem Herzenswunsch  : Gott schütze Österreich  !« Auf diese Worte folgte nicht die österreichische Bundeshymne, sondern der zweite Satz des Streichquartetts op. 76, No. 3, von Josef Haydn, bekannt als »Kaiserquartett«. Diese Melodie ließ den österreichischen Hörern die Möglichkeit, dazu mindestens drei Texte zu singen  : Die treugebliebenen Anhänger des österreichischen Staates konnten den Text von Ottokar Kernstock singen, der seit 1929 die offizielle Hymne der Republik war  ; die Anhänger des Anschlusses sangen die deutsche Hymne »Deutschland, Deutschland über alles  !«  ; diejenigen, die der Monarchie nachtrauerten, hatten wohl das »Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land« auf den Lippen. Eine vierte sehr kleine Kategorie hatte vielleicht die satirische Kontrafaktur des 42

Das Dilemma der Nationalhymne

»Gott erhalte« im Kopf, die Karl Kraus 1920 vorgeschlagen hatte  : »Gott erhalte, Gott beschütze vor dem Kaiser dieses Land«. Analysiert man genau den letzten Satz des Bundeskanzlers, stellt man fest, dass er den Wunsch »Gott schütze Öster­reich  !« als deutsches Wort bezeichnete und damit verknappt seine eigenen politischen Überzeugungen aussprach  : den deutschen Charakter Österreichs und die Sehnsucht nach der Monarchie der Habsburger zu kombinieren, denn die Verwandtschaft seines Wunsches mit dem ersten Vers der Kaiserhymne ist offenkundig  : »Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land  !« Eine meiner Tanten, die noch vor 1918 in die Volksschule gegangen war, sang in einer kleinen steirischen Stadt lauthals »Gott erhalte«, als die Musikkapelle das Deutschlandlied intonierte. Sie war keine Monarchistin. Was immer die Gründe für die Wahl der Melodie ohne Worte gewesen sein mögen, an diesem Exempel wird überdeutlich, dass Österreich an einem symbolischen Defizit litt, das in diesem historischen Augenblick in der Abwesenheit des Hymnentextes grausam offenbar wurde. Diese kleine Szene, ein tragischer Augenblick in der Geschichte der nationalen Identität für die einen, ein Triumph für die Anhänger des aggressiven Nationalismus des dritten Reiches, ist in meinen Augen ein emblematisches Konzentrat der säkularen Frage der Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland. 1797 komponierte Josef Haydn die Melodie einer Hymne für den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Franz II. Der Text inspirierte sich an der englischen Hymne »God save the King«, der ältesten europäischen Hymne, deren Melodie seit 1791 auch als preußische Hymne diente. Der Wille, eine Kaiserhymne einzuführen, hatte ein eindeutiges Ziel  : Es ging darum, dem republikanischen Schlachtgesang der »Marseillaise« ein legitimistisches Credo entgegenzusetzen, das den Kaiser von Gottes Gnaden gegenüber den republikanischen »Kindern des Vaterlandes« besang. Wie in der englischen Hymne war der Name des Monarchen Teil des Textes, wodurch die geheiligte, väterliche Person des Herrschers den äußersten Kontrast zu den losgelassenen »Kindern« darstellte. Die kaiserliche Vaterfigur verfügte über eine Reihe hoher Tugenden  : Weisheit, Milde, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte. (Mozarts letzte Oper, La clemenza di Tito, ist ein anderes Zeugnis der Methode der Legitimierung, die aus den Habsburgern die direkten Nachfolger der römischen Kaiser machte.) Als Franz II. 1804 beschloss, angesichts der Kaiserkrönung Napoleons das Kaiserreich Österreich zu gründen, wurde die Hymne Haydns automatisch zur österreichischen Kaiserhymne. Ihr Text wurde nach jedem Thronwechsel geändert, doch die Melodie ist bis 1918 unverändert in Gebrauch geblieben. Obwohl es sich um eine Hymne zu Ehren eines Monarchen handelte, war die Popu43

Gibt es eine österreichische Nation  ?

larität der Melodie so groß, dass man geläufig von der »Volkshymne« sprach. Auf diese volkstümliche Melodie schrieb im Jahre 1841 der Nationaldemokrat Hoffmann von Fallersleben das Lied der Deutschen, dessen erste Strophe »Deutschland, Deutschland über alles« im Namen der deutschen Einheit eine Herausforderung gegen die auf dem Wiener Kongress beschlossene Landkarte Europas darstellte. Die Definition der Grenzen Deutschlands (»Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt«) stellte nichts Geringeres in Frage als die Existenz des Kaiserreichs Österreich. Die dritte Strophe, heute Hymne der Bundesrepublik Deutschland, forderte »Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland« und nahm damit die Ideale der kommenden Revolution von 1848 vorweg. Der Text, rasch als Flugblatt verbreitet, wurde trotz des Zensurverbotes zu einer Art heimlicher Nationalhymne eines nicht existierenden Staates. Schon 1848 gab es in Wien die schizophrene Situation von 1938  : Dieselbe Melodie diente zwei Hymnen mit diametral entgegengesetzten Botschaften. Da die 1871 erfolgte deutsche Einigung unter Ausschluss Österreichs stattfand und nicht dem Willen des Volkes, sondern der Fürsten zu danken war, war es undenkbar, das Deutschlandlied zur offiziellen Hymne zu erheben. Man adaptierte also die alte preußische Hymne zu Ehren Kaiser Wilhelms, seines »Volkes Zier« und der »Menschheit Stolz«. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gab es also in Deutschland und Österreich zwei offizielle Kaiserhymnen und eine mehr oder weniger geheime, die in Österreich einen offen irredentistischen Charakter hatte, aber auch in Deutschland das bestehende System in Frage stellte. Meyers enzyklopädisches Lexikon von 1907 bestätigt, dass »Deutschland, Deutschland über alles« »oft als Nationalhymne verwendet wurde«, natürlich nicht offiziell. In der Fassung der österreichischen Kaiserhymne von 1826 wird Franz I. noch ausdrücklich als deutscher Fürst gesehen, der die deutschen Völker und Länder von der napoleonischen Sklaverei befreit habe. Diese Erinnerung an die Rolle Österreichs in den Jahren 1809 bis 1814 verschwindet völlig aus den Texten zu Ehren Franz Josephs I., seiner Gattin Elisabeth (Sissi) und seines Sohnes Rudolf. Die österreichische Hymne ist stricto sensu eine Familienhymne  : »Innig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint«. Die alte ­Devise AEIOU, von Kaiser Friedrich III. im 15. Jahrhundert eingeführt, die unter anderem als Austria erit in orbe ultima gelesen werden konnte, ist gleichfalls in der Hymne gegenwärtig  : »Österreich wird ewig stehen«. Diese nahezu idolatrischen Fassungen von 1854 (nach der Hochzeit mit Sissi) und 1858 (nach der Geburt Rudolfs) haben heute einen seltsamen Geschmack, wenn man bedenkt, dass der Kaisersohn, »froher Zukunft Unterpfand«, mit 30 Jahren Selbstmord 44

Das Dilemma der Nationalhymne

beging, dass die »holde Kaiserin«, »reich an Reiz, der nie veraltet«, 1898 ermordet wurde, und dass die »ewige« 68-jährige Herrschaft Franz Josephs I. 1916 zu Ende ging und sein Requiem allgemein als Requiem der Monarchie empfunden wurde. Gläubige Monarchisten haben 1922 nach dem Tod des exilierten letzten Kaisers, Karls I., eine Zusatzstrophe für seinen Sohn Otto gedichtet  : »In Verbannung fern den Landen / weilst du Hoffnung Österreichs«. Sie endete mit »Kehr zur Heimat bald zurück  !« Er kam – deutscher Staatsbürger – als Toter 2011 zurück, um in der Kapuzinergruft nach dem habsburgischen Zeremoniell beigesetzt zu werden. Eines der ersten Verfassungsgesetze der Republik aus dem Jahre 1919, das bis heute gültig ist, war ein Anti-Habsburgergesetz, durch das Karl I. gezwungen wurde, ins Exil zu gehen. Die Rückkehr der Habsburger ist bis in die 1960er Jahre ein brennendes Politikum geblieben. Otto durfte erst in Österreich einreisen, seit er ausdrücklich und endgültig auf Thron und Krone Verzicht geleistet hatte. Die Heimkehr der Toten (Kaiserin Zita 1989 und ihr Sohn Otto 2011) waren vor allem Großereignisse für die Medien, bewiesen aber die Macht der historischen Symbole. Bei diesen spektakulären Gelegenheiten spielte Haydns Kaiserhymne, einer der großen »Erinnerungsorte« Österreichs, eine bedeutende Rolle. Denn sie konnte an einem der feierlichsten Orte, der Kathedrale Sankt Stefan, öffentlich von den Mitgliedern der Familie Habsburg in Anwesenheit des Bundespräsidenten der Republik gesungen werden. (Niemand mehr stellt sich heute die Frage, ob eine solche öffentliche Manifestation verfassungskonform ist. Das gilt auch für die Zeremonien in Budapest, denn der »Thronfolger« war ja auch Erbe der ungarischen Krone. Sein Herz wird übrigens in einem ungarischen Kloster aufbewahrt, während der Leib neben Maria Theresia und Franz Joseph I. ruht. Prag ist offensichtlich für solche historische Nostalgie weniger anfällig gewesen.) Die Kaiserhymne proklamierte eine totale Einheit der Person des Monar­ chen mit dem Land, das in der Hymne den Namen »Österreich« trug, einem Vielvölkerstaat, dessen einigendes Band der Kaiser war. Franz Josephs I. Devise Viribus unitis ist ausdrücklich in den Hymnentext integriert, der an manchen Stellen wie eine Kontrafaktur des Deutschlandlieds klingt, also der Kontrafaktur einer Kontrafaktur. Der Forderung nach der brüderlichen Einheit aller Deutschen ent- bzw. widerspricht in der Kaiserhymne die Feststellung »In der Eintracht liegt die Macht« und die Aufforderung »Lasst uns, eins durch Brüderbande, gleichem Ziel entgegen geh’n«. Diese Brüderbande haben nichts mit dem deutschen Volk zu tun, sondern »einen« die Völker des Kaiserreichs (1804 –1866) und der k. u. k. Monarchie (1867–1918). Nicht von einer »ho45

Gibt es eine österreichische Nation  ?

rizontalen Kameraderie« ist hier die Rede, sondern von »treuen Söhnen« eines alliebenden Vaters. Nach dem Ende der beiden Monarchien und der Entscheidung der provisorischen Nationalversammlung, sich an Deutschland anzuschließen, wäre es natürlich gewesen, die alten Kaiserhymnen durch »Deutschland, Deutschland über alles« zu ersetzen. Die Weimarer Republik hat schließlich 1922 im Augenblick ihrer tiefsten Erniedrigung den Entschluss gefasst, das Deutschlandlied zu ihrer Nationalhymne zu machen, obwohl das geographische Einheitsprogramm der ersten Strophe utopischer als je war. Es kam ihr nicht in erster Linie darauf an, sondern auf die liberal-demokratische Botschaft von 1848. Das Dritte Reich hat diese Hymne beibehalten, deren fatale erste Strophe plötzlich zu einer realen Drohung für Europa wurde. Allerdings wurde die Nationalhymne von der Parteihymne, dem Horst-Wessel-Lied, begleitet. Hitler ist es beinahe gelungen, den geopolitischen Traum der Hymne in die Wirklichkeit umzusetzen. Die kleine Ausnahme war Südtirol, das (vorläufig  ?) der Freundschaft mit Mussolini geopfert wurde. Nach 1945 hat die Bundesrepublik für die Kontinuität optiert und die dritte Strophe des Deutschlandlieds als Bundeshymne beibehalten. 1990 wurde sie zur Hymne der wiedervereinten Nation. Österreich, das 1918 zu seiner Souveränität gezwungen wurde, musste eine neue Hymne suchen. Der erste Bundeskanzler, der Sozialdemokrat Karl Renner, wollte die Melodie Haydns aufgeben, nicht wegen der deutsch-nationalen Konkurrenz, sondern wegen der tiefen symbolischen Verbindung mit dem Haus Habsburg. Er griff selbst zur Feder und schrieb ein Gedicht, das der damals sehr populäre Komponist Wilhelm Kienzl in Musik setzte. Kienzl tat das ungern, denn er war sich bewusst, nur einen »unwürdigen Ersatz« für die Musik Haydns liefern zu können, die als die wertvollste und beliebteste Melodie Österreichs galt. Die Hymne Renner-Kienzl hat sich nie wirklich allgemein durchsetzen können und wurde 1929 durch einen Text des Priesterdichters Ottokar Kernstock zur Melodie von Haydn ersetzt. Eine vergleichende Analyse der beiden Texte erlaubt einen interessanten Einblick in die Mentalität der politisch Verantwortlichen in Sachen nationale Identität. Die vier Strophen von »Deutsch-Österreich, du herrliches Land« Renners verherrlichen der Reihe nach die Landschaft, das Volk und die (neue) Verfassung. Das Volk Renners ist »tüchtig« und »treusinnig« und wird als »Muttervolk« und »Duldervolk« bezeichnet. Es war fähig, sich von den »Ketten« der Monarchie zu befreien. Ein unwandelbares Stereotyp für den Österreicher war der »treue Diener«. Renner kehrt die Optik um  : Die »dienende Treu« habe ihm nur »Not und Reu’« gebracht. Darum  : »sei nun in Freiheit dir selber treu  !« Die politische Struktur des 46

Das Dilemma der Nationalhymne

neuen Staates wird in der letzten Strophe beschworen. Renner ist gezwungen, so unpoetische und unsangbare Vokabel wie »Bergländerbund«, »Ostalpenlande« oder »Ostalpenbund« einzuführen. Dieser »auf ewig einige« Bund ist frei gewählt worden und »eins durch Geschick und durch Blut zumal«. Obwohl jede Strophe mit dem Wort »Deutsch-Österreich« beginnt, dem Namen, auf den die Republik verzichten musste, vermeidet Renner das Wort »deutsch«, doch besteht kein Zweifel, welchem »Volkstum« die »Treue« gilt, welche Schicksalsund Blutgemeinschaft gemeint ist. Der patriotische und republikanische Charakter des Textes ist akzentuiert durch die Abwesenheit jeder Anspielung auf Gott, Grund genug für die Christlich-Sozialen, die Identifikation mit dieser Hymne von sich zu weisen. Der Text, der die Renner-Hymne ersetzt hat, hatte einen ganz anderen Klang. Die beiden Hymnen zeigen exemplarisch den ideologischen Zwiespalt des Landes, eine Art verlarvten Bürger-, ja Religionskrieg, der sich 1934 entladen sollte. Das Gedicht des Priesters Kernstock stammt aus demselben Jahr 1920 wie das Renners. Es führt schon mit dem ersten Vers die religiöse Dimension ein  : »Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold  !« und jede Strophe schließt mit »Gott mit dir, mein Österreich  !« Was allerdings die nationale Identität angeht, sind sich Renner und Kernstock einig  : »Deutsche Arbeit, ernst und ehrlich, /Deutsche Liebe, zart und weich – Vaterland, wie bist du herrlich, / Gott mit dir, Deutsch-Österreich  !« In der Fassung von 1929 wurde aus »Deutsch-Österreich« – »mein Österreich«. Das offizielle Österreich wollte den Völkerbund nicht reizen. Ironischerweise gibt einem Kernstocks Text das Gefühl einer Mischung aus »Gott erhalte« und dem Deutschlandlied  : ein untrügliches Symptom der herrschenden Schizophrenie. Getragen von der Melodie Haydns wurde der Text vom Ständestaat beibehalten, doch wie im Dritten Reich wurde ihm eine Parteihymne zugesellt, das Dollfuß-Lied zu Ehren des von den Nationalsozialisten ermordeten Bundeskanzlers. Es ist ein weiteres Symptom der Schizophrenie, denn es fordert explizit ein christlich-deutsches Österreich. Der anonyme Dichter des Textes, den man als Replik auf das HorstWessel-Lied lesen muss, signierte als »Austriacus« und zögerte nicht, Hitler mit der Behauptung zu provozieren, der Märtyrer Dollfuß habe sein Blut für Öster­ reich vergossen als »wahrer deutscher Mann«. Im November 1920 hat sich der Satiriker Karl Kraus im Anschluss an das Kienzl-Renner’sche Unternehmen mit der Hymnenfrage auseinandergesetzt und eine Kontrafaktur der »Kaiserhymne« unter dem Titel »Volkshymne« vorgeschlagen (Fackel, 554–556, 56–60). »Die erhabene Melodie Haydns ist, seit jenes Österreich nicht mehr ewig steht, dem Hörer verloren. […] Hört man sie 47

Gibt es eine österreichische Nation  ?

aber von demonstrierenden Studenten singen, so erhält man die auch nicht beruhigende Auskunft, es sei ›Deutschland, Deutschland über alles‹«. Karl Kraus geht es darum, die »göttlichen«, die »erlauchten Klänge« von ihren verlogenen, unpassenden und debilen Texten, insbesondere der letzten Fassung des Kaiserlieds, zu befreien. Es erscheint ihm unmöglich, »einen Volksgesang von der Genialität der Haydn’schen Komposition […] durch Kienzl’sche Kraft entwurzeln zu können«. Renners Text habe »mehr Bedauern als Hohn verdient«. Er ist überzeugt, obwohl er die Gefahr sieht, dass der »alte Text der Volkshymne am Bewusstsein klebt«, dass es ihm gelingen werde, die »Bewusstseinsschlacken einer lügenvollen Vergangenheit« vergessen zu machen und einen Text zu verfassen, der den Idealen der Republik poetisch gerecht würde, was dem Nicht-Dichter Renner unerreichbar war. Kraus ersetzt also Punkt für Punkt das kaiserliche Fibelvokabular durch sein Gegenteil. Es handelt sich also um eine ernste Parodie, um einen Dienst an der unsterblichen Melodie  : »Gott erhalte, Gott beschütze / vor dem Kaiser unser Land  !« und »Nimmer sei mit Habsburgs Throne / Österreichs Geschick vereint«. Doch selbst bei Kraus trotzt das ­A EIOU der Negation  : »Ohne Kaiser glückts dem Lande (nämlich die brüderliche Republik) / dann wird Österreich ewig stehn  !« In der letzten Strophe verlässt Kraus den Habitus der Negation des alten Textes und wird zum Sänger des »schönen Landes«. Das geschieht durch die Ersetzung der Namen Franz Joseph und Elisabeth (Elisen) durch die allen (»uns«) gehörende Natur  : »Heil den Wäldern, Heil den Wiesen, / Segen diesem schönen Land  !« Das »schale« Kompliment für Sissi wird »zum Gruß an die landschaftliche Natur« erhoben und damit, denkt Kraus, der »erlauchten« Musik Haydns (endlich) würdig. Es ist bemerkenswert, dass Kraus die dynastische Personalisierung durch ein Lob der Natur ersetzt. (Alle neueren Meinungsumfragen über das österreichische Nationalgefühl platzieren die Landschaft an der Spitze der identitätsstiftenden Faktoren.) Kraus machte sich wohl kaum Illusionen über den Erfolg seiner republikanischen »Volkshymne«, deren Musik er von den sie beschmutzenden Texten reinigen wollte. In der politischen Wirklichkeit haben schließlich die »Poesie« Kernstocks und die beunruhigende Botschaft »Deutschland, Deutschland über alles« triumphiert. Dieser Versuch Kraus’ gibt natürlich dem Faktum eine ganz besondere Note, dass 1938 Haydns Melodie ohne Worte als Requiem des Staates gedient hatte. Sieben Jahre lang wurde nur mehr »Deutschland, Deutschland über alles« gegrölt. Als sich nach 1945 die Frage der Hymne aufs Neue stellte, haben die österreichischen Politiker blutenden Herzens auf die »göttliche« Melodie verzichtet, die für immer durch das Dritte Reich beschmutzt und musikali48

Das Dilemma der Nationalhymne

sches Symbol der Vernichtung Österreichs geworden war. Es wurde also ein Dichterwettbewerb ausgeschrieben, aus dem Paul von Preradović’ »Land der Berge, Land am Strome« siegreich hervorging. Am Anfang stand also das Lob der Landschaft. Man wählte dafür eine bekannte Melodie, die damals noch Mozart zugeschrieben wurde, das Bundeslied der Freimaurer, gezählt als KV 623a.8 Das Lied war im 19. Jahrhundert sehr populär und fand sich sogar in den Kommersbüchern der diversen studentischen Korporationen. Der neue Text insistierte auf der geographischen Lage Österreichs, die aus ihm angeblich das starke Herz Europas mache, und verherrlichte das künstlerische Genie (»Volk begnadet für das Schöne«) des Landes. Die Hymne hat sich am Anfang mit Schwierigkeiten durchgesetzt. Die gesellschaftliche Entwicklung hat vor dem Text nicht Halt gemacht  : die Töchter Österreichs forderten die Gleichberechtigung mit den »großen Söhnen«, zu Recht, wenn man bedenkt, dass auf Münzen und Geldscheinen große Töchter wie die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner oder die Feministin Rosa Mayreder schon längst zu den Figuren des kulturellen Pantheons zählten. Ganz abgesehen davon, dass die wichtigste politische Identifikationsfigur Österreichs lange eine Frau war, die Kaiserin Maria-Theresia. Unter den Hunderten Versuchen in Deutschland und Österreich, einen neuen Text für Haydns Melodie zu schreiben, ist einer mutatis mutandis mit Kraus’ »Volkshymne« vergleichbar. 1950 hat der frisch naturalisierte Österreicher Bertolt Brecht in der DDR eine Kinderhymne verfasst, gleichfalls eine ernsthafte Parodie des »Deutschland, Deutschland über alles«, die mit der Richtig­stellung der geographischen Grenzen, vor allem aber mit der Negation des »über alles« begann  : »Und nicht über und nicht unter / andern Völkern wolln wir sein.« Diesem Bekenntnis zur Bescheidenheit entsprachen die geschrumpften Grenzen »von der See bis zu den Alpen / von der Oder bis zum Rhein«. Ein Nörgler könnte an dieser pazifistischen Botschaft aussetzen, dass Ost-, Nord- und Westgrenze klar definiert sind, während im Süden die Alpen auch die früheren »Alpengaue« einschließen könnten. Das war gewiss nicht Brechts Absicht. Als Brecht diese Kontrafaktur schrieb, war sie bereits obsolet, denn die DDR hatte schon eine neue Hymne mit einem Text des Kultusministers Becher und einer Musik des österreichischen Schönbergschülers Hanns Eisler, der ironischerweise des Plagiats an einem bekannten Schlager angeklagt wurde, was eine kulturpolitische Debatte über das musikalische Erbe nach sich zog  : der Schlagerkomponist wurde seinerseits des Plagiats an Beethoven geziehen … Inzwischen sind Text und Musik von der Geschichte verschlungen worden. Die Bundesrepublik hat es, wie schon gesagt, gewagt, das amputierte 49

Gibt es eine österreichische Nation  ?

Deutschlandlied zu ihrer Hymne zu machen. Sucht man nach einem extrem bedeutsamen symbolischen Zeichen für die Wandelbarkeit eines nationalen Symbols, so lieferte eine chauvinistische Masse von Fußballfans im Praterstadion ein Exempel. Vor dem Anpfiff eines Spieles Österreich-Deutschland wurde die deutsche Hymne, also Haydns »göttliche« Melodie ausgepfiffen. Um die Odyssee dieses musikalischen Symbols zu beenden, bietet sich noch ein anderes sportliches Ereignis an. 1956 trat bei den olympischen Spielen in Rom eine gesamtdeutsche Mannschaft an. Für diese besondere Situation hatte man sich entschlossen, vorübergehend das Finale der Neunten Symphonie Beethovens, Schillers Freude, schöner Götterfunken, als Nationalhymne zu verwenden. Nach dem Mauerfall 1989 hat Leonard Bernstein ein »gesamtdeutsches« Orchester dirigiert und bei diesem Anlass den Schiller’schen Text zu Freiheit, schöner Götterfunke modifiziert. Deutschland hätte Beethovens Melodie als Nationalhymne wählen und sich damit von dem Verdacht befreien können, der bis heute, z. B. in Frankreich, auf dem Deutschlandlied lastet. Doch der Platz dieses deutschen und internationalen Erinnerungsorts war inzwischen von Europa »besetzt«. Gesetzt diese Hypothese, hätte Österreich versucht, sich aufs Neue sein musikalisches Kronjuwel anzueignen  ? Das ungewöhnliche Schicksal der Melodie und ihrer Texte beruht auf dem Bedeutungswandel eines Schlüsselwortes. Das erste Wort der bundesdeutschen Hymne lautet »Einigkeit«, und von 1841 bis 1945 umfasste diese »Einigkeit« die deutschsprachigen Österreicher, das heißt auch die Sudeten und Siebenbürger. Nur Nostalgiker des Dritten Reiches sahen in der deutschen Wiedervereinigung eine »kleine« Wiedervereinigung. Doch darf man nicht übersehen, dass im Liederprogramm der Burschenschaften des Typs »Germania« weiterhin das Deutschlandlied als wahre Hymne fungiert. Doch der Mehrheit der Österreicher von heute ist das unglaubliche Schicksal ihres alten Kronjuwels vermutlich unbekannt und gleichgültig.

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II. Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel 1. DIE ÖSTERREICHISCHE KAISERIN UND DER PREUSSISCHE KÖNIG Bei der Frage nach der österreichischen Identität führt kein Weg vorbei an dem Konflikt zweier emblematischer historischer Figuren, der Kaiserin Maria Theresia und des Königs Friedrich II., häufig der Große genannt. Die Rivalität zwischen dem Haus Habsburg, der Casa Austria, und der Dynastie der Hohenzollern um die Hegemonie in Deutschland ist der Urgrund des Problems. Der politisch-militärische Konflikt ist zugleich der Ursprung eines der wichtigsten Stereotype des österreichischen Wesens. Die Antithese zwischen einem weiblich-mütterlichen Österreich, inkarniert in der großen Muttergestalt Maria Theresia, und einem männlich-soldatischen Preußen in der Gestalt Friedrichs II. Es handelt sich in der Tat um die mächtigste Matrix der nationalpatriotischen österreichischen Bilder- und Ideenwelt. An dieser Stelle geht es nicht darum, den kriegerischen Konflikt nachzuzeichnen, sondern zu zeigen, wie eine dynastiepolitische Machtfrage sich in eine strukturelle, nahezu anthropologische Antithese verwandelt. Das weibliche Österreich. Dieses Stereotyp entsteht nicht erst durch Maria Theresia, es ist aufs Engste mit der religiösen Geschichte der Gegenreformation verflochten. Im Gegensatz zum Protestantismus, der wie der strenge Monotheismus des Judentums oder des Islams als patriarchalische Religion gilt, hat der österreichische Katholizismus, der an der Spitze der Gegenreformation stand, sich immer in der Mutter Gottes Maria erkannt. Der allgegenwärtige Marienkult zog eine Art Identifikation mit dem Land nach sich  : wie die unzähligen katholischen Heiligen die Stelle der römischen Hausgötter, der Laren und Penaten, eingenommen haben, so verwandelte sich die Jungfrau Maria in eine schützende Muttergottheit Österreichs. Sie wurde zur Mater Austriae. Mitten im Dreißigjährigen Krieg führte Kaiser Ferdinand II. (1619–1637), der Jesuitenzögling, das Fest der Unbefleckten Empfängnis obligatorisch ein und zwang den Rektor der Universität Wien, diese kultische Doktrin zu verteidigen, die die Kirche selbst erst 1854 in den Rang eines Dogmas erhoben hat. Der Kult der Himmelskönigin wird nicht nur vom kaiserlichen Haus, sondern auch vom Volk gepflegt. Die Basilika von Mariazell, die die Statue der Magna Ma51

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

ter Austriae beherbergt, ist zu einer »Art von österreichischem Staatsheiligtum« geworden, stellt 1936 ein alldeutscher Historiker kritisch fest (Nadler/Srbik, 293). Ein nahezu unglaublicher Beweis für die symbolische, kaum gebrochene Macht dieses Kults stammt aus dem Jahr 2000  : der konservative Bundeskanzler, der sich durch die europäischen Sanktionen verletzt fühlte, pilgerte nach dem Ende der Sanktionen nach Mariazell, um der Mater Austriae zu danken. In unserem Zusammenhang ist nicht unwichtig, dass Mariazell auch ein wichtiger Kultort aller Nationen der ehemaligen Vielvölker-Monarchie geblieben ist. Die feierliche Visite von Papst Johannes Paul II. und das Ende der kommunistischen Herrschaft in Mitteleuropa haben die Rolle des Wallfahrtsortes für den Katholizismus in Österreich und Mitteleuropa verstärkt. Der Kult der Jungfrau Maria bildet das Herz einer religiösen Praxis, die Pietas austriaca genannt wurde. Das Österreich der Gegenreformation hat die Protestanten gewaltsam zum Katholizismus rekonvertiert. Es hat jene, die sich weigerten, ihren Glauben abzuschwören, ins Exil getrieben, vor allem einen Gutteil des Adels, der in den protestantischen Ländern des Heiligen Römischen Reiches, allen voran in Preußen, Zuflucht gefunden hat. Für diese Exilanten war die wahre Heimat Deutschland, dagegen das unter dem Schutz der Mater Austriae stehende Öster­reich eine böse Stiefmutter. Die Protestantenvertreibungen haben übrigens trotz des Toleranzpatents Kaiser Josefs II. von 1781 bis ins 19. Jahrhundert gedauert. Die aufsehenerregendste war das Werk des Salzburger Fürsterzbischofs im Jahre 1731. Aus dieser Situation haben sich zwei Formen des Kryptoprotestantismus entwickelt, einerseits die geheime Ausübung des verbotenen Kultes, andererseits die Haltung der Zwangsbekehrten, die sich äußerlich der Kirche fügten, aber innerlich Kirche und Staat fremd blieben. Ich komme aus einer solchen Gegend und habe die Folgen in meinem »Persönlichen Vorspiel« zu skizzieren versucht. Wenn sich der kryptoprotestantische Deutschnationalismus mit der Feindschaft gegen eine slawische (mehrheitlich) katholische Minderheit paart, wie das etwa in Kärnten der Fall ist, kann es bis zum offenen Ungehorsam gegen den Staat kommen. Zu den Folgen der Gegenreformation gehörte in bestimmten Bevölkerungsschichten die Ablehnung der Mutter Kirche und des Hauses Österreich, das der Magna Mater Austriae die Treue hielt. Diese Verwerfung der katholischen Seite der österreichischen Identität hat ihren Höhepunkt am Ende des 19. Jahrhunderts erreicht, als die radikal alldeutsche Bewegung die Trennung des Staates von der Kirche (»Los von Rom  !«) und damit vom katholischen Herrscherhaus (»Los von Habsburg  !«) verlangte. Der Wiener Kardinal Rauscher verkörperte den »leidenschaftlichen österreichischen Patriotismus schwarz-gelber Prägung« (Nadler/Srbik, 310). Dieser Kampf gegen die Einheit 52

Die österreichische Kaiserin und der preußische König

von Kirche und Herrscherhaus konnte sich auch als Tendenz zu einem protestantischen Proselytentum äußern, aber in ihrer radikalsten Form verdammte sie das Christentum und suchte ihr Heil in einem heroischen germanischen Neopaganismus mit Wotan und Siegfried als Leitfiguren. Der in Öster­reich damals herrschende Wagnerkult bot das weibliche Paradigma Kundry, das immer wieder mit dem verweiblichten Österreich assoziiert wurde, das auf einen germanischen Helden und Erlöser wartete. Am Beginn des 20. Jahrhunderts hat Otto Weininger in Über die letzten Dinge aus der Wagner’schen Kundry eine die Männlichkeit bedrohende dämonische Figur gemacht, in der Anti­ feminismus und Antisemitismus sich gatten. Diese Phänomene sind Vorläufer des kommenden Faschismus – Weininger inspirierte den Männerkult des italienischen Faschismus –, sie sind nicht auf Österreich beschränkt, haben aber dort ihre brutalsten und verrücktesten Formen angenommen. Das 18. Jahrhundert hat der religiösen und mythologischen Filiation der Mater Austriae eine großartige historische Gestalt hinzugefügt, die Kaiserin Maria Theresia (1740–1780). Ihr Vater, Kaiser Karl VI., war ohne männlichen Erben gestorben. Durch eine Reihe von Verträgen, die als »Pragmatische Sanktion« (1713) bekannt sind, hatte er dafür vorgesorgt, dass die Besitzungen des Hauses Österreich unteilbar blieben und seine Tochter seine Nachfolge in der Gesamtheit der Erblande übernehmen werde. Es handelte sich dabei um eine Aktualisierung des »Privilegium majus«, einer berühmten Fälschung aus dem Jahre 1358, die die Erhöhung der Position Österreichs innerhalb des Heiligen Römischen Reiches als Ziel hatte und bereits die weibliche Erbfolge vorsah. Selbstverständlich war aufgrund der Lex salica eine weibliche Erbfolge auf dem Thron des Heiligen Römischen Reiches ausgeschlossen. Es ist von der höchsten Bedeutung für die Rolle Maria Theresias im österreichischen Bewusstsein, dass sie trotzdem den im Prinzip illegitimen Titel Kaiserin führte, der zu dieser Zeit noch nicht die Kaiserwürde Österreichs seit 1804 bedeutete. Sie war Gemahlin, bzw. Witwe des Kaisers, doch für die Österreicher ist sie die Kaiserin schlechthin. Trotz der Vorsichtsmaßnahmen Karls VI. drohten sofort die territorialen Ansprüche Preußens und ein Nachfolgekrieg, der von Bayern, das die »Pragmatische Sanktion« nicht anerkannte, ausgelöst worden war. Die Existenz des Hauses Österreich war in Gefahr. 1742 wurde ein bayrischer Prinz unter dem Namen Karl VII. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Ab 1740/41 nahm Friedrich II. das österreichische Schlesien in Besitz. Nach dem Tod Karls VII. im Jahre 1745 fiel die Kaiserkrone an den Gemahl Maria Theresias, Franz von Lothringen. Nach dem Tod ihres Gemahls legte sie größten Wert auf ihre Po53

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

sition als Kaiserinwitwe. Der Versuch der Rückgewinnung Schlesiens dank e­ iner Koalition mit Frankreich und Russland führte zum Siebenjährigen Krieg (1756–1763), der mit dem Sieg Preußens endete. Dennoch gab Friedrich II. 1765 seine Stimme als Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches Joseph II., dem Sohn Maria Theresias. 1772 wurde Polen zwischen Russland, Preußen und Öster­reich aufgeteilt. Maria Theresia akzeptiert diese Vergrößerung der habsburgischen Hausmacht trotz ihrer schreienden Ungerechtigkeit, die nach ihren Worten »Treu und Glauben« in den Beziehungen zwischen Staaten zerstört habe. Trotz der Konsolidierung ihrer Herrschaft durch Reformen, die oft dem Modell ihres Siegers folgten, war das Machtgleichgewicht innerhalb des Imperium Romanum und in Europa gebrochen, denn Preußen war zur fünften Großmacht aufgestiegen. Sein Konflikt mit Maria Theresia ist das Vorspiel der kommenden Kämpfe um die Hegemonie in Deutschland. Friedrich II., der Große genannt, wurde die Verkörperung des soldatischen preußisch-deutschen Heroismus und damit zur Ikone des entstehenden Nationalstolzes. (Bismarck, ein anderer preußischer Heros, der die historischen Traditionen zu achten pflegte, hat immer die Verletzungen der legitimen kaiserlichen Rechte abgelehnt, doch er gibt zu, dass er in seinen Prinzipien schwankend werde, sobald es sich um die Interessen Preußens handelt.) Für den Historiker von Srbik wurden beide »zur persönlichen Verkörperung ihrer Staaten und des österreichischen und preußischen Menschen als eines Sondertypus innerhalb des übergeordneten deutschen Menschentums« (Nadler/Srbik, 127). Die Konfrontation zwischen dem König von Preußen und der Erzherzogin von Österreich, die zugleich Königin von Ungarn und Böhmen war, ist auf den ersten Blick nichts weiter als ein Kapitel der zahllosen Erbfolgekriege zwischen Dynastien. (Übrigens hat Joseph II. 1778/79 einen Erbfolgekrieg gegen Bayern begonnen, als wollte er seine Mutter noch zu ihren Lebzeiten rächen.) Doch die Auseinandersetzung dieser beiden außergewöhnlichen Persönlichkeiten und die historischen Folgen ihres Konflikts finden sich an der Wurzel nahezu aller Probleme, die die Fragen der nationalen Identität in Österreich und Deutschland bewegen. Die patriotische österreichische Historiographie sieht eine direkte Linie, die von Friedrich II. über Bismarck zu Hitler führte. Der Gegensatz Preußen–Österreich bestimmt alle Diskussionen. Der Großteil der nationalen Stereotypen lassen sich daraus ableiten, in erster Linie der Gegensatz zwischen einem militaristischen, misogynen und sterilen König und Maria Theresia, der Mater Austria mit ihren 16 Kindern. In ihren Augen ist Friedrich »ein böser Mann«, der zynisch jedes legitime Recht mit Füßen tritt. Er war drei mächtigen Frauenfiguren konfrontiert, Madame Pompadour, der Zarin Elisa54

Die österreichische Kaiserin und der preußische König

beth und der Kaiserin Maria Theresia, die er als die »drei ersten Huren Europas« (Mann, 32) titulierte, was im Falle Maria Theresia eine grundlose Infamie war. Man begreift leicht, dass der Zusammenstoß dieser beiden Herrscherfiguren während ihrer langen parallelen Herrschaft (Friedrich II. von 1740 bis 1786, Maria Theresia von 1740 bis 1780) die politisch-militärische Seite überschritt, um sich in den Prototyp eines Schocks zweier quasi-anthropologischen Konzeptionen der Macht zu verwandeln. Auf der einen Seite eine radikalisierte Form männlicher, von der Befehlsstruktur geprägter Macht, auf der anderen Seite ein Matriarchat (»Muttermut« und »Muttermacht«  : Heer, Land im Strom der Zeit, 119)9, das seine Kraft aus der Geburt der Kinder zog und daraus folgend einer Politik dynastischer Heiraten. Der berühmte Vers »Bella gerant alii tu felix Austria nube« hat zum letzten Mal für die Kinder Maria Theresias gegolten, doch für Marie Antoinette eine tragische Wendung genommen. Napoleon hat als Kaiser diese österreichische Methode der Machtvermehrung ihrer symbolischen Tragweite wegen praktiziert. Er hat sich darum mit der Tochter des letzten Kaisers des Imperium Romanus verheiratet, um die dynastische Legitimierung zu bekommen, einen König von Rom in die Welt zu setzen. Maria Theresia wurde zum unvergleichlichen Paradigma des Hauses Öster­ reich, doch niemand, am wenigstens sie selbst, hätte ihren »deutschen Charakter« geleugnet. Die österreichische Historiographie alldeutscher Richtung der 1930er Jahre hat darum den Akzent auf die deutsche »Berufung« der Kaiserin gelegt, um der wachsenden Tendenz entgegenzutreten, sie in die Inkarnation der Humanitas Austria zu verwandeln. Unter den zahllosen Reaktionen der intellektuellen Welt Deutschlands und Österreichs auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verdient ein Text besondere Aufmerksamkeit, denn er aktualisiert aufs Erstaunlichste die emblematische Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. und Maria Theresia aus deutscher Sicht. Ende 1914 veröffentlichte Thomas Mann politische Pamphlete, in denen er die deutsche Kriegspolitik rechtfertigte, insbesondere den Bruch der belgischen Neutralität durch Wilhelm II. Der auffallendste und provokanteste dieser Essays trägt den Titel Friedrich und die große Koalition. Ein Abriss für den Tag und die Stunde. Um die gegenwärtige Situation Deutschlands zu deuten, greift er auf die Geschichte zurück. Für ihn ist Deutschland seit Luther das Land des »Protestes« gegen das übrige Europa. Doch sucht er die tiefere Rechtfertigung des Krieges nicht bei Luther, er vermeidet auch den üblichen Rückgriff auf Hermann den Cherusker und die Schlacht im Teutoburger Wald, um den Urgegensatz zwischen Germania und Romania zu begründen. Für ihn ist »Grundanfang und Anbeginn« die Rivalität zwischen Friedrich und seinen 55

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Gegnern. Um seiner These auch einen mythologischen Anstrich zu geben, vergleicht er seine Suche nach dem Urbeginn mit der Konstruktion von Wagners Ring, dessen Vorspiel mit dem »tiefen Es-Dur« anhebt (Mann, 20). Dieses EsDur des Ursprungs heißt Friedrich. »Und Deutschland ist heute Friedrich der Große. Es ist sein Kampf, den wir zu Ende führen« (Mann, 11). Das tiefe Misstrauen Europas, vor allem Maria Theresias, gegen den König ist in Thomas Manns Augen wohlbegründet. Wie die meisten Verherrlicher des Königs beschönigt Thomas Mann keineswegs den Charakter des »bösen Mannes«, doch das militärische Genie hat nichts mit Anti- oder Sympathie zu tun. Diese Rechtfertigung trägt zynische Züge wie der König selbst, dem ein »nihilistischer Fanatismus der Leistung« (Mann, 64) bestätigt wird. Thomas Mann vergleicht ihn mit einem »Kobold«, einem »ungeschlechtlichen, boshaften Troll«, der »gesandt war, um große notwendige Erdendinge in die Wege zu leiten« (Mann, 64). Er zitiert (auf Französisch) Rousseaus Urteil  : »Er dachte als Philosoph und handelte als König«, eine »große Antithese, die viele lebendige Gegensätze umschließt« (Mann, 64), zum Beispiel den von Recht und Macht, Gedanke und Tat, Freiheit und Schicksal, Vernunft und Dämon. Thomas Mann macht also aus Friedrich ein dämonisches Werkzeug eines überpersönlichen, notwendigen Schicksals und damit in rabulistischer Verkehrung ein »Opfer«. Das kriegführende Deutschland von 1914 ist wie Friedrich ein Opfer  : »Er war ein Opfer. Er musste Unrecht tun und ein Leben gegen den Gedanken führen, er durfte nicht Philosoph, sondern musste König sein, damit eines großen Volkes Erdensendung sich erfülle« (Mann, 65). Diese Rhetorik hat als einziges Ziel, im Namen des Geists der Geschichte die Missachtung des internationalen Rechts zu rechtfertigen, deren Friedrich im 18. Jahrhundert und Wilhelm II. 1914 schuldig geworden waren, beide um den Preis, zu Hassobjekten unter den Völkern zu werden. Denn das wirkliche »Opfer« dieses dämonischen geschlechtslosen Trolls war nicht er selbst, sondern Öster­reich in der Person Maria Theresias. Der deutsche Großschriftsteller ist von einer stupenden Taktlosigkeit gegenüber dem österreichischen Bündnispartner, wenn er alle Untaten und verbalen Exzesse seines königlichen Kobolds gegen das weibliche Österreich rechtfertigt. Denn alle antifranzösischen Klischees der deutschen Tradition, deren sich Thomas ausgiebig bedient, insbesondere der Verachtung der Weiberherrschaft im »Weibsjahrhundert« (Mann, 32), lassen sich ohne Weiteres auf Österreich übertragen. Friedrich, der als Philosoph dem Jahrhundert Voltaires aufs Innigste verbunden war, verachtete zutiefst die Frauenherrschaft, deren österreichische Verkörperung die »keusche und kindlichhochsinnige Frau« (Mann, 32) war. Denn Thomas Mann geizt keineswegs mit 56

Die österreichische Kaiserin und der preußische König

Komplimenten für Maria Theresias mit ihrem »prächtigen Rokokokopf«  : »Hof und Volk vergötterten sie. Sie regierte fromm, klug, patriarchalisch (!) und gemütlich« (Mann, 33). Eines der verbreitetsten Stereotype über Österreich gehört also auch zum Bild Maria Theresias, die »Gemütlichkeit«, die sich mit der Nähe zum Volk paart. Sie ist also in allem das exakte Gegenteil des unheimlichen Mönch-Soldaten, des bösen Mannes. Thomas Mann betont ihre Doppelrolle als Kaiserin und Mutter  : »Noch schwach von den Wochen, auf dem Arme das Kind (der künftige Kaiser Joseph II., GS), das sie in Not und Tränen zur Welt gebracht, und die Krone des Heiligen Stephan auf dem Haupt, stand sie in Preßburg vor der Reichsversammlung«, um die ungarischen Edlen »zum Schutze ihrer beleidigten Hoheit« aufzurufen. Und die Ungarn reagieren enthusiastisch  : »Wir wollen sterben für unsere Königin Maria Theresia  !« (Mann, 34). Europas Sympathien gelten ihr, während Friedrich als monströser Barbar erscheint. Er war nach Thomas Mann »ohne Gefühl für die Majestät der Schwäche, ja, die bleiche Mutterschaft der Frau, gegen die er focht, mochte seiner Art von Männlichkeit eher Ekel als Ehrfurcht erwecken« (Mann, 34). Die schlimmstmögliche Vorstellung, »eine widerliche Ungehörigkeit«, für ihn war wohl die Perspektive, von einem Weib besiegt zu werden. Thomas Mann nähert sich hier einer sexualpathologischen Analyse des »bösen Mannes«, von der noch die Rede sein wird. Nach der Schlacht von Mollwitz 1741, im Augenblick, in dem Österreichs Existenz auf dem Spiel stand, wählte Friedrich für seine Dankpredigt den Vers 2,12 des ersten Paulusbriefs an Timotheus  : »Zu lehren aber verstatte ich dem Weibe nicht, noch sich zu erheben über den Mann, sondern sich ruhig zu verhalten« (Mann, 34). Ein politisch-religiöser Akt monströser Verachtung seiner Gegnerin. Der »böse Mann« hat in der Bibel die religiöse Rechtfertigung der brutalen Provokation gesucht und gefunden, die der Frau jedes Recht und jede Würde verweigerte. Für ihn war das Recht eine bloße Funktion der Macht, legitimiert durch die Gelegenheit, die es beim Schopf zu ergreifen galt. Der Raub Schlesiens, die Missachtung der sächsischen Neutralität werden von Thomas Mann a posteriori durch das Schicksal oder eine quasi-göttliche (oder dämonische) Sendung gerechtfertigt, die aus ihm die exemplarischen Vertreter deutschen Stolzes und deutscher Ehre gemacht haben. In Thomas Manns Beschreibung des Gegensatzes von Friedrich und Maria Theresia ist ein guter Teil des Arsenals der Österreichstereotypen gegenwärtig  : Es findet sich die katholische Pietas austriaca der Habsburger im Gegensatz zum zynischen Atheismus, der sich der protestantischen Religion bedient  ; eine naive weibliche, ja kindliche Frömmigkeit, kurz das Gegenteil von List, Be57

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

rechnung und rationeller Organisation. Die Kaiserin vertritt auch den Respekt vor der der patriarchalischen (oder hier eher matriarchalischen) Familie und damit die Ehrfurcht vor der Person angesichts einer mönchisch-militärischen Befehlsordnung. Schließlich ist die Kaiserin durch »Güte« ausgezeichnet, aus der später der Begriff der humanitas austriaca werden sollte, das ohnmächtige (?) Gegenstück zu einer dämonischen Bosheit, die die Menschen nur als Material im Dienst der effizienten Machtausübung sieht. Thomas Mann bedient sich sogar der unausrottbaren österreichischen »Gemütlichkeit«, einer Lebensform, die dem militärischen Ideal Friedrich radikal konträr war. Anders gesagt  : Mehr oder weniger unbewusst aktualisiert Thomas Mann alle deutschen Vorurteile gegen Österreich, die die Aufklärer aus Preußen und Sachsen schon im 18. Jahrhundert benützt hatten. Trotz einiger ironisch-rhetorischer Vorsichtsmaßnahmen teilt er die Verachtung des maskulinen Königs für das Weibsland Öster­reich. Ohne die Grobheit seines Heros zu teilen, gibt er zu verstehen, wo die ethische Überlegenheit zu Hause ist, von der militärischen ganz zu schweigen. In einer grobschlächtigeren Form als beim »ironischen Deutschen« hat diese Abwertung Maria Theresias sogar noch 1939 in Unser Liederbuch. Lieder der Hitler-Jugend Eingang gefunden. Darin wird ein anonymes preußisches Soldatenlied aus dem Jahr 1845 mit dem Titel »Maria Theresia« zitiert  : Es empfiehlt der Kaiserin, nicht in den Krieg zu ziehen, denn »alle die Reiter und Husaren und alle Kroaten dazu« können nichts gegen den preußischen Staat, der sich für den Krieg gerüstet hat, »dieweil man bei dir die Strümpfe sich flickt«. Arthur Trebitsch, dem antisemitischen jüdischen Bewunderer Friedrichs II., erschien Thomas Manns Essay noch zu weiberfreundlich und tolerant gegenüber der »reizenden Lasterhaftigkeit« des Rokokos und der »politischen Nachgiebigkeit« der Kaiserin  : »Dass Er aber ›der böse Mann‹ schlechtweg für Maria Theresia war, wir glauben es gerne  !« Trebitsch fordert Thomas Mann auf, die falsche Weiberperspektive, die sich in Adjektiven wie »böse« oder boshaft« äußert, durch die wahren Begriffe »heroisch« und »heldenhaft« zu ersetzen (Trebitsch, 31–32). Hofmannsthal, der den Essay über Friedrich II. kannte, hat ihm eine recht diplomatische und höfliche Antwort erteilt. Sie war begründet durch die Arroganz des deutschen Reiches gegenüber dem österreichischen Bündnispartner, die im Laufe des Kriegs immer stärker fühlbar wurde. Anfangs ganz und gar Partisan der gemeinsamen deutsch-österreichischen Sache, begann er, das Bedürfnis zu empfinden, Österreich die geistigen, historischen und literarischen Waffen zu liefern, um seine Autonomie gegen den übermächtigen Bruder zu verteidigen. 58

Die österreichische Kaiserin und der preußische König

Unter den Argumenten, die zugunsten dessen sprechen, was er die »österreichische Idee« nennt (und wovon ausführlich im Kapitel über das Jahr 1914 die Rede sein wird), kommt der Ehrenplatz der Kaiserin Maria Theresia zu. 1917, aus Anlass ihres 200. Geburtstags, widmet ihr Hofmannsthal einen kurzen Essay. Ohne sich ausdrücklich auf das dämonische Porträt Friedrichs II. bei Thomas Mann zu beziehen, begann er seinen Essay mit einer Überlegung zur Natur der ›großen Regenten«  : »Etwas Wunderbares ist um sie, aber leicht auch etwas Schauerliches und Dämonisches« (H II, 443). Ihre Beziehung zur Gewalt hat nichts Liebevolles, sie kann Hass erregen. »Zugleich erscheinen sie durch ihre Auserlesenheit wie gestraft, ja verflucht« (H II, 443). Man erwartet den Namen Friedrichs, aber Hofmannstahl zählt zunächst Frauen auf, zu deren Schicksal Unfruchtbarkeit und Lasterhaftigkeit gehörten. »Bei Maria Theresia ist nichts von alledem. Ihr Charakter als Frau geht in der vollkommensten Weise in den der Regentin über. Sie war eine große Herrscherin, indem sie eine unvergleichliche, gute und ›naiv-großartige‹ Frau war« (H II, 443–444). Das »Fortleben ihres Namens« verdankt sich der »magischen Nachwirkung ihrer Natur«. Diese Natur zeichne sich nach Jakob Burckhardt durch die »Koinzidenz des Verharrenden und der Bewegung« aus. »Weil sie ein solches Individuum war, darum konnte sie Österreich begründen« (H II, 444). Mater Austriae also, als wäre Österreich ihr Kind. Hofmannsthal bedient sich konsequent des semantischen Feldes der Mutterschaft, um ihre politische Tätigkeit zu charakterisieren. Selbst die vom preußischen Vorbild inspirierten Verwaltungsreformen werden als Schöpfung eines »Lebendigen« empfunden. Das »dämonisch Mütterliche in ihr« ermächtigte sie, »einen Körper zu beseelen, ein Wesen in die Welt zu setzen, durch dessen Adern die Empfindung des Lebens und der Einheit fließt«. Kurz, es besteht »eine völlige Analogie zwischen ihrem Verhältnis zu ihren Kindern und dem zu ihren Ländern« (H II, 444). Ihre oberste Qualität war die Ehrfurcht vor dem Leben. Ihr mütterlicher Charakter kombinierte sich harmonisch mit einer »wunderbaren alles durchdringenden Frömmigkeit« (H II, 445). Am Schluss dieser Hagiographie wird sie zur »Zusammenfassung des österreichischen gesellschaftlichen Wesens«, das sich total von der sozialen Ordnung Preußens unterscheide. Dem preußischen Standesdenken hätte Maria Theresia »einen naiven und großen Begriff vom Volk« (H II, 452) vorgezogen. Intuition, Instinktsicherheit, natürliche Moral, Ehrfurcht und Misstrauen gegen abstrakte Begrifflichkeit sind die Leitworte Hofmannsthals. Sie erfasst die Welt mit dem »Gemüt«, nicht mit dem Begriff. Dieser Dithyrambus kann nur in ein Lob der österreichischen Besonderheit im Allgemeinen münden  : »Wenn auf unserem Dasein ein besonderes Licht liegt, das die Deutschen fühlen, wenn sie 59

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

aus ihrer Welt in die unsere herübertreten, so ist sie schuld daran, in geheimerer Weise, als die Feder des Geschichtsschreibers ausführen kann« (H II, 452–453). In der Tat hat Maria Theresia den Status einer historischen Person verlassen, um in die patriotische Mythologie überzugehen. Hofmannsthal sucht nach einem historischen Äquivalent für sie und glaubt, es in der Figur des Augustus gefunden zu haben. Freilich verfügte sie über keinen Vergil oder Livius, um die Spuren ihrer Tätigkeit unzerstörbar zu machen. Doch »das theresianische Weltwesen« hat andere unsterbliche Stimmen hervorgebracht, in denen es idealiter weiterlebt  : »Haydn, Gluck und Mozart sind sein unvergänglicher Geist gewordener Gehalt«10 (H II, 453). In dieser verspäteten sanften Antwort an Thomas Mann, der auch die deutsche Musik in seinen geistigen Kriegsdienst gestellt hatte, wird zum ersten Mal explizit die Musik Mozarts und seiner Vorgänger zur symbolischen Verkörperung der theresianischen Zeit erhoben, dem Muttergrund Österreichs, von dem ein besonderes Licht ausgeht, das wenig Ähnlichkeit mit dem Licht der deutschen Aufklärung zu haben scheint, ein Licht, das ein symbolisches Ensemble, »österreichische Idee« genannt, hervorgebracht habe. Der Vergöttlichung der Kaiserin entspricht die Verteufelung ihres Gegners. Man darf an die Bilder der Himmelsmutter, zum Beispiel die Mariazeller Mater Austriae denken, die die luziferische Schlange zertritt, die ein falsches Licht in die Welt gebracht hat. Hofmannsthal schrieb dieses Lob der Magna Mater zu einem Zeitpunkt, an dem das Bündnis mit Deutschland mehr und mehr als Bedrohung erfahren wurde. Angesichts der ungleich größeren Bedrohung durch Hitler in den 1930er Jahren wurde Maria Theresia erneut zur Schutzgottheit Österreichs erhoben. Der Journalist und Historiker Karl Tschuppik veröffentlichte einen biographischen Roman der Kaiserin im Amsterdamer Verlag Allert de Lange, dem Verlag der der deutschen Exilanten. Als linker österreichischer Patriot hat er eines Tages erklärt, er wäre gerne als Jude geboren worden, um die germanisierten Prager Juden ausrotten zu können, ohne des Antisemitismus verdächtigt zu werden. Im Namen seiner mythischen Maria Theresia klagt er die österreichischen Juden an, durch ihre Assimilation an die deutsche Kultur und die daraus resultierende alldeutsche Gesinnung ihr wahres Mutterland verraten zu haben. Im Fall Thomas Mann, Tschuppik und Hofmannsthal haben wir es mit literarischen Konstruktionen zu tun, doch die Art und Weise, wie im 19. Jahrhundert Kronprinz Rudolf den Geist seiner Ahnherrin gegen den Geist Bismarcks, des neuen preußischen Friedrich, heraufbeschwört, beweist, dass Maria Theresias Funktion als Identitätsikone Österreichs längst im Bewusstsein verankert war. In dem offenen Brief an seinen Vater Franz Joseph I. über Österreich-Un60

Die österreichische Kaiserin und der preußische König

garn und seine Alliancen, den er 1888 unter dem Pseudonym Julius Felix in Paris erscheinen ließ, beschwor er des Vaters Urgroßmutter herauf, »die stolze, herrliche Frau […], die von dem Hohenzollern Friedrich überfallen und beraubt ward. Und was that Maria-Theresia  ?« (Rudolf 223) Im Gegensatz zu ihrem Nachfahren hat eine »Frau also, dem weichherzigen und schwachen Geschlechte angehörend«, sieben Jahre Krieg geführt  ; »während Sie, Majestät, kaum nach dem Verlauf derselben Zeit mit dem, der Sie verdrängt und besiegt hatte, einen verderblichen Bund eingiengen« (Rudolf 223). Rudolf wünscht, Franz Joseph I. möge die Allianz Maria Theresias mit Frankreich und Russland gegen den falschen preußischen Freund erneuern. Nach einer langen und für Bismarck und Preußen extrem beleidigenden Philippika schließt der Kronprinz so  : »Er umarmt Sie, um Sie lautlos zu erdrücken und er nennt sich Ihren Bruder, um Sie als Nächster zu beerben  ! Fort mit Preußen  ! Hoch Österreich und die Habsburger  !« (Rudolf, 227). Dieser offene Klagebrief an den Vater ist ein antipreußisches Pamphlet, das im Namen der »herrlichen Frau« zur Rache für die Demütigung durch Königgrätz aufruft. Die patriotischen Schriften Rudolfs sind Dokumente, die den Verfall der Familie beklagen, die einst eine gloriose große Mutter an ihrer Spitze hatte. Die Familiengeschichte Franz Josephs I. ist eine Tragödie  : Ermordung des Bruders, des mexikanischen Kaisers Maximilian, Selbstmord des Sohnes wenige Monate nach dem großen Klagebrief, Ermordung der Gemahlin und des Thronfolgers, den er aufs Schlimmste gedemütigt hatte, indem er seinen Kindern wegen der morganatischen Ehe das Erbrecht aberkannte. Ein großer Mythos geht zu Ende. Der dynastische Konflikt des 18. Jahrhunderts ist die fruchtbarste Matrix für die stereotype Opposition Mann-Frau, die die verschiedensten historischen, mythologischen, philosophischen und literarischen Ausformungen kennt. Sie kann eine Verbindung mit anderen binären Gegensätzen angehen wie KindErwachsener, die sich ebenfalls auf das historische Gegensatzpaar übertragen lässt. Ein drittes Stereotyp, der Antagonismus jung-alt, der in Rudolfs Klage unterirdisch mitschwingt, ist in nuce schon im Konflikt des 18. Jahrhunderts angelegt. Er wird sich im 19. Jahrhundert zuspitzen und findet seinen Höhepunkt und Ende in der Figur des uralten, vereinsamten Kaisers Franz Joseph I., dessen Immobilismus und Impotenz sprichwörtlich geworden sind. Hofmannsthal hat nicht nur Maria Theresia zum Mythos der österreichischen Identität erhoben, er hat auch 1919 eine subtile Komödie mit dem Titel Der Schwierige verfasst, die die Beziehung zwischen Österreich und Deutschland als Geschichte einer unmöglichen Heirat behandelt. Das Stück entspricht voll Novalis’ These, dass man nach verlorenen Kriegen Komödien schreiben 61

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

müsse. In der Tat handelt es sich um eine ironische Elegie über das Ende einer Welt, jene der österreichisch-ungarischen Aristokratie, aber auch um eine Satire der deutsch-österreichischen Beziehungen in den Jahren 1918/19, als die junge Republik für den Anschluss, also die Heirat mit Deutschland optiert hatte. In dem Stück erscheint Deutschland in Gestalt eines Mannes, dessen Familienname, Neuhoff, klar in Opposition zu Altenwyl gewählt ist, dem Patronymikon der Frau, die Österreich verkörpert. Theophil Neuhoff ist der Bewerber um die Hand Helene Altenwyls, deren Vater einen typisch österreichischen Vornamen hat, Poldo, die Abkürzung von Leopold, Name des Schutzheiligen Wiens und zweier habsburgischer Kaiser. (Maria-Theresia rief ihren Sohn Leopold Poldl.) Die Rolle der Vornamen scheint mir äußerst exemplarisch in der jüdischen Familie Weininger  : der Vater hieß Leopold, die Söhne trugen die Vornamen Otto (von Bismarck) und Richard (Wagner). In den beiden Familiennamen steckt nicht nur der binäre Gegensatz von alt und neu, sondern subtiler der Unterschied zwischen dem modernen »hoff« und dem archaischen alemannischen »wyl«, das diskret die schweizerische Herkunft der österreichischen Dynastie andeutet. Die Sprache der österreichischen Figuren unterscheidet sich überdeutlich von der Ausdrucksweise des Norddeutschen. Sie ist doppelt charakterisiert  : einerseits durch die Verwendung einer noblen Sorte des Wienerischen, andererseits durch eine regelrechte Invasion des Französischen. Der Preuße Neuhoff ist eine extrem unsympathische Person, und seine Methode, um die österreichischen Frauen zu erobern, zuerst die edle und distanzierte Helene, dann, weil nichts Besseres da ist, die Kokotte Antoi­ nette (der französische Name  !), scheitert kläglich aufgrund seiner Rhetorik, Ausdruck seiner selbstsicheren Überlegenheit, deren Konzentrat der Satz »Du sollst wollen« (scilicet »was ich will«) ist. Seine pathetische Suada besteht aus einem Vokabular, dessen wichtigste Worte »Wille und Kraft« sind  : Dementsprechend lautet der Heiratsantrag »Sie werden mich heiraten, weil Sie meinen Willen spüren in einer willenlosen Welt«, die für ihn auch die »kraftloseste aller Welten« ist. Neuhoff brüstet sich  : Im Gegensatz zu den Österreichern, die »alles dem schönen Schein geopfert haben, auch die Kraft«, hat man sie im Norden bewahrt. Aus dieser Ungleichheit leitet Neuhoff das Recht auf Helene ab  : »und aus dieser Ungleichheit ist mir mein Recht über Sie erwachsen.« Es ist das »Recht des geistig Stärksten über die Frau, die er zu vergeistigen vermag«. Er wagt es sogar, vor der Umworbenen seinen Rivalen, den »schwierigen« Grafen Bühl, als würdelos, schlaff, zweideutig, kurz als typischen Österreicher hinzustellen. Einem anderen Gesprächspartner gegenüber nennt er ihn sogar ein »absolutes anmaßendes Nichts«. Nach der Niederlage bei Helene versucht 62

Die österreichische Kaiserin und der preußische König

er es mit einer gewandelten Strategie bei der Kokotte Antoinette  : »Sie warten noch immer […] auf den Mann, den Sie noch nicht kennen, auf den wirklichen Mann, auf Ritterlichkeit, auf Güte, die in der Kraft wurzelt.« Antoinette entlarvt diesen Diskurs und beantwortet das krafterfüllte »Du sollst wollen« mit einem doppelten »Ich mag nicht  !«. Der Mann, der Österreich symbolisiert, misstraut den Worten, die nichts als Konfusion anrichten. Er räsoniert unter anderem so  : »Mir kommt bei Konversationen auf die Länge alles sogenannte Gescheite dumm und noch eher das Dumme gescheit vor –.« Dieser Relativismus erinnert an das »Hobellied« aus Raimunds Verschwender, in dem der scheinbare Dummkopf Valentin zu folgender Philosophie gelangt  : »Da streiten sich die Leut herum wohl um den Wert des Glücks, der eine heißt den andern dumm, am End weiß keiner nix.« Dieses »Hobellied«, das alles gleich hobelt, gehört(e) zu den populärsten Liedern und hat es fast bis zum Status einer heimlichen Nationalhymne neben dem Radetzkymarsch und dem Donauwalzer gebracht. Selbst der Bundeskanzler Kreisky hat sich auf diese Botschaft berufen, die in den Augen des aktivistischen Eroberungsgeistes Neuhoffs in der Tat nur Ausdruck des »absoluten Nichts« sein konnte. Hofmannsthal inszeniert nicht nur zwei Versuche des jungen Neudeutschen, zwei österreichische Frauen seinem Willen zu unterwerfen, er treibt das Stereotyp von der Schwäche und Unentschlossenheit des Österreichers dadurch auf die Spitze, dass der Mann, der sich selbst schon als »alt« bezeichnet, das Objekt und nicht das Subjekt des Heiratsantrages ist, er also die traditionelle Rolle der Frau übernimmt. Die »Kraft« Österreichs liegt also bei den Frauen nach dem Vorbild Maria Theresias. Hofmannsthals Freund Leopold Andrian hat 1937 angesichts der national­ sozialistischen Drohung in Österreich im Prisma der Idee den Schwierigen politisch »aktualisiert«. Der Jesuitenpater beschreibt den österreichischen Bewusstseinswandel von 1934 so  : »Selbstbesinnung stellte sich bei den Besseren ein, die Ahnung von der völligen Verschiedenheit des Wesens, von der gottbestimmten, unantastbaren Eigenart, von der Sündhaftigkeit der Selbstpreisgabe. So etwa, wie wenn eine Frau, welche die Werbung eines Mannes spielerisch ermutigt hat, im Augenblicke, wo das Spiel Ernst wird und er Hand an sie legt, plötzlich Widerwillen vor der gewaltsamen Berührung und Scham vor der Hingabe empfindet und sich, vom dunkeln Drange der Wertbewahrung getrieben, mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, seiner Umarmung entreißt und die Flucht ergreift. Er aber schaut ihr mit geballter Faust und zornigem Herzen nach, und die Liebesworte von früher verwandeln sich in Drohungen und Verwünschungen« (Andrian 378). 63

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Es gibt ein bedeutendes Pendant zum Schwierigen, Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Die Komödie endet mit einer innerösterreichischen Hochzeit, also mit dem Ausschluss des deutschen Fremdkörpers. Bei Musil gibt es eine vergleichbare Konstellation  : Der deutsche Philosoph und Industriemagnat (man kann dabei auch an Friedrich II., den Philosophen und König denken) Arnheim macht Diotima, der Gattin eines treuen österreichischen Staatsdieners den Hof. Musil hat diese Romangestalt aus der Wirklichkeit genommen  : Das Modell seines machtbewussten und berechnenden Deutschen war Walter Rathenau, der emblematische Vertreter der Organisation der deutschen Kriegswirtschaft, also der Inkarnation des Geistes des »Machen wir  !«, von dem noch ausführlich die Rede sein wird. Angesichts einer solchen Konzentration von Willenskraft erscheint der homo austriacus Ulrich eben als »Mann ohne Eigenschaften«, ein intellektuellerer Bruder des Grafen Bühl und des Dieners Valentin. Nicht zentral, sondern eher anekdotisch wird die Gegenüberstellung Frau als Gegenstand des Begehrens (Österreich) – Mann als Träger des Machtwillens (Deutschland) in Horváths Geschichten aus dem Wienerwald satirisch behandelt. Es wäre leicht, die literarischen Beispiele dieser Art zu vermehren, die oft der österreichischen Verwirrung nach 1918 entsprechen. (Übrigens ist dieser Topos alt, denn schon in der Komödie Die Bürger von Wien aus dem Jahre 1813 von Adolf Bäuerle findet sich ein österreichischer Vater, der die Heirat seiner Tochter mit einem »Ausländer« aus Deutschland zu verhindern weiß.) In manchen Romanen der 1920er Jahre taucht ein neuer maskuliner Eroberungstyp auf, der Motorradfahrer, den auch Doderer in seinen Dämonen verwertet hat. Man darf nicht vergessen, dass unter den Organisationen der NSDAP früh das NSKK, das nationalsozialistische Kraftfahrer Korps, eine beträchtliche Rolle gespielt hat. Es stand wie SA und SS unter der direkten Autorität des Führers. Auch in dieser Optik ist Österreich die Braut, die den kraftgeladenen deutschen Bräutigam erwartet. Man muss sich das barocke Paradigma in Erinnerung rufen, um die negative Umwertung des Topos der Hochzeit zu ermessen, dessen stolzer Ausdruck das lateinische Distichon war, von dem man gewöhnlich nur den Hexameter zitiert  : »Bella gerant alii tu felix Austria nube. / Nam quae Mars aliis dat tibi regna Venus«. (»Die anderen mögen Kriege führen, Du, glückliches Österreich, heirate. / Denn die Reiche, die Mars den anderen gibt, gibt dir Venus.«) Die enorme Rolle der Heirat als Mittel territorialer Expansion war eine unbestreitbare Tatsache, sie betraf Burgund, Spanien, die Niederlande, Ungarn und Böhmen. Dieses »heirate« ist übrigens doppeldeutig, denn es bedeutete sowohl die Heirat eines habsburgischen Fürsten mit einer Ausländerin als die Heirat eines ausländischen Fürsten mit einer Österreicherin. In Grillparzers 64

Die Revolution von 1848 und ihre Folgen

historischem Trauerspiel König Ottokars Glück und Ende, das die Machtübernahme der Habsburger in Österreich zum Thema hat, steht eine Lobrede auf Österreich, in der gesagt wird, dass es »wie dem Bräutigam die Braut« entgegenlache …

2. DIE REVOLUTION VON 1848 UND IHRE FOLGEN Das Jahr 1848 ist ein wahrer »Zeitknoten«11. Er lässt plötzlich alle dem Kaiserreich Österreich inhärenten Widersprüche in einem solchen Ausmaß zu Tage treten, dass die Existenz des Staates selbst auf dem Spiel steht. 1848 ist die erste große Stunde der Wahrheit für die österreichische Identität, denn es geht nicht mehr um dynastische Rivalitäten. Die Revolution hat in Ungarn und Böhmen eingesetzt, bevor sie am 13. März in Wien ausgebrochen ist. Sie hatte zwei wesentliche Ziele  : die Einrichtung demokratischer Institutionen (freie Wahlen, Presse- und Assoziationsfreiheit, Ende der feudalen Privilegien) und die Erfüllung der nationalen Forderungen. Das erste Ziel stellte durch die Forderung einer Verfassung das absolutistische System in Frage, das zweite hätte die Auflösung des Vielvölkerstaates in Nationalstaaten zur Folge gehabt. In jedem Fall setzte sie der Vorherrschaft der deutschen Nation über die anderen ein Ende. Ungarn hatte faktisch die Sezession vollzogen, die Tschechen verlangten die Gleichberechtigung ihrer Nation und die Achtung ihrer Sprache im öffentlichen Leben. Ein panslawistischer Kongress tagte in Prag. In Mailand und Venedig hatte die Revolution zur Abtrennung des lombardovenezianischen Königreiches geführt, bevor sie durch Feldmarschall Radetzky niedergeschlagen wurde. In Wien ist es gleichfalls die nationale Seite der Revolution, die einen beunruhigenden Charakter für das Kaiserreich annimmt. Der Kaiser hatte ­einen guten Teil der demokratischen Forderungen akzeptiert  : Entlassung des Staatskanzlers Metternich, Pressefreiheit, Abschaffung der Zensur, Bildung einer Bürgerwehr. Am 2. April fand ein Fest zu Ehren der schwarz-rot-goldenen Fahne statt, also der Fahne der Befreiungs- und Freiheitskriege von 1813 und der Burschenschaften, die in Österreich noch verboten waren. Der Sinn dieses Festes war eindeutig  : Die schwarz-rot-goldene Fahne stand im Gegensatz zur habsburgischen schwarz-gelben und symbolisierte den Willen, das Programm des Deutschlandlieds, die Schaffung einer großen deutschen Republik in die Tat umzusetzen. Das symbolische Spiel, das von der »akademischen Legion«, also 65

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Studenten und Professoren, in Szene gesetzt wurde, war eindrucksvoll  : Die Fahne wurde zunächst auf der Spitze des Stefansturms gehisst, darauf folgte eine Zeremonie auf dem Josefsplatz vor der Hofbibliothek und der kaiserlichen Burg, auf der gleichfalls die »deutsche« Flagge wehte. Trotz dieser klaren Botschaft war die demonstrierende Menge noch von an sich unvereinbar gewordenen Gefühlen bewegt. Als sich Kaiser Ferdinand I. der Menge zeigte, reagierte diese noch ambivalent durch eine Mischung von kaisertreuem österreichischen Patriotismus und deutschnationaler Begeisterung. Man konnte noch gleichzeitig »Es lebe das freie und einige Deutschland  !« und »Es lebe unser guter konstitutioneller Kaiser  !« rufen. Und man konnte noch gleichzeitig die österreichische Kaiserhymne und den nationalistischen Dithyrambus Des Deutschen Vaterland von Ernst Moritz Arndt anstimmen. Dieses programmatische Lied stellte die Frage  : »Was ist des Deutschen Vaterland  ?« Die fünfte Strophe stellt die Frage nach Österreich  : »Was ist des Deutschen Vaterland  ? So nenne mir das große Land  ! Gewiss, es ist das Österreich, an Ehren und an Siegen reich  ? O nein, o nein  ! Sein Vaterland muss grösser sein, sein Vaterland muss grösser sein  !« Die sprichwörtlich gewordene Antwort Arndts steht in der sechsten Strophe  : »So weit die deutsche Zunge klingt« und in der letzten  : »Das ganze Deutschland soll es sein  !« Der Widerspruch hätte einen paradoxen Höhepunkt erreicht, wenn die Demonstranten zur selben Melodie »Gott erhalte  !« und »Deutschland, Deutschland über alles  !« gesungen hätten. Anfang April 1848 war diese Schizophrenie noch begreiflich, denn das Frankfurter Paulskirchen-Parlament hatte noch nicht über die Form des kommenden geeinigten Deutschland entschieden. Es war noch denkbar, dass die Krone einer großen gesamtdeutschen konstitutionellen Monarchie dem österreichischen Kaiser zufallen könne. Diese Hoffnung war nicht unrealistisch, denn das Frankfurter Parlament hatte einen habsburgischen Prinzen, den sehr populären Erzherzog Johann, als »Reichsverweser« von Mai 1848 bis Dezember 1849 eingesetzt. Die österreichischen Abgeordneten hatten sogar die Absicht, die seit 1800 in Wien befindlichen Kronjuwelen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nach Frankfurt »mitzunehmen, um sie zur Verfügung des deutschen Volkes zu stellen« (Habsburger Monarchie III,1, 175). Doch sehr rasch erwies sich das Projekt der deutschen Einheit als unverträglich mit der Existenz der österreichischen Monarchie. Die Position František Palackýs, des Führers des tschechischen Nationalismus, resümiert am klarsten die Problematik und erklärt das unausweichliche Scheitern jeder groß-deutschen Lösung unter der Führung Österreichs. Das Frankfurter Parlament hatte die Vertreter von Böhmen und Mähren eingela66

Die Revolution von 1848 und ihre Folgen

den, an der Diskussion über die künftige deutsche Verfassung teilzunehmen. Die Tschechen hatten diese Einladung durch ihren Sprecher Palacký abgelehnt, der behauptete, dass natürliche und historische Gründe die Tschechen dazu zwängen, ihren Blick nicht nach Frankfurt, sondern nach Wien zu wenden. Er fürchtete nicht nur den deutschen Nationalismus, sondern auch den ungarischen, sollte sich Ungarn von der Monarchie loslösen. Er optierte also klar für die Aufrechterhaltung der Monarchie als einzige Garantie für die Rechte der slawischen Völker angesichts des deutschen und ungarischen Nationalismus, aber auch gegenüber dem russischen Panslawismus, der ebenfalls als Drohung empfunden wurde. Dieses Bekenntnis zu einem Austroslawismus begründete Palacký folgendermaßen in seiner berühmt gewordenen Formel  : »Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen« (April 1848). Dem Frankfurter Parlament schreibt er  : »Das Verlangen, Österreich solle sich an Deutschland anschließen, ist eine Zumutung des Selbstmordes, der jeder moralische und politische Sinn mangelt.« Und den Österreichern, die sogar Frankfurt als Hauptstadt wünschten, soll man sagen  : »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie wollen  !« (Habsburger Monarchie III,1, XIII). Der kroatische Banus Jelačić, der wesentlich zur Niederschlagung der Revolution beigetragen hatte, war derselben Überzeugung  : »Vor allem bleiben wir Österreicher  ! Wenn es kein Österreich gäbe, wahrlich jetzt müssten wir’s schaffen« (Habsburger Monarchie III, 1, XIV). Solche Aussagen bilden einen extremen Kontrast zu den gängigen deutschnationalen Parolen der Epoche. Der deutsche Dramatiker Friedrich Hebbel, der seit 1846 in Wien wohnte, notiert angesichts der Situation von 1848  : »Die lieben Österreicher  ! Sie sinnen jetzt darüber nach, wie sie sich mit Deutschland vereinigen könnten, ohne sich mit Deutschland zu vereinigen. Das wird schwer auszuführen sein, ebenso schwer, als wenn zwei, die sich küssen wollten, sich dabei den Rücken zuzukehren wünschten.« Zu den nationalen Revolutionen notiert er am 25. März 1848  : »Ich sagte längst  : Österreich kommt mir wie ein Leichnam vor, der vorm Sterben die Geier, die ihn zerhacken sollten, selbst mit Ketten an sich befestigte  : Ungarn, Böhmen, Lombardei. – Nun zeigt sich’s.« Da die Klauen des Adlers nicht mehr stark genug seien, die übergroß gewordene Beute zu halten, bleibe ihm nichts übrig, als sich seiner Flügel zu bedienen und sich der »deutschen Sache« zu überlassen. Der Tiroler Dichter Adolf Pichler, ein Augenzeuge des Fahnenfests in Wien, berichtet außer sich vor Begeisterung, die Menge habe nur ein Gefühl, nur einen Gedanken gehabt  : »Deutschland, Deutschland  !« (Volk, Reich, 110–111). Der preußische 67

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Historiker Droysen sagte unverhohlen, was sich in Frankfurt wirklich abspiele  : »Man darf sich nicht verbergen, dass die ganze deutsche Frage eine einfache Alternative zwischen Preußen und Österreich ist. In ihnen hat das deutsche seinen positiven und negativen Pol, mit jenem alles nationale und reformative, mit diesem alles dynastische und destruktive Interesse« (Häusler, 235). Aus der Retrospektive analysierte der österreichische Politiker und Historiker Joseph Redlich die Bedeutung des Revolutionsjahres so  : 1848 sei das österreichische Problem in all seinen Facetten sichtbar geworden im Kampf der Völker Österreichs und Ungarns für einen wahren Völkerstaat. Das Frankfurter Parlament hat schließlich gegen den Widerstand Österreichs und einiger süddeutscher Staaten für die kleindeutsche Lösung entschieden und die erbliche Kaiserkrone dem König von Preußen angeboten, der sie verächtlich als »imaginären Reif, aus Dreck und Letten gebacken«, abtat, überdies »verunehrt überschwänglich mit ihrem Ludergeruch der Revolution von 1848« (Volk, Reich, 120). Die nationalen Revolutionen waren überall gescheitert, die militärische Gewalt hatte in Berlin und Wien, in Oberitalien, Ungarn und Böhmen triumphiert. Der status quo schien sich zu installieren, der Deutsche Bund, nach wie vor von Österreich präsidiert, nahm seine Funktion wieder auf. Doch in Wirklichkeit hatte der letzte Akt im Hegemoniestreit bereits begonnen. Unausweichlich bereitete sich der »Bruderkrieg« von 1866 vor. Der Traum des »So weit die deutsche Zunge klingt« war wiederum vorbei. In Österreich hatte die multinationale Armee alle Versuche nationaler Unabhängigkeit erstickt, und der »eingefleischte Österreicher« Grillparzer begrüßte diese Leistung des Feldmarschalls Radetzky mit dem hymnischen »In deinem Lager ist Österreich«. Johann Strauß Vater hat den Sieger über die Revolution durch seinen Marsch weltberühmt gemacht, ohne dass die heutigen Hörer ahnen, was er bedeutete. Radetzky selbst hatte einem Frankfurter Abgeordneten geschrieben  : »Österreich wird sich eher von Deutschland als von Österreich trennen« (Häusler, 238). Ein exilierter oppositioneller Schriftsteller (Adolph Franckel) hat für das Ende der Revolution das geistreiche Wort geprägt  : »Alle Nationalitäten sind fortan gleich unberechtigt. Alle Nationalitäten sind von nun an gleich geschätzet  : Nöt’gen Falles wird die eine auf die andere gehetzet« (Häusler, 238). Das war schon ohne Ironie – siehe Motti – die Überzeugung des guten Kaisers Franz I. gewesen. 1848 bedeutet aber vor allem die erste Etappe auf dem Weg zum Ende der Selbstidentifikation der Deutschösterreicher mit ihrem Staat und ihrem angestammten Herrscherhaus. Arndt sprach von nun dem 1813 »aller Ehren voll« gewesenen Österreich jede Ehre ab  : »Österreich, das halb barbarische Österreich, welches Deutschlands Ehre und Macht drei 68

Die Revolution von 1848 und ihre Folgen

Jahrhunderte verzettelt und verschleppt hat.« Seine Entscheidung für Kleindeutschland begründet er nicht zuletzt mit dem Argument  : »In dem letzten großen Augenblicke unseres weltgeschichtlichen Lebens wollen wir uns nicht mit dem trüben, schmutzigen Einguss von Polen, Kroaten usw. vergrößern lassen« (Häusler, 240–241). Die vorübergehende Abschaffung der Zensur hat es Johann Nestroy ermöglicht, die politische Komödie Freiheit in Krähwinkel, ein unschätzbares literarisches Dokument für den Zeitgeist, am 1. Juli 1848 auf die Bühne zu bringen, wo sie mit großem Erfolg bis Oktober 36 Mal gespielt wurde. Was zunächst erstaunt, ist Nestroys relativ geringes Interesse für die deutsch-nationale Seite der Revolution. Ihm sind die Freiheit in all ihren Formen und der Kampf gegen den klerikalen Obskurantismus entschieden wichtiger. Trotz aller offensichtlichen Sympathie für die Revolution kann sich Nestroy nicht enthalten, eine satirische Distanz zu wahren, die jede Form von politischem Pathos ausschließt  : Krähwinkel (das natürlich Österreich symbolisiert) versucht, Öster­reich zu imitieren. Aber im Gegensatz zu Österreich ist die Obrigkeit im fiktiven Krähwinkel noch dem abgesetzten Kanzler Metternich ergeben und bereit, untertänigst einen Vertreter der zaristischen »Knute« zu empfangen. Die Bürger von Krähwinkel, deren Chor das Stück eröffnet, betrachten sich selbst als »deutsch’s Element«. Sie haben eine seltsame Vorstellung von der Freiheit, »die sein muss«  : »Wir erringen s’, und sperren s’ uns auch leb’nslänglich ein« (I,1). Nestroy schildert also eine Revolution (wie die Reaktion) im Diminutiv und erfindet entsprechende Diminutiva für die politischen Hauptbegriffe  : Revolutionerl, Konstitutionerl und Freiheiterl (I,8). Er lässt sich keinen Witz entgehen, wenn es um die Karikatur der Reaktionäre, aber auch der »Revolutionäre« geht. Die Zensurfreiheit erlaubt es ihm, offen das verhasste Polizeiregime, die Machenschaften der Jesuiten und den Untertanengeist des Volkes zu verhöhnen. Russland, der Alliierte der Heiligen Allianz, wird als Reich der Knute karikiert, und der Führer der Revolution, der Journalist Eberhard Ultra, verkleidet sich der Reihe nach in einen Mönch, einen russischen Fürsten und in den Staatskanzler Metternich, das abgehalfterte Symbol des Ancien Régime. Doch der Kaiser wird völlig verschont, und die Revolution begnügt sich mit einem ganz kleinen Konstitutionerl. Der deutsch-nationale Aspekt ist auf ein striktes Minimum beschränkt, was nicht der Massenbegeisterung dieser Tage entspricht. Die Studenten der akademischen Legion, die an der Spitze des Aufstands marschierten, sind bei Nestroy verkleidete Mädchen. Die revolutionären Führer sind also gleichsam entmannt. Die schwarz-rot-goldene Fahne bleibt unsichtbar, doch die mit ihr rivalisierende Farbe wird von Nestroy in einer besonders satirischen 69

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Szene wirkungsvoll eingesetzt  : Der Bürgermeister von Krähwinkel wird von Alpträumen (d. h. der Forderung nach Freiheit) verfolgt und beschließt, nicht mehr zu schlafen. Sein treuer Diener empfiehlt ihm ein unfehlbares Mittel, um nur angenehme Träume zu haben  : »Um diese Freiheitsvisionen loszuwerd’n, legen sich Euer Herrlichkeit was Schwarzgelbes unter ’n Kopf, da kommen gleich andere Traumbilder. Der Bürgermeister fragt  : »Ja, wo nehm’ ich jetzt was Schwarzgelbes her  ?« Der Ratsdiener  : »Da haben Eure Herrlichkeit die ›Wiener Zeitung‹« (I, 24). (Die Wiener Zeitung, eine der ältesten Zeitungen Europas, war das Sprachrohr der herrschenden »schwarz-gelben« dynastischen Macht.) Mit diesem Schlafmittel versinkt der Bürgermeister in einen Schlaf, in dem er vom Eintreffen der russischen Armee träumt. Während der Revolution auf den Barrikaden werden die Arbeiter und Kleinbürger von den falschen Studenten unter dem Kommando der Frau von Frankenfrey begleitet, die als Offizier der akademischen Legion verkleidet ist. Alle singen eine Strophe von Arndts Des Deutschen Vaterland, Zentralsymbol des deutschen Nationalismus, das in der Tat während der Revolution in Wien gesungen wurde. Doch die Farbe der Fahne, die der Revolutionär Ultra schwingt, ist unbestimmt und also eher dem österreichischen Staat angemessen. Der Schlusschor stimmt die »erste Strophe der Volkshymne (sic  !)  : ›Was ist des Deutschen Vaterland‹« an, gefolgt vom Revolutionsmarsch Johann Strauß’ Sohn (III, 23–25). Vater und Sohn Strauß sind also 1848 nicht im gleichen Lager. Trotz dieser Indikatoren für den nationalen Charakter der Revolution gibt das große politische Couplet des Revolutionärs Ultra eine völlig unerwartete ironische Vision der Revolution in Österreich. Sie unterscheide sich in der Tat tief von allen anderen europäischen revolutionären Bewegungen  : Statt der erwarteten »Auflösung« des »Zirkel Völkerschaften«, sprich des multinationalen Kaiserreichs, hat die »Weltgeschicht’« anders entschieden  : Viele, die schon gierig auf die Auflösung gewartet hatten, sind enttäuscht  : »Sie hab’n schon glaubt, dass alles feindlich in Teile zerbricht / Aber die Weltgeschicht’ sagt  : Justament nicht  !« »Und trotz Diff’renzen/Wird Östreich hoch glänzen/Fortan durch Jahrhundert’,/Gepriesen, bewundert – / Wir stehn da ganz famos/Und wir fürchten kein’ Stoß,/Is die Gärung auch groß,/Bei uns geht nix mehr los  ! –« (III, 22). Nestroys Botschaft ist also höchst zweideutig, sie nimmt bereits im Kern seinen wachsenden Patriotismus vorweg, für den sein letztes Stück, die Bearbeitung der Offenbach-Operette Häuptling Abendwind von 1862 ein klares Zeugnis ablegt. Die 1848 abgeschaffte Zensur kehrte bald zurück und hat die politische Satire von 1862 buchstäblich kastriert. Der interessanteste Eingriff der Zensur betraf die Nationalitätenfrage. Nestroy ließ einen indianischen Häuptling sagen  : »Wenn einem kein Mensch 70

Die Revolution von 1848 und ihre Folgen

versteht, das ist nazinal« (I,7). Die Zensur hat den prophetischen Neologismus »nazinal« für »national« nicht geduldet und Nestroy gezwungen, die Kritik am Nationalismus zu entschärfen und durch nichtssagende Adjektiva wie »insulanisch« oder »ungeniert« zu ersetzen, ohne zu ahnen, dass Nestroy auf seine Art den multinationalen Staat verteidigte. 1862 ist das Jahr, in dem der Nationalliberalismus die österreichische Innenpolitik zu bestimmen beginnt  ! Doch selbst Nestroy ist nicht frei von nationalistisch begründeter Verachtung. Seine Abneigung gegen Ungarn ging so weit, dass er die ungarische Herkunft eines seiner Modelle leugnete und vorgab, es handele sich um ein französisches. Nationale Begeisterung ist seine Sache nicht, dazu ist er ein zu hellsichtiger Psychologe  : »National-Ehre ist die Koketterie der Völker, vermöge welcher jedes Volk glaubt, das Hauptvolk zu seyn, während die andern nur Nebenvölker sind, so wie der einzelne Mensch nur darum jeden seinen Nebenmenschen nennt, weil er sich für den Hauptmenschen halt’t« (Nestroy, Lady, I,8). Sein geistreichstes Bonmot in dieser Sache war »Die edelste Nation unter allen Natio­nen ist die Resignation« (Nestroy, Mädel I,12). 1848 hatte die nationale Skepsis das letzte Wort, denn die Treue zum Zirkel, zum habsburgischen Ganzen scheint Nestroys Held dem Triumph der zentrifugalen Kräfte vorzuziehen. Das Glaubensbekenntnis zu des Deutschen Vaterland, das durch die Sprachgrenzen definiert war, kollidiert mit dem österreichischen Patriotismus. Im Gegensatz zu seinem Vater, der Radetzky musikalisch verklärte, schrieb Johann Strauß jun. den von Nestroy zitierten Revolutionsmarsch und einen Studentenmarsch. Fünf Jahre später komponierte er einen anderen Marsch, um die Rettung des Kaisers vor einem Attentat zu feiern, wobei er Haydns Kaiserhymne zitierte. Und 1859 schrieb er anlässlich des italienischen Feldzugs gemeinsam mit seinem Bruder Joseph eine Propagandamusik unter dem Titel Vaterländischer Marsch, in der die Kaiserhymne Haydns mit dem Radetzkymarsch kombiniert wurden, eine musikalische Kuriosität von beträchtlicher symbolischer Tragweite  : Die populärste Musikerfamilie Österreichs huldigte dem Haus Habsburg durch dieses seltsame musikalische Treuebekenntnis. Es gibt sogar einen Walzer, der den Donauwalzer mit der Haydnhymne kombiniert. 1848 ist also das Jahr der Entzweiung der Identitäten in Österreich. Die Premiere von Freiheit in Krähwinkel hat zu einem Zeitpunkt stattgefunden, als noch alle Hoffnungen erlaubt waren. Doch Nestroys Vision ist schon ironisch gebrochen. Am Beginn des Stückes bedient er sich eines höchst signifikanten intertextuellen Verweises. Um nicht am selben Tisch wie die Repräsentanten des Metternich’schen »Zopfensystem« sitzen zu müssen, verwenden die Bewohner von Krähwinkel die Formel »Wir werd’n so frei sein«, 71

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

einen »ruchlosen Ausdruck«, über den sich der Verteidiger der Legitimität sofort empört (I,2). Diese an sich alltägliche Redewendung war durch ein berühmtes politisches Gedicht des Dichters Anton Alexander von Auersperg sprichwörtlich geworden, der unter dem sprechenden Pseudonym Anastasius (»Auferstehung«) Grün die Gedichtsammlung Spaziergänge eines Wiener ­Poeten (1831, mit einem Epilog 1835 beim Tod Kaiser Franz I.) veröffentlicht hatte. Im Gedicht Salonszene erlaubt sich ein »dürftiger Klient«, d. h. das österreichische Volk, Metternich gegenüber die Frage »Dürft’ ich wohl so frei sein, frei zu sein  ?« (Grün, 30). 1848 wurde Grün zum Abgeordneten des österreichischen Reichsrats gewählt, der beauftragt war, eine Verfassung auszuarbeiten. Kurze Zeit war er auch Mitglied des Frankfurter Parlaments. Sein Gedichtband hatte aus ihm den bekanntesten politischen Dichter des österreichischen Vormärz gemacht. Alle Themen, die Nestroy behandelt, sind bei Grün vorgebildet  : radikaler Antiklerikalismus, Denunzierung des Spitzelsystems (»Naderer«) und vor allem Verherrlichung der Freiheit. Viel deutlicher als Nestroy verbindet Grün Freiheit und deutsche Einheit, indem er die Existenz »schwarzgelber« Grenzzäune zwischen Österreich und Deutschland beklagt. Grün bleibt aber ein großer österreichischer Patriot – manche seiner Gedichte tönen wie Hymnen an die »Mutter Österreich«, der noch das Epitheton »Riesin« gebührt (Grün, 40, 51). Für ihn ist das Jahr 1809, das Jahr der Schlacht von Aspern, der österreichische Gedächtnisort. Er wendet sich an den Kaiser, den er »Vater Franz« nennt, doch ist für ihn Österreich vor allem das »Herz Deutschlands« (Grün, 39–40). Grün hat die erste Biographie Nikolaus Lenaus verfasst, der seit langem zu den österreichischen Klassikern zählt. In seinen Dichtungen (Gedichte und Versepen) besang Lenau die Freiheit der Völker und der Religionen (z. B. der Albigenser). Mit Grün teilte er auch den Kampf gegen den katholischen Klerikalismus. Seine Geisteskrankheit hat ihn darin gehindert, an der Revolution teilzunehmen. Grün zeigt, dass der junge Lenau ganz den Ideen der Burschenschaften ergeben war. In einem seiner frühen Gedichte (Glaube. Wissen. Handeln) beschrieb er die Not der Germania, die nach den Freiheitskriegen von der Politik Metternichs ermordet wurde, der aus der Idee der nationalen Einheit des deutschen Vaterlands ein Verbrechen gegen den Staat gemacht hatte. Die Spaziergänge eines Wiener Poeten waren unter ein Motto Ludwig Uhlands, des bekanntesten dichtenden Abgeordneten der Paulskirche, gestellt. Die Anrufung Österreichs in seinem Gedicht Vorwärts  ! von 1814 ist ein Zeugnis für die nationalen Zukunftshoffnungen, die Österreich damals noch verkörperte  : »Auf  ! gewalt’ges Österreich  ! / Vorwärts  ! tu’s den anderen gleich  ! / Vorwärts  !« (Grün, Motto) 72

Die Revolution von 1848 und ihre Folgen

Doch in Frankfurt hat Grün rasch begriffen, dass die große »Mutter Österreich« ein Hindernis für alle national-liberalen Absichten darstellte. Solange die ersehnte deutsche Einheit unter Österreichs Hoheit vorstellbar war, war die Treue zur Mutter mit der »horizontalen Kameraderie« vereinbar. Es ist sehr aufschlussreich, Grüns Reaktionen auf die politischen Entwicklungen von 1848/49 bis 1866, dem endgültigen Begräbnis des Traums von 1848, nachzuvollziehen. Zwischen 1860 und 1865 ist er gewählter Abgeordneter im österreichischen Parlament unter der Etikette »liberal«, und trotz seiner »revolutionären« Vergangenheit wird er vom Kaiser auf Lebenszeit zum Mitglied des »Herrenhauses« ernannt. 1864 wird er Ehrenbürger der Stadt Wien. Seine nationalen Überzeugungen ändern sich nicht. 1871 bekennt der, der »einst spazierenging«, seinen unveränderten Glauben  : »Glauben an das Vaterland, / an das große, deutsche, eine, / ob auf ein gerissnes Band (= 1866) / heute noch manch Auge weine« (Grün, 109). Der Liberale hat als »Lieblingsgegner« den Wiener Kardinal-Erzbischof Joseph Rauscher, der den Liberalismus angeklagt hatte, einen »Staat ohne Gott« gründen zu wollen. Grün antwortet darauf  : »Wenn man das Bestreben, einen Staat ohne Gott zu gründen, Liberalismus nennen will, so mag es geschehen.« In jedem Fall sieht er die enge Verflechtung von Staat und Kirche als »sündhaftes Konkubinat« an und hält ihr die liberalen Ideale »Recht und Freiheit« entgegen (Grün-Frankl, 166–167). Er erlebt schmerzlich die österreichische Niederlage von 1866. Sein Briefwechsel mit dem Schriftsteller Ludwig August Frankl, einem assimilierten Juden, der wie der Großteil des liberalen Judentums die kulturelle Überlegenheit der Deutschen predigte, ist ein besonders interessantes Zeugnis der wachsenden österreichischen Schizophrenie, denn Grün ist unfähig, seinen Patriotismus der alldeutschen Ideologie zu opfern. Doch aus Deutschland hinausgeworfen zu werden, ist grausam. Frankl sucht nach Gründen und findet die Bastardierung der Wiener, die nur an ihr leibliches Wohl denken  ; das Konkordat von 1855  ; das Fehlen eines österreichischen Bismarck  ; endlich ein zukunftsträchtiges Stereotyp  : Preußen verhält sich zu Österreich wie die »arrogante Jugend dem müden Alter gegenüber«. Österreich ist ein »Alter, der das Erworbene genießt«, Preußen »strebt, arbeitet, bewegt sich« und »verdient« darum die Herrschaft in Deutschland (Grün-Frankl, 199). Im Zentrum der Lamentationen Frankls und Grüns über den »Fußtritt«, mit dem der »sieghafte Preußenhäuptling« (Bismarck) (Grün-Frankl, 224) Österreich »die Thüre gewiesen« (Grün-Frankl, 203) hat, steht der Verlust der Hegemonie  : »Man hat nicht vergessen, dass die deutsche Kaiserkrone einst bei Österreich war, aber man hat nicht gelernt, mit welchen Mitteln diese oder doch eine zeitgemäße Stellung in Deutschland wieder zu erringen und zu 73

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

behaupten« sei (Grün-Frankl, 203). Wie für die meisten Zeitgenossen Grüns bedeutet Königgrätz finis Austriae Grün-Frankl, 202) und nicht die Geburt eines neuen, verjüngten Österreich. Grün sieht nur den Verlust der politischen und kulturellen Suprematie gegenüber der slawisch-magyarischen demographischen Suprematie. Deutschland ist ein bloßer »Ersatz«. Die Deutschösterreicher haben kein Vaterland mehr, sie sind die »neuesten Schmerzenskinder« (Grün-Frankl, 207), todkranke Passagiere eines Schiffbruchs. Preußen dagegen triumphiert dank seiner »Volksschullehrer« (Grün-Frankl, 216), weil es »kein Konkordat hat, weil es mehr Kultur hat« (Grün-Frankl, 198). Grün sieht den Unterschied der »nationalen« Temperamente auch in der religiösen Spaltung begründet, Protestantismus und Katholizismus seien einander fundamental »fremd und feindlich« (Grün-Frankl, 217). In einem Punkt trifft er sich mit Friedrich von Schwarzenberg, dem »Garibaldi des Absolutismus«, der erklärt hatte  : »Es gibt kein einiges Deutschland und wird nie eines geben  ! […] und der Tag der Rache wird für Österreich kommen« (Grün-Frankl, 213). Grün ist überzeugt, dass bei einem hypothetischen Plebiszit die Österreicher »trotz der Gravitation zu Deutschland« mit einem »Nein  !« zur Vereinigung stimmen würden (Grün-Frankl, 217). Über den Frieden von Prag schrieb Frankl  : »Diese vierzehn Artikel sind doppelt so viele Schwerter in den Busen der Austria, als die Mutter Christi empfangen hat. Es ist eine tödtliche Summe« (Grün-Frankl, 229). Die »Mutter Österreich«, Grüns »Riesin«, ist zur Schmerzensmutter geworden, die zweimal sieben Wunden empfängt  ! Angesichts der agonisierenden Austria formuliert Grün »unser Programm« so  : »deutscher zu sein als je, d. h. durch gründlichere Bildung, edlere Sitte und wärmere Freiheitsliebe allen anderen Nationalitäten voranzuschreiten« (Grün-Frankl, 224). Nestroys »Zirkel« hat also eine Spitze, aber, verteidigt sich Grün, »Das ist keine Rassenherrschaft, sondern die gerechte Rangstellung der höheren Civilisation und Humanität« (Grün-Frankl, 224). Diese missio Austriae im Dienste des Deutschtums wird von 1866 an als Leitmotiv alle Debatten über die Identität Österreichs bis 1938 beherrschen. Unter den realistischen Projekten, um diese »höhere Civilisation und Humanität« zu behaupten, findet sich die Errichtung eines Denkmals für Schiller, der literarischen Ikone der deutschen Freiheit. In der Folgezeit wird der Anspruch auf die »höhere Humanität« zwei radikal divergierende Interpretationen erfahren  : Einerseits führt er zur Herrschaft einer Herrenrasse, auf der anderen Seite verwandelt er sich in das Idealkonstrukt der humanitas austriaca, einen entscheidenden Schritt in Richtung einer kommenden Identität. Der Weg verläuft über die seit 1848 entstehende Vorstellung, die Österreicher seien die besseren Deutschen, bis zum Paroxysmus, sie seien die einzig wahren Deut74

Alldeutsche symbolische Waffen

schen. Das sind ideologische Tröstungen, hervorgerufen durch das Scheitern der Revolution von 1848 und die daraus resultierende »Schmach« von 1866.

3. ALLDEUTSCHE SYMBOLISCHE WAFFEN 3.1 Der Kampf der Farben Während der Revolution von 1848 in Wien hatten Studenten schwarz-rot-goldene Fahnen auf dem Turm von Sankt Stefan und vor der Hofburg gehisst  : ein doppelter, brutaler symbolischer Affront gegen das Kaiserreich Österreich. Diese Farben verkörperten die doppelte revolutionäre Idee – die nationale und die demokratische – gegen einen Staat, der »als Völkergefängnis« verschrien war. Hätte das Paulskirchen-Parlament in Frankfurt seine großdeutschen Absichten durchgesetzt, diese Farben wären die Trikolore des ersehnten Nationalstaats geworden. Bei der kleindeutschen Reichsgründung durch Bismarck 1871 in Versailles war es undenkbar, auf die Symbole von 1848 zurückzugreifen. Die Farben des neuen Reiches waren also schwarz-weiß-rot, die traditionellen Farben Preußens und die künftigen Farben der NSDAP und des Dritten Reichs. Beide Flaggen, die schwarz-rot-goldene von 1848 und die schwarz-weiß-rote von 1871 verkörperten den Gegensatz zu den habsburgisch-österreichischen Farben schwarz-gelb und zu den Farben der mit Habsburg eng verbundenen katholischen Kirche, weiß-gelb. In Karl Kraus’ Weltkriegstragödie Die letzten Tage der Menschheit trägt ein kaisertreues jüdisches Ehepaar den sprechenden Namen »Schwarz-Gelber«. Das enge Bündnis von Thron und Altar, zwischen 1855 und 1870 verstärkt durch das Konkordat mit dem Vatikan, war ein erklärtes Angriffsziel aller Gegner des Hauses Habsburg. Der Text der Kaiserhymne lässt keinen Zweifel an der Rolle der Kirche  : »Mächtig durch des Glaubens Stütze, Führ er uns mit weiser Hand  !« Die offizielle Fahne der Monarchie enthielt also die von den Liberalen und Deutschnationalen am meisten verabscheute symbolische Farbe, das Schwarz, die Farbe der Priester, insonderheit der gehassten und gefürchteten Jesuiten. (Noch heute heißen die Nachfolger der ehemaligen Christlich-Sozialen kurz die »Schwarzen«.) Die Liberalen bekämpften mit allen Kräften das Konkordat von 1855, das der katholischen Kirche außerordentliche Privilegien im Bereich des Familien- und Schulrechts einräumte. Um die Liberalen zu befriedigen und das Gespenst eines österreichischen Kulturkampfs zu bannen, der aufgrund des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes drohte, kündigte der Kaiser 1870 das Konkordat. Papst Pius IX. 75

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

reagierte darauf mit der Klage, nun gäbe es keinen katholischen Staat mehr in Europa. Dieses Scenario wiederholte sich zwischen 1934 und 1938, als das übereilt vom Ständestaat abgeschlossene Konkordat wiederum den Anschein erweckte, die Kirche sei die Herrin von Österreich. Trotz der Kündigung des Konkordats ist die ausgehende Monarchie von einem Kulturkampf geschüttelt, in dessen Zentrum die Frage der Identität steht. »An Deutschland glauben« wird zu einer durch und durch religiösen Haltung, völlig unvereinbar mit dem katholischen Fundament der Monarchie. Der hypostasierte Nationalismus ist laut Benedict Anderson eher mit der Bindung an die Sippe oder an eine Religion vergleichbar als mit einer politischen Ideologie wie dem Liberalismus. Die k. u. k. Monarchie liefert ein mustergültiges Beispiel dieser Gegebenheit. Nach 1867, also mit der Gründung politischer Parteien, wird der Kampf zusehends rauer. Das doppelte Schlagwort »Los von Rom« und seine politische Konsequenz »Los von Habsburg« beherrscht die öffentliche Diskussion. Der »Schutzgott« und »Vormund« dieser anti-österreichischen Fronde ist der Fürst Bismarck, der Österreich 1866 gedemütigt, der ihm durch die Reichsgründung seine historische Legitimität geraubt und es schließlich zum Vasallen des deutschen Imperialismus, zum »brillanten Zweiten« gemacht hat, der seit 1879 durch eine mythische »Nibelungentreue« an den »Usurpator« gebunden war. Auch hier gibt es ein tiefsymbolisches Spiel mit den Farben  : Das Blau der Kornblume, der Lieblingsblume Bismarcks und Wilhelms I., wird zum Erkennungszeichen der Alldeutschen. Für die umfassendste Studie über die alldeutsche Bewegung in Österreich hat Lothar Höbelt den Titel Kornblume und Kaiseradler gewählt und seinen Sympathien gemäß »alldeutsch« zu »deutschfreiheitlich« verharmlost. Die Rolle der Kornblume hat die Monarchie überdauert  : Provokantes Erkennungszeichen der illegalen Nationalsozialisten zwischen 1934 und 1938 hat sich die Farbe der Blume bis heute in der Parteifarbe der FPÖ erhalten. Die »österreichische« Blume, die weiße Nelke, das Emblem der Christlich-Sozialen, hatte keine Chancen gegenüber dem mächtigen Symbol der großdeutschen Sehnsüchte. Beim Tod Karl Luegers hat eine satirische Zeitung eine Zeichnung veröffentlicht, auf der eine verwelkte Nelke vor dem Porträt des Bürgermeisters zu sehen ist. Der Kommentar lautete  : »Armes Hascherl, du hast jetzt keinen Gärtner mehr.« Die Besonderheit der Offensive gegen den österreichischen Staat ist darin zu sehen, dass sie zum größten Teil von den Eliten getragen wurde, die die Universität absolviert hatten. Seit 1817 und den großen Feiern auf der Wartburg zu Ehren von Luthers Reformation haben die studentischen deutsch-nationalen Burschenschaften trotz der Verbote durch das Metternich’sche System in den 76

Alldeutsche symbolische Waffen

deutschen und österreichischen Universitäten festen Fuß gefasst. Sie pflegen eine Reihe von Initiationsriten und Ritualen, deren wichtigstes die Mensur ist. Die Schmisse im Gesicht zeugen von diesen Mut- und Männlichkeitsproben. Das Phänomen war nicht auf die Universitäten beschränkt, es bestand auch in den Gymnasien. Es handelte sich um eine wahre Jugendbewegung, die den Traum von der Rückkehr zum 1806 verlorenen Reich träumte. Die Namen dieser Vereine sind bis heute programmatisch geblieben  : Germania, Teutonia, Gothia, Arminia. Die Grazer Burschenschaft »Germania« erklärt 2011 auf ihrer Website, dass ihre Grundsätze mit denen der »Urburschenschaften von 1815« identisch seien, so da sind  : »Ehre, Freiheit, Vaterland«. Ihre Devise lautet  : »Deutsch, treu, wahr  !« Das oberste Glaubensgebot ist die »Zugehörigkeit zum deutschen Volk«. In ihrem »Liederbuch« findet man »Deutschland, Deutschland über alles  !« und ein Lied zu Ehren von Wotans Thron (!), begleitet von Illustrationen des germanischen Gottes, die an die alldeutschen Propagandamarken von 1900 gemahnen. Die Farben der »Germania« sind selbstverständlich »schwarz-rot-gold«. Die österreichische Bundeshymne fehlt in diesem »Liederbuch«, dafür wird die steirische Hymne in der Fassung angeboten, die noch einen Teil des heutigen Slowenien als steirisches Territorium beansprucht. Der Antipapismus ist weiterhin gegenwärtig, nur der Antisemitismus scheint verschwunden zu sein, doch wird klargestellt, dass nur ein »Deutscher« Mitglied der »Germania« werden dürfe. Die radikalste anti-österreichische Ideologie des 19. Jahrhunderts ist also noch lebendig und ihre Anhänger scheuen sich nicht, sich öffentlich zu ihr zu bekennen, zum Beispiel anlässlich des alljährlichen Burschenschafterballs, der sich paradoxerweise in der habsburgischen Hofburg abspielt. Der katholische Widerstand gegen diese Offensive auf akademischem Boden organisiert sich ab 1864 mit der Gründung der katholisch-deutschen Verbindung »Austria« in Innsbruck. Die Grundsätze der katholischen Verbindungen sind »religio« (Treue zur katholischen Kirche) und »patria« (Treue zum österreichischen Vaterland). Selbstverständlich gibt es auch für die Mitglieder der katholischen Verbindungen keinen Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Sie gehören dem deutschen Kartell katholischer Verbindungen an. Der Bruch mit diesem Kartell erfolgt erst 1933, dem Jahr, in dem ein österreichischer Kartellverband der Verbindungen für Gymnasiasten und Hochschüler gegründet wurde, der sich konsequent gegen den Nationalsozialismus richtete. Mit Ausnahme der Mensur, die von den Katholiken als Form des Duells abgelehnt wurde, sind die Riten und »Uniformen« durchaus vergleichbar. Auch die Namen der Verbindungen sind nicht immer explizit in der österreichischen 77

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Tradition verhaftet (wie »Austria« oder »Leopoldina«), es gibt sogar eine katholische »Teutonia«. Die CV-Verbindungen sind die Kaderschmiede der christlich-­ sozialen Partei und ihrer Nachfolgeorganisationen. Seit 1945 kultivieren sie bewusst die »österreichische Idee«. 3.2 Der Kampf der Lieder Zu den Riten der studentischen Verbindungen gehören die »Kommerse«, Sitzungen mit Gesang und rituellem Konsum von Alkohol, gewöhnlich Bier, da nach der Germania des Tacitus Bier als typisch germanisches Getränk gilt, obwohl auch der Rheinwein an der nationalistischen Alkoholmythologie teilhat. Die zweite Strophe des Deutschlandlieds verherrlicht den »deutschen Wein« neben den deutschen Frauen, der deutschen Treue und dem deutschen Sang. Doch im Allgemeinen gilt im Sangesgut der Burschenschaften der Wein als römisches, ja österreichisches Getränk. Es existiert in der Tat eine spezifische wienerische Weinkultur, die sich in einer beträchtlichen Zahl von bacchischen Liedern niedergeschlagen hat. Die heiligen Orte dieses Kults sind bis heute die Heurigen, wo die österreichischste aller Eigenschaften, die Gemütlichkeit, ihren Stammsitz hat und angeblich alle sozialen Schranken fallen. (Im Kommersbuch wird viel gesungen und getrunken, aber kein Heuriger.) Die theatralische Dekonstruktion dieses österreichischen Erinnerungsortes und seiner emblematischen Musik, des Walzers, durch Horváth in den Geschichten aus dem Wiener Wald aus dem Jahre 1931 hat das österreichische Publikum noch in den 1960er Jahren verärgert. 1858 erschien die erste Auflage des Allgemeinen deutschen Kommersbuches, unter anderem redigiert von dem beliebten Volksliedkomponisten Friedrich Silcher, dem Autor der Melodie von Heines Loreley. Das Buch ist der hochsymbolischen Figur der nationalen Erneuerung während der Kriege gegen Napoleon, Ernst Moritz Arndt (1769–1860), gewidmet, aus dessen Gedicht Des Deutschen Vaterland von 1813 im Vorwort der Vers »das ganze Teutschland soll es sein« zitiert wird. Und die Autoren der Anthologie hoffen und wünschen, dass sie »ein Buch für alle Deutschen« werde. Schon die äußere Form des Kommersbuches macht aus ihm das nationalistische Gegenstück zum katholischen Messbuch. Silchers Wunsch ist ausgiebig erhört worden. Das Buch hat einen Riesenerfolg gehabt. Ich besitze ein Exemplar der 99. Auflage (um 1900), die sichtlich aus dem Besitz eines österreichischen Studenten stammt, dessen alldeutsche Überzeugungen unzweifelhaft waren. Man kann sich leicht vorstellen, welche erzieherische Macht von dieser alldeutschen Bibel ausgegangen sein 78

Alldeutsche symbolische Waffen

muss, die das Vereinsleben eines guten Teils der österreichischen und deutschen studentischen Jugend (auch der katholischen Verbindungen) genährt hat. (Es gab natürlich das Gegengewicht der Volksschule, in der die katholische Kirche eine dominierende Rolle spielte – ich erinnere mich noch der kollektiven Beichten – und einen poetisch-musikalischen Sockel im Volk garantierte.) Der Einfluss des Kommersbuches beschränkte sich nicht allein auf die Gymnasiasten und Studenten, denn sein Repertoire war auch weitgehend identisch mit dem der »Männer-Gesangsvereine«, die es in allen deutschsprachigen Städten und Dörfern der Monarchie gab. Der kulturelle und politische Code, den diese Anthologie transportierte, war absolut eindeutig. Die einzige Ausnahme von der alldeutschen Regel ist die Gegenwart des Österreichischen Kaiserlieds, eingeklemmt zwischen zwei Verherrlichungen der Hohenzollern und gleichsam außer Kraft gesetzt durch zwei Kontrafakturen, das Deutschlandlied und Die Deutschen in Österreich, ein wahrer Anschlusshymnus. Es ist überdies bezeichnend, dass die Kaiserhymne in der Fassung von 1826 und nicht in der in Österreich von 1854–1918 gültigen zitiert wird. Der Grund dafür ist einleuchtend  : Die Fassung von 1826 erwähnt noch »deutsche Lande« und »deutsche Völker«, und Kaiser Franz I., der das Kaiserreich 1804 gegründet hatte, wird folgendermaßen gerühmt  : »Er zerbrach der Knechtschaft Bande, hob zur Freiheit uns empor.« Nicht nur hat er Napoleon besiegt, er ist der Hoffnungsträger für die höchste Blüte der deutschen Völker und Lande, sprich das Ende der Zersplitterung des Deutschen Bundes unter seiner Ägide. Das Totschweigen der offiziellen österreichischen Hymne erklärt sich aus ihrem oben analysierten dynastischen Charakter, der im absoluten Widerspruch zum Geist des Kommersbuches steht, denn dieses hat unter anderem die Aufgabe, den deutschen Sängern Österreichs, die Teil des großen Deutschland sind, eine klare Botschaft zu bringen  : »Die Sprache ist unser Schild, das deutsche Lied unser Schwert  !« Vor 1848 und noch bis 1866 waren dergleichen großdeutsche Botschaften und Träumereien noch Habsburg verträglich. Es konnte noch Österreichs Berufung sein, das Heilige Reich, dessen Krone in Wien aufbewahrt war, wieder zu errichten. Doch nach 1866 war der Geist des Kommersbuches kaum mehr mit der Existenz Österreichs vereinbar, seine Botschaften bekamen einen irredentistischen Charakter. Das gilt ganz besonders für den ersten Teil, die »Vaterlands- & Heimatlieder«, denen die Herausgeber selbst den Charakter von »Gebeten« bescheinigen. Es handelt sich um ein wahres Konzentrat preußisch-deutscher Gedächtnisorte und historischer Persönlichkeiten. Zwar ist die erste erwähnte Heldenfigur der Prinz Eugen, an sich eine Ikone der österreichischen Identität. Doch die He79

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rausgeber haben es für nötig befunden, in einer Fußnote daran zu erinnern, dass der Verfasser dieses populären Textes ein preußischer Krieger aus dem Regiment des Fürsten von Dessau gewesen sei, um den Beitrag der »deutschen Brüder« zum Sieg der Österreicher über die Türken zu unterstreichen. Doch der erste deutsche Held ist logischerweise Friedrich (der Große), Fridericus Rex, dessen militärische Erfolge gegen Maria Theresia ohne Einschränkung glorifiziert werde. Seine Gegner, darunter die Kaiserin, werden verspottet, der preußische Militarismus wird begeistert gefeiert, sogar die Generäle des Königs sind namentlich aufgeführt. Doch die eigentliche Heldenperiode, in der »Deutschland wieder deutsch wurde«, sind die Freiheitskriege und die »Völkerschlacht«. Dagegen bleibt Österreichs nicht unwesentlicher Anteil am Kampf gegen Napoleon völlig ausgespart, abgesehen vom sehr populären Hoferlied, das aber nur das »heilige Land Tirol« und das »verratene deutsche Reich« erwähnt. Geheiligt werden der Kult des deutschen Vaterlands, der Opfertod in seinem Namen. Ein alldeutscher Nationalismus mit radikal antifranzösischen Tönen beherrscht die gesamte poetische und musikalische Produktion dieser Zeit. Der Arminius-Kult (Hermann der Cherusker), schon bei Klopstock Figur der natio­ nalen Mythologie, taucht wieder auf  : Alles, was römischen oder lateinischen Ursprungs ist, wird verächtlich gemacht. Frankreich übernimmt wie bei Kleist die Stelle des antiken Rom. Ein Gedicht aus dem Jahre 1823 auf die Melodie des Prinz Eugenius, Hermann betitelt, behandelt Arminius als »Volkserretter« und »Gotteskrieger«, der sich für die Freiheit, die Einheit und die Reinheit der alten Sitten geschlagen habe. (Es ist wohl kein Zufall, dass das Kommersbuch deutschnationale Kontrafakturen zweier ursprünglich besonders bedeutsamer österreichischer Lieder, der Kaiserhymne und des Prinz Eugen enthält.) Die Anthologie des Liedgutes aus den Jahren 1809–1814 erinnert an Kleists Hassausbrüche gegen Frankreich in der Hermannsschlacht oder in dem blutrünstigen Credo Germania an ihre Kinder, einer Parodie von Schillers Ode an die Freude. Vom gleichen Geist getrieben ist Arndts Der Freiheit Schlachtlied von 1813, in dem der »heilige Krieg« fürs »heilige Vaterland« direkt als »Hermannsschlacht« gefeiert wird  : »Wir wollen heute Mann für Mann mit Blut das Eisen röten, mit Henkerblut, Franzosenblut – o süßer Tag der Rache  !« Das ist ein Vorklang auf Bismarcks Politik von Blut und Eisen. Die Helden der Erhebung gegen den Besatzer haben eigene Lieder, namentlich Schill, Scharnhorst, Lützow und Blücher. Die emblematischsten Verse für den Geist der Epoche hat wohl Theodor Körner (1791–1813), Mitglied des Lützow’schen Freikorps, verfasst. Im Bundeslied vor der Schlacht (1813) und in den Eichen (1810), dem ersten Gedicht der Anthologie, steht zu lesen  : »Wachse du Freiheit der deut80

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schen Eichen, wachse empor über unsere Leichen  ! Vaterland, höre den heiligen Eid  !« und »Deutsches Volk, du herrlichstes von allen, deine Eichen stehn, du bist gefallen  !« In Lützows wilde Jagd (1813), einer Art Anti-Marseillaise, 1814 von Carl Maria von Weber in Musik gesetzt, schildert Körner die Tätigkeit seines Freikorps als »die wilde Jagd und die deutsche Jagd auf Henkersblut und Tyrannen«. Doch das entscheidende Wort dieser Poesie ist »Freiheit«. Die historische Wirkmächtigkeit dieses Repertoires lässt sich noch daran messen, dass Jörg Haider, musikalisch am Kommersbuch genährt, seine programmatische Schrift von 1993 Freiheit, die ich meine betitelt hat. Dieser Titel ist der erste Vers des Gedichtes Freiheit des patriotischen Dichters Max von Schenkendorf aus dem Jahre 1810, seit jeher ein Lieblingslied der Burschenschaften, deren Ideologie sich Haider zu eigen gemacht hat. Auch das »freiheitlich« im Namen der FPÖ verdankt sich dieser Tradition und nicht der des europäischen Liberalismus. Die in Frage stehende Freiheit ist ausschließlich die deutsche Freiheit, jenes »holde Wesen«, das sich seit langem »die deutsche Art« erlesen hat. Hier ist festzuhalten, dass die Lieder, die während der napoleonischen Kriege geschrieben wurden, eine doppelte Freiheit meinten, selbstverständlich die »Befreiung« vom französischen Joch, aber auch im selben Maß die »Freiheit« der Nation gegenüber den Fürsten, also gewissermaßen die Übertragung der Ideale der Französischen Revolution auf das zersplitterte Deutschland der Fürsten. Diese Konzeption der Freiheit führte zur Revolution von 1848. Nach der Einigung von oben durch Bismarck gewann die Idee der nationalen Einheit unter Einschluss Österreichs die Oberhand über die demokratischen, freiheitlichen Aspirationen der Burschenschaften. Nicht nur die Heiligsprechung der Freiheitskriege und ihrer Helden haben Teil an der Konstruktion eines preußisch-deutschen Mythos, das »deutsche Buch« feiert auch andere Taten, Personen und Orte. Ab 1840 wird der Rhein zu einem gewichtigen Symbol des Deutschtums, Die Wacht am Rhein erhält beinahe den Status einer Nationalhymne. Trotz des Nibelungenlieds, das die Nationalphilologie und -mythologie zu nähren beginnt, bleibt die Donau davon ausgeschlossen. (Im Gegenteil  : Sie wird zum Identitätsfaktor für Österreich.) Der »Donau-Walzer« ist auf seine Weise eine geheime Nationalhymne, und die »Österreich-Idee« (z. B. Hofmannsthals) folgt gleichsam dem Lauf der Donau nach Südosten. Der emblematische Wert der Wacht am Rhein für die Geister, die Österreich verneinten, wird noch von Joseph Roth in seinem Roman Die Kapuzinergruft (1938) hervorgehoben  : Der Graf Chojnicki, der Verteidiger der »österreichischen Idee«, stellt fest, dass die Slowenen, Polen, Ruthenen, die Ju81

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den, die bosnischen Muslims und die Kroaten das »Gott erhalte« singen, während die alldeutschen Studenten (aus Böhmen, Mähren, Oberösterreich und der Steiermark) die Wacht am Rhein anstimmen. Nach Roth wird Österreich an diesem Zeichen der »Nibelungentreue« zugrunde gehen. Das Jahr der Reichsgründung 1870 entfesselt eine Fülle von Gesängen auf Bismarck und Wilhelm I. Sogar die berühmte »Emser-Depesche« hat das Recht auf ein antifranzösisches Lied, Ems 1870, besonders brutaler Art  : »Haut ihm, dass die Lappen fliegen«, das auf die schlimmsten kriegerischen Exzesse der Dichter von 1914 vorausweist. Doch der signifikanteste Text ist die Kontrafaktur von Arndts Der Freiheit Schlachtruf (1812). Der erste Vers, »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte«, verwandelt sich im Bismarcklied zu »Der Gott, der Bismarck werden ließ, hat’s gut mit uns gemeinet«. Im Kommersbuch steht die Kontrafaktur sogar vor dem Original  ! Bismarck erscheint als eine besondere Schöpfung Gottes, beauftragt mit der Mission, »Alldeutschland« zu schaffen. Die berühmten Worte Bismarcks »Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt« und »Eisen und Blut« werden wörtlich zitiert. In der Optik unseres Essays ist eine Stelle besonders aufschlussreich. Sie bedarf allerdings einer Entzifferung  : »Als er den wilden Tanz begann zum Donner der Kanonen, da hub ein großes Würfeln an um Zepter und um Kronen. Und als der Sieg gewonnen war und Hass gewandt in Liebe, bot sich ein neidscher Nachbar dar und wollte deutsche Hiebe.« Eine seltsame Periphrase für die Schlacht bei Königgrätz, die Versöhnung mit Österreich und den Krieg gegen Napoleon III. 1870. Doch nicht nur »Recken« wie Bismarck bevölkern die Anthologie, es gibt immer wieder ad hoc fabrizierte Kontrafakturen auf bekannte Melodien, man kann sogar die Skizze eines Gedächtniskalenders herauslesen. Viele Texte tragen ein Datum ohne Jahreszahl, z. B. Beim Feuer am 18. Oktober, den Tag der »Völkerschlacht« von 1813. Eines dieser Gedichte, verfasst von Ludwig Uhland, dem zukünftigen Abgeordneten zum Frankfurter Parlament 1848, trägt den Titel Am 18. Oktober 1816 und klagt schon 1816 darüber, dass der Sieg der Freiheit über den Tyrannen Napoleon nicht die republikanische Freiheit innerhalb des Deutschen Bundes nach sich gezogen habe. Damit wird die Politik Metternichs angegriffen, die jede nationalistische Regung bekämpfte, die von den Burschenschaften und Turnvereinen ausging. Ein anderes großes Datum feiert Zum 18. Juni, den Tag der Schlacht von Waterloo 1815, das »Schlachtfeld des Herrn, wo zum Gericht er gekommen«. In Zur Feier des 18. Juni wird der Tag zum »vaterländischen Freudentag«. Dann kommt das triumphalste Datum, der 2. September, der Tag der Schlacht von Sedan 1870. 82

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Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. In allen ist die Rede von den Eigenschaften des wahren Deutschtums  : kriegerischer Mut, Treue, Reinheit (nach Tacitus’ Germania). Doch das Adjektiv »deutsch« ist sogar auf Wald und Bäume anwendbar, besonders auf die Eiche, die zu einem wahren Kultbaum gemacht wird. Die Eiche sollte im Laufe des Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur spielen. Seit 1859, Schillers 100. Geburtstag, pflanzte man überall in Deutschland und Österreich »Schillereichen«. Nach 1871 treten an ihre Stelle Kohorten von »Bismarckeichen«. Selbst in kleinen Dörfern in Öster­reich wuchsen diese Mini-Erinnerungsorte des Deutschnationalismus. Seit 1817, dem Reformationsfest auf der Wartburg, feiern die Burschenschaften auf die Melodie der preußischen Hymne (die mit der englischen identisch war) Deutschland als Turnerstaat. Die Devise dieses neuen »deutschen Rittertums« aus »Hermanns Geschlecht« heißt  : »Gott, Freiheit, Vaterland, altdeutsche Treu.« Gott und Nation sind untrennbar für die Turnvereine, die der »Turnvater Jahn« ins Leben gerufen hat und die wie die Burschenschaften sich rasch in Deutschland und Österreich ausbreiten sollten. Merkwürdigerweise übergeht das Kommersbuch das Jahr 1848 mit Schweigen. Anders gesagt  : Das Werk Bismarcks überschattet alle ursprünglichen Forderungen nach politischer Freiheit. Den Deutschen und ganz besonders den »Deutschen in Deutschösterreich« bleibt die Aufgabe, die germanische Reinheit gegen alles Fremde, das Franzosentum im Westen, das Slawentum im ­Osten zu verteidigen. Österreich ist in diesem »deutschen Buch« ausschließlich in dieser Perspektive gegenwärtig. Man begreift die österreichische Schizophrenie in der Frage nach der Identität besser, wenn man sich vor Augen hält, dass die akademischen Eliten, selbst die katholischen Studentenverbindungen, das Allgemeine Deutsche Kommersbuch als musikalisch-poetische Grundlage ihrer Rituale benützten. Erst 1952 veröffentlichte der österreichische Kartellverband ein »Österreichisches Kommersbuch« unter dem Titel Gaudeamus. »Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus  !« ist die lateinische Studentenhymne, in deren Melodie die Akademische Festouvertüre von Brahms mündet. Dieses »Gaudeamus« schmückte übrigens den mit Nägeln beschlagenen Umschlagdeckel des »deutschen Buches«. 3.3 Walhalla gegen Rom Mein Exemplar der 99. Auflage dieses Buches liefert noch a­ ndere Informationen, deren Bedeutung für die Diskussion um die österreichische Identität unabweisbar ist. Sein früherer Besitzer hat auf die Innenseite des Um83

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schlags eine Reihe von Marken geklebt, die damals von den diversen deutschnationalen Vereinen verkauft wurden, um ihre Tätigkeiten zu finanzieren, deren sichtbarste die Unterstützung der deutschen Schulen in gemischtsprachigen Grenzgebieten (Böhmen, Mähren, Südsteiermark) war. Es finden sich drei Marken des »Deutschen Schulvereins«, eine für Windisch-Feistritz, Untersteier, eine für Budweis, Böhmen, schließlich eine mit dem Bildnis der mythologischen Figur des »Getreuen Eckart«, der zwei deutsche Kinder beschützt. (Eines der Periodika des Schulvereins hieß Der getreue Eckart.) Noch heute erscheinen, herausgegeben von der »Österreichischen Landsmannschaft«, einer Nachfolgeorganisation des Deutschen Schulvereins, die Monatsschrift Eckart und die Reihe Eckart-Schriften, deren Devisen lauten »Soweit die deutsche Zunge reicht« (Zitat aus Arndts Des Deutschen Vaterland von 1813) und »Gegen den Zeitgeist«. Ziel des Vereins ist es, die echte deutsche Kultur in Österreich zu pflegen. Zwei Marken stammen vom »Bund der Deutschen in Böhmen«, eine weitere vom »Deutschvölkischen Wehrschatz für Südmähren«. Während die Marken des Schulvereins nur ein Bild der betreffenden Orte wiedergeben, bedienen sich die böhmischen und mährischen Alldeutschen eines Motivs, das im Kommersbuch noch eine völlig untergeordnete Rolle gespielt hatte. Nur das Lied Teuts Söhne, ein Trinklied, in dem der Sieg Hermanns über die Römer auf die Überlegenheit des germanischen Biers (»aus Steinkrügen«) über den römischen Wein (»aus goldenen Pokalen«) zurückgeführt wird, sieht in den Cheruskern die Söhne des germanischen Phantasiegottes Teut, des Vaters der Teutonen. Doch der Nationalgott des Geistes von 1813 ist noch der protestantische Gott des Luther’schen Chorals Ein feste Burg ist unser Gott, eine Paraphrase des Psalms 46, die fast den Rang einer Nationalhymne erreichte. Doch am Ende des 19. Jahrhunderts ist, nicht zuletzt unter dem Einfluss der alldeutschen Bewegung von Schönerers und der Wagner’schen Tetralogie, Wotan auferstanden. Neben Marken mit dem Bildnis des bärtigen und gewappneten Gottes klebt ein von der »Alldeutschen Presse« herausgegebene Marke mit dem Konterfei Bismarcks, des neuen Wotan, begleitet vom Ruf »Heil Alldeutschland  !« Eine weitere Marke trägt die Aufschrift »Unverfälschte deutsche Worte für germanische Reform«, den Titel der Zeitschrift der Alldeutschen Schönerers. Sie zeigt einen Siegfried im Strahlenkranz, der auf weißem Ross in den Himmel reitet. Wie Hitler ist der Besitzer des Buches sichtlich unter den Charme Schönerers geraten. Dafür zeugen zwei antiklerikale Marken mit der Abkürzung LvR (»Los von Rom  !«). Der Klerus, ein Jesuit und ein fetter Prälat, beide schwarz gekleidet, sitzen gekrümmt auf dem Boden, während ein deutscher Jüngling der Sonne des Heils entgegen 84

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eine Treppe emporsteigt. (Die Alldeutschen warfen der katholischen Kirche vor allem vor, durch ihre slawischen Priester die Entgermanisierung Österreichs zu fördern.) Ein Bild wie dieses illustriert den Prozess der Paganisierung, für den die Einführung eines Sonnen-Kultes (»Jul-Fest«) symptomatisch war, durch den Weihnachten und das Johannis-Fest am 21. Juni ersetzt werden sollten. (In meinem Dorf gab es in meiner Kindheit noch Jul-Feiern.) Diese Radikalisierung des deutschen Nationalismus zum Germanenkult spiegelte sich auch den Versuchen, den römisch-katholischen Kalender in einen germanischen zu verwandeln. Unter den von den nationalistischen Verbänden mehr oder weniger realisierten Vorschlägen, die christliche Zeitrechnung durch ein anderes Jahr Null zu ersetzen, tauchte die Idee auf, das Jahr 113 vor Christus zu wählen, in dem zum ersten Mal germanische Stämme (die Zimbern und Teutonen) in der Schlacht von Noreia (Steiermark) eine römische Armee besiegt hatten. Seriöser und relativ erfolgreich war die Wahl germanischer Monatsnamen, um die römische Tradition auszulöschen. In diesem Punkt ahmten die Alldeutschen die sonst verhassten französischen Revolutionäre nach. Für die Wochentage hatten sich die germanischen Ersatzgötter bereits durchgesetzt  : Tyr statt Mars, Donar/ Thor statt Jupiter, Freyja statt Venus, und die Sonne hatte sich an die Stelle des »Herrn« gesetzt. Erstaunlich ist hier, dass die katholische Kirche außer für den »Tag des Herrn« wie bei den Monatsnamen nichts unternommen hat, um die römischen Götter durch Heilige zu ersetzen. Doch die germanische Nomenklatur für die Monate hat sich, außer in Vereinskalendern, kaum durchgesetzt, nicht einmal im Dritten Reich. Sie sind aber bis heute ein »Erkennungszeichen«  : So benützt die neonazistische Web-Site »Unglaublichkeiten« nicht nur »Nebelung« für November, sie hat auch für ein neues Jahr Null optiert, 1889, Hitlers Geburtsjahr. Der »Bund der Deutschen in Böhmen«12 hat eine Liste von Gedächtnisorten und -daten aufgestellt, die jeder Deutsche zu kennen habe  : Dazu gehören die Farben Schwarz-Rot-Gold, der Kaiser Joseph II  ; Die Wacht am Rhein, Deutschland, Deutschland über alles, Turnvater Jahn, Arndts Des Deutschen Vaterland. Die zu feiernden Daten sind der 18. Jänner (1871), der Tag der Reichsgründung, der 1. April (Bismarcks Geburtstag), der 10. November und der 9. Mai (Schillers Geburts- und Todestag, der 1. September (Sedan), der 16. Oktober (1813) (die Völkerschlacht), schließlich der 21. Juni (Sommersonnenwende, gefeiert mit den Worten »Sonnenwende, Sonnenwende, Reicht Germanen euch die Hände  !«). Sieht man von Joseph II. ab, so kennen die Deutschen aus Böhmen, die Untertanen Franz Josephs I., keinen einzigen Bezug auf Symbole der österreichischen Identität. Selbst die Gegenwart Josephs II. verdankt 85

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sich einem historischen Missverständnis. Seine Absicht, die deutsche Sprache (die meistgesprochene) als Verwaltungssprache eines zentralisierten Staates einzuführen und damit die Staatsmaschine zu rationalisieren, wurde umgedeutet zum Versuch, die slawischen Nationalitäten zu germanisieren. Man hat ihm sogar die Idee zugeschrieben, eine slawische Sprache zu wählen, worauf er aufgrund der Vielfalt slawischer Sprachen in den Erbländern verzichtete. Österreich kommt natürlich im Nibelungenlied vor, das aber nicht deswegen, sondern der »Nibelungentreue« wegen in der Liste stand. In einer Zeitschrift der Deutschen aus Mähren heißt es  : »Deutschland und Österreich in Nibelungentreue vereint  ! […] Die Habsburg und Hohenzollern Schwert und Brünne tauschend wie einst am Heunenstrom Rüdiger und Giselher  !«13 (Der Österreicher Rüdiger, ein Vasall des Hunnenkönigs Etzel, verspricht seine Tochter dem Burgunderfürsten Giselher  : Hier ist seit dem Mittelalter das Stereotyp am Werk, das Österreich zur Braut eines deutschen Helden bestimmt). Und die schöne, blaue Donau wird gar zum Hunnenstrom. 3.4 Wagner- und Bismarckkult Alle diese Materialien aus dem Kommersbuch und Veröffentlichungen alldeutscher Vereine zum Schutz von Kultur und Sprache finden die Bestätigung ihrer außerordentlichen Wirksamkeit in der Autobiographie eines der einflussreichsten österreichischen Intellektuellen der Epoche. In seinem Selbstbildnis von 1923 hat Hermann Bahr (1863–1934) eine detaillierte Schilderung der Benutzung dieser Symbole im alltäglichen Leben der studentischen Jugend Österreichs geliefert. Der in Linz als Sohn eines Provinzhonoratioren, eines treuen Staatsdieners josephinischer Gesinnung, geborene Bahr hat diese Autobiographie nach seiner Rückkehr zum Katholizismus und damit zu einer pro-österreichischen Haltung während des Ersten Weltkrieges geschrieben. (Siehe dazu unten das Kapitel über den Ersten Weltkrieg.) Zwischen 1882 und 1914 war er der Reihe nach antisemitischer Alldeutscher, Sozialist, europäischer Kosmopolit gewesen, um 1914/1915 zu einem wahnhaften deutschen Ultranationalismus zurückzukehren. Schon im Gymnasium hatte man ihm die Überzeugung beigebracht, dass Österreich-Ungarn ein rückständiger, ja seniler Staat sei und dass Zukunft und Fortschritt bei den Siegern von 1866 zu suchen seien. Seine Studentenjahre an den Universitäten Wien, Graz, Czernowitz, Berlin sind vom Geist der Burschenschaften bestimmt gewesen. Und im Gegensatz zu ihm, der sich zu einem wahren ideologischen und ästhetischen Chamäleon wandelte, ist der Großteil seiner Studienkameraden dem Geist der Burschen86

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schaften treu geblieben und hat nie aufgehört, die österreichische Identität herabzuwürdigen und zu leugnen. Obwohl er in Wien im Kreis seiner Familie, zu der auch ein jüdischer Onkel zählte, verkehrte, fühlte er sich gesellschaftlich isoliert. Diese Einsamkeit der Studenten aus den diversen Provinzen der Monarchie ist in seinen Augen einer der Hauptgründe für die Entstehung von Vereinen, die die Studenten nach ihrer geographischen Herkunft (Schlesier, Böhmen, Italiener, Slawen) oder ihren politischen und religiösen Überzeugungen gruppierten. Diese Isoliertheit mitten in der opulenten Metropole sei der Ursprung der verschiedenen Formen des Irredentismus gewesen, nicht zuletzt des Widerstands der Deutschen in Österreich gegen ihren eigenen Staat. Bahr wurde zunächst von einem patriotischen »schwarz-gelben« Verein angeworben, er wurde sich aber rasch bewusst, dass selbst die österreichischen Patrioten nicht mehr wirklich ans Überleben ihres Reiches glaubten und zur schizophrenen Haltung der Angehörigkeit zu »zwei Vaterländern« (Bahr 1, 126) neigten. Er entschied sich also schnell für das »junge« Lager, das entschlossen war, ein »großes deutsches Vaterland« (Bahr 1, 126) aufzubauen. Er weiß, dass diese Entscheidung einen »Verrat« an Österreich bedeutet, doch dieser Verrat verlangt nicht den geringsten Mut, er ist regelrecht abgewertet durch die Schlappheit des Staates nach dem bekannten Wort Victor Adlers, Österreich repräsentiere einen »Absolutismus gemildert durch Schlamperei«. (Die Formel war auch auf den Klerikofaschismus von 1934–38 anwendbar.) Zwischen 1815 und 1848 bezahlte man für diesen Verrat noch teuer mit Kerker oder Exil. 1883 leben die Verräter an Österreich unter der Sonne Bismarcks, des Bundesgenossen, »dieser gewaltigen, schier alles Menschenmaß überragender Erscheinung«, während bei den österreichischen Patrioten »keinerlei Glanz wahrzunehmen war« (Bahr 1, 126). Bahrs Vater hasste Bismarck, aber 1870 beteiligte er sich an einem Fackelzug des deutschen Turnvereins von Linz, dessen Obmann er war, um den Sieg von Sedan zu feiern. Welches Bild der Zweideutigkeit des österreichischen Bewusstseins  ! Der Student Bahr wählte also das ideologische Universum der Burschenschaften, und damit den sich radikalisierenden Antisemitismus in seiner rassistischen Ausprägung. Er provoziert seinen Onkel, indem er ihm die Marken zeigt, die er in den öffentlichen Bedürfnisanstalten im Zentrum von Wien aufzukleben pflegte. Auf ihnen standen die Verse  : »Was der Jude glaubt, ist einerlei,/in der Rasse liegt die Schweinerei  !« (Bahr 1, 119) Der Bismarck-Idolatrie gesellt sich eine grenzenlose Bewunderung für Richard Wagner. Bismarcks Worte hatten in seinen Ohren den »erderschütternden Klang«, »wie wenn Wagner den Siegfried sein Schwert schmieden lässt« 87

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

(Bahr 1, 127). Schon 1863 hatte Friedrich Hebbel nach einem Wagner-Konzert in Wien festgehalten, dass Wagners Anhänger den »Walküren-Ritt« als eine »Musik von Blut und Eisen, die Händel und Gluck, Mozart und Beethoven weit hinter sich lasse« (Hebbel 2, Aus Wien und Österreich I, 144) gefeiert haben. (Bismarcks Rede über »Eisen und Blut«, die bewusst an die vaterländischen Gesänge von 1813 erinnerte, war 1862 gehalten worden.) »Sedan, Bismarck, Richard Wagner hatten sie da draußen« (Bahr 1, 127) (in Deutschland)  ; in Österreich bleibt noch die Erinnerung an Joseph II., auf dessen Herrschaft »tiefe Nacht« (Bahr 1, 127) folgte, ansonsten herrscht der laue Liberalismus eines »Bürgerministeriums«. Eine einzige Figur macht die Ausnahme von der Regel  : Georg Ritter von Schönerer, »ein ganzer Kerl« (Bahr 1, 128) wie Bismarck. »Aber der war das Gegenteil eines Patrioten, der war bei den anderen […] gegen Österreich« (Bahr 1, 128). Als Student wechselt Bahr rasch von der klassischen Philologie zum Jusstudium, aber sein eigentliches Interesse galt im Gegensatz zu den sterilen akademischen Disziplinen den kulturellen und philosophischen Ereignissen der Zeit, ganz besonders der Welt des Theaters. Er besuchte regelmäßig die Veranstaltungen der Burschenschaft »Albia«, ohne ihr als Mitglied beizutreten, denn er wollte die Gefühle seines Vaters schonen. Die 1870 gegründete »Albia« (die Elbe) gehörte gemeinsam mit der »Teutonia« (Prag, heute Würzburg) und der »Arminia« (Graz) zum »schwarz-rot-goldenen« Kartell. Noch heute proklamiert sie im Internet die Zugehörigkeit Österreichs zum »deutschen Kulturkreis«. (Es gibt auch eine Gymnasiasten-Verbindung namens »Albia«, mit Sitz in Bad Ischl, deren bekanntestes Mitglied Jörg Haider hieß.) Durch Zufall wurde Bahr bestimmt, im Jahre 1883 die feierliche Rede beim Trauerkommers anlässlich des Todes von Richard Wagner zu halten. Im studentischen Bewusstsein dieser Zeit hatte Wagner Schiller als symbolische Verkörperung des deutschen Wesens abgelöst. »Bismarck und Wagner waren die Zeichen der deutschen Macht über die Welt« (Bahr 1, 139). Bahr war zutiefst von Wagners Opern ergriffen, ganz jung schon von Tannhäuser, dann von der Walküre und Parsifal. Er heiratete übrigens Anna Mildenburg, eine der größten Wagner-Interpretinnen der Zeit, hochberühmt als Isolde. Die Verherrlichung Wagners geht bei Bahr einher mit einer demonstrativen Verachtung für das Wiener Burgtheater und seine als überaltert kritisierte Tradition. Mit dem Komponisten Hugo Wolf teilt Bahr die »Wut auf Brahms« (Bahr 1, 153), der von der führenden Wiener Musikkritik (Hanslick) als Gegengift gegen die »Zukunftsmusik« geschätzt wurde. »Jeder junge Mensch war damals Wagnerianer. Er war es, bevor er noch einen einzigen Takt seiner Musik gehört hatte« (Bahr 1, 139). Denn »Wagnerianer 88

Alldeutsche symbolische Waffen

bildeten damals sozusagen eine Nation« (Bahr 1, 153), zu der zwei Jahrzehnte später Adolf Hitler gehören sollte. Bahr kultiviert das geläufige Stereotyp vom jugendlichen Deutschland und dem greisenhaften Österreich, gebückt unter dem Gewicht der Traditionen und Erinnerungen einer abgelaufenen Zeit. Ein anderes zum Teil kontradiktorisches, aber wirksames Klischee war der Vergleich zwischen dem männlichen Deutschland (»ein ganzer Kerl«) und dem weiblichen Österreich, das als Braut, die man sich schwerlich als Greisin vorstellen kann, ihren Bräutigam und Herrn erwartete. Bahr erinnerte sich an eine Linzer Spielkameradin, die in der ersten Aufführung des Parsifal, die er gesehen hatte, ein »Blumenmädchen« gesungen hatte  : »ich hatte seitdem kaum mehr den Mut, mit ihr zu sprechen, sie war geweiht« (Bahr 1, 140). Eine Aufführung der Walküre in der Hofoper wirkte so auf ihn  : »Wochenlang blieb ich von dieser Seligkeit betäubt.« In dieser exaltierten Stimmung breitete er seine Gedenkrede zu Wagners Tod vor. In vollem »Wichs« der »Albia« trug er in den Sophien-Sälen beinahe in Trance eine entflammte »Improvisation« vor 3000 (!) Personen vor. Die aus Wagners Schriften entnommenen Zitate sind direkt auf die Lage in Österreich anwendbar, sie sind gegen die Habsburger Monarchie gerichtet und senden Zeichen »jenseits der schwarz-gelben Grenzen« (Bahr 1, 143) aus. Im Rückblick wertet Bahr seine an Bismarck-Deutschland gerichtete Beschwörung als »billige Symbolik« (Bahr 1, 143)  : Er hatte sich dazu verstiegen, Deutschland »möge sich doch endlich erbarmen und der schwer büßenden Kundry nicht länger vergessen, die jenseits der Grenzen noch immer sehnsüchtig des Erlösers harrt« (Bahr 1, 143). (Wie manipulierbar die »billige Symbolik« war, zeigte sich zwanzig Jahre später bei Otto Weininger, der dieselbe Kundry als bösartige Verkörperung des Weiblichen und Jüdischen verurteilte.) Bahrs Rede wird vom studentischen Publikum bejubelt, das die Würdigung Wagners mit dem Absingen Der Wacht am Rhein beantwortet. In diesem Moment greift die Polizei ein und versucht, die Versammlung aufzulösen. Im Publikum befand sich auch von Schönerer, dessen wütende Reaktion von Bahr folgendermaßen beschrieben wird  : »Schönerer war’s, einen Schläger schwingend, Widerstand gegen die ›Polypen‹ gebietend, schäumend vor Zorn, elementar in seiner Wildheit  : der Anblick seiner entfesselten Wut ist mir unvergesslich geblieben bis auf den heutigen Tag und wenn ich von einem gotischen Menschen reden höre, taucht immer wieder dieser Ritter Georg in geballter Flamme vor mir empor« (Bahr 1, 143). (Unter seiner germanisierten Form Jörg (dem Vornamen eines berühmten Lanzknechts) war der christliche heilige Georg zu einem Äquivalent des germanischen Drachentöters Siegfried geworden.) Das oft alkoholisierte Ungestüm des neuen Ritters Jörg, 89

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

der öffentlich Wilhelm I. »unseren Kaiser« nannte und sich nicht scheute, seine Gegner tätlich anzugreifen, hat schließlich seinen Sturz bewirkt  : Gefängnis und Verlust seiner bürgerlichen Rechte und aller politischen Mandate. Das Nachspiel zu diesem Wagner-Abend ist noch kennzeichnender für den Zustand, in dem sich die staatliche österreichische Autorität gegenüber der alldeutschen Woge befand. Bahr wurde vor den akademischen Senat der Universität zitiert und vom Rektor verhört. Dieser war ein Spezialist für Kirchenrecht, ein aus Norddeutschland stammender Katholik, angeekelt vom liberalen Laisser-aller seiner Kollegen gegenüber den verbalen Provokationen der Studenten. Bahr erwartete eine Anklage wegen Hochverrats, und er behauptet, er hätte liebend gerne offen erklärt, dass es für ihn moralische Pflicht sei, den Staat der Nation zu opfern, dabei wohl anerkennend, dass kein Staat auf der Welt eine solche Haltung dulden könne. Seltsamerweise hat sich aber dieses Verhör auf der symbolischen Ebene vollzogen. Man warf Bahr vor, eine Kornblume im Knopfloch getragen zu haben und nicht gleichzeitig ein schwarz-gelbes Abzeichen oder eine weiße Nelke. Bahr antwortet, dass »die Kornblume doch die deutsche Treue symbolisiert« (Bahr 1, 144). Warum wurde Die Wacht am Rhein gesungen und nicht die österreichische »Volkshymne«  ? Bahrs Antworten sind tautologisch  : weil sie von Tausenden angestimmt wurde bzw. eben nicht angestimmt wurde. Schließlich möchte der Rektor das genaue Zitat über Kundry hören. Bahr reduziert es sinngemäß darauf auf, »dass Kundry sehnsüchtig des Erlösers harrt, was nicht zu leugnen ist« (Bahr 1, 145). Er hätte statt dieser »albernen Fragen« gerne mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt  : »Ja, meine Herren, ich bin ein Hochverräter, wir sind’s alle, wir wollen deutsch sein  !« (Bahr 1, 145). Obwohl die liberalen Professoren des Senats sich anscheinend über Bahrs Frechheit amüsierten, war das Urteil eindeutig  : Relegation auf Lebenszeit von der Universität Wien, was ihn über Nacht zum »populärsten Studenten Wiens« (Bahr 1, 146) machte. Der Abschied Bahrs, der von Wien nach Graz ging, wurde mit einer Sauferei gefeiert, die in eine regelrechte Straßenschlacht mit der Polizei mündete. Betrunken und wutentbrannt hat Bahr versucht, mit dem Säbel auf einen Polizisten loszuschlagen, als ihn ein Freund aus dem Gewühl zog und in Sicherheit brachte. Dieser Freund war Engelbert Pernerstorfer, zukünftiger Kader der Sozialdemokratie, der seine politische Karriere als »Schriftleiter« von Schönerers Zeitschrift Unverfälschte deutsche Worte begonnen hatte und bis zu seinem Tod ein Verfechter der großdeutschen Ideologie geblieben ist. Die Raufereien mit der Polizei und die ständigen Herausforderungen an die staatliche Autorität hatten zur Folge, dass Bahr auch in Graz persona non grata 90

Alldeutsche symbolische Waffen

und an die Universität von Czernowitz verwiesen wurde. Graz war seit dem 19. Jahrhundert eine der Hauptstädte des Alldeutschtums und des Wagnerkults, von Hitler 1938 zur Würde der »Stadt der Volkserhebung« erhoben, noch nach 1945 eine Festung der Burschenschaften und Sitz der Zeitschrift Die Aula, die das Erbe der Epoche Bahrs hochhält und mit Österreich wenig im Sinn hat. Der Fall Bahr ist nicht individuell, sondern exemplarisch. Seine Wagnerrede hat 3000 Kameraden begeistert. Nach der deutschen im Jahre 1875 gegründeten Universität von Czernowitz inskribierte sich Bahr 1884 an der HumboldtUniversität in Berlin. In Berlin, wo er das Glück genoss, täglich »dieselbe Luft atmen zu dürfen mit Bismarck  !« (Bahr 1, 167), erreichte sein Kult des »eisernen Kanzlers« seinen Gipfelpunkt. Jeder Stein der Stadt scheint ihm »geheiligt«, eine unsagbare Glückseligkeit (wie nach der Walküre) überfällt ihn. Er ist überzeugt, dass Bismarck nach Jahrtausenden einst »als mythische Gestalt gedeutet [werden wird], ein Symbol für das Schweifende maßloser Germanensehnsucht, ein anderer Name für Wotan« (Bahr 1, 167). Mit eigenen Augen diese große Figur der Weltgeschichte gesehen zu haben, die einzige des Jahrhunderts, die es würdig wäre, im Plutarch zu stehen, ist für ihn der glücklichste Moment seiner Jugend gewesen. Er wird auch den alten Kaiser Wilhelm I. schauen, der den Traum der Nation erfüllt hat, und der sich am Fenster des Schlosses gegenüber der Reiterstatue seines großen Vorfahrens Friedrichs II. zeigt. Was bedeutet Wien vor diesem Konzentrat deutscher Macht  ! Diesmal nimmt Bahr sein Studium ernst. Es handelt sich um eine neue Disziplin, die Nationalökonomie, eine Wissenschaft der Tat, eine Wissenschaft der Zukunft, eine Bismarck’sche Wissenschaft. Der Student Bahr beginnt Artikel in Schönerers Verlag »Unverfälschte deutsche Worte« zu veröffentlichen. Zur nationalen Begeisterung gesellt sich eine neue, von Bismarck verkörperte Hoffnung  : die seit 1881 in die Wege geleitete Sozialreform. An der Universität erfährt er wie alle seine Kommilitonen den allgemein herrschenden furor teutonicus. Doch alles führt unausweichlich zu Bismarck. 1885 feiert Berlin seinen 70. Geburtstag, Bahr nimmt am Fackelzug dieses großen »Nationalfeiertags« (Bahr 1, 183) in den Rängen der Burschenschaft »Germania« teil. Der Anblick Bismarcks, »dieses Erzstandbilds«, »dieses dämonischen Junkers« (Bahr 1, 184) versetzt ihn einen Zustand der Erschütterung wie sein erster Besuch in Bayreuth und die erste Begegnung mit seiner Frau als Isolde. Beim Festkommers zu Ehren Bismarcks entlädt sich Bahrs irredentistisches, anti-österreichisches Ressentiment, das großen Beifall findet. Aber Bahr muss auch eine strenge, unerwartete »Korrektur« über sich ergehen lassen, denn sein verehrter Professor der Nationalökonomie Adolf Wagner verteidigt die Ehre des altehrwürdigen 91

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Hauses Habsburg, des treuen Bundesgenossen Deutschlands, und er schließt seine Ermahnung mit den Versen der österreichischen Kaiserhymne. Diese private Lektion hat Bahr nicht davon abgehalten, im Namen der österreichischen Burschenschaften um eine Privataudienz bei Bismarck anzusuchen. Zu seiner großen Enttäuschung wurde er nur von einem Rat des Kanzlers empfangen, der der Anschlusssehnsucht der österreichischen Studenten mit einer Rede antwortete, in der er ihm »die Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit eines mächtigen, gesicherten und schlagbereiten Österreich […] entgegenhielt« (Bahr 1, 185). Bahr traut seinen Ohren nicht, als er im Berliner Machtzentrum einen Diskurs anhören muss, der den Ideen der Wiener liberalen Presse konform ist, die von seinem Idol Schönerer aufs Brutalste bekämpft wurde. Ein preußischer Berater Bismarcks entwickelt Argumente zu Gunsten der Unterschiede, die zwischen der Vielfalt der Österreicher, geformt im jahrhundertelangen Umgang mit anderen Nationalitäten, und dem »großen Teich des allgemeinen Deutschtums« bestehen. Es wäre doch schade, »des Österreichers Eigenheit in ein vages Neudeutsch ausrinnen zu lassen« (Bahr 1, 186). Bahr antwortet, dass ihm sein Nationalbewusstsein verbiete, solche Räsonnements hinzunehmen. Immerhin hält er das Paradox fest, dass er seinen ersten »österreichischen Unterricht« (Bahr 1, 186) in der Berliner Wilhelmstraße, dem Sitz des deutschen Außenministeriums, von einem preußischen Diplomaten im Dienste Bismarcks empfangen habe.

4. VIER PROTAGONISTEN 4.1 Bismarck, der mythische »verfreundete« Nachbar Der überhitzte Enthusiasmus, der bis zur Vergöttlichung gehen kann, wird nicht von allen Österreichern geteilt, vor allem aber nicht von Bismarck selbst, dessen Memoirenbuch Gedanken und Erinnerungen (1898) ein sehr kühles Selbstbildnis liefert. Bismarck erscheint darin als kalt berechnender Homo politicus, dessen erste Sorge keineswegs dem Schicksal der deutschen Nation gilt, sondern dem Machtzuwachs der preußischen Dynastie und der Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichts. Die Kultur, sogar Wagners Musik, lassen ihn gleichgültig. Der Bismarckkult hatte sich in musicis so weit verstiegen, Beethovens Eroica in »Bismarck-Symphonie« umzutaufen. Aber dergleichen kulturpolitischer Firlefanz lässt ihn sichtlich unberührt. Was Österreich angeht, hat er seine ganze Energie eingesetzt, um seinen König und dessen Generäle davon abzuhalten, den Sieg von Königgrätz zu 92

Vier Protagonisten

einer Gebietserweiterung auf Kosten Österreichs zu nützen. Er wollte keine unnötige Demütigung der Habsburger. Er hat vor allem einen raschen Waffenstillstand durchgesetzt, um die preußische Armee daran zu hindern, Wien zu besetzen. Seine Ziele waren eindeutig  : dem Deutschen Bund, dessen Vorsitz seit 1815 Österreich innehatte, ein Ende zu setzen, einen norddeutschen Bund unter Führung Preußens zu schaffen als ersten Schritt zu einer kleindeutschen Einigung Deutschlands unter der Oberhoheit Preußens. Er tat also alles, um sich, wenn schon kein Bündnis, so zumindest die wohlwollende Neutralität des besiegten Österreichs und der süddeutschen Staaten zu sichern. Denn er hielt den Krieg gegen Frankreich für notwendig, um die nord- und süddeutschen Staaten zu einigen. Es lag ihm daran, um jeden Preis eine »Rache für Königgrätz« durch eine französisch-österreichisch-bayrische Koalition zu verhindern. Denn er wusste sehr wohl, dass die öffentliche Meinung Bayerns alles eher als preußenfreundlich war. Seine Rechnung ist 100-prozentig aufgegangen  : 1870 ist Österreich neutral geblieben, und der bayrische König Ludwig II. hat 1871 in Versailles dem preußischen König die deutsche Kaiserkrone nicht im Namen des Volkes, sondern der deutschen Fürsten angeboten. Damit war die Frage der Hegemonie in Deutschland endgültig geregelt, und Österreich verlor seine historische Rolle als Erbe des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Doch Bismarck ging noch einen Schritt weiter  : Ab 1879 schlossen sich unter seiner Ägide das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn in einem »Zweibund« zusammen, ideologisch untermauert durch den fatalen Begriff der »Nibelungentreue«, die wie sein mittelalterliches Modell zu dem Ruin aller Beteiligten führen sollte. Am Beginn seiner Memoiren widmet Bismarck einige Seiten dem exaltierten Nationalismus der Burschenschaften. Im jungen Bismarck wohnten zwei Seelen  : Einerseits war er von den national-republikanischen Erwartungen angezogen, denn als Kind und Jugendlicher stand er unter dem Einfluss der Ideologie des »Turnvaters« Jahn, und als Student stand er den Burschenschaften nahe, die als Ziel »die Pflege des nationalen Gefühls« hatten (B I, 20). Aber stärker als diese Tradition waren in ihm seine »angeborenen monarchistisch-preußischen Gefühle«  : »Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität.« Brutus war ein »Verbrecher« »und Tell ein Rebell und Mörder« (B I, 19). (Für die Burschenschaften war Tell die Verkörperung der deutschen Freiheit, und noch die junge Weimarer Republik sah in ihm eine Galionsfigur.) Doch Bismarck gibt gleich zu, dass seine Ehrfurcht vor der Autorität eine Schwäche zeigt, sobald es sich um die Interessen Preußens handelt. Demgemäß verteidigt er die Haltung des Großen Kurfürsten (Friedrichs I.), der sich den Titel König 93

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

angemaßt hatte, und selbstverständlich die Kriege Friedrichs II. gegen Maria Theresia. Den Mitgliedern der Burschenschaften, mit denen er Kontakt hatte, wirft er einen groben Mangel an Bildung und historischer Kultur vor. Er verurteilt ihre politischen Überzeugungen als »Extravaganz« und bar aller historischen Kenntnisse  : »Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung« (B I, 20). Doch als Student bewahrte er »gleichwohl innerlich« seine »nationalen Empfindungen«, und er war überzeugt, dass die deutsche Einheit nahe bevorstand. Aber das national-republikanische Hambacher-Fest von 1832 und die demokratischen Frankfurter Wirren von 1833 erfüllen ihn mit Ekel und verstärken seine autoritäre und antiliberale Haltung. 1848 weigert er sich, die geringste Infragestellung der königlichen Autorität zu dulden. Das Königreich Preußen und das Deutsche Reich von 1871 zeichnen sich durch einen Geist der Ordnung und der Disziplin, den direkten Erben der preußischen Militärkultur, aus. Die unerhörte politische Stabilität – Bismarck war preußischer Ministerpräsident von 1862–1890, Kanzler des Norddeutschen Bundes von 1867–1871, Reichskanzler von 1871–1890 und während der gesamten Zeit Außenminister – ist ein wesentlicher Zug, durch den sich das preußische Deutschland von Österreich unterschied. Im selben Zeitraum wechselt Österreich ein Dutzend Mal seine Ministerpräsidenten und Außenminister. Die Wiener liberale Presse amüsierte sich über diesen unaufhörlichen Reigen. Mehrmals hat Bismarck mit seiner Demission gedroht, um seine politischen Auffassungen dem König aufzuzwingen, der sein Ohr zu gerne seinen Generälen lieh, wie zum Beispiel 1866. Dem Wunsch des Königs und der Generäle, Österreich, »dem Hauptschuldigen« am Widerstand gegen die preußische Hegemonie, grausam zu bestrafen, antwortete Bismarck  : »Wir hätten nicht eines Richteramts zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben  ; ­Oestreichs Rivalitätskampf gegen uns sei nicht strafbarer als der unsrige gegen Oestreich  ; unsre Aufgabe sei Herstellung oder Anbahnung deutsch-nationaler Einheit unter Leitung des Königs von Preußen« (B II , 65–66). Österreich ist für ihn ein wichtiger »Stein im europäischen Schachbrett« (B II, 64), der nicht erniedrigt und beleidigt werden sollte, um nicht den Weg zu einer künftigen Allianz zu versperren und Österreich davon abzubringen, für Preußen gefährliche Bündnisse zu schließen. Bismarcks Realismus kontrastiert erstaunlich mit dem militärischen und territorialen Appetit des Königs, aber noch mehr mit der alldeutschen Begeisterung der Deutsch-Österreicher für ihren Retter und Erlöser, der bei einem Besuch in Wien triumphal empfangen wurde. Er ist überzeugt von der unersetzbaren Rolle Österreichs in Mittel- und Osteuropa. Er fürchtet die mögliche 94

Vier Protagonisten

Zerstörung der Donaumonarchie, denn  : »Was sollte an die Stelle Europas gesetzt werden, welche der östreichische Staat von Tyrol bis zur Bukowina bisher ausfüllt  ? Neue Bildungen auf dieser Fläche können nur dauernd revolutionärer Natur sein. Deutsch-Oestreich könnten wir weder ganz noch theilweise brauchen, eine Stärkung des preußischen Staates durch Erwerbung von Provinzen wie Oestreichisch-Schlesien und Stücken von Böhmen nicht gewinnen, eine Verschmelzung des deutschen Oestreichs mit Preußen würde nicht erfolgen, Wien als Zubehör von Berlin aus nicht zu regiren sein« (B II, 64–65). Das entspricht dem »Österreich-Unterricht«, den Bahr in Berlin empfangen hat, aber auch der Überzeugung des Tschechen Palacký von 1848, dass Österreich eine europäische Notwendigkeit sei. Bismarck hat vor allem Angst vor dem politischen Vakuum, das durch den Untergang Österreichs entstehen würde. Natürlich kann man hinter dieser Argumentation Bismarcks auch eine kaum verhüllte Verachtung für Österreich und seine Dynastie sehen. Zunächst ist ihm bewusst, dass Österreich leicht und gerne seine Bündnispartner wechselt, also stark zur Treulosigkeit neigt, dem Gegenteil der höchsten deutschen Tugend, der seit Tacitus mythologisierten Treue. Schon 1857 schreibt Bismarck dem preußischen Gesandten in Paris, von Gerlach, dass kein »europäisches Kabinett« mehr Interesse an einer Schwächung Preußens habe als das österreichische. Dieses handle kühler und zynischer als alle anderen und kenne als politische Richtschnur nichts als seine eigenen Interessen und zeichne sich darum durch »Perfidie und Unzuverlässigkeit für Bundesgenossen« (B I, 181) aus. England, Frankreich, Russland und Preußen könnten dafür Zeugnis ablegen. Die Haltung Österreichs gegenüber Preußen sei bestimmt von »Furcht und Misstrauen«, und »das Misstrauen wird ihnen kein Engel ausreden können, solange es noch Landkarten gibt, auf die sie einen Blick werfen können«. Noch schlimmer  : »So unverschämt im Lügen ist doch nur Oestreich«, von ihm kann man keinen Respekt aus »allgemeine(m) Rechtsgefühl« erwarten (B I, 183). Exemplarisch für ihn ist Österreichs »perfides« Verhalten anlässlich des Putsches der preußischen Royalisten in Neuenburg (Neuchâtel) 1856. Durch das Spiel der Erbfolgekriege war Neuenburg 1706 in preußischen Besitz gelangt, ohne seine Quasi-Unabhängigkeit zu verlieren. Seit 1848 war die Bindung an Preußen rein formal, doch der Putsch der Royalisten hätte beinahe zu einem Krieg zwischen Preußen und der Schweiz geführt. Normalerweise hätte Öster­ reich, das den Vorsitz im Deutschen Bund führte, die Interessen Preußens verteidigen müssen. Durch eine Indiskretion Napoleons III. erfuhr Bismarck von Österreichs »Perfidie«, was ihn zur Aussage bewegte, er zöge Napoleon III. Kaiser Franz Joseph I. als Bundesgenossen vor. Mit Russland teile Österreich 95

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

den Nichtrespekt des »Briefgeheimnisses« (B I, 255). Kurz, Bismarck hat nicht das geringste Vertrauen in die österreichische Politik, selbst im Augenblick des Abschlusses des »Zweibundes« 1879 hält er eine Schwenkung Österreichs für denkbar. Im Gegensatz zur Treulosigkeit und der legendären Undankbarkeit des Hauses Habsburg besitze das deutsch-österreichische Volk ein starkes national-germanisches Gefühl. Anlässlich einer Reise nach Österreich konnte Bismarck in Linz und Wien seine ungeheure Popularität ermessen, er ergriff sogar Maßnahmen, um seinen Gastgeber, Kaiser Franz Joseph I., nicht zu kränken. Er erklärte sich dieses überspitzte Nationalbewusstsein durch die Existenz des »slavischen Keils« (die Tschechen in Böhmen), der die »urdeutsche Bevölkerung der österreichischen Stammlande« von ihren »Landsleuten« im Norden trenne (B II, 273). Der Antagonismus zwischen dynastischen Interessen und nationaler Zugehörigkeit sei keine österreichische Besonderheit, denn überall sonst beklagt er den Primat der Treue gegenüber der Dynastie zu Ungunsten der »vis major der Gesammtnationalität« (B I, 322). Er behauptet, dass es ihm glücklicherweise gelungen sei, seinen König davon zu überzeugen, den preußischen Partikularismus den Interessen der Nation unterzuordnen. Im Vokabular Bismarcks findet sich bei der Definition der Nation eine Kuriosität  : Er behandelt die deutschen Stämme als »Nationalitäten« (B I, 321), um die Schwäche des gemeinsamen Nationalbewusstseins zu unterstreichen. Diese Schwäche ist für ihn am preußischen Hof durch die Königin Augusta, eine Weimarer Prinzessin, verkörpert  : »Trotz Goethe, Schiller und allen anderen Größen in den elyseischen Gefilden von Weimar war doch diese geistig hervorragende Residenz nicht frei von dem Alp, der bis zur Gegenwart auf unserem Nationalgefühl gelastet hat  : dass ein Franzose und vollends ein Engländer durch seine Nationalität und Geburt ein vornehmeres Wesen sei als der Deutsche« (B I, 142). In den alldeutschen Milieus Österreichs wurde Bismarck vergöttlicht, doch konnte er auch verteufelt werden. Beim Bau der neugotischen Kirche des Benediktinerklosters Admont, einem wichtigen Ort der Gegenreformation, trugen die Skulpturen der Wasserspeier die Fratzen Bismarcks und Wilhelms I., eine bemerkenswerte Antwort auf den Kulturkampf Bismarcks gegen die katholische Kirche. Die österreichischen Deutsch-Liberalen haben 1870 die Aufhebung des Konkordats erreicht, ihre radikalen Nachfolger bekämpften Kirche und Dynastie. Doch Bismarck, ihr Idol, ihr Wotan redivivus, hat dieses Verhalten ironisch »als parlamentarische Exzesse des deutschen Elements in Österreich« (B II, 98) charakterisiert. Er hielt sie für kontraproduktiv, ja schädlich für die nationale Sache. Sein Misstrauen gegen Österreich, das die Vorsicht und Zurückhaltung in seinen Beziehungen zu Wien erklärt, ist am klarsten in ­einem Brief von 1863 96

Vier Protagonisten

an den preußischen Botschafter in Paris zusammengefasst. Bei der Wahl zwischen zwei Prioritäten, entweder eine Großmacht oder ein Staat des Deutschen Bundes zu sein, gibt es kein Zögern  : »Zuerst Großmacht, dann Bundesstaat. Das hat Oestreich zu unserem Schaden stets als richtig für sich anerkannt, und es wird sich von der Komödie, die es mit seinen deutschen Sympathien spielt, nicht aus seinen europäischen Allianzen, wenn es überhaupt solche hat, herausreißen lassen« (B II, 19). Er zieht daraus den Schluss, dass die »zwanzig Procent Deutsche« für Österreich in der deutschen Frage »kein in letzter Instanz zwingendes Element« darstellen (B II, 19). Der Krieg von 1866 hat diese »Komödie« beendet, die Österreich an der Spitze des Deutschen Bundes gespielt hatte. Auf durch Bismarck gemäßigterer Ebene wiederholt sich der Kampf zwischen Friedrich II. und Maria Theresia, nur gibt es dem »eisernen Kanzler« gegenüber auf österreichischer Seite keinen Rivalen von der symbolischen Dimension der Kaiserin, außer man verwandelt den unglücklichen Kronprinzen Rudolf in die tragische Figur des ohnmächtigen Antipoden, der die Große Mutter um Hilfe anfleht. Denn es war alles eher als Zufall, dass er seinem Vater gegenüber den Geist und Mut der Ahnin beschworen hat. 4.2 Friedrich Naumann (1860–1919) oder Wozu brauchen wir Österreich  ? Der protestantische Pastor und national-liberale Politiker Friedrich Naumann ist vor allem bekannt durch sein mitten im Ersten Weltkrieg erschienenes Buch Mitteleuropa, in dem er die deutschen Kriegsziele in Mittelund Osteuropa definierte. Doch schon am Ende des 19. Jahrhunderts hat er sich sehr genau mit der Lage Österreich-Ungarns auseinandergesetzt, die von vielen Beobachtern im In- und Ausland als unhaltbar angesehen wurde. Nach einem Besuch in Wien hielt Naumann 1899 in Berlin einen Vortrag mit dem Titel Deutschland und Österreich, der 1900 in dem »national-sozialen Wochenblatt« Die Hilfe veröffentlicht wurde. Er gibt sich darin optimistisch und ist der Überzeugung, dass die Donaumonarchie noch mindestens eine Generation stabil bleiben werde. Wie Bismarck plädiert er entschlossen für die Notwendigkeit des österreichischen Staates, des Schutzwalls der deutschen Interessen in Osten und Süd-Osten des Kontinents. Die Grundfrage seiner Rede ist eine »historische Glaubensfrage«, nämlich »ob man an den längeren Fortbestand der österreichisch-ungarischen Gesamtmonarchie glaubt oder nicht« (N, 4). Naumann teilt die allgemeine Überzeugung, dass der österreichische Staat eine historische Anomalie im Konzert der Nationalstaaten darstelle. Auf die Frage »Weshalb be97

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

steht Österreich  ?« gibt es nur eine tautologische Antwort »Weil es da ist  !« (N, 5). Es ist der letzte, aber unersetzliche »Rest weströmischen Zäsarentums« (N, 5), denn sonst würde sich an seiner Stelle ein unkontrollierbares Vakuum bilden. In diesem Punkt geht er mit Bismarck konform. Er prophezeit einen Weltkrieg zwischen Deutschen und Russen, dessen Einsatz das geopolitische Schicksal des österreichischen Territoriums sein würde. Denn  : »Ohne Waffengang lässt sich ein Großstaat nicht aus der Liste der Geschichte streichen« (N, 6). Naumann, sonst ein entschlossener Verteidiger des Deutschnationalismus – seine Partei nennt sich »national-sozial«, eine Art liberales Pendant zur Sozialdemokratie – sieht eine »Angliederung« (N, 5) der deutschsprachigen Gebiete Österreichs an das Deutsche Reich nur im Falle der Zerstörung der Monarchie für notwendig an. Doch sieht er in einem Anschluss eine doppelte Gefahr für die Nation, einerseits durch das Anwachsen slawischer Minderheiten, andererseits die Drohung, Deutschland könne in »katholisch-klerikale Hände geraten« (N, 5). Das Bild, das Naumann von Österreich entwirft, ist äußerst aufschlussreich. Es ist, wie zu erwarten, im Wesentlichen negativ, angefangen bei dem Mangel an nationaler Überzeugung  : »Wien aber ist, wie Jedermann weiß, nicht der Ort des ausgeprägtesten deutschen Nationalismus« (N, 3). Im Mittelpunkt von Naumanns Besorgnissen steht der »Kampf des Deutschtums an der Moldau und Donau« (N, 3). Dieses befindet sich in tiefster »Not«, da es ununterbrochenen Angriffen durch die Slawen ausgesetzt ist. Schon darum muss Österreich-Ungarn erhalten bleiben, denn  : »Indem wir Österreich erhalten, verteidigen wir uns« (N, 8). Das ist genau Bismarcks Überzeugung inklusive des tiefen Misstrauens gegenüber den Habsburgern. Dem »Zweibund« von 1879 mangele es an »Wärme«, denn er sei ein Bund zwischen »Siegern und Besiegten«. »Die Habsburger können den Hohenzollern ihr ›Heraufkommen‹ niemals verzeihen« (N, 9). Für Naumann tragen die Habsburger die Verantwortung, ihre eigentliche historische Mission verraten zu haben, nämlich als Herrenvolk die anderen Nationalitäten zu germanisieren. Doch statt der Germanisierung haben sie die Katholisierung betrieben, in Naumanns Augen das schlimmste Verbrechen gegen die deutsche Nation. Sein Antikatholizismus kann sich durchaus mit dem der radikalsten österreichischen Alldeutschen messen. Er beginnt sogar, das Unmögliche zu träumen  : die Herstellung einer religiösen Einheit Deutschlands im Namen des Protestantismus, also eine Gegen-Gegen-Reformation  : »Die katholische Gegen-Reformation war das Grab des deutschen Geistes an der Donau. Es ist dahin, was hätte sein können und sein sollen  !« (N, 15). Naumann erstellt einen Katalog aller üblen Eigenschaften der schlapp gewordenen »Stammesbrüder«  : »Langsam rostet das Schwert von Prinz Eugen« 98

Vier Protagonisten

(N, 6). Zar Nikolaus wird zustimmend zitiert  : »Wir haben einen Kranken in der Familie« (N, 6). Im schroffsten Gegensatz zum A EIOU konstatiert Naumann  : »Ein Weltreich will sich schlafen legen. Seid still  ! Schaut zu  !« (N, 5). In Österreich wird nicht regiert, »Es wird fortgewurstelt« (N, 16). (Mit diesem Verbum kommt das in deutschen aufgeklärten Augen schlimmste ÖsterreichSymbol ins Spiel, Hanswurst, die Verkörperung der Sorglosigkeit und Verantwortungslosigkeit.) Angesichts des Fehlens einer echten nationalen Autorität ruft Naumann seltsamerweise  : »Hierher gehört ein Napoleon  !« (N, 16), wo man einen Bismarck erwartet. (Das gemahnt beinahe an den antidemokratischen Wirtshauston der Zweiten Republik  : »Einen Hitler brauchatn ma wieder.«) In dieser allgemeinen Dekadenz des Staates erblickt Naumann einen winzigen Hoffnungsschimmer. Er sieht paradoxerweise die Sozialdemokratie »als Trägerin der k. k. Staatseinheit« (N, 19). Während in Deutschland der sozialdemokratische Internationalismus eine Gefahr für die Nation bedeute, trage er in Österreich zur Festigung des multinationalen Staates bei  : »Die Internationalität ist ja staatserhaltend« (N, 20). Naumann ist nicht der einzige, das Oxymoron einer »k. k. Sozialdemokratie« (N, 20) zu gebrauchen, die als einzige Bewegung fähig gewesen sei, das Nationalitätenproblem ernsthaft zu analysieren. Seine Diagnose war richtig und bestätigte sich nach dem Zusammenbruch der Monarchie  : Die Sozialdemokratie war »die natürliche Gegnerin der Kräfte, die dem Deutschtum am gefährlichsten sind  : österreichischer Klerikalismus und Feudalismus  ! Sie ist in hohem Grade Bildungsfaktor für die Masse. Ihre Gedanken sind deutsch gedacht« (N, 21). Nur die Deutschnationalen und Sozialdemokraten empfänden wahre Sympathie für die »Reichsdeutschen«. Am Ende seiner Rede befasst sich Naumann kritisch mit der alldeutschen Bewegung in Österreich, insbesondere mit dem Antiklerikalismus der Los-von­­Rom-Bewegung. Er unterstreicht die Nichtidentität von Staat und ­Nation  : »Österreich ist nicht von Österreichern bewohnt« (N, 22). Wie Friedrich Engels skizziert er eine soziologische Definition des »wahren« Österreichers. Nach ihm ist der Begriff »österreichisch« eigentlich nur auf die »alten Beamtenfamilien« anwendbar. Engels hatte geschrieben  : »[Die Offiziere und Beamten] gehören keiner der mannigfaltigen Nationen an, die unter den Fittichen des Doppeladlers versammelt sind. […] Sie verachten gleichermaßen jedes Individuum, ob Ungar, Pole, Deutscher, Rumäne, Italiener, Kroate, sie haben keine Nationalität, oder vielmehr  : sie allein bilden die wirkliche österreichische Nation.« (Das Hofrattum ist übrigens seit jeher ein Topos der Versuche, die öster­reichische Identität positiv oder negativ zu definieren.) Es ist gerade diese von der Dynastie geförderte Abwesenheit einer nationalen Identität, die den 99

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Radikalismus und die Aggressivität der Alldeutschen erkläre. Ihr »Anschlussbedürfnis« sei Ausdruck eines »hungernden Nationalismus« (N, 23), der sich von zwei Feinden bedroht sähe  : dem Klerus und den Juden. Der virulente Antisemitismus von Schönerers erkläre sich aus der Unsicherheit der nationalen Identität. Selbst wenn Naumann Entschuldigungen für die Exzesse der Alldeutschen – er nennt sie »in Worten vulkanisch  !« (N, 23) – sucht, sieht er in ihrem Antisemitismus, der für ihn »zweitrangig« ist, ein Zeichen der Schwäche, denn eine selbstbewusste Nation habe nichts von einer Assimilierung von »Fremdkörpern« (N, 25) zu fürchten. Im Deutschland Bismarcks sei der politische Antisemitismus ein »Unding«. Von Schönerer begehe einen fundamentalen Irrtum, in den Juden den Grund aller nationalen Übel zu sehen. Naumann rät den Alldeutschen sogar, eine Allianz mit den Juden einzugehen, um den »antideutschen Klerikalismus« (N, 27) zu bekämpfen (eine Allianz, die schon längst bestand, z. B. in der Neuen Freien Presse). Doch zeigt er Verständnis für den Mangel an »Weitherzigkeit« beim Deutschnationalismus der Österreicher  : »Germania in Österreich  : eine Mutter, die ihre verlorenen Kinder sucht« (N, 27). Darum sei sie unfähig, ihr Herz anderen zu öffnen. Die schlimmste Seite des österreichischen Fehlerkatalogs ist der schädlichen Rolle der katholischen Kirche gewidmet, die für die »blutige Geschichte«, das »grauenhafte Werk der Gegenreformation« (N, 28) verantwortlich sei. In Öster­reich sei dadurch der wahre Geist des Volkes getötet worden. Während der sozialdemokratische Internationalismus zum Retter der deutschen Nation in Österreich werden könne, müsse der a-nationale Katholizismus als »Fortsetzung des mittelalterlichen Internationalismus für unsere Tage« (N, 30) aufs Härteste bekämpft werden. Naumann, der von Schönerers Antisemitismus als Zeichen der Schwäche kritisiert, stimmt der Devise »Los von Rom« bedingungslos zu  : »Im Wort ›Los von Rom  !‹ liegt ungeheuer viel vergangene und zukünftige Weltgeschichte« (N, 30). Die katholische Kirche, diese »Slavenkirche« (man hört beinahe Sklavenkirche) wird mit dem slawischen Feind gleichgesetzt. Naumann zitiert zustimmend den Brief eines Alldeutschen  : »Der Kampf Roms gegen die Deutschen ist so alt wie das Papsttum. – Entweder müssen die Deutsch-Österreicher evangelisch werden oder im katholischen Slawismus untergehen« (N, 30). (Es handelt sich hier um einen ständig wiederkehrenden Topos der liberal-deutschnationalen Kritik an der katholischen Kirche.) Wie Bismarck unterstreicht Naumann vor allem die Punkte, in denen sich Österreich grundlegend – meist negativ – von Deutschland unterscheidet. Es sind diese Unterschiede, die die Existenz Österreichs rechtfertigen. Jedenfalls 100

Vier Protagonisten

inspiriert die »Lage der Deutschen in Österreich« dem seiner Überlegenheit bewussten Reichsdeutschen nicht die geringste »Angliederungssehnsucht«. 4.3 Die Tragödie des Kronprinzen Rudolf (1858–1889) Die sechste Strophe der Kaiserhymne besang den Kronprinzen  : »Heil auch Öst’reichs Kaisersohne,/Froher Zukunft Unterpfand,/Seiner Eltern Freud und Wonne,/Rudolf tönt’s im ganzen Land.« »Bis in fernste Zeiten hin« sollte Gott ihn behüten. Durch seinen frühen tragischen Tod ist Rudolf eine politische Hypothese geblieben, doch seine politischen Schriften ermöglichen es, das Profil seiner Projekte für die Zukunft Österreichs zu umreißen. Rudolf ist ein einzigartiges Paradox  : Als Kronprinz opponiert er seinem kaiserlichen Vater über einen Mittelsmann, den liberalen jüdischen Journalisten Moritz Szeps, Herausgeber des Neuen Wiener Tagblatts. Demokratisches Organ. Dank des Anonymats – er signiert seine Artikel »Austriacus« oder »Ein Österreicher« – entwirft er ohne Vorsichtsmaßnahmen seine Vision des künftigen Österreich  : eine groß-österreichische konstitutionelle Monarchie, die allen Nationalitäten die Gleichheit garantiert. Der Großteil von Rudolfs politischen Artikeln wurde nach der Besetzung Bosnien-Herzegowinas unter der Regierungszeit des Grafen Taaffe veröffentlicht. Er ist aggressiv antiklerikal und antifeudal, aber er distanziert sich trotz seiner Sympathien für die verfassungstreue liberale Partei von deren alldeutschen Tendenzen. Man schreibt ihm die Gründung der politischen Zeitschrift Schwarzgelb. Organ für altösterreichische und gesammtstaatliche Ideen im Jahre 1888 zu, die sich durch einen radikal anti-deutschen Ton auszeichnete. Das im Titel evozierte »alte Österreich« ist der legitime Erbe des Heiligen Römischen Reichs. Am 16. Jänner 1889 erschienen in Schwarzgelb Die zehn Gebote des Österreichers, deren Autor wahrscheinlich Rudolf war. Den verschiedenen alldeutschen Credos der Zeit antwortete hier ein unerschütterliches österreichisches Glaubensbekenntnis, dessen wesentliche Gebote lauteten  : Erstes Gebot  : »Du sollst keinen anderen politischen Glauben haben, als den Glauben an das alte, einige und ungetheilte kaiserliche Österreich […], an welches deine Väter und Vorväter geglaubt haben.« Zweites Gebot  : »Du sollst dir keine neuen Götter machen […], sondern mit deinem ganzen Herzen an dem alten Österreich hängen.« Drittes Gebot  : »Du sollst dich vor keinem anderen Kaiser beugen als nur vor deinem Kaiser, vor dem Kaiser von Österreich.« […]

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Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Viertes Gebot  : »Du sollst keinen Götzendienst treiben weder mit Preußen noch mit dem von Preußen beherrschten Deutschland.« Fünftes Gebot  : »Du sollst dich nicht fürchten vor Bismarck oder vor Moltke – beide sind ja bereits müde und schwache Greise.« Sechstes Gebot  : »Du sollst nicht begehren die Unterdrückung einer ­Nation, noch die Herrschaft einer Nation über die andere, denn die vollständige nationale Gleichberechtigung und die absolute Gerechtigkeit gegen alle Nationen bilden die sichere Grundlage der österreichischen Staatsexistenz.« (Rudolf, 230–232) Das neunte Gebot erinnert an die außerordentliche Vergangenheit Österreichs  : »Du sollst nicht vergessen, dass Österreich die größte Monarchie der Welt war, in welcher die Sonne nicht unterging, dass es noch bis auf unsere Tage in Deutschland und Italien regiert hat und dass es von der Vorsehung berufen ist, bis ans Ende aller Welten zu bestehen« (Rudolf, 232). Das mythische A EIOU, das auch der Kaiserhymne eingeschrieben war (»Österreich wird ewig stehn«) soll über die triste und ungewisse Gegenwart hinwegtäuschen. Die Zehn Gebote enden also mit der Aufforderung zum Vertrauen in eine Zukunft, die die Wiederherstellung der alten Größe bringen wird. Diese unzeitgemäße und unrealistische Beschwörung bekommt eine besonders ironische Note, wenn man bedenkt, dass diese Zehn Gebote im Geburtsjahr Adolf Hitlers erschienen sind. Die politischen Reflexionen des Kronprinzen beschränken sich natürlich nicht auf diesen patriotischen Katechismus. Die zentrale politische Frage der Zeit war die »orientalische Frage«, also die Folgen der Besetzung Bosniens durch die Monarchie. Rudolf sieht sie unter der Doppelperspektive der Religion und der Nation. Mit aller Energie widersetzt er sich den Gelüsten des kroatischen katholischen Klerus, die muslimische und orthodoxe Bevölkerung der besetzten Gebiete zu katholisieren. Der katholische Charakter der Monarchie ist für ihn bar jeder Bedeutung. Sein Artikel über Friedrich von Schwarzenberg, den Kardinal-Erzbischof von Prag ist eine antiklerikale und antifeudale Brandschrift. (Man glaubt, ein Echo der Rêveries des jungen Josefs II. mit ihren rousseauistischen Akzenten zu hören). Doch in der Optik der österreichischen Identität ist neben den Zehn Geboten des Österreichers das aufschlussreichste Dokument das 1888 in den Editions Auguste Ghio in Paris unter dem Pseudonym Julius Felix auf Deutsch erschienene Memorandum Österreich-Ungarn und seine Alliancen. Offener Brief an S.M. Kaiser Franz Joseph I., das in Österreich sofort konfisziert wurde. Rudolf beschwört seinen Vater, die unheilbringenden Allianzen aufzulösen, das 102

Vier Protagonisten

heißt den »Zweibund« und den »Dreibund«, und Bündnisse mit Russland und Frankreich zu suchen (womit er Bismarcks Misstrauen gegen die österreichische Bündnistreue bestätigt). In der Tat handelt es sich um eine Attacke gegen Bismarck und die Hohenzollern. Die darin enthaltene Beschwörung Maria Theresias wurde bereits analysiert (siehe oben). Für Rudolf gehört Elsass-Lothringen selbstverständlich legitimerweise zu Frankreich. Damit steht er im Gegensatz zu den beiden musikalischen Zentralsymbolen der Alldeutschen, dem Deutschlandlied und der Wacht am Rhein. Überlegungen dieser Natur wurden 1917 wieder aktuell, als Kaiser Karl I. den verzweifelten Versuch unternahm, den fatalen Pakt mit dem Deutschen Reich aufzulösen, um einen Separatfrieden zu erlangen und damit die Weiterexistenz der Doppelmonarchie zu sichern. Man ermisst den Abgrund, der das kühle Kalkül eines Bismarck oder Naumann von den der Vergangenheit nachtrauernden Träumen Rudolfs trennt. Dennoch werden Rudolfs Überlegungen unzählige Versuche nähren, die österreichische Idee gegenüber der deutschen Realität zu verteidigen. Rudolf war auch der Schirmherr eines großen ethnographischen Werks, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (1885–1902), einer Enzyklopädie in 24 Bänden, die allen Nationalitäten Österreichs gewidmet war und gewöhnlich als Kronprinzenwerk bezeichnet wird. Doch die politischen Überzeugungen Rudolfs hatten angesichts der Haltung seines Vaters nicht die geringste Aussicht auf Verwirklichung. 4.4 Sankt Lueger (1844–1910) Gab es in Österreich jemanden, der es mit der Riesenfigur Bismarck aufnehmen konnte  ? Gewiss nicht der alte Kaiser, immerhin der einzige wahre Garant der staatlichen Einheit, dessen Neigung zum Immobilismus mit dem Alter mehr und mehr zunahm. Unter den vielen Ministerpräsidenten ist keine einzige charismatische Figur. Schließlich ist es der »Kulturkampf« zwischen den National-Liberalen und der christlich-sozialen Bewegung, der eine außergewöhnliche Figur hervortreten lässt, Dr. Karl Lueger, den umstrittenen Bürgermeister von Wien. Über diesen »gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten« (Hitler, 59) schreibt Hitler, der an seinem monumentalen Leichenbegängnis teilgenommen hatte, in Mein Kampf  : »Hätte Dr. Karl Lueger in Deutschland gelebt, würde er in die Reihe der großen Köpfe unseres Volkes gestellt worden ein  ; dass er in diesem unmöglichen Staat wirkte, war das Unglück seines Werkes und seiner selbst« (Hitler, 133). »Der letzte große Deutsche, den das Kolonistenvolk der Ostmark aus seinen Reihen gebar« (Hitler, 74), leidet 103

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bis heute an dem Übermaß an Bewunderung, das ihm Hitler entgegenbrachte. Und man vergisst, dass ihm Hitler »Scheinantisemitismus« vorgeworfen hat, »der fast schlimmer war als überhaupt keiner« (Hitler, 132). Ursprünglich den Liberalen nahestehend erregte er 1870 durch eine Rede anlässlich der Gründung des Akademischen Lesevereins alldeutscher Orientierung ungeheures Aufsehen, denn er wagte es, vor einer studentischen Menge, die völlig den Ideen des deutschen »Hypernationalismus« (Huizinga) ergeben war, die Farben des Deutschen Reichs Schwarz-Weiß-Rot als »Produkt despotischer Willkür« anzugreifen. Er wurde daraufhin daran gehindert, zu Ende zu sprechen, und manu militari aus dem Versammlungssaal entfernt. Die Alldeutschen, mit denen er antiliberale und, vor allem, antisemitische Positionen teilte, haben ihm niemals den Ausdruck »Preußenseuchelei« verziehen, mit dem er den Bismarck-Kult in Österreich lächerlich zu machen suchte. Denn trotz der entschiedenen Parteinahme für die Rechte der Deutschen in Österreich war Lueger zuallererst ein österreichischer Patriot und ein tief überzeugter Advokat der dynastischen Legitimität. Seine liberal-jüdischen Gegner verdächtigten ihn sogar des Hasses gegen Deutschland. Konsequenterweise suchte er die Unterstützung der kleinen Leute aus Böhmen und Mähren in Wien, indem er ihnen Ruhe und Sicherheit angesichts des alldeutschen Antislawismus versprach. Sein berühmtes »Lasst’s mir meine Böhm in Ruh« ist durchaus mit dem Geist des paternalistischen Incipit der kaiserlichen Reden »An meine Völker« vergleichbar. Sein militanter Katholizismus machte aus ihm buchstäblich das schwarze Schaf der liberalen Presse, der Alldeutschen und der Sozial-Demokraten. Er stand dem Thronfolger Franz-Ferdinand nahe und man dachte, dieser würde, an die Macht gelangt, Lueger zu seinem Ministerpräsidenten machen. Sein Triumph in Wien 1895 und der Wahlsieg der Christlich-Sozialen 1907 bei den ersten Reichstagswahlen nach der Einführung des allgemeinen Stimmrechts verlaufen parallel zum Niedergang der liberalen und alldeutschen Parteien, die vom Zensuswahlrecht profitiert hatten. Im Gegensatz zu den Repräsentanten der wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten haben es Lueger und seine Partei verstanden, sich auf die Massen der Kleinbürger, Bauern und jener Arbeiter zu stützen, die der Dynastie und der Kirche treu geblieben waren. So wurde der Bürgermeister von Wien, dessen Ernennung der Kaiser unter dem Druck der der Liberalen in den Medien und in den politisch-ökonomischen Milieus zwei Jahre hinausgezögert hatte, zum besten Verteidiger der Monarchie. A contrario widerlegt Luegers Erfolg die Analyse Naumanns, ganz besonders aber seinen Traum von einer Gegen-Gegen-Reformation in Österreich. Die Christlich-Soziale Partei ist gegründet auf die Treue zum Papst, dessen Enzyklika Rerum novarum von 1891 104

Vier Protagonisten

ihre ideologische Geburtsurkunde darstellt. Die charismatische Figur Luegers leidet seit 1895 an dem Stigma des populistischen Antisemitismus, der ihm zum Wahlsieg verholfen hatte. Und in der Tat konnte sein Kult sehr problematische Formen annehmen. Zwei Flugblätter der Christlich-Sozialen aus dem Jahre 1896 sind vom Katholizismus und Antisemitismus geprägt. Es handelt sich um Kontrafakturen des katholischen Credo und des Vater unser. In ihnen wird der »Herrgott von Wien«, ein geläufiger Spitzname für Lueger, in der Tat als Gottvater behandelt. Das Credo setzt ein mit »Ich glaube an Dr. Lueger, den Schöpfer des christlichen Wiens«, das Vater unser beginnt mit »Vater Lueger, der du wohnst in Wien«. Dieser Vater ist berufen, die Juden und die Liberalen zu verurteilen. Es schließt mit »Erlöse uns von dem Juden-Übel. Amen.« Erst jüngst (2012) hat die Stadt Wien die letzten Konsequenzen aus diesem LuegerErbe gezogen und den Dr.-Karl-Lueger-Ring in Universitätsring umgetauft. Da sich aber Österreich seit jeher durch Mangel an Konsequenz auszeichnet, hat man die anderen Lueger-Gedächtnisorte unangetastet gelassen. (Hitler hatte Lueger »Halbheit« im Antisemitismus vorgeworfen, die Stadt Wien übt Halbheit im Anti-Antisemitismus …) Am selben Ring gibt es weiterhin einen Lueger-Platz mit Statue, und auf dem Zentralfriedhof steht weiterhin eine Lueger-Gedächtniskirche. Der Versuch, eine Identität zwischen Katholizismus und Österreichertum herzustellen, hat immer existiert, aber sein diskriminierender Charakter ist unannehmbar (geworden). Sankt Lueger konnte und kann also nicht die Rolle eines österreichisch-nationalen Emblems spielen, obwohl seine Popularität ungeheuer war  : Er ist der Held von Wiener Volksliedern und Theaterstücken, er figuriert sogar als echter Heiliger auf religiösen Fresken. Doch gerade diese Identifikation von Kirche und Staat machte es unmöglich, aus ihm eine allgemein anerkannte nationale Ikone wie Bismarck zu machen. Dafür wurde er vom kleriko-faschistischen Ständestaat sanktifiziert und 1943 durch den national-sozialistischen Film Wien 1910 glorifiziert. Indem er die deutsche Reichsflagge als Symbol »despotischer Willkür« bezeichnete, hat Lueger den Finger auf eine Wunde der alldeutschen Bewegung gelegt. 1848 noch Motor der demokratischen Revolution hat sie sich mit der deutschen Einigung von oben im Namen der Fürsten arrangiert und Bismarck zu ihrem Idol erhoben, dessen Verachtung des Parlamentarismus und der Parteien legendär war. Anders gesagt, der österreichische und deutsche Liberalismus hat die Idee der Freiheit der Nation aufgeopfert. Die christlich-soziale Partei Luegers und die sozial-demokratische Partei Victor Adlers sind beide Abkömmlinge der »liberalen Linken«, die in der nationalen Frage das zentrale politische Problem sah. Beide kämpfen für die Einführung des allgemeinen 105

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Wahlrechts, also für eine Legitimität, deren Grund die Volkssouveränität ist. Claudio Magris, der Schöpfer des Begriffs »habsburgischer Mythos«, sieht in beiden die Totengräber der Werte des bürgerlichen Liberalismus. Seine Sympathien gelten der Sozialdemokratie, die trotz ihres theoretischen Internationalismus in Triest als staatserhaltende konservative Kraft empfunden wurde, die die schwarz-gelbe Farbe verteidigte. Sie hat in der Tat versucht, ein föderatives System auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller Nationalität im Rahmen der Monarchie zu entwerfen. Darin gleicht sie durchaus der christlichsozialen Bewegung, die glühend die Monarchie verteidigte und bis in ihre letzten Tage eine föderalistische Lösung vertrat. Doch Magris verbirgt nicht seine Verachtung für die »plebejische Anmaßung« und das Verschwinden eines »achtbaren bürgerlichen Stils« bei den Parteigängern Luegers.14 Die politische Macht beider Parteien verdankte sich dem modernen Wahlrecht von 1907. Von 1907 bis in die 1980er Jahre sind die politischen Lager Österreichs relativ stabil geblieben  : Sozialdemokraten und Konservative waren nahezu gleich stark, das deutschnationale liberale Lager war immer in der Minderheit. Bis 1918 koexistierten österreichischer Patriotismus und deutsches Nationalbewusstsein (außer bei den Alldeutschen). Nach dem Verschwinden der dynastischen Bande scheint die nationale Zugehörigkeit in allen Lagern zu triumphieren (außer bei den wenigen Monarchisten). Zur selbständigen Existenz gezwungen schlitterte Österreich in einen verlarvten Bürgerkrieg, der im Grunde eine Wiederholung des Kulturkampfs der Monarchie war und ein allen gemeinsames österreichisches Nationalbewusstsein de facto unmöglich machte. Es auf der katholisch-dynastischen Tradition zu gründen, hätte Liberale und Sozialdemokraten aus der Nation ausgeschlossen. Man war unendlich weit entfernt von dem Lernprozess der Nation nach 1945. Dazu brauchte es die Dialektik einer historischen Tragödie  : Die These Österreich war durch die deutsche Antithese in ihrer national-sozialistischen Gestalt »aufgehoben« worden, doch diese Aufhebung hat als Synthese das neue Österreich der Zweiten Republik hervorgebracht, deren Regierungssystem von Anfang unter dem Zeichen der »großen Koalition« stand, also unter dem Zeichen der Hochzeit der Gegensätze, die sich bis zum Bürgerkrieg bekämpft hatten. Das Österreich, das 1938 aufgehoben wurde, hatte sich einseitig im Geist der katholischen Gegenreform definiert und damit einen guten Teil seiner Söhne und Töchter ausgeschlossen.

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Die politischen Parteien und die nationale Identität (1868–1966)

5. DIE POLITISCHEN PARTEIEN UND DIE NATIONALE IDENTITÄT (1868–1966) Seit der Entstehung der Parteien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war das politische Leben Österreichs von drei ideologischen »Lagern« beherrscht   : dem katholisch-konservativen, dem sozialdemokratischen und dem liberalen deutschnationalen. Keines hegte den geringsten Zweifel an der Zugehörigkeit der Deutschösterreicher zur deutschen Nation, doch abgesehen von den alldeutschen »Exzessen«, verstanden es die Parteien, einen modus vivendi zwischen nationaler Identität und Loyalität gegenüber dem von der Dynastie verkörperten Staat zu finden. Der Kaiser verstand sich ebenfalls auf den Kompromiss  : Obwohl er sich als »deutschen Fürsten« betrachtete, sprach er alle Nationalitäten seines Reiches als »Meine Völker« an. Noch der verzweifelte Versuch des letzten Kaisers, die Einheit der Monarchie zu retten, war ein Manifest »An meine Völker  !« Zu den erstaunlichen Besonderheiten Österreichs im 19. Jahrhundert zählte der Umstand, dass die verschriene Theaterzensur äußerst sensibel auf alle Formen negativer Diskriminierung einer Nationalität reagierte. Die zwei bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des Kaiserreichs, Grillparzer und Stifter, legten den größten Wert auf den multinationalen Status des Reiches, den sie in ihren Werken durch bewusste Rückgriffe auf die slawische und ungarische Geschichte und Mythologie huldigten. Claudio Magris hat dieses Phänomen als »habsburgischen Mythos« beinahe sprichwörtlich gemacht, und man kann in ihm den Ursprung der Zweideutigkeit, wenn nicht Schizophrenie der Österreicher sehen, die zwischen zwei Zugehörigkeiten hin und her gerissen waren. Ein Sonderfall dieser Ambivalenz sind die Juden (siehe 135 ff.), zunächst überzeugte Verteidiger der Assimilation an die deutsche Kulturhegemonie, bevor sie durch den wachsenden Antisemitismus zu Parias gemacht wurden, um im Zionismus oder einem verspäteten österreichischen Patriotismus ihr Heil zu suchen. Der Ausschluss Österreichs aus der deutschen Geschichte nach dem »Bruderkrieg« von 1866 und der Sieg der kleindeutschen Lösung durch die Prokla­mation des Deutschen Reiches von 1871 haben in Österreich einen tiefgehenden Identitätsschock ausgelöst. Man ermisst die Tiefe und Dauer dieser narzisstischen Wunde an dem legendär gewordenen Ausruf »Das ist die Rache für Königgrätz  !«, als es der österreichischen Nationalmannschaft 1978 gelang, die deutsche bei einer Fußballweltmeisterschaft zu schlagen. Nach 1945 ließ der schwarze Humor die Österreicher sagen, Hitler sei die Rache für Königgrätz gewesen. (Der Witz begann übrigens schon zwischen 1933 und 1938 zu zirkulieren.) Der 107

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Briefwechsel der Schriftsteller Anastasius Grün und Ludwig August Frankl ist ein außergewöhnlich aufschlussreiches Dokument über den schizophrenen Zustand der österreichischen Identität, den das Trauma von 1866 hervorgerufen hat. Beide sind Vertreter des deutsch-nationalen Liberalismus der 1848er Revolution, beide können als glühende österreichische Patrioten angesehen werden, für die sich die Zugehörigkeit zur deutschen Nation von selbst verstand. Frankl ist ein Prototyp des auf seine deutsche Kultur stolzen assimilierten Juden. Für beide bedeutet 1866 zuvörderst, »dass wir aus Deutschland hinausgeworfen« worden sind und nun lange Zeit »vom großen Ganzen ausgeschlossen bleiben« werden. Frankl bedauert das laue Verhalten der Wiener vor dieser Katastrophe  : »Ich hatte nie eine gute Meinung von den Wienern. Es ist ein Bastardvolk aus deutscher, slavischer, italienischer und magyarischer Blutkreuzung« (GrünFrankl, 195). Kurz, ein Volk von überzeugungslosen Phäaken. Die Programme der entstehenden Parteien sind logischerweise durch die neue geopolitische Situation markiert, die sich in der Verfassung der österreichischen Seite der k. u. k. Doppelmonarchie von 1867 niedergeschlagen hatte. Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die »allgemeinen Rechte der Staatsbürger«, die noch heute gültig ist, setzt im Artikel 19 fest  : »Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.« Für die gemischtsprachigen Gebiete empfiehlt die Verfassung die Erlernung der zweiten Sprache »ohne Anwendung eines Zwanges«. Dieses ideale Gesetz wird dem Druck der Nationalismen und dem dauernden Nationalitätenkonflikt, in dessen Mittelpunkt der Status der Sprachen steht, nicht wirklich standhalten. Die Deutschösterreicher verlangen sehr rasch die Hegemonie der deutschen Sprache, die sie gerne in den Stand der alleinigen offiziellen Staatsprache erheben möchten. (In gewissem Sinne handelte es sich dabei um eine Rückkehr zum niemals verwirklichten Programm Josephs II., der eine einheitliche zentralisierende (und zivilisierende) Sprache einführen wollte.) Außerdem verlangen sie für den Staat, offiziell »die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« geheißen, den Namen Österreich, ein Wunsch, der sich erst im Ersten Weltkrieg erfüllen sollte. Die Frage des Staatsnamens gemahnt an den ambivalenten Status der Hymne zwischen 1918 und 1938. Nach 1866 überlebte der Name Österreich offiziell nur im »großen Titel« des Kaisers. Für die Deutschnationalen sind die Jahre 1867–1871 ein Alptraum, in dem alle Hoffnungen und Erwartungen, genährt vom Geist des Jahres 1848, sich in 108

Die politischen Parteien und die nationale Identität (1868–1966)

Nichts auflösen. Trotzdem respektiert ihre Partei, durch die sie im ­Parlament vertreten sind, die Verfassung, ja sie nennt sich sogar »Verfassungspartei«. Sie hat den liberalen Katalog der Rechte der Staatsbürger inspiriert. Doch sehr rasch entsteht ein Zwiespalt zwischen »Nationalen« und »Liberalen«. Der erste Entwurf eines politischen Programms der Liberalen datiert von 1868, und er setzt sich als erstes Ziel »Erweckung und Kräftigung des nationalen Geistes in der deutschen Bevölkerung Österreichs« (Parteiprogramme, 179). Die Mittel dafür sind »Erziehung und Bildung«, Traditionspflege, Turnen im Geist des Turnvaters Jahn, also im Geist der napoleonischen Kriege. Oberstes Ziel dieser von Julius Krickl formulierten Grundsätze war jedoch bereits der Anschluss  : »unverwandte Aufrechterhaltung des Zieles endlicher Wiedervereinigung der früher zum Deutschen Bunde gehörig gewesenen Ländergebiete Österreichs mit Deutschland« (Parteiprogramme, 180). Im gegenwärtigen Zustand – Deutschland existiert (noch) nicht – ist »vorläufig engstes Bündnis Österreichs mit dem außerösterreichischen Deutschland, beziehungsweise dem führenden deutschen Staate« (d. h. Preußen) (Parteiprogramme, 180) geboten. Die programmatischen Erklärungen der 1870er Jahre sind alle auf die Verteidigung des Deutschtums gegen die Bedrohung durch eine slawische Offensive konzentriert. Dieser deutsch-nationale Liberalismus wird häufig von Intellektuellen und Politikern jüdischer Herkunft getragen, im Besonderen von der Neuen Freien Presse, deren Chefredakteure »deutsche Juden« aus Böhmen und Mähren waren, die dieser Linie bis zum Ende der Monarchie treu bleiben werden. Doch sehr rasch beginnt der Antisemitismus, dessen Hauptvertreter von Schönerer ist, in die Partei einzudringen. 1879 veröffentlicht Schönerer »Mein Programm«, in dem sich zum ersten Mal der Antisemitismus unverblümt ausspricht. Es geht gegen die »bisherige semitische Herrschaft des Geldes und der Phrase«, sprich der Banken und der Presse, welcher »die Interessen des Grundbesitzes und der produktiven Arbeit« entgegenzustellen seien (Parteiprogramme, 187). Er plädiert auch gegen die Okkupation von Bosnien und Herzegowina, weil dadurch der slawische Anteil an der Bevölkerung vermehrt würde. Im Mittelpunkt steht die Verteidigung des Deutschtums in Österreich, verbunden mit der Forderung nach enger politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Deutschland. Selbstverständlich sind die Begriffe »Nation«, »national« und »Stammesgenossen« für die »Deutschösterreicher« reserviert. Was die Organisation des Staates angeht, verlangen die Deutschnationalen in ihrem Programm von 1882, dass die Gebiete Österreichs, die bis 1866 zum Deutschen Bund gehört hatten, »ein streng einheitlich organisiertes Ganzes bilden« (Parteiprogramme, 199) sollen, anders gesagt einen deutschen Staat 109

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innerhalb der Monarchie. Dem entspricht auch die Forderung nach dem Deutschen als einziger offizieller Staats- und Armeesprache. Im Grunde läuft das Programm auf eine Verwandlung der Doppelmonarchie in eine Personalunion hinaus, in der man liebend gern alle Slawen (Galizien, Bukowina, Dalmatien, Bosnien) den Ungarn überlassen würde. Die Spaltung zwischen den Radikalen, die das Verschwinden der k. u. k. Monarchie herbeisehnen, und den »Lauen«, die an der Existenz eines Großösterreich festhalten, ist noch nicht eingetreten. 1882 ist das Programm der Deutschnationalen noch der gemeinsame Nenner aller deutschsprachigen politischen Bewegungen. Und 1897, in der Krise, die durch die Badeni-Verordnungen über den Sprachgebrauch ausgelöst worden war, stellte sich Luegers Christlich-Soziale Partei auf die Seite der oppositionellen »deutschen Gemeinbürgerschaft« (Parteiprogramme, 208–210). Auch Luegers Partei sieht sich also selbst als eine deutsche Partei und fordert die Aufhebung der Sprachverordnungen, weil diese in ihren Augen den Slawen zu große Rechte einräumten. Was für die deutschnationale Partei eine Selbstverständlichkeit ist – die Nationalitätenfrage –, ist es nicht weniger für die anderen Parteien, die sich zu konstituieren beginnen. Das erste Programm der Linken (1868) verlangt das Recht auf Selbstbestimmung der gleichberechtigten Nationalitäten, richtet sich aber ohne nationale Unterschiede »in verschiedenen Sprachen« an alle Arbeiter Österreichs und sieht sogar ein »Arbeiterverbrüderungsfest« vor (Parteiprogramme, 111). Das Hainburger Programm von 1888/1889, der Geburtsakt der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, besteht auf dem internationalen Charakter der Arbeiterbewegung, verkündigt die Gleichheit der Nationalitäten und bekämpft die nationalen Privilegien genauso wie jene der Geburt und des Besitzes. Damit steht die SDAPÖ in einem eindeutigen Gegensatz zu den Forderungen der Deutschnationalen. Mit der immer brennender werdenden Nationalitätenfrage konfrontiert, hat die Partei 1899 das Brünner »Nationalitätenprogramm« ausgearbeitet, in dem die deutsch-österreichischen und tschechischen Mitglieder der Partei noch dieselbe Linie vertraten. Diesmal opponiert die Sozialdemokratie direkt »jedem bürokratisch -staatlichen Zentralismus« und schlägt die Verwandlung Österreichs in einen »demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat« (Parteiprogramme, 144–145) vor, der sich aus »national abgegrenzten Selbstverwaltungskörpern« zusammensetzt. Die Rechte der Minderheiten werden garantiert, die Idee einer Staatssprache verworfen, da sie ein nationales Privileg darstellen würde. Das Wiener Programm von 1901 spricht noch vom »ganzen Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechts« (Parteiprogramme, 146). Doch seit der Einführung des all110

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gemeinen Wahlrechts 1907, an dessen Zustandekommen die SDAPÖ wesentlich beteiligt war, erliegt sie dem nationalistischen Druck und präsentiert im Reichsrat deutsche, tschechische, italienische und polnische Fraktionen. In der programmatischen Erklärung der »Linken« von 1917 ist offen von einer »deutschen Sozialdemokratie in Österreich « (Parteiprogramme, 151) die Rede, das heißt einer Sozialdemokratie der Deutschösterreicher, als ob der Internationalismus nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Österreichs endgültig gescheitert wäre. Die Parteilinke unter Otto Bauer und Friedrich Adler stellt sich gegen die in der Partei noch dominierenden Strömungen, die »nationalsoziale« Tendenz Pernerstorfers, für die sogar der Begriff »Nationalsozialismus« gebraucht wird, und die sozial-patriotische Tendenz Renners. (Beide Tendenzen finden sich auch in der tschechischen Sozialdemokratie.) Im Namen des »alten« Internationalismus protestiert die Linke gegen den Nationalismus, der die österreichische Sozialdemokratie infiziert habe, aber auch gegen die Anhänger der Aufrechterhaltung des monarchischen Zentralismus, den Renner vertritt. Der immer wahrscheinlicher werdende Ausgang des Krieges führt rasch zu einer Klarstellung durch das »Nationalitätenprogramm der ›Linken‹« vom 20. Jänner 1918. Nach einer harten Kritik am nationalistischen Sündenfall der sozialdemokratischen Parteien Europas, der die internationale Klassensolidarität verraten habe, unterstützt das Programm die unausweichlich gewordenen nationalen Revolutionen und zieht dabei für die deutsche Nation in Österreich einen eindeutigen Schluss  : »Die Geschichte hat das deutsche Volk nicht wie die anderen großen Nationen Europas in einem Staat vereinigt. Sie hat drei Dutzend Dynastien zu Herren Deutschlands gemacht. […] Die bürgerliche Revolution von 1848 hat die Einheit des deutschen Volkes verwirklichen wollen. […] Eine deutsche Republik sollte alle deutschen Stämme zu einem demokratischen Gemeinwesen vereinen.« In der kommenden Revolution wird die von der »deutschen Sozialdemokratie« geführte Arbeiterklasse die nationalen Vorrechte der deutschen Bourgeoisie niederreißen und die »Befreiungsbestrebungen der nichtdeutschen Nationen unterstützen«. Gerade dadurch »bereitet sie die Einheit und Freiheit der deutschen Nation, die Vereinigung aller Deutschen in einem demokratischen deutschen Gemeinwesen vor« (Parteiprogramme, 160–161). Doch die fatale Nationalitätenfrage nimmt sofort eine andere Gestalt an, denn die »deutsche Sozialdemokratie« sieht sich gezwungen, die tschechische und polnische Sozialdemokratie davor zu warnen, sich mit den Interessen der nationalen Bourgeoisien zu identifizieren  : Es geht nämlich um die deutschen Minderheiten Böhmens, Mährens und Schlesiens in den zukünftigen Nationalstaaten. In der politischen Wirklichkeit haben aber 111

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am Ende des Krieges wiederum die »national-sozialen« Strömungen ihren Primat über den Internationalismus behaupten können. In Österreich hat diese Position im November 1918 zur provisorischen Verfassung geführt, die den Anschluss an die deutsche Republik proklamierte. Von der ehemaligen sozialdemokratischen Mini-Internationale ist keine Spur mehr wahrzunehmen. (Da die österreichische Sozialdemokratie nicht nur Programme zur Nationalitätenfrage produziert hat, sondern auch ein reiches Angebot an Theorien, reserviere ich dem Austromarxismus ein eigenes Kapitel.) Die Identität der Anschauungen der Nationalliberalen und der Sozialdemokraten in Sachen der (Wieder)-Vereinigung der Deutschen ist nicht erstaunlich, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass am Programm der National-Liberalen später führende Sozialdemokraten (Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer) aktiv mitgearbeitet haben. Weniger eindeutig liegen die Dinge im dritten Lager, dem katholischen. Es war selbstverständlich, dass der hohe Klerus und die Feudalaristokratie den Status quo verteidigten. Wie aber steht es mit der neuen Massenpartei und ihrem charismatischen Führer Karl Lueger, der am Beginn seiner politischen Karriere ebenfalls den Liberalen nahestand  ? Er hat sich früh von der Preußenidolatrie (»der Preußenseuchelei«) und dem Bismarckkult distanziert. Während Schönerer das Schlagwort »Los von Rom  !« ausgab, stützte sich die neue christlich-soziale Partei ausdrücklich auf die Enzyklika Rerum novarum, die Papst Leo XIII. 1891 promulgiert hatte. Es war die erste »Sozialenzyklika« der katholischen Kirche. In einer ersten Phase versuchte der hohe Klerus, die neue politische Bewegung im Vatikan anzuschwärzen und ihre Treue gegenüber dem Papst, den Bischöfen, dem Kaiser und dem Staat in Frage zu stellen, und sie überdies anzuklagen, den »Klassenkampf« in die sozialen Beziehungen einzuführen. Die »Weisheit und Größe Leos XIII.« ließ diese »Machinationen« scheitern, denn er selbst hat zugunsten der neuen Partei entschieden, die sich 1895 konstituierte (Parteiprogramme, 167–168). Es handelte sich also um eine politische Bewegung, deren Ideologie aus dem Vatikan kam und die sich bewusst dieser höchsten moralischen und religiösen Autorität unterwarf. Zugleich bekennt sie ihre unerschütterliche Treue zur »allerhöchsten Habsburger Dynastie, mit welcher Österreichs Bestand und Wohlfahrt auf ’s Innigste verknüpft ist«. Diese »angestammte Treue« mache ein »bleibendes Erbe aller wahren Österreicher« aus (Parteiprogramme, 168). Wir haben es also mit einer Partei zu tun, die durch die doppelte supranationale Patronanz der Kirche und des Kaisers im Prinzip jenseits oder über der »nationalen Frage« steht. Und in der Tat ist in den ersten Programmen der Partei keine Rede vom Streit der Nationalitäten, die Prioritäten liegen im Bereich des 112

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Sozialen und Kulturellen. Aber auch die Christlich-Soziale Partei muss in der nationalen Frage Farbe bekennen. Ihr wichtigstes Argument ist eine offene Feindseligkeit gegen den österreichisch-ungarischen Dualismus, dem die Schuld an allen mit der Nationalitätenfrage verbundenen Schwierigkeiten zugeschrieben wird. Die Partei vermeidet zunächst sorgfältig die Bezeichnung »deutsch« für die deutschsprachige Bevölkerung Österreichs, sie spricht von der »Bevölkerung des Stammlandes unserer Monarchie«. Erklärtes Ziel ist es, den Dualismus, der nur der Hybris einer gewissen »judäomagyarischen Clique« nütze, durch die »Vereinigten Staaten von Großösterreich« (Popovici) zu ersetzen. Das Wort »deutsch« erscheint zum ersten Mal im »Wahlmanifest der christlich-sozialen Reichspartei« von 1907 anlässlich der ersten allgemeinen Wahlen. Auch hier ist zunächst von »unserem geliebten Vaterland Österreich« die Rede. Das Feindbild ist weiterhin Ungarn, »gelenkt von den fast durchwegs korrupten Parteien der judäomagyarischen Minderheit«. Gegen die usurpierte »Alleinherrschaft der Magyaren« wird ein »Gesamtreich« gefordert, »in dem kein Volk unter fremdem Joche zu seufzen braucht, ein Reich, in dem Freiheit und Gerechtigkeit walten«. Das »ehrwürdige Reich Habsburgs als Hort seiner Völker« soll wiedererstehen und Wien, »das ruhmreiche Bollwerk christlicher und abendländischer Kultur«, Mittelpunkt dieses vom Dualismus erlösten Staates sein. »Die Christlich-soziale Partei verurteilt eine künstliche Schürung des nationalen Kampfes«, aber sie bekennt sich eindeutig als »deutsche Partei«, die die »Güter und Interessen unseres deutschen Volkes« hochhalten will. »Christlich-deutsche Gesittung« wird dem »jüdisch-freimaurerischen Geist« der Sozialdemokratie und der »jüdischen Presse« entgegengestellt. Die christlich-deutsche Moral findet ihren hehrsten Ausdruck »in der Heiligkeit der Ehe, des Familienlebens und der sittlichreligiösen Erziehung der Jugend«. Der christliche Charakter Österreichs wird hervorgehoben. »Die Wählerschaft in allen deutschen Gauen Österreichs« ist aufgerufen, den liberalen Kapitalismus und die Sozialdemokratie, beide Kinder des jüdischen Geistes, zu überwinden. Obwohl mit diesem Bekenntnis zum »christlich-deutschen« Charakter der Partei ihr universalistischer Zug verlorengeht, wird die Treue zu Habsburg niemals in Frage gestellt (Parteiprogramme, 175–178). Die Zugehörigkeit der Deutschösterreicher zur deutschen Nation steht also – mit Nuancen – in allen drei Lagern außer Diskussion. Außer den radi­ kalen Alldeutschen finden sich alle auf sehr unterschiedliche Weise mit der Existenz der Monarchie ab, selbst wenn sie tiefgreifende konstitutionelle und strukturelle Reformen herbeiwünschen. Das Ende der Monarchie lässt alle Reformvorschläge hinfällig werden und scheint als einzige realistische Option die großdeutsche Lösung, also das Ende Österreichs, anzubieten. 113

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Konsequenterweise waren 1918 alle Parteien außer den bedeutungslosen monarchistischen und kommunistischen von der Notwendigkeit und Nützlichkeit des Anschlusses »Deutsch-Österreichs« an das Deutsche Reich überzeugt. Das war absolut selbstverständlich für alle Gruppierungen, die sich ausdrücklich als »groß-deutsch« bezeichneten. Doch selbst das Programm der ChristlichSozialen von 1926 stellt in seinem Artikel VIII klar  : »Als national gesinnte Partei fordert die christlichsoziale Partei die Pflege deutscher Art und bekämpft die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichen Gebiet. Insbesondere verlangt sie auch die Gleichberechtigung des deutschen Volkes in der europäischen Völkerfamilie und die Ausgestaltung des Verhältnisses zum Deutschen Reiche auf Grund des Selbstbestimmungsrechts« (Parteiprogramme, 376). Anders gesagt  : Selbst ein wenig verklausuliert ist sogar für die österreichischen Katholiken der Anschluss das erste außenpolitische Ziel der Republik. Das im selben Jahr verabschiedete sozialdemokratische Programm erklärt in seinem VI. Abschnitt (»Die Internationale«)  : »Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich als notwendigen Abschluss der nationalen Revolution von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluss an die Deutsche Republik« (Parteiprogramme, 264). Im Oktober 1933 hat die Partei diesen Paragraphen wie folgt abgeändert  : »Angesichts der durch den Faschismus im Deutschen Reich veränderten Lage des deutschen Volkes beschließt der Parteitag  : Aus dem 6. Abschnitt des Parteiprogramms wird der Punkt 4, der den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich fordert, gestrichen« (Parteiprogramme, 264). Bei beiden Parteien ist also der Begriff »national« eindeutig  : Er bezeichnet ausschließlich die deutsche Nation. Die Idee einer österreichischen Nation existiert noch nicht. Sie wird zwischen 1933 und 1938 zu keimen beginnen. Nach 1945 vermeiden die Österreichische Volkspartei, die Nachfolgerin der christlichsozialen Partei, und die sozialistische Partei, die Nachfolgerin der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, in ihren Programmen sorgfältig jede Anspielung auf den Anschluss und betonen die politische Souveränität des Landes. Das Wort »national« ist aus dem Vokabular der beiden Großparteien verbannt, denn die Gründer der Zweiten Republik wissen aus Erfahrung, dass seine (alte) Bedeutung nicht erloschen oder durch die neue politische Lage kaum modifiziert worden ist. (Ich habe schon erwähnt, dass in meiner Kindheit das Wort »national« weiterhin nichts als »deutsch« bedeutete.) Im Gegensatz zur Sozialistischen Partei, die in ihrem Programm in Sachen Kultur- und Erziehungspolitik eher schweigsam ist, vertritt die Volkspartei eine offensive, spezifisch österreichische Bildungspolitik. In ihren »programmatischen Leit114

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sätzen« von 1945 fordert sie  : »Zielbewusste Pflege des österreichischen Geistes und schärfste Betonung des eigenständigen österreichischen Kulturgutes, das in dem als Vätererbe auf uns überkommenen christlich-abendländischen Ideengut begründet ist« (Parteiprogramme, 377). (Im Programm von 1952 ist die »schärfste Betonung« gestrichen worden.) Das »christlich-deutsche« Ideal der Zeit vor 1938 hat sich in »österreichisches Kulturgut« oder in »christlichabendländische« Ideen verwandelt. Ziel der Schule ist die »Heranbildung der Jugend zu bedingungslosen Österreichern« (Parteiprogramme, 378). Für die Volkspartei besteht nicht die geringste Schwierigkeit, das Erbe des politischen Katholizismus für die Definition der kulturellen Identität der Zweiten Republik zu beanspruchen. Es waren – nach dem Intermezzo des kommunistischen Unterrichtsministers und Österreichideologen Ernst Fischer – vor allem die katholisch-konservativen Minister, die konsequente Arbeit bei der Heranbildung der »bedingungslosen Österreicher« geleistet habe. Wie schon erwähnt umschloss diese voluntaristische Bildungspolitik unter anderem die Einführung eines Österreichischen Wörterbuchs und die Streichung des Wortes »deutsch« in den Schulzeugnissen. Diese extreme offizielle Germanophobie, die nach Kreiskys Zeugnis den Zorn Adenauers so sehr erregte, dass er den Wunsch äußerte, die sterblichen Überreste Hitlers »liebend gern als österreichisches Eigentum zurück[zu]stellen« (Kreisky, 449), hat sich nach 1955 beruhigt. Es war natürlich für die Volkspartei um vieles einfacher, eine historische Kontinuität der österreichischen Identität zu proklamieren, als für die Sozialdemokratie, deren zentrale historische Referenz in der österreichischen Geschichte das Jahr 1848 mit seinem Doppelgesicht Republik und (deutsche) nationale Einheit war, was früh eine tiefgehende kulturelle Verankerung in der deutschen klassischen Kultur zur Folge hatte. Spezifisch österreichische Traditionen waren ihr fremd, eine von ihnen – die Hanswurst-Figur – war ihnen ein Gräuel und wurde nur satirisch eingesetzt, z. B. gegen Seipel, der nun wahrlich alles eher als ein Hanswurst war. Nicht einmal das Dritte Reich hat Otto Bauer oder Friedrich Adler von dieser Haltung abbringen können, dagegen haben Karl Renner und Bruno Kreisky den Weg zur österreichischen Nation gefunden. (Den empirischen Umfrageergebnissen nach zu schließen waren es sogar die sozialdemokratischen Sympathisanten, die am stärksten die Existenz einer österreichischen Nation bejahten.) Bleibt die Frage der am Heimweh nach dem großen Deutschland des Dritten Reichs leidenden Österreicher. Als Parteimitglieder waren ihnen zwischen 1945 und 1949 ihrer staatsbürgerlichen Rechte aberkannt worden. Nach 1949 gründeten sie eine Partei (»Verband der Unabhängigen«), aus der 1955 die 115

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»Freiheitliche Partei Österreichs« hervorging, die in ihrem Namen nur den liberalen Teil des ursprünglichen national-liberalen Erbes sichtbar bewahrt hat. Denn das »nationale Erbe« war keineswegs erloschen. Nach dem Staatsvertrag von 1955, der die FPÖ zur Anerkennung des österreichischen Staates bewogen hat, wurde im Parteiprogramm eindeutig die kulturelle und nationale Identität des Staates geleugnet. Noch 1954 hieß es lapidar  : »Österreich ist ein deutscher Staat. Seine Politik muss dem gesamten deutschen Volk dienen und darf nie gegen einen anderen deutschen Staat gerichtet sein« (Parteiprogramme, 489). 1955 heißt es im Paragraphen 3  : »Wir bejahen uneingeschränkt die Eigenstaatlichkeit Österreichs.« Der Paragraph 14 aber lautet  : »Wir bekennen uns zur deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft« (Parteiprogramme, 492–493). Wie im 19. Jahrhundert sind hier Staat und Nation getrennt. Da die politische Lage (Staatsvertrag mit Anschlussverbot, Neutralitätsgesetz, gegen das die FPÖ gestimmt hatte) eine deutsche Einigung undenkbar gemacht hatte, setzte die Partei seit 1957 ihre Hoffnung auf Europa, d. h. »den engen Zusammenschluss der freien Völker und Staaten Europas auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung und Selbstbestimmung« (Parteiprogramme, 496). Hinter dieser Formulierung verbirgt sich die Idee, den verbotenen Anschluss mittels des Umwegs über Europa doch möglich zu machen. Seltsamerweise wird Jörg Haider im Moment, wo Österreich Mitglied der Europäische Union wird, eine totale Kehrtwendung vollziehen und im Namen eines radikalen Austro-Chauvinismus, der nicht unbedingt mit einer Anerkennung der österreichischen Nation identisch ist, den Beitritt zur Union bekämpfen. Denn das Parteiprogramm weigert sich, die Existenz einer österreichischen Nation anzuerkennen. Diese Weigerung wird mit einer Reihe von Argumenten begründet, die sich alle auf die einfache Formel reduzieren lässt  : »Die ›österreichische Nation‹ (unter Anführungszeichen wie die ›DDR‹) ist […] erst im Jahre 1945 erfunden worden« (Parteiprogramme, 497). Eine polemischere und beleidigendere Variante dieses Satzes lautet  : »Die österreichische Nation ist eine kommunistische Erfindung.« Für die »alle Deutschen umfassende Volksgemeinschaft« zitiert die FPÖ eine Reihe von »Kronzeugen«, »die in der Geschichte als Vertreter eines selbstbewussten Österreichertums anerkannt sind  : die Monarchen Maria Theresia, Joseph II., Franz Joseph I., die Politiker Dr. Victor Adler, Dr. Otto Bauer, Engelbert Pernerstorfer, Dr. Karl Renner aus dem sozialistischen und Dr. Karl Lueger, Bundespräsident Wilhelm Miklas, Bundeskanzler Prälat Dr. Ignaz Seipel aus dem christlichsozialen Lager, auf kulturellem Gebiete Mozart, Adalbert Stifter, Grillparzer, Hugo von Hofmannsthal, Anton Wildgans und viele andere. Sie alle haben sich zum deutschen Volke bekannt« (Parteiprogramme, 497). In die116

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ser Liste hat ein einziger in der Zweiten Republik eine politische Rolle gespielt, Karl Renner, dessen Wandlungsfähigkeit in der nationalen Frage uns noch beschäftigen wird und der nach 1945 ein eindeutiges Bekenntnis zur österreichischen Nation abgelegt hat. In der Liste fehlt erstaunlicherweise der Kardinal Erzbischof von Wien, Theodor Innitzer, 1938 sudetendeutscher Befürworter des Anschlusses wie Renner. Die Liste hatte als erklärtes Ziel, der Kulturpolitik der Republik ihre Legitimität abzusprechen. Es war in der Tat sehr einfach zu »beweisen«, dass in der Vergangenheit keine einzige Persönlichkeit des politischen und kulturellen Lebens, die als »Kronzeugen« aufgerufen sind, an ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation gezweifelt hatte. Das gilt für die zu emblematischen Identitätsfiguren erhobenen Mozart und Maria Theresia. Doch die FPÖ hat sogar einen Sprung über ihren eigenen Schatten getan und große Männer der Sozialdemokratie jüdischer Herkunft in ihre Zeugenliste aufgenommen. Das heißt, dass sogar die wegen ihres Internationalismus scharf bekämpften Gegner eines mit der FPÖ gemeinsam hatten  : ihre deutsch-nationale Überzeugung. Parallel dazu wird durch die Leitfiguren Lueger und Seipel auch dem zweiten Internationalismus, jenem der katholischen Kirche, die seit der Gründung der deutsch-liberalen Partei als politischer Hauptgegner galt, eine unverbrüchliche Treue zur deutschen Nation bestätigt  : Damit wird jeder Versuch, eine österreichische Identität katholisch gegenreformatorischer Provenienz zu etablieren, in Zweifel gezogen und im Grunde die ständestaatliche Idee des »christlich-deutschen« Österreich legitimiert. Die vier Schriftsteller haben einen gemeinsamen Nenner  : Jeder von ihnen hat selbst zur Geburt eines österreichischen Identitätsbewusstseins beigetragen oder ist dafür nachträglich reklamiert worden. Zu ihren Lebzeiten stand ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kultur außer Frage. Für die FPÖ ist das sacrificium nationis germanicae unvorstellbar. Sie hält also an der Trennung von Staat und Nation fest, während die großkoalitionäre Mehrheit und schrittweise auch die Bevölkerung den nationalen »Lernprozess mit Hindernissen« durchläuft. Man kann also mit Erstaunen feststellen, dass im Kampf gegen die »österreichische Nation« von den Verfechtern der national-liberalen und/oder natio­ nalsozialistischen Tradition nach 1945 sogar assimilierte Juden als Bundesgenossen angesehen wurden. Die FPÖ sah sich dem Dilemma ausgesetzt, dass diese österreichische Nation die paradoxe Frucht ihres radikalsten Feindes, des Natio­nalsozialismus, war. Denn in der Tat ist das österreichische Nationalbewusstsein, das heute von einer überwältigenden Mehrheit empfunden wird, keine natürliche oder historische Gegebenheit, sondern das Produkt einer späten Bewusstwerdung. Der Satz »Der Anschluss ist tot  !«, den der spätere sozialis117

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tische Bundespräsident Adolf Schärf 1942 einem Vertreter des deutschen sozialistischen Widerstands gegenüber ausgesprochen haben soll, ist symptomatisch für die Wandlungen, die der reale Anschluss in der Mentalität der Österreicher bewirkt hat. Denn auch Schärf hatte mit Otto Bauer die großdeutsche Ideologie geteilt. Das Verschwinden des Staates hat, zunächst bei den Vertretern der politischen Eliten, die die Erfahrung der Konzentrationslager teilten, zur Entstehung eines Nationalgefühls geführt, das mehr war als der übliche LokalPatriotismus. Dazu musste die Theorie von den beiden deutschen Staaten außer Kraft gesetzt werden. Die Entwicklung dieses neuen Österreichbewusstseins ist nicht nur die Folge eines inneren Bewusstseinswandels, es brauchte dazu auch den Willen der Alliierten, der sich zuerst in der »Moskauer Deklaration« von 1943 kristallisierte. Sie machte aus der Wiederherstellung Österreichs ein Kriegsziel und oktroyierte der Republik den Status des »ersten Opfers« des Dritten Reichs. Dieses nicht ganz unfreiwillige Opfer – diese Litotes ist ein abgekürztes Psychogramm – bekam also den Staat zurück, den es 1918 nicht gewollt hatte. Und selbst wenn die Voraussetzungen von 1945 ganz andere waren als die von 1918, so bleibt doch festzustellen, dass die Souveränität Österreichs wieder von außen gekommen ist, doch dieses Mal war der Wille der Alliierten und der politischen Parteien Österreichs identisch  : Auch die Österreicher wollten ein Österreich gründen.

6. AUSTROMARXISMUS In der Erzählung seiner alldeutschen studentischen Abenteuer hat Hermann Bahr das Eingreifen Engelbert Pernerstorfers von der Burschenschaft »Arminia« hervorgehoben. In den 1880er Jahren hat dieser Mann eine nicht unbedeutende Rolle in der alldeutschen Bewegung um von Schönerer gespielt, namentlich als Gründer des »Deutschen Schulvereins«, Mitverfasser der »Kundgebung des ›Deutschnationalen Vereins‹« 1882 und des »Linzer Programms« der Deutschnationalen 1882, schließlich als Chefredakteur der Zeitschrift Unverfälschte deutsche Worte. Bei der Abfassung des Programms von 1882 befand er sich in Gesellschaft von Victor Adler und Heinrich Friedjung. Der »Judenparagraph«, den von Schönerer 1885 in das Programm inkorporierte, hat nichts an den deutschnationalen Überzeugungen Victor Adlers, wie Pernerstorfer Mitglied der »Arminia« oder Friedjungs, Mitglied der Prager »Germania«, geändert. Adler wird 1889 Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, die sich der deutsch-nationalen Tradition von 1848 verbunden 118

Austromarxismus

fühlte. Pernerstorfer, zunächst Abgeordneter der Deutschnationalen Partei, wird sich der SDAPÖ anschließen und ihren deutsch-nationalen rechten Flügel repräsentieren. Adler und Pernerstorfer haben noch in ihrem gemeinsamen Todesjahr 1918 für den Anschluss an Deutschland plädiert. Auch Friedjung, der dem deutschnationalen Liberalismus treu geblieben war, verleugnete in seiner Zeitschrift Deutsche Wochenschrift trotz des wachsenden rassischen Antisemitismus nie seine »nationalen« Überzeugungen. Joseph Redlich sah in ihm und seinem sozialdemokratischen professoralen Alter Ego Ludo Hartmann Figuren, die »rituell ins germanische Horn« geblasen und das Verständnis für Öster­ reich verhindert haben. Für diese Erben von 1848 galt, dass die Nabelschnur mit dem Vaterland nie abgeschnitten wurde und Österreich des nährenden deutschen Mutterschoßes bedurfte. Selbst der Gründer des Zionismus, Theodor Herzl, gehört in dieses ideologische Umfeld und war wie von Schönerer Mitglied einer Burschenschaft. (Die enorme Rolle der Burschenschaften wird einem bewusst, wenn man bedenkt, dass Kaiser Wilhelm II. in persona der Burschenschaft »Borussia« [nomen est omen  !] angehörte.) Die Burschenschaften sind überall und beherrschen das studentische Leben an den deutschen und österreichischen Universitäten. Freud und Schnitzler waren zwar keine Burschenschaftler, gehörten jedoch wie Bahr dem »Leseverein deutscher Studenten« in Wien an, dessen Ideologie dem Geist der Burschenschaften nicht fremd war. Der deutsch-nationale Jude Robert Blum, ein Märtyrer der österreichischen Repression von 1848 und Vertreter der revolutionären Linken, war Mitglied der »Germania« Leipzig. Kurz, der österreichische Liberalismus und die österreichische Sozialdemokratie sind tief in der deutschnationalen Tradition verankert und vom kulturellen Code geprägt, der von 1817 über 1848 bis zur Gründung deutsch-nationaler Parteien gültig war. Die Aneignung der deutschen klassischen Kultur in Literatur, Philosophie und Musik durch die Arbeiterschaft war eine der Kennmarken des Austromarxismus. Marx und Kant in einem vom Bildungsenthusiasmus getragenen Programm zu versöhnen gehört zu seinen Utopien. Und nicht umsonst heißt das mächtigste architektonische Denkmal des »Roten Wien« Goethe-Hof. Unter den führenden Persönlichkeiten der SDAPÖ waren viele Juden (Victor Adler, sein Sohn Friedrich, der Kantianer Max Adler, Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Friedrich Austerlitz, der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung). Manche wie Rudolf Hilferding haben in Deutschland politische Karriere gemacht. Bei keinem einzigen unter ihnen besteht der geringste Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation. In der Konfrontation mit der multi-nationalen Monarchie 119

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

beschränkte sich ihre Identitätsfrage darauf, die Rolle der Deutschösterreicher im Konzert der »österreichischen Nationen« zu definieren. Sie bejahten im Grunde die Existenz der Monarchie, die ihnen den geopolitischen Experimentierraum für eine »Mini-Internationale« anbot. Ihr nationales Credo ist von Pernerstorfer formuliert worden  : »Ich bin Österreicher mit dem Kopf, aber in meinem Herzen bin und bleibe ich Deutscher.« Das ist eine weitere Variante der gängigen Überzeugung, dass Österreich vor allem eine Idee sei. Die besonderen Bedingungen der k. u. k. Monarchie haben dazu geführt, dass sich der Austromarxismus durch eine besonders intensive Auseinandersetzung mit der Nationalitätenfrage auszeichnete, zu deren Verständnis politische Denker wie Otto Bauer und Karl Renner Entscheidendes beigetragen haben, oft in Konkurrenz zu den Theorien der russischen Linken, deren eminente Repräsentanten wie Stalin und Trotski im Wiener Exil lebten. 1918 wurde Renner Staatskanzler, Otto Bauer übernahm den Parteivorsitz und den Posten des Staatssekretärs für Äußeres. Mit ihnen übernahmen die zwei hervorragendsten, oft antithetisch argumentierenden Theoretiker der Nationalitätenfrage die Schlüsselpositionen der jungen Republik. 6.1 Otto Bauer und die österreichische Revolution Otto Bauer (1881–1938) ist durch sein Buch Die Nationalitäten­ frage und die Sozialdemokratie aus dem Jahre 1906 berühmt geworden. Eine der Prämissen dieser Studie war die Überzeugung, dass die österreichisch-ungarische Monarchie nur dann Überlebenschancen hatte, wenn sie sich in eine Föderation autonomer Nationalitäten verwandelte. Er hat aber auch als einer der ersten begriffen, dass der österreichische Staat durch Dynamik der nationalen Frage zur Auflösung verurteilt war. Seine Analyse Die österreichischen Revolution von 1923 korrigierte auf der Basis der historischen Ereignisse seine früheren Thesen. Als Präambel lieferte er eine sehr detaillierte Untersuchung der diversen slawischen Nationalismen, des jugoslawischen (Serben, Kroaten, Slowenen, Bosniaken), an dessen Einheit er glaubte, des tschechischen und des polnischen, und behandelte dabei die nationale Frage als Ausfluss der wirtschaftlichen und politischen Interessen der sozialen Klassen, also als eine Phase im Klassenkampf. Diese Methode des »wissenschaftlichen« Marxismus hat die den Nationalismen inhärente eigenständige Kraft unterschätzt, die im Augenblick einer akuten Krise wie des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs so unwiderstehlich wurde, dass sie unter anderem den sozialistischen Internationalismus hinwegfegte. Die österreichischen und deutschen Sozialdemokraten akzeptier120

Austromarxismus

ten den »Burgfrieden« und stimmten für die Kriegskredite und verleugneten damit das Wesen der Partei, indem sie die Nation über die Klasse stellten. Sozialdemokratische Arbeiterdichter singen, dass die ärmsten Söhne der Nation, die von Bismarck noch als »vaterlandslose Gesellen« gebrandmarkt worden waren, in Wahrheit ihre »treuesten« seien. Noch unerwarteter war die Wirkung des Krieges in Österreich  : Nicht nur der Klassenkampf wurde storniert, es gab sogar einen Burgfrieden im Nationalitätenkampf, der die Einheit der Monarchie zu garantieren schien  ! Sieht man von der dogmatischen Methode ab, ist Die österreichische Revolution das einsichtsvollste Buch, das über das Dilemma der österreichischen Identität in der Ersten Republik geschrieben wurde. Seine Überzeugungskraft rührt nicht nur daher, dass Bauer nicht nur ein brillanter Theoretiker, sondern auch ein politischer Akteur ersten Ranges war. Die Frage der österreichischen Nationalität wird zunächst in der Perspektive des Krieges im Kapitel »Deutschösterreich im Kriege« behandelt. Sein erster Satz fasst das Problem zusammen  : »Durch die ganze neuere Geschichte Deutschösterreichs zieht sich der Gegensatz zwischen unserem Deutschtum und unserem Österreichertum« (Bauer, 62). (Erstaunlich ist, dass Bauer die »jüdische Frage« vermeidet, deren brennende Aktualität gerade ihm nicht fremd sein konnte.) Er stellt zunächst das Vorhandensein eines echten Österreichgefühls bei der Bourgeoisie zwischen 1750 und 1850 fest  : »ihrem Fühlen nach war sie doch österreichisch, nicht deutsch  ; nicht das zerfallende Deutschland, sondern das völkerreiche Öster­ reich war ihr ihr Vaterland« (Bauer, 62). Doch ab 1830 öffnete sich eine neue Generation junger Intellektueller den Ideen des Liberalismus und wurde vom geistigen Leben in Deutschland angezogen  : »Sie fühlte nicht mehr österreichisch. Sie fühlte deutsch. Nicht das alte, rückständige, undeutsche Österreich, das große Deutschland, das sie im Kampf und Sturm wieder zu vereinigen gedachte, war ihr ihr Vaterland« (Bauer, 62). Getreu seiner Methode behandelt Bauer die nationale Frage ausschließlich als Variable im Klassenkampf  : »In ganz anderer Gestalt wiederholte sich der Gegensatz zwischen Deutschtum und Österreichertum in der Geschichte der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie« (Bauer, 63). Anfänglich war die Haltung der Sozialdemokratie in Österreich wie in Deutschland eindeutig  : Für Lassalle wie für Engels war »die vollständige Auflösung Österreichs die erste Voraussetzung der Einigung Deutschlands« (Bauer, 64), die als Resultat einer gleichzeitig nationalen und sozialen Revolution geträumt wurde. Ein »führender Gedanke der entstehenden Sozialdemokratie« war also die Vereinigung Deutschösterreichs »mit dem übrigen Deutschland zu einer deutschen Republik«. Den »anderen Nationen 121

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

der Habsburgermonarchie« sollte ihre »staatliche Selbständigkeit wiedergegeben werden« (Bauer, 64). Da die deutsche Geschichte in der Person Bismarcks 1866 und 1871 anders entschieden hatte, war die Sozialdemokratie gezwungen, sich mit der von Nationalitätenkämpfen erschütterten Habsburger Monarchie abzufinden. Innerhalb der Partei kommt es zu zwei nahezu unvereinbaren Positionen. Auf der einen Seite vertritt Karl Renner eine Allianz zwischen der supranationalen Krone und dem internationalen Proletariat, um die nationalen Bourgeoisien zu besiegen und einen »Bundesstaat freier Völker« (Bauer, 65) zu gründen. Renner feierte in radikalem Gegensatz zu Bauer, der den Weiterbestand der Monarchie als »vorläufig« ansah, die österreichische »Reichsidee« und betrachtete diese »Eidgenossenschaft der österreichischen Nationen als geographische und wirtschaftliche Notwendigkeit« (Bauer, 65). Die Verwendung des Begriffs »Eidgenossenschaft« ist nicht harmlos, denn hinter ihm stand der »Rütlischwur« (»Wir wollen sein ein einige Volk von Brüdern«) aus Schillers Wilhelm Tell, der üblicherweise auf die deutsche Einheit übertragen wurde. Nach Renner gehört die Zukunft dem supranationalen Staat, in dem die nationale Zugehörigkeit wie das religiöse Bekenntnis von einer individuellen Erklärung bestimmt sein sollte. In schroffem Gegensatz zu dieser von Renner in Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie entworfenen Utopie beharrt Bauer in seinen Studien zur Nationalitätenfrage darauf, dass jede Lösung im Inneren der Monarchie provisorischen Charakter habe. 1914–1915 war die Sozialdemokratie im Allgemeinen und Otto Bauer im Besonderen mit einem unerwarteten Dilemma konfrontiert  : Die unleugbare patriotische Begeisterung aller Österreicher, ob deutschsprachig, slawisch oder ungarisch inklusive der proletarischen Massen überrascht alle – und sie waren zahlreich –, die den Staat für moribund hielten. Die multinationale Armee wird einhellig unterstützt, und die Sozialdemokratie steht »völlig im Banne dieser Massenstimmung« und sieht sich gezwungen, ihren »Einfluss auf die Massen in den Dienst der Kriegsführung« (Bauer, 66) zu stellen. Bauer sucht die Erklärung für diesen Enthusiasmus in der Furcht aller österreichischer Klassen vor dem drohenden »russischen Despotismus«. Die Partei nimmt also die Militarisierung und »Durchstaatlichung« (Bauer, 68) der Wirtschaft hin, die durch den »Kriegsabsolutismus« (Renner) aufgezwungen worden war. Victor Adlers Sohn Friedrich widersetzte sich dieser Lesart der Geschichte durch eine spektakuläre Geste  : Er erschoss den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh und rief damit ins Bewusstsein, dass die Ziele der Sozialdemokratie nicht mit den Zielen der Kriegsführung der herrschenden Klassen identisch seien. Bauer war mit Adlers Tat einverstanden und verteidigte die Idee, dass die 122

Austromarxismus

Sozialdemokratie über den nationalen Staaten und ihren Kämpfen zu stehen und als Ziel die »Revolutionierung der Massen« anzustreben habe. Trotz der Versuche Kaiser Karls I. einen Separatfrieden mit der Entente aus­zuhandeln, um die Einheit der Monarchie zu retten, gewannen sehr rasch die von Wilson ermutigten Unabhängigkeitsbestrebungen die Oberhand. Die historische Situation entsprach also Bauers Prognose, und dementsprechend reagierte die Partei  : Sie weigerte sich die Interessen der »konterrevolutionären« Kräfte in Österreich und Ungarn gegen die »revolutionären Nationen« zu verteidigen. »Wir müssen das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der slawischen Nationen anerkennen. Und müssen aus dieser Anerkennung unseren Schluss ziehen  : Erkennen wir das Selbstbestimmungsrecht der slawischen Nationen an, so müssen wir dasselbe Selbstbestimmungsrecht für das deutschösterreichische Volk fordern.« Anders gesagt  : »so müssen wir die Einheit und Freiheit des deutschen Volkes zu verwirklichen versuchen durch den Anschluss Deutschösterreichs an Deutschland« (Bauer, 74). Bauer konstatierte den »Sieg« seiner Doktrin über Renner  : »so mussten wir den Einfluss der Lehre Renners von der Notwendigkeit und Überlegenheit des ›übernationalen Staates‹ brechen, die Massen zur bedingungslosen Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker erziehen, das Brünner Nationalitätenprogramm von 1899 überwinden, auf die alte Tradition der republikanischen Demokratie, ihre Tradition von 1848 her, zurückgreifen, dass die Aufgabe der österreichischen Revolution die Auflösung des österreichischen Staates selbst, die Aufrichtung freier Nationalstaaten auf seinen Trümmern sein werde« (Bauer, 75). Die sozialdemokratische Linke ist also die treibende Kraft für die Schaffung der deutschen Einheit in der republikanischen Form. Friedrich Adler und Otto Bauer waren sich wohl bewusst, dass sie mit dieser Forderung im gleichen Boot wie die Alldeutschen saßen. Adlers Abgrenzungsversuch lautete so  : »Nicht alldeutsch, das heißt  : so weit der deutsche Säbel reicht, sondern großdeutsch, das heißt  : so weit die deutsche Zunge klingt« (Bauer, 81–82). Die Formulierung Arndts, die Adler zitiert, verankert das sozialdemokratische Einheitsideal sogar in der nationalen Begeisterung von 1813 und selbstverständlich in der Wunschgeographie des Lieds der Deutschen. Friedrich Adler wurde zum Tode verurteilt, vom letzten Kaiser begnadigt und schließlich amnestiert. Er war lange Zeit Sekretär der Zweiten Internationale und beeinflusste ab 1934 die Politik der Sozialdemokratie im Exil weiterhin im großdeutschen Geist. Er widersetzte sich darum jedem Versuch, eine österreichische Exilregierung zu bilden oder in der amerikanischen Armee ein Österreicherkontingent einzurichten. Otto Bauer verteidigte bis zu seinem Tod im Exil im Juli 1938 diese Linie. Friedrich Adler hat sogar 123

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

die »Moskauer Deklaration« von 1943 verdammt, weil sie die Wiederherstellung der Republik Österreich vorsah. Er hat sich sogar geweigert, nach 1945 »heimzukehren«, da er dem wiedererrichteten Österreich jede historische Legitimität absprach, während Karl Renner als Bundespräsident 1946 erklärte, dass sich die Österreicher so tief von den Deutschen unterschieden, dass die Geburt einer österreichischen Nation legitim und wünschenswert sei. Damit hatte die österreichische Sozialdemokratie endgültig einen Paradigmenwechsel vollzogen und ihre historisch bedingte großdeutsche Geschichtsdoktrin gegen eine ebenfalls historisch bedingte österreichische ausgetauscht. 6.2 Der Fall Karl Renner Die Persönlichkeit Karl Renners (1870–1950), Otto Bauers Anti­ pode nicht nur in der Nationalitätenfrage, ist beispielhaft für die Variationsbreite sozialdemokratischer Theorie und Praxis in diesem Problemfeld. Er war 1918 als erster Kanzler der Republik zum Anhänger des Anschlusses geworden und hat diesen 1938 als »große geschichtliche Tat« und »historische Notwendigkeit« begrüßt. 1945 von Stalins Gnaden zum ersten Kanzler der Zweiten Republik ernannt, hat er der langen Verstrickung der Sozialdemokratie in die großdeutsche Ideologie à la Bauer und Adler ein Ende gesetzt. Er hat an oberster Stelle mitgewirkt, die von Adler und Bauer als reaktionär verurteilte Idee einer österreichischen nationalen Eigenstaatlichkeit in die Wirklichkeit umzusetzen. Die internationalistische Linke innerhalb der Sozialdemokratie hat nie gezögert, die Haltung des Genossen Renner gegenüber der k. u. k. Monarchie scharf zu kritisieren. In diesem parteiinternen Konflikt spielt ein symbolisches Element eine gewichtige Rolle  : der Name des Staates. In der Tat war die staatliche Identität des Gebildes, das man Österreich zu nennen gewohnt war, von einer einzigartigen Wandelbarkeit und Unbestimmtheit in der Geschichte der europäischen Nationen. So konnte der Name Österreich selbst als »imaginär« empfunden werden, also nicht als Realität, sondern als bloße Idee, ja schon sehr früh (1843) als »Chimäre«15. Nun war, wie schon erwähnt, der »österreichische« Bestandteil der Doppelmonarchie ein Staat ohne offiziellen Namen. Die administrative Bezeichnung »die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« und die geographische Definition als »Zisleithanien« eigneten sich wenig zur Identitätsstiftung. Freilich war es Usus, »Kakanien« Österreich zu nennen, aber das Fehlen eines offiziellen Namens wurde vor allem von den Deutschösterreichern als schmerzlicher Mangel empfunden. Die Reaktion Karl 124

Austromarxismus

Renners auf den späten Taufakt von Oktober 1915 illustriert aufs Beste seine Stellung zur dornigen »nationalen Frage«. Er ist begeistert  : »Wir haben einen Namen und ein Wappen bekommen« (Renner, 24). Der Name lautet endlich »Österreich« und das Wappen symbolisiert die 17 Kronländer. Für Renner bestätigt dieser Akt des Kaisers die historische und politische Wirklichkeit eines Staates, dessen paradoxale Existenz er in der merkwürdigen Formel »der Kampf der österreichischen Nationen für den Staat« fasst. Österreichische Nationen im Plural  ! Man versuche sich »französische Nationen« oder »deutsche Nationen« vorzustellen, selbst wenn dieser Plural auch bei Bismarck als Synonym für »Stämme« auftaucht. Man weiß auch, was aus dem Versuch geworden ist, in der weiland DDR eine »sozialistische deutsche Nation« zu konstruieren. Eine solche Formel bestätigt den absoluten Sonderstatus Österreichs als ideeller, ja idealer Entität über den Nationen, die die Einheit in der Vielheit garantiert. Im Gegensatz zur Traditionslinie von 1848, die Bauer vertritt, hält Renner ähnlich Palacký an dieser für Österreich konstitutiven Vielheit fest, die fundamental unvereinbar mit der deutschen Einheit ist. Renners Schriften während des Ersten Weltkriegs, 1916 unter dem Titel Österreichs Erneuerung. Politisch-programmatische Aufsätze erschienen, also in einem Zeitpunkt, in dem die Parteilinke schon ein Kreuz über die multi­ nationale Monarchie gemacht hatte, bilden eine pathetische Legitimierung des Habsburger Staates. Der Sozialdemokrat verwandelt sich in einen bedingungslosen Verteidiger der Monarchie, in der er, wenn schon nicht die Verwirklichung, so doch die notwendige Vorbedingung einer Struktur sieht, die fähig sei, die nationalistischen Streitigkeiten zu überwinden. (Sein Vorschlag, das Bekenntnis zur Nation wie das private Bekenntnis zu einer Religion zu behandeln, war ebenso verführerisch wie unrealistisch.) Statt wie die Parteilinke den Krieg als imperialistisches Unternehmen zu verurteilen, sieht er in ihm eine Offenbarung der österreichischen Wirklichkeit. In Deutschland hat der Krieg durch den Burgfrieden dem Klassenkampf ein Ende gesetzt, in Österreich hatte er sogar den doppelten Effekt, den »Rassen- und Klassenkampf« zu beenden. Franz Joseph I. hätte sagen können »Ich kenne keine Nationalitäten mehr, ich kenne nur mehr Österreicher«. Otto Bauer hat diese Mythologie grausam entlarvt, indem er auf die entscheidende Rolle der militärischen Repression bei der Erhaltung dieser Einheit hinwies. Karl Kraus’ Letzte Tage der Menschheit haben zur Genüge Material über die Rolle des Galgens für die »Verräter« an dieser Einheit beigebracht. Renner proklamierte unaufhörlich die Überlegenheit des multinationalen Staates als Träger des Fortschritts gegenüber den retrograden Nationalismen. Geblendet vom »österreichischen Wunder« bei Kriegsbeginn, glaubt er, 125

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

dass »der Krieg und seine Maßnahmen allen inneren Streit mit ­einem Schlag stillsetzten« und dass damit »ein halbes Jahrhundert nationalistischer Kämpfe« (Renner, 48) zu Ende gegangen sei. Er kritisiert die »maßlose Überschätzung jener nationalistischen Auseinandersetzungen« (Renner, 50) und behauptet, dass die »vielhundertjährige Gemeinschaft« Österreichs »eine vollkommene Symbiose hervorgerufen« (Renner, 49) habe. Sic  ! Der Krieg hat diese Symbiose in eine »beinahe organisch gewordene Wehrgemeinschaft der Nationen« (Renner, 37) verwandelt. Der Internationalismus scheint also in Österreich Gestalt angenommen zu haben, und Renner erweist sich als ein absoluter Gegner und Verächter des Nationalismus, denn dieser bedeute »Schändung und Lähmung der Gemeinschaft« (Renner, 51), er habe »ein völlig falsches Bild Österreichs nach außen projiziert« (Renner, 50). Von »Unterdrückung« der Völker zu reden sei ein »Zerrbild«, vor allem aber sei der Nationalismus das Gegenteil des Fortschritts und verkörpere einen reaktionären Provinzialismus. Im Gegensatz zum Klischee vom »Völkerkerker« sieht er in der Monarchie einen Staat, der seine verschiedenen Nationalitäten vor der russischen Sklaverei bewahrt und es ihnen ermöglicht habe, das kulturelle Niveau der deutschen Nationalität zu erreichen. Das ausgezeichnete Schulsystem habe es den West- und Südslawen ermöglicht, den Deutschen »nachzueifern« (Renner, 50). Und so hätten sich die Tschechen »aus der tiefsten geschichtlichen Erniedrigung zur reichsten und unterrichtesten slawischen Nation emporgearbeitet« (Renner, 50). Die Sozialdemokratie teilte mit den anderen Deutschösterreichern die Überzeugung von der Überlegenheit der humanistischen und wissenschaftlichen Kultur der Deutschen, insbesondere ihrer Schulen. Es ist sogar der Krieg, der in Renners Augen den Beweis für die industrielle und organisatorische Vorherrschaft Deutschlands und Österreichs in Europa liefert. Im erstaunlichen Gegensatz zu den Stereotypen vom fortschrittlichen und hochorganisierten Deutschland und dem rückständigen Österreich stellt Renner beide Staaten auf dasselbe Niveau. Der Krieg erweist sich als der unwiderlegliche Beweis für die Lebensfähigkeit der multinationalen Monarchie und damit für den Sieg der Idee des Staates über die Idee der Nation. Dass aber selbst er leichte Zweifel an Österreich als höher organisiertem Industriestaat hat, lässt folgende Aussage ahnen  : Österreich müsse gegen das »Fortfretten« erneuert werden »im Geist der Wissenschaftlichkeit« und »im Wege der Organisation« (Renner, 19). Diese Passagen wirken heute nahezu komisch, wenn man sie parallel zu den Letzten Tagen der Menschheit oder Musils Essays liest, in denen systematisch die »deutsche Organisation« gegen die österreichische Fortwurstelei thematisiert wurde. Die militärische Einheit, zementiert durch ihre technisch-wissenschaftliche ­Basis, ist für Renner der schlecht126

Austromarxismus

hinnige Garant des Plurinationalismus. Das ist geschrieben in einer Zeit, in der Masaryk, eminenter Professor an der Universität Wien und zukünftiger Staatspräsident der ČSR, bereits mit der Entente in Paris über den kommenden Nationalstaat verhandelte. Renner geht extrem hart mit dem intellektuellen und akademischen Milieu ins Gericht, der Welt der »Wirtschaftslosen«, der verantwortungslosen »sogenannten Spracharbeiter«, die keine Ahnung von der wissenschaftlich-technischen Welt haben und mit ihrem »Wort« mitschuldig sind am »Schuldkonto des Nationalismus« (Renner, 10–11) und an den sinnlosen nationalen Streitigkeiten. (Es ist nicht unmöglich, dass er Masaryk im Visier hat, doch ist es eine Tatsache, dass die deutschsprachigen Universitäten Österreichs ein fruchtbarer Boden des Nationalismus und darin Vorbilder der tschechischen waren.) Die Ideologen des Nationalismus verwandeln »relative Rivalität« in Feindschaft, denn »akademisch ist ja am Ende alles möglich«. Sie sind verantwortlich für die »Übertreibungen des Krieges der nationalen Phrase«, sie verbreiten den »blinden Chauvinismus der Wirtschaftslosen« und den »Hass der Blutapostel« (Renner, 11). Gegen sie verteidigt Renner den angeblich klassen- und rassenlosen Staat der Habsburger und durch den Krieg bedingten »Burgfrieden des Nationalismus« (Renner, 48). Man versteht die feindselige Reaktion der internationalistischen Linken auf diese »sozial-patriotische« Haltung, deren »Reformismus« nicht vor der heiligen Allianz mit der Dynastie zurückschrak. Man muss diesen Hymnus auf die Erhaltung der »Vielvolklichkeit« (Renner, 29), die der »Leitidee eines überholten Jahrhunderts«, dem »geschlossenen Nationalstaat« (Renner, 26) entgegengestellt wurde, mit der Wirklichkeit von 1918 konfrontieren, das heißt dem Triumph der nationalen Revolutionen und den Zerfall der nahezu »vollkommenen Symbiose«, um die Macht des Nationalismus zu ermessen, den Renner als akademisches Gerede der »wirtschaftslosen Spracharbeiter« zu entwerten suchte. Man muss ihn aber auch im Lichte der politischen Karriere Renners sehen, dessen Opportunismus ohne Äquivalent in der österreichischen Geschichte ist. Von diesem großösterreichischen Credo, das man heute ein europäisches nennen könnte, ist er 1918 übergangslos zum Herold des Anschlusses geworden, den er 1938 öffentlich befürwortet hat, bevor er nach sieben Jahren politischer Zwangspensionierung 1945 zum Verkünder des kleinösterreichischen Credos wurde. 1918 schien die historische Situation den Thesen Bauers Recht zu geben, aber die Alliierten erlegten dem Staat ein Anschlussverbot auf. Otto Bauer, Staatssekretär der Regie­rung Renner, fand die Bedingungen des Friedensvertrags von Saint Germain en Laye, den die Republik Staatsvertrag zu nennen liebte, da sie sich nicht als verantwortlich für den Krieg ansah, so hart, dass er demissionierte, um nicht die erniedrigende 127

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Unterschrift leisten zu müssen. Renner nahm dieses Opfer auf sich und schrieb sogar dem neuen Staat eine Hymne  : »Deutschösterreich, du herrliches Land  !«, nach Kraus »ein Versuch mit untauglichen dichterischen Mitteln, eine habgierige Bauernschaft zu vermehrter Getreideablieferung zu bewegen« (F 554–556, 57). Denn Dichter war er keiner. Der Austromarxismus beschränkte sich nicht auf die Theorien zur nationalen Frage. Er bildete eine originelle theoretische und politische Bewegung, die einen dritten Weg zwischen Reformismus und Bolschewismus suchte, was der SDAPÖ den Titel »Internationale zweieinhalb« eingetragen hat, in deren Halbheit man ein Signum des Österreichertums der Partei sehen könnte. Sie hat aber auch in der Wirklichkeit aus Wien ein politisch-soziales und kulturelles Laboratorium gemacht, das internationale Geltung erlangte. Die seit 1920 bürgerlich-bäuerlich regierte Republik und ihre rote Hauptstadt verkörperten Bauers Theorie vom »Gleichgewicht der Klassenkräfte«, die eine Revolution unmöglich machte. Vor allem aber verwandelten sie sich, obwohl es kein Nationalitätenproblem mehr gab, in ein ideologisches Schlachtfeld, auf dem ein Kulturkampf zwischen zwei Visionen der Geschichte ausgetragen wurde, der schließlich 1934 in einen blutigen Bürgerkrieg mündete. Von einer für alle Österreicher akzeptablen Definition einer Identität war man unendlich weit entfernt, denn in dieser zerrissenen Republik waren »die Patrioten keine Demokraten und die Demokraten keine Patrioten«.

7. DIE JUDEN UND DIE ÖSTERREICHISCHE IDENTITÄT In seiner Autobiographie Eine Jugend in Wien erzählt Arthur Schnitzler eine hochsymbolische Episode für die Lage der Juden in Österreich am Ende des 19. Jahrhunderts. Auf der Universität, einem Mittelpunkt des aggressiven alldeutschen Nationalismus, dominierten die deutsch-nationalen Burschenschaften und attackierten ihre jüdischen und christlich-sozialen Gegner. In einer ersten Phase betrachtete sich auch die assimilierte jüdische Bourgeoisie als Trägerin der deutschen Kultur und hatte nichts als Verachtung über für die armen orthodoxen Ostjuden. Für die jüdischen Studenten war es eine Selbstverständlichkeit, einer Burschenschaft beizutreten, deren national-demokratisches Ideal auch das ihre war. Zwei herausragende Figuren der Revolution von 1848, Adolf Fischhof und Robert Blum, waren Juden. Der aus Galizien stammende Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848–1904) war Mitglied der 128

Die Juden und die österreichische Identität

Burschenschaft »Teutonia«, damit ein Bundesbruder von Schönerers. Er war bekannt für seine Essays über Halb-Asien, in denen er die Idee der kulturellen Überlegenheit der Deutschen demonstrierte. Victor Adler, der Gründer der Sozialdemokratie, und Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, waren gleichfalls Mitglieder schlagender Verbindungen. Doch der alldeutschen Bewegung von Schönerers war es nicht nur gelungen, 1885 dem deutsch-national-liberalen Parteiprogramm einen Antisemitismus-Paragraphen einzufügen, sie hat überdies die Burschenschaften dazu gebracht, ihre jüdischen Studenten ab 1878 auszuschließen, was ab 1886 die Gründung jüdischer schlagender Burschenschaften zur Folge hatte. Um diesen die Satisfaktionsfähigkeit abzusprechen, wurde 1896 das sogenannte Waidhofener Prinzip formuliert, dessen ­»Kriterien« schon seit 1879 in Schönerers »Libertas« in Geltung waren  : »Jeder Sohn einer jüdischen Mutter, jeder Mensch, in dessen Adern jüdisches Blut rollt, ist von Geburt aus ehrlos, jeder feineren Regung bar. Er kann nicht unterscheiden zwischen Schmutzigem und Reinem. Er ist ein ethisch tiefstehendes Subjekt. Der Verkehr mit einem Juden ist deshalb entehrend  ; man muss jede Gemeinschaft mit Juden vermeiden. Einen Juden kann man nicht beleidigen, ein Jude kann daher keine Genugtuung für erlittene Beleidigungen verlangen« (Schnitzler, 138). Theodor Herzl, der wie Hermann Bahr und Victor Adler Mitglied der Burschenschaft »Albia« war, sah sich also aus seinem akademischen Milieu ausgeschlossen und darüber hinaus de facto der Zugehörigkeit zur deutschen Nation beraubt. Schnitzler erinnert sich daran, dass er in seiner Jugend Herzl als farbentragenden Studenten »in Reih und Glied mit seinen Couleurbrüdern umherspazieren sah« (Schnitzler, 138). Schnitzler kannte Herzl also als »deutschnationalen Studenten und Wortführer in der Akademischen Redehalle«, die er selbst (wie Freud) besuchte und wo er Herzls Bekanntschaft machte. Er zögerte nicht, in seinem erniedrigenden Ausschluss den primären Grund für die Gründung der zionistischen Bewegung zu sehen  : »dass diese (die Couleurbrüder) ihn als Juden aus ihrer Mitte stießen, oder, wie das beleidigende Studentenwort hieß, ›schassten‹, war zweifellos der erste Anlass, der den deutschnationalen Studenten […] zu dem vielleicht mehr begeisterten als überzeugten Zionisten wandelte, als der er im Gedächtnis der Nachwelt weiterlebt« (Schnitzler, 138). Da die »Satisfaktion« für eine Beleidigung gewöhnlich durch ein Säbelduell erfolgte, hatten die jüdischen Studenten als Kompensation für ihren Ausschluss eine parallele national-jüdische Burschenschaftskultur entwickelt, die aus ihnen gefürchtete Duellgegner machte. Das »Waidhofener Prinzip« hatte als tiefere Motivation die Angst der Teutonen, Germanen und Alben, einem Mitglied der »Kadima« (»Vorwärts  !«) zu unterliegen. 129

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Diese psychologische Erklärung der Geburt des Zionismus lässt eine Reihe objektiver historischer Fakten (die Dreyfus-Affäre, die antisemitischen Pogrome in Russland) außer Acht, sie hat aber dennoch eine überzeugende Seite, denn Herzls national-politisches Programm hat unter anderem zum Ziel, zu beweisen, dass die Juden entgegen allen antisemitischen Vorurteilen dieselben Tugenden wie die Deutschen besäßen. Nach 1945 haben so manche alte Nationalsozialisten und Burschenschafter nicht gezögert, dem Staat Israel und seinem Volk das zweideutige Kompliment »die Preußen des Orients« zuzugestehen. Damit haben sie auf ihre Art die Absicht Herzls bestätigt, die vaterlandslosen Juden in eine der deutschen ebenbürtige Nation zu verwandeln, eine Nation von Ackerbauern und Soldaten. Die Emanzipation der Juden, die in Österreich unter Joseph II. begann und sich etappenweise 1848, 1862 und 1867 verwirklichte, hat es ihnen gestattet, einen bedeutenden Platz innerhalb der österreichischen Eliten zu erlangen  : Erhebung in den Adelsstand durch den Kaiser, Großunternehmer im Sektor Industrie und Banken, künstlerisches Mäzenatentum, führende Stellung in Presse, Medizin, Wissenschaft, Musik, schließlich in der Literatur und Philosophie. Beispielhaft ist die Familie Wittgenstein, die wirtschaftliche Macht, geistiges und künstlerisches Prestige vereinigte. Hermann Broch, der selbst der Industriearistokratie entstammte, hat Hofmannsthal als Modell einer Bewegung gewählt, das der amerikanische Historiker Schorske in Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle subtil beschrieben hat. Das jüdische Bürgertum ist ein wesentlicher Träger des politischen Liberalismus und der künstlerischen Moderne. Die österreichische Sozialdemokratie, die einzige politische Formation, die sich eindeutig vom herrschenden Antisemitismus (der »Antisemitismus als Sozialismus des dummen Kerls«) distanziert, zählt unter ihren führenden Vertretern eine Reihe von Juden, die gewöhnlich dem emanzipierten Bürgertum entstammten  : Victor Adler und seine Söhne Friedrich und Max, Otto Bauer, Friedrich Austerlitz, Rudolf Hilferding, Julius Deutsch, Julius Tandler und viele andere. Ihre Verankerung in der klassischen deutschen Kultur (Goethe, Schiller und in hervorragendem Maß Kant) machte aus ihnen nach dem Ende der Monarchie überzeugte Vertreter des Anschlusses. Trotz der schmerzlichen Erfahrung des deutschnationalen Antisemitismus zweifelten sie nie an ihrem Deutschtum. Manche von ihnen sind selbst noch 1933, ja nach der Katastrophe von 1945 ihren großdeutschen Überzeugungen treu geblieben. Die österreichischen Juden haben nie den Status einer Nationalität gehabt, deren Rechte, insbesondere die Sprache betreffend, im Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes von 1867 festgelegt waren. Dieser Umstand hat zunächst die 130

Die Juden und die österreichische Identität

Assimilation an eine Nationalkultur (die deutsche, ungarische, ­tschechische, polnische) gefördert, dann den Zionismus. Der österreichische politische Antisemitismus, der keineswegs eine Exklusivität der Deutschösterreicher war, hatte seine Wurzeln in der Emanzipation und dem damit verbundenen Aufstieg der Juden innerhalb der Gesellschaft. Die Träger des jeweiligen Natio­nalismus versuchten, den Juden ihre Zugehörigkeit zur Gast-Nation, dem sogenannten »Wirtsvolk« abzuerkennen. Doch dieser Antisemitismus der Konkurrenz und der sozialen Eifersucht, der Luegers christlich-soziale Bewegung in Wien an die Macht gebracht hatte, hat sich rasch in den eliminatorischen rassischen Antisemitismus verwandelt oder sich mit ihm verbündet. Kafka hat unübertroffen hellsichtig die tragische Lage der Prager Juden beschrieben, die von den Deutschen als Juden und von den Tschechen als Deutsche aus ihrer Nation ausgeschlossen wurden. In einer ans Unerträgliche grenzenden Selbsterniedrigung hat er selbst die Sprachgemeinschaft in Frage gestellt und jüdische Schriftsteller deutscher Sprache als »Diebe« und Eltern eines »Zigeunerkinds« beschrieben (Kafka, 211). Für ihn stand das Scheitern des Prozesses der Emanzipation-Assimilation schon fest, als noch die meisten Prager Juden fest an ihr Deutschtum glaubten. An der Blütezeit der österreichischen Kultur um 1900 haben Juden e­ inen entscheidenden Anteil gehabt. (In Frankreich hat das seit der unerhört erfolg­ reichen Ausstellung Vienne – naissance d’un siècle von 1986 im Centre Pompidou zur Folge gehabt, dass in den Medien immer wieder die Gleichung Wiener Kultur = jüdische Kultur verwendet wurde.) Diese Blütezeit hat selbst noch während der ständestaatlichen Ära weitergedauert, obwohl die offizielle Kulturpolitik zwischen 1934 und 1938 gekennzeichnet war durch die Förderung eines Provinzialismus, der den ästhetischen und ethnischen Kriterien des Nationalsozialismus nicht unverwandt war. Doch trotz des katholischen Antisemitismus verhielt sich das Regime tolerant gegenüber der Moderne. Der Anschluss hat dieser Kultur ein brutales Ende gesetzt und eine massive Emigration von jüdischen Künstlern und Wissenschaftlern nach sich gezogen. In der Tat ist die Liste jüdischer Künstler, Intellektueller und Politiker dieser Epoche eindrucksvoll  : Freud, Alfred und Max Adler, Wilhelm Reich, Fritz Mauthner, Wittgenstein und eine Reihe der Vertreter des »Wiener Kreises«, Hans Kelsen (der »Vater« der österreichischen Verfassung), Friedrich Hayek, Mahler, Schönberg, Zemlinsky und Korngold, Hofmannsthal, Kraus, Broch, Zweig, Werfel, Roth, Max Reinhardt, Otto Bauer, Friedrich Adler, Julius Tandler. Aufgrund der Sonderstellung Prags können auch Kafka und die Autoren der Prager deutschen Literatur in dieses Pantheon aufgenommen werden. Ein Autor sephar131

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

discher Herkunft, Elias Canetti, der seine entscheidenden Jahre in Wien zwischen 1924 und 1938 verbracht hat, ist 1981 der erste Nobelpreisträger der österreichischen Literatur geworden. Sein Fall illustriert wunderbar die Politik der kulturellen Reparation und Wiederaneignung der Zweiten Republik, eine Politik, die in zwei zurückgekehrten jüdischen Exilanten, Hans Weigel und Friedrich Torberg, ihre spiritus rectores hatten. Der in Bulgarien geborene britische Staatsbürger Canetti erhielt 1968 den österreichischen Staatspreis für Literatur, obwohl er den Kriterien dieses Preises (man musste zumindest vor 1918 auf dem Gebiet der ehemaligen Monarchie geboren sein) nicht entsprach. Ohne je Staatsbürger gewesen zu sein, wurde er zu einem legitimen Erben der kulturellen Tradition des Landes erklärt. Auch Manès Sperber, geboren 1905 in Zablotow (Galizien, heute Ukraine), seit langem französischer Staatsbürger, wurde mit diesem Preis ausgezeichnet. Österreich hat auch den 1920 in Czernowitz (damals Rumänien, heute Ukraine) geborenen französischen Staatsbürger Paul Celan für sein poetisches Patrimonium reklamiert. In den dreißiger Jahren haben sich angesichts der Drohung des Nationalsozialismus eine Reihe jüdischer Autoren (Andrian-Werburg, Karl Kraus, Joseph Roth, Franz Werfel) ausdrücklich zur österreichischen Identität bekannt, als ob die kleine österreichische Diktatur in der Tat zu einem Refugium von Kultur und Humanität geworden und als ob die untergegangene Monarchie die wahre Heimat der Juden gewesen sei. In dieser Optik kommt der Tragödie Dritter November 1918 von Franz Theodor Csokor (1885–1969), 1929 geschrieben, aber erst 1936 veröffentlicht, nicht zuletzt aufgrund dieses Datums eine besonders interessante Rolle zu. Diese historische Tragödie ist gestaltet als Requiem für die Monarchie. Csokor, in Wien, diesem Schmelztiegel der Völker, geboren, betrachtete sich selbst als typisches Produkt des untergegangenen Österreichs, das in sich deutsche, serbische, kroatische, tschechische und ungarische Züge vereinigte. In seinem Drama, das in einem Rekonvaleszenten-Heim für Offiziere an der heutigen Grenze zwischen Österreich und Slowenien situiert war, vereinigte er Offiziere deutscher, slowenischer, ungarischer, tschechischer, polnischer und italienischer Herkunft, dazu einen kommunistischen rumänischen Meuterer, einen jüdischen Arzt und einen »österreichischen« Oberst. Die Autorität des Obersten von Radosin wird durch das Verhalten des Meuterers und des slowenischen Offiziers in Frage gestellt. Er beschließt, angesichts der Auflösung des Gruppengeistes durch die nationalen Partikularismen Selbstmord zu begehen. Alle verlassen das Haus, um sich in ihre neue Heimat zu begeben, außer dem deutschen Kärntner Ludoltz und dem slowenischen Kärntner Zierowitz, die aus demselben Dorf gebürtig sind  : Doch von nun an werden sie sich im 132

Die Juden und die österreichische Identität

Namen ihrer jeweiligen Nation tödlich bekriegen. Das Stück enthält eine berühmt gewordene emblematische Szene  : Beim Begräbnis des Obersten wirft jeder Offizier eine Schaufel Erde ins Grab, die »nationalisiert« wird zu Kärntner, slowenischer, ungarischer, polnischer, tschechischer und »römischer« Erde. Nur der jüdische Arzt, Doktor Grün, sagt verlegen und zögernd »Erde – aus – Erde aus – Österreich« (Csokor, 607). Sein Humanismus ist nicht nur den nationalistischen Hoffnungen der sich auflösenden Gruppe entgegengesetzt, Grün ist vor allem der deklarierte Gegner des Kärntners Ludoltz, der bereits die nationalsozialistische Ideologie und ihre radikal antiösterreichischen, antikosmopolitischen, antihumanistischen und antisemitischen Positionen verkörpert. Es ist der Jude, der in der Tragödie die humanitas austriaca vertritt. Das Stück hat eine starke Tendenz zur politischen Allegorie, z. B. spielen die »österreichischen« Farben Rot-Weiß-Rot eine wichtige Rolle. Es folgt übrigens in einem Punkt dem emblematischen Stereotyp von Österreich als Frau. Die einzige weibliche Figur des Stücks, die Krankenschwester Christina, ist Objekt der Begierde aller Offiziere, scheint aber Ludoltz bestimmt zu sein. Doch indem sie ihre Herkunft erzählt – sie ist die Waise eines national gemischten Paares (Vater Tiroler, Mutter Dalmatinerin), aufgewachsen unter dem allgegenwärtigen Porträt Kaiser Franz Josephs I. –, betrachtet sie sich selbst als Kind des Kaisers. Ihr kommt es zu, den Waffenstillstand und den Frieden anzukündigen, die sofort vom kriegerischen Ludoltz abgelehnt werden. Das Paar entzweit sich, denn Christina widersetzt sich der männlichen Gewalt. Es handelt sich hier um eine besonders düstere Variante des »tu felix Austria nube  !« oder der strahlenden Brautsymbolik in König Ottokars Glück und Ende. Csokors Tragödie kündigt das Ende der »Hochzeiten« an, darunter auch die zwischen den Juden und der deutschen Nation. Das letzte Wort haben nicht die Liebe der Frau oder die humane Vernunft des jüdischen Arztes, sondern ein brudermörderisches Maschinengewehr. Aus einem Juden die Verkörperung, die Inkarnation einer supranationalen österreichischen Identität zu machen, ist eine Mystifikation a posteriori, deren berühmtestes Beispiel Zweigs posthume Autobiographie Die Welt von gestern ist, wo der Geist der Nostalgie über die Wirklichkeit triumphiert. Denn die jüdischen politischen und kulturellen Eliten (zu denen auch Zweig zählte, dem Josef Redlich sogar das Recht auf eine Beziehung zu Salzburg absprach  ! (Redlich-Bahr, 557)), Produkte eines anscheinend gelungenen Assimilationsprozesses, waren weit davon entfernt, für sich eine österreichische Identität zu reklamieren. Es war das alte Österreich, das nicht nur zur Geburtsstätte des Zionismus wurde, sondern auch zu seinem negativen Gegenstück, dem radikalsten jüdischen Antisemitismus. 133

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Otto Weininger (1880–1903), der in Beethovens Sterbehaus Selbstmord begangen hatte), hatte Jörg Lanz von Liebenfels, den »Mann, der Hitler die Ideen gab«, zu seinen Schriften für »Blonde und Mannesrechtler« inspiriert. Die Schlusskapitel von Geschlecht und Charakter über die Frauen und die Juden haben bis heute antisemitische und frauenfeindliche Theorien genährt. (Die französische Zeitschrift Revision hat noch 1991 triumphierend die entsprechenden Auszüge aus Geschlecht und Charakter, versehen mit antisemitischen Karikaturen, veröffentlicht. Und der italienische Neofaschismus hat sich in ihm erkannt.) In der Gestalt des philosophischen Schriftstellers Arthur Trebitsch (1880–1926), eines Mitschülers Weiningers und Anhängers Chamberlains, hat der jüdische Antisemitismus und der jüdische Kult des Alldeutschtums einen unüberbietbaren Höhepunkt erreicht. Für Trebitsch sind die Deutschen Opfer einer jüdischen Weltverschwörung, Deutschland ist tödlich infiziert vom »morbus judaicus« (Trebitsch, Geist 7–8). Er bedient sich der Protokolle von Zion als »wissenschaftlicher« Quelle, um den jüdischen Einfluss im katholischen Klerus und im Haus Habsburg zu enthüllen, und sieht es als seine »Mission« an, das »ersterbende Volkstum« zu retten. Die schon erwähnte neonazistische Website mit dem Titel Unglaublichkeiten bietet unter anderem Trebitschs Deutscher Geist – oder Judentum  ? im Volltext an. Unter den Veröffentlichungen Trebitschs befindet sich eine große Anthologie von Dokumenten über Friedrich II., dessen »Genie« er schrankenlos bewundert. Er ist tief verletzt durch das Bild Friedrichs II. in Thomas Manns Kriegsessay Friedrich und die große Koalition (siehe das Kapitel über Maria Theresia) und schreibt 1916 Thomas Mann einen langen offenen Brief unter dem Titel Friedrich der Grosse, dessen Passagen über Maria Theresia besondere Aufmerksamkeit verdienen. Die Kaiserin hatte Friedrich als »bösen Mann« bezeichnet, und auch Thomas Mann hatte bei aller Bewunderung Vokabel wie »böse, boshaft, zynisch« gebraucht, um den König zu charakterisieren. Trebitsch protestierte gegen diese pejorativen Adjektiva und berief sich dabei auf Otto Weiningers Theorie, der nur zwei Figuren der Weiblichkeit anerkannte, die Mutter und die Hure, beide gleich gefährlich für das schöpferische männliche Genie. Trebitsch zog daraus den Weininger’schen Schluss  : »Die Hure hasst, die Mutter fürchtet den genialen Mann. Denn beide können ihn nicht besitzen « (Trebitsch, Mann, 31–32). Und Friedrich II. war der Hure in der Person der Pompadour und der Mutter in der Person Maria Theresias konfrontiert. Beiden Frauen widersteht er »heroisch«. Was heute in Deutschland und Österreich noch Überzeugung einer sektiererischen Minderheit ist, hatte in den zwanziger und dreißiger Jahre ein beträchtliches Echo. Trebitsch, der die junge österreichische NSDAP förderte und ermutigte, sah 134

Die Juden und die österreichische Identität

übrigens im sozialdemokratischen Politiker Engelbert Pernerstorfer einen Vorläufer des Nationalsozialismus und verdächtigte »Zion«, ihn 1918 vergiftet zu haben, um ihn daran zu hindern, in der neuen Republik die Interessen des Deutschtums zu vertreten. Diese Republik war in seinen Augen das Ergebnis eines jüdischen Komplotts. Wie Weininger verachtete Trebitsch das verweiblichte Rassengemisch Österreich, das Opfer einer gezielten jüdischen Invasion. Er sah sich übrigens selbst als Messias des deutschen Volkes, als »letzten Retter der nordischen Rasse« (Trebitsch, Geist, 8). Er schätzte Lanz von Liebenfels und seine Zeitschrift Ostara hoch. Dieser hatte öffentlich erklärt, Karl Kraus sei der »Retter des Ario-Germanentums« (Fackel, 386, 1–8 und Brenner IV, 4, 186–190), da er in ihm das Modell eines jüdischen Antisemiten sah, der nur durch Zufall in die jüdische Rasse geraten sei. Er hat sich sichtlich in der Person getäuscht. Während die Absurditäten Trebitschs und Lanz von Liebenfels’ längst vergessen sind, hat Weininger nicht nur unauslöschliche Spuren in der Literatur und Philosophie hinterlassen, sondern übte sogar nach 1945 eine gewisse Faszination in der extremen Rechten in Europa aus, namentlich in Italien, wo sein Virilitätsideal sehr früh Wirkung gezeigt hat. (Es ist nicht verwunderlich, dass er die Gründung einer neuen schlagenden jüdischen Burschenschaft im Sinn hatte.) Der größte Teil der kulturellen jüdischen Eliten Österreichs gehört heute neben Rilke und Musil zum internationalen Kanon. Die zahlreichen Debatten über die österreichische Identität seit den 1970er Jahren, aufgenommen von ­einer voluntaristischen kulturellen Außenpolitik, haben den jüdischen Anteil an der österreichischen Identität nicht nur rehabilitiert, sondern ins Zentrum gerückt. Der Höhepunkt dieses offiziellen Kulturexports fällt in die »Ära Kreisky«. Der exilierte Jude Kreisky hat nicht nur das Kunststück zuwege gebracht, 13 Jahre lang von 1970–1983 Bundeskanzler zu sein, er ist – glaubt man den Meinungsumfragen – zur anerkannten Verkörperung der typisch öster­reichischen Eigenschaften geworden. Die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung platzierten ihn an der Spitze aller vergangenen und gegenwärtigen nationalen politischen und kulturellen Ikonen, weit vor dem emblematischen historischen Trio Johann Strauß, W. A. Mozart und Maria Theresia. Österreich hat es unerhörter Weise geschafft, als das gemeinsame Haus der großen Exilierten, aber auch als Zufluchtsstätte der »Borderliners« anerkannt zu werden. (Ich habe in Frankreich daran mitkonstruiert.) An den neu geschaffenen Lehrstühlen für österreichische Literatur wurde intensiv an der Austrifizierung der Literatur und an der Ausarbeitung eines Kanons gearbeitet, dessen Basis weitgehend von jüdischen Autoren gebildet wurde. Der ästhetische 135

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

­ anon der dreißiger Jahre, der noch lange nach 1945 in Geltung war, wurde reK gelrecht umgekrempelt. Die neue Generation der Germanisten bekämpfte ihre Vorgänger, in denen sie (meist zu Recht) die Totengräber der republikanischen österreichischen Identität sahen. (Noch 1953 konnte eine Literaturgeschichte unter dem Titel Katholischer Geist in Österreich erscheinen, in der behauptet wurde, dass die jüdische Großstadtliteratur nicht an der echten österreichischen Literatur teilhabe, ja dass sogar die Protestanten unsichere Österreicher seien.) Der hier sehr verknappt skizzierte Prozess der Eingemeindung der Juden ist umso paradoxaler, wenn man die Haltung der jüdischen Liberalen des 19. Jahrhunderts in Betracht zieht. Das Jahr 1848 war das große Jahr der Freiheit und der Presse. Es ist das Geburtsjahr der Zeitung Die Presse, deren ­Nachfolgerin ab 1864, die Neue Freie Presse, das Sprachrohr der liberalen Bourgeoisie wurde. Die Chefredakteure dieser österreichischen Times waren alle jüdischer Herkunft. Nach dem Tod ihres Gründers, Michel Etienne, im Jahre 1879, der in seiner Jugend an der Revolution von 1848 teilgenommen hatte, waren seine Nachfolger Eduard Bacher (1846–1908) und Moriz Benedikt (1849–1920, Chefredakteur seit 1908) typische Repräsentanten der deutschen liberalen ­Juden aus Böhmen und Mähren, der »Wortführer des Deutschtums in Österreich« (Wandruszka, NFP, 93). (Die geographische Herkunft aus dieser Zone, in der sich die härtesten Sprachkämpfe abspielten, ist von größter Bedeutung. Denn hier stellte sich die Frage der kulturellen Hegemonie besonders intensiv. Kronprinz Rudolf hatte den Tschechen dieser Region bedeutende kulturelle »Fortschritte« attestiert, und Karl Renner, ebenfalls aus Mähren gebürtig, sah die Aufgabe der kulturell führenden deutschen Nationalität darin, die Slawen auf die Höhen der Kultur zu führen.) Die politische Linie der liberalen Presseherren war unveränderbar  : Behauptung der überlegenen Vormachtstellung der Deutschösterreicher, Kampf gegen den Klerikalismus und damit gegen die Christlich-Soziale Partei Luegers, ihr rotes Tuch  ; grenzenlose Bismarckophilie  : Moriz Benedikt hat 1882 ein bemerkenswertes Interview mit Bismarck veröffentlicht, das dieser selbst mit dem Wortspiel Benedictus bene dixit (Wandruszka, NFP, 107) abgesegnet hatte  ; dementsprechend war die Zeitung für ein festes Engagement an Deutschlands Seite im Zweibund und verteidigte die »Nibelungentreue« zum wilhelminischen Deutschland bis zum bitteren Ende, propagierte die Fortführung des Krieges bis zum »Siegfrieden« und nahm endlich Stellung für den Anschluss nach dem Ende der Monarchie. Trotz dieser offen deutschfreundlichen Linie hat sich die Zeitung, ohne die man angeblich in Österreich nicht regieren konnte, dem 136

Die Juden und die österreichische Identität

Kaiser gegenüber immer als loyal erwiesen. Moriz Benedikt war der einzige Journalist, der von Kaiser Franz Joseph I. zum Mitglied des »Herrenhauses« ernannt wurde. Dagegen hatte der Thronfolger Franz Ferdinand in der Neuen Freien Presse keine Freunde. Trotz seiner eindeutigen deutsch-liberalen Linie war die Zeitung Zielscheibe der alldeutschen antisemitischen Bewegung von Schönerers, denn er sah in ihr ausschließlich ein Werk der jüdisch-kapitalistischen Weltverschwörung. Der junge Hitler bewunderte zuerst die journalistische Qualität der Zeitung, ja die »Objektivität« der Wiener »Weltpresse«, bevor er den Wurm in der Frucht entdeckte, nämlich die Verbeugung der liberalen Presse vor dem Haus Habsburg. Seine allmähliche »antisemitische Erziehung« führte über die Entdeckung, dass sich die liberale und sozial-demokratische Presse ausschließlich in jüdischen Händen befand. Er verabscheute ihre »Frankophilie« und die kritische Haltung gegenüber Wilhelm II. Doch das wirklich Unverzeihliche blieb für ihn die Unterstützung des Kaiserhauses, das in seinen Augen der größte Feind der deutschen Nation war und ist. Hitler hielt darum die Allianz Deutschlands mit Österreich, diesem heruntergekommenen und antinationalen Habsburgerstaat, für verderblich (Hitler, 56–58). Aus den genau entgegengesetzten Gründen hat Karl Kraus aus Moriz Benedikt, dem Herold der »ausgebauten und vertieften Beziehungen« mit Deutschland, den »Herrn der Hyänen« (Kraus LT, Epilog), die übelste Figur seines Antikriegsdramas Die letzten Tage der Menschheit gemacht. In der Innen- und Außenpolitik spiegelt die liberale Großpresse alle Probleme wider, die einen guten Teil der Deutschösterreicher dazu gebracht haben, mit ihrem eigenen Staat zu brechen. Es gibt noch einen anderen Maßstab als die Außenpolitik, um Form und Grad des Patriotismus des deutsch-liberalen Milieus zu bestimmen. Eine Spezialität der Neuen Freien Presse war das »Feuilleton«, dessen unbestrittener Meister Daniel Spitzer war, der Autor der hochgeschätzten Wiener Spaziergänge. Während Karl Emil Franzos durch die östlichen Grenzgebiete (Galizien, Bukowina) wanderte, um im Namen der deutschen Kultur den halbbarbarischen Zustand der Halb-Asiaten herabzusetzen, entwarf Spitzer wenig freundschaftliche ethnographische Porträts der slawischen Völker der habsburgischen Erblande, namentlich in Krain, Kroatien, Böhmen und Mähren. Man muss sich Rudolfs »Kronprinzenwerk« ins Gedächtnis rufen, diesen enzyklopädischen ethnologischen Versuch, alle Nationalitäten und Sprachen im Geist der Verfassung, die ihre Gleichheit garantierte, wissenschaftlich zu erfassen, um den Abgrund zwischen dem Geist dieses Unternehmens und der Realität zu ermessen. Einige Beispiele genügen, um den Geist dieser 137

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

emanzipierten und der deutschen Kultur assimilierten jüdischen Liberalen zu illustrieren. Im Gefolge der anti- und postkolonialen amerikanischen, englischen und französischen Studien hat auch das schlechte österreichische Gewissen begonnen, Österreich-Ungarn als Land eines Binnen-Kolonialismus zu entdecken. Und es gibt keine interessanteren Vertreter dieses binnen-kolonialistischen Geistes als jene, die in sich selbst den Status eines als kulturell inferior geltenden Volkes überwunden hatten. Karl Emil Franzos ist ihr Prototyp. Gegenüber dem Ostjudentum sieht er sich als Erben der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Gegenüber den Völkern »Halb-Asiens« (Ruthenen, Polen, Rumänen, Zigeuner, orthodoxe Juden) fordert er den Geist des kulturellen, wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, der in seinen Augen in Deutschland verkörpert ist. Selbst da, wo er eine gewisse Sympathie für die volkstümliche Vitalität der Analphabeten und Halb-Barbaren der Bukowina empfindet, ist diese Sympathie durchsetzt von Herablassung und negativen Klischees. Nun gehört zu den abwertenden Urteilen über Österreich im Allgemeinen und Wien im Besonderen die Idee, dass Asien bereits in den östlichen Vororten der kaiserlichen Hauptstadt beginne. (Unter anderen soll sich Metternich so geäußert haben.) Ein unerwartetes Zeugnis dieses Österreichbildes findet sich in Egon Friedells berühmter Kulturgeschichte der Neuzeit (1927–1931), in der Österreich-Ungarn als Infektionsherd der Rückständigkeit und Dummheit hingestellt wird. Diese Aburteilung kombiniert sich logisch mit der unbeschränkten Bewunderung für Friedrich II. und Bismarck, die emblematischen Gegner Habsburgs. Maria Theresia wird dagegen als völlig bedeutungslos gegenüber dem genialen Philosophen auf dem Thron abgetan, dem im Namen des »Genies« (Friedell II, 192 ff.) alles verziehen wird. In diesem Punkt teilt der aufgeklärte Historiker das delirium germanicum von Arthur Trebitsch. Um den anachronistischen Zustand Österreichs zu erklären, das sich im Widerspruch zum »Zeitgeist« befunden habe, dem Friedell im Namen der fortschrittlichen Entwicklung immer Recht gibt, bezieht er sich auf einen Essay Ferdinand Kürnbergers (siehe auch das Kapitel über die Literatur). Nach einem abwertenden Porträt Metternichs, in dem Friedell einen Mephistopheles sieht, eine Verkörperung der trockenen Vernunft, die alles verneint, sagt er über dessen »Identität«  : »Dieser ›Zugereiste‹ war eine der vollkommensten Verkörperungen des Wiener Geistes.« (Der beste Österreicher ist oft ein »gelernter Österreicher« wie der Prinz Eugen und eben Metternich.) Die Definition dieses Geistes überlässt er Kürnberger, für den es ein ungerechter Irrtum sei, Wien 138

Die Juden und die österreichische Identität

als deutsche Stadt zu sehen und zu beurteilen  : »Dagegen wird alles licht und klar, fasslich und verständlich, gerecht und billig, wenn Sie Wien nehmen als das, was es ist – eine europäisch-asiatische Grenzstadt  ! … Unbegreiflich ist also Österreich nicht  ; man hat es als eine Art Asien zu begreifen. Was aber Europa und Asien bedeuten, das sind sogar sehr scharfe und präzise Begriffe. Europa ist das Gesetz, Asien ist die Willkür  ; Europa ist die Pflicht, Asien die Laune  ; Europa ist das Streng-Sachliche, Asien ist das Rein-Persönliche  ; Europa ist der Mann, Asien das Kind und der Greis« (Friedell III, 36–38). Friedell stimmt dieser Definition völlig zu. Sie ließe sich spielend ergänzen durch »Europa ist deutsch, Österreich ist halb-asiatisch«. Daran lässt sich ermessen, wie tief die jüdischen Liberalen selbst nach dem Ende der Monarchie von ihrer zivilisatorischen deutschen Mission in »Halb-Asien« überzeugt blieben. Tragische Ironie der Geschichte  : Am Tag des Anschlusses hat Friedell Selbstmord begonnen, um der Gestapo zu entgehen. Einer der emblematischen Orte der deutschen Kulturmission in »HalbAsien« war Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, in der 1875 eine »deutsche« Universität gegründet wurde. Die jüdisch deutschsprachige Bevölkerung lebte in einer Umgebung von Ruthenen, Rumänen, Ungarn und Deutschen. Die Stadt ist zu einem außerordentlichen kulturellen Zentrum geworden, das heute in Paul Celan den symbolischen Vertreter einer untergegangenen Kultur gefunden hat. Franzos hat dem Volksfest bei der Einweihung der deutschen Universität einen Essay mit dem Titel »Ein Culturfest« (Franzos, Kapitel 11) gewidmet, in dem er dem deutschen Geist dafür dankt, ein »blühendes Stücklein« europäischer Kultur »mitten in die halb-asiatische Kulturwüste« hineingestellt zu haben. Er beschreibt das festliche Gebaren jener, die von der Institution ausgeschlossen sind, d. h. der Huzulen, Slowaken, Rumänen und Ruthenen, und erwähnt kurz die orthodoxen Juden in ihrer alten polnischen Kleidung, die sich abseits halten. Die Absicht ist nur allzu klar  : Die Universität ist der Leuchtturm der Kultur, die nicht emanzipierten Völker liefern nur einen sympathischen folkloristischen Dekor für den Einzug der modernen Zivilisation in ihre Welt. Wenn sich Franzos über die wirkliche Grenze zwischen Europa und Asien Gedanken macht, kommt er zu dem ironischen Ergebnis, dass der Zug Wien-Jassy (in Rumänien) zwei Mal Europa und zwei Mal Asien durchquert, wobei sich Galizien in Asien, die Bukowina aber in Europa befindet. Um Halb-Asien und das tiefe Asien zu charakterisieren, verwendet Franzos die abwertende Metapher »Morast«  : »In diesem Morast gedeiht keine Kunst mehr und keine Wissenschaft, vor allem aber kein weißes Tischtuch mehr und kein gewaschenes Gesicht« (Franzos, Kapitel 9). Franzos hat seine Reportagen unter 139

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

anderem in der Neuen Freien Presse veröffentlicht, obwohl er eher im Berliner literarischen Milieu zu Hause war. Während Franzos sein halb-asiatisches Geburtsland, von dem er sich unter Schmerzen emanzipiert hatte, dem kritischen Blick der Zivilisation unterwarf, interessierte sich der gebürtige Wiener Daniel Spitzer eher für die südöstliche Peripherie des Reiches und das nahe Böhmen. Bedenkt man die Sympathie, die Joseph Roth seiner slowenischen Romanfamilie von Trotta entgegengebracht hat, so ermisst man den Abstand zwischen nostalgischer Verschönerung der Vergangenheit und dem sarkastisch herablassenden Gestus des liberalen »Wiener Spaziergängers«. Im Mittelpunkt der Verachtung steht das kulturelle Gefälle, das sich nach Spitzer aus der Herrschaft des katholischen Klerus über das Gewissen seiner Schäflein erklärt. Der liberale Antiklerikalismus lässt sich leicht mit dem Antislawismus verbinden. Es genügt, an die Ängste der liberalen Deutschösterreicher bei der Besetzung Bosnien-Herzegowinas zu erinnern  : Sie befürchteten das Anwachsen der slawischen Bevölkerung und zugleich die Offensive des kroatischen Klerus, um Orthodoxe und Muslims zum Katholizismus zu bekehren. Was Krain, das heutige Slowenien, angeht, macht sich Spitzer über die slowenische Sprache lustig und über den Gebrauch, den die »Slowenissimi« im Reichsrat von ihr machen. (Man muss wissen, dass die erste slowenische Grammatik erst 1808, noch dazu in deutscher Sprache erschien.) Darauf folgt ein Angriff auf das Konkordat und die Geistlichkeit, »welche über alles Deutsche das Anathema ausgesprochen und die Bauern in den Slowenismus gehetzt hat«. Die Pfarrer hinderten die Kinder daran, Deutsch, die Sprache »Satans« und des Steueramts, zu lernen. In ihrem Kampf gegen das Deutschtum hätten sich die Slowenen sogar eine absurde Mythologie erfunden  : Sie seien als »Arrieregarde der Hunnen« längst vor den Deutschen in Krain ansässig geworden. In schroffem Gegensatz zum Gleichheitsprinzip der Verfassung herrscht bei Spitzer blanker Hohn gegenüber einer unhistorischen Nation, dem »Nachtrab König Etzels«, der sich einbildet, heute an der »Spitze der Zivilisation« zu marschieren (Spitzer I, 117–118). Mit den Kroaten wird nicht anders verfahren. Spitzer macht sogar den Namen ihrer Hauptstadt lächerlich  : »Zagreb, ein Name der ein wenig ans Innere von Afrika erinnert, unter dessen wildkroatischer Außenseite jedoch sich nur das friedlicher klingende Agram […] verbirgt«. (Agram war der deutsche Name der Stadt.) Dass hier beinahe kolonialistische Töne angeschlagen werden, liegt auf der Hand. Er macht sich auch über die linguistischen Arbeiten des kroatischen Nationalisten Fran Kurelat lustig, »dem man die Erfindung sehr vieler kroatischer Wörter verdankt«. Hinter diesem Sarkasmus steht die Überzeugung von der 140

Die Juden und die österreichische Identität

Überlegenheit der deutschen Sprache, deren Wortschatz unendlich reicher sei als der der slawischen Sprachen. (Er vergisst aber, dass das Interesse der slawischen Nationen an ihren eigenen Sprachen durch die Sprachromantik Herders geweckt worden ist.) Ein weiteres Objekt des Spottes für den Vertreter des Wiener Weltblatts ist die lokale Presse  : Der Leitartikel der Agramer Zeitung ist so langweilig, dass Spitzer beim Lesen »sanft« einschläft. Aus nationalem Stolz hat man die deutschen Straßennamen durch kroatische ersetzt, aber das stört die ausländischen Touristen nicht, denn jede Stelle der Stadt ist gleich langweilig. Auf manchen Straßen sieht man noch »Ochsen und Kühe lustwandeln«, kurz Spitzer hat einen Abstecher aus der Zivilisation in »ein bisschen Barbarei« gemacht (Spitzer 3, 103–109). Er ist weniger herablassend, wenn er böhmische und mährische »Spaziergänge« unternimmt, aber ein ironischer Unterton ist auch hier nicht überhörbar. Doch im Gegensatz zur südlichen Peripherie scheint in Böhmen und Mähren die Zivilisation große Fortschritte gemacht zu haben. Obwohl die jüdischen Deutschliberalen im Allgemeinen die Vorurteile ihrer alldeutschen Mitbürger teilen, die der diffusen Angst vor der Slawisierung entspringen, ziehen sie daraus kaum den radikalen Schluss, mit ihrem eigenen Staat zu brechen. Auch die Sozialdemokratie hält an der Existenz des Staates fest, der ihr die Möglichkeit zu bieten scheint, eine kleine sozialistische Internationale zu bilden. Selbst im liberalen Lager finden sich jüdische Stimmen, die für eine friedliche und gleichberechtigte Koexistenz der Nationalitäten eintreten. Der interessanteste Fall ist ohne Zweifel der Arzt Adolf Fischhof (1816–1893), ein Protagonist der Revolution von 1848. Seine Rede über die Pressefreiheit am 13. März 1848 war ein Auslöser der Revolution gewesen. Im schroffen Kontrast zur dominierenden deutsch-nationalen Begeisterung enthielt sie ein wahres österreichisches Credo. Auf Fischhofs Grabstein steht der zentrale Satz dieser Rede  : »Eine überaltete Staatskunst hat die Völker Österreichs bisher auseinandergehalten  ; sie müssen sich jetzt brüderlich zusammenfinden u. ihre Kräfte durch Vereinigung erhöhen.« Das klingt beinahe wie die dynastische Devise Viribus unitis  ! Fischhof ist ebenso wie die Deutschliberalen von der Überlegenheit der deutschen Kultur überzeugt, aber er zieht daraus ganz andere Schlüsse. In einem Buch mit dem Titel Österreich und die Bürgschaften seiner Existenz, drei Jahre nach der Katastrophe von Königgrätz erschienen, die er als logische Folge des Scheiterns der Revolution von 1848 ansah, bringt er eine Reihe von Argumenten für den Fortbestand des Vielvölkerstaates vor. Er geht von der Feststellung aus, dass in Österreich ein Gegensatz zwischen »Nationalbewusstsein« und »Staatsbewusstsein« bestehe, dass aber die Wirklichkeit des Staates über die na141

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

tionalistischen Gefühle triumphieren müsse. Es gelte, die von den Chauvinisten aller Nationalitäten entfachten Brände zu löschen und dem Artikel 19 der Verfassung politisches Leben einzuhauchen. Für ihn hat die Dynastie vor allen anderen Imperien den fundamentalen Vorteil, dass sie nie versucht habe, ihre Sprache den verschiedenen Völkern ihres Reiches aufzuzwingen. Gegen den Pangermanismus und noch mehr gegen den russischen Panslawismus vertritt er den österreichischen Partikularismus, der jede Nationalität und ihre Sprache respektiere. Im Gegensatz zur Verachtung Spitzers für Slowenen und Kroaten, die sich nicht germanisieren lassen wollen, möchte er die Entwicklung jeder partikularen Kultur und Sprache fördern. Er fordert eine Erziehungspolitik, die den verschiedenen Nationalitäten den Unterricht in ihrer Sprache von der Volksschule bis zur Universität garantiert. In seinen Augen wäre die Gründung von slawischen, rumänischen und italienischen Universitäten eine stärkere Garantie der Einheit des Staates als seine Armee. Es geht darum, jede Nationalität zu ihrer Würde zu erheben, um das »Rassegefühl« zu bekämpfen, denn das Rassegefühl ist nach ihm das pathologische Produkt einer tiefen Verletzung des Nationalgefühls. Wenn es in diesem Geiste handelte, würde Österreich der deutschen Kultur und Sprache den größten Dienst erweisen, denn angesichts des riesigen wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Fortschritts hätte »die kleine Sprache einer kleinen Nationalität« niemals die notwendige Kapazität, um die moderne Welt zu bemeistern. Unter diesen Bedingungen würden sich die österreichischen Völker freiwillig der deutschen Kultur zuwenden, statt sich vom russischen Völkergemisch aufsaugen zu lassen. Selbst nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik hat Fischhof nach dem österreichischungarischen Ausgleich von 1867 versucht, sich für einen österreichisch-tschechischen Kompromiss einzusetzen. Gegen die nationalistischen »Brandstifter« übernimmt er die Rolle des Friedensstifters und Feuerwehrmanns. In diesem Geist veröffentlichte er 1885, dem unseligen Schönerer-Jahr, eine Broschüre mit dem Titel Die Sprachenrechte in den Staaten gemischter Nationalität, in der er die Lage Österreichs unter anderen mit Kanada, Belgien und der Schweiz vergleicht. (Unlängst hat Helmut Konrad den Vergleich zwischen Kanada und Österreich aufgenommen. In beiden Fällen ist der Prozess der nationalen Identität über die systematische Abgrenzung vom großen Nachbarn verlaufen.) Fischhof ist sich der Gefahr bewusst, die der Sprachenstreit für die Existenz des Staates darstellt. Sein Vokabular bezeugt es  : »gefährlicher Confliktstoff«, »offene Feldschlacht«, »Feuerschlünde«, »Getöse«, »Sprachen-Moloch« (Fischhof, 3–6). Doch er bleibt überzeugt, dass eine Befriedung möglich ist. Ihre Grundlage müsse »Pflege und ungehinderte Ausbildung der Sprache« sein. Das 142

Die Juden und die österreichische Identität

sei überall ein »Postulat der Gerechtigkeit«, in Österreich sei es darüber hinaus ein »Gebot der Staatsräson« (Fischhof, 5). Der Staat muss gegen die »Apostel der nationalen Unduldsamkeit« vorgehen. Fischhof vergleicht den »von den nationalen Heißspornen geübten Terrorismus« mit dem Fanatismus der Religionskriege. »Und die nationale Unduldsamkeit sollte mit den liberalen Grundsätzen vereinbar, der Racenkampf minder inhuman und abscheulich als der Religionskrieg sein  ?« (Fischhof, 7). Er unterscheidet sich also deutlich von den deutsch-liberalen Positionen, seien sie gemäßigt oder extrem, und bleibt trotzdem der Überzeugung treu, dass die rechtliche Gleichstellung der Sprachen vereinbar sei mit der »Anerkennung des tatsächlichen Übergewichts einer großen Cultursprache« (Fischhof, 6). Anders gesagt  : Die Vorherrschaft der deutschen Sprache ist eine »Staatsnotwendigkeit«. Man müsse sorgfältig zwischen »rechtlicher Gleichheit« und »Gleichbefähigung« (Fischhof, 58) unterscheiden. Letztere sei die unabdingbare Prämisse für die Anwendung der ersten. Kurz, Fischhof glaubt und hofft auf eine »rationelle Lösung« der Nationalitätenfrage auf der Grundlage des ausgezeichneten Artikels 19 des Grundgesetzes, dem nur noch die den jeweiligen regionalen Situationen angepassten Durchführungsbestimmungen fehlen. Fischhofs Optimismus beruht auf den geglückten Modellen Schweiz und Belgien. Für ihn scheint Belgien die Lösung für die Konflikte anzubieten, die Böhmen erschüttern (Fischhof, 8). Leider scheint gerade dieses Beispiel zu zeigen, dass der quasi-religiöse Charakter des Nationalismus, der sich ausschließlich durch die »Race« und die Sprache definiert, gegen die »rationellen Lösungen« immun ist. Die Kriege in Ex-Jugoslawien sind eine weitere unselige Illustration des Phänomens, umso absurder, als dieser Staat 1918 als brüderliche Vereinigung der Südslawen geschaffen wurde. Während sich Fischhof noch auf dem realen Terrain der Monarchie schlug, hat sich seine friedliche Konzeption des Zusammenlebens der Nationalitäten bald in die »österreichische Idee« verwandelt, das heißt in die Verklärung von etwas, das ein experimentum mundi (Musil) hätte sein oder werden können. Viel realitätsnäher hat Fischhof festgestellt, dass die »reine Rasse« ein Phantasma ist, denn die österreichische Realität sei seit langem die »Rassenmischung«, attestiert durch das Paradox, dass die heftigsten tschechischen Nationalisten deutsche Namen (Jungmann, Rieger) trügen und so mancher Alldeutsche slawische. Der nationalistische Fanatismus beleidige also die eigenen Ahnen und Enkel (Fischhof, 59). Die österreichische Idee ist eine Idee der Vielheit, die eo ipso mit dem nationalen Monotheismus unvereinbar ist. Im 19. Jahrhundert war diese Vielfalt eine politische Realität, die zur Gründung von Nationalstaaten geführt hat, also zum Sieg der nationalen Einheit. Das Problem der Deutschös143

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

terreicher in dem nahezu mono-nationalen Staat nach 1918 – denn die slowenischen, kroatischen oder tschechischen Minderheiten sind ohne Gewicht im Gegensatz zur deutschen Minderheit in der tschechoslowakischen Republik –, war der Riss zwischen der pluralistischen Idee und der nationalen Wirklichkeit. Es wäre hochinteressant gewesen, wie ein Fischhof auf diese neue Gegebenheit reagiert hätte. Hätte er die humanistische Haltung des jüdischen Arztes in Csokors Tragödie eingenommen  ? Fischhofs Analyse der Sprachen- und Nationalitäten-Frage kennt noch keinen Zweifel an der kulturellen Identität der österreichischen Juden. Er ist selbst ein Beispiel der Assimilation an die deutsche Kultur. Diese selbstverständliche Symbiose wird fragwürdig durch die Entstehung des politischen Zionismus in Reaktion auf den rassischen Antisemitismus, doch der politische Zionismus bleibt dem deutschen kulturellen Modell treu. Erst der kulturelle Zionismus der Peripherie (Buber, der Chassidismus, Max Brod und in gewissem Sinn Kafka) wird eine religiös getönte jüdische Identität einfordern, das totale Gegenteil der Haskala. Das aber ist keine österreichische Geschichte mehr. Die Identifizierung der assimilierten österreichischen Juden mit der »österreichischen Idee« hat spät stattgefunden. Es brauchte dazu die Machtübernahme Hitlers in Deutschland und die Errichtung des katholischen Ständestaats in Österreich. Die oft spektakulären Bekenntnisse zu Österreich aus dieser Zeit und dem Exil sind Gegenstand des Kapitels über die katholischen Phantasmagorien.

8. DER ÖSTERREICHISCHE KATHOLIK ADOLF HITLER Adolf Hitler, der auf den ersten Seiten von Mein Kampf so glühend das Verschwinden Österreichs und sein Aufgehen in einem großdeutschen Reich herbeigesehnt hatte, darf und muss als der unfreiwillige, aber wahre Vater der österreichischen Nation bezeichnet werden. Ohne ihn würde die kleine, selbstsichere und stolze Nation von heute nicht existieren. Niemals hat in der historischen Wirklichkeit das dialektische Schema von These, Antithese und Synthese eine erstaunlichere Illustration erfahren. Das gilt ganz besonders für den Begriff der Aufhebung in seiner dreifachen Bedeutung von Negation, Aufbewahrung und Erhöhung. Die Auferstehung Österreichs im Jahre 1945 stand auch im Gegensatz zu den dialektischen Hoffnungen jener sozialdemokratischen Theoretiker, die im Nationalsozialismus die historische Antithese sahen, 144

Der österreichische Katholik Adolf Hitler

deren Überwindung zu einer großen sozialistischen deutschen Republik führen sollte, der Österreich als wesentlicher Bestandteil angehört hätte. Es wäre also in Sachen Österreich bei der bloßen Negation geblieben. Der erste Band von Mein Kampf, 1925 erschienen, trägt den Untertitel »Eine Abrechnung« und ist in hohem Maß der Verteufelung der Habsburger Monarchie gewidmet, die Hitler als »Heimat« liebte, doch als Staat hasste und verachtete. Um die Substanz des Phänomens Nationalsozialismus zu begreifen, muss man seine österreichischen Wurzeln mindestens so sehr in Rechnung stellen wie die Tradition des preußischen Militarismus und die Folgen der Reformation. Der getaufte Katholik Hitler hat immer die tausendjährige Macht der katholischen Kirche bewundert und nicht gezögert, die Artikel seines nationalsozialistischen Parteiprogramms mit den jeder Diskussion entzogenen unbeugsamen katholischen Dogmen zu vergleichen. Nach ihm muss sich eine politische Bewegung, die ernsthaft den Sieg »einer völkischen Weltanschauung« wünscht, auf die »unerschütterliche Sicherheit und Festigkeit ihres Programms« (Hitler, 513) stützen. Denn will man »Menschen mit blindem Glauben an die Richtigkeit einer Lehre erfüllen«, darf kein Buchstabe des Programms verändert und dem Zeitgeist angepasst werden. Hitler verbietet also seinen Anhängern jede Diskussion, Kritik oder »Verbesserung« der »fünfundzwanzig Thesen« des Parteiprogramms aus dem Jahre 1920 , der »unerschütterlichen Grundlage« der Bewegung, gleichgültig ob sie in Widerspruch mit der Wirklichkeit gerät  : »Auch hier hat man an der katholischen Kirche zu lernen« (Hitler, 512), denn trotz aller Widersprüche zwischen ihren Dogmen und den Erkenntnissen der exakten Wissenschaften (die sich ohnehin in ununterbrochenem Wechsel befinden), hat sie es nie akzeptiert, auch nur ein Jota an ihrer Lehre zu ändern. Dieselbe »dogmatische Festlegung« verleiht der nationalsozialistischen Doktrin »einen Glaubenscharakter«, macht aus dem Programm ein »politisches Glaubensbekenntnis« (Hitler, 511). Unter den historischen Quellen des Nationalsozialismus hat man oft L ­ uthers Reformation zu finden geglaubt. Thomas Mann hat seiner »Abrechnung« mit Deutschland, dem Roman Doktor Faustus (1943–1947), diese Hypothese zugrundegelegt. Im Brenner von 1934 hat der Konvertit Theodor Haecker im Namen Vergils, des »Vaters des Abendlandes«, den posthumen Scheiterhaufen für Luther gefordert, den er für die Verkehrung des Kreuzes ins Hakenkreuz verantwortlich machte. (Schon der alte Kaiser Karl V. hatte es als große Sünde bedauert, Luther am Leben gelassen zu haben.) Der österreichische Kryptoprotestantismus hat seit jeher das katholische Österreich als hassenswerte Stiefmutter und Deutschland als sein wahres Vaterland angesehen. Doch erstaun145

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

licherweise bezieht sich Hitler nie auf Luther, obwohl sich der großdeutsche Nationalismus auf das Wartburg-Fest von 1817 anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Reformation als einen seiner Geburtsorte berief. Hitler kritisiert im Gegensatz dazu scharf die politische Ehe zwischen Alldeutschtum und Protestantismus, die in Österreich am Ende des 19. Jahrhunderts von Schönerer und seinen Anhängern gepflegt wurde. Zur Zeit der Abfassung von Mein Kampf scheinen ihm Nationalsozialismus und Katholizismus durchaus vereinbar. Er betrachtet also die Verwendung des Protestantismus als Waffe gegen Habsburg, seinen Erbfeind, als wirkungslos, ja schädlich. Der tiefere Grund dafür ist darin zu suchen, dass für ihn die katholische Kirche eine entscheidende Qualität besitzt, die dem protestantischen Individualismus fehle  : Sie verfügt seit 2000 Jahren über die Kunst, die Massen zu verstehen und zu beherrschen. Wenn man bedenkt, welch unerhörte Rolle Luthers Bibel und der protestantische Klerus in der Entfaltung der deutschen Kultur gespielt haben, ist Hitlers distanzierte Haltung mehr als erstaunlich. Er geht sogar so weit, die Verpflichtung der Priester zum Zölibat zu verteidigen, denn dieser habe es der katholischen Kirche ermöglicht, die Bildung einer sich selbst reproduzierenden Elite zu verhindern  : »Denn dadurch, dass dieses Riesenheer geistlicher Würdenträger sich ununterbrochen aus den untersten Schichten der Völker heraus ergänzt, erhält sich die Kirche nicht nur die Instinkt-Verbundenheit mit der Gefühlswelt des Volkes, sondern sichert sich auch eine Summe von Energie und Tatkraft, die in solcher Form ewig nur in der breiten Masse des Volkes vorhanden sein wird. Daher stammt die staunenswerte Jugendlichkeit dieses Riesenorganismus, die geistige Schmiegsamkeit und stählerne Willenskraft« (Hitler, 480). Gerade diese Fähigkeiten mangelten den akademischen und intellektuellen Eliten, die das Führungspersonal des österreichischen Pangermanismus stellten. Hitler distanziert sich klar vom zuweilen brutalen Antiklerikalismus der Alldeutschen, der sich gerne als Wiederkehr der Reformation in Österreich verstanden hätte. Gegen jede Erwartung bagatellisiert Hitler die Bedeutung des österreichischen »Kulturkampfs« und behauptet ironisch, dass nur laue Opportunisten die katholische Kirche verlassen hätten, was ihr nicht im Geringsten geschadet habe. (Die Mimikry der katholischen Kirche zeigt sich auch in Hitlers architektonischen Träumen, in denen die Konkurrenz mit dem Petersdom allgegenwärtig ist.) Das politische Strukturmodell, dem Hitler folgt, sind also nicht die Alldeutschen Schönerers, sondern trotz aller ideologischen Differenzen die Christlichsoziale Partei Karl Luegers. Es steht außer Zweifel, dass Hitlers künftige »Bewegung« drei Aspekten des Katholizismus tief verpflichtet ist  : Dogmatismus ohne 146

Der österreichische Katholik Adolf Hitler

Konzessionen, Organisation gegründet auf der Zustimmung der Volksmassen, absolute Hierarchie (der Papst oder der charismatische »Führer« vom Schlage Luegers). Doch selbst Lueger hat in Hitlers Augen fatale Irrtümer begangen  : Aufgrund des universalen Charakters des Katholizismus hat er sich auch auf die slawischen Volksmassen Wiens (insbesondere die Tschechen) gestützt. In der sogenannten »Judenfrage« wirft er ihm »Scheinantisemitismus« (Hitler, 132) vor, da er sie unter dem Gesichtspunkt der Religion oder der Wirtschaft gesehen habe, und nicht unter dem einzig gültigen der Rasse. So habe selbst der »gewaltigste deutsche Bürgermeister«, der seine Wahl nicht zuletzt der antisemitischen Propaganda verdankte, aufgrund seines österreichischen Patriotismus zur Rettung der Habsburger Monarchie durch die Hinnahme ihrer Slawisierung und Verjudung beigetragen. Die globale Haltung Hitlers zu Österreich-Ungarn in Mein Kampf lässt sich in einem Satz zusammenfassen  : Ceterum censeo Austriam esse delendam. Nur einmal benützt er das fatale Beispiel Karthagos, und zwar in einem Vergleich mit der ebenso verhassten Weimarer Republik, die wie das alte Österreich Verrat an der deutschen Nation begangen habe. Wie be- und verurteilt er im Einzelnen die zentralen Ereignisse der österreichischen Geschichte, in denen es um die Identität des Landes geht  ? Als zynischer Darwinist anerkennt Hitler nur ein Gesetz der Geschichte, das Gesetz des Stärkeren. Ausschließlich in dieser Optik wird der Konflikt Österreichs mit Preußen von 1740 bis 1866 gesehen. Der preußische Sieg entspricht der »natürlichen Entwicklung«. Diese hat »endlich doch den Besten auf die Stelle gebracht, auf die er gehörte« (Hitler, 573). Das junge und starke Preußen hat sich gegen das alte Österreich durchgesetzt, dem es nie und nimmer gelungen wäre, die deutsche Einheit herzustellen  : »Und nun erstand das Reich stärkster deutscher Einigkeit gerade aus dem, was Millionen Deutsche blutenden Herzens als letztes und furchtbarstes Zeichen unseres Bruderzwistes empfanden. Die deutsche Kaiserkrone wurde in Wahrheit auf dem Schlachtfeld von Königgrätz geholt und nicht in den Kämpfen vor Paris, wie man nachträglich meinte« (Hitler 572, Sperrdruck). Dieser im 18. Jahrhundert noch unvorstellbare Triumph der Hohenzollern über die Habsburger, der mit dem Angriff Friedrichs II. auf Maria Theresia begonnen hatte, erfüllt Hitler mit Befriedigung, denn niemand könne heute leugnen, »dass das Schicksal so besser gehandelt hat  ; ja, wer könnte sich heute überhaupt noch ein Deutsches Reich vorstellen, getragen von den Grundsätzen einer fauligen und verkommenen Dynastie  ?« (Hitler, 573). Es gibt eine Ausnahmeerscheinung, nämlich Kaiser Joseph II., nach Hitler der einzige große Kaiser des korrupten und verfluchten 147

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Hauses Habsburg. Doch selbst ihm steht er ambivalent gegenüber, denn er habe versucht, den Staat zu zentralisieren und die deutsche Sprache überall durchzusetzen. Für die österreichischen Alldeutschen gehörte Joseph II. gerade deshalb in ihr Walhalla, denn Zentralisierung und Primat des Deutschen waren seit jeher ihre wichtigsten Forderungen. Für Hitler dagegen war die Germanisierungspolitik des Kaisers gefährlich, denn wäre sie gelungen, hätte sie eine Mischung der höherrassigen Deutschen mit den minderrassigen Slawen zur Folge gehabt. Aus diesem Grund ist Hitler gegen die Germanisierung der Polen. Für ihn ist das einzige wirklich Germanisierbare der Boden (Hitler, 428–430). Das wahre Schreckgespenst für Hitler, bedrohlicher als die Juden, ist zunächst die Slawisierung, denn innerhalb der Monarchie sind die Slawen in der Mehrzahl. Erstaunlich ist die geringe Rolle, die die napoleonischen Kriege, diese markanten deutschen »Erinnerungsorte« für die alldeutsche Bewegung, in den Räsonnements von Mein Kampf spielen. Zwar steht der Anfang des Buches unter dem Zeichen des bescheidenen nationalen Märtyrers Johannes Palm, der auf Befehl Napoleons in Braunau hingerichtet worden war. Hitler ist sich also durchaus der symbolischen Tragweite dieser Epoche bewusst. Dagegen wird die eminente Rolle des österreichischen Staates im Widerstand gegen Napoleon 1809 totgeschwiegen, denn die Schaffung des multinationalen österreichischen Kaiserreiches auf den Ruinen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war für Hitler eine unverzeihliche Verfehlung gegen das Deutschtum. Ein möglicher Grund für die relative Abwesenheit des emotionalen Gewichts der Kriege gegen Napoleon liegt darin, dass Hitler nie an einer Universität studiert hat und darum nie einer Burschenschaft angehörte wie die Gründer der alldeutschen Bewegung, denen die Verherrlichung dieser Epoche als Wiege des Nationalgefühls heilig war. In den Augen Hitlers dagegen mangelte die alldeutsche Ideologie der Verankerung in den Volksmassen. Noch erstaunlicher ist sein Blick auf die Revolutionen von 1848. Überall sonst in Europa seien sie vom Klassenkampf bestimmt gewesen, außer in Öster­reich, wo die Revolution den künftigen Rassenkampf ankündigte. Hitler verurteilt sie bedingungslos wegen ihres demokratischen Charakters. Denn für ihn konnte die Einführung des parlamentarischen Systems nur zum Verlust der deutschen Vorherrschaft in Österreich führen. Unter den Alpträumen seiner Wiener Jahre nimmt die rassische und sprachliche Kakophonie, verkörpert im österreichischen Reichsrat, einen besonderen Platz ein. Seit der Einführung des Parlaments war »der Staat selbst verloren. Alles, was nun noch folgte, war nur die historische Abwicklung eines Reiches« (Hitler, 80). Die repräsentative 148

Der österreichische Katholik Adolf Hitler

Demokratie ist das rote Tuch schlechthin für Hitler. Eine anscheinend ganz zweitrangige Frage macht deutlich, wie tief seine Abneigung gegen 1848 motiviert war. Es geht um die Wahl der symbolischen Farben für die Flagge der NSDAP. Er insistiert auf der eminent psychologischen Bedeutung eines Symbols, das die Massen einigt. »Welche Bedeutung aber einem solchen Symbol psychologisch zukommt, hatte ich schon in meiner Jugend öfter als einmal Gelegenheit zu erkennen und auch gefühlsmäßig zu verstehen« (Hitler, 552). Er klagt die deutsche Bourgeoisie an, einer Weltanschauung zu ermangeln, deren symbolischer Ausdruck eine Fahne hätte sein können. Die Wahl der Farben der Weimarer Republik war das Ergebnis des verlorenen Krieges, die Fahne war also nichts weiter als äußerliches Zeichen, bloße »Staatsflagge« ohne die geringste Bedeutung »im Sinne einer besonderen weltanschaulichen Mission« (Hitler, 552). Anders gesagt in Deutschland sind die Farben der Revolution von 1848 (Schwarz-Rot-Gold) Zeichen des Verrats an der Nation geworden. Das gilt nicht für Deutsch-Österreich, dort gab es etwas wie eine »bürgerliche Parteifahne«, denn das deutschnationale Bürgertum Österreichs hatte die Farben von 1848 gewählt, um sich der Dynastie der Habsburger zu widersetzen. Diese Farben-Wahl entsprach also einem revolutionären politischen Bewusstsein. Dementsprechend seien diese Farben in Österreich von den gnadenlosen Feinden der deutschen Nation »beschimpft, besudelt und beschmutzt« (Hitler, 552) worden. Die Farben dieser Feinde waren das Rot der Sozialdemokraten und das Schwarz-Gelb der Christlich-Sozialen und Klerikalen. Trotz der symbolischen Macht des Schwarz-Rot-Gold in Österreich seit 1848 sieht Hitler auch hier den Juden als »Drahtzieher« der Revolution, dieser ersten Stufe des »Rassenkampfs« (Hitler, 553). Diese zweideutigen Farben sind also gut für die verhasste Weimarer Republik, in der sie immer wieder von den Nationalisten »besudelt und beschmutzt« wurden, nicht zuletzt durch die politische Farbenlehre  : Schwarz = katholisches Zentrum, Rot = Sozialdemokratie, Gold = das jüdische Geld der liberalen Demokraten des Juden Rathenau. Dieser Logik folgend spricht Hitler der Weimarer Republik das Recht ab, die heiligen Farben des Reiches (Schwarz-Weiß-Rot) zu benützen, die ihm auch ästhetisch besonders zusagen. Nach langdauernden Versuchen unter seiner persönlichen Kontrolle entscheidet er, dass die Hakenkreuz-Fahne der NSDAP die alten Reichsfarben tragen müsse. Diese Fahne wird sofort als unveränderliches Symbol der Partei durchgesetzt (Hitler, 554–556). Es wäre außerordentlich aufschlussreich zu wissen, wie sich Hitler zum Text (und zur Melodie) des »Deutschland, Deutschland über alles« verhalten hat, denn die Zweideutigkeiten, die er in den Farben sah, galten ja noch stärker für die Hymne, die ebenfalls Erbschaft 149

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des verachteten Geistes des Jahres 1848 war. In Österreich hatte sie allerdings wie die Farben einen offen revolutionären, ja irredentistischen Charakter. Für die Epoche nach den Jahren 1866, 1867 und 1871, in denen sich der endgültige Ausschluss Österreichs aus Deutschland vollzogen hatte, konzentrierte sich Hitlers Interesse auf zwei Phänomene  : in der Innenpolitik auf die Entstehung der alldeutschen Bewegung Schönerers, in der Außenpolitik auf den Zweibund von 1879, den er als höchst schädlich und gefährlich für Deutschland ansah. Was Schönerer angeht, der offen die Zerstörung Österreichs mittels des doppelten Kampfrufs »Los von Habsburg« und »Los von Rom« forderte, sah sich Hitler mit ihm völlig einig in der »völkischen Weltanschauung«, distanzierte sich aber von seinem rabiaten Antiklerikalismus. Diese österreichische Quelle von Hitlers politischen Ideen entsprang direkt dem Geist der napoleonischen Kriege und des nationalen Widerstands gegen die Restauration unter Metternich, der nationalen Revolution von 1848, schließlich seit den 1880er Jahren dem programmatischen aggressiven Rassenantisemitismus. Gegen das »verfaulte« Haus Habsburg, das nach Hitler nichts im Sinn hatte, als »mit allen Mitteln das Deutschtum in der alten Monarchie auszurotten« (Hitler, 102), gehen die Alldeutschen zu einer rücksichtslosen Attacke über. Hitler rühmt ihnen nach, »den herrlichen Begriff der Vaterlandsliebe aus der Umarmung dieser traurigen Dynastie erlöst zu haben« (Hitler, 106). Sie wagten »im Parlament den Ruf ›Hoch Hohenzollern  !‹ auszustoßen« und proklamierten überall, »dass man sich immer noch als bloß vorübergehend getrennten Bestandteil des Deutschen Reiches« (Hitler, 106) betrachte. Doch nach einem raschen Aufstieg der Alldeutschen nimmt ihr Einfluss unwiderruflich ab, während sich die Christlich-sozialen dank des Charismas ihres »Führers« Lueger dauerhaft in der politischen Macht einrichten. Anfangs ist Hitler ein überzeugter Parteigänger Schönerers, den er in den »prinzipiellen Problemen« für einen »gründlicheren Denker« (Hitler, 107) als Lueger hält, namentlich in der Frage des unausweichlichen Untergangs der Monarchie. Doch der Intellektuelle Schönerer ist unfähig, seine »theoretischen Erkenntnisse der Masse zu vermitteln« (Hitler, 108). Er unterschätzte die Macht und das Beharrungsvermögen der Volksmassen und der altehrwürdigen Institutionen wie Kirche und Herrscherhaus. Lueger dagegen hatte als Mann der Praxis ein praktisches Ziel  : »Er wollte Wien erobern. Wien war das Herz der Monarchie« (Hitler, 109). In Hitlers Augen sind aber die beiden Widersacher gescheitert  : »Lueger konnte Österreich nicht mehr retten und Schönerer das deutsche Volk nicht mehr vor dem Niedergang bewahren« (Hitler, 110). Beide waren demselben Irrtum verfallen, nämlich sich im politischen Kampf der parlamentarischen 150

Der österreichische Katholik Adolf Hitler

Repräsentation zu bedienen, statt sich direkt an das Volk zu wenden, denn  : »Die Macht aber, die die großen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gesprochenen Wortes. Die breite Masse eines Volkes vor allem unterliegt nur der Gewalt der Rede« (Hitler, 116). Der angebliche Wille der Habsburger, den Staat zu entgermanisieren und zu slawisieren, z. B. durch die Ernennung tschechischer Priester in deutschen Gemeinden, war in Hitlers Augen aufs Schlimmste konzentriert in der Person des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand, der mit einer katholischen tschechischen Aristokratin aus deutschfeindlichem Milieu verheiratet war. Er habe die Absicht gehabt, die »Entdeutschung« zu fördern und in »Mitteleuropa einen katholischen slawischen Staat zu errichten« (Hitler, 101), um die Monarchie gegen das orthodoxe Russland zu schützen. Als Hitler die Ermordung des Thronfolgers, dieses »tödlichsten Feind des österreichischen Deutschtums« (Hitler, 13) erfährt, ist er zunächst entsetzt, denn sein erster Gedanke ist, die Attentäter könnten deutschnationale Studenten gewesen sein, um gegen die »dauernde Verslawungsarbeit« des Thronfolgers zu protestieren. Als er die serbischen Namen der Attentäter hörte, »begann [ihn] leises Grauen zu beschleichen über diese Rache des undurchdringlichen Schicksals«, denn  : »Der größte Slawenfreund ist fiel unter den Kugeln slawischer Fanatiker« (Hitler, 174). 1914 befand sich Hitler schon seit zwei Jahren in München. Auf die Kriegserklärung reagierte er getrieben von seinem Hass gegen Habsburg. Er ist österreichischer Staatsbürger, doch will er um jeden Preis vermeiden, seinen Wehrdienst in der multinationalen Armee der Monarchie zu leisten. Er richtet also ein Gesuch an den bayrischen König, um in ein bayrisches Regiment eintreten zu dürfen, was ihm zu seiner Freude sofort gewährt wird. Seine Kriegsbegeisterung hat nichts Besonderes an sich, er teilt sie mit den gängigen Delirien der Epoche. Hier seine Variante  : »Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, dass er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen« (Hitler, 177). Ein gewaltiger Freiheitskampf sei angebrochen, in dem es sich nicht »um Serbiens oder auch Österreichs Schicksal handelte, sondern um Sein oder Nichtsein der deutschen Nation« (Hitler, 177). Der Krieg hat in seinen Augen auch das Verdienst, Österreich zu zwingen, den Zweibund mit dem Deutschen Reich zu respektieren und seine »Nibelungentreue« zu bezeugen. Der Krieg wird sofort zum Mythos erhoben  : Der »Deutschland, Deutschland über alles  !« singende Soldat Hitler erhält die 151

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»Gnade, nun im Gottesgericht des ewigen Richters als Zeuge antreten zu dürfen« (Hitler, 179) für die Echtheit seines nationalen Glaubens. Als sich sein Regiment dem Rhein nähert, »dem deutschen Strom der Ströme«, stimmen die Soldaten die »alte Wacht am Rhein« (Hitler, 180–181) an. Hitler hat in der Anschlussfrage nichts erfunden. Sein Hass gegen das Völkergemisch der Habsburger Monarchie war ein politischer Gemeinplatz. Alle Ideen inklusive des Antisemitismus lagen seit langem bereit. Bleibt ein symbolischer Akt von exquisiter Bedeutung  : Seit dem 15. Jahrhundert wurde die Krone des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in Nürnberg aufbewahrt. Im Jahre 1800 hat sie der kaiserliche Gesandte auf dem Regensburger Reichstag als Garantie der historischen Legitimität der Habsburger nach Wien gebracht, um sie dem Zugriff Napoleons zu entziehen. 1915 weigerte sich Franz Joseph I., die Krone Wilhelm II. für eine Zeremonie zu leihen, durch die Preußen die Erwerbung der Rheinlande im Jahre 1815 feierte. 1938 ließ sie Hitler in einem Sonderzug wieder nach Nürnberg bringen, das zum Kultort der NSDAP geworden war. Mit dieser Geste reklamierte er, allerdings ohne sich selbst zu krönen, die ehrwürdigste Abkunft des Dritten Reiches und rächte sich an den Habsburgern. 1946 hat ein amerikanischer General die Krone der Regierung der Zweiten Republik anvertraut, wo sich ihre Rolle von nun an auf die einer Attraktion des Fremdenverkehrs beschränkt. Unter den ideologischen Verirrungen, die der Kampf für oder gegen die österreichische Identität hervorgebracht hat, fehlt es nicht an unfreiwilliger Komik. Die extravaganteste geht (wie üblich) auf das Konto von Hermann Bahr. Seit 1924 Hörer der Rhetorik Hitlers in München stellt er fest  : »Nicht bloß die Jugend, die ganze Stadt schien in seinem Bann, gar aber die Weibleins. Mir schmeichelte das, denn wir sind ja Landsleute, er ist Innviertler, er ist vom Stamme Stelzhamers  ; und irgendwie muss er innerlich doch sehr an unserer Heimat hängen, weil er bis zum heutigen Tage noch, auch als deutscher Nationalheld, Oberösterreicher geblieben ist.« Und Bahr versucht sich an einer Provinzanthropologie, an einer Art »Das Innviertel als Lebensform«, die sich folgendermaßen liest  : »Der Innviertler hat alles auf den ersten Blick los, oder bildet sich das jedenfalls ein, und mit einem gewissen Recht.« Das Losungswort dieser Lebensform lautet »das Leben [ist] eine Hetz  ! Und eine Hetz von ganz besonderer Art, nämlich eine von vornherein aggressive. ›Was den Leuten recht zwider is, dös tain mer gern.‹« In Hitlers Rhetorik des Auf- und Übertrumpfens sieht Bahr das Erbe des Schnadahüpfels am Werk  : »Trutz vor allem, gegen die ganze Welt womöglich, schon im Voraus auftrumpfend …« und mit dem unausweichlichen Ergebnis der Wirtshausrauferei. (Musil hat das Phänomen 152

Der österreichische Katholik Adolf Hitler

mit weniger Sym- und Empathie als »Dorfburschenmentalität« bezeichnet, die nicht nur in Oberösterreich zu Hause war.) Für Bahr ist Hitler etwas »Unvergleichliches, das höchste Beispiel seines Typus«, der wie ein unaufhaltsamer Apparat funktioniere  : »Er ist Fanatiker, aber nicht der Fanatiker eines großen Willens, nicht der Fanatiker einer Idee, sondern der Fanatiker seiner Begabung, dieser echt oberösterreichischen Begabung, durch Auftrumpfen und Übertrumpfen, was immer man unternimmt, an Verve jeden anderen zu schlagen« (Bahr 3, 51–57). Dieser wildgewordene Narzissmus als Form nationaler Identität steht allerdings im radikalsten Gegensatz zu Bahrs anderer oberösterreichischen Typologie, dem friedlichen Stiftermenschen des »sanften Gesetzes«, dem Ethiker der Langsamkeit und der Resignation. Der homo austriacus scheint zur Schizophrenie verurteilt, der oberösterreichische ganz besonders. Im Gegensatz zu dem angeblich inhaltslosen Fanatismus, dem rhetorischen l’art pour l’art, das Bahr bei seinem Landsmann diagnostizierte, gab es sehr wohl einen äußerst fruchtbaren österreichischen Nährboden für Hitlers Rassenwahn. Man weiß, dass Hitler in Wien ein beharrlicher Leser der Ostara. Zeitschrift für Blonde und Mannesrechtler des abgefallenen Mönchs Joseph Adolf Lanz (1874–1954) war, der unter dem Pseudonym Jörg Lanz von Liebenfels eine Rassentheorie entwickelt hatte, die nicht zuletzt unter dem Einfluss von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) stand. Wilfried Daim hat Lanz als den »Mann, der Hitler die Ideen gab« bezeichnet und damit seine Rolle wohl überschätzt, denn dieses Gedankengut war auch international verbreitet. (Umberto Eco hat im Friedhof von Prag die französisch-russische Seite durchleuchtet.) Für die heute eher bagatellisierte direkte Bedeutung Lanz’ für Hitler spricht allerdings folgendes Zeugnis  : Vor einigen Jahren war ein LuxusBand von dreißig Nummern der Ostara im Internet zur Versteigerung angeboten. Es handelte sich um ein Buch, das am 4. Mai 1945 von einem Mitglied der französischen Armee bei der Einnahme des Berghofs konfisziert worden war. Es enthielt eine handschriftliche Widmung Lanz’ an den Führer aus dem Jahr 1938  ! Diese sich wissenschaftlich gebärdende Zeitschrift bekämpfte die Verweiblichung der dekadenten europäischen Gesellschaft. Die Beziehung zu den antifeministischen und antisemitischen Kapiteln von Geschlecht und Charakter liegt auf der Hand. Die Zeitschrift, die von 1908–1931 erschien, beruhte auf den Prämissen des Traktats Theozoologie oder die Kunde von den SodomsÄfflingen und dem Götter-Elektron aus dem Jahre 1905.16 Darin trieb Lanz den gängigen Antislawismus und Antisemitismus auf einen ungeahnten Gipfel, indem er bewusst die Botschaft der Evangelien pervertierte. »Gott ist gereinigte Rasse« (Lanz, 113). Für Lanz ist das »ganze Geschwätz von der christ153

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

lichen Nächstenliebe […] Wortgaukelei.« »Die humanitäre Nächstenliebe ist eine der verhängnisvollsten Schwindeleien der Sodomsäfflinge« (Lanz, 117), sprich der Juden. Die Christusworte über die Liebe Gottes und des Nächsten (Matthäus X XII, 37 und Johannes XIII, 34–35) bedeuten nach Lanz  : »Liebe nur den einen, höchsten Gott, den Stammvater des weißen Menschen«, dem man dadurch dient, »dass man den ›Nächsten‹, d. i. den in der Art nahestehenden Menschen geschlechtlich liebt.« Wer »mit Minderwertigen Kinder zeugt«, »hasst und beschimpft Gott« (Lanz, 115). Dieses religiös verbrämte Rassenideal ist in den Nürnberger Gesetzen politische Wirklichkeit geworden  : Das höchste und heiligste Gut, das teuerste Ahnenerbe sind »unser Blut« und »unser Samen« (Lanz, 119). Jeder Vermischung muss ein Ende gesetzt werden, um »unser Walhall« vor den Sodomsaffen zu retten, denn die Bibel lehre uns, »dass der europäische, weiße Mensch, sagen wir kurz der Germane, der Himmelssohn ist. Die Urheimat des weißen Menschen ist Germanien […] Deutschland ist die Heimat des eigentlichen Menschen. Ehedem wohnten außer Deutschland nur Affen- und Tiermenschen.« Nun kommt eine unglaubliche Wendung  : »Deswegen haben die Germanen, eine sie verherrlichende Lehre, wie die Jesu­ lehre, gierig aufgenommen« (Lanz, 120).17 Auf den ersten Blick scheint hier Lanz eine nur ihm eigene absurde ariosophische Deutung des Evangeliums vorzulegen. Dem ist aber keineswegs so. Denn wie der philosophische Bestseller Geschlecht und Charakter von Weininger nähert sich ein anderes berühmtes Buch der Epoche, Houston Stuart Chamberlains Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts den Grundthesen der Theozoologie. Zwischen 1899 und 1934 sind davon 19 Auflagen erschienen, darunter 10 »Volksausgaben«. Dieser fanatische Wagnerianer, der Gatte von Wagners Tochter Eva, war überzeugt, dass Christus nicht Jude, sondern Arier war. Er predigte die absolute Überlegenheit der germanischen Rasse, die als einzige in der Welt Freiheit und Treue kenne, und er bekämpfte jede Form der Vermischung im Namen der Rassenreinheit. Nur der Stil und die historisch-philosophische Kultur unterscheiden den Kantianer Chamberlain von der Brutalität Lanz’ und seines Schülers Adolf Hitler. Lanz träumte von der Geburt einer Generation junger Germanen, einer Generation »neuer Schwertschwinger und neuer Leyerspieler« (Lanz, 132). Für Lanz’ Leser war diese Referenz noch durchsichtig  : Leyer und Schwert war der Titel eines Gedichtbuches von Theodor Körner, dem heldischen Dichter der Befreiungskriege von 1813. Mit den romantischen Waffen von 1813 steht diese Generation bereit, »wenns losgeht zur Wiedereroberung der Welt«. Die Erde muss den sie zurzeit beherrschenden »hirnlosen Affenlümmeln« entrissen werden. »Überall ist Menschenmangel, während wir auf kleiner deutscher Erde verhungern 154

Katholische Identitätsphantasmagorien

vor Menschenüberfluss. Der Erdball war und ist Germaniens Kolonie  ! Jedem wackeren deutschen Soldaten einen Bauernhof, jedem Offizier ein Rittergut  ! Ich möchte sehen, ob wir da nicht alles niederwerfen würden. Unter dem Jubel der befreiten Gottmenschen würden wir den ganzen Erdball erobern« (Lanz, 132).18 Wer würde nicht in diesen wenigen wahnhaften Sätzen das geopolitische Programm des »Volks ohne Raum« vorgebildet sehen. Damit ist eigentlich alles gesagt. Was uns heute wie eine übertriebene, wahnwitzige und unfreiwillig komische Karikatur der »Lage der Deutschen in Österreich« erscheinen mag, ist in Wahrheit eine apokalyptische Prophezeiung, die ein fanatischer Leser in die Wirklichkeit umzusetzen versucht hat. Es ist kein Zufall, dass der imaginäre Hauptfeind dieses Traumes, der Jude, angeklagt wird, als Vertreter des kalten Rationalismus für die »Entzauberung der Welt« verantwortlich zu sein. Das Unerhörte daran ist, dass Juden wie Weininger, Trebitsch oder Wassermann die Argumente ihrer Todfeinde teilten. Diese Art Ideologie war nicht nur in Österreich-Ungarn verbreitet, aber der Vielvölkerstaat war offenbar ein besonders fruchtbarer Nährboden für sie. Jedenfalls muss man festhalten, dass sie hier ihre extremsten Ausformungen gefunden hat, einerseits in dem Bewunderer der tausendjährigen Macht der katholischen Kirche Adolf Hitler, andererseits im katholischen Apostaten Lanz, der das Evangelium in eine Botschaft des Hasses und der Vernichtung pervertiert hat  : zwei österreichische Katholiken, von denen einer in der Tat das »Schwert« ergriffen hat.

9. KATHOLISCHE IDENTITÄTSPHANTASMAGORIEN Als am 1. Mai 1934 das autoritäre Regime der Vaterländischen Front die Republik in einen Ständestaat umwandelte, erreichte die österreichische Schizophrenie ihren Höhepunkt. Während das Dritte Reich die Existenz des Staates im Namen der Hitler’schen Doktrin (»Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich«) bedrohte, gab sich das neue Österreich am 1. Mai – das Datum war eine bewusste Provokation – eine neue Verfassung, deren Präambel die unhaltbare Position des Regimes widerspiegelte  : »Im Namen Gottes, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk auf ständestaatlicher Basis dieser Verfassung für seinen christlich-deutschen Bundesstaat.« (Erhält von wem  ?) Also selbst die führenden Männer des politischen Katholizismus bekennen, dass das österreichische Volk Teil der deutschen Nation ist, die von 155

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

zwei Staaten vertreten wird. Konsequenterweise heißt die Einheitspartei nicht Nationale, sondern Vaterländische Front. Im Grunde sind selbst die überzeugten Österreicher im Herzen Deutsche, wollen aber nichts mit dem Dritten Reich gemein haben Während die Sozialdemokraten an ihrer groß-deutschen Haltung festhalten und auf eine zukünftige große sozialistische deutsche Republik nach dem Ende des Nationalsozialismus hoffen (ihr utopischer Phönix­ traum  !), wendet das autoritäre Regime seinen Blick in die Vergangenheit. Die große Versammlung der Vaterländischen Front vom 11. September 1933 ist dafür eine eindringliche Illustration. Der Bundeskanzler Dollfuß hält dabei eine Rede »im Zeichen des Stephansdoms und der Türkenbefreiung«. Der vor 500 Jahren errichtete Dom ist für ihn ein Monument der »christlichen deutschen Kultur«, er symbolisiert in »unserem deutschen Lande die Vermählung von wirklich echtem, kerngesundem Volkstum und nach oben orientierter Weltanschauung erlebten Christentums«. Die Befreiung Wiens hatte 1683, also vor 250 Jahren stattgefunden, und Dollfuß freut sich über die symbolträchtige Tatsache, dass ein Nachkomme des Grafen Starhemberg, des Verteidigers Wien, zu den »Erneuerern Österreichs« gehört. (Der Fürst Rüdiger von Starhemberg, der lange der Hitlerbewegung nahegestanden hatte, ist einer der Chefideologen des Austro-Faschismus und Führer der paramilitärischen Heimwehr geworden.) Dollfuß setzt die Liste der großen historischen Ereignisse und Namen des österreichischen Vaterlands fort  : An erster Stelle steht Prinz Eugen von Savoyen, Sieger über die Türken und »Mehrer des Reiches«, dann kommt die große Ära der Kaiserin Maria Theresia. Diese glückliche und harmonische Epoche sei von der Französischen Revolution und ihren verderblichen Folgen (Nationalismus, Liberalismus, Kapitalismus, Parlamentarismus, Marxismus) zerstört worden. Die Bewegung der Vaterländischen Front, eine späte Frucht der deutschen Sozialromantiker im Dienste Metternichs hatte sich zum Ziel gesetzt, die gesellschaftlichen Strukturen aus der Zeit vor 1789 wiederherzustellen, was nicht zuletzt ihren erbitterten Kampf gegen den Austro-Marxismus erklärt. Mitten in diesem Kampf, der in den Bürgerkrieg von Februar 1934 mündete, sei der Nationalsozialismus, der mit dem Austro-Faschismus den Kampf gegen die Ideen von 1789 teilte, dem christlichen Österreich in den Rücken gefallen, das nunmehr einen Zweifrontenkrieg im Inneren zu führen hatte. Dollfuß sieht in diesem Österreich ein Bollwerk gegen die neuen Türken, die (Austro)-Bolschewiken und die National-Sozialisten. Am Ende seiner Rede vergleicht er seinen Glauben an das neue Österreich (»Gott will es  !«) mit den Überzeugungen der Kreuzfahrer, vor allem aber mit der Predigt des Kapuzinerpaters Marco d’Aviano vor der entscheidenden Schlacht gegen die Türken 156

Katholische Identitätsphantasmagorien

im Jahre 1683. Es handelt sich also um eine doppelte Kriegserklärung. Doch Dollfuß bleibt der Gefangene der unlösbaren Verwirrung zwischen dem wiederholten Bekenntnis, Österreich sei ehrlich deutsch, und einer entschlossenen Verteidigung »unseres eigenen Hauses« und »unserer Heimat«. Die folgende Passage ist ein besonders erhellendes Beispiel für den Zustand des Österreichbewusstseins in der Zwischenkriegszeit  : »Wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich. Wir sind so deutsch, so selbstverständlich deutsch, dass es uns überflüssig vorkommt, dies eigens zu betonen. Dass wir diesem deutschen Volke ehrlich und treu dienen wollen, das erklären wir hier. Wir wollen die guten Charaktereigenschaften des deutschen Volkes pflegen und hüten, wir wollen die dem Deutschtum eigene Mannigfaltigkeit zur Einheit führen und wollen die Tugenden der Ehrlichkeit und der deutschen Treue in unserer Heimat pflegen. Wir wollen uns auch davon nicht abbringen lassen, wenn man uns auch unser wirklich ehrliches Deutschtum abzusprechen versucht. Wir glauben, dass wir ehrliche deutsche Kultur in diesem christlichen Teil Mitteleuropas zu erhalten und zu hüten und in österreichischer Form die christlich-deutsche Kultur in diesem Land zu gestalten haben. Wir lassen das Urteil, wer schließlich dem Deutschtum besser gedient haben wird […] dem Urteil der kommenden Generation, da wir nicht hochmütig genug sind, ein Urteil hierüber vorwegzunehmen.« Das läuft indirekt doch auf die Behauptung hinaus, dass die Österreicher des Ständestaates die besseren Deutschen seien, zumindest bessere als die Nationalsozialisten. Und das läuft sogar darauf hinaus, nicht nur das Österreichertum als christlich zu definieren, sondern auch das »wahre« Deutschtum. Dollfuß und die Verfassung meiden den Begriff »katholisch«, doch die radikalste katholische Opposition gegen den Nationalsozialismus hat nicht gezögert, die Wurzeln des nationalsozialistischen Übels bei Luther zu suchen, den Zerstörer der Einheit der abendländischen Christenheit. Wie dem immer sei, eine solche Definition der Nation führt zum Ausschluss aller Nichtchristen, angefangen bei den Sozialdemokraten und Liberalen. Die »unchristlichsten« Parteien wurden in der Tat schnell verboten, die NSDAPÖ und die kleine KPÖ, bald gefolgt von der SDAPÖ. Diese problematische Definition des Österreichertums hat ein merkwürdiges Gegenstück in Werfels Aufsatz Les deux Allemagne. Ein Beitrag zu einer tragischen Diskussion aus dem Jahr 1939 (Werfel, 306–312). Unter den Emigranten hatte sich eine Debatte über die Existenz von zwei Deutschland entsponnen, einem guten, dessen Verkörperung der Humanismus der Goethezeit gewesen sei, und einem schlechten, dem Abkömmling des preußischen Militarismus. Diese Debatte liegt auch dem bedeutendsten Werk zugrunde, das das 157

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Exil hervorgebracht hat, Thomas Manns Roman Doktor Faustus, der zwischen 1943 und 1947 entstand. Der Kern dieser Auseinandersetzung bestimmte schon Stefan Zweigs Triumph und Tragödie des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1934. Die Reformation und die Person Luthers wurden darin als ferne Ahnen des national-sozialistischen Unheils wahrgenommen. Die Abwertung von Luthers Werk und die Verteufelung der größten Figuren des deutschen Pantheons (Arminius, Friedrich II., die Helden der Freiheitskriege, Bismarck) stand auch im Mittelpunkt eines historiographischen Unikums, eines Buches des linksliberalen politischen Schriftstellers Werner Hegemann, erschienen unter der irreführenden Vorspiegelung einer Widmung an die »Führer der Deutschen, Paul von Hindenburg und Adolf Hitler«. Das Buch mit dem Titel Entlarvte Geschichte. Aus Nacht zum Licht. Von Arminius bis Hitler unternahm eine gezielte Demontage der offiziellen deutschen Geschichtsschreibung und eine ikonoklastische Umwertung aller historischen Symbole und Werte. Es wurde von den Nationalsozialisten als Ausdruck eines »Radauantigermanismus« gewertet und Opfer der Bücherverbrennung. Viel intensiver als in Deutschland hat sich in Österreich eine Strömung des Heimwehs nach dem Heiligen Römischen Reich und der Habsburger Monarchie entwickelt. Dollfuß’ Rede gehörte, ohne offen monarchistisch zu sein, in diese restaurative Linie. Die Zeitschriften des Ständestaats (Schönere Zukunft und Der christliche Ständestaat) verbreiteten eine Österreichideologie monarchistischen Zuschnitts. (Schon 1923 hatte Karl Kraus in seiner Adaptation der Vögel des Aristophanes unter dem Titel Wolkenkuckucksheim die zwei Gefahren diagnostiziert, die die junge Republik bedrohten  : die national-sozialistischen Barbaren und die schwarz-gelben Monarchisten.) Ehemals linke Autoren wie Joseph Roth und Werfel wandelten sich zu nostalgischen Verklärern der Monarchie. Roth stellte sich sogar direkt in den Dienst Otto Habsburgs, des Thronfolgers im Exil, da er die Wiederherstellung der Monarchie als letzten Schutz gegen die Anschlussabsichten des Dritten Reichs ansah. Doch das erstaunlichste Dokument dieser Strömung ist das Werk des deutschen katholischen Philosophen Theodor Haecker, eines konvertierten Protestanten, vor allem bekannt als Verfasser des 1930 zum 2000. Geburtstag Vergils erschienenen Buchs Vergil, Vater des Abendlands. In Werfels Essays wird ausdrücklich auf Äneas zurückgegriffen, den »staatenlosen« Emigranten, auf den die Gründung des Römischen Reichs zurückgeht, und damit auch des Heiligen Römischen Reichs (Werfel, 331/332). Werfel kommt zum Schluss, dass das wahre Reich auf einem sacrificium nationis (Werfel 332) beruhen müsse. Der Rückgriff auf Vergils Äneis gehört in den Zusammenhang einer geschichtsmächtig gewordenen historisch-theologischen Konstruktion, 158

Katholische Identitätsphantasmagorien

deren letzte künstlerische Erscheinungsform Mozarts Oper La clemenza di Tito von 1791 war, die als kaiserlicher Auftrag für die Krönungsfeiern Leopolds II. in Prag komponiert wurde. In dieser mythographischen Tradition stammt das Haus Habsburg von Äneas, Julius Cäsar, Augustus, Karl dem Großen, ja vom König Artus ab. (Auch eine göttliche Urmutter, Venus, gehört in diese Familiengeschichte.) Der Konflikt zwischen Rom und Karthago, eine Frucht der Trennung von Äneas und Dido, wiederholt sich ab dem 16. Jahrhundert im Krieg zwischen Österreich-Rom und der Türkei-Karthago. Seltsamerweise nimmt das kleingewordene Österreich für sich das heilige Erbe in Anspruch, um in seinem Namen den Kampf gegen die modernen Barbaren (Nationalsozialisten und Marxisten) zu führen. Die Gegenreformation und die katholische Barockkultur werden historisch-politisch reaktiviert. Theodor Haecker veröffentlichte 1932 in der katholisch gewordenen Zeitschrift Der Brenner sein anti-nationalsozialistisches Pamphlet Betrachtungen zu Vergil, Vater des Abendlands. Darin behandelt er das »Dritte Reich« als Perversion des »wahren« Reichs und das Hakenkreuz als verkommene Form des wahren Kreuzes und als Folterinstrument. Für ihn heißt der wahre Schuldige an der verderblichen Entwicklung Deutschlands Martin Luther, und er bedauert, dass der Ketzer und Zerstörer der religiösen Einheit des Abendlands nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sei  : »Welch ein Feuer der Liebe wäre das gewesen  !« (Brenner XIII, 1932, 28) wagt er zu schreiben, anscheinend ohne Kenntnis der Aufzeichnungen Karls V., der es am Ende seines Lebens bereut hat, Luther am Leben gelassen zu haben. Derselbe Brenner plante für 1938 eine Nummer, die zugleich ein Requiem für Dollfuß und Karl Kraus sein sollte, illustriert durch den kaiserlichen Doppeladler. Die Zeitschrift wurde noch vor dem Erscheinen der Nummer verboten. Zum vollen Verständnis dieser religiös-politischen Konstruktionen muss man sich die Rechtfertigungsstrategien für den Herrschaftsanspruch des Hauses Habsburg vor Augen halten. Die wohl interessanteste Ausformung der unzähligen Dithyramben zum Ruhme der Habsburger ist eine Tragödie des protestantischen (!) Schlesiers Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683), in der die Geschichtstheologie der spanischen Jesuiten »poetisiert« wurde. In dem Stück Sophonisbe (1666), dessen Gegenstand vordergründig der Konflikt zwischen Rom und Karthago und dessen afrikanischen Bündnispartnern bildet, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Allegorie des Kampfes gegen die Türken. Lohenstein bedient sich in der Tragödie eines aufwendigen emblematischen Apparats, um die Casa d’Austria zu verherrlichen. Das Stück war übrigens für die Hochzeit des Kaisers Leopold I. mit der spanischen Prinzessin 159

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Margarita (die von Velasquez zu wiederholten Malen konterfeit worden war) verfasst worden. Im Schlussbild, einem »Reyen«, der den griechischen »Chor« ersetzte, wird die geschichtstheologische Spekulation von den vier Reichen aus dem (apokryphen) Buch Daniel inszeniert. Daniel hatte einem Traum des Königs Nebukadnezar folgende Deutung gegeben  : Auf das assyrische Weltreich werde das persische, griechische und als letztes das römische folgen. Bei Lohenstein heißt das  : »Glückseeligs Rom  ! Du ewigs Haupt der Welt  !« Doch das »Verhängnis« erklärt, dass das Ziel der Geschichte erst erreicht sein werde, »wenn Teutschland wird der Reichs-Sitz sein«. Sein »fernes Auge siehet schon / Den Oesterreichschen Stamm besteigen / Mit größerem Glanz der Römer Thron.« Und dieses Österreich wird über eine »neue Welt« herrschen, die weit über die Grenzen der bisherigen, die Säulen des Herkules (Gibraltar), hinausreichen wird. Europa, Asien, Afrika und Amerika knien vor Österreich, der Siegerin der Geschichte, die »ewig« über alle Völker und Kontinente herrschen wird  : »Dein Stamm wird ewig uns stehn für« (Sophonisbe V, Reyen). Lohenstein bezieht sich ohne Zweifel auf die Lesart »Austriae est imperare orbi universo« des AEIOU. Aber auch die andere Lesart »Austria erit in orbe ultima« ist gegeben und hört sich wie ein Vorklang auf das »Österreich wird ewig stehn« des Gott erhalte an. Werfel arbeitet in seinen utopischen Entwürfen im Grunde mit diesem im Jahre 1938 besonders unzeitgemäß wirkenden phantasmagorischen19 geschichtstheologischen Apparat. Die Frage der beiden Deutschland wird von ihm entschieden negativ beantwortet. Es gibt nur ein Deutschland, also gibt es kein gutes Deutschland. Auch das humanistische Deutschland der Goethezeit ist eingeschlossen in den einheitlichen verderblichen Prozess, der die »preußische Kobra« an die Macht gebracht hat. Darum muss Deutschland »entpreußt« und der »fehlerhafte Verlauf« der Geschichte, der »das polynationale Ost-Reich dem großpreußischen Sultanat tributpflichtig« (Werfel, 306–309) gemacht hat, repariert werden. Das andere, das gute Deutschland, ist Österreich. Das Heil besteht darin, Deutschland zu »austrisieren« (Werfel, 311), und ganz besonders die Sudetendeutschen. (Aufgrund des Sprachenstreits waren die deutschsprachigen Böhmen die Vorhut des Alldeutschtums. Man hat die fatalen Stellungnahmen für den Anschluss des Wiener Kardinal-Erzbischofs Innitzer und des früheren Staatskanzlers Renner unter anderem mit ihrer sudentendeutschen Herkunft erklärt. Für Werfel sind die »nationalistischen Bourgeoisien« (Werfel, 312), darunter die Prager deutsch-jüdische, schuld am Untergang der Monarchie). Diese »Austrisierung« geschieht im Namen des sacrificium nationis. Der Name des neuen Reichs lautet Ostreich bzw. »Ost-Union« (Werfel 305, 311). 160

Katholische Identitätsphantasmagorien

An seiner Spitze steht ein »Kaiser« oder ein »Präsident, Cesar oder Richter«, der alle drei Jahre die »Hauptstadt« wechselt, damit es zu keiner nationalen Vorherrschaft kommen kann. Dieses Ostreich sieht dem alten Österreich zum Verwechseln ähnlich. Werfel bedient sich einer eindrucksvollen Reihe von Stereotypen, um das »martyrisierte, aber unsterbliche Österreich« (W, 304 auf Französisch) der »preußischen Militärmonarchie« (Werfel, 307) gegenüberzustellen. Wien, »die Stadt der Musik« widersteht »den marschierenden Mächten des Todes«, Ton geworden im »preußischen Parademarsch«. Der »blühende Organismus« Österreich, lässt sich nicht durch die »höllische Organisation« der »Kasernenhofmenschen« und »Feldwebelcharaktere« ausrotten (Werfel, 308–309). Doch das »fortschrittliche« Europa hat den unverzeihlichen und scherwiegenden Irrtum begangen, »das katholische Österreich, diesen erratischen Block einer mittelalterlichen Völkergemeinschaft« (Werfel, 307) aus der Welt zu schaffen. Denn nur durch das supranationale Gebilde »konnte Europa und Deutschland selbst vom All-Deutschtum gerettet werden« (Werfel, 308). Österreich allein repräsentierte das »synkretistische weltdeutsche Element, das dazu berufen war, dem volksdeutschen Furor die Stirn zu bieten« (Werfel, 308). Werfel rehabilitiert auch den »Bürokratismus und Klerikalismus«, sprich das alt­österreichische Beamtentum, jene »abertausend Namenlosen jeglicher Art und Rasse, die vielgeschmähten ›Hofräte‹, welche das Wunderwerk jener gerechten, supranationalen Verwaltung schufen« (Werfel, 332). Doch selbst bei Werfel ist noch ein Rest des Pangermanismus spürbar, wenn er davon träumt, dass in der großen, mehrheitlich slawischen Ost-Union die nicht-deutschen Völker in ihrer österreichischen Provinz »das Ausfalltor in eine Weltsprache und damit ins Weltleben« (Werfel, 310) besitzen würden. Das sacrificium nationis hat also eine Grenze  : Ein sacrificium linguae ist undenkbar. (Elias Canetti hat 1945 notiert  : »Die Überwindung des Nationalismus liegt nicht im Internationalismus, wie viele bisher geglaubt haben, denn wir sprechen Sprachen. Sie liegt im Plurinationalismus«  ; Canetti 2, 79.) Das »kleine, verstümmelte Österreich« (Werfel, 331) ist der einzige Garant einer kommenden civitas humana und pax mundana. Werfel stellt die Frage  : Was wäre gewesen, wenn Maria Theresia gegen Friedrich II. gesiegt hätte  ? Dann hätte sich nach ihm friedlich und harmonisch jenes humane Ost-Reich entwickelt, das jetzt nur als »Idee« den »gottlosen Horden« der »totalen Hysterie des Nationalismus« und der »kriminellen Pöbelherrschaft« Widerstand leistet (Werfel, 308–309). Nach vollzogenem Anschluss hat Werfel im Pariser Exil eine Betrachtung unter dem Titel Heimkehr ins Reich verfasst. Der Ausdruck »Heimkehr«, vor allem das Schlagwort »Heim ins Reich  !«, repräsentiert für ihn eine der »tollsten 161

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Verdrehungen«  : »Erfunden wurde sie am elften März 1938 von Großpreußen« und gemünzt wurde sie auf Österreich. Die wahre Heimkehr wäre die Rückkehr zum Kaiserreich Österreich, dem einzigen legitimen Erben des Imperium Romanum. Dieses Österreich besaß das »dämonenbannende Palladium«, das Deutschland verloren hatte. Darum »entwickelte sich (dort) die Kraft der uralten losgebundenen Gegengötter« über den Zyniker der Macht Friedrich II., das Jahr 1813 bis zum Dritten Reich (Werfel, 329–330). (Hier trifft sich Werfel mit der apokalyptischen Vision Heines am Ende von Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, wo Heine die drohende Auferstehung der germanischen Gottheiten, namentlich Thors, heraufbeschwört, die das Christentum nicht wirklich zu zähmen und endgültig zu verteufeln vermocht hatte. Die Idee, den Nationalsozialismus als Ergebnis eines Teufelspakts zu deuten, hat den Doktor Faustus von Thomas Mann ebenso inspiriert wie Karl Kraus’ Dritte Walpurgisnacht.) Die »Idee Österreichs« ist nach Werfel das einzige Mittel, die »Aufopferung der dämonischen, erdgebundenen, blutbedingten, ehrgeizzerfressenen Triebe unserer Seele« (Werfel, 332) zu erreichen. Doch Österreich wird 1938 von den »gottlosen Horden« ausgelöscht. Werfel insistiert darauf, dass Hitler sogar den Namen Österreich verschwinden macht, denn in der dumpfen Angst der Missetäter fürchten sie selbst das Wort, das ihr Verbrechen anklagt. »Sie fürchten den Namen mit Recht. Die Idee, die er ausdrückt, ist, mächtiger als je, bereit, Wirklichkeit anzunehmen« (W, 332). Das gleicht einem verzweifelten Glaubensakt, den Werfel in der Hoffnung auf die Wirkung dieser »tragischen Katharsis« ausdrücklich reklamiert. Historische Wirklichkeit und Ideenglaube vermengen sich in der Hoffnung auf eine civitas humana austriaca, die manches von den sozialharmonischen Träumen des Ständestaats an sich hat und gänzlich im Reich der Utopie beheimatet ist (Werfel, 330). Im Wien der dreißiger Jahre stand Werfel wie seine Gemahlin Alma dem Ständestaat, nicht zuletzt in der Person des Bundeskanzlers Schuschnigg nahe. (Karl Kraus hat sich ausdrücklich von jeder Gemeinschaft dieser Art satirisch distanziert.) Das von Werfel für seinen »neuen Menschen« und Zukunftsstaat geforderte sacrificium nationis war im Grunde von der Institution der una sancta et catholica ecclesia längst vollzogen. Und die katholische Kirche lieferte dem Ständestaat das, was ihm fehlte, eine Massenbasis, allerdings im Prinzip übernationalen Charakters. In diesem Punkt lag das »rasselose Rom« (Alfred Rosenberg im Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts) in der Tat im Kampf mit den losgelassenen Dämonen und Gegengöttern. Franz Werfel, 1890 in Prag als Sohn jüdischer Eltern geboren, ist nicht das einzige erstaunliche Beispiel einer radikalen »Wendung«. Die vorangegangene 162

Katholische Identitätsphantasmagorien

deutsch-jüdische Generation der Bacher und Benedikt predigte einen liberalen und deutsch-nationalen Antiklerikalismus. Der exilierte Dichter setzt seine Hoffnung auf die Wiederkehr der Monarchie von Gottes Gnaden, ohne den letzten Schritt, die Konversion zum Katholizismus, zu tun. Werfels Utopie war eine programmatische Schrift des Schriftstellers und Diplomaten Leopold Andrian (eigentlich Andrian von Werburg) vorangegangen, eines Enkels des Komponisten Meyerbeer, und in seiner Jugend Mitglied des Jungen Wien. Der Titel des vielgeschmähten Buches lautete Österreich im Prisma der Idee. Katechismus der Führenden. Das Buch erschien 1937 im Grazer Verlag Schmidt-Dengler und war posthum »Hugo von Hofmannsthal in unvergänglicher Freundschaft gewidmet«. Es könnte auch den Titel Österreich über alles, wenn es nur will tragen, jener barocken Formel, die im Buch immer wieder zitiert wird. Formal handelt es sich um philosophische Dialoge zwischen vier Vertretern des Ständestaats, einem 60-jährigen Adeligen, einem 49-jährigen Jesuitenpater, einem 55-jährigen Dichter und einem jungen, 28-jährigen Heimwehroffizier. Alle vier sind Absolventen des elitären Jesuitengymnasiums Kalksburg. Der junge Offizier verkörpert das »neue Österreich«, das die theoretischen Konzepte (»die Österreich-Idee«) in politische Wirklichkeit umsetzt. Der Dialog hat ausdrücklich die Funktion eines »Katechismus der Führenden«, ein Katechismus, der gegen die »Irrlehren, welche das Land durchschwirren«, »die Grundwahrheiten des rechtgläubigen Österreichertums zusammenfasst« (A,7). Andrian begnügt sich nicht damit, dem Ständestaat, der in seinen Augen »die Verkörperung der österreichischen Idee in eine österreichische Nation« bildet, einen philosophischen, historischen und politischen Unterbau zu liefern, denn er sieht in ihm nur eine Etappe auf dem Weg zurück zur Monarchie. Am Schluss zitiert der Offizier aus der Kaiser-Hymne die Verse »Innig bleibt mit Habsburgs Throne – Österreichs Geschick vereint« und ruft direkt gegen die deutsche Hymne gerichtet  : »Österreich über alles – es lebe der Kaiser  !« Alle vier rufen im Chor »Hoch der Kaiser, hoch Österreich  !« (A, 418–419). Doch selbst Andrians Dialogpartnern ist bewusst, dass die österreichische Nation noch nicht wirklich existiert, sie befindet sich noch im »flüssigen Zustand des Werdens« (A, 407), doch werde dem neuen Patriotismus die »Kristallisierung Österreichs zur Nation« (A, 409) gelingen. Die späte »Nationswerdung«, der ein langer ideeller Entwicklungsprozess vorausgegangen war, erweist sich als Vorteil  : »Wir sind die jüngste unter den Nationen, der größte Teil unseres Lebens, unseres Kulturlebens liegt noch vor uns.« Hier wird allen Ernstes das Stereotyp vom alten, ja senilen Österreich gegenüber dem jugendlichdynamischen Preußen-Deutschland umgekehrt. Die »alten« Nationen sind da163

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

gegen bereits im Absterben begriffen. In einer »barbarisierenden Zeit« (A, 409), in der die anderen europäischen Kulturen absterben, repräsentiert Öster­reich einen Kulturfrühling mitten im abendländischen Herbst  : »die Augen der Nationen [werden sich] auf Österreich als auf eine glückliche Insel, wo die Kultur überwintern20 konnte, richten, und unser Vaterland wird Vorbild, wird Lehrer der Völker werden« (A, 409–410). Diesem Bekenntnis des jungen Offiziers antwortet der Jesuitenpater  : »So hoffnungsvoll wie du kann nur ein junger Mensch sein, aber deine Hoffnung ist nicht unvernünftig, und was dir vorschwebt, keine Phantasmagorie« (A, 411). Die Insel der Phäaken hat die Mission erfüllt, die Kultur gegen die moderne Barbarei und die Entchristlichung der Welt zu erhalten. Viel erdennäher diskutieren die vier Kalksburger auch die Strategien, die zur Verwirklichung der österreichischen Idee nötig sein werden. Als Vertreter der ständestaatlichen Führungseliten sind sie mit der Wirklichkeit des österreichischen Unterrichtswesens konfrontiert. Die Bildungsinstitutionen Gymnasium und Universität sind seit dem 19. Jahrhundert der »häretischen« Ideologie des Deutschnationalismus ausgeliefert, der 1937 als »Hochverrat« gewertet wird. In der Tat wiegt der Geist von Kalksburg nicht schwer gegenüber dem großdeutschen Geist, ganz zu schweigen von der Bildungspolitik der Sozial­ demokratie. Was würde also der Dichter (Andrian) tun, wenn er vom Adeligen zum »verantwortlichen Minister für Sprachkultur« ernannt würde  ? Er würde zunächst die »Macht über die Universitäten« übernehmen, um den gegenwärtigen Zustand zu bekämpfen  : »Man relegiert ein paar hochverräterische Studenten, pensioniert wohl einmal auch einen alten offenkundig hochverräterischen Professor, aber die Ideologien, deren Frucht der Verrat ist, werden ungestraft vorgetragen, weil sie sich wissenschaftlich verkleiden …« Die Verwirklichung des »österreichischen Kulturwerks« ist unmöglich, »solange die Phalanx seiner Feinde die Hochschulen hält«. Darum  : »Keine Erneuerung Österreichs ist ohne Erneuerung seiner Hochschulen denkbar« (A, 404). (Eine solche gezielte »hochverräterische« Aktion stellte unter anderem das Buch Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum aus dem Jahre 1936 dar, dem Jahr des aufgezwungenen »deutschen Wegs«. Ironie der Geschichte  : Drei der führenden Wiener Professoren, die an diesem großdeutschen Pamphlet mitarbeiteten, trugen slawische Namen.) Was Andrian hier als »Hochverrat« angesichts der Bedrohung durch das Dritte Reich behandelt, war seit dem 19. Jahrhundert gang und gäbe, man denke nur an Bahrs Relegation von der Wiener Universität im Wagnerjahr 1883  ! Der präsumtive »Minister für Sprachkultur« war übrigens das ganze Buch über ein glühender Verteidiger der Austriazismen, namentlich im 164

Katholische Identitätsphantasmagorien

kulinarischen Bereich, gegen den Einbruch einer in seinen Augen barbarischen neudeutschen Sprache. Die interessanteste Reflexion des Buches betrifft die Rolle der Machtübernahme Hitlers für das Schicksal der Anschlussideologie  : Der Adelige sagt  : »So unerwartet, dramatisch und gewaltsam ist die Anschluss-Ideologie des seinem Vaterland wie seiner Religion entfremdeten österreichischen Bürgertums (denn die katholisch Gebliebenen sind ihr nie unterlegen) von ihrem Schicksale in dem Augenblick grade ereilt worden, als nach dem Triumphe der nationalsozialistischen Partei in Deutschland ihre Erfüllung bevorzustehen schien. Damals spielte sich der zentrale Akt eines geschichtlichen Dramas […] ab. Unter allen Dramen der österreichischen Geschichte hat es wohl kein dramatischeres gegeben« (A, 365–366), denn die »Akme« in diesem »Kampfe zwischen Idee und Ideologie«, »zwischen Wähnen und Sein«, ist mit Dollfuß erreicht, der die »Bewegungsrichtung« der Geschichte geändert und der österreichischen Idee gegen die unösterreichische Ideologie zum Durchbruch verholfen hat. »Unter Dollfuß’ Kanzlerschaft hat das Österreich des zwanzigsten Jahrhunderts seine dramatische Akme erlebt« (A, 366). (Die Verehrung für den »unsterblichen Namen des Bauernsohns« (A, 389) durchzieht das ganze Buch.) In Österreich spielt sich also ein metaphysischer Entscheidungskampf zwischen göttlicher, wahrhafter österreichischer Idee und lügenhafter mephistophelischer nationalsozialistischer Ideologie ab, ein Kampf, von dem das Schicksal des Abendlandes abhänge. Der Adelige zitiert unter den Sünden der republikanischen Verwaltung die Erlaubnis, in Österreich »Deutschland, Deutschland über alles« ungestraft singen zu dürfen (A, 365). Darum hat Andrian das »Gott erhalte« und »Österreich über alles  !« ans Ende seines platonischen Dialogs gestellt. Dieses Dokument ist die vollkommenste Illustration aller Illusionen des austro-­faschistischen Systems und seiner nostalgischen Haltung gegenüber der Monarchie, doch es enthält einen Kern Wahrheit. In der Tat hat die Umsetzung des Hitler’schen Programms in politische Wirklichkeit bewirkt, dass sich Öster­ reich trotz der sprachlichen Einheit einer tiefreichenden Alterität gegenüber Deutschland bewusst zu werden begann, im Augenblick, in dem das »Deutsche Reich« anscheinend seine »wahre« Natur offenbarte. Dennoch brauchte es den Untergang Österreichs, um seine Wiedergeburt zu ermöglichen, und zwar auf einer Basis, die den Prinzipien des »Katechismus der Führenden« diametral entgegengesetzt war, doch mittels einer Reihe von historischen Referenzen, die zur Konstruktion einer nationalen Identität taugten. Das unüberwindliche Handikap der klerikofaschistischen Position Andrians bestand darin, die Grundlage der österreichischen Identität ausschließlich in der Geschichte des Hauses 165

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Habsburg und in der katholischen Religion zu sehen. Damit wurde ein Großteil der österreichischen Bevölkerung des Hochverrats schuldig und nicht nur die großdeutsche akademische Clique. Für eine effektive Verteidigung Österreichs hätte es die Versöhnung mit der besiegten Sozialdemokratie gebraucht, deren Mitglieder in ihrer Mehrheit (im Gegensatz zu ihrer Führung) für die Aufrechterhaltung der Souveränität des Staates gegenüber dem Dritten Reich war. Unter den verzweifelten Versuchen, dem österreichischen Staat ein historisches und ideologisches Fundament zu verschaffen, zeichnet sich einer durch seine literarische Qualität und sein sehr persönliches politisches Engagement aus. Es handelt sich um die vielfachen Stellungnahmen Joseph Roths, des emblematischen Autors des »Habsburgischen Mythos«, dessen Romane Radetzky­ marsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1939) sich als Requiem für die untergegangene Monarchie lesen lassen. Roth ist an der äußersten Peripherie der Monarchie in einem Shtetl Ostgaliziens geboren, und sein Romanwerk oszilliert zwischen seiner Angehörigkeit zum Judentum und der Verteidigung der österreichischen Idee, die für ihn unauflösbar mit dem Haus Habsburg verbunden ist. Zwischen 1933 und 1939 hat Roth eine beträchtliche Zahl von Artikeln über die österreichische Identität verfasst. Erstaunlich sind die Presseorgane, für die er schreibt. Das Neue Tagebuch der Emigranten von Paris steht ihm als sein natürlicher intellektueller Biotop offen, anders verhält es sich mit den offiziellen Zeitschriften des österreichischen Ständestaats, Schönere Zukunft und Der christliche Ständestaat. Der »rote Joseph« der zwanziger Jahre hat sich zum nahezu bedingungslosen Anhänger der austro-faschistischen Diktatur gewandelt. Gleichzeitig kritisiert er in ihrer offiziellen, antisemitisch eingestellten Presse heftig die von Dollfuß vertretene These vom zweiten deutschen Staat. (Der Fall Roth illustriert aufs Schönste die Definition des Ständestaats als »Faschismus, gemildert durch Schlamperei«.) Sein offen bekanntes Staatsideal ist die Monarchie. Er schließt sogar Freundschaft mit Otto Habsburg, in der Hoffnung, im letzten Augenblick die Habsburger Monarchie restaurieren zu können. Sein Österreich-Credo steht in einer Nummer des Christlichen Ständestaats von 1935  : »Der ›österreichische Gedanke‹ ist kein ›patriotischer‹, sondern beinahe ein religiöser. Wir sind nicht der ›zweite deutsche Staat‹, sondern der erste, sozusagen  : der allererste deutsche und übernationale christliche Staat  !« (Roth, 674). Wie Werfels Betrachtungen gezeigt haben, scheint dieses Credo keiner privaten Laune Roths zu entstammen. Auch er sucht nach Schutzgottheiten und stößt natürlich wie Hofmannsthal auf Maria Theresia, »die größte Öster­ reicherin aller Zeiten« (Roth, 557). 1934 veröffentlicht er im Neuen Tagebuch in Paris eine Besprechung des Buches Maria Theresia seines Freundes Karl 166

Katholische Identitätsphantasmagorien

Tschuppik, den er einen »homo Austriacus unter den Historikern« (Roth, 557) nennt. Denn wie Andrian ist er sich bewusst, dass die österreichische Historikerzunft der Zeit weitgehend dem großdeutschen Lager angehört. Roth hat keine Angst vor Superlativen, wenn es um Maria Theresia geht. In ihrem Fall habe die Geschichte »eine Art laizistischer Heiligsprechung« (Roth, 557) vollzogen. Die große, edle mütterliche Kaiserin ist auch eine Heilige, die Antithese eines teuflischen Wesens, des »infernalisch begabten, […] ungläubigen Königs« Friedrichs II., der »ein skeptischer Feldwebel unter den Königen« (Roth, 557) war. Sie ist die »personifizierte fruchtbare Mütterlichkeit«, er ist »geschlechtliche Impotenz«, sie ist Demeter, er ist Hades. »Mit dem impotenten Friedrich beginnt die Herrschaft Preußens über Deutschland. Mit dem sexuell rätselhaften Adolf verstärkt sie sich (und hört sie eines Tages hoffentlich auf )« (Roth, 557/58). (Nach einem von Roth zitierten Bonmot Tschuppiks war Hitler die »Rache Österreichs für Sadowa«  ; Roth, 558.) Die Österreich-Mythologie Roths ist wie die Hofmannsthals in der Epoche Maria Theresias verankert. Seltsamerweise erwähnt Friedrich Heer, dieser andere Homo austriacus unter den Historikern und Nachfolger Tschuppiks auf diesem Terrain, Roth mit keinem Wort in seinem Buch über den Kampf um die österreichische Nation. Auf dieser Basis versucht Roth, einen Dialog mit den Vertretern des christlichen Ständestaats anzuknüpfen, um sie dazu zu bringen, sich von dem in seinen Augen fatalen Begriff des zweiten deutschen Staates loszusagen. Man bietet ihm die Gelegenheit, auf die negativen Kritiken zu antworten, die sein Roman Radetzkymarsch bei gewissen Lesern des Christlichen Ständestaats hervorgerufen hatte. (Es waren jene, die er nach dem Anschluss als »Alpentrottel« bezeichnen wird. Er entdeckt zu Recht in ihrem Vokabular eine Verwandtschaft mit der nationalsozialistischen Begrifflichkeit und deklariert, dass Worte wie »landfremd«, »Scholle«, »Blut und Boden« nicht dem österreichischen Lexikon angehören  : Das sind »unösterreichische, antiösterreichische Worte«. Die »wahren Worte, die in Österreich ›zuständig‹ sind, wären  : universal, katholisch, übernational, gottgläubig und gottwohlgefällig« (Roth, 674). Die Österreicher, die an der These vom zweiten deutschen Staat festhalten, seien »brave ahnungslose Patrioten, Gau-Katholiken und Gau-Österreicher« (Roth, 674). Mit der Bezeichnung »Gau-Österreicher« ahnt Roth die kommende Entscheidung des Dritten Reichs voraus, das den Namen des Landes in »Donau- und Alpengaue« verwandeln sollte. Roths Identifikation mit dem ständestaatlichen Österreich bekommt einen tragisch-ironischen Akzent in einem Artikel des Christlichen Ständestaats vom 6. März 1938 mit dem paradoxen Titel Victoria Victis  ! Zur Rede des Bundeskanzlers. 167

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Er handelt von Schuschniggs Rede vom 24. Februar, in der der Bundeskanzler zum Widerstand bis zum Tod aufgerufen hatte  : »Darum Kameraden, bis in den Tod  : rot-weiß-rot  !« Diese Farben waren die Farben des Erzherzogtums Öster­ reich, des deutschsprachigen Kerns der habsburgischen Erblande, aber auch der Ersten Republik und des heutigen Staates. Für Roth ist diese Rede »die beste in deutscher Sprache – seit Erfindung des Rundfunks« (Roth, 786). Roth attestiert ihr absolute Phrasenlosigkeit in der besten Tradition antiker Rhetorik  : »noch nie seit dem Kriege hat ein Machtloser dermaßen eindrucksvoll bewiesen, dass er nicht kapituliert« (Roth, 787). Die Rede sei getragen gewesen vom »immanenten Glauben an die wahre Sittlichkeit« (Roth, 787). »Es ist die Rede eines katholischen Politikers eben« (Roth, 787). »Nur ein gläubiger Mensch konnte derart sprechen« (Roth, 788). Roth geht in dieser Huldigung an Schuschnigg so weit, in der Magie seiner Rede die Gewissheit zu spüren, »dass die menschliche Sprache Gottes Atem ist« (Roth, 788). – Eine Woche nach dem Erscheinen dieses Hymnus kapitulierte Schuschnigg in einer anderen Rundfunkrede  ! Der Anschluss stürzt Roth in einen Abgrund der Verzweiflung. Bis zu seinem Tod 1939 wird er immer wieder dieses Ereignis umkreisen. Alles Wesentliche ist in seinem Artikel Totenmesse vom 19. März 1938 im Neuen Tagebuch gesagt. Er ist betrübt über die spärlichen europäischen Reaktionen, er sieht darin ein düsteres Vorzeichen für die Zukunft Europas, denn für ihn wurde mit Österreich Europa zertreten  : »Der preußische Stiefel stampft über die älteste europäische Saat« (Roth, 795). Es vollzieht sich gleichsam die Wiederholung der symbolischen Szene von 1848, als die schwarz-rot-goldene Fahne auf dem Stephansturm gehisst wurde, diesmal »flattert über der Kapuzinergruft [dem Erbbegräbnis der Habsburger, G. S.] die alte schwarz-weiß-rote Feindin« (Roth, 795), das heißt die preußische Fahne, die zur nationalsozialistischen geworden war. Obwohl Roth behauptet, »600 Jahre Habsburg konnten nicht ausgelöscht werden von der Stupidität der linken Dogmatiker und der rechten alpinen Trottel« (Roth, 797), muss er feststellen, dass die Barbarei in Österreich einmarschiert ist und jene Kultur vernichtet, die für Roth vor allem die Gestalten der Musiker Haydn, Mozart, Schubert darstellen, denen er wie schon Hofmannsthal Beethoven zugesellt. Der gemeinsame Nenner aller Versuche, Österreichs Sendung zu bestimmen, ist unausweichlich die Rivalität mit Preußen, das als illegitimer, kulturloser Emporkömmling und Kronendieb angesehen und für die Entstehung Hitler-Deutschlands verantwortlich gemacht wird. Das Dritte Reich ist ihm ein Un-Land, ein Un-Staat, bewohnt von Un-Menschen. Wie soll man das merkwürdige Faktum deuten, dass die urältesten Konzeptionen der österreichischen Identität ausgerechnet von Schriftstellern jüdischer 168

Katholische Identitätsphantasmagorien

Herkunft reaktiviert wurden  ? Liegt es daran, dass der christliche Ständestaat trotz des Antisemitismus seiner Führer und der »alpinen Trottel« als schützende Zuflucht vor der deutschen Gefahr empfunden wurde, als wäre das »neue Österreich« der authentische Nachfolger des offiziellen Geistes des Vielvölkerstaats  ? Die von diesen Schriftstellern imaginierte nationale Identität ist radikal unterschieden von der Definition der Nation durch Benedict Anderson als »imaginäre politische Gemeinschaft, imaginiert als wesentlich begrenzt und souverän«, in der eine »tiefe horizontale Kameraderie« herrsche. Denn dem Primat der demokratischen horizontalen Brüderlichkeit widerspricht hier buchstäblich ein Anruf an den Vater, den Schutz von oben für seine Söhne zu gewährleisten. Ob real oder imaginär, das Österreich der österreichischen (habsburgischen) Idee war keineswegs »begrenzt«, es war »katholisch«, also »universell«. Man glaubt an die Lebendigkeit der Devise A EIOU. Vom theoretischen Standpunkt aus war es natürlich, dass sich die Vertreter dieser Österreichidee auf den Universalismus der katholischen Kirche stützten. Der französische Modephilosoph Michel Onfray hat unlängst Freud angeklagt, der Komplize des österreichischen und italienischen Faschismus gewesen zu sein. Was Österreich angeht, hatte Freud bloß das Paradox formuliert, dass er ein Werk wie Der Mann Moses unbehelligt in einem Staat schreiben konnte, dessen offizielle Doktrin in totalem Gegensatz zu seinem Werk stand. Dieser Staat war in der Tat ein Paradox  : Er verfolgte seine inneren Feinde (die Austromarxisten) und trieb sie ins Exil, gleichzeitig nahm er politische Flüchtlinge aus dem Dritten Reich wie Brecht auf und gewährte seinen intellektuellen Gegnern wie Freud, Alfred Adler, Musil, Kraus, Zweig, Soyfer, Wotruba und Canetti usw. relativ sichere Arbeitsbedingungen. Canetti hat übrigens im Roman Die Blendung das absolute Gegenbild zum Idyll des politischen Katholizismus gestaltet  : den »Guten Vater« Benedikt Pfaff, eine furchterregende Variante von Kraus’ bösartigem »österreichischen Antlitz«, und das brutale Scheitern der jüdischen Assimilationsträume des buckligen Zwergs Siegfried Fischer(le). Das Haus Habsburg als die wahre Inkarnation Österreichs zu betrachten, manifestierte sich auch in einer Reihe anderer intellektueller Produktionen der Epoche des Ständestaats. Der Komponist Ernst Křenek, Mahlers Schwiegersohn, der Kraus sehr nahestand, schrieb 1934 für die Staatsoper die Oper Karl V. Der Dramatiker Felix Braun verfasste 1936 eine Tragödie Kaiser Karl V. Nach 1945 hat Braun ein Stück Rudolf der Stifter veröffentlicht. Dieser Habsburger war 1934 von dem Historiker und christlich-sozialen Politiker Ernst Karl Winter, der sich bemühte, Sozialdemokraten und Katholiken zu versöhnen, in seinem Buch Rudoph IV. von Österreich zum »Schöpfer des österreichischen Staats169

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

bewusstseins« (!) und zum »Stifter des österreichischen Staates« erklärt worden (Winter, IX). Rudolf IV. (1339–1365), genannt »der Stifter«, hatte die Wiener Universität (1365) und den Stephansdom gegründet. Für Winter verkörperte er »eine entscheidende Wende der Geschichte«  : »In seiner historischen Gestalt beginnt die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs – gegenüber dem […] machtpolitischen System des Regnum Theutonicum« (Winter, IX), dessen Kaiser, Karl IV., aus dem Geschlecht der Luxemburger, sein Schwiegervater, von Prag aus regierte. Dank einer gefälschten Urkunde, dem Privilegium majus von 1359, hat Rudolf IV. Österreich in den Rang eines Erzherzogtums erhoben. Das war Rudolfs Antwort auf die Entscheidung des Kaisers von 1356, dem Herzog von Österreich die Kurfürstenwürde zu verweigern. Der Erzherzogtitel kompensierte diese Demütigung und führte zu einer Rivalität zwischen dem Heiligen Römischen Reich und Österreich. Mit Hilfe einer Reihe von gewagten Analogien macht Winter aus diesem Fürsten des 14. Jahrhunderts den Vorläufer der »österreichischen Idee« (Winter, XI), die aufgrund der Gründung des Dritten Reichs an Aktualität gewann. Winter behauptet, dass nunmehr der »österreichischen Wissenschaft« (deren alldeutsche Neigungen kein Geheimnis waren) die »Aufgabe« gestellt sei, »mit voller Wachheit an der geistigen Nacherzeugung des österreichischen Staatsbewusstseins, das allein die österreichische Wirklichkeit tragen und gestalten kann, mitzuwirken« (Winter, XI–XII). Rudolf, »ein Symbol Österreichs […] wie kein anderer«, ermöglicht ihm »die wissenschaftliche Klarstellung« (Winter, XII) des Österreichbewusstseins. Rudolf der Stifter bekommt also neben Maria Theresia die auserwählte Rolle einer dynastischen Ikone der österreichischen Sonderstellung. Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, dass im Moment, in dem sich Rudolf zum Erzherzog machte – der Titel war bis zum Ende der Monarchie fester Bestandteil des »Großen Titels« des Kaisers –, das Territorium Österreichs nahezu mit dem kleinen Österreich von 1918–1938 und dem heutigen identisch war. Der gläubige Katholik Winter hat der dynastischen Ikone einen echten Heiligen zugesellt, den Heiligen Severin, den römischen Patron einer »Austria Sancta«, denn »Der Inbegriff eines christlichen Landes ist die Geschichte seiner Heiligen, so auch der österreichischen Idee die Austria Sancta« (Winter, Severin, 212). Alle diese Versuche, die österreichische Identität vor der deutschen Drohung zu bewahren, waren selbstverständlich vergeblich. Selbst die katholische Kirche, die die Massenbasis des christlichen Ständestaates gebildet hatte, hat im Jahre 1938 Österreich durch die »Feierliche Erklärung« der Bischöfe verraten. Nicht nur hieß es im »Vorwort«, »dass in unseren Tagen die tausendjährige Sehnsucht unseres Volkes nach Einigung in einem großen Reich der Deutschen 170

Katholische Identitätsphantasmagorien

ihre Erfüllung findet«, die Bischöfe erklärten »aus innerster Überzeugung und mit freiem Willen«, dass sie die hervorragenden Leistungen der national-sozialistischen Bewegung für den »völkischen und wirtschaftlichen Aufbau sowie die Sozialpolitik« anerkennen. Sie lobten vor allem die Aktionen zugunsten der »ärmsten Schichten des Volkes«. Selbstverständlich erhielt auch der Kampf des Nationalsozialismus gegen den »gottlosen Bolschewismus« den Segen der Bischöfe  : »Die Bischöfe begleiten dieses Wirken für die Zukunft mit ihrem besten Segenswünschen und werden auch die Gläubigen in diesem Sinne ermahnen.« Die »feierliche Erklärung« der Bischöfe, auf die selbstverständlich der Reichsstatthalter den nötigen Druck ausgeübt hatte, endete so  : »Am Tage der Volksabstimmung ist es für uns Bischöfe selbstverständliche nationale Pflicht, uns als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen, und wir erwarten auch von allen gläubigen Christen, dass sie wissen, was sie ihrem Volke schuldig sind.« Der Brief des Kardinal-Erzbischofs Theodor Innitzer, der die Erklärung begleitete, schloss mit einem (freiwilligen handschriftlichen) »Heil Hitler  !« (L’Autriche, 350–352). Diese Position der Bischöfe stand nicht nur im Widerspruch zur Österreichidee der abgesetzten Regierung, sondern vor allem zur päpstlichen Enzyklika Mit brennender Sorge von 1937, einer Enzyklika, die bewusst nicht auf Lateinisch, sondern auf Deutsch abgefasst war und eindeutig und entschieden die nationalsozialistische Ideologie und Praxis verurteilte. Der Vatikan hat zwar den Wiener Kardinal nach Rom vorgeladen, um ihm ein Dementi abzuverlangen, das auf Italienisch im Osservatore romano erschien, während der deutsche Aufruf der Propaganda für das Ja bei der Volksabstimmung diente, das mit 99 Prozent triumphierte. Hitlers Sieg war total  : Die katholische Kirche, sein Organisationsmodell, deren Funktion er sich anzueignen gedachte, hatte sich dazu herabgelassen, ihn zu segnen. Der katholisch-konservative Bundeskanzler Leopold Figl, ein ehemaliger hoher Funktionär des Ständestaates, hat in der Regierungserklärung vom 21. Dezember 1945 Folgendes zu sagen gewagt  : »Dieser österreichische Geist war jahrhundertelang das stärkste Bollwerk gegen alle Versuche imperialistischer Einseitigkeit in diesem Europa. Er war das ausgleichende Moment in Europa. Unser neues Österreich ist ein kleiner Staat, aber er will dieser großen Tradition, die vor allem eine Kulturtradition war, treu bleiben, als Hort des Friedens im Zentrum Europas. Wenn wir immer wieder mit allem Fanatismus heimatverwurzelter Treue zu uns selbst betonen, dass wir kein zweiter deutscher Staat sind, dass wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren noch werden wollen, sondern dass wir nichts anderes sind als Österreicher, dies aber aus ganzem Herzen und jener Leidenschaft, die jedem Bekenntnis zu e­ iner 171

Die österreichische Identität im historischen und politischen Machtspiel

Nation innewohnen muss, dann ist das keine Erfindung von uns, die wir heute die Verantwortung für diesen Staat tragen, sondern die tiefste Erkenntnis aller Menschen, wo immer sie auch stehen mögen in diesem Österreich. Diese Erkenntnis ist gegründet auf unsere alte Kultur, auf unsere kulturelle Mission« (Regierungserklärungen, 100). Der Weg, der zu diesem Glaubensbekenntnis geführt hat, ging über Dachau, Mauthausen und eine Verurteilung zum Tod wegen Hochverrats. Diese Erklärung auf höchster Ebene ist natürlich eine historische Lüge angesichts einer historischen Katastrophe  : 1938 hat Hitler den Namen Österreich aus der Geschichte gestrichen, 1945 hat der österreichische Regierungschef das Wort »deutsch« aus dem österreichischen politischen Wörterbuch entfernt.

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III. Kulturelle Identitätskonstruktionen

1. ZWEI ÖSTERREICHISCHE WUNDER (1809 UND 1914) UND IHRE MYTHOGRAPHISCHEN FOLGEN Für das Kapitel »Massensymbole der Nationen« wählt Elias ­Canetti in Masse und Macht die folgende Perspektive  : »Es sollen die Nationen hier so angesehen werden, als wären sie Religionen. Sie haben die Tendenz, von Zeit zu Zeit wirklich in diesen Zustand zu geraten. Eine Anlage dazu ist immer da, in Kriegen werden die nationalen Religionen akut« (Canetti, 192). Dieser Ausbruch des nationalen Glaubens in Kriegszeiten lässt sich für Deutschland leicht verifizieren. Wie aber steht es mit Österreich  ? Zwei Daten und ihre Folgen eignen sich besonders gut, um die Wirkung des nationalen Glaubens in Österreich zu begreifen. Denn zwei Mal wird die Nicht-Identität von Staat und Nation(en) zu einer Niederlage der österreichischen Idee gegenüber der mächtigen Realität der deutschen Nation führen. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen dabei nicht die historischen Ereignisse (Schlachten, Verträge usw.), sondern ihre Fähigkeit, sich in Mythen der Identität zu verwandeln, die ihrerseits je nach den Umständen einen beträchtlichen Einfluss auf das Identitätsbewusstsein ausüben, aber auch wirkungslos bleiben können.

2. 1809  : WIE ÖSTERREICH DEN KAMPF DER SYMBOLE VERLOREN HAT Die napoleonischen Kriege waren der wichtigste Faktor für das Erwachen des deutschen Nationalbewusstseins. Napoleon hat dem Heiligen Römischen Reich 1806 ein Ende gesetzt, um selbst die mythische Erbschaft Karls des Großen anzutreten, doch Kaiser Franz II. war der Auflösung des Reiches zuvorgekommen und hatte 1804 das erbliche Kaiserreich Österreich gegründet. Der Großteil der kleineren und mittleren Staaten des Imperium Romanum gruppierte sich unter französischer Schirmherrschaft im Rheinbund. Die überlegenen Siege von Ulm, Austerlitz und Jena erlaubten es Napoleon, Wien und Berlin zu besetzen. Der Buchhändler Johann Palm veröffentlichte 1806 Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung und wurde auf Befehl Napoleons in Braunau, Hitlers Geburtsstadt, hingerichtet. Hitler gedenkt am Beginn 173

Identitätskonstruktionen

von Mein Kampf nachdrücklich Palms und erhebt Braunau zu einem »von den Strahlen deutschen Märtyrertums vergoldeten Innstädtchen«, wo sich »ein die ganze deutsche Nation ergreifendes tragisches Unglück« ereignet habe. In Anspielung auf Palms Broschüre spricht er von der »Zeit der tiefsten Erniedrigung unseres Vaterlandes« (Hitler, 1–2). Palm, der von der bayrischen Polizei denunziert worden war, wird von Hitler mit dem nationalsozialistischen »Märtyrer« Leo Schlageter verglichen, der 1923 von den Franzosen im besetzten Ruhrgebiet hingerichtet worden war. Die Art und Weise, wie Hitler die Märtyrergloriole Palms benützt, ist äußerst aufschlussreich für die immense Rolle, die die napoleonischen Kriege für die Ausbildung des deutschen Nationalismus gehabt haben. Viele Schriften dieser Epoche haben unmittelbar, aber auch langfristig auf das Nationalbewusstsein gewirkt. An hervorragender Stelle stehen die Reden an die deutsche Nation Fichtes, die er 1807–1808 im besetzten Berlin gehalten hatte. Ein besonders radikales Beispiel ist Kleists Verwandlung von Schillers Ode an die Freude in den antifranzösischen Hassgesang Germania an ihre Kinder. In dieser Zeit bildete sich ein reicher Schatz an patriotischen und kriegerischen Liedern, die alle in das Kommersbuch, diese Bibel des Nationalismus, eingegangen sind. (Siehe dazu S. 75ff.) Wie verhält es sich mit Österreich in diesem Kontext  ? Vom institutionellen Standpunkt aus hatte die Entscheidung Franz II., Österreich vom sterbenden Heiligen Römischen Reich zu trennen, zum Ziel, vis-à-vis Napoleon seine Ranggleichheit zu betonen. Angesichts des Abfalls der Rheinbundstaaten, des »Verrats« Bayerns und der vorübergehenden Vernichtung Preußens entwickelte Österreich zum ersten Mal einen wahren Patriotismus, gefördert vom Grafen Stadion, dem Minister für Äußeres, und den Erzherzögen Albrecht und Karl. 1809 glaubte Stadion, der Begründer der Vaterländischen Blätter, behaupten zu können  : »Wir haben uns als Nation konstituiert.« 1807 erschien der Österreichische Plutarch des Historikers Hormayr, der ein »patriotisches Denken für den Gesamtstaat« predigte. Im selben Jahr benützte der Dichter Heinrich von Collin den Titel des barocken Wirtschaftstraktats Oesterreich über alles, wann es nur will von Philipp Wilhelm von Hörnigk aus dem Jahre 1684 für sein zum Widerstand gegen Napoleon aufrufendes Lied »Österreich über alles«. (Hörnigk machte Vorschläge, mittels derer Österreich »in kurzem über alle andere Staat von Europa zu erheben« sei). Der Titel wurde 1813 in Preußen von Ernst Moritz Arndt kopiert und in den Aufruf »Deutschland über alles, wenn es will« umgewandelt, der 30 Jahre später Hofmann von Fallersleben zum Lied der Deutschen »Deutschland, Deutschland über alles  !« inspirierte. Das Lied Collins wurde in Wien drei Mal im Hoftheater gesungen, einmal sogar in Gegenwart 174

1809  : Wie Österreich den Kampf der Symbole verloren hat

des Kaisers Franz I. Collin war auch der Autor einer patriotischen Gedichtsammlung mit dem Titel Wehrmannslieder. Der Werkkatalog Beethovens enthält einige Nebenwerke, die die napoleonischen Kriege zum Thema haben, darunter 1797, dem Jahr der Entstehung der Kaiserhymne Haydns, ein Kriegslied der Österreicher, das das österreichische Volk und seinen Souverän feiert  : »Ein großes deutsches Volk sind wir, sind mächtig und gerecht«. Für den Wiener Kongress hat er 1814 zwei Kantaten komponiert, eine Germania zu Ehren des preußischen Königs und des österreichischen Kaisers, und Der glorreiche Augenblick, eine Hymne, die nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft das »neue« Europa (»Europa steht  !), die deutschen Fürsten, von denen nur Franz I. beim Namen genannt wird, und die Stadt Wien verherrlicht, die Königin der Städte, die von sich selbst behaupten kann »Europa bin ich  !« Beethoven komponierte also im Dienste der Ideen des Kanzlers Metternichs, des »Kutschers Europas« und entging dabei nicht der Gefahr, Propagandamusik wie schon das symphonischen Schlachtgemälde Wellingtons Sieg (op. 91) zu produzieren, die vermutlich seinen inneren Überzeugungen zuwiderlief. 1809 setzten alle deutschen Patrioten ihre Hoffnungen auf die Widerstandskraft Österreichs. Und in der Tat richtete Erzherzog Karl am 8. April 1809 einen Aufruf An die deutsche Nation, um die Zustimmung »Deutschlands« zur österreichischen Kriegserklärung gegen den französischen Kaiser zu erreichen. Sein zentrales Argument lautete, Österreich kämpfe nicht nur für seine eigene Souveränität  : »Wir kämpfen, um die Selbständigkeit der österreichischen Monarchie zu behaupten – um Deutschland die Unabhängigkeit und Nationalehre wieder zu verschaffen, die ihm gebühren. […] Unser Widerstand ist seine letzte Stütze und Rettung. Unsere Sache ist die Sache Deutschlands. Mit Österreich war Deutschland selbständig und glücklich  : nur durch Österreichs Beistand kann Deutschland wieder beides werden. Deutsche  ! würdigt Eure Lage  ! Nehmt die Hilfe an, die wir Euch bieten  ; Wirkt mit zu Eurer Rettung  !« (Volk, Reich, 21–22). In diesem Augenblick schwören selbst die radikalsten deutschen Nationalisten, Kleist und Arndt, nicht mehr auf den deutschen Gott, sondern auf den österreichischen Kaiser. Arndt, der künftige Verächter Österreichs, ruft aus  : »Österreich ist noch da.« Und »Nur zusammen  ! Zusammen  ! Ruft Österreich auf  ; unterwerft euch Österreich als König von Germanien« (Volk, Reich, 16). Nach der Niederlage von Wagram redigiert Kleist einen Text Über die Rettung von Österreich, der mit einer fiktiven Proklamation des österreichischen Kaisers endet  : »Wir, Franz der Erste, Kaiser von Österreich, kraft Unseres Willens und mit der Hilfe Gottes, Wiederhersteller und provisorischer Regent, haben 175

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beschlossen und beschließen, was folgt  : 1. Vom Tag dieses Beschlusses an soll das Deutsche Reich wieder vorhanden sein« (Kleist II, 382). Kleist hofft auf die Fortsetzung des Krieges, denn allein von der Rettung Österreichs wird die Rettung Deutschlands abhängen. Napoleon hatte in der Schlacht von Aspern in Tat seine erste Niederlage hinnehmen müssen, der Tiroler Aufstand Andreas Hofers gegen die Bayern und Franzosen hatte die Wirksamkeit einer patriotischen Volkserhebung bewiesen. Österreich und sein Kaiser verkörpern in diesem Jahr allein den Widerstand der deutschen Nation, Franz I. nährt die Hoffnung auf eine Rückkehr des Heiligen Römischen Reichs unter Habsburgs Oberhoheit. In diese Zeit fällt ein merkwürdiges Phänomen der deutschen Geistesgeschichte. Ein guter Teil berühmter deutscher Romantiker konvertieren zum Katholizismus und stellen sich in den Dienst des österreichischen Staates, von dem sie die Wiedergeburt einer Universalmonarchie erwarten. Das Vorspiel zu diesem Phänomen war Novalis’ Essay Die Christenheit oder Europa von 1799 gewesen, eine philosophisch-religiöse Konstruktion, die die religiöse Einheit des Mittelalters beschwor und damit Goethes Zorn erregte, der das Nötige tat, um die Veröffentlichung zu verhindern. Doch der aufsehenerregendste Fall hieß Friedrich Schlegel  : Zusammen mit seiner Frau Dorothea Veit, der Tochter Moses Mendelssohns, konvertierte er 1808 zum Katholizismus und ließ sich in Wien nieder. Die Kriegserklärung Erzherzog Karls von 1809 stammt aus seiner Feder. Andere Romantiker traten in den Dienst der katholischen Kirche und des Kaiserreichs. Der Dramatiker Zacharias Werner ließ sich zum Priester weihen und wurde zum Starprediger des Wiener Kongresses. Clemens Brentano kehrte zum Glauben seiner Väter zurück und schrieb in Wien das LibussaDrama Die Gründung Prags, Friedrich von Gentz und Adam Müller lieferten die politischen Theorien zur Rechtfertigung der Restauration und legten die Fundamente für die Parteiprogramme der künftigen katholischen Parteien. Für Friedrich Schlegel ist die »Signatur des Zeitalters«, die es zu löschen gilt, der Triumph des Anti-Staats, der Anti-Schule und der Anti-Familie (Schlegel, 330). Er macht die Französische Revolution und das Absterben des religiösen Gefühls dafür verantwortlich. Der wahre »Charakter Europas« sei erschienen  : »Daher die gänzliche Unfähigkeit zur Religion […] die absolute Erstorbenheit der höheren Organe. »Tiefer kann nun der Mensch nicht sinken  ; das ist nicht möglich« (Schlegel, 315). Schlegel schöpft seine Zukunftshoffnungen aus der Vergangenheit, dem Modell des Imperium Romanum, namentlich aus der Person des Universalkaisers Karls V. aus dem Haus Habsburg. Er träumt von der »Idee einer europäischen Eidgenossenschaft«, deren »Zentrum« Österreich wäre. 176

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»Das wahre Kaisertum muss wiederhergestellt werden, aber es kann und muss bei keiner anderen Nation als bei der deutschen […] sein, also bei Österreich.« Denn  : »Österreichs einzige Bestimmung ist, das christlich-deutsche Kaisertum aufrechtzuerhalten und wiederherzustellen.« Schlegel sieht im österreichischen Staat eine Synthese der germanischen Tradition der Freiheit und der Idee der katholischen Universalmonarchie. Man versteht, warum Hofmannsthal wenig Sympathie für solche idealistische Konstrukte hatte, deren reales Ziel es war, Österreich in den Dienst Deutschlands zu stellen. Denn für Schlegel gibt es ›zwei Nationaleinheiten  : die physische (die deutsche) und die moralische (die österreichische).« Im Klartext  : Die österreichische Nation ist eine Idee, die deutsche eine Realität. Schlegel predigt in der Tat eine kuriose Kombination zwischen dem Primat der katholischen Kirche (»Mit der Idee der Kirche geht auch die Heiligkeit der Könige verloren«) und der Verherrlichung der »germanischen Verfassung und Freiheit« (Schlegel, 320–324). Doch im Zeitalter der tiefsten Erniedrigung Deutschlands verkörpert allein das erbliche Kaiserreich Österreich eine historische und religiöse Legitimität, die ihm die Vorherrschaft im zerrissenen Deutschland garantiert. Die Beschwörung der Manen Karls V. gehört in diese Strategie. Der unleugbare österreichische Patriotismus des Jahres 1809 – Friedrich Heer hat ihn als Wunder bezeichnet – bleibt an die Rolle Österreichs gegenüber Deutschland gebunden. Das Vokabular aller Reden der Epoche ist unentschieden  : Eine österreichische Nation ist undenkbar, solange sich die deutsche Nation durch die gemeinsame Sprache und Kultur definiert. Der österreichische Patriotismus ist (noch) nicht vom deutschen Nationalgefühl abzulösen. Selten sind die Versuche, die österreichische Nationalgeschichte unter Ausschluss der Sprache als grundlegendes Element der Nation zu beschreiben. Eine solche Nation zu konstituieren hätte bedeutet, die »österreichische Idee« in die Wirklichkeit zu übersetzen. Es war eher das Gegenteil der Fall, denn selbst der Name Österreich wurde als »imaginär« wahrgenommen. Doch ohne Namen gibt es keine Identität. Der Beschluss Hitlers, 1938 selbst den Namen Österreich aus dem Atlas der Geschichte zu löschen, war logisch. Im Jahre 1813 erreichte die national-religiöse Inbrunst in Deutschland ihren Höhepunkt. Doch diesmal profitierte die gesamte literarische und musikalische Symbolproduktion der »Befreiungskriege« ausschließlich Preußen. Die politische Restauration nach 1815 unter Führung Österreichs konnte nur einen dynastischen Charakter haben, was zur Folge hatte, dass sich Österreich aus der einzigen Quelle des Heils der deutschen Nation im Jahre 1809 in den Augen der deutschen Nationalisten unausweichlich in den Totengräber der nationalen Freiheit verwandelte. Dieser symbolische Fall hatte schwere Folgen für das An177

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sehen der Dynastie. Gewiss hat die Hochzeit Napoleons mit Marie-Louise, der Tochter des Kaisers, im Jahre 1810 dazu beigetragen, das »deutsche« Bild der Dynastie zu trüben. Die Anwesenheit von Napoleons Sohn (1811–1832), der als König von Rom geboren worden war, am Wiener Hof hat eine befremdliche Atmosphäre erzeugt, in der die imperiale Mythologie eine bedeutende Rolle gespielt hat. Man konnte diese Ehe und den Titel des Sohnes als Ausverkauf der Legitimität des Heiligen Römischen Reiches an Frankreich ansehen, was sicher Napoleons Absicht entsprach, der von sich behauptet hatte  : »Ich bin Karl der Große«. Die von Schlegel ersehnte Kombination des römisch-katholischen Erbes mit der germanischen Freiheit durch das Haus Österreich hat der Prüfung durch den wachsenden Nationalismus nicht standgehalten. 1817 berief sich dieser voll Stolz auf den Geist der Luther’schen Reformation. Trotz der beträchtlichen, ja entscheidenden Rolle, die Österreich im Kampf gegen Napoleon gespielt hatte, gibt es keine dauerhaften Spuren dieses österreichischen Patriotismus im kulturellen und politischen Gedächtnis Deutschlands – und selbst Österreichs. Die große Ausnahme bildet Andreas Hofer, doch er ist in die patriotische Legende eingegangen als Opfer des Verrats des »guten Kaisers Franz«, der den Tiroler Widerstand seinem Schicksal überlassen habe. (Und im volkstümlichen Hofer-Lied von 1810, das ins Kommersbuch eingegangen ist, wird zwar der Kaiser erwähnt, nicht aber Österreich, sondern das »Deutsche Reich« und mit ihm »das Land Tirol«.) Das deutsche nationale Gedächtnis wird also ausnahmslos von der preußischen Geschichte beherrscht werden, die Kriege und Siege im Kampf gegen Napoleon »gehören« buchstäblich Preußen. Schon 1814, noch vor dem Wiener Kongress hat der preußische General von der Marwitz seinem König ein »unfehlbares« Mittel angeraten, um die preußische Hegemonie in Deutschland gegenüber Österreich zu garantieren. Er stellt zunächst fest, dass die Preußen, als »Befreier des Vaterlands überall geachtet«, trotzdem überall verhasst sind  : »Es herrschet ein unzerstörbares Vorurteil gegen diesen Namen. Preußen erscheint allen Deutschen als durchaus fremd.« Er stellt aber auch als Folge der napoleonischen Kriege noch etwas anderes fest  : »Ebenso unzerstörbar hat aber auch Wurzel gefasst die Idee eines gemeinsamen deutschen Vaterlandes. Wer sich dieser Idee bemächtigen wird, der wird herrschen in Deutschland, denn er wird der lichte Punkt sein, nach dem alle sich hinwenden werden in trüben Zeiten.« Wenn der König sich diese Idee zu eigen machte, »so wäre das Vorurteil gebrochen«. Die ­anderen (sprich Österreich) erschienen dann als »undeutsch«  : »Er allein als der wahre, reine Deutsche«, der eines Tages die Krone des geeinigten Deutschlands tragen werde. Er schlägt dem König den Titel »König der Deutschen in 178

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Preußen, Brandenburg und Sachsen« vor und verbürgt sich, »dass, ehe 50 Jahre vergehen, der König der Deutschen, außer Preußen, Brandenburg und Sachsen, auch Franken, Schwaben, Rheinland usw. in seinem Titel führen würde« (Volk, Reich, 37). Der Mann hat sich nur um sieben Jahre geirrt, und sogar das Undsoweiter (z. B. Bayern) war dabei. Dieser »unfehlbare Erfolg« hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass Österreich an der Spitze des »Deutschen Bundes« von 1815–1848 alle nationalen Bewegungen hart verfolgt hat, die im Widerspruch zu Metternichs geopolitischen Vorstellungen standen. Die akademischen Eliten bemächtigen sich des herrschenden symbolischen Arsenals, dessen emblematische Figuren Luther, Friedrich II., der Marschall Blücher usw. sind. Ihre sakralen Daten sind 1813 und 1817. Österreich wird nicht nur von seinen nichtdeutschen Völkern als »Völkerkerker« angesehen, es beraubt auch seine deutschsprachige Bevölkerung des Traums vom einigen großen deutschen Reich. Auf die Befreiung vom französischen Joch folgt keine Epoche der nationalen und republikanischen Freiheit. Die Heilige Allianz mit Russland macht aus Österreich den Hort der politischen und religiösen Reaktion. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848, der Einrichtung des Neoabsolutismus und 1855 des Abschlusses eines Konkordats mit dem Vatikan verstärken sich die nationalen Überzeugungen und Gefühle. Trotz der beträchtlichen Rolle, die der deutsch-nationale Liberalismus bei der Ausarbeitung der Verfassungsgesetze (1862 und 1867) und bei der Abschaffung des Konkordats gespielt hat, blieb das Bild Österreichs bestimmt vom Vorwurf der Rückständigkeit, des Klerikalismus und der Ohnmacht. Das Amalgam zwischen Rom und Habsburg wird ein mächtiges Argument der Alldeutschen gegen ihren eigenen Staat. Eines ist evident  : Lange vor der militärischen Niederlage gegen Preußen in Königgrätz hatte Österreich den Kampf der Symbole verloren.

3. 1914–1918  : DIE EPOCHE DER MYTHOGRAPHIEN ODER DELIRIUM AUSTRIACUM- GERMANICUM Einer der glühendsten Verteidiger der österreichischen Identität, der katholische Historiker Friedrich Heer, sieht in seinem Buch Der Kampf um die österreichische Nation das Jahr 1914 als ein anderes Jahr des Wunders, in dem sich gleichsam das Wunder von 1809 wiederholte. Er ortet das Erwachen eines unverfälschten österreichischen Patriotismus, verkörpert in der multinationalen Armee, die entgegen allen apokalyptischen Vorhersagen, die seit Jahrzehnten 179

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den nahenden Untergang Österreich-Ungarns beschworen, allen zentrifugalen nationalistischen Kräften widersteht. Heer zeichnet ein hymnisches Porträt des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand, dessen Ermordung den Krieg ausgelöst hatte. Der mit einer tschechischen Adeligen vermählte Kronprinz hatte die Armee reformiert und gestärkt und ohne Unterlass daran gearbeitet, die Doppelmonarchie in eine Tripelmonarchie zu verwandeln, die der slawischen Mehrheit die Gleichberechtigung mit den Ungarn und Deutschen garantiert hätte. Er war ein entschlossener Gegner aller Bestrebungen, die aus Österreich das Vehikel der deutschen Vorherrschaft in Mittel- und Südosteuropa machen wollten. Er bekämpfte also im Voraus die Mitteleuropa-Idee, die mitten im Krieg von Friedrich Naumann propagiert wurde. Heer lässt sich sogar zu einer KomplottTheorie hinreißen  : Und wenn das Attentat von Sarajewo ein von Berlin aus ferngesteuertes deutsch-serbisches Unternehmen gewesen wäre  ? Das war auch Hitlers erste Hypothese, der befürchtet hatte, deutsche Burschenschaftler hätten im Geist des Studenten Sand gehandelt, der 1819 den Dichter Kotzebue als angeblichen russischen Spion im Namen der deutschen Freiheit ermordet hatte. Während des Krieges wandelt sich das »brüderliche« Verhältnis Deutschland-Österreich mehr und mehr zu einer Vormundschaft  : 1915 wird in einer Promemoria der deutschen Regierung »Österreich als germanische Ostmark« bezeichnet, die den Kampf gegen die Slawisierung als Mission habe. Die österreichische Antwort, »dass die Monarchie nicht bloß eine germanische Ostmark sei«, ist vom deutschen Botschafter in Wien von Tschirschky (der sichtlich seine Herkunft vergessen hatte) als unannehmbar empfunden worden (Monarchie III, 1, 326). (Joseph Redlich, einer der klügsten Beobachter der Epoche, der kurzfristig Finanzminister der letzten kaiserlichen Regierung gewesen war, ist über diese deutsche Arroganz empört. Angesichts von Naumanns Mitteleuropa-Konzept, das er als unrealisierbar ansieht, notiert er  : »in Deutschland hat man wenig Lust dazu und noch weniger Liebe zu Österreich. Dass unsere Truppen, überhaupt unsere Volksmassen sich so wundervoll halten – […] verdirbt den führenden preußischen Österreichfeinden das Konzept« (Redlich, 153). Das »Wunder« scheint alle negativen Österreichstereotypen zu widerlegen. Der Kontrast zum »Wunder« von 1809 ist augenfällig  : Anstatt die nationalen Hoffnungen des erniedrigten Deutschland zu verkörpern, ist Österreich 1914 nur der »Zweite im Bunde« mit dem geeinten Deutschland, das zur imperialistischen Weltmacht aufgestiegen ist und an den Fähigkeiten, ja an der Treue seines Verbündeten zweifelt. Die Aussagen über die Identität sind von diesem Zweifel gezeichnet. Ein merkwürdiges dialektisches Spiel beginnt  : Aus Angst vor dem »neudeutschen Riesentopf« beginnen die Österreicher, positive Anti180

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thesen zur symbolischen Vorherrschaft Deutschlands zu konstruieren. Da das »Wunder« nicht von Dauer war und Österreich nicht »in Ewigkeit« bestehen blieb, wurde der »Anschluss« 1918 erklärtes Ziel der Republik. Vor dieser Niederlage formt sich beim »wundergläubigen« Redlich der Ansatz zur austrofaschistischen These von den Österreichern als den besseren Deutschen. Er fühlt sich als »Deutscher besserer Art als diese Millionen bösartiger Trottel, die sich heute ›Germanen‹ nennen«. Er fragt sich  : »Was habe ich (sc. Österreicher) mit diesem ameisenartigen Volk zu tun  ?« (Bahr-Redlich, 498). 3.1 Hermann Bahr (1863–1934) und Joseph Redlich (1869–1936) Unter der Vielzahl der Autoren, die vom Ersten Weltkrieg bis an die Grenzen der Vernunft und darüber hinaus vom Furor germanicus-austriacus getrieben wurden, gehört die Palme eindeutig Hermann Bahr, der 1917 im Essayband Schwarzgelb den Aufsatz Das österreichische Wunder veröffentlichte, in dem er die berühmte Szene von 1741, als sich Maria Theresia an die ungarischen Würdenträger wandte, um ihr Reich zu retten, mit der multinationalen patriotischen Begeisterung von 1914 vergleicht. In beiden Fällen war Österreich in Todesgefahr oder bereits für tot erklärt  : »Von allen Überraschungen, die uns dieser Krieg gebracht hat, ist die größte, dass Österreich, so oft totgesagt, noch lebt, und lebendiger als je« (Bahr 2, 30). Denn alle Welt war überzeugt vom unausweichlichen Zerfall Österreich-Ungarns, da alle seine Völkerschaften nur ein Ziel vor Augen hatten, sich von diesem Staat zu trennen. »Und jetzt  ? Welch ein anderes Bild  ! Ganz Österreich eins, desselben Willens, derselben Bereitschaft, desselben Opfermuts, Deutsche, Slawen und Ungarn Brüder, kein Zwist mehr, Eintracht überall, Österreich ist wieder da  !« (Bahr 2, 30). Derselbe enthusiastische Ton ist auch in Karl Renners Österreichs Erneuerung von 1916 vernehmbar. In einem kurzen Artikel, verfasst nach dem Tod Franz Josephs I., also in einem kritischen Moment für die Monarchie, entwirft Bahr ein Idealbild des jungen Kaisers, in dem er den würdigen Nachfolger des ermordeten Thronfolgers sieht  : »In ihm ist uns Franz Ferdinand auferstanden  !« (Bahr 2, 172). Dem ehemals als »unösterreichisch« empfundenen Thronfolger, weil er »der Ernst, die Sachlichkeit, das Gewissen« war, wird nun sogar das Verdienst zugeschrieben, dafür gesorgt zu haben, dass »Österreich gerüstet« (Bahr 2,173) war. In diesem Panegyrikos auf die Funktion des Kaisers behauptet Bahr  : »Österreich ist mystisch« und »Österreich ist katholisch. Der Österreicher steht zum Monarchen ganz in demselben Verhältnis wie zum 181

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Priester« (Bahr 2, 170), in dem er das sakrale Amt verehrt, das unabhängig ist von den Eigenschaften der Person. Der Boden für den zukünftigen politischen Katholizismus ist wohl bestellt. Bahrs Freund Joseph Redlich, ein Gelehrter und Politiker, der unmittelbaren Zugang zum jungen Kaiser hatte, zeichnete von ihm im Briefwechsel mit Bahr ein ähnliches Porträt  : »Der Kaiser ist ein so guter Österreicher – er ist eine solche reine Verkörperung des Liebenswürdigen, Milden, Menschlichen, das im Österreichertum steckt« (Redlich, 235). Dieses österreichische Wesen, Resultat eines christlichen Humanismus, verkörpert im jungen Kaiser, lässt Redlich von einer Utopie träumen, in der Karl I., die Verkörperung des »österreichischen Wesens« (Redlich, 233), der »heimliche Kaiser der neuen Zeit« wäre. Denn für Redlich ist die Zeit Friedrichs II., Napoleons und Bismarcks zu Ende. Anstelle ihrer Macht werde »der Geist die Welt beherrschen […], der Krieg wird zur Erhöhung Österreichs führen.« (So im Juli 1917  ; Redlich, 233.) Doch einen Monat später befallen ihn Hoffnungslosigkeit und Defätismus angesichts der Neigung zum radikalen Deutschnationalismus selbst bei den Christlich-Sozialen. Er sieht überall die Tendenz zur »Entösterreicherung«, die Gefahr des Verlusts des »österreichischen Gefühls«, ja des österreichischen »Lebenswillens« (Redlich, 254). Das Existenzrecht Österreichs muss garantiert werden, er reklamiert »dasselbe Recht auf Fortexistenz wie für das Deutsche Reich in seiner heutigen Gestalt« (Redlich, 254). Vor der austro-katholischen Wendung, die er mit Redlich teilt, hatte sich Bahr mit Haut und Haaren dem deutsch-nationalen Delirium von 1914 ergeben, von ihm selbst »Die Ideen von 1914« genannt, und in seinem Kriegssegen ausformuliert. Es stimmt, dass sich die österreichische Armee, deren multinationale Struktur den deutschen Bündnispartner an ihrer Effizienz zweifeln ließ, bis 1918 loyal geschlagen hat, aber es ist fraglich, ob das aus patriotischem Österreichenthusiasmus geschah. Keine der österreichischen Nationalitäten sehnte sich nach einer russischen Invasion, und das österreichische Heereskommando verfügte auch über ein repressives Arsenal, um gegen »Hochverrat« vorzugehen. Karl Kraus hat in den Letzten Tagen der Menschheit ein entsetzliches Foto des »österreichischen Antlitzes« reproduziert. Man sieht darauf den Leichnam des hingerichteten italienischen Irredentisten Cesare Battisti, eines Abgeordneten zum Reichstag, umgeben vom süffisant lächelnden Henker und österreichischen Zivil- und Militärpersonen. Dieses »österreichische Antlitz« hat wenig mit der proklamierten humanitas austriaca zu tun. Das in Frage stehende Foto war in zehntausenden Exemplaren von der Militärpropaganda verbreitet worden  ! Die Hinrichtung Battistis war kein Einzelfall, der Galgen, um Hochverräter zur Ver182

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nunft zu bringen, war öffentlich bekannt. Analysiert man die Erklärungen und Produktionen österreichischer Intellektueller und Künstler der Jahre 1914/1915, so stellt man eine geschlossene kriegsbegeisterte Front fest, die sich in nichts von Hitlers Erinnerungen an diese Tage in Mein Kampf unterschied. Man feierte vor allem die Rolle des Bündnisses mit Deutschland, das auf der »Nibelungentreue« beruhte. Aber es sind auch die Zweifel an dieser »Nibelungentreue«, ausgelöst von den Hegemoniebestrebungen des Deutschen Reiches, die zu den ersten Versuchen einer österreichischen Selbstbesinnung führten. Es ist weder möglich noch sinnvoll, ein vollständiges Panorama der öffentlichen Meinung der Epoche zu versuchen. Sie war übrigens, wie Musil zu Recht bemerkte, in ganz Europa identisch. Die 1916 gegründete und bis heute im gleichen Geist agierende pazifistische satirische Wochenzeitung Le Canard enchaîné hat damit begonnen, einen Wettbewerb der »bourreurs de crânes« (etwa »Hirnverstopfer«) auszuschreiben, die spiegelbildlich Bahrs »Ideen von 1914« auf Französisch produzierten, darunter Maurice Barrès, Bahrs Idol. Es ist aber aufschlussreich, die Positionen jener Künstler und Intellektuellen zu auskultieren, die heute als bedeutende Vertreter der österreichischen Kultur und Literatur internationalen Rangs angesehen werden  : Bahr, Musil, Hofmannsthal, Kraus, Rilke, Zweig. Mit Ausnahme Kraus’ sind sie alle der Kriegsbegeisterung und der Illusion einer heiligen Volksgemeinschaft verfallen, und diese Gemeinschaft war zunächst nicht österreichisch, sondern deutsch. Besonders erstaunlich ist der Fall Rilkes, des Musterbeispiels eines frankophilen europäischen Kosmopoliten, der Paris als seine eigentliche Heimat ansah. Doch im August 1914 ließ er sich zu Fünf Gesängen hinreißen, einer Verherrlichung des Heldentums und der Gemeinschaft, die das Ich in eine höhere Einheit auflöst. Er macht aus dem Soldatentod einen »gefürsteten Tod«. Dieses von Rilke geforderte sacrificium individui unterscheidet sich von den nationalistischen Herzensergießungen seiner Kollegen in einem wichtigen Punkt  : Seine Vergöttlichung des Krieges, »Endlich ein Gott  !«, ist nicht chauvinistisch, dieser »auferstandene« Gott ist europäisch (wie auch Musil, allerdings erst am Ende des Krieges, festgestellt hat). Diese Fünf Gesänge bleiben trotzdem ein wertvolles Dokument für die religiöse Massenhysterie bei Kriegsbeginn, der selbst die luzidesten Geister erlagen. Rilke hat seine Gedichte, schlechte Hölderlinnachahmungen, sehr rasch bedauert und seinem kriegerischen Verleger für den Rest des Krieges nur mehr sein Schweigen als Beitrag geliefert. Von der österreichischen Identitätsdebatte hat er sich begreiflicherweise ferngehalten, sie war für ihn absolut zweitrangig. Immerhin hat er symbolisch seinen Militärdienst im Kriegspressequartier in Wien abgeleistet, ohne sich nochmals zum poetischen Wehrdienst herabzulassen. (Das hat für ihn 183

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stellvertretend der von ihm geschaffene »Kornett« getan.) (Nach dem Ende der Monarchie optierte er für die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, wählte aber als Wohnsitz die französische Schweiz). Hermann Bahr hatte sich nach seinem exzessiven jugendlichen Wagner- und Bismarckkult zum Paradeeuropäer gemausert, bevor der Krieg die absurdesten Formen seiner alldeutschen Begeisterung wiederbelebte. In Kriegssegen (1915), der seine Tagebücher von 1914 umfasste, übertraf er alle nationalistischen Delirien der Epoche, selbst Hitler kann in Mein Kampf in diesem Punkt nicht konkurrieren. Sucht man nach einem Beweis, welche Schäden der religiös getönte Nationalismus in seiner feurigen Phase in einem Kopf anrichten kann, hat man die vollendet Illustration in den nachfolgenden Sätzen  : »wir alle, so weit es Deutsche gibt in der weiten Welt, alle segnen, segnen, segnen diesen Krieg  !«21 Ein Kapitel ist überschrieben »Uns ist das deutsche Wesen erschienen«, denn »Wir haben uns wieder, nun sind wir nichts als deutsch  : es genügt uns auch ganz, wir sehen jetzt, dass man damit völlig auskommt, fürs Leben und fürs Sterben«. Der Krieg ist ein »heiliger deutscher Krieg«, ein Krieg des Geistes  : »Wir heutigen Deutschen sind niemals einer so rein geistigen Existenz teilhaftig gewesen als jetzt, da uns das deutsche Wesen erschienen ist.« Für Bahr war die deutsche Mobilmachung in der deutschen Musik vorgebildet  : »Und was ist denn die deutsche Musik von Bach über Beethoven zu Wagner, ja Richard Strauss als  : Enthusiasmus mit Disziplin  ? Deutsche Musik ist unsere Mobilmachung gewesen  : es ging in ihr genau wie in einer Partitur Richard Wagners zu  : völlige Verzückung bei völliger Präzision  !« Seit dem 1. August 1914 »geht Weimar und Bayreuth leibhaft lebendig unter uns herum«. Von den gotischen Kathedralen, der Musik Beethovens und Goethes Faust angekündigt, hat sich das deutsche Wesen in diesem Krieg verwirklicht. (Bahr hat die Schamlosigkeit nicht so weit getrieben, Mozart für den heiligen deutschen Krieg zu mobilisieren. Dafür musste man das Jahr 1941 und das Paar Goebbels und Schirach abwarten. Doch Bach und Beethoven fielen dieser Schändung der Kultur zum Opfer). Wilhelms II. Deklaration, dass es nur noch Deutsche gebe, klang in Bahrs Ohren »wie Adlerschrei der urältesten deutschen Sehnsucht«. Auch der patriotische Fundus von 1813 wird logischerweise heraufbeschworen, und Bahr kann sich nicht genug tun im Lob des preußischen Militarismus, und er prophezeit mit Genugtuung, dass nach dem Sieg Europa preußisch sein werde  : »Preußen wird das neue Europa machen«. Doch während des Krieges vollzieht Bahr, der zum Katholizismus konvertiert war, eine radikale »schwarzgelbe« Wendung und entdeckt die Verwurzelung Österreichs in der Barockkultur der Gegen-Reformation. Kurz vor Ende des Krieges, im August 184

Die Epoche der Mythographien

1918, kommt zum Barock noch eine andere kulturelle Neuentdeckung Bahrs, der Schriftsteller Adalbert Stifter (1805–1868). Unfähig zum Maßhalten oder gar »Bescheiden« nach dem Bild seines neuen Idols, erhebt er es zum einzigen Erben von Goethes Geist und zum Schöpfer des österreichischen Menschen der Zukunft  : »Der Stiftermensch liegt in der Zukunft, nur der Stiftermensch ist unsere Zukunft« (Bahr 4, 12). »Stifter hat die Menschenart entworfen, mit der einst ein wahres Österreich einmal möglich sein wird« (Bahr 4, 12). Dem deutschen Rationalismus leistet nunmehr »unser herrliches österreichisches Volk« Widerstand. Sich dem deutschen Kulturimport der Aufklärung, eines »ungebetenen Gasts« unterwerfen, hieße zum »Verräter an unserem innersten Heiligtum« (Bahr 4, 13) werden. »Stifter, der einzige Erbe Goethes«, ist »draußen unverständlich« (Bahr 4,14). Die Grundidee des deutschen Humanismus (Goethes und Humboldts), die »Bildung« ist nunmehr in Österreich beheimatet. Der Bahr des Kriegssegens macht sich die radikal antinationalistische Haltung Stifters im Jahre 1848 zu eigen, der wie Grillparzer im Nationalismus eine Regression auf die »Tierheit« sah. Bahr konstruiert ausgehend von Stifter ein österreichisches kulturelles Paradigma, das auf einer Reihe großer Künstler beruht, in der Architektur auf Fischer von Erlach (Schönbrunn und Karlskirche) und Hildebrandt (Melk), in der Musik auf Mozart und Schubert, in der Literatur auf Grillparzer, Stifter und seinem Lokalmatador Stelzhamer, den er neben Homer stellt. Nicht zu vergessen ist der Erneuerer des österreichischen Katholizismus, der Heilige Clemens Maria Hofbauer. Bahr gelingt also das Kunststück, das »deutsche Wesen« und seine hohen Werke von den gotischen Kathedralen bis zur Musik Wagners aus der österreichischen Kulturgeschichte zu eliminieren und gleichzeitig den größten Deutschen, Goethe, zum eigentlichen Repräsentanten des wahren österreichischen Geistes des »Maßes« und der »Menschlichkeit« zu machen. Er ist bei weitem nicht der Einzige, der an der Konstruktion des »habsburgischen Mythos« in dem Moment zu arbeiten beginnt, wo die Agonie der Monarchie begonnen hat. Der deutsche Glaube (an Bismarck) hat 1918 dem »herzenstiefen Aberglauben an Österreich« (Redlich, 343) Platz gemacht. (1925 nennt die Neue Freie Presse Bahr »einen der österreichischesten Österreicher, die wir jemals besessen haben«.) Diese abergläubische Kulturmythologie schließt als »unösterreichisch« vor allem den ungebetenen Gast der Aufklärung und seine politischen Varianten von Joseph II. bis zur national-liberalen und sozialdemokratischen Tradition aus. Das war selbst dem kulturellen Patriotismus Joseph Redlichs zu viel, der ursprünglich wie Bahr selbst aus dieser Tradition kam. Er sah die Konsequenzen einer solchen Haltung  : für ihn, den altösterreichischen Liberalen, war Österreich europä185

Identitätskonstruktionen

isch, während das »zwischen Otto Bauer und Ignaz Seipel geteilte Österreich« (Redlich, 557) nicht zu Europa gehöre, denn es sei das Schlachtfeld zweier Religionen geworden. Bahrs Definition der kulturellen Identität Österreichs laufe auf das Risiko hinaus, statt ein einheitliches Nationalbewusstsein einen scharf trennenden Kulturkampf zu schaffen, der die Gefahr des Bürgerkriegs in sich berge. Das sollte in der Tat das Schicksal der Ersten Republik werden. 3.2 Robert Müller (1887–1924) Der heute fast vergessene expressionistische Schriftsteller Robert Müller hat auf den Krieg mit einer Reihe ungewöhnlicher Essays reagiert, deren umfangreichster Österreich und der Mensch betitelt ist. Der Untertitel Eine Mythik des Donau-Alpen-Menschen kündigt den Ton dieses hyperbolischen Textes an. Müllers Versuche über Österreich unterscheiden sich von den sentimentalen Beschwörungen Bahrs durch ihre erklärte Absicht, einen Mythos zu konstruieren. Mit Bahr teilt er den plakativen Antiliberalismus und das Misstrauen gegen den Fortschritt  : »Österreich ist das mächtigste Gebilde des germanischen Imperialismus«, der streng vom Alldeutschtum getrennt werden müsse, denn »dieses ist für Österreich unbrauchbar, ja es ist hochverräterisch und zerstört das bis jetzt Geschaffene. Das Alldeutschtum verlegt dem Schöpferischen des Deutschtums den Weg« (Müller, 19). Denn für Müller sei der deutsche Geist restlos erst in »einem deutschen Reich UND einem Österreich« (Müller, 19) ausgedrückt. Punkt für Punkt widerspricht er der Konzeption Friedrich Naumanns im Vortrag Deutschland und Österreich. Müller entgeht nicht den klassischen Stereotypen einer Wesensschau  : »Österreich ist ein Fluidum, aus der mannigfachen Reibung von Rassen, Nationen und Sprachen entstanden.« Der Österreicher ist darum tief skeptisch und bildet das Gegenstück zum »trostlosen Maschinenkraftmenschen« (Müller, 275). Dieses Argument durchzieht als Negativum und nur selten als Positivum alle Versuche, eine Wertskala zu konstruieren, um Österreich vom »neuen« Deutschland zu unterscheiden. Darin steht Müller Redlich sehr nahe. Dieser hat 1923 in seinem Tagebuch eine hasserfüllte Tirade gegen die »neudeutsche Hydra« notiert, gegen ein »Volk von Ameisen«, das herabgekommen sei zur Anbetung des Militarismus und der Industrialisierung. Er, trotz seiner jüdischen Eltern »als Deutscher geboren und erzogen«, fühle nicht mehr die geringste Verwandtschaft mit diesen »Millionen von perversen Idioten die sich heute ›Germanen‹ nennen« (Redlich, 498–499). Vor dieser Feststellung verwandelt sich das klassische Minderwertigkeitsbewusstsein der Österreicher in ethische Überlegenheit. Er sieht sich als 186

Die Epoche der Mythographien

»Deutschen besserer Art« (Redlich, 498), ein Phänomen, das zehn Jahre später das Herz der Notwehr des Ständestaates gegen die Drohung Hitlers werden sollte. Wie für Bahr und Redlich ist auch für Müller der Katholizismus »der organische Reflex der österreichischen Völkervielfalt« (Müller, 60). Auch das mächtige Stereotyp vom weiblichen Charakter des Landes bleibt nicht aus  : Die Frau ist »der Gehalt des Österreichischen« (Müller, 154). Müllers goethesche Aufforderung lautet  : »Steigen wir in die geschichtlichen Tiefen zu den österreichischen Müttern« (Müller, 157). Und was findet man dort  ? »Den üppigen Liebreiz der Maria-Theresia, Mutter und erotische Person« (Müller, 158). Die Polarität Österreich-Preußen geht auf die Urpolarität weiblich-männlich zurück, Müller gebraucht dafür den Ausdruck »Uranologie des Männlich-Weiblichen« (Müller, 154), denn für ihn gibt es seit Schopenhauer und Weininger keinen Zweifel an der Existenz weiblicher und männlicher Völker. Österreich sei nicht »verweiblicht«, sondern »erweiblicht« (Müller, 154), was für Müller »Erwähltheit«, also »Erhöhung« bedeutet. Unter den Müttern in der Tiefe ist eben auch die Mutter Gottes, die Mater Austriae. Gegenüber dem militärischen Eroberungswillen, aus dem Preußen entstanden ist, ist Österreich das Produkt von »›Verhältnissen‹, Ehen, Verschwägerungen, Erbschaften« (Müller, 153). Tu felix Austria nube  ! Selbst die alpen-donauländische Landschaft zeichnet sich durch weibliche »Anmut« aus. Kurz, die österreichische Welt ist eine »Frauenwelt«, das Erotische eine österreichische Spezialität. Selbst der Ort der intellektuellen Diskussion, das Wiener Café, ist eine Art Mutterschoß, wo die »Brutwärme der Gemütlichkeit« (Müller, 153) herrsche. Um diese Eigenschaft auf ihre antideutsche Spitze zu treiben, leitet er diesen Charme von der slawischen Komponente der Bevölkerung her. (Dieser Topos ist übrigens in der österreichischen Literatur weitverbreitet, von Grillparzer bis Musil, Broch, Roth und sogar Canettis Autobiographie.) Doch im absoluten Gegensatz zu dieser hedonistischen, sich anthropologisch gebenden Mythographie zeichnet Müller ein ruhmreiches Porträt des Thronfolgers, dessen Ermordung die Hoffnung vernichtet hätte, ein »junges Österreich« entstehen zu sehen. »Franz Ferdinand war der ungeschliffene Demant Österreichs.« »Er war hart. Mit ihm hat Österreich seine Härte verloren« (Müller, 47–48). Seine in den Augen des Hofes unebenbürtige Ehe war die »höchste Form der Zuchtwahl«. »Er hätte geherrscht, wie er gefreit hatte.« Unter seiner Herrschaft hätte man in Österreich das »Unerhörte erlebt  : Handeln, Wahl, Bestimmtheit«. Deshalb war er gefürchtet von »österreichischer Halbheit und Fahrlässigkeit« (Müller, 48). Er war nicht nur der Inbegriff einer tatkräftigen und tatwilligen »Männlichkeit«, er war auch »schwarz« im Geiste des Klerikalismus, den Müller – wie übrigens 187

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Karl Kraus – in Verkehrung der üblichen Kategorien »der dicken, liberalen Dunkelheit« (Müller, 47) und Dummheit vorzog. Der Gipfel der antiliberalen und antideutschen Provokation ist wohl darin zu sehen, dass Müller wünscht, »dass sich der Katholizismus den deutschen Norden erobere« (Müller, 60). Und im schroffsten Gegensatz zur verbreiteten Slawophobie sieht er in den Soldaten aus »slawischen Bauernstämmen« die Kraftquelle der Armee (Müller, 60). Seltsame Ehe des Erotischen mit dem Militärischen  ! Zu diesen verbreiteten, wenn auch überspitzten Stereotypen gesellt Müller ein neues kulturelles Paradigma, das er zweifellos Karl Kraus verdankt und dem eine bedeutende akademische Zukunft bis heute beschieden sein sollte. Es geht um die Sprache, gewöhnlich der einfachste Nenner der nationalen Identität. Das »rein kultivierte Österreichertum« ist für Müller (wie Kraus) in Nestroy Gestalt geworden. Er repräsentiert »das Sprachdenken, die sprachliche Meisterschaft, das quälend Dialektische des Sinnierens«. »Nestroys Dialekt ist Wesen, Blutkreislauf, Appetit, Sauerstoffverbrauch  ; rein kultiviertes Österreichertum. In dem Publizisten Karl Kraus, einem hervorragenden jüdischen Charakterkopfe, der eine rassenmäßige Analogie darstellt, ist diese österreichische Art zu einer nicht mehr zu überbietenden Übervollendung gereift, die sich schon ins wertlos Pathologische hinüberornamentiert« (Müller, 189). Trotz dieser antisemitischen Bedenken gegen Kraus bejaht Müller den hochironischen Prozess, dass gerade das Verhältnis der Österreicher zur gemeinsamen deutschen Sprache zur kulturellen differentia specifica gemacht wird. Dieses besondere Sprachbewusstsein ist seit 1945 selbst in Deutschland und im Ausland (ganz besonders in Frankreich) zum Spezifikum der österreichischen Literatur gemacht worden, in der sich die deutsche Sprache Gedanken über sich selber mache und damit ein höheres Reflexionsniveau erreiche als etwa der Geist der Gruppe 47, ganz zu schweigen vom Sozialistischen Realismus in der DDR. Der Rest von Müllers Überlegungen begnügt sich mit den üblichen Österreich-Preußen-Schemata, sprich Organisation versus Phantasie, Wirksamkeit versus Schönheit, Gewissheiten versus Zweifel. Der wahre, vollendete deutsche Mensch wäre eine Synthese der beiden  : »Preußen, dem anderen Deutschtum die Tüchtigkeit  ; Österreich die Schönheit  ; zusammen der Welt den Deutschen, einen Menschen« (Müller, 192). Für dieses utopische hybride Idealwesen hat er den Neologismus »Germantik« erfunden. In der politischen Wirklichkeit setzt Müller seine Hoffnungen wie Bahr und Redlich auf den jungen Kaiser Karl I., um aus Österreich »ein blendendes Stück Zukunftswelt« (Müller, 192) zu machen. Seltsamerweise produziert die reale Verzweiflung über die »letzten Tage« optimistische Zukunftsvisionen, als erwarte man die Auferstehung nach dem Tode. 188

Die Epoche der Mythographien

3.3 Robert Musil (1880–1942) Bahr war Zeit seines Lebens ein intellektuelles Chamäleon. Der Wechsel seiner Überzeugungen in Sachen Österreich ist darum unter die vielfachen Symptome nahezu pathologischer Natur zu zählen, die die österreichische Frage in die Welt gesetzt hat. Ganz anders gelagert ist der Fall Musils. Doch scheint auf den ersten Blick auch Musil 1914 im Unisono der nationalistischen und kriegerischen Euphorie religiösen Charakters zu versinken wie Bahr, Thomas Mann und sogar Rilke, der für einige Zeit seinen »eigenen Mund« der Masse zur Verfügung stellte. Musils erster Versuch, sich der österreichischen Frage zu nähern, ist ein Essay aus dem Jahre 1912 mit dem Titel Politik in Österreich. Musil vermeidet bewusst die brennende Frage der Epoche, die Nationalitätenfrage, um eine Analyse vorzulegen, die man am besten als psychopathologisch bezeichnen könnte, einen Prototyp der österreichischen Selbstbeschimpfungen, deren Gipfel paradoxerweise nach der Konsolidierung der Nation bei Autoren wie Thomas Bernhard erreicht wurde. Für Musil ist die Politik in Österreich trotz ihrer offensichtlichen Leidenschaftlichkeit gekennzeichnet durch Gleichgültigkeit, »Leidenschaft als Vorwand«, alles wie eine »Konvention, ein Spiel nach Übereinkommen«, »in der Seele unwahr, spukhaft, geglaubt und respektiert, aber nicht gefühlt« (Musil 1, 992). Die Österreicher sind nie identifizierbar mit ihrem Tun und Glauben  : »Es ist nicht an ihre Religiosität zu glauben, nicht an ihre Untertanenkindlichkeit oder ihre Sorgen  ; sie warten dahinter  ; sie haben die passive Phantasie unausgefüllter Räume« (Musil 1, 992–993). Der Katalog der negativen Eigenschaft umfasst noch den Mangel an Ernst, die Feindseligkeit gegen ernste Arbeit, einen allgemeinen »Mangel an Sinn« (Musil 1, 993). Unausweichlich stellt sich der Vergleich mit den Deutschen ein. Er ist durch und durch ironisch getönt  : Der Deutsche gleiche »im Verhältnis zu seinen Idealen jenen unerträglich lieben Frauen, die plitschtreu wie ein nasses Schwimmkleid an ihren Gatten kleben« (Musil 1, 993). Musil hält offenbar wenig von der obersten deutschen Nationaltugend der Treue, die auf die Germania des Tacitus zurückgeht und von den Alldeutschen unentwegt und 1914 sogar von Musil im Munde geführt wurde, und zu deren Varianten auch »Unsere Ehre heißt Treue« gehört. Musil gehört trotz seiner erbarmungslosen Kritik an den Österreichern keineswegs zu den alldeutschen Anbetern des germanischen Idealismus. Denn hinter dem knochenlosen Staat Österreich vermutet Musil »ein Geheimnis, eine Idee. Aber sie ist nicht festzustellen. Es ist nicht die Idee des Staates, nicht die dynastische Idee, nicht die einer kulturellen Symbiose ver189

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schiedener Völker (Österreich könnte ein Weltexperiment sein), – wahrscheinlich ist das Ganze wirklich nur Bewegung zufolge Mangels einer treibenden Idee, wie das Torkeln eines Radfahrers, der nicht vorwärts tritt« (Musil 1, 993). Der Grund für diesen Missstand ist in einer kulturellen Anomalie zu suchen  : »Politik in Österreich hat noch keinen menschlichen Zweck, sondern nur österreichische. Man wird kein Ich durch sie, obwohl man alles andere mit ihrer Hilfe werden kann.« Im Vergleich mit Deutschland ist selbst »das Werkzeug der Sozialdemokratie noch nicht hart genug« (Musil 1, 993), und ein Bürgertum existiert ebenfalls nicht. Das Ergebnis  : Leere, beschränktes Bewusstsein, das Gesichtsfeld auf die Fovea centralis reduziert. Der österreichische politische Held hat eine »Technik der Bewusstseinseinschränkung« ausgebildet, eine »üble in häufiger Krankheit erworbene Unart, die man mit Recht nicht ganz ernst nimmt« (Musil 1, 995). Der pathologische Charakter erklärt sich aus dem Fehlen von »den ganzen Bewusstseinsumfang beanspruchenden Inhalten« (Musil 1, 995). Musils Diagnose nimmt Brochs Diagnose des Wertvakuums in Hofmannsthal und seine Zeit vorweg. Der einzige positive Aspekt, die Fähigkeit eine kulturelle Symbiose hervorzubringen, wird nicht als Realität, sondern als bisher versäumte Möglichkeit wahrgenommen, aus Österreich ein experimentum mundi zu machen. Man spürt bei Musil eine deutliche Bevorzugung der gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierung in Deutschland, die auch Karl Kraus’ Gegenüberstellung von Berlin und Wien in der Aphorismenreihe Zwei Städte zu teilen schien. Doch Kraus kehrte dieser neudeutschen Welt rasch den Rücken und suchte sein kulturelles Ideal im vormärzlichen Österreich und bei Nestroy. Musil teilt weder die Nostalgie dieser Vergangenheit noch die Bewunderung für die sprachlichen Kunststücke Nestroys. Als der Krieg 1914 ausbricht, solidarisiert sich Musil bedingungslos mit Deutschland. In seinem kriegerischen Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum, der im September 1914 in der Neuen Rundschau erschien, gebraucht er ein nationales »Wir« – »wir, das Volk im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas« (Musil 1, 1021), ein »Wir«, das nicht den geringsten Platz für eine wie immer geartete österreichische Besonderheit lässt. Denn von nun ab ist die ganze Welt geteilt in »Deutsch und Widerdeutsch« (Musil 1, 1021). Diese überwältigende Erfahrung des Sommers 1914 wird der Kern aller zukünftigen Überlegungen Musils über die nationale Frage, die Rolle des Staates und die verführerische Macht der Massen werden. Im Augenblick von 1914 ist jedes distanzierende »Nachdenken« ausgelöscht. Musil entwertet alle kritischen oder pazifistischen Haltungen, diese bestätigen ihn sogar in der Überzeugung, dass das quasi-religiöse Mysterium des Ereignisses noch die negative Faszination der 190

Die Epoche der Mythographien

Kriegsgegner nähre. Er macht sich alle deutschen Tugenden, als da sind »Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung und Schlichtheit« (Musil 1, 1020) zu eigen. Er ist von einem Gefühl »betäubender Zugehörigkeit« erfüllt, unterliegt einer unwiderstehlichen »Urmacht« bis zum biblischen Bekenntnis, dass »der Tod keine Schrecken mehr hat« (Musil 1, 1022). Man traut seinen Augen nicht, wenn man unter Musils Feder liest  : »[…] wir haben nicht gewusst, wie schön und brüderlich der Krieg ist« (Musil 1, 1020). Welch unerhörtes Beispiel für die Plastizität des Menschen je nach den historischen Umständen  ! Wie der exemplarische Europäer Rilke, der eben seinen Wohnsitz Paris verlassen hatte, verschmilzt Musils Ich als Opfer eines religiösen Deliriums, das nach keiner Begründung fragt, mit der Masse des Volkes, vor der die intellektuelle Konstruktion eines übernationalen Menschen- oder Europäertums zum Nichts wird. 1918 – Musil hatte die Wirklichkeit des Krieges an der Front erlebt – kommt er in der Skizze [das Ende des Krieges] zurück auf das Phänomen der Auferstehung des Krieges, dieses »heidnischen Götzen«, an den vor 1914 »kein vernünftiger Mensch glaubte« (Musil 1, 1342). Die Langeweile der Vorkriegszeit wich einem kollektiven Abenteuer, nicht nur in Deutschland, »Mensch verschmolz mit Menschen« (Musil 1,1344), man kannte keine Parteien mehr. Im Zentrum dieser neuen Verhaltensweisen sieht Musil in Deutschland eine Sonderform  : »Ich nenne sie mit ihrer kürzesten Formel  : M. W. Ich übertreibe nicht  : M. W. ist Religion und Ethos der deutschen Gemeinschaft, es ist ihr toll gewordener Imperativ und es ist der Kern ihres Militarismus. In ein menschliches Wort übersetzt heißt dieses Machen wir  : Tüchtigkeit. Es ist der einzige ethische Wert, den das neue Deutschland ausgeprägt und jedem Deutschen eingeprägt hat« (Musil 1, 1344). Wir werden noch sehen, wie Karl Kraus das Ethos des M. W. des wilhelminischen Deutschland in der allegorischen Figur »Wahnschaffe« satirisch karikiert. Musil steht diesem »deutschen Wert« nicht absolut feindselig gegenüber, denn noch 1918 sieht er auch die positiven Seiten der deutschen Tüchtigkeit  : »Wer über dieses Wort nur die Nase rümpft, wird nie verstehen, wieviel roher, klotziger, aber wertvoller Idealismus in ihm steckt. Ich gehe noch weiter und halte diese Tüchtigkeit überhaupt für die höchste Leistung, die ein Staat schaffen kann« (Musil 1, 1344). Über solchen Idealismus fällt Musil allerdings eine hellsichtige Diagnose  : »Man stirbt für seine Ideale, weil es sich nicht lohnt für sie zu leben. Oder  : Es ist als Idealist leichter zu sterben als zu leben« (Musil 1, 1343). In dieser Optik ist selbstverständlich der Offizier der deutsche Idealtypus. Die Kehrseite dieser Medaille ist Musil wohl bewusst  : Deutschland ist »der wunderbarste und zukunftsreichste Ameisenbau, den es gibt, aber der Einzelne darin ist eine graue, reizlose, arbeitssame Ameise« (Musil 1, 1344). Er befürchtet, dass eine Deutsch191

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land im Fall einer Niederlage aufgezwungene Entmilitarisierung als »Entmannung« (Musil 1, 1344) der Nation empfunden werden könnte. Die unheimliche religiöse Wirkung des Nationalismus von 1914 ist noch immer gegenwärtig, wenn er in einem Fragment von 1919–1920 und Nationalismus und Internationalismus die rätselhafte Wirkung der nationalen »Beschränktheit« auf ihn selbst feststellt. Angesichts des Verhaltens des italienischen und tschechischen Staates gegen die deutschen Minderheiten – »beides ist mehr, als sich je der ›germanische Expansionsdrang‹ im alten Österreich erlaubt hat« (Musil 1, 1347) – empfindet er ein Gefühl der unerklärlichen Solidarität  : »Ich bin empört, es geht mir nahe, ganz ohne dass ich will. Aber was gehen mich eigentlich die dunklen Alpenspießbürger an  ? Sollte ich sie nicht schadenfroh den Italienern gönnen  ?« (Musil 1, 1347). »Ich komme darauf, dass ›Nation‹ ein Abstraktum ist. Wir haben nicht einmal die Sprache gemeinsam, denn meine Sprache versteht der Großteil der Nation nicht besser als ich englisch« (Musil 1, 1348). Kann man sich einen schärferen Gegensatz zur »Verschmelzung« von 1914 vorstellen als dieses Eingeständnis der Isolation  ? Gegen den radikalen Pessimismus Musils in Sachen der Gattung Mensch, in seinen Augen »eine liquide Masse, die geformt werden muss« (Musil 1, 1348), plädiert er für die Möglichkeit einer entmystifizierten Form der »Nation«, die er »sprachliche Arbeitsgemeinschaft« nennt und allen Phraseologien vom Typ »das Volk Göthes« entgegenstellt (Musil 1, 1348). Diese »sprachliche Arbeitsgemeinschaft« ist übrigens Musils zentrales Argument in seiner Auseinandersetzung mit der schicksalsschweren Anschlussfrage. Im Februar und März 1919, also noch vor der Unterzeichnung der Verträge von Versailles und Saint-Germain-en-Laye und im Moment der Wahl zur öster­reichischen Konstituante vom 16. Februar, schrieb Musil zwei Essays zur Anschlussfrage, Buridans Österreicher und Der Anschluss an Deutschland (März 1919), respektive in Der Friede (Wien) und in der Neuen Rundschau (Berlin) erschienen. Musils Position ist nicht erstaunlich. Sie entspricht dem Willen der Provisorischen Nationalversammlung, die im Artikel 2 der provisorischen Verfassung die Republik Österreich zu einem Teil der deutschen Republik erklärt hatte. Sie geht konform mit der Politik des Staatssekretärs für Äußeres, Otto Bauer, der mit seinem deutschen Kollegen Geheimverhandlungen zugunsten des Anschlusses führte. (Julius Braunthal, sein Emissär in Berlin, ist einer der glühendsten Vertreter der großdeutschen Idee innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie). Sie ist schließlich identisch mit dem Willen der Mehrheit der Österreicher, die in einigen von den Alliierten nicht autorisierten Volksabstimmungen zu nahezu 100 Prozent für den Anschluss Deutsch-Österreichs 192

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(inklusive der Sudeten) an das Deutsche Reich optiert hatten. Vor dieser Evidenz lässt Musil jene Argumente Revue passieren, die damals für eine österreichische nationale Identität sprechen konnten, darunter vor allem die Idee einer eigenständigen österreichischen Kultur. Buridans Österreich ist vor eine hypothetische Wahl zwischen einer »Donauföderation« und »Groß-Deutschland« gestellt (Musil 1, 1030). Musil schließt also von Anfang an die Eigenstaatlichkeit Österreichs von der Wahl des Esels aus  ! Für ihn ist das »Reichsbündel krafthaltiger«, aber der österreichische Esel ist störrisch und will unbedingt unter den Kriterien der Wahl auch »den geistigen Geruch« des Heubündels. »Da entdeckt der gute Österreicher die österreichische Kultur. Österreich hat Grillparzer und Karl Kraus. Es hat Bahr und Hugo v. Hofmannsthal. Für alle Fälle auch die ›Neue Freie Presse‹ und den esprit de finesse. Kralik und Kernstock. Einige seiner bedeutendsten Söhne hat es allerdings nicht, die sich rechtzeitig geistig ins Ausland geflüchtet haben« (Musil 1, 1030–1031). (Meint er sich selbst oder Rilke  ?) Diese Liste der österreichischen Kultur ist nach dem Prinzip der ironischen Antiklimax gestaltet  : Ganz unten stehen K. u. K. (Kralik und Kernstock), beide beliebte Objekte der Kraus’schen Satire als Quintessenz der »katholischen« Kultur der k. u. k. Monarchie. Kernstock war noch dazu der Verfasser des religiös-national getönten Hymnentexts auf die Melodie Haydns. Die aufgezählten Paare repräsentieren höchst unterschiedliche und untereinander unverträgliche Varianten des kulturellen Lebens in Österreich. Durch diese Methode führt Musil die Idee einer einheitlichen österreichischen Kultur ad absurdum. Es gibt keine österreichische Kultur, sondern »ein begabtes Land, das einen Überschuss an Denkern, Dichtern Schauspielern, Kellnern und Friseuren erzeugt« (Musil 1, 1031). Also lauter Antithesen zum »krafthaltigerem« deutschen Geist des M. W. Musil räumt mit zwei der beliebtesten Klischees auf, der österreichischen Kultur als glücklicher Synthese von Nord und Süd, Ost und West, einem »märchenschönen Mit- und Ineinander aller Kulturen«, einer »wunderbaren Kreuzung von Rassen und Nationen« (Musil 1, 1031), und des sagenhaften Alters der österreichischen Kultur, die sich bis aufs »Barock zurückschreibt« (Musil 1, 1031). Er vermeidet bewusst die Musik und begnügt sich damit, den kulturellen österreichischen Überlegenheitsansprüchen die Namen Goethe, Leibniz, Cranach und Grünewald entgegenzuhalten. Österreich ist für ihn hauptsächlich ein Land der vertanen Gelegenheiten – siehe das virtuell gebliebene »Weltexperiment« –, ein Land, das theoretisch »der vorbildliche Staat der Welt [hätte] sein müssen«, aber bei der Verwirklichung »Pech« gehabt hat (Musil 1, 1031). Eine »Donauföderation« hieße nichts anderes als Österreich »als europäischen Naturschutzpark für vornehmen Verfall weiterzuhegen« 193

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(Musil 1, 1032). Der letzte Satz des Essays, ein kleines Juwel der Musil’schen Ironie, lässt keinen Zweifel an seiner Entscheidung aufkommen  : »Auch Buridans Österreicher, trotzdem er auf Gespaltenheit vom Kopfe bis zum Hufe eingerichtet ist und auf noble Subtilität, sollte ein einzigesmal einen Burgfrieden schließen zwischen der Spiritualität und der gemeinen Wahrheit und das Einfache einfach tun, trotzdem er es kompliziert unterlassen könnte« (Musil 1, 1032). Sprich  : den nahrhaften Anschluss statt einer nebelhaften Idee wählen oder gar unentschieden zwischen den beiden zu verhungern. Der Essay Der Anschluss an Deutschland ist sehr viel weniger ironisch und spielerisch. Die Anschlussfrage ist zweitrangig im Vergleich zu dem, was in der noch laufenden Friedenskonferenz auf dem Spiel steht. Wird diese, fragt sich Musil, »der Abschluss von fünf Jahren oder von zweieinhalb Jahrtausenden europäischer Geschichte sein«, wird sie »bloß die Kriegszeit beenden […] oder die Zeit der Kriege  ?« (Musil 1, 1033). Die zwei Organisationsformen, die aus dem Krieg hervorgegangen sind, der »Völkerbund« und die bolschewistische Revolution, haben als Mission, die üblichen Grenzen und Aufgaben der Staaten zu überschreiten. Musil begrüßt diese Entwicklung und plädiert für die Abschaffung des National-Staates, den er als kriminelle Institution im Umgang mit seinen Nachbarn ansieht. Für ihn unterscheidet sich »die Psychologie der kriegerischen Verwicklung zwischen zwei großen Kulturstaaten« in nichts von der »Psychologie der kriegerischen Kirchweihverwicklungen zwischen benachbarten Dörfern« (Musil 1, 1035). Jede wünschenswerte Entwicklung in der Geschichte verläuft über die »Bildung einer höheren Gemeinschaft« (Musil 1, 1035). Darum hat Musil trotz allem ein Faible für das alte Österreich, das seine Berufung zum experimentum mundi leider verfehlt hat. Er imaginiert die Utopie einer »Organisation der Menschheit« aufgrund »weitgehender Verschmelzung in neuen, gemeinsamen Interessen, wobei der einzelne Staat immer mehr auf den Rang eines Selbstverwaltungskörpers sinkt« (Musil 1, 1035). Vom traditionellen Staat bliebe nichts als die »organisierte Sprachgemeinschaft«, denn die »Nation ist ja weder eine mystische Einheit, noch eine ethnische, noch auch geistig wirklich eine Einheit«, denn das Genie ist international, die Beschränktheit national22, »wohl aber ist sie als Sprachgemeinschaft ein natürlicher Leistungsverband« (Musil 1, 1035). Doch selbst diese rein utilitaristische Organisation stellt eine dem universellen Humanismus des Völkerbunds und dem internationalistischen Ideal des Kommunismus konträre Macht dar, die sich im Medium der Sprache kristallisiert. Musils Dilemma springt in die Augen. Der Anschluss beruht zwar auf der Idee des Nationalstaats, aber wenn »ein alter, nie unterbrochener Kulturzu194

Die Epoche der Mythographien

sammenhang und unmittelbare Nachbarschaft bestehn, wie zwischen DeutschÖsterreich und Deutschland, ist der staatliche Zusammenschluss einfach einer der entscheidenden Schritte auf dem Weg vom Zustand, den wir Staatstier nennen durften, zum Menschenstaat« (Musil 1, 1036). Er rechnet mit den diversen Nationalismen der Slawen und Ungarn ab, die am Untergang Öster­ reich-Ungarns schuldig seien, doch trotz seiner Neigung zur organisierten deutschen »Sprachgemeinschaft« unterwirft er die deutsch-nationale Ideologie einer scharfen Kritik  : Sie war »nichts als eine tot wuchernde Geschwulst. Ein Gemenge, das sich aus Wagner, Chamberlain, Rembrandtdeutschem, Felix Dahn, Studentenpoesie, Antisemitismus und unwissender Geringschätzung der anderen Nationen zusammensetzte«. »Man schwärmte für Erhöhung des deutschen Wesens in Öster­reich, meinte aber damit nicht etwa Rilke, obgleich der ein Deutscher, Österreicher und ›Arier‹ ist, sondern kern-inniges deutsches Staackmannestum« (Musil 1, 1037). (Auch Karl Kraus hat die »Staackmänner«, die meist deutsch-national orientierten zweitrangigen österreichischen Autoren zum Gegenstand der Satire gemacht.) Musil verweist auch auf die Studentenschaft als Trägerin eines »hysterischen« Nationalismus. Anders gesagt, Musil hat für die deutsch-nationalen kulturellen Referenzen in Österreich noch mehr Verachtung über als für die kulturellen Modelle der österreichischen Idee. Doch gibt es für Musil nicht die geringste Spur einer gemeinsamen »österreichischen Kultur« unter der Monarchie, es gibt nur Nationalkulturen. Was man naiver Weise als österreichische Kultur ausgebe, sei eine Spezialität der Deutsch-Österreicher. Musil sieht darin einen »perspektivischen Fehler des Wiener Standpunkts«, eine »Kulturlegende«, ein »geographisches Märchen« (Musil 1, 1039), kurz romantisches Heimweh nach dem Österreich vor 1867, einer phantasierten »sancta Austria« (Musil 1, 1041). Trotz dieser unerbittlichen Urteile versteht und achtet Musil jene Altösterreicher, die sich der Auflösung des österreichischen Typus im deutschen M.W. widersetzen. Aber er macht darauf aufmerksam, dass der Berliner Lebensstil nichts weiter sei als eine besondere Form der Gesamtentwicklung der Welt, an der selbst Österreich teilhabe. Vergleichbar Kraus’ Blick auf Berlin und Wien stellt er fest  : Österreich sei nicht bei der »Postkutsche und dem Weimarer Bildungsideal stehen geblieben«, »sondern es hatte genau so Eisenbahn und Journalistik eingeführt wie die übrige Welt, nur fuhr man mit beiden schlechter als anderswo« (Musil 1, 1041). Österreich als Nachzügler im technischen und wirtschaftlichen Fortschritt ist ein besonders wichtiges Stereotyp, das sich leicht in eine »Tugend« verwandeln ließ  : Österreich als Bollwerk des christlichen Humanismus gegen die »Entzauberung« der modernen Welt. 1919 scheint Musil völlig immun gegen diese 195

Identitätskonstruktionen

Konzeption der »österreichischen Idee« zu sein. Im Gegenteil, er denkt, dass es notwendig sei, die »Legende von der österreichischen Kultur« zu zerstören, um die wertvollen Österreicher zu schützen, denn der Staat produziere keine »geistigen Werte«, doch sei es seine Aufgabe, Einrichtungen (Bibliotheken, Universitäten, Museen) zu schaffen, die die kulturelle Produktion der Einzelmenschen erleichtern. »[Der Staat] hat ein kräftiger, williger Körper zu sein, der den Geist beherbergt« (Musil 1, 1042). Der deutsche Staatskörper ist gut, ja überentwickelt. Österreich dagegen »müsste seinen Körper in allen Gewebeschichten wechseln« (Musil 1, 1042) – sein Gesicht hat keine Muskeln mehr  ! – ein nahezu unmögliches Unternehmen. Aus diesem Grund ist seine Auflösung in Deutschland eine Notwendigkeit, wie immer sich die beiden übernationalen Organisationen entwickeln sollten. Denn die kommenden Aufgaben bedürfen zu ihrer Lösung »der zweckmäßig zusammengefassten Kraft«. Musils Plädoyer für den Anschluss ist praktisch frei von jeder deutsch-nationalen Ideologie, es ist rationalistisch und utilitaristisch. Die beiden Friedensverträge haben diese rationalistische Lösung verhindert und dem österreichischen Esel die Wahlmöglichkeit zwischen Groß- Deutschland und Donauföderation genommen. In der Folgezeit befasste sich Musil kaum mehr mit der österreichischen Frage. In dem Essay Die Nation als Ideal und Wirklichkeit von 1921 in der Neuen Rundschau kommt er auf das unerhörte Erlebnis des Sommers 1914 und seine Folgen zurück. Wie in der Skizze Der deutsche Mensch als Symptom von 1923 setzt er alle Hoffnung auf den menschlichen Amorphismus, um eines Tages den Nationalismus und den Imperialismus zu überwinden. Wie 1914 schließt er sich in »Wir Deutsche« ein, Österreich scheint aus seinem Horizont verschwunden. Es ist nicht mehr Gegenstand politischer Essays, doch es wird schließlich die materia prima zum Roman Der Mann ohne Eigenschaften liefern, von dem Elias Canetti gesagt hat  : »Es gab kein vergleichbares Unternehmen in der deutschen Literatur. Die Wiederherstellung Österreichs durch einen Roman, wer hätte sich darangewagt  ? Die Kenntnis dieses Reiches nicht durch seine Völker, sondern aus seinem Zentrum heraus, wer hätte sie sich zuschreiben dürfen  ?« »Aber das Bewusstsein, dass er dieses untergegangene Österreich war, wie niemand sonst, er als einziger, gab ihm auf seine Empfindlichkeit ein sehr eigentümliches Recht …« (Canetti, Augenspiel, 184). Welches Paradox  ! Der unerbittliche Kritiker der österreichischen Idee ist zu ihrer Inkarnation geworden. Bundeskanzler Kreisky hatte den Mann ohne Eigenschaften als »Mittel gegen allzu großes Heimweh« in die Emigration mitgenommen. Musil hat ihm dort »zu einem sublimierten Patriotismus« verholfen (Kreisky, 313). 196

Die Epoche der Mythographien

Musil hat kaum auf die Machtergreifung Hitlers, den österreichischen Bürgerkrieg, die Errichtung des Ständestaats und selbst auf den Anschluss reagiert. Alle diese Ereignisse liefen seiner Hoffnung zuwider, den kriminogenen Tierstaat verschwinden zu sehen. Er war gezwungen, Deutschland zu verlassen und in einem Staat zu leben, dessen Staatsideologie ihm zutiefst fremd war. Er stand furchtbaren Feinden seiner Konzeption des Menschen gegenüber. Der Amorphismus, die Garantie für die fluide Verwandlungsfähigkeit des Menschen, auf die er seine Hoffnungen gesetzt hatte, schien ersetzt durch sein Gegenteil  : totalitäre Systeme, die den Menschen auf seine rassische, nationale, religiöse und soziale Zugehörigkeit festlegen. Diese Situation hat Musil zwei Mal zu öffentlichen Stellungnahmen veranlasst, die sich durch einen radikalen Anachronismus auszeichneten. Ohne ein erklärter Gegner des autoritären Staats zu sein, den er 1933 ausdrücklich als austro-faschistisch bezeichnete, kommt es für ihn nicht in Frage, sich mit der neuen Definition des homo austriacus zu befreunden, die von der Regierung Schuschnigg gefördert wurde. Am 16. Dezember 1934 hält er eine Rede zum 20. Geburtstag des »Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich« unter dem Titel Der Dichter in dieser Zeit. In einem Zusatz aus dem Jahre 1935 für ein Schweizer Publikum insistiert er auf dem »unpolitischen« Charakter dieses Verbandes, der in Deutschland »bei Beginn der der neuen politischen Zeit kaltgestellt worden ist« (Amann, 268). Darauf folgt eine erstaunliche Bemerkung über den Ständestaat. Die Befürchtungen, dass sich Österreich in dieselbe Richtung wie Deutschland entwickeln könnte, sind »nicht eingetroffen«  : »Das in Österreich seither gehandhabte Regiment darf sich mit Recht ein tolerantes nennen  ;« […] »Ich will nur sagen, dass [dem Freien Geist] wirklich kein Haar gekrümmt worden ist, dass er aber auch nicht gerade der staatlichen Haarwuchsmittel teilhaftig wird« (Amann, 260–270). Unter dem »Freien Geist« versteht Musil »in größter Bescheidenheit bloß Geist, der keiner Korporation angehört« (Amann, 269–270). Dementsprechend verteidigt er in seiner Rede das Individuum gegen die kollektivistischen Systeme in Italien, Deutschland und Russland, denn das Individuum ist der einzige Garant der geistigen Schöpfung. Musil distanziert sich ironisch von jeder staatlichen Vormundschaft und empfiehlt den Künstlern, über die Grundlagen ihres Schaffens angesichts eines Staates, »der selbst unter die Künstler und Philosophen gegangen ist«, »Selbstbesinnung« zu üben (Amann, 270). Das ständestaatliche Österreich gehörte selbstverständlich auch zu den Staaten, die »unter die Dichter und Philosophen« gegangen waren. Im Juli 1935 meldete sich Musil zum zweiten Mal zu Wort, diesmal in Paris vor dem »Internationalen Schriftsteller-Kongress für die Verteidigung der Kul197

Identitätskonstruktionen

tur«, der von der kommunistischen Internationale ferngesteuert wurde. Seine Rede wiederholt die Argumente, oft bis in die Formulierungen identisch, seiner Wiener Rede. Er verurteilt alle Formen totalitärer Kultur, wo der Staat, die Klasse, die Nation, die Rasse oder die christliche Religion, »selbst unter die Künstler und Gelehrten gegangen [sind]«. »Sie hat die Not […] nicht nur beten gelehrt, sondern auch dichten, malen und philosophieren. Wenigstens lehrten sie uns mit unverrückbarer Geduld, wie wir es zu machen haben« (Amann, 278). Er illustriert diese »völlige Unterwerfung« am Beispiel Österreich. (Das von den Nationalsozialisten mit Vorliebe gebrauchte Wort war »total«, »dem offenbar die deutschen Großeltern erlassen worden sind«.) Der österreichische Staat verbietet nicht nur begreiflicherweise seinen Bürgern jene »totale Unterordnung«, die in Deutschland gefordert wird, sondern verlangt von ihnen »eine besondere kulturelle Unterordnung oder doch Einordnung«  : »so erwartet etwa meine österreichische Heimat von ihren Dichtern, dass sie österreichische Dichter seien  ; nicht etwa Dichter und Österreicher, sondern Dichter mit einem besonderen Wohlgeruch, und es finden sich Kulturgeschichtskonstrukteure, die uns beweisen, dass ein österreichischer Dichter immer etwas anderes gewesen sei als ein deutscher« (Amann, 276–277). Doch das von Musil abgelehnte österreichische Beispiel ist nur eine (relativ tolerante) Variante des dichtenden und philosophierenden Staats. Überall hat sich die »politische und soziale Zweck-Gesinnung dem Begriff der Kultur übergeordnet« (Amann, 277). Diese kollektivistische Konzeption ist grundsätzlich der Kultur konträr, die auf der Einzelperson und ihrer Kreativität beruht, ohne die Verschiedenheit der Bedingungen zu leugnen, die das Entstehen einer Kultur fördern oder behindern. Doch für Musil sind die Vorbedingungen »für das Werden einer Kultur« »Wissen, Freiheit – nicht als politischer, sondern als psychologischer Begriff, Kühnheit, Unruhe des Geistes, Forschungslust, Offenheit, Verantwortung« (Amann, 282). Das sind Eigenschaften des Individuums. »Auch – und damit schließt Musil – die Wahrheitsliebe muss dabei sein, und ich möchte sie erwähnen, weil sie gegenwärtig nicht allzu groß ist, und weil das, was wir Kultur nennen, wohl nicht unmittelbar den Begriff der Wahrheit zum Kriterium hat, doch aber keine Kultur auf einem schiefen Verhältnis zur Wahrheit ruhen kann« (Amann, 282). Man kann sich leicht die indignierte Reaktion der meisten Kongressteilnehmer vorstellen, deren Ziel nicht die Verteidigung der Kultur im Allgemeinen, sondern die Unterwerfung unter den kommunistischen Kulturbegriff war. Musil macht also keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den propagandistischen Werken Brechts und den poetischen Produkten, die sich den patriotischen Vorschriften des austro-faschistischen Staates willig 198

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beugten. So kam es, dass die Betrachtungen dieses wahrhaft Unpolitischen von den einen als Kotau vor dem Faschismus, von den anderen als Anbiederung an den Kommunismus verurteilt werden konnten. Musils Überlegungen zur Frage der österreichischen Identität zwischen 1934 und 1938 sind fragmentarisch in seinen Tagebüchern verstreut. 1936 hat der Wiener Buchhändler Martin Flinker einer Reihe von Schriftstellern die Frage gestellt »Gibt es eine österreichische Literatur  ?« Thomas Mann, dem eben die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war und der sich damals häufig in Österreich aufhielt – 1936 als Festredner zu Freuds 80. Geburtstag –, hatte ohne zu Zögern geantwortet  : »Die Bejahung dieser Frage ist mir selbstverständlich.« Es sei zwar schwierig »die spezifische Besonderheit der österreichischen Literatur« zu bestimmen, ,,aber jeder empfindet sie«, allerdings unter der Bedingung, »in grimmer Zeit […] Sympathie für Kulturmilde und geistige Anmut« bewahrt zu haben. Er hält sie sogar »in allen Dingen des artistischen Schliffs […] der eigentlich deutschen für überlegen«. Wie zu erwarten sieht er den Grund dafür in der »Rassen- und Kulturmischung«, die ein »deutschsprachiges Europäertum von süddeutscher Volkhaftigkeit« hervorgebracht habe, das sich vom »Deutschtum … national abhebe« (Mann 2, 194). Musils selbstverständlich ironische Antwort steht in allen Punkten im Widerspruch zur »Idee«, die sich Mann von Österreich machte. Seine Antwort lautet  : »Ja, aber mit Maß. Die Weimar zum Olymp gemacht haben, sind, den Großherzog ausgenommen, Ortsfremde (Zugereiste) gewesen.« Thomas Manns Kriterien haben für ihn keine »Wahrheit«, sie fügen sich zu geschmeidig jenen der offiziellen und offiziösen »Kulturgeschichtskonstrukteure«, die damals am Werk waren. Denn wie schon Grillparzer hält Musil das »Geniale noch immer für einen internationalen Wert«, und er befürchtet, dass der »mühsam von der katholischen Kirche gezähmte Alpendeutsche […] die Grundlage einer bösartigen Literatur abgeben« könnte. Ja, nähme man das »spezifisch Österreichische« so »provinziell, wie es viele heute möchten, so [würde] man bald nicht von Literatur sprechen dürfen« (Musil, Briefe, 752–755). Musil macht sich über die »Kulturpolitikskultur« lustig, deren offizieller Repräsentant Hans Pernter, der Unterrichtsminister des Ständestaats, war. Musils »Ja, aber mit Maß«, hat 1938 seine Bestätigung gefunden, als der Großteil der österreichischen Dichter, die vom Staat aufgrund ihrer »provinziellen« Überzeugungen gefördert worden waren, sich in begeisterte Sänger zu Ehren Hitlers verwandelten. Im Gegensatz dazu gehörte kein einziger der österreichischen Autoren, die heute das nationale und internationale Pantheon bevölkern, zum Kanon der Autoren, die vom Ständestaat mit dem 1934 gegründeten »Staatspreis« ausgezeichnet worden 199

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waren. Weder Musil noch Broch, weder Kraus noch Freud (immerhin Träger des »Goethe-Preises«), weder Zweig noch Werfel, weder Horváth noch Canetti, ganz zu schweigen von den Toten (Rilke, Kafka, Schnitzler) standen auf der Wertskala des Unterrichtsministers. Was in Österreich Anerkennung fand, war nach Musil »selbstgefällige Provinzkunst«. »Die Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass ein schlechter Mann Verwesung verbreitet, weil er wie P. (= Pernter) auf alle Posten Nullen setzt« (Musil 2, 863). Anlass zu dieser Bemerkung war die Besetzung der Lehrkanzel für Anatomie an der Universität Wien durch einen »ganz jungen Mann, der eine Arbeit über alpenländischen Schädelbau od. ähnl. verfasst hat, u. sonst buchstäblich nichts  !« (Musil 2, 863). Diese Herrschaft der Mittelmäßigkeit hat eine mächtige ideologische Basis  : »Pernter sagt in diesem Jahr ganz unumwunden, dass diese (sc. österreichische) Kultur kirchlich-katholisch sein werde, und die Praxis (Pflichtvorlesungen in kirchlicher Philosophie) Unterdrückung alles freien Geistes« (Musil 2, 863). Die Gleichsetzung der österreichischen Kultur mit der katholischen erlaubt dem Minister Aussagen wie diese  : »Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft« (Musil 2, 880). Musil fragt sich  : »Böswilligkeit oder Laienhaftigkeit  ?«, denn in der Rede zur Einweihung des Auditorium maximum der Universität in Anwesenheit des Kardinal-Erzbischofs von Wien hatte Pernter für die Universitäten eine »geistige Umstellung« gegenüber dem Liberalismus gefordert  : »Das bedeutet Abkehr vom Rationalismus und Individualismus der früheren Epoche, das verlangt einen neuen Begriff von der Freiheit der Wissenschaft. Sie darf nicht mehr gleichgesetzt werden mit Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft  : Die Wissenschaft kann nicht mehr den Gegensatz von Gauben und Wissen vertreten. […] Die Wissenschaft kann die Bindung an metaphysische Werte nicht mehr ablehnen« (Musil 2, Kommentar, 660). Für Musil läuft das auf ein Verbot der »Erkenntnistheorie« hinaus. »Böswilligkeit oder Laienhaftigkeit  ?« (Musil 2, 880). (In dieses Jahr 1936 fällt übrigens die Ermordung des Philosophen Moritz Schlick, eines Antipoden der Pernter’schen Auffassung der Wissenschaft.) Die Verkörperung der staatlich anerkannten und geförderten Mittelmäßigkeit war für Musil (und Kraus) längst vor den ständestaatlichen Kulturgeschichtskonstrukteuren der Dichter Anton Wildgans, 1929 Autor der berühmtesten Rede, die je über Österreich gehalten wurde. Diese Rede, die von allen Österreich-Klischees genährt war, hatte Links und Rechts bezaubert. Musil sieht Österreich als »Wildgansgesellschaft« und antizipiert prophetisch das Kommende  : »Der Dichter eilt der polit. Entwicklung voraus. (Was Dichtung ist, ist etwas später Politik.) In Deutschland suchen sie noch den Dichter, der Ausdruck der polit. Errungenschaften ist, in Österr. hatten sie ihn schon vor dieser  : 200

Die Epoche der Mythographien

A. Wildgans  ! Der Als-ob-Dichter des zur absoluten Regentschaft gekommenen Durchschnittsmenschen. Die Spießbürger aller Parteien, die heroisch sein wollten, vereinigten sich in ihm« (Musil 1, 837–838). »Ich habe 1931 Wien verlassen, weil Rot und Schwarz darin einig gewesen sind, in Wildgans einen großen österr. Dichter verloren zu haben« (Musil 2, 924). In der Tat ist Musil in jeder nur denkbaren Hinsicht ein Anti-Wildgans, an ihm wird der Widerspruch zwischen dem genialen Individuum und seiner Vereinnahmung durch die politische Macht überdeutlich sichtbar. Er ist als kultureller Repräsentant unbrauchbar, er ist aber auch zur Ohnmacht verdammt. Als er 1938 Österreich verlassen musste, griff er zu einem historischen Vergleich. Im Mittelalter musste sich der Kaiser in Canossa der päpstlichen Macht beugen, 1938 muss der ohnmächtige Papst Musil vor Hitler, der das Erbe des Heiligen Römischen Reiches usurpiert hatte, ins Exil flüchten. 3.4 Anton Wildgans (1881–1932) Wildgans’ Rede über Österreich muss als verspätetes Resultat des Ersten Weltkriegs verstanden werden, aus dem das neue republikanische Österreich, »das kleine Haus Österreich« hervorgegangen ist. Als Hofmannsthal mitten im Krieg seine Bibliotheca austriaca auf den Ideenmarkt brachte, rechnete er damit, die national-patriotischen Gedichte, die Wildgans 1914/1915 unter der Form von sieben Flugblättern veröffentlicht hatte, auf sein Programm zu setzen. Die Gedichte Wildgans’ unterschieden sich kaum vom Geist hunderter Kriegsgedichte der Epoche, außer durch das, was Hofmannsthal als ihren »specifisch oesterreichisch(en)« (HvH,, 3) Charakter wahrzunehmen glaubte. Eines dieser Gedichte ist sprichwörtlich geworden aufgrund seiner Definition der Österreicher als »Volk der Tänzer und der Geiger«, die sich aber in der großen Schicksalsstunde von 1914 als wackere Krieger erweisen. Unter dem Titel Österreichische Gedichte wurden sie in der Tat in die Bibliotheca austriaca aufgenommen. Die Begeisterung, die Hofmannsthal für diese Gelegenheitspoesie empfindet, erklärt sich aus einem aufschlussreichen Missverständnis. Er glaubt im österreichischen Charakter dieser Gedichte eine Vision zu erkennen, die er mit Wildgans teilt, das heißt  : Er sieht in ihnen eine Illustration seiner multinationalen und europäischen »österreichischen Idee«, die alle Völker der Monarchie einschloss. In diesem Geist bittet er Wildgans, seinen Zyklus durch ein Gedicht zu bereichern, das »beseelte und gute Worte über unsere vielerlei Völker zu sagen wüsste, über das Nebeneinander-Ineinander, über das Beieinanderhausen« der Deutschen und Slawen, kurz durch 201

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ein »österreichisches Gedicht« (HvH 3, 6). Es war eine Passage im Gedicht Legende, das Hofmannsthal glauben ließ, dass Wildgans wie er die »unauflösbare Verflechtung« der Deutschen und Slawen in Böhmen guthieß. Denn im Gedicht heißt der sterbende Soldat ununterscheidbar »Hollerbeck« (deutscher Name) oder »Halubetz« (tschechischer Name). Doch Wildgans, der seine Gedichte als »vaterländische Arbeit« bezeichnet und sich als »Österreicher mit Leib und Seele« empfindet, gibt Hofmannsthal klar zu verstehen, dass er im Vielvölkerstaat keinen »Segen für unser Staatsvolk d. h. für ein Volk, das eine Staatsidee tragen, verkörpern und durchsetzen will« sehen kann, dass also sein Österreichertum deutsch sei und Anspruch auf die Vorherrschaft im Staat erhebe. Er gibt war zu, dass theoretisch gesehen ein multi- oder supranationaler Staat ein »höherwertiges Gebilde« sein mag als ein homogener Nationalstaat, doch für die »ethische Kraft« eines solchen Staatsgebildes sei unbedingt die Hegemonie einer Nation nötig. »Und so muss ich innig wünschen, dass diese Führerrolle in unserem Vaterlande dem deutschen Stamme zufiele.« Nur unter der Vorherrschaft der Deutschen sei es möglich, dass »dieses Österreich, das wir immer meinen« und das es aber »staatsrechtlich« gar nicht gebe, vom Traum zur Wirklichkeit werde. In der Tat hat 1914/1915 dieser Staat noch immer den bürokratischen Namen »die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder«. Darum sieht er den Sinn unseres Kampfes »in nicht viel anderem, als dass wir weiterhin tauglich seien, ein Bundesgenosse Deutschlands zu sein« (HvH 3, 8–10). Hofmannsthal vermeidet es, auf dieses deutschnationale Credo zu antworten, doch als ihm Wildgans ein Gedicht mit dem Titel Deutscher Geist anbietet, das der Herausgeber der Flugblätter abgelehnt hatte, drückt er vorsichtig seine Abneigung gegen diesen deutschen Geist aus, von dem Wildgans behauptet, er nähre sich von »Bildung, sei sie noch so fremd«, ohne dadurch »eigne Art und Urkraft« einzubüßen. »Das ist’s, was jetzt sich weist  :/Erst Schüler aller Geister sein/Und endlich aller Meister sein,/Das ist der deutsche Geist  !« (HvH 3, 56). Diesen Imperialismus des deutschen Geistes in Österreich hat Hofmannsthal aus seiner österreichischen Bibliothek ausgeschlossen, doch der Rest ist trotz der offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten tatsächlich als Österreichische Gedichte an einem Ort erschienen, der ursprünglich der »österreichischen Idee« und nicht ihrer Schizophrenie bestimmt war. Die wahre Botschaft der berühmten Rede über Österreich kann nur ausgehend von Wildgans’ politischem Bekenntnis zwischen 1914 und 1918 entziffert werden. Diese Rede ist nicht einfach die Stellungnahme eines Individuums, sie war dazu bestimmt, am 12. November 1929, 11. Geburtstag der Republik, in Stockholm vor der königlichen Familie gehalten zu werden. Wildgans stellt 202

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sich vor als »Vertreter des kulturellen und geistigen Lebens«, also wie sein »Botschafter«. Durch Krankheit an der Reise verhindert, hat er die Rede schließlich am 1. Jänner 1930 im österreichischen Rundfunk gehalten und dafür einhellig begeisterte Zustimmung geerntet. Die geplante Reise nach Schweden hatte als kaum verhülltes Ziel, die Kandidatur des Dichters für den Nobelpreis vorzubereiten. Das Nobelpreiskomitee hatte schon die Kandidaturen Hofmannsthals und Kraus’ abgewiesen. Im Falle Kraus’ war man erstaunt darüber, dass die Kandidatur von Franzosen vorgeschlagen wurde. In der Tat gab es niemanden in Österreich, der sich für ihn eingesetzt hätte. Wildgans jedoch gelang das Wunder, in einem vom Kulturkampf zerrissenen Land, Einstimmigkeit zu gewinnen, also (nach Musil) eine »Wildgansnation« zu schaffen. Noch erstaunlicher  : Wie war es möglich, dass eine Rede vom 1. Jänner 1930 nach 1945 zu einer intellektuellen Gründungsurkunde des auferstandenen Österreichs, zu einem pädagogischen Werkzeug im »Lernprozess mit Hindernissen« der österreichischen Nationswerdung werden konnte  ? (Noch heute sind manche Passagen aus dieser Rede in mein Gedächtnis eingegraben.) Vermutlich erklären der versöhnliche Tonfall und der ungebrochene patriotische Stolz, die im Gegensatz zu den Selbstgeißelungen eines Kürnberger oder Kraus stehen, den unwahrscheinlichen Erfolg der Rede. Was sagt uns diese Rede  ? In einer knappen Skizze der großen Vergangenheit des kleinen neuen Staats, betont Wildgans nachdrücklich die beherrschende Rolle der Deutschen, »das Gesetz eigener kultureller Entwicklung den in verschiedenen Graden durchzivilisierten Mitvölkern aufzuerlegen«. Nach der 1866 erfolgten staatlichen Trennung von Deutschland hatte das Bündnis mit dem Deutschen Reich das Ziel, »den Völkerstaat, insonderheit in Gestalt seiner Streitkräfte, der deutschen Politik zur Verfügung zu halten«, ein Ziel, das im Widerspruch zum erwachenden »nationalen und demokratischen Bewusstsein« stand. Trotzdem hat Österreich während des Krieges seine »Schuldigkeit« gegenüber Deutschland bis zur Katastrophe getan. Kurz, Wildgans vertritt im Wesentlichen die Position Bismarcks und Naumanns, obwohl er zugleich feststellt, die Monarchie sei »unmöglich« geworden »bloß als Schwerthelfer des Germanentums«. Es folgt eine längere Betrachtung über die geopolitische Situation des alten Österreich im Herzen Europas. (Die heutige Bundeshymne betont ebenfalls die Lage Österreichs »inmitten des Erdteils«.) Österreich war eine der »Bastionen des Abendlandes« gegen die asiatischen Horden. Noch der Erste Weltkrieg zeugte von dieser Rolle  : In ihm hat das sterbende Österreich »zum letzten Mal seine Pflicht für Europa« getan, in dem es die russische Offensive zurückschlug. Wien hat 1683 das Abendland »gegen den Einbruch des 203

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asiatischen Chaos« geschützt. (1933 wird das autoritäre Regime diesen symbolischen Tag in den Dienst seiner zivilisierenden »österreichische Mission« stellen.) Wildgans vergisst natürlich nicht die kulturellen Besonderheiten (Barockarchitektur, Theaterkultur, Musik, Literatur). Sein literarischer Österreichkanon umfasst das Übliche  : Grillparzer, Raimund, Nestroy, Stifter und Lenau. Was das Theater angeht, legt er den Akzent auf die Tatsache, dass das erste deutsche Nationaltheater in Wien gegründet wurde und dass es unter dem Namen »Burgtheater«, dessen Direktor Wildgans zwei Mal war, weiterhin »die erste deutsche Bühne« geblieben sei. Wien war auch die Wiege der deutschen Oper, für die er als Beispiele Die Zauberflöte, Die Hochzeit des Figaro (trotz des italienischen Libretto) und Fidelio anführt. Beethoven, Brahms und im Drama Hebbel (!) werden ins österreichische Pantheon aufgenommen. In Wien, der »ersten eigentlichen Großstadt auf deutschem Boden«, hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein Menschentyp entwickelt, den Wildgans »am liebsten als den österreichischen Menschen« bezeichnen möchte. Seine Rede sei ein »Bekenntnis« zu diesem Menschen, dem Erben einer unvergleichlichen Kultur. Das »tiefste Wesen des österreichischen Volkes«, »das österreichische Menschentum« seien das »Ergebnis […] seiner besonderen Geschichte, seiner Kultur und seiner natürlichen Anlagen.« Es gelte jetzt »das historische Bewusstsein und den Stolz des Österreichers«. Dieser Typus Mensch hat sich entwickelt aus dem deutschen »Führer- und Staatsvolk«. Diesmal zieht Wildgans aus dieser Feststellung eine unerwartete Schlussfolgerung. Die dominierende Stellung der Deutschen über den Nationalitäten hat den österreichischen Menschen zwei Dinge gelehrt  : »Psychologie und das Dienen an einer Idee  !« So ist der österreichische Mensch, ohne Unterlass gezwungen zu übersetzen und sich in die anderen hineinzudenken und einzufühlen, ein »Völkerkenner, Menschenkenner, Seelenkenner, mit einem Wort  : Psychologe« geworden. »Und Psychologie ist alles  ! Und Psychologie ist Pflicht im Zusammenleben der Menschen und Völker  !« Mit der These eines homo austriacus psychologicus nähert sich Wildgans der dornigen und entscheidenden Frage der Differenz. Von wem unterscheidet sich dieser Psychologe  ? Da dieses »Erkennen und Begreifen nun […] sozusagen die historische Natur des österreichischen Menschen« und seine höchsten Eigenschaften ausmachen, ist Wildgans gezwungen, ihm einen anderen Menschentyp gegenüberzustellen, den »Tat- und Herrenmenschen«. Ein solcher »Herrenmensch«, »besonders in nationaler Beziehung ist der Österreicher nicht.« (Und Wildgans zitiert das berühmte Grillparzer-Wort über den Weg der neueren Geschichte, die von der »Humanität über die Nationalität zur Bestialität« führe. 204

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Im Gegensatz zu diesem »Herrenmenschen« ist der Österreicher der Diener an einer Idee. Darum ist er ideal repräsentiert von zwei Institutionen  : der kaiserlichen Beamtenschaft und der Armee. Dazu kommt als weitere »Idealität« die universalistische katholische Religion. Anders gesagt  : der Österreicher ist ein Deutscher, dessen Blut zu sehr mit fremdem vermischt und der überdies vom katholischen Geist geformt ist, als dass er ein echter Deutscher sein könnte. Er ist also ein zweideutiger und geschmeidiger Deutscher, »dafür aber umso konzilianter, weltmännischer und europäischer«. Er ist auch »tapfer, rechtschaffen und arbeitsam« (traditionell deutsche Eigenschaften, doch seine Tapferkeit erreicht »ihre sittliche Höhe« nicht etwa im Kampf, sondern »im Dulden«. Seine »Rechtschaffenheit« ist nicht »moralische Doktrin«, sondern Ausfluss »natürlicher Instinkte«, sein »Fleiß« bei der Arbeit hat nichts zu tun mit den aufgezwungenen disziplinierten und mechanisierten Formen der modernen »Fron«, denn er ist »irgendwie eine Künstlernatur«. Er verkörpert den Kultur-Konservatismus gegen die Übel der »Zivilisation«, sein Zeitbewusstsein erlaubt es ihm, sich dem jeweils »vorgeschriebenen Tempo zu entziehen, das »eine immer mehr entheiligende Zivilisation« vorschreibt. Er steht nicht auf der »Höhe der Zeit«. Er bewahrt gegenüber »Gewalt und Konkurrenzfähigkeit« die höchsten Werte  : »das menschliche Herz und die menschliche Seele  !« Anton Wildgans vereinigt also in seiner Rede alle klassischen Stereotype des Gegensatzes zwischen Österreich und dem prussifizierten Deutschland, um, ohne es direkt zu behaupten, zu dem Schluss zu kommen, dass der Österreicher der bessere Deutsche sei, was die Existenz eines souveränen österreichischen Staates rechtfertige. Wie der Dichter Wildgans während des Krieges hat der Redner Wildgans eine ausgeprägte Neigung zum religiösen Vokabular. Der »Dulder« erinnert an den »Märtyrer der Geschichte«, und in der Tat verwandelt der ungläubige Wildgans das österreichische Volk in einen Märtyrer, ja in eine Christusfigur. Niemand habe eine härtere historische Probe zu bestehen gehabt als der österreichische Mensch, »von allen Geißeln gestriemt, von allen Dornen verwundet und an alle Pfähle geschlagen«. Mit diesen Worten beschreibt Wildgans das Unglück des neuen Österreich im Jahre 1918/1919. Dieses Bild des Duldens und Elends stellt er dem üblen Ruf des Volkes gegenüber, ein Volk von genusssüchtigen Phäaken zu sein, ein Vorwurf, der von Schiller und dem Papst der deutschen Aufklärung, Friedrich Nicolai, erhoben worden war. Das Distichon Schillers aus dem Jahre 1797, also aus der Zeit der Kriege gegen Frankreich, trägt den Titel Donau in O**. Die Donau sagt  : »Mich umwohnet mit glänzendem Aug das Volk der Phäaken  :/immer ists Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß.« Diese Wahrnehmung Österreichs durch die 205

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Deutschen fand natürlich eine Fülle entsprechender Echos in Österreich selbst. Sie haben mit dem zu tun, was ich das »Prinzip Papageno« nenne. Besonders frappierend ist das zehnte Gedicht aus Ferdinand von Saars Wiener Elegien, in dem der emblematische Ort der Wiener Gemütlichkeit, der Heurige, verklärt wurde  : »Ja, hier lebt noch das Volk  ! Hier schmausen die letzten Phäaken«. Und mit deutlichem Bezug auf Schiller  : »Wahrlich, ihr geht nicht unter, ihr Wiener  ! Dreht sich auch nicht mehr/An dem Spieße das Huhn – brätelt noch immer die Wurst.« Die Dekadenz dieses wesentlichen Gedächtnisortes Österreichs und seiner Volksliedkultur ist Gegenstand von Horváths tragischem Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald. Bei Wildgans herrscht keine Ambivalenz, er hält sich ausschließlich an die positive Seite der Phäaken, ihre Gastfreundschaft, ihre Menschenfreundlichkeit, ihre musikalische Begabung. Er wünscht, dass dieses schöne Land ein »Eiland des Gesanges sei und dass von ihm die edle Heiterkeit und die starkmütige Ergriffenheit menschlicher Herzen ausgehe«. Damit ist Wildgans der Erfinder einer neuen österreichischen Doppelidentität geworden  : Dass man zugleich der leidende Irrfahrer Odysseus und der Bewohner einer Insel der Seligen sein kann, ist in seiner Österreich-Rede kein Widerspruch. Die amüsanteste Dekonstruktion dieses Phäakenmythos findet sich in einer kleinen satirischen Glosse der Fackel vom Jänner 1924 unter dem Titel Der Berliner in Wien. Kraus führt einen Bericht des national-liberalen Politikers Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tagblatts, über seinen Wienaufenthalt mittels einer Zitatmontage ad absurdum. Wolff, »der sich persönlich überzeugen wollte, dass der Wiener nicht untergegangen sei und sich weiter als Phäake fortbringt«, beschrieb das Wien zur Zeit von Seipel als wahres Schlaraffenland, wo »Wiener Bürger und Bürgersfrauen […] Schnitzel, so groß wie Bettdecken, und Berge von Kaiserschmarrn« verzehren. Der Berliner Odysseus genießt die Insel der Phäaken und die Gastfreundschaft des »Phäakenkönigs«. Die Phäakenmetapher der Aufklärer ist also in Deutschland geläufig geblieben. Doch die Anklage des Hedonismus vor dem Gericht der Aufklärungsmoral war schon im Mittelalter gängig  : »Bei den Donau-Phäaken herrschen lose Sitte  ; Fress- und Trunksucht, grenzenlose Völlerei«, schrieb Heinrich von Neustadt schon 1312. 1930 ist die Forderung nach dem Anschluss noch Bestandteil aller Parteiprogramme, und die Zollunion zwischen Österreich und Deutschland wird erst 1931 durch internationalen Druck aufgegeben. Die Rede Wildgans’ aber scheint für die Existenz eines souveränen Österreichs zu plädieren. In Schweden hätte die Forderung des Anschlusses höchst deplatziert gewirkt, sie nimmt in vielem die Österreichideologie des christlichen Ständestaats vorweg, die gleich206

Die Epoche der Mythographien

zeitig das deutsche Erbe und gleichzeitig die Souveränität beschwor. Wie gesagt, nähert sich Wildgans (mit Hofmannsthal als Rückendeckung) dem Ideologem vom Österreicher als dem besseren Deutschen. Es bleibt trotzdem erstaunlich, dass diese Rede nach 1945 als Werkzeug der »vaterländischen Arbeit« an der Identität verwendet werden konnte. Es ist kein Wunder, dass bestimmte Verteidiger der deutschen Identität Österreichs offen dagegen protestiert haben, dass Wildgans’ Rede in den Dienst der »herrschenden politischen Einstellung« gestellt werden konnte. Man bezichtigte die österreichische Regierung der Manipulation und Fälschung der Botschaft des Dichters. Nicht ganz zu Unrecht. Es waren übrigens Verlage deutschnationaler Tradition, die nach 1945 zunächst für die Wiederveröffentlichung der Rede sorgten. Als 1959 die Schallplattenfirma Amadeo eine Aufnahme der Rede durch den berühmten Burgschauspieler Raoul Aslan herausbrachte, reagierte die »Österreichische Landsmannschaft« durch die Herausgabe einer Sondernummer der Eckartschriften unter dem Titel Richtigstellung einer Verfälschung. Anton Wildgans’ Rede über Österreich in der vollständigen und beschnittenen Fassung. Die in Frage stehende Schallplatte war im Auftrag des Unterrichtsministeriums für die Reihe »Österreichs geistiges Leben« entstanden. In der Tat hatte der von Aslan gelesene Text eine Reihe zum Teil einschneidender Änderungen erfahren. Diese »beschnittene« Fassung war zuvor 1958 in der Wochenzeitung Die Furche erschienen, einem militanten Organ im Kampf um die österreichische Identität, verkörpert in ihrem damaligen Chefredakteur Friedrich Heer. Die Verteidiger von Österreichs deutscher Identität hatten Recht, sich über die Verformung der Rede aufzuregen. Unsere Lektüre des Textes hat zur Genüge gezeigt, dass 1930 die deutschnationalen Überzeugungen Wildgans’ noch problemlos mit der seit dem Ersten Weltkrieg an Macht gewinnenden österreichischen Idee vereinbar waren, aber im absoluten Gegensatz zur Kulturpolitik der österreichischen Regierung nach 1945, insonderheit seines Unterrichtsministeriums, stand. Der Redaktor-Zensor des manipulierten Schallplattentexts hat in der Tat alle Passagen gestrichen, die den deutschen Charakter Österreichs unterstrichen. Ein Beispiel dafür  : »Da war also ein Reich gewesen, meine Damen und Herren, das drittgrößte in unserem Europa, das nächstgrößte nach Deutschland, und in seinem Herzen, in dem deutsches Blut pochte und deutscher Geist Kulturarbeit leistete, fernhinwirkend bis an die Tore des Orients.« Doch die wichtigste Auslassung betrifft das Herzstück der Rede über die außergewöhnliche psychologische Begabung des österreichischen Menschen, denn diese ist in der Tat die wichtigste Ausprägung des Theorems, dass der homo austriacus die wohlgefälligste Erscheinungsform des homo germanicus sei. Wildgans’ Rede fehlt wohl aus diesem Grunde in 207

Identitätskonstruktionen

Friedrich Heers Kampf um die österreichische Nation. Uns Schülern ist von all diesen Verwicklungen nicht das Geringste bewusst geworden. Wir waren es zufrieden, endlich mit Stolz österreichische Menschen zu sein. 3.5 Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) Der Einfluss, den Hofmannsthal auf alle Diskussionen über die österreichische Identität ausgeübt hat, ist unbestreitbar. Wie für nahezu alle Intellektuellen und Politiker seiner Generation war auch für ihn der Erste Weltkrieg Auslöser der Reflexion über die nationale Identität. Von Anfang an unterscheidet er sich von den Lobsängern des kriegerischen Chauvinismus durch einen eher zurückhaltenden noblen Tonfall und die Idee, im Krieg ein geistiges Ereignis neuen Typus zu sehen. Er warnt z. B. vor der Tendenz, den Fremdwörtern den Krieg zu erklären. Zwar sieht er sich wie alle seine Mitbürger als »Deutsch-Österreicher«, doch schneller als bei seinen Kollegen verwandelt sich der Krieg in eine unerwartete Gelegenheit, die »österreichische Idee« zu regenerieren und zu verteidigen. Es gibt für ihn keinen Zweifel an der »tausendjährigen Sendung« Österreichs. Im Gegensatz zum ironischen Zweifel Musils betont er die historische Tiefe Österreichs gegenüber dem preußischen Emporkömmling, eine Tiefe, die ihren Quellgrund in der Römerzeit habe. Diese Sendung göttlichen Rechts hatte zum Ziel, den Osten des europäischen Kontinents kulturell zu kolonisieren, anders gesagt die deutsche Kultur den slawischen Völkern jener geographischen Zone zu bringen, die man als »Halb-Asien« zu bezeichnen gewohnt war. Hofmannsthal hat aus Franz Grillparzer den Schutzgott dieser Mission gemacht. Als unversöhnlicher Gegner der drohenden Nationalismen und der Philosophie des deutschen Idealismus, insonderheit Hegels, vertritt Grillparzer den österreichischen Sinn für Vermittlung, eine »tolerante Vitalität«, die das »Zusammenleben gemischter Völker in gemeinsamer Heimat« (H, Reden 2, 409) ermöglicht. Um diese Gemeinschaft zu erhalten, verurteilte er scharf die Revolution von 1848 und schrieb einen Hymnus auf den Feldmarschall Radetzky, der die Revolution in Norditalien niedergeworfen hatte. Sein »In deinem Lager ist Österreich« nimmt die »Ideen von 1914« vorweg, die die Auferstehung Österreichs als gemeinsame, multinationale Heimat im Wunder seiner Armee verklärten. (Diese Sicht der Geschichte hat eine erstaunliche musikalische Gestalt in einer Komposition der Brüder Johann und Josef Strauß aus dem Jahre 1859 gefunden  : Anlässlich des Krieges gegen Piemont haben sie einen Patriotischen Marsch komponiert, in dem sie den Radetzkymarsch ihres Vaters mit der Kaiserhymne Haydns kombinierten  !) 208

Die Epoche der Mythographien

Grillparzer hat das Wesentliche seiner dramatischen Stoffe in der österreichischen Geschichte gesucht, nicht zuletzt in ihrer böhmischen und ungarischen Komponente, doch mit deutlicher Bevorzugung der slawischen Geschichte und Mythologie. Auf der Suche nach österreichischen Schutzheiligen hat Hofmannsthal eine Triade geschaffen, die den Souverän (Maria Theresia), den Dichter (Grillparzer) und den Feldherrn (Prinz Eugen) vereint. Er empfand sehr bald die Notwendigkeit, diese »österreichische Idee« den Deutschen bekannt und schmackhaft zu machen, die er im Verdacht hatte, auf Grund ihrer Westorientierung nichts von ihren Nachbarn und Bundesgenossen zu verstehen. Aus dieser pädagogischen Überzeugung entstanden zwei Projekte sehr unterschiedlicher Art und Zukunft. Einerseits lancierte er die Idee einer »Österreichischen Bibliothek«, um die wesentlichen Werke zum Verständnis Österreichs zu verbreiten, ein Projekt, dessen Wirkung beschränkt war, das aber sehr deutlich die Fundamente von Hofmannsthals Ideen widerspiegelte. Andererseits entwickelte er den Embryo dessen, was die Idee und Realität der Salzburger Festspiele werden sollte. Ab 1914 skizzierte er eine Ankündigung für A.E.I.O.V. Bücher aus Österreich, 1915 wird das Vorhaben in der Neuen Freien Presse unter dem Titel Österreichische Bibliothek annonciert. Er schlägt eine ungewöhnliche Lektüre des AEIOU neben den beiden gängigen (»Austriae est imperare orbi universo« und »Austria erit in orbe ultima«) vor. Dank der Ersetzung des U durch das lateinische V gewinnt er den neuen Sinn »Aller Ehren ist Österreich voll«. Er will damit das kulturelle Gedächtnis Österreichs der Vergessenheit, ja Verachtung durch eine leichtsinnige Lebensweise entreißen und neu beleben. Der Krieg zwingt den Mitarbeitern an dieser Bibliothek einen neuen Modus der Befassung mit der kulturellen Tradition auf. Österreich »ist ihnen ein lebendiger Begriff  : die staatsrechtlichen Trennungslinien achten sie unbedingt (sind ihnen sakrosankt), aber ihr Gefühl umfasst, wie die Erblande und Böhmen, so die in der Gesamtmonarchie zu einer untrennbaren Einheit mitgebundenen Kräfte und Werte Ungarns« (HvH 1,II, 430). Eine Seltenheit im Diskurs der Deutsch-Österreicher  : Hofmannsthal bezieht von Anfang an, wenn auch in eher homöopathischer Dosierung, Texte des ungarischen und tschechischen Erbes in der Bibliotheca austriaca mit ein. Zwischen 1915 und 1917 sind 26 Bände erschienen, beginnend mit Grillparzers politischem Vermächtnis, einer von Hofmannsthal selbst ausgewählter Anthologie. Die Literatur ist vertreten durch Walther von der Vogelweide, Abraham a Sancta Clara, Friedrich von Schwarzenberg, Grillparzer, Lenau, Stifter und die Österreichischen Gedichte 1914/1915 von Anton Wildgans. Ein nicht unbeträchtlicher Raum ist der Armee reserviert  : Max Mell, Helden209

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taten der Deutschmeister (von 1697–1914)  ; Heinrich Friedjung  : Custozza und Lissa  ; Otto Zoff  : Österreichs Krieg gegen Napoleon. Selbstverständlich gibt es ein Buch über den Prinzen Eugen. Königgrätz ist ausgeklammert und ersetzt durch eine Anthologie Bismarck über Österreich. Die historischen Figuren, die Recht auf einen Ehrenplatz haben, sind neben Maria Theresia Joseph II. und Metternich. Das Versprechen, auf den multinationalen Charakter Rücksicht zu nehmen, wird eingelöst durch die politischen Reden des Grafen Andrássy, eine Auswahl von Texten des Comenius und eine Anthologie tschechischer Lyrik. Hofmannsthal hat selbst Beethoven unter die »Ehren« Österreichs aufgenommen. Eine solche Bibliothek, klagt Hofmannsthal, sei notwendig geworden aufgrund des defizitären österreichischen Gedächtnisses im Vergleich mit dem, was Preußen für seine Größen, vor allem den in vielen Büchern gerühmten Friedrich II. tut. Er misst sein Unternehmen an der Schöpfung der Vaterländischen Blätter des Grafen Stadion im Jahre 1809, deren Absicht der seinen vergleichbar gewesen sei. Damit konstruiert er eine Beziehung zwischen den beiden historischen Situationen, wobei er feststellt, dass Österreich das Gesicht seines »Wesens« nur alle 100 Jahre zeigen dürfe. »Der Glaube an uns selbst« äußere sich nur »in schweren Schicksalsstunden« (HvH 1, II, 433–434). Nach einem knappen Vergleich mit zwei anderen mehrsprachigen Staaten, der Schweiz und den Vereinigten Staaten, deklariert er  : »Unser Schicksal aber ist härter, unsere Sendung besonderer  : Uralter europäischer Boden ist uns zum Erbe gegeben, zweier römischer Reiche Nachfolger sind wir sind wir auf diesem« (HvH 1, II, 434). Durch den Krieg ist der Heimatboden »noch heiliger geworden, denn wir haben Tote ohne Zahl in ihm eingesenkt, die ihr Blut um Österreich vergossen haben  ; zugleich aber sind die Toten |…] uns lebendig geworden«. Zu den großen »Altvordern«, die wieder bei uns sind, gehören Maria Theresia, der Prinz Eugen. »Vater Haydn ist da und spielt mit halberstarrten Greisenfindern sein ›Gott erhalte‹ –« (HvH 1, II,434–435). Diese mythische Verklärung der Vergangenheit hat für Hofmannsthal einen durchaus aktuellen Aspekt, denn der wahre Held der Schicksalsstunde, ein Schatten, der das Blut der tirolischen, kroatischen und ungarischen Soldaten getrunken hat, um wieder lebendig zu werden, ist Prinz Eugen. Der gegenwärtige Krieg ist die Exekution seines Testaments, denn der Weg, den der Prinz Österreich vorgezeichnet hat, führt nach dem Süden und Osten. Das politische Konzept »Mitteleuropa«, die Expansion Österreichs der Donau entlang, ist ein seit zwei Jahrhunderten vom Prinzen Eugen vorgedachtes Konzept der historischen Stunde. Der Geist des »größten Österreichers« (HvH 1, II, 436) muss 210

Die Epoche der Mythographien

wieder geweckt werden. Hofmannsthal vergisst nicht zu erwähnen, dass es nur zwei österreichische Heldenfiguren zur hohen Ehre gebracht haben, im Volkslied weiterzuleben, Prinz Eugen und Andre Hofer (HvH 1, II, 436–437). Sein kultureller Traum ist es, die hohen kriegerischen oder kulturellen Leistungen Österreichs im lebendigen Bewusstsein des Volkes zu verankern. Er weiß, dass ein Großteil der kulturellen Elite eine ganz andere Vorstellung von der kulturellen Identität hat. (Im Kommersbuch ist Andreas Hofer ein deutscher Held …) Mozarts Musik stammt für Hofmannsthal aus dem Volk. Er fürchtet, dass die Kultur der theresianischen Epoche, dieser unübertroffene Höhepunkt des österreichischen Wesens, das in Mozart Fleisch geworden war, durch die moderne Entwicklung, deren exemplarischer negativer Ausdruck das Berliner Theater sei (HvH 1, II, 231), zum Erlöschen gebracht werde. In einem Text aus dem Jahre 1917, der von einer tiefen Devotion gegenüber dem jungen, »von warmer Liebe umflossenen« (HvH 1, II, 233) Kaiserpaar erfüllt ist, schlägt Hofmannsthal die Errichtung eines »Theaters für Mozart« vor. Das ist der erste Schritt zum Projekt der Salzburger Festspiele, das er ab 1919, also nach dem Ende der Monarchie, zu formulieren beginnt. Der Artikel von 1917 ist von grenzenloser Bewunderung für Mozart getragen, der mehr als alle anderen (Haydn, Gluck, Schubert) das »österreichische Wesen« ausdrücke. Es muss ein »Sanktuarium« für seinen Geist errichtet werden. Dieses Haus, zu dessen »Schutzfrau« Hofmannsthal die »junge erhabene Kaiserin« gewinnen möchte, soll im Dienste »der reinsten, frömmsten und österreichischesten aller Künste« (HvH 1, II, 233) stehen, der Musik. Mozarts Musik zielt ab auf die »Reinigung des Herzens und Sänftigung der Seelen« (HvH 1, II, 233). Die Errichtung eines solchen Theaters wird im »dritten Jahre des furchtbaren Krieges« vorgeschlagen, »der uns die Ohnmacht der Materie und die hohe Macht des Geistigen wieder mit Gewalt vor die Seele geführt hat« (HvH 1, II, 234). (Hier darf man sich fragen, ob der Autor dieses Satzes wirklich glaubt, was er schreibt. Das Wort »Gewalt« wirkt wie eine klassische Fehlleistung, in der sich die Wirklichkeit zu Wort meldet. Der Satz hätte einen Platz in den Letzten Tagen der Menschheit verdient). Dieses Theater hätte als Aufgabe, Mozarts Opern, »unseren schönsten, eigensten Besitz« (HvH 1, II, 231) gegen den Berliner Theatergeist zu schützen. Sie seien zugleich aristokratisch und volkstümlich, eine vollendete Mischung von höchster Raffinesse und größter Natürlichkeit. Mozart verkörpert alles, was die Österreicher positiv (»Schlichtheit des Gefühls, die ungekünstelte Grazie und das zarte Maß«) von »allen anderen deutschen Stämmen« unterscheidet (nicht nur von den Preußen  !) (HvH 1, II,231). 1917 setzt Hofmannsthal (wie Robert Müller, Bahr und Redlich) noch alle Hoffnung auf den jungen Kaiser 211

Identitätskonstruktionen

und auf das Weiterleben der »österreichischen Idee«. 1919 – die Anschlussfrage war noch nicht endgültig entschieden – entwarf er unter dem Titel Deutsche Festspiele zu Salzburg eine Skizze für das Programm der werdenden Festspiele. Das überraschende Adjektiv »deutsch« im Titel erklärt sich aus Hofmannsthals Überzeugung, dass der »Festspielgedanke« der »eigentliche Kunstgedanke des bayrisch-österreichischen Stammes« sei. Er sei »symbolischer Ausdruck tiefster Tendenzen, die ein halbes Jahrtausend alt sind« und »Kundgebungen lebendigen, unverkümmerten Kulturzusammenhangs bis Basel hin, bis Ödenburg und Eisenstadt hinüber, bis Meran hinunter« (HvH 1, II, , 255). Salzburg ist der ideale Ort dafür, weil es an der Grenze zwischen Bayern und Österreich liegt. Gipfel und Zentrum der süddeutschen Theaterkultur, seit jeher gekennzeichnet durch die Verbindung von Theater und Musik, sei natürlich Mozart. Goethes Faust wird – nicht zu Unrecht – aus dieser Theatertradition heraus gedeutet. Darum sei auch sein Platz in Salzburg  : »So tritt Weimar zu Salzburg« (HvH 1, II, , 255). Die deutsche Polarität des ehrwürdigen Heiligen Römischen Reiches werde wiederhergestellt, mit Mozart im Zentrum  : »das ist keine begriffliche Konstruktion, sondern Naturwahrheit« (HvH 1, II, 255). Wie Mozart Erbe der Romania (Frankreich, Italien, Spanien), der Antike und der deutschen naiven Volkstümlichkeit sei, würden die Festspiele ein europäisches Repertoire schaffen, das die antike Tragödie, Shakespeare und Calderon einschließen werde. Doch das Paar Salzburg-Weimar, Mozarts Opern – Die Zauberflöte über alles  ! – und Goethes Faust stellen alles andere in den Schatten. Anders gesagt  : Mitten im Kampf um den politischen Anschluss verkündet Hofmannsthal den kulturellen, dessen Ziel die Wiederherstellung des Glanzes des Heiligen Römischen Reiches durch das Theater ist und nicht die Österreich-Ungarns. Österreich-Ungarn ist tot, es lebe das West-Europa der Kultur  ! Und wie durch einen Zauberstab ist die während des Krieges beschworene Vermittlerrolle Österreichs zwischen den Völkern der Monarchie ausgelöscht. Österreich als politische Idee hat seine Glaubwürdigkeit verloren, die Donau hört hinter Wien auf. (Die letzte große Rede Hofmannsthals datiert von 1927 und trägt den Titel Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Man hat den Text vor allem als Manifest der »konservativen Revolution« gelesen. Doch das simple Faktum, dass ein Europäer wie Hofmannsthal das internationale Wort »Literatur« meidet und durch das germanisierende Schrifttum ersetzt – er, der sogar 1914 für die Schonung der Fremdwörter vor der chauvinistischen Barbarei eingetreten war –, lässt seine Überlegungen zur österreichischen Identität in einem zweifelhaften Licht erscheinen.) Der internationale Erfolg der Festspiele, den Karl Kraus satirisch glossiert 212

Die Epoche der Mythographien

hat, hat weniger zur Erhebung der deutsch-österreichischen Seele als zur »Hebung des Fremdenverkehrs« beigetragen, der für die geschwächte Wirtschaft der Republik vital war. 1934 wurden die Festspiele zu einem Kristallisationspunkt kultur-politischer Natur. Was bleibt von der »österreichischen Idee«, die im Jahre 1917 Hofmannsthal zu seinem berühmten, beinahe sprichwörtlich gewordenen Schema inspiriert hat, in dem er einen nahezu anthropologischen Gegensatz zwischen dem »Preußen« und dem »Österreicher« postulierte, der sehr zu Ungunsten des verfreundeten Bundesgenossen ausfiel  ? Der Text ist zu bekannt, um hier in extenso kommentiert zu werden. Er war die logische Folge des Essays Die österreichische Idee, in dem Hofmannsthal nachzuweisen versuchte, dass Österreich eine historische, politische und kulturelle Notwendigkeit für Deutschland, mehr noch  : für Europa darstelle. Alles was Musil als missratenes experimentum mundi empfunden hatte, ist bei Hofmannsthal Wirklichkeit, sei es die zivilisatorische Sendung, die kulturelle Synthese oder die Fähigkeit zum Kompromiss. Das tausendjährige, »polymorphe« Österreich bildet den Gegenpol zum »scharf-nationalen Deutschen«. Es ist unausweichlich  : Wo immer die österreichische Identität zur Debatte steht, erscheint das preußische Deutschland auf der Bühne. Das von Hofmannsthal konstruierte Schema der Gegensätze umfasst alle Ebenen des staatlichen, gesellschaftlichen und individuellen Lebens. Preußen ist nach Hofmannsthal ein künstliches, vom Menschen geschaffenes Gebilde, Österreich ein von Gott gewollter natürlicher Organismus. Der Preuße ist tugendhaft und tüchtig, der Österreicher fromm und menschlich  ; dem Preußen mangelt es an historischem Sinn, der Österreicher besitzt historischen Instinkt und lebt in der Tradition  ; der Preuße ist begabt für die Abstraktion und die Dialektik, beides fehlt dem Österreicher oder wird von ihm abgelehnt  ; der Preuße ist »scheinbar männlich«, der Österreicher »scheinbar unmündig«  ; der Preuße »kämpft ums Recht«, der Österreicher ist für »Lässigkeit«  ; der Preuße ist ein »gewollter Charakter«, der Österreicher liebt die »Schauspielerei«  ; »Streberei« kennzeichnet den Preußen, »Genusssucht« den Österreicher. Die letzte Antithese »harte Übertreibung«  : »Ironie bis zur Selbstauflösung« akzentuiert das Gegensatzpaar »Selbstgefühl« – »Selbstironie«. Bei der Analyse dieses Schemas begreift man die Verwirrungen des gelernten Österreichers bei seiner Selbstfindung. Sollte dieses Schema der Wahrheit entsprechen, so entspringen beinahe alle Eigenschaften, die den Österreicher sympathisch machen, einem massiven Minderwertigkeitskomplex, denn es sind die sogenannten preußischen Eigenschaften, die es Bismarck-Preußen ermöglicht haben, dem alten Österreich die Hegemonie in Deutschland zu entreißen. Nach verlorenen Kriegen muss man 213

Identitätskonstruktionen

Komödien schreiben, meinte Novalis. In der Komödie Der Schwierige ließ Hofmannsthal in der Tat den Österreicher seines anthropologischen Kanons über seinen preußischen Antipoden triumphieren. Die österreichische Idee siegt also (nur) als theatralischer Schein. Unter Hofmannsthals Versuchen, sich der österreichischen Identität zu vergewissern, kommt ein Ehrenplatz seinen Würdigungen Maria Theresias zu, die wir im Kapitel über die Kaiserin analysiert haben. Bei der Konstruktion seiner österreichischen Walhalla befasst sich Hofmannsthal auch mit dem »Fall Beethoven«. Wenn es angeht, aus einem französischsprachigen Prinzen (Eugen von Savoyen) das Paradigma des größten Österreichers aus fremdem Land zu machen, warum sollte es nicht möglich sein, dieselbe Operation mit Beethoven vorzunehmen  ? Doch seit langem ist Beethoven neben Wagner die Inkarnation der deutschen Musik, noch dazu durch die Neunte Symphonie der musikalische Bruder Schillers, der im 19. Jahrhundert als Heros des deutschen Idealismus und der deutschen Freiheit gefeiert wurde. (Die jüngst vom Goethe-Institut in 19 europäischen Ländern durchgeführten Meinungsumfragen zum deutschen kulturellen Kanon haben ergeben, dass de facto alle Befragten die Neunte Symphonie für die beste deutsche Komposition halten.23) Trotzdem versucht Hofmannsthal ein Manöver, das man als »symbolische Aneignung« bezeichnen könnte. Er behauptet, Beethoven sei »das Höchste, das es (sc. Deutschland) uns je zu geben hatte«. »Es war das einzige große Geistesgeschenk, das wir wahrhaft empfangen konnten, denn wir hatten es mit Blut von unserem Blut vorausbezahlt  : mit dem Blut Haydns und Mozarts. So kam Beethoven, lebte hier und starb hier. Unser tiefstes Bewusstsein rechnet ihn ohne Wanken zu den Unseren« (HvH 1, II, 395). Dieses deutsche Geschenk an Österreich hat sein Äquivalent im europäischen Geschenk an Österreich, dem Prinzen Eugen. Österreich gelingt die Synthese zwischen den Vertretern des Nordens und des Westens. Aus dem Westen kam der »Typus der Geistesklarheit, Tatfreudigkeit, unbedingter Männlichkeit  ; aus dem Norden die deutsche Seelentiefe« (HvH 1, II, 396). Ironisch gesagt  : Ohne Österreich wäre der Prinz Eugen nicht Prinz Eugen und Beethoven nicht Beethoven geworden. Nur in Österreich konnte das Höchste und Tiefste, was Deutschland zu geben hatte, Gestalt annehmen. Es ist, als hätte Hofmannsthal in nobelster Diktion den schon erwähnten Witz vorweggenommen, Österreichs bedeutendste historische Leistung sei es gewesen, aus Beethoven einen Österreicher und aus Hitler einen Deutschen zu machen. Die Wege der nationalen Symbolkonstrukteure sind unerforschlich.

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Die Epoche der Mythographien

3.6 Karl Kraus (1874–1936) Die große Ausnahme im einstimmigen Konzert von 1914 war der Satiriker Karl Kraus. Das ist alles eher als Zufall, denn er gehörte zu den wenigen Bewunderern des ungeliebten Thronfolgers Franz Ferdinand. In seinem satirischen Nekrolog vom 14. Juli 1914, Franz Ferdinand und die Talente (F, 400–403, 1–4), sah er im Erzherzog die Verkörperung des »Erzfeindes« aller Verhaltensweisen, die man gemeinhin als spezifisch österreichisch zu bezeichnen pflegte, wie die »Leutseligkeit« und »Gemütlichkeit«, er war ihm geradezu der Prototyp eines »Unösterreichers«  : »Franz Ferdinand scheint in der Epoche des allgemeinen Menschenjammers, der in der österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs die Fratze des gemütlichen Siechtums annimmt, das Maß eines Mannes besessen zu haben.« Kraus erkennt hinter der Maske der offiziellen Trauer die Erleichterung des Kaisers Franz Joseph I. und aller Gegner des Thronfolgers über seinen Tod. Er zitiert die Schlussszene des Hamlet und suggeriert, dass durch den Tod Franz Ferdinands Fortinbras und mit ihm jede Hoffnung auf das Heil Österreichs untergegangen sei. Auch Friedrich Heer hat den Ungeliebten verteidigt, aber dabei bedauert, dass sein ultrakonservativer Katholizismus aus ihm die bevorzugte Zielscheibe der Liberalen, Sozialdemokraten und Alldeutschen gemacht habe. Seine Allianz mit Lueger verstärkte den Eindruck, dass sich die österreichische »Nation« bei Franz Ferdinand ausschließlich durch die Farben »schwarz-gelb« (die Habsburger) und »schwarz« (der katholische Klerus) definierte. 1901 hatte er es gewagt, den Vorsitz des »Katholischen Schulvereins« zu übernehmen, um die Offensive der alldeutschen Schulvereine in die Schranken zu weisen, was seine Feinde als Versuch einer neuen Gegenreformation deuteten. 1914 steht Karl Kraus, der 1912 zum Katholizismus konvertiert war, trotz seiner revolutionären Haltung im Bereich der Sexualmoral und -justiz dem Konservatismus des Erzherzogs sehr nahe. Für ihn hat nicht der »serbische Nationalhass« Franz Ferdinand getötet, sondern ungleich gefährlichere Mächte  : »Keine kleineren Mächte als Fortschritt und Bildung stehen hinter dieser Tat, losgebunden von Gott und sprungbereit gegen die Persönlichkeit, die mit ihrer Fülle den Irrweg der Entwicklung sperren will« (F, 400–403, 1). Der Persönlichkeit des Toten stellte er die »Talente« gegenüber, das heißt im Wesentlichen die liberalen Journalisten  : Franz Ferdinand machte den Vertretern des Fortschritts Angst, und sein Leben lag »wie ein Schatten auf der abscheulichen Heiterkeit dieses Staatswesens« (F, 400–403, 2). Unter den musikalischen Symbolen dieses verächtlichen Staates ist für Kraus das verächtlichste die Wiener Operette, insbesondere Die 215

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lustige Witwe von »König« Lehar. Franz Ferdinand verabscheute im Gegensatz zum künftigen Kaiser Karl I. die Operette. Er war nicht gemütlich  : »Er war kein Grüsser.« Anders gesagt, er war als Person die lebendige Opposition aller Formen der »fröhlichen Apokalypse«, die Hermann Broch in Hofmannsthal und seine Zeit analysiert hat. In der Außenpolitik war er scharf gegen die Annexion Bosnien-Herzegowinas. Seine Slawophilie war allbekannt. Auch in Berlin mochte man ihn nicht. Kraus’ Tragödie des Ersten Weltkriegs, Die letzten Tage der Menschheit, beginnt mit einem Vorspiel, das das schandbare Begräbnis (dritter Klasse) des ermordeten Thronfolgers und seiner Gattin zum Thema hat. Geheuchelte Trauer und echte Zufriedenheit darüber, den Störenfried los zu sein, bestimmen das Verhalten des Hofes und der Vollzieher des kaiserlichen Willens. Der Kaiser, der den Thronfolger bereits durch den Ausschluss seiner Kinder von der Erbfolge gedemütigt hatte, verweigerte ihm im Tod eine Ruhestätte neben seinen Ahnen und ließ seinen Leichnam in einem Personenzug ins kleine Dorf Art­ stetten überführen. Nach diesem Vorspiel, einem Symbol für das Begräbnis der letzten Hoffnung, ist der Weg zur Tragödie der Menschheit offen. Ein zentrales Thema, das die Tragödie strukturiert, ist das unmögliche Paar »Österreich-Deutschland«. Kraus nützt jede Gelegenheit, um den Abgrund sichtbar und hörbar zu machen, der die beiden »Nationen« trennt, die sich für eine halten. Eine kleine, inzwischen durch Helmut Qualtinger sprichwörtlich gewordene Szene, erteilt eine linguistische Lektion  : Auf die Suada eines Berliner Schiebers antwortet ein Wiener Dienstmann mit »Ahwoswoswassiwossöwulln«. Der Deutsche regt sich über das »ulkige Völkchen« der Österreicher auf, wo ein »richtiggehender Wiener Dienstmann« dem Berliner auf Englisch zu antworten wagt (LT, II,1). Eine andere ebenfalls von Qualtinger kongenial gespielte Szene vereinigt die »Cherusker von Krems« (LT, III, 11), einen alldeutschen Verein, der sich nach dem Muster der Burschenschaften des Typs »Arminia« auf Hermann den Cherusker beruft, bei Wotan schwört und sich zum Antisemitismus bekennt. Die Ironie der Szene besteht nicht zuletzt darin, dass die meisten Provinzcherusker Namen slawischer Herkunft tragen, ein geläufiges Phänomen der Hyperassimilation, das ich in meiner Gymnasialzeit bei unserem Turnlehrer studieren konnte, der mit unverhohlen tschechischem Akzent sprach, uns aber Lieder wie den »Westerwald« eintrichterte. Zwei bekannte öster­reichische Politiker liefern für das Phänomen erhellende Beispiele  : Der ­Vater des Bundespräsidenten Waldheim hat sich nach 1918 seines tschechischen Namens Watzlawick entledigt. Und der Vater eines wichtigen Gefolgsmanns Jörg Haiders, Peter Westenthaler, hieß noch Hojac. Man versteht, warum Hitler die Slawisie216

Die Epoche der Mythographien

rung Wiens fürchtete und Josefs II. Germanisierungspolitik als Gefahr für das Deutschtum empfunden hatte. Das absolute Unverständnis der österreichischen Besonderheiten bei den deutschen Bundesgenossen wird in der Schlussszene der Tragödie (LT, V, 55), einer furchtbaren Parodie des Abendmahls, überdeutlich akzentuiert. Während des »Liebesmahls«, das Offiziere der Bündnispartner vereinigt, verherrlicht der österreichische General die Harmonie zwischen den verschiedenen Nationalitäten (Deutschösterreicher, Tschechen, Ungarn, Kroaten, Polen, Rumänen und Juden) der Armee und behauptet zugleich, der Krieg sei ein »uns aufgezwungener Verteidigungskrieg der germanischen Rasse gegen die slawische Rasse  !« Der preußische Oberst, der sich die österreichischen Offiziere vorstellen lässt, hält der Reihe nach den Salzburger für einen Wiener, den Polen für einen Kroaten, den Kroaten für einen Rumänen, den Rumänen für einen Tschechen, den Tschechen für einen Italiener und verlegt Linz in die grüne Steiermark. Doch der eigentliche Witz dieses Liebesmahls zwischen Preußen und Österreichern liegt in der systematischen Demontage der Waffenbrüderschaft, die unter dem Begriff der »Nibelungentreue« firmierte. Kraus lässt alle Klischees Revue passieren, die den Gegensatz zwischen der angeblichen Schlappheit und Schlampigkeit der Österreicher und der militärisch-organisatorischen Überlegenheit der Deutschen hervorheben. Die unmögliche Allianz findet ihren Ausdruck auch in Szenen, in denen kontradiktorische musikalische Symbole gleichzeitig ertönen. Eine Kakophonie dieser Art bestimmt eine Szene, in der in einem Vergnügungslokal deutsche Geschäftemacher, hohe österreichische Offiziere, Kellner und Prostituierte versammelt sind  : Gleichzeitig werden von einer besoffenen Gesellschaft der Prinz Eugen, die Kaiserhymne (»Österreich wird ewig stehn« und »Innig bleibt mit Habsburgs Hause Österreichs Geschick vereint«), modische Schlager und Die Wacht am Rhein zitiert. Hier gilt Nestroys schon zitiertes  : »Wenn einem kein Mensch versteht, das ist nazinal.« Gegen die betrunkenen die Kaiserhymne zitierenden österreichischen Generalstäbler hat »Fest steht und treu die Wacht am Rhein« im Mund eines deutschen Kriegsgewinners das letzte Wort (LT, V, 27). Doch die Antithese Österreich-Deutschland nimmt vor allem in zwei langen Liedern Gestalt an, zu denen Kraus selbst die Melodie komponiert hat  : dem Lied des eingeschlafenen Kaisers Franz Joseph I. und dem Lied der allegorischen Verkörperung des Alldeutschtums, Ottomar Wilhelm Wahnschaffe. Die 28 Strophen der Klage des alten Kaisers (LT, IV, 31) bilden einen Katalog aller Niederlagen und Erniedrigungen, die er seit seiner Kindheit erlitten hatte. Der Refrain nimmt einen berühmten, authentischen Ausspruch des Kaisers 217

Identitätskonstruktionen

auf  : »Mir bleibt doch nichts erspart«. Schon in der dritten Strophe taucht die verabscheute Figur des Preußen auf, der »Preiss«, der 1866 den »Preis« im Hegemoniewettbewerb gewonnen hatte. Zu den Unannehmlichkeiten seines Lebens zählt der Kaiser »den Otto« (Bismarck). Ein einziger Lichtblick in dieser trostlosen Vita war die Ermordung Franz Ferdinands  : »Schaut’s, der bleibt uns erspart  !«. Der Unösterreicher war ein Geizhals und »kein Grüßer/hat am Gemüt gespart«. Der Treubund, die Nibelungentreue, das »Schulter an Schulter« mit Wilhelm II. wird auch zum Alptraum. Statt ihn zu stützen schmerzt ihn der Schulterdruck  : »Die Schulter statt zu stützen, sie drückt mich noch zu Tod,/ und zu den faulsten Witzen/gehört der Nibelungen Not.« Er vergleicht seine Lage der eines Pferdes, das von einem tollgewordenen, peitschenden Reiter zu Schanden geritten wird  : »Mich aber peitscht die Peitsche/das Ziel bleibt mir erspart.« (Schon vor dem Krieg hatte Kraus in Wilhelm II. einen »apokalyptischen Reiter« gesehen. Im Krieg wird er für ihn zur teuflischen Inkarnation der puren Machtgelüste.) Habsburg ist nicht mehr Herr im eigenen Haus, und hier tritt ein anderes berühmtes Kaiserzitat in seine Rechte  : »Da kann man halt nix machen.« Am Beginn des 5. Aktes (LT, V, 8) kommt Kraus auf das Bild vom tollen Reiter zurück. Der »Nörgler«, Kraus’ Alter Ego, erzählt die Anekdote eines wahnsinnigen jungen Wieners in Uniform, der sich eines Fiakerpferdes bemächtigt und eine rasende Fahrt beginnt, aber von einem Polizisten rechtzeitig aufgehalten worden sei. Für den Optimisten ist das eine »Winzigkeit aus der lokalen Chronik«, für Kraus dagegen ein Emblem des Weltzustands, illustriert an folgender außenpolitischen Information  : »Die chinesisch-japanische Militärkonvention. Volle Herrschaft Japans in China. Der ›Shanghai Gazette‹ zufolge haben die geheimen Abmachungen der eben zustandegekommenen Militärkonvention zwischen Japan und China folgenden Inhalt  : Die chinesische Polizei wird neu organisiert. Japan übernimmt die Leitung sämtlicher chinesischer Arsenale und Werften. Japan erhält das Recht, in allen Teilen Chinas Eisen und Kohle zu fördern. Japan erhält alle Privilegien in der äußeren und inneren Mongolei, ferner in der Mandschurai. Schließlich sind eine Anzahl von Maßnahmen getroffen, die das Finanz- und Ernährungswesen Chinas japanischem Einfluss unterworfen.« Der Optimist fragt »Ja was geht uns denn aber Japan an  ?« und beginn einen Satz  : »Das Verhältnis zwischen Japan und China scheint Ihnen –«, den der Nörgler mit »– ausgebaut und vertieft  !« beendet. Dieses »ausgebaut und vertieft« ist die diplomatische Schlüsselphrase für das deutsch-österreichische Bündnis. Sie durchzieht das Stück als ironischer Kommentar zur diplomatischen Lüge über die Gleichwertigkeit der Bündnispartner, denn der diplomatische Code verbirgt die Realität, dass Österreich 218

Die Epoche der Mythographien

bereits Deutschlands China geworden ist. In Klarschrift geht es um Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzeption. Mutatis mutandis gilt für Österreich das brutale Wort Hebbels über die Slawen (Tschechen und Polen) als »Bedientenvölker«  : Österreichs Zukunft ist es, der »Bediente« Deutschlands zu werden, dessen Funktion darin besteht, die slawischen Nationalitäten im Bedientenstatus zu erhalten. Vor dieser Übermacht, die ihn dazu zwingt, »zu hohenzollern«, ist Franz Joseph I. die jämmerliche Gestalt einer griesgrämigen Impotenz, die Unordnung und Chaos hinnimmt und die von ihm angerichtete »blutige Schlamperei« mit Vergnügen genießt. Das ist die triste Bilanz eines bedeutungsleeren Wesens, das wider seine eigene Natur einen Pakt mit einer Macht geschlossen hat, die in allem und jedem solches Wesen negiert. Das Porträt des Kaisers ist ein Konzentrat aller negativen Österreichklischees, die Karl Kraus vor dem Krieg keineswegs fremd waren. Er schien sogar einige Zeit die kühle, technisch bestimmte »richtiggehende«, nüchterne Berliner Lebensform dem Wiener Pallawatsch vorzuziehen. Seine Nostalgie der altösterreichischen Lebensform hat ein anderes Gesicht als Hofmannsthals vom aristokratischen Lebensstil erfüllte Fortschrittskritik. Kraus’ satirische Hinrichtung eines lebenden Leichnams ist eher mit dem Blick der Kaiserin Elisabeth zu vergleichen, den sie in ihrem satirischen Gedicht Der Traum auf den zum Handeln unfähigen larmoyanten Gatten warf. Wilhelm II. tritt in mehreren Szenen der Tragödie in persona auf, doch der Kontrapunkt zu Franz Joseph I. ist nicht sein deutscher Partner, sondern die allegorische Figur Wahnschaffe. Wie der Kaiser legt Wahnschaffe sein politisches Bekenntnis in einem langen Lied ab (LT, III, 40), zu dem Kraus selbst eine besonders primitive und banale Melodie komponiert hat. Die Ausstattung seiner Villa, einem Gemisch von historisierender Pseudoromantik und nationalistischer Aggressivität, steht in vollendeter Harmonie mit dem von Wahnschaffe gesungenen Programm. Sein Wagner’scher Name kombiniert eindrücklich »Wahn« und »Tun« und lässt die doppelte Lesart von Wahn als Illusion oder Wahnsinn offen. Der Text des Liedes ist mit Zitaten aus dem Repertoire des Kommersbuches gespickt. Er zitiert das Gaudeamus igitur, das den Umschlag des Kommersbuches ziert, und für ihn ist der Deutsche ein »muntrer Bursche«, als ob Deutschland eine große Burschenschaft wäre. Der Gegensatz zwischen dem von kommerziellen, industriellen und vor allem militärischen Aktivitäten überbordenden deutschen Reich und dem verschlafenen Österreich wird auf den Imperativ gebracht, in dem sich der deutsche Wille zur Macht kristallisiert  : »und sagen einfach  : Machen wir  ;/ um Zeit zu sparen, auch  : m. w.« Wie Musil 219

Identitätskonstruktionen

gibt auch Kraus diesem »m. w.« eine grundlegende anthropologische Tragweite. Der entfesselte Imperialismus Wahnschaffes imaginiert eine totale Militarisierung und Prussifizierung der Welt. Kraus legt Schlüsselworte der alldeutschen Lieder in Wahnschaffes Mund  : Sie reichen von »Deutschland, Deutschland über alles« über die Wacht am Rhein bis zum Psalm 46 Ein feste Burg ist unser Gott, der als eine Art deutscher Nationalhymne galt. Damit unterstreicht er nicht nur das enorme symbolische Potenzial solcher poetisch-musikalischer Botschaften, die während des Krieges in allen Staaten zu neuen Ehren kamen. Doch Wahnschaffe unterscheidet sich von allen anderen dadurch, dass für ihn Gott selbst ein Deutscher ist und darum nur die Deutschen nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen wurden. Dieses religiöse und mythologische Gepäck geht durchaus der nationalen Wirklichkeit konform, die nichts anderes kennt als Arbeit und militärischen Gehorsam. Industrie (Krupp), Welthandel, Export, wissenschaftliche Forschung – vor allem im Bereich der Kriegstechnik (Gase) und der Herstellung von Nahrungsmittelersatz – machen aus dem deutschen Reich den Prototyp einer imperialistischen Nation, die die mythologische Vermischung von Mars und Merkur betreibt  : »Seit wann ist denn Mars der Gott des Handels und Merkur der Gott des Krieges  ?« fragt sich der Nörgler. Das »Hauptwort« von Wahnschaffes Lied, das in jedem Refrain wiederkehrt, ist der »Deutsche«. Kraus macht dieses »deutsche Wesen«, das sich in diesem Krieg verwirklicht, zugleich lächerlich und dämonisch bedrohlich. Die theoretische Untermauerung der Ideologie Wahnschaffes findet sich in einem der Dialoge zwischen dem Nörgler und dem Optimisten (LT, III, 14). Kraus führt in seine Diagnose des Krieges eine Überlegung Schopenhauers in den Parerga et Paralipomena ein  : Schopenhauer habe den Vergleich Hindenburgs mit Josua vorweggenommen durch die Verurteilung eines »Nationalgottes, dem die Lebensgüter anderer Völker geopfert werden müssen«, eines »Separatgottes, welcher die Nachbarländer verschenkt oder ›verheisst‹«. Das wird exemplifiziert am »Mord- und Raubzug« im Buch Josua, Kapitel 10–11. Schopenhauer kritisiert aufs Schärfste die Vorstellung eines Gottes, der als Verbündeter einer Armee das Massaker von Unschuldigen befiehlt, und formuliert den Wunsch  : »Möge jedes Volk, das sich einen Gott hält, der die Nachbarländer zu ›Ländern der Verheißung‹ macht, rechtzeitig seinen Nebukadnezar finden […] und weiter keine Umstände mit ihm gemacht werden« (Schopenhauer, 422). Ein solches Volk sind für Kraus die Deutschen, er sieht eine tiefe Identität zwischen den Hebräern Josuas und den Deutschen Wilhelms II. und Hindenburgs. Der Optimist fragt ungläubig  : »Sie wollen also eine Ähnlichkeit des neudeutschen und des alt-hebräischen Eroberungsdrangs behaupten.«24 Der 220

Die Epoche der Mythographien

Nörgler bekräftigt diese Analogie so  : »Bis auf die Gottähnlichkeit  ! Es sind unter den Völkern, die eine welthistorische Rolle gespielt haben, die beiden einzigen, die sich der Ehre eines Nationalgottes für würdig halten. Während heute alle einander gegenüberstehenden Völker dieser verrückten Erde nur die Verblendung gemeinsam haben, im Namen desselben Gottes siegen zu wollen, haben die Deutschen, wie einst die Hebräer sich auch noch einen Separatgott zugelegt, dem die furchtbarsten Schlachtopfer dargebracht werden. Das Privileg der Auserwähltheit scheint durchaus auf sie übergegangen und unter allen Nationen, denen die Vorstellung, eine Nation zu sein, das Hirn verbrannt hat, sind sie diejenige, die sich am häufigsten agnosziert, indem sie sich unaufhörlich selbst als die deutsche anspricht, ja ›deutsch‹ für ein steigerungsfähiges Eigenschaftswort hält.« Diese Form besessener Selbstbehauptung hat ein unüberbietbares Beispiel in der Behauptung Heideggers gefunden, die Deutschen müssten griechischer als die Griechen werden, um deutscher als die Deutschen (der verachteten humanistischen Periode) zu werden. Die Deutschen mit den Hebräern zu vergleichen, ist eine listige Provokation, wenn man an den Antisemitismus denkt, der den großdeutschen Nationalismus genährt hat. Kraus insistiert darauf, indem er sich einer anderen ungewöhnlichen Parallele, der zwischen dem hebräischen und dem deutschen Moses, d. h. Immanuel Kants, bedient. Nachdem er die Analogien festgestellt hat, bringt er folgende Reserve ins Spiel  : »Aber der Zusammenhang zwischen der alldeutschen und der hebräischen Lebensform ließe sich noch ausbauen und vertiefen. Nur dass die alten Hebräer doch wenigstens das ›Du sollst nicht töten  !‹ im Munde führten und zur höheren Ehre Gottes mit dem Sittengesetz Mosis in einen so grauenhaften, aber immer wieder gefühlten und bereuten Widerspruch gerieten, während die neuen Deutschen den Kant’schen kategorischen Imperativ frisch von der Leber weg als eine philosophische Rechtfertigung von ›Immer feste druff  !‹ reklamiert haben. In der preußischen Ideologie ist freilich auch der Herr der Heerscharen durch landesübliche Begriffsverknotung zum Allerobersten Kriegsherrn und Vorgesetzten Wilhelms II. ausgeartet.« Der Optimist glaubt den Sachverhalt zu mildern, wenn er festhält, dass nach Wilhelms II. eigenen Worten Gott »eigentlich nur sein Verbündeter« sei. Die Parallelisierung Juden-Deutsche, verbunden mit radikaler Kritik am deutschen Militarismus findet sich etwa zur selben Zeit, wohl unter dem Einfluss von Kraus, auch bei Kafka. In den Gesprächen mit Gustav Janouch (Kafka, 105) heißt es  : »Juden und Deutsche haben viel gemeinsam. Sie sind strebsam, tüchtig, fleißig und gründlich verhasst bei den anderen. Juden und Deutsche sind Ausgestoßene.« Nicht dieser Eigenschaften wegen, wie Janouch meint, 221

Identitätskonstruktionen

sind sie Ausgestoßene (das Komplement der Erwählung). »Der Grund ist viel tiefer« für Kafka. »Letzten Endes ist es ein religiöser Grund. Bei den Deutschen sieht man das nicht so gut, weil man ihnen noch nicht ihren Tempel zerstört hat. Aber das kommt noch.« Janouch antwortet verwundert  : »Die Deutschen sind doch kein theokratisches Volk. Sie haben doch keinen nationalen Gott in einem eigenen Tempel.« Darauf Kafka  : »Das nimmt man allgemein an, in Wirklichkeit ist es aber ganz anders. Die Deutschen haben den Gott, der ­Eisen wachsen ließ. Ihr Tempel ist der preußische Generalstab.« Kafka meint das so ernst wie der Nörgler. Die Anspielung auf das bekannte Lied aus dem Kommersbuch »Der Gott, der Eisen wachsen ließ« (Ernst Moritz Arndt, 1812), von dem es sogar die Variante »Der Gott, der Bismarck wachsen ließ« gab, ist strukturell identisch mit der Hypothese von Kraus. Und 1920 ist der »Tempel« in der Tat bereits schwer beschädigt durch den Vertrag von Versailles. Kraus und Kafka haben den deutschen Nationalismus im Ersten Weltkrieg als eine Religion besonderer Natur angesehen. Elias Canetti hat aus der deutschen Niederlage und der Erniedrigung von Versailles den zutreffenden Schluss gezogen, dass damit das Massensymbol der Deutschen vernichtet und das deutsche Volk entmannt worden sei. In der Optik der österreichischen Identität lässt Kraus keine Zweifel aufkommen  : Der Abgrund zwischen den Lebensformen ist für ihn unüberbrückbar, aber im Gegensatz zu den Österreich-Hymnikern (Bahr, Hofmannsthal, Müller, Wildgans) kennt er nicht die geringste Nachsicht für die dümmsten und hässlichsten Seiten des »österreichischen Antlitzes«, das der Krieg sichtbar gemacht hat, und er verspürt nicht die geringste Sympathie mit oder Sehnsucht nach dem untergegangenen militärisch-monarchistischen System. Er bekennt sich bedingungslos zur Republik, außer in einem Punkt, der Forderung nach dem Anschluss an Deutschland. Die entschiedene Parteinahme für die von den Sozialdemokraten durchgesetzte demokratische Republik schlug sich nicht zuletzt in seiner Umdichtung der Kaiserhymne in eine »Volkshymne« nieder, von der im Kapitel über die »Nationalhymne« ausführlich die Rede war. Kraus vermeidet bewusst das Wort »deutsch«, für ihn heißt das »Vaterland«, zu dem er sich als Landschaftspatriot bekennt, einfach »Österreich«. Kraus steht anfangs der Sozialdemokratie sehr nahe, ohne je Parteimitglied zu werden, doch distanziert er sich konsequent von ihrem Hang zum Anschlussdenken. Eine blendende Satire »gegen die Anschlussdummheit«, Hüben und drüben (F, 876–884, 1–31) betitelt, markiert 1932 den definitiven Bruch mit der sozialdemokratischen Führung, die weiterhin an den Träumen von 1848 festhielt und in der Gründung einer großen geeinigten deutschen Republik ihr erstes außenpoliti222

Die Epoche der Mythographien

sches Ziel sah. Kraus fand für diesen österreichischen »Sozialnationalismus« die treffende Formel  : »Marx nimmt Turnunterricht bei Vater Jahn« (F, 876–884, 11). Hitlers Machtübernahme wird den Bruch endgültig besiegeln, da sich die Linke, die in Kraus einen Verbündeten gesehen hatte, nicht mit seiner Wendung zum Patrioten des Ständestaates abfinden konnte. 1933 werden die deutsche und österreichische Republik, die 1918 die Monarchien abgelöst hatten, durch den Nationalsozialismus und den Austrofaschismus abgelöst. Österreich verwandelt sich nach einem kurzen Bürgerkrieg 1934 in den christlich-deutschen Ständestaat, der rasch unter den Druck des Dritten Reichs gerät. Der Bundeskanzler Dollfuß wird am 25. Juli 1934 ermordet. Alle Welt hatte auf Kraus’ Reaktion gegenüber dem Nationalsozialismus, aber auch dem Austrofaschismus gewartet. Doch wie 1914 schwieg er lange, und als er endlich sprach, in der umfangreichsten aller Fackeln von Juli 1934 unter dem Titel Warum die Fackel nicht erscheint, löste er eine totale Bestürzung aus, denn er verteidigte das Regime und machte aus Dollfuß, der noch lebte, eine heroische Figur des Widerstands gegen Hitler. Er geißelte die Verantwortungslosigkeit der Sozialdemokratien. Nach der Ermordung des »kleinen Kanzlers« erhob er ihn zu einer quasi-mythologischen Gestalt  : Banco-Dollfuß versus Macbeth-Hitler. Kraus ist natürlich weit entfernt, die ideologischen Grundlagen des Ständestaats zu akzeptieren, schon gar nicht die Definition des »homo austriacus« als christlich-deutscher Kombination. Er enthält sich aller Österreich-Idolatrie und verbittet es sich ausdrücklich, mit den Bewohnern des Hotels »Zum goldenen Kreuz« verwechselt und »einer spekulativen Unterwerfung unter eine angebliche österreichische Gewaltherrschaft« verdächtigt zu werden (F, 912–915, 13). Doch stellt er (wie Musil) einen unüberbrückbaren Unterschied zwischen dem Dritten Reich und dem Ständestaat fest und er hält die Tendenz der Linken, die beiden Systeme als gleichwertig anzusehen, für kriminelle Dummheit. Der letzte Satz der Fackel fasst seine Position zusammen  : Man muss die Sozialdemokratie begreifen lehren, dass ein Unterschied bestehe zwischen einem Jaguar und einem Trottel. Dritte Walpurgisnacht, 1933–1934 geschrieben, aber erst 1952 veröffentlicht, ist nicht nur die luzideste Analyse des Nationalsozialismus vor seiner vollen Entfaltung, es ist auch eine Apologie des austro-faschistischen Widerstands gegen Hitler, eine Stellungnahme, die Kraus bis heute als Verrat angekreidet wird. (Vor allem in Frankreich, wo man große Schwierigkeiten hat, zwischen Nationalsozialismus und Austrofaschismus zu unterscheiden.) Während seines satirischen Magisteriums hat Kraus nie gezögert, den Vogel zu spielen, der sein eigenes Nest beschmutzt. Diese Haltung ist bestimmt von 223

Identitätskonstruktionen

seiner tiefen Abneigung gegen jede Form von Nationalismus. 1927 sah er sich gezwungen, vor einer Lesung aus seinen Schriften an der Sorbonne, seinen Standpunkt in Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt (F, 781–786, 1–9) klarstellen. Man hatte ihn verdächtigt, seine Kritik an Deutschland zur opportunistischen Anbiederung an den französischen Nationalismus zu gebrauchen. In der Tat war die Initiative französischer Professoren, darunter Charles Schweitzer, Sartres Großvater, Karl Kraus für den Nobelpreis vorzuschlagen, nicht ohne Hintergedanken. Man verwechselte vermutlich Kraus’ Haltung in der Anschlussfrage mit der Haltung des österreichischen Staates. Kraus anerkannte die satirische Kritik nur, wenn sie gegen das eigene Nest, von dem er sich beschmutzt fühlte, gerichtet war. Jedenfalls wurde er in Frankreich als Österreicher wahrgenommen. Das Nobelpreiskomitee lehnte diese Kandidatur unter anderem mit dem Argument ab, dass der Satiriker nicht von seinem eigenen Land vorgeschlagen worden war. Das ändert nichts daran, dass er, der Verteidiger der Reinheit der deutschen Sprache, im schroffen Gegensatz zur herrschenden Meinung konsequent Sprache und Nation trennte und damit das zentrale Argument für die nationale großdeutsche Einheit entwertete. Die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland bestätigte den Nestbeschmutzer in seinem paradoxalen Patriotismus. Sein Freund Berthold Viertel, der über die politisch-patriotische Wendung seines Idols 1933/1934 entsetzt war, hat einen Bericht über seine letzte Begegnung mit Kraus von Weihnachten 1935 aufgezeichnet. Viertel konnte nicht begreifen, warum Kraus, statt sich mit den Opfern des Bürgerkrieges zu solidarisieren, das ständestaatliche Österreich verteidigte. Er sah den Grund in Kraus’ Vereinsamung und Hoffnungslosigkeit angesichts des »Ausbruchs der Barbarei« und kommt, als Kraus das Angebot eines Asyls in Kanada ausgeschlagen hatte, zu dem resignierten Fazit  : »Er wollte Wien nicht verlassen, was auch kommen möge. Der Kreis hatte sich geschlossen  : der Anti-Österreicher war zum Nur-Österreicher geworden, der nichts anderes mehr zu wünschen schien und zu hoffen wusste, als dass dieser Fleck Erde, zugleich der letzte Fleck deutschsprechender Kultur, durch welches Mittel auch immer von ›der Pest‹ verschont bleibe« (Kraus, Katalog, 481). In einem Brief an den französischen Diplomaten und Professor Marcel Ray (Kraus, Katalog, 477–478) beschrieb Kraus am 27. Februar 1934, also kurz nach dem Bürgerkrieg, seine Verwirrung  : »doch muss ich der Sphäre gerecht werden und die Schuld denjenigen geben, mit denen ich mich wahrscheinlich meinungsmäßig noch eher über die Dinge auseinandersetzen könnte als mit solchen, als deren Verteidiger ich hier erscheine und die gegen eine sinnlose Kriegshandlung kriegerische Mittel angewandt haben.« Im Klartext  : Die Sozialdemokraten, denen 224

Das Prinzip Papageno

ich geistig näher stehe als den Austrofaschisten, haben einen tödlichen Irrtum begangen, gegen einen Staat in dem Augenblick zu rebellieren, in dem dieser sich in einem Kampf mit einem äußeren, auch für die Sozialdemokratie unendlich bedrohlicherem Feind befand. Kraus’ Patriotismus hatte nichts zu tun mit den »Geschichtskonstrukteuren« (Musil) des Austrofaschismus und ihren ideologischen Hirngespinsten, mit denen sie das »neue Österreich« zu rechtfertigen suchten. Er wehrt sich gegen die Vorwürfe der Linken, die ihn der »Gleichschaltung« mit dem Ständestaat bezichtigte und bereits totgeschrieben hatte, etwas mit den katholisch-monarchistischen Geschichtsklitterern gemein zu haben oder wie Werfel im gleichen Stockwerk des Hotels «Zum goldenen Kreuz« Quartier bezogen zu haben. Es geht ihm ausschließlich um das Überleben seines Landes. Wie schon im Text seiner »Volkshymne« begnügt er sich damit, ein »glücklich Österreich« und ein schönes Land im Frieden herbeizuwünschen. Man denkt unwillkürlich an das idyllische »Osterlich« in Chaplins Diktator von 1940, bevor es von den Truppen Hynkels besetzt wurde. Dass die österreichische Wirklichkeit alles andere als idyllisch war, war dem »Nur-Österreicher« durchaus bewusst. Kraus hätte nach 1945 ein Identitätsemblem ersten Rangs werden können. Eher das Gegenteil war mit wenigen Ausnahmen der Fall. Die Sozialdemokraten, selbst der große Fackelleser Kreisky, sahen in ihm nur den Verräter von 1934, die Konservativen haben ihm nie die »Nestbeschmutzungen« der Monarchie verziehen, und diejenigen, die dem alldeutschen Ideal nachträumten, konnten in ihm nur einen Vertreter der jüdischen Verschwörung gegen die deutsche Nation sehen. Er war politisch unbrauchbar. Doch die beiden österreichischen Nobelpreisträger, Elias Canetti und Elfriede Jelinek, haben sich zu Recht als seine Erben bekannt.

4. DAS PRINZIP PAPAGENO Der große dynastische Konflikt zwischen dem Preußen Friedrichs II. und dem Österreich Maria Theresias, der den Ursprung des Stereotyps vom weiblich-mütterlichen Österreich bildet, war von einem kulturellen Streit begleitet, dessen Bedeutung für die Frage nach der kulturellen Identität Österreichs unabweisbar ist. Trotz ihres Rufs als frommer, treu-katholischer Herrscherin war Maria Theresia keineswegs unempfänglich für die Aufklärung und ihren rationalistisch-reformatorischen Geist. Sie reorganisiert und zentralisiert die Verwaltung ihrer Länder, sie führt 1774 die Schulpflicht für Volksschulen 225

Identitätskonstruktionen

nach preußischem Muster ein und sie fördert die Entwicklung der Wissenschaften. Unter ihren Beratern finden sich ihr Leibarzt, der katholische Jansenist Gerhard van Swieten, und Joseph von Sonnenfels, ein mährischer zum Katholizismus konvertierter Jude, der zum Symbol des aufklärerischen Willens in Österreich geworden ist. Der Jurist Sonnenfels, Rektor der Universität Wien und zukünftiger Präsident der Akademie der Wissenschaften, Herausgeber einer Zeitschrift mit dem höchstbezeichnenden Titel Der Mann ohne Vorurteile, hat sich auch der Reform des Theaters in Österreich gewidmet. Durch seine Briefe über die Wiener Schaubühne wurde er zum Protagonisten eines »Kulturkampfs« besonderer Natur. In Deutschland, namentlich in Leipzig, dem kulturellen und akademischen Zentrum des 18. Jahrhunderts, haben sich die literarischen Vertreter der deutschen Aufklärung durch einen mörderischen Kampf gegen die volkstümliche komische Figur auf dem Theater hervorgetan, deren geläufigster Name Hanswurst war. Man ging sogar so weit, Hanswurst in effigie auf der Bühne zu verbrennen, in der erklärten Absicht, das deutsche Theater im Namen des Aristoteles und der französischen tragédie classique von diesem Vertreter der Grobheit und der niedrigsten Instinkte zu säubern. Goethe, der in Leipzig studiert hatte, hat sich später über den bornierten Geist seiner Professoren in der Universitätssatire des Faust I lustig gemacht. Zur Zeit, als er mit der Niederschrift des Urfaust begann, hat er sich in dem komischen Fragment Hanswursts Hochzeit, einem Gipfel der Grobheit und Obszönität, die dem guten Geschmack und jeder ästhetischen Norm ins Gesicht schlug, buchstäblich abreagiert. Im Mittelpunkt dieser Szenenfolge steht das rebellische Verhalten Hanswursts, der jede Form von Erziehung, Norm und ethischer oder ästhetischer Ordnung verweigert. Sein hilfloser Erzieher muss zugeben, dass »Wurstel immer Wurstel bleibt«, ausschließlich an der Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse und Wünsche interessiert. Es ist leicht nachzuweisen, dass Goethe diesen volkstümlichen, genusssüchtigen und grob materialistischen Hanswurst in Mephistopheles, den zynischen Räsoneur verwandelt hat, der dem Menschen jede ideale Eigenschaft abspricht und sich in manchen Szenen damit amüsiert, jegliches Ideal zu zerstören, zuoberst die individuelle Liebe, die er zynisch auf den sexuellen Trieb reduziert. Er verhält sich gegenüber jeder Form der Sublimierung als Vorgänger des Professor Freud. Goethes Teufel ist eine reflektierte Erscheinungsform seines naiven Modells, dessen historischer Ahne in der Tat der dumme Teufel der mittelalterlichen Mysterienspiele gewesen ist, also der »diabolos« (Störenfried) im etymologischen Sinn des Wortes. In Deutschland hat diese Teufelsaustreibung Wirkung gehabt und in der Tat eine »Reinigung« des Theaters nach sich gezogen. Die Weimarer Klassik 226

Das Prinzip Papageno

hat sich in der Tat von diesem ästhetisch-ethischen Schmutzfleck befreit, doch Goethe, der sich seiner Jugendsünden bewusst war, hat selbst zugegeben, dass ein wahrhaftes Volkstheater nur in Österreich und im katholischen Süden Deutschlands überlebt habe. Wien war im 18. Jahrhundert die unbestrittene Hauptstadt Hanswursts. Es ist leicht begreiflich, dass die Apostel der Aufklärung diese Figur als archaisch, schädlich, als Beleidigung für Vernunft, Geschmack und Sitten ansahen. Das deutsche Nationaltheater, das Joseph II., der exemplarische aufgeklärte Fürst, gegründet hatte, war selbstverständlich der Volkskomödie streng versagt, in der Hanswurst weiter sein Unwesen trieb, selbst wenn er sich anderer Namen, z. B. Kasperl oder Thaddädl, bediente. Der berühmteste und einzige – auch international – überlebende dieser Namen ist Papageno, die komische Figur von Mozarts Zauberflöte, der deutschsprachigen Oper, die nicht für das Hoftheater, sondern für ein Vororttheater, also für das Volkstheater geschrieben wurde. Der von der Wiener Aufklärung getragene Angriff gegen Hanswurst war auch dank Mozart gescheitert, Wien ist bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hauptstadt des deutschsprachigen Volkstheaters geblieben. Man kann sogar die Behauptung wagen, dass nach 1848 das musikalische Volkstheater eine wahre Antithese zum Triumph Wagners bildete. Unter den zahlreichen Parodien der hohen Dramatik (von Shakespeare bis Kleist und Hebbel), die das Publikum der Vorstadttheater zum Lachen brachte, finden sich sehr rasch Verballhornungen Wagner’scher Opern, nicht zuletzt unter der Feder Nestroys. Schließlich hat das Wiener Volkstheater, in dem die Musik seit jeher eine wichtige Rolle gespielt hatte, die Züge der Operette angenommen. Operetten und Walzer bestimmen das musikalische Gesicht Österreichs bis zum Tode von Johann Strauss junior. Der Walzer wird zum musikalischen Symbol, für die einen sublimiert sich in ihm der Wiener Volkscharakter, für die anderen ist er das abzuwertende Symptom eines moralischen und geistigen Vakuums. Die Theaterfigur des Hanswurst – bei Luther war damit auch noch des Teufels Sau, der Papst, gemeint – erscheint am Beginn des 18. Jahrhunderts in den sogenannten »Haupt- und Staatsaktionen«, Tragödien mit mythologischen und historischen Stoffen, wie sie auf dem Theater seit der Renaissance üblich waren. In einem der Texte Hofmannsthals über die Idee der Salzburger Festspiele stellte er einen Zusammenhang her zwischen den religiösen Mysterienspielen des Mittelalters und Mozarts Don Giovanni. Der gemeinsame Nenner ist nach ihm die Gegenwart des »Buffo-Elements« (HvH 1, II, 268)  : Leporello und der mittelalterliche Teufel gehören demselben Geschlecht an, dem Geschlecht des Hanswurst. Während die klassizistische Poetik sorgfältig die Komödie von der 227

Identitätskonstruktionen

Tragödie trennte, werden in Wien die theatralischen Handlungen der Protagonisten, die sich den höchsten Staatsgeschäften widmen, ständig durch die Anwesenheit des Hanswurst gestört, des Dieners bäuerlicher Herkunft, der in die große Welt der Politik, der Geschichte, ja der Mythologie einbricht. Während der pathetische Text der noblen Rollen in den erhaltenen Manuskripten fixiert wurde, blieb der Anteil Hanswursts leider meist der Improvisation überlassen. Obwohl wir darum oft nur über den Beginn seiner Tiraden (gefolgt von einem etc.) verfügen, ist es ein Leichtes, sich den komischen Kontrast vorzustellen, der durch den anachronistischen Einbruch der unkultivierten grobschlächtigen Person ins Universum der klassischen Tragödie oder der Opera seria hervorgerufen wurde. Wie man sich gut vorstellen kann, dass das Publikum weniger an der tragischen Staatsaktion als an den Späßen der komischen Figur interessiert war. Zwei Beispiele aus dem Werk des ersten Wiener Hanswursts, Joseph Anton Stranitzky, mögen das »Funktionieren« der Figur illustrieren. In einem Stück, das ein relativ junges historisches Ereignis von kapitaler Bedeutung zum Gegenstand hat, nämlich die Türkenbelagerung von 1683, ist Hanswurst der feige Diener des heldenhaften Grafen Starhemberg, der Wien von der Türkengefahr befreit hat. Der Titel des Stücks ist höchst programmatisch  : Türckischbestraffter Hochmuth oder Das anno 1683 von denen Türcken belagerte und von denen Christen entsetzte Wienn und Hans Wurst, die kurzweilieg Salve-Guarde des Frauen-Zimmers, lächerlicher Spion, und zum Tode verdamter Missethäter. Die letzte Szene des Stücks zeigt Hanswurst in der triumphierenden Haltung Papagenos vor dem toten Drachen  : Er spielt den Helden vor den Leichen der erschlagenen Türken. In Wirklichkeit war er mit knapper Not der Hinrichtung entgangen, denn Kara Mustapha hatte seine Pfählung befohlen, was Gelegenheit zu einer Reihe skatologischer Späße bietet. In einer anderen Szene erhält er den Auftrag, der Gattin Starhembergs einen Brief zu bringen. Das ist der Anlass zu folgendem Dialog  : Hanswurst  : Der Herr Commoediant er sagt er sey euer Mann. Die Gräfin  : Der Commendant wilt du sagen, dieses ist mein Ehe-Herr, und der Brief an mich geschrieben. Hanswurst  : Commendant und Commoediant ist alles eins (Stranitzky 1, 94). Man findet dieselbe Struktur in einem kurzen theatralischen Entwurf Mozarts, Die Liebesprobe betitelt  : Wurstl  : Lieber Herr Poltron … Leander  : Was sagst du, flegel  ? – Poltron  ! – Patron wirst du sagen wollen. 228

Das Prinzip Papageno

Wurstl  : Nun ja  : Patron, ich habe mich nur verredet. Nun also, liebster, bester Herr Pol-Patron … (Mozart IV, 169) Die Strategie von Hanswurst-Wurstl ist eindeutig. Er spielt bewusst mit dem, was Freud die »Fehlleistung« genannt hat, und sagt, er habe sich »verredet«. Freud hätte die beiden Beispiele durchaus in seine Psychopathologie des Alltagslebens aufnehmen können. Allerdings ist hier die Fehlleistung beabsichtigt, um eine verborgene Wahrheit auszusagen, die die etablierte Ordnung in Frage stellt. Der Diener projiziert auf den Herrn seine eigenen Eigenschaften, die des Schauspielers und des Feiglings. Das Sprachspiel mit falsch verstandenen Worten ist ein unerschöpflicher Fundus der hanswurstischen Sprachkritik. Die massive Anwesenheit des Grobkomischen hindert übrigens Stranitzky nicht daran, sein Stück mit einer Apotheose Kaiser Leopolds I. und der Stadt Wien enden zu lassen. Die Stadt wird »eine Fürstin Europaeischer Vestung und eine Säug-Amel der wahren Christlichen Lehre« genannt, der Kaiser wird zum »Herrn der Erden«, Alexander dem Grossen vergleichbar, dem »der ErdenKreiss schier zu enge ist«. Doch das letzte Wort gilt nicht dem »Leo« Leopold, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, sondern dem Haus Österreich  : »Es leb und blühe stets das Ertz-Haus Oesterreich  !« (Stranitzky 1, 115). Verherrlichung der Dynastie und das Gelächter Hanswursts sind noch einträchtig beisammen. In dem Stück Die Enthauptung Ciceros ist Hanswurst der Diener des römischen Staatsmanns. Nach Ciceros Ermordung bringt Hanswurst sein Haupt in einem Sack Ciceros Tochter Tullia, die zu einer hochdramatischen Tirade ansetzt  : »Dass Haupt meines Vatters  ! O ihr Sterne, was ist dieses  ?« Sie fragt Hanswurst »Wo hastu solches bekommen  ?« Er antwortet  : »Gleich wo der Nachtkönig die MEDR ITAT Fäsel auslähret, es ist lauter Dreck gewessen, ich aber habs in der Tiber abgewaschen« (Stranitzky 2, 95). Das hehre Haupt in der cloaca maxima Roms  ! Alle Regeln des Geschmacks und der Vernunft sind durch diese Nebeneinanderstellung unvereinbarer Sphären außer Kraft gesetzt. Man begreift die Versuche der aufgeklärten Geister, einer solchen Herausforderung an den guten Geschmack ein Ende zu bereiten. Nun kann man alle diese für das Volkstheater des 18. Jahrhunderts typischen Züge auf manchmal verwirrende Weise bei Mozart, dem österreichischen Genie des 18. Jahrhunderts par excellence, wiederfinden. Der Briefwechsel des Komponisten hat lange Leser und Forscher skandalisiert, denn in ihm macht sich eine unleugbare Neigung zum Geist Hanswursts fühlbar, als wolle sich Mozart jedem Re229

Identitätskonstruktionen

gelzwang entziehen. Der erste springende Punkt seiner Neigung zum Ungehorsam betrifft Grammatik und Rechtschreibung. Während Vater Leopold ein aufmerksamer und gelehriger Leser der aus Leipzig stammenden normativen Literatur ist, macht sich der Sohn ein Vergnügen daraus, Sätze und Wörter zu verdrehen und die Modelle des Vaters in Frage zu stellen. Dass er aus des Vaters Modell Gellert einen »Herrn Gelehrt« macht, der »nach seinen doth keine poesien mehr gemacht hat« (Mozart I, 309), wirkt zwar kindisch, ist aber eine gezielte Bosheit. Doch er geht noch weiter in seiner offensichtlichen Lust, die logischen und grammatischen Strukturen zu malträtieren. Die sinnproduzierende Maschine gerät ins Stottern und gibt solche Dinge von sich  : »Ich will euch den Pfifferling gantz kurtz ins Gesicht sagen. Wie ich hinaus bin gangen so bin ich hinausgangen, weil mich mein Herr hinausgeschickt hat, so bin ich hinausgegangen etc. etc. (Macht eine solche Rede nach Belieben)« (Stranitzky 2, 95). Das ist Stranitzky und nicht Mozart, aber Mozart weiß auch, wie die Improvisation funktioniert. Das »etc. etc.« bedeutet, dass dieser Unsinn ad infinitum weitergehen kann, und Mozart liebt es, seinen Briefpartnern verbalen Quälereien auszusetzen, indem er im Geiste Hanswursts mit sinnleeren grammatischen Formen, mit phonetischen und morphologischen Permutationen, mit absurden Wiederholungen operiert, wie zum Beispiel in einem Brief an sein Bäsle  : »Adieu bääsle, ich bin, ich war, ich wär, ich bin gewesen, ich war gewesen, ich wär gewesen, o wenn ich wäre, o dass ich wäre, wollte gott ich wäre, ich wurde seyn, ich werde seyn, wenn ich seyn würde, o dass ich seyn würde, ich wurde gewesen, ich werde gewesen seyn, o wenn ich gewesen wäre, o dass ich gewesen wäre, wolltegott ich wäre gewesen, was  ? – ein stockfisch« (Mozart II, 309–310). Die Permutation der typisch österreichischen Redensart »Ich bin völlig aus dem Häusl« in »Ich heis völlig aus dem binel« (Mozart, Briefe II, 148) ist so manchem deutschen Leser und Interpreten ein unlösbares Rätsel geblieben. Es springt ins Auge, dass Mozart diese Spielereien betreibt, um das kindliche Vergnügen an den Regelverstößen zu genießen. In Mozart stecken Hanswurst und Till Eulenspiegel. Kurz vor seinem Tod fügt er einem ernsthaften Brief an seine Frau folgendes absurde Postskriptum an  : »Dem N. N. richte von mir folgendes aus  : - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – -

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Das Prinzip Papageno

Was sagt er dazu  ? Gefällts ihm  ? Nicht sehr glaub’ ich, es sind harte Ausdrücke  ! Und schwer zu begreifen –« (Mozart , 9. Juli 1791). Ein kleiner Eulenspiegel findet Spaß daran, einen unbestimmten und offenen Raum zu schaffen, als wollte er die Macht der Bedeutungen aus der Welt schaffen. (Unter den Versuchen, die Besonderheit der österreichischen Literatur und Philosophie herauszufinden, hat das Interesse an der Sprachkritik und am Sprachspiel immer im Zentrum gestanden. Und es scheint mir erlaubt, die Prämissen für dieses unleugbare Faktum im Erbe des Hanswurst zu suchen, der als erster einen Zustand der linguistischen Unsicherheit eingerichtet zu haben scheint. Vor allem nach 1945 hat Mozarts linguistische Anarchie die schönsten Blüten in der »Wiener Gruppe« und bei Ernst Jandl gezeugt. Noch skandalöser als die sprachlichen Späße und Verstöße ist Mozarts unverhohlene Neigung zur fäkalen Sphäre, die er mit Hanswurst teilt. Für etliche Kompositionen zum Privatgebrauch im Freundeskreis hat Mozart selbst offen skatologische Texte verfasst. So erfand er zum Beispiel einen pseudolateinischen Text (»Difficile lectu mihi Mars et jonicu, jonicu difficile«, KV 559, 1788) zu einem quasi-liturgischen Kanon, dessen Absicht es war, eine Zweideutigkeit zu suggerieren, wo es keine gibt, denn das Pseudolatein liest sich auf Deutsch »Leck du mi im Arsch  !«), und aus dem »jonicu« wird ein französisches »couillon« (Einfaltspinsel). Der Kanon Bona nox, gewöhnlich gesäubert, um den Kindermund nicht zu verunreinigen, endete gleichfalls mit einer koprophilen Aufforderung. Die Skatologie ergießt sich ungehemmt in seiner Korrespondenz, nicht nur in den berühmt-berüchtigten Bäsle-Briefen des 21-/22-Jährigen, denn noch mitten in der Arbeit an der Zauberflöte beschließt er einen Brief an seine Frau mit »Scheishäusel den 12. Juli, Scheisdreck« (Mozart IV, 153). Genüsslich benützt er in einem Brief an den Vater die katholische Beichtformel »Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken«, um dem Vater zu beichten, dass er in »Worten, aber nicht in Werken« (Mozart II, 124) durch skatologische Reimereien gesündigt und den festen Vorsatz gefasst habe, bei der nächsten Gelegenheit wieder damit zu beginnen. Ecclesia supra cloacam  ? Die Versuchung, Skatologisches und Religiöses, Edles und Vulgäres zu vermengen, ist tief in der Tradition des Hanswurst-Theaters verankert und erhellt eine wichtige Funktion der komischen Person  : die kindliche Abreaktion angesichts des Tabus, das die Analsphäre umgibt. In der theatralischen Skizze Die Liebesprobe schlägt Wurstl seinem »Pol-Patron« vor, die gesuchte Geliebte durch eine Riechprobe ausfindig zu machen (Mozart IV, 173). 1791 ist diese Art Humor auf der Bühne nicht mehr tragbar, und selbst wenn Hanswurst und seine Wandlungen (namentlich Kasperl) die von den Zeloten 231

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des guten Geschmacks gewollte Säuberung überlebt hatten, war die Figur aufgrund der nicht immer ungerechtfertigten Vorwürfe recht »brav« geworden. 1781, im Gründungsjahr des Leopoldstädter Volkstheaters, war in Wien ein anonymes Pamphlet gegen Kasperl, das Insekt des Zeitalters (Gugitz, 75ff., 83ff., 99ff.) erschienen. Die Vorwürfe waren altbekannt  : »alberne Gaukler«, »verderbliche und hässliche Abenteuer«, »Sittenverderbnis, »Grobheiten und antastende Worte«, Ruin der bürgerlichen Moral, Beleidigung der guten Sitten, Trunksucht, seine »Grimassen und vom Pluto geborgten Gesichter« (sprich Teufelsfratzen), seine »Zoten und Possen«, »ausgemachte Dummheiten«, die dauernde Verwandlung, die die Einheit der Figur zerstöre, schließlich seine »lästernde Zunge« über die staatliche Autorität. Über das Publikum, das Kasperl unterhält, wird das Urteil gefällt, dass »deren Gehirn durch das Blut ihrer Eltern zu solche niedrigem Denken geschaffen« (Gugitz, 82 f.) worden sei. Unter den Metaphern für die Varianten des Hanswurst finden sich selbstverständlich pejorative Tiervergleiche, zum Beispiel Wanze und Schwein. Der wohlgeratene Bürger gehe also ins Nationaltheater und meide die verdorbenen Nachkommen Hanswursts. Unter diesen Nachkommen ist auch Papageno. Die dramatische Struktur der Zauberflöte ist doppelt binär. Auf der edlen Handlungsebene herrscht der Konflikt zwischen Licht – gut und Nacht – böse, doch dieser noblen Handlung parallel verläuft die Geschichte des Papageno. Mozart hat die Oper für ein Vorstadttheater komponiert, also für das von den Aufklärern verachtete Publikum, dessen Züge der Film Amadeus bewusst übertrieben hat. Das dramatische Schema folgt treu den Stücken des ersten Hanswurst, in denen die komische Person ständig die noble Handlung stört. Angesichts mancher Versuche, die Zauberflöte ausschließlich in der Optik der Freimaurerei zu deuten, eine Tendenz, die in der französischen Musikologie besonders stark war, muss das Gewicht des volkstümlichen österreichischen Erbes unbedingt betont werden. Denn die vielgestaltige Oper Mozarts ist ein sublimierter Reflex des österreichischen »Kulturkampfs« der Zeit. (Die Sozialdemokratie, die sich in Österreich immer als Hüterin der deutschen Aufklärung gesehen hat, hat »Hanswurst« systematisch als Schimpfwort für ihre konservativen katholischen Gegner gebraucht.) Wer Ohren hat zu hören, wird unmittelbar begreifen, dass Mozarts Sympathien Papageno und dem hohen Paar Tamino/Pamina in gleichem Maß gelten. Das bloße Faktum, das unmögliche Paar Papageno – Pamina die Hymne auf die Liebe (»Bei Männern, welche Liebe fühlen«  ; I, 7) singen zu lassen, verrät seine tiefsten Absichten. Die Zauberflöte ist also das Modell einer Synthese der Gegensätze. Papageno ist ein durch die Musik geadelter Hanswurst, und doch bleibt er seinen Ahnen tief verbunden. 232

Das Prinzip Papageno

Zu diesen Ahnen gehört neben Hanswurst eine andere legendäre Wiener Figur, der liebe Augustin, unsterblich geworden durch ein Volkslied, das Mozart in einem seiner musikalischen Späße zum Privatgebrauch benutzt hat. (Der heitere Mozart, No.1) Der Text dieses Liedes verkündet eine Lebensphilosophie, die man gern als typisch wienerisch empfunden hat. Während der großen Pest fällt Augustin, der unverbesserliche Säufer, in ein mit Pestleichen gefülltes Massengrab, schläft dort seinen Rausch aus und erwacht am Morgen bei bester Gesundheit und singt »O du lieber Augustin, alles ist hin …« Die Person schwankt zwischen der barocken vanitas und der unzerstörbaren Lebenslust. Er wird in einem bedeutenden Augenblick der modernen Musikgeschichte eine erstaunliche Rolle spielen. In seinem skandalumwitterten zweiten Streichquartett op. 10 von 1908 distanzierte sich Schönberg von der hedonistischen österreichischen Tradition, indem er die Melodie des lieben Augustin parodistisch verzerrt zitierte. Unterwirft man Papagenos Verhalten entgegen seiner Natur einer systematischen Analyse, ergibt sich eine Reihe sehr kohärenter Befunde. Er tritt in einem Kostüm auf, das aus ihm ein Zwischenwesen an der Grenze von Mensch und Tier macht. (Monostatos nennt ihn übrigens einen »seltenen Vogel«). Auf die Frage des Prinzen »Sag mir, lustiger Freund, wer bist du  ?« antwortet Papageno »Wer ich bin  ? (Für sich). Dumme Frage  ! (Laut). Ein Mensch, wie du.« Als ihn der Prinz nach dem Namen der Gegend und ihrem Herrscher fragt, antwortet er  : »Das kann ich dir ebensowenig beantworten, als ich weiß, wie ich auf die Welt gekommen bin.« Tamino erstaunt  : »Wie  ? Du wüsstest nicht, wo du geboren oder wer deine Eltern waren  ?« Papageno  : »Kein Wort  !« Die Befragung geht weiter  : »Aber wie lebst du  ?« Papageno  : »Vom Essen und Trinken wie alle Menschen.« Angesichts dieser Antworten beginnt der Prinz am Status Papagenos zu zweifeln, er fragt sich, ob Papageno ein Mensch ist. Papageno ist völlig desinteressiert an Geographie und Geschichte, ja sogar an seiner eigenen Genealogie. Er ist, wer er ist, ein genussfreudiges Kind, ein Naturmensch, dessen Name und Kleidung eine gewisse Verwandtschaft mit der instinktregierten Tierwelt nahelegen. (Goethe, der sich eher ungeschickt um eine Fortsetzung der Zauberflöte bemüht hat, lässt Papagenos und Papagenas Kinder aus riesigen Eiern ausschlüpfen.) Zu Recht hat man darauf verwiesen, dass der Autor des Librettos einen psychologischen Denkfehler begangen habe, als er Papageno selbst das Wort »Naturmensch« in den Mund legte, was ein Niveau der Reflexion voraussetzt, das Papageno eben nicht besitzt. Mozart hat sich damit amüsiert, seinen eigenen Namen in Romatz oder Trazom (Mozart I, 490  ; II, 99, 247, 441) zu verballhornen oder sich mit wenig schmeichelhaften skatologischen Pseudony233

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men wie Don Cacarella (Mozart I, 319), Sauschwanz (Mozart, II, 548) oder Scheissdreck (Mozart IV, 153) zu bedenken. Es gibt nur eine Domäne, wo sein Name heilig und unantastbar ist. Nie hat er seinen Namen in Kleinbuchstaben geschrieben, während er »gluck« systematisch orthographisch diminuiert. Eine Nachlässigkeit in der Rechtschreibung  ? Das ist höchst unwahrscheinlich. Im Gegensatz zu vielen Märchen, in denen das Kind das Recht auf die Enthüllung seiner königlichen Herkunft hat, ist in der Zauberflöte der Prinz bereits Prinz, und das Kind Papageno träumt keineswegs von einem fürstlichen oder heldenhaften Geschick. Papageno illustriert aufs Vollkommenste die Flucht vor der Geschichte und jeder Form der Größe  : Solange er zu essen, zu trinken und ein Mädchen oder Weibchen zum Lieben hat (auch sie ohne Genealogie), lebt er im Elysium und kann »mit Fürsten sich messen« (II,20). Papageno kennt keinen »Ursprungsroman«, denn er hat keine Herkunft zu beweisen oder zu suchen. Das Prinzip, das Papageno verkörpert, hat immer existiert, sehr zur Verzweiflung aller religiösen und philosophischen Systeme und Sinnkonstruktionen, insonderheit des deutschen Idealismus. (Was finge Fichte oder gar Hegel mit ihm an  ?) Im »System« der Zauberflöte schließt er sich selbst aus und wird von Sarastro aus seiner Definition der Humanität ausgeschlossen. Auch er verdienet nicht, ein Mensch zu sein. Der quasiabsolute Widerstand des österreichischen Denkens gegen Fichte und Hegel findet seine Erklärung nicht nur in der die Schulen beherrschenden aristotelisch-scholastischen Tradition, sondern auch im Prinzip Papageno, dem die große Geschichte und ihre Akteure verhasst sind wie die Pest, die Hanswurst, das Naturkind, immer überlebt hat. Es scheint mir unbestreitbar, dass man mit dieser Figur an eine für Österreich charakteristische Lebensform rührt. Das Laisser-aller ist seit jeher zusammen mit dem kulinarischen und erotischen Hedonismus als österreichisches Laster empfunden worden. Man hat sogar den satirischen Vorschlag gemacht, den Doppeladler auf der Staatsflagge durch zwei Backhendln zu ersetzen. Und Georg Büchner hat die apolitische Haltung der Österreicher nach 1815 durch eine sehr genaue Allegorie erklärt  : »Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden« (Büchner, 179). (In Wien heißt bis heute ein Schmerbauch »Backhendlfriedhof«.) Hanswurst hat natürlich auch Teil am Mythos von den österreichischen Phäaken, denen schon 1312 vom Arzt Heinrich von Neustadt nachgesagt wurde  : »ungeniertes und lautes Rülpsen und Furzen prägen die Tischsitten.« Unter den Stereotypen über den österreichischen Charakter gibt es ein immer wiederkehrendes Element  : Faktisch werden Österreich und seine Bewohner kaum als mündige, erwachsene und vernünftige Bürger nach Kants Defi234

Der Österreicher Mozart

nition in Was ist Aufklärung  ? behandelt. Einerseits neigt man dazu, Österreich in weiblichen Figuren zu denken  : als Mutter, Verlobte, aber auch Freudenmädchen, andererseits als alte, dem Absterben nahe Figuren. Jugendlicher Elan und Tatendrang scheinen dem Land fremd, wodurch es natürlich leicht zum Objekt des Begehrens oder der Beute des unternehmenden Geistes wird. Die Identifikation mit dem Stadium der Kindheit, was ich das Prinzip Papageno nenne, ist das höchste Stadium einer zweifelhaften Identität  : Pater semper incertus.

5. DER ÖSTERREICHER MOZART Das Werk Memoria Austriae (2004), konzipiert im Geist der ­ ieux de mémoire von Pierre Nora und der Deutschen Erinnerungsorte von L Etienne François und Hagen Schulze, verleiht des ersten Platz im Pantheon der österreichischen Gedächtnisorte Wolfgang Amadeus Mozart, »dem Allzeitweltmeister des österreichischen Selbstbewusstseins« (Memoria, 15). Diese Wahl ist nicht das Resultat der nationalen oder internationalen Aura des Musikers, sondern entstammt einer Umfrage mit »offenem Frageraster ohne Vorgaben« (Memoria, 11), also einer objektiven soziologischen Methode. (In einer Umfrage von 1980 mit vorgeschlagenen Namen lag er noch hinter Johann Strauß und Maria Theresia, die 2004 viermal weniger »Stimmen« erhalten als Mozart, der alle historischen, politischen und künstlerischen Persönlichkeiten des Landes weiter hinter sich lässt. Gewiss, die Fragestellungen von 1980 lauteten  : »Wer ist der bedeutendste Mann für Österreich  ?« und »Wer ist der typischste für den österreichischen Charakter  ?« Zur Wahl standen 15 Namen, 9 Künstler, 6 politische Persönlichkeiten). 2004 lautete die Frage  : »Auf welchen Österreicher sind Sie am meisten stolz  ?« Zu dem überwältigenden Ergebnis dieser Radiographie der öffentlichen Meinung (die natürlich nichts über das wahre Verhältnis der Österreicher zu ihrem Idol aussagt) kommt die Benutzung des Namens Mozart in Österreich. Vor der Einführung des Euro prangte sein Porträt auf den 5000-Schilling-Scheinen, heute ziert er die 1-Euro-Münze. Die Salzburger Festspiele, ursprünglich Mozart-Festspiele, haben zwar ihr Repertoire erweitert, aber im Zentrum steht weiter Mozart. Ein neues »Haus für Mozart« wurde in jüngerer Zeit geschaffen, die Musikhochschule heißt natürlich Mozarteum. Über 300 österreichische Marken oder Firmen berufen sich auf ihn, darunter die weltberühmte Mozartkugel. Die Tourismuswerbung hat sogar einen jugendlichen, motorradfahrenden Mozart angeboten, und die meisten Österreicher sind überzeugt, dass ihre Hymne ein echter Mozart ist. Die einzige öster235

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reichische Schallplattenfirma, inzwischen längst von Polydor verschluckt, hieß Amadeo. In der düsteren Periode (1986–1991), in der im Ausland das Bild Österreichs von den siamesischen Zwillingen Thomas Bernhard–Kurt Waldheim beherrscht wurde, trug der 200. Todestag Mozarts alle Hoffnungen für eine Wandlung des Österreichbildes ins Positive. Die Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Als im Jahre 2000 der Filmproduzent Alexandre Dolgorouky für das französische Staatsfernsehen einen Dokumentarfilm über Jörg Haider mit dem Titel Österreich– die Gedächtnislücken drehte, verwendete er konsequent den 2. Satz der Haffner-Symphonie Mozarts (KV 385) als musikalischen Kontrapunkt zu den alldeutschen und national-sozialistischen Reden. Da ich als Berater für diesen Film tätig war, bekam ich über Internet eine Reihe wütender Reaktionen, die mich der Geschichtsfälschung bezichtigten. Es sei absolut unzulässig, den Namen Mozart für Österreich zu beanspruchen, denn er sei unzweifelhaft Deutscher. Man müsse anerkennen, dass Deutschland ihn seit jeher als einen seiner größten Meister verehrt habe. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei er als Verteidiger echt deutscher Musik gegen die Latinitas angesehen worden. Vor allem  : Er habe sich selbst in Paris als »ehrlicher Deutscher« (Mozart, Briefe I, 129 und II, 368) bezeichnet. Es wäre unehrlich, diese Argumente einfach vom Tisch zu wischen. Aber seit dem 19. Jahrhundert herrschte auch die Überzeugung, dass Mozarts Musik alle nationalen Grenzen sprenge und die vollendetste musikalische Ausdrucksform der menschlichen Universalität darstelle, eine Position, die sich logischerweise mit der Idee des supernationalen Österreich kombinieren ließ. Mozart ist ein einzigartiger Fall im Kampf der nationalen Symbole, denn im Gegensatz zu den meisten Emblemen (Friedrich II., Maria Theresia, das Jahr 1813, die Gegenreformation, die Nationalflaggen, Bismarck, Wagner in der Musik), deren Bedeutung kaum einem Zweifel unterliegen, muss der Musiker Mozart regelrecht ideologischen Operationen und Manipulationen unterworfen werden, um die Rolle eines Lieferanten nationaler Identität spielen zu können. Dazu gehört auch die Verwandlung des »ehrlichen Deutschen« in den größten Österreicher aller Zeiten. Die Fakten  : Mozart ist geboren als Untertan des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dem das Fürsterzbistum Salzburg angehörte. 1756 gibt es weder einen deutschen noch einen österreichischen Nationalstaat. Wien war der Sitz des Kaisers und Königs von Rom, zu dessen zahlreichen Titeln auch der des Erzherzogs von Österreich gehörte. Salzburg gehörte noch nicht zu diesem Österreich. 1803 wurde das Fürsterzbistum säkularisiert, und 1805 wurde das Land dem 1804 gegründeten Kaisertum Österreich einverleibt. Durch den 236

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Willen Napoleons war Mozarts Heimat zwischen 1809 und dem Wiener Kongress ein Bestandteil Bayerns, dem Heimatland von Mozarts Vater. Seit 1816 bis heute ist das Land Salzburg ein integrierender Bestandteil der aufeinanderfolgenden Staatsgebilde mit dem Namen Österreich. Zu sagen, Mozart sei Österreicher, ist also historisch fragwürdig, selbst wenn man bedenkt, dass er seinen Herrn Fürsterzbischof verlassen hatte, um sich in der Hauptstadt des Erzherzogtums Österreich niederzulassen. Doch in diesem Zeitpunkt von einem Österreichbewusstsein zu sprechen, wäre purer Anachronismus. Es waren Vater und Sohn, die sich vor allem in Paris als »ehrliche« Deutsche empfanden. (Der Sohn wurde von seinem Gönner Grimm sogar als zu »treuherzig«, d. h. deutsch empfunden  ; Mozart II, 442.) Sie benützten also eines der geläufigsten Stereotypen, um die Deutschen von den Franzosen abzugrenzen, der die deutsche Literatur von Lessing bis Thomas Mann genährt hat. Doch sind solche Aussagen auch auf Maria Theresia und noch auf Franz Joseph I. anwendbar, die sich selbstverständlich als »deutsche Fürsten« verstanden. Hierin durchaus Mozart vergleichbar hat sich auch Maria Theresia rasch in die nahezu allegorische Verkörperung einer Mater Austriae verwandelt, während ihr Sohn Joseph II., der Vertreter der Aufklärung, die als Importartikel aus Frankreich und Preußen galt, sich im 19. Jahrhundert zur deutschnationalen Ikone wandelte. In den zahlreichen Kriegen um die Deutung der Zauberflöte ist auch die Hypothese erwogen worden, Mozart hätte den Gegensatz zwischen Obskurantismus, sprich Katholizismus, und Aufklärung gestaltet und dabei die Königin der Nacht und den Schwarzen Monostatos als Symbole für Maria Theresia und die Jesuiten, Sarastro dagegen als Doppelgänger des aufgeklärten Josefs II. in Musik gesetzt. Der Mythos von Mozart als höchster symbolischer Ausprägung der österreichischen Idee hat sich – wie nahezu alle anderen nationalen Klischees – aus der angenommenen männlichen Dominanz der Deutschen entwickelt. Der erste, der aus Mozart die Inkarnation der humanitas austriaca gemacht hat, war Grillparzer. Trotz seiner Bewunderung für Beethoven, dem er die Grabrede gehalten hat, hat er sehr früh eine radikale Unterscheidung zwischen der österreichischen Musik Mozarts und dem deutschen Genius Beethoven getroffen. Für ihn bedeutete Bildung das Erlernen und die Aneignung des Vortrefflichen in allen Nationen. Vollendete Bildung wäre damit identisch mit dem Verschwinden der nationalen Unterschiede. Denn der nationalistische Geist sei nichts weiter als das Zeichen von »Rohheit und Isolierung« (Grillparzer 1, 15). Es sind die Fehler, die die Nationalitäten charakterisieren, ihre Vorzüge seien dagegen universell gültig. In diesem Denkschema nimmt Mozart einen herausragenden Platz ein. Grillparzer hat einen musikalischen Kalender der »Schöpfungstage« 237

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(Grillparzer 1, 53) entworfen, der mit Beethoven, dem Vertreter des Chaos (!), beginnt und mit Mozart, dem Menschen (!), endet. Mozart ist der Musiker des Schönen und des Maßes (»niemals zu wenig, niemals zu viel«), während Beethoven die Transgression suche und »Tongeheul und Gebrüll« erzeuge, eine Musik des Rausches, zu deren bösen Folgen für Grillparzer der verhasste Wagner gehört, dessen Musik, die er mit einem »Eisstoß« oder gar dem »russischtürkischen Krieg« vergleicht, ihm »Ohrenweh« bereitet. Grillparzers ironisch gemeintes »Es lebe der Fortschritt  !« (Grillparzer 1, 59) hat seine Früchte getragen. Für die junge Alma Schindler-Mahler war angesichts des Gigantismus Wagners und Mahlers ein Werk wie Mozarts Jupiter-Symphonie altmodisch und langweilig. (Sie hat übrigens ihre Meinung geändert.) Schließlich war es Mahler selbst, der an der Wiener Oper die Mozart-Renaissance inauguriert hat. Nach einer Legende soll sein letztes Wort auf dem Sterbebett »Mozart« gewesen sein. Und sein Schüler Bruno Walter sollte einer der bedeutendsten Mozartinterpreten des 20. Jahrhunderts werden, ein Hüter des Maßes auch in der Ausübung seines Dirigentenberufs. Das »Maß« im Werk Mozarts kann auch als Ausdruck seiner Supranationalität gewertet werden. Für Grillparzer bestand ja der Fortschritt darin, sich das Vortreffliche aus allen Nationen anzueignen. Mozart hat von Kind an gelernt, sich das Beste aus der Folklore seiner Heimat, aus Italien, Frankreich, England und »Deutschland« anzuverwandeln. Doch die wahre Erhebung Mozarts zur Inkarnation des österreichischen Geistes begann während des Ersten Weltkrieges. Er ist in Hofmannsthals Versuchen, die österreichische Idee zu definieren, organisch mit der mariatheresianischen Epoche verbunden. Die Opposition gegen den Wagnerkult mit seiner Wiederbelebung der germanischen Mythologie nimmt in diesem Prozess eine fundamentale Rolle ein. Wie das alte Österreich wird Mozart als europäisches Phänomen erfahren. Mit der wachsenden politischen Bedeutung des Nationalsozialismus und seiner geradezu familiären Bindung an Bayreuth wird Mozart zur deklarierten Antithese Wagners, des Deutschen par excellence. Nach Hitlers Machtübernahme hat Toscanini in polemischer Verve aus den Salzburger Festspielen die absolute Antithese zu Bayreuth gemacht. Nach ihm hat jemand, der in Bayreuth dirigiert – er hatte Furtwängler im Auge – die Legitimität eingebüßt, Mozart in Salzburg zu dirigieren. Der Satiriker Anton Kuh hat Toscaninis »Bayreuth oder Salzburg  ! – beides geht nicht« gegen das Plädoyer des »apollinischen Oberhaupts Deutschlands« (Kuh, 492) gestellt, das den unpolitischen und internationalen Charakter der Musik zur Verteidigung seines Doppeldiensts ins Treffen führte. Kuh, ein glühender Verteidiger der österreichischen Identität, hat konsequent 1935 in der Neuen Weltbühne 238

Der Österreicher Mozart

(Prag–Zürich–Paris) folgendes Bekenntnis abgelegt  : »Österreich ist die Wiege der deutschen Welt. Hier wurde Gut und Böse des mitteleuropäischen Geistes geboren, der Satz und der Gegensatz  ; hier war die Geburtsstätte des Antisemitismus und zugleich des Zionismus  ; des ersten Reiche und des dritten Reichs  ; Hitlers und Mozarts« (Kuh, 325). Doch das eindrucksvollste Zeugnis für die Rolle, die Mozart zugeschrieben wurde, stammt vom französischen Nobelpreisträger François Mauriac anlässlich der Salzburger Festspiele von 1934. Die politische Krise zwischen dem Dritten Reich und Österreich war auf dem Höhepunkt, nationalsozialistische Putschisten hatten am 25. Juli den Bundeskanzler Dollfuß ermordet. Mauriac hörte die Interpretation des d-Moll-Konzerts von Mozart (KV 466) mit Bruno Walter als Dirigent und Solist. Er notierte in einem Essay Die Harfe Davids  : »Bruno Walter, von dessen Seele Mozart an diesem Morgen Besitz ergriffen hatte und dessen verklärtes Gesicht ich während seines Spiels beobachten konnte, ist einer von jenen Männern, die Hitler aus dem Reich verjagt hat. In ihm hat er zugleich jenen verjagt, den der große Künstler an diesem 19. August verkörperte. Darum rufe ich diese Erinnerung herauf, denn Hitlerdeutschland hat heute keinen furchtbareren Feind in der Welt als Wolfgang Amadeus Mozart. Dieses Kind hält den wütenden und stupiden Goliath in Schach, nicht mit einer Schleuder, sondern mit einem Gesang. Die göttliche Musik des kleinen, einfachen, maßvollen, im edelsten Sinn des Wortes geistreichen Mozart erinnert die Österreicher in jedem Augenblick daran, dass sie keine Deutschen sind« (Mauriac 78–80). (Mauriac erinnert sie an ihre Seele, denn »Österreich muss seine Seele« vor dem verführerischen Teufel Hitler retten, den »Menschenfresser« (Mauriac, 77), der nur wenige Kilometer von Salzburg entfernt haust). Dieser Dithyrambus auf Mozart zeigt, dass Mozart auch im Ausland den Status des großen Musikers verlassen hat, um eine mythische, identitätsstiftenden Leitfigur zu werden. Und bis heute beherrschen zwei Mythen gewordene Österreicher die extremen Pole der österreichischen (und deutschen) Erinnerungsorte  : der Dämon der Macht, Hitler, und das göttliche Kind, Mozart, ein neuer Orpheus, dem es gegeben war, die tierischsten Triebe zu bändigen. Es ist also kein Wunder, dass die Österreicher, die sich ihrer nationalen Identität sicher geworden sind, Mozart den obersten Platz in ihrem kulturellen Pantheon zuweisen. Dass ganz andere Wege der Aneignung Mozarts gab als seine Verwandlung in den österreichischen Kulturheros, zeigt eine kleine Dokumentation, die von französischen Freimaurern 1991 unter dem Titel La flûte désenchantée (Die entzauberte Flöte) herausgebracht wurde. Es geht darin um drei ideologische 239

Identitätskonstruktionen

und politische Manipulationen, denen Mozart und seine volkstümlichste Oper unterzogen wurden  : die Festlichkeiten zum 100. Todestag 1891 im Berlin Wilhelms II., die national-sozialistischen Mozartfeiern 1941 im Wien Baldur von Schirachs, schließlich um das Mozartjubiläum zum 200. Geburtstag im OstBerlin Walter Ulbrichts. Jedes Mal erfährt Mozart eine Entstellung, die sich im radikalst denkbaren Gegensatz zum von Grillparzer begründeten österreichischen Mythos befindet. (Und jedes Mal wird parallel dazu der unleugbare Anteil der Freimaurerei an der Zauberflöte totgeschwiegen oder gar offen geleugnet.) Für den Umschlag haben die Herausgeber eine Zeichnung von Toni Ungerer gewählt  : Zwei Geier, der eine mit dem Hakenkreuz, der andere mit Hammer und Sichel im Schnabel, schweben über einem geköpften Papageno. Obwohl die Intention der Autoren die Verteidigung des freimaurerischen Erbes war, hat der Zeichner jene Figur als das eigentliche Opfer der ideologischen Operationen gewählt, die auf der Suche nach einer österreichischen Identität eine Sonderstellung hat. 1891 steht die Zugehörigkeit Mozarts zur deutschen Nation noch außer Frage, und Mozart erscheint in totalem Widerspruch zu seiner Biographie als idealer Untertan, als Modell des Gehorsams vor Gott und der väterlichen Autorität. Als eine Art »Mozart-Deutscher« wird er erhoben zum »vorbildlichen Erzieher der Jugend des deutschen Volkes«. Seine Haupttugend ist die deutsche Tugend par excellence  ; die »Treue« zu Gott, Vater und Herrscher. Von einer ganz anderen Dimension als dieser komische Versuch, Mozart zur Leitfigur preußischer Ordnung zu machen, ist das Unternehmen von 1941, das die erklärte Absicht hatte, einen national-sozialistischen Mozart in die Welt zu setzen, aber auch die absurde Idee, 1956 Mozart als Vorläufer der sozialistischen deutschen Nation zu feiern. Die Dokumentation legt alles Gewicht auf die Verdrängung des freimaurerischen Erbes, aber sie übersieht dabei, dass das eigentliche Ziel der drei Feiern darin bestand, Mozart für drei Varianten der deutschen Identität zu reklamieren. Und in diesem symbolischen Kampf kommt Österreich die Rolle von Papagenos abgeschlagenem Kopf zu. Die komplexe Identitätsproblematik ist den marxistischen Musikwissenschaftlern der ehemaligen DDR durchaus bewusst  : Mozarts Musik habe einen bedeutenden Beitrag zum Erstarken des österreichischen und deutschen Nationalbewusstseins geliefert. Mozart 1956 in Ost-Berlin zu feiern hat als Ziel, »die Zerstörung der nationalen Identität« zu bekämpfen, denn Mozarts Musik stärke »heute in uns unseren Kampf für einen neuen Humanismus und unser Nationalbewusstsein«. Um diese Aussage zu verstehen, muss man daran erinnern, dass sich die DDR als »sozialistische deutsche Nation« im Gegensatz zur vom amerikanischen Kul240

Der Österreicher Mozart

turimperialismus korrumpierten Bundesrepublik verstehen wollte. So war es möglich, dass Mozart dieselbe Rolle für Österreich und die DDR spielen konnte, denn er war Teil des klassischen humanistischen Erbes, das die DDR bewahrte und die Bundesrepublik verschleuderte. Die Konstruktion der sozialistischen deutschen Nation mit Mozart als Leitfigur ist verschwunden, damit übrigens auch jeder Versuch, eine Parallele zwischen der Nationswerdung Österreichs und der DDR zu ziehen. Die Bundesrepublik hat sich in Sachen Mozart immer zurückhaltend gezeigt, nur hin und wieder hat die BILD-Zeitung Anspruch auf ihn erhoben. Für Österreich von ungleich größerer Bedeutung als die ideologische Kuriosität von 1956 war der Versuch von 1941, Mozart zum Idol des Dritten Reichs zu erheben. Das war das erklärte Ziel der vom Reichsstatthalter Baldur von Schirach und Propagandaminister Goebbels organisierten Großveranstaltung in Wien, nach Goebbels eigenen Worten »die größte musikalische Huldigung, die je einem Genius ehrend dargebracht wurde«, »einem der größten Einiger aller Nationen und Menschen, die die Welt je hervorgebracht hat«. In der Tat wurde alles, was gut und teuer war, aufgeboten. Selbst in ihren Sternstunden konnten die Salzburger Festspiele nicht mit einem so prestigegeladenen Programm aufwarten. Um den »alldeutschen« Charakter Mozarts zu unterstreichen, wurden Inszenierungen aus München (Cosi fan tutte) und Berlin (Die Zauberflöte) neben den Produktionen der Wiener Oper gezeigt. Selbstverständlich wurden die italienischen Opern auf Deutsch gesungen. Dass Die Zauberflöte aus Berlin kam, war sicher Kalkül. Die Inszenierung stammte von Gustav Gründgens, dem »Mephisto« des Romans von Klaus Mann. Von den großen Opern war La clemenza di Tito ausgeschlossen, die Festoper zur Prager Krönung Kaiser Leopolds II., denn das darin enthaltene Herrscherlob galt Hitlers verhasster Dynastie. Die Riege der Dirigenten ist eindrucksvoll  : Clemens Krauss, Karl Böhm, Hans Knappertsbusch und Richard Strauss, der seine Version des Idomeneo leitete. Als Schlusskonzert der Mozartwoche dirigierte Wilhelm Furtwängler das Requiem. Bei der feierlichen Eröffnung, die von der Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachters auf der ersten Seite in dicken roten Lettern angekündigt wurde, verkündigte Baldur von Schirach die Mission, die von nun an Mozart im nationalen Selbstbewusstsein zufiel. (Sie wurde vom Völkischen Beobachter zur Gänze abgedruckt und 1943 von der Gesellschaft der Bibliophilen zu Weimar veröffentlicht.)25 Nach einer Glorifikation des schöpferischen deutschen Genies und der Verachtung der »geistigen Unfruchtbarkeit« aller Gegner Deutschlands, insbesondere der angelsächsischen Welt und Russlands, die der »kulturellen 241

Identitätskonstruktionen

Sterilität« und »Unfruchtbarkeit des Geistes« bezichtigt wurden, schrieb von Schirach der Zauberflöte eine recht ungewöhnliche Funktion zu. »Die bewussten Nationen des europäischen Kontinents [sprich die Verbündeten des Dritten Reichs, G. S.] bestehen die Probe dieses Krieges gegen den Geist, der stets verneint, nicht zuletzt darum mit Standhaftigkeit und gläubigem Vertrauen, weil uns von Kindheit an ein Sinnbild gegeben wurde, das in allen Stunden der Bedrängnis unsere Augen und Ohren märchenhaft erfüllt. Die Klänge der Zauberflöte dringen unablässig in unsere Seelen. Keine Feuerprobe, die wir nicht bestehen würden, da solche magische Macht uns stärkt  !« (Schirach, 8). Um diese Vergewaltigung der Zauberflöte möglich zu machen, musste sie von dem Verdacht gereinigt werden, den Vorschriften »kulturreaktionärer Spießbürger« zu entsprechen, zum Beispiel in ihr eine Freimaurer-Oper zu sehen. Die hohe Kunst der Nation (insonderheit Mozart und Goethe, deren Mitgliedschaft bei der Freimaurerei nicht geleugnet werden konnte) musste also gegen die anti-nationale Betrügerei der Freimaurer geschützt werden. »Die große Kunst der Nation hat den Anspruch auf nationalen Denkmalschutz« (11). Hermann Bahr hatte 1914 die deutsche Kriegsführung mit einer Wagnerpartitur verglichen und Bach und Beethoven zu Erfüllungsgehilfen des deutschen Kriegsgotts ernannt. Mozart aber hat er von dieser Sphäre ferngehalten. Doch nach von Schirach haben die Soldaten den magischen Zauberbann der Zauberflöte im Tornister. »So besteht für uns gar kein Widerspruch zwischen der Tat der grauen Helden, die in der grimmigen Kälte des Ostens als Soldaten des tapfersten Heeres dieser Erde ihren Auftrag ausführen und uns, die wir in der durch die Tapferen gesicherten Heimat das Lebenswerk, oder besser, das Werk des ewigen Lebens, aufführen, das mit dem Begriff Wolfgang Amadeus verbunden ist. Auch dies ist eine Feier der Front, mehr als ein festliches Ereignis des Theaters und Konzertsaales  ! Wenn wir Mozarts gedenken, bekennen wir uns zum Wesen unserer Kunst. Im Kriege aber bedeutet die Beschwörung seines Geistes eine Handlung im Sinne der kämpfenden Soldaten. Denn wer für Deutschland das Schwert zieht, der zieht es auch für ihn  !« Ein Weltkrieg für Mozart im Namen Mozarts also. Denn  : »Der deutsche Soldat kämpft nicht für Kattun und Aktienpakete  ; […] Sein Einsatz gilt einer Heimat, deren herrlichste Schöpfung dennoch den Himmel berührt.« Diese Militarisierung des Komponisten, der Militärmärsche in seinem Werk (in Cosi fan tutte und im Figaro) vor allem parodistisch verwendete, gipfelt in der Mission, die von Schirach dem Requiem zuweist  : »Das Requiem, das am 5. Dezember erklingen wird, wird uns darum nicht nur die Trauer um den irdischen Tod Mozarts bedeuten, 242

Der Österreicher Mozart

jeder Gefallene auch dieses Krieges wird in ihm beklagt. Aber wie das Requiem nach 150 Jahren weniger den Tod kündet als die Unsterblichkeit, so auch den Lieben, die auf dem Feld blieben. Sie leben in allen Klängen, wie in allen Taten. […] Nie war Mozart lebendiger als heute« (8–9).Doch die Rede hatte nicht nur den Zweck, Mozart für den geistigen Kriegsdienst einzuberufen, von Schirach lag auch daran, das Deutsche Reich als Bollwerk der abendländischen Kultur zu präsentieren und gleichzeitig die »alte Reichsstadt« Wien als »Hauptstadt der deutschen Musik« aufzuwerten, wobei natürlich das Wort »Österreich« bewusst vermieden wurde. Der »unaufhaltsame künstlerische Wiederaufstieg Wiens« (Schirach, 5), verkörpert in den Mozart-Feiern, kristallisierte sich nach von Schirach in den Wiener Philharmonikern, deren 100. Geburtstag 1942 bevorstand. Der Reichsstatthalter wagte sogar die Behauptung, sie seien aufgrund ihrer »schöpferischen Wiedergabe« das »erste Orchester der Welt«. Die Wiener Philharmoniker über das »Reichsorchester« (die Berliner Philharmoniker) zu stellen, gehörte zu den gewagten Versuchen des Reichsstatthalters, die Herzen der Wiener zu gewinnen. Von Schirach betont auch Mozarts Europäertum  : »Wir Europäer haben in unserer Kunst den Ausdruck unseres Glaubens an die Unsterblichkeit geschaffen. Und es ist unser Stolz als Deutsche, dass wir neben den Baumeistern der Akropolis, neben Homer und Praxiteles, neben Michelangelo, Dante, Rembrandt und den anderen großen Namen, die aus dem Brüdervölkern unseres Kontinents herausgewachsen sind, mit der Fülle der schöpferischen Geister unseres Blutes in Ehren bestehen können.« Das bedeutet eine kulturelle Jahrtausende übergreifende Achse Griechenland, Rom (vertreten durch Italien) und Germania, aus der der »sterile« Engländer Shakespeare ausgeschlossen ist. Die Rede schließt so  : »Heute erklingt hier ein Name, aber er spricht für Deutschland und bedeutet ein Glück für die ganze Welt  : Wolfgang Amadeus Mozart. Zu seinem Gedächtnis haben wir uns versammelt. In seinem Zeichen rufen wir die Jugend Europas zum Krieg für ihre Kunst.« Das Mozartfest zu Wien war ein gekonnter Akt internationaler kulturpolitischer Propaganda ohne die geringste Rücksicht auf die historische und künstlerische Wahrheit. 1942 produzierte die Wien-Film den Mozart-Film Wen die Götter lieben. Ausgenommen die Szene einer fiktiven Begegnung des jungen Beethoven mit dem kränkelnden und geschwächten Mozart, die man als Zukunftsvision deuten könnte (Beethoven wird Wien erobern), ist der Film frei von jeder nationalsozialistischen Propaganda. Im Gegenteil legt er den größten Wert aufs Lokalkolorit, zum Beispiel in der dialektgetönten Sprechweise der Schauspieler des Burgtheaters. Der Regisseur von 1942, Karl Hartl, hat übrigens 1955, diesmal zum 200. Geburtstag und nebenbei zur wiedergewonnenen Unabhängigkeit, 243

Identitätskonstruktionen

den Mozart-Film Reich mir die Hand mein Leben produziert, einen Gipfel kitschiger Österreichverklärung, der sich mit den Sissi-Filmen messen kann, aber sichtlich auch Spuren in Milan Formans Amadeus hinterlassen hat. In beiden Filmen steht Die Zauberflöte im Mittelpunkt, und selbst 1942 hat sie nicht das Geringste mit dem Geist zu tun, den von Schirach ihr angedichtet hatte. Freilich ist der freimaurerische Aspekt verdrängt, aber zugunsten des »Prinzips Papageno« und der universalen Botschaft von Liebe und Freundschaft. Die absurde Rolle, die von Schirach der Zauberflöte reserviert hatte, entspricht übrigens voll seinem Schweigen über Mozarts andere Werke mit Ausnahme des Requiems, dem dieselbe Funktion wie Ich hatt’ einen Kameraden zugemessen wurde. Was lässt sich aber mit Le nozze di Figaro, Don Giovanni oder gar Cosi fan tutte im Dritten Reich anfangen  ? Ganz zu schweigen von La clemenza di Tito. Doch selbst die Zauberflöte lieferte nur spärliche Argumente für ihre Verwendung als Propagandainstrument des Nationalsozialismus. Das zentrale Argument, nämlich Mozarts Entschluss, eine große Oper in deutscher Sprache zu schreiben, war aufgrund der »europäischen« Linie der Rede unbrauchbar. Die Zauberflöte war keineswegs Mozarts erste deutsche Oper, denn schon 1782 hatte er in kaiserlichem Auftrag Die Entführung aus dem Serail für das Hoftheater komponiert. Goethe, der sich damals an der Gründung eines deutschen Singspiels versuchte, streckte sofort die Waffen vor Mozart  : »Die Entführung aus dem Serail schlug alles nieder  !« Neu ist im Jahre 1791 der Ort, für den Mozart schrieb. Es war ein Vorstadttheater (»Auf der Wieden«), ein kommerzielles »Volkstheater« also. Die Zauberflöte war aber keine Ausnahme von der theatralischen Praxis dieses Theaters, sondern entsprach der Routine, für die folgendes Beispiel besonders aufschlussreich ist  : 1790 führte Direktor Schikaneder, der Librettist der Zauberflöte, eine Oper mit dem Titel Die Zauberinsel oder Der Stein der Weisen auf, die strukturell durch und durch der Handlung der Zauberflöte entsprach. Das Besondere an diesem Werk ist aber der Umstand, dass es sich um eine kollektive Arbeit handelte, an der fünf »Haus«-Komponisten beteiligt waren  : Henneberg, Schack, Gerl, Schikaneder und … Mozart. Alle waren sie eng mit der Uraufführung der Zauberflöte verbunden  : Schikaneder als Librettist und Sänger des Papageno, Henneberg als Dirigent, Schack und Gerl als Sänger (Tamino und Sarastro). Die einzige musikalische Nummer dieser hybriden Durchschnittsware, die überlebt hat, ist ein komisches Duett Mozarts (KV 592a), das die Konstellation Papageno–Papagena vorwegnahm. Man kommt nicht um die Feststellung herum, dass Die Zauberflöte das Produkt einer spezifisch wienerischen Tradition ist, die von Mozart nicht zuletzt durch die Einführung einer kräftigen Dosis freimaurerischer Botschaften geadelt wurde. Ihm selbst lag viel an beiden Welten 244

Der Österreicher Mozart

seines Werkes. In einem seiner letzten Briefe beklagte er sich über das Verhalten eines Zuschauers, der die Szenen mit Sarastro nicht ernstnahm. Er bezeichnet ihn als Papageno, wohl wissend, wie sehr er selbst auch dieser Papageno war. Für mich ist der einzigartige Rang der Zauberflöte als in der ganzen Welt anerkanntes Kunstwerk weder im Prinzip Papageno noch in der freimaurerischen Doktrin (von der französische Musikologie gerne übertrieben) begründet. Ihr musikalisches Herz hat gar nichts mit der Rhetorik Sarastros zu tun, die ein gerütteltes Maß an Misogynie und ideologischer Starre enthält. Im Gegenteil  : Im Finale des zweiten Akts wird Pamina den Prinzen Tamino durch die bedrohlichen Prüfungen »führen«, und Mozart behandelt dabei konsequent die männliche und die weibliche Stimme absolut gleich. Das »neue Paar« beruht auf einer völlig anderen Basis als die überreizte Gegnerschaft zwischen Sarastro und der Königin der Nacht. Diese beiden Figuren drücken sich in den extremsten Lagen ihrer Stimmregister aus, während Pamina und Tamino (aber auch Pamina und Papageno) sich gewissermaßen in der Mitte, in jenem menschlichen Maß, bewegen, das Grillparzer als den größten Vorzug Mozarts (und indirekt Öster­ reichs) zu sehen meinte. Maßlosigkeit ist hier fremd. Um diese »Botschaft« Mozarts in ihrer vollen Tragweite zu begreifen, muss man zum Vergleich ein anderes Monument der österreichischen Musik heranziehen  : Haydns Schöpfung aus dem Jahre 1798. Das Duett zwischen Adam und Eva ist ohne Die Zauberflöte schwer vorstellbar. Doch Haydn bleibt ein Gefangener des biblischen Mythos und der katholischen Tradition, aber auch der Lehren Sarastros, er vollzieht eine »Zurücknahme« der Zauberflöte und annulliert die Utopie des »neuen Paars«. In der Schöpfung ist die Frau aus dem Mann geschaffen, um ihm zu dienen. Adam betont zweimal »Ich leite dich …«, »Komm, folge mir, ich leite dich«, Eva antwortet  : »O du, für den ich ward,/Mein Schirm, mein Schild, mein All  !/Dein Will’ ist mir Gesetz./So hat’s der Herr bestimmt./Und dir gehorchen bringt/Mir Freude, Glück und Ruhm.« Damit nicht genug  : In Haydns Text nimmt der Erzengel Uriel, der Engel des »Lichts«, am Schluss auch das Ideal der Aufklärung zurück  : »O glücklich Paar, und glücklich immerfort, wenn falscher Wahn euch nicht verführt, noch mehr zu wünschen als ihr habt, und mehr zu wissen als ihr sollt  !« Das »Eritis sicut Deus scientes bonum et malum« liegt als teuflische Verführung und Drohung über dem »glücklichen Paar«. Haydns Schöpfung besang also sieben Jahre nach Mozarts Tod die Rückkehr zum Geist der katholischen Gegenreformation, den Mozart in der Musik hinter sich gelassen zu haben glaubte. Die erste große deutsche Oper, deren Nachklänge bis zu Wagners Parsifal vernehmbar sind, ist ein paradoxales Werk. Sie ist nicht dem damals vom Kai245

Identitätskonstruktionen

serhof geförderten Geist des deutschen Nationaltheaters entsprungen, diesem Tempel hochklassischer Kultur, sondern dem Volkstheater, das Gegenstand der bösesten Herabwürdigung durch die Vertreter künstlerischer, sprachlicher und geschmacklicher »Reinheit« war. Die erste deutsche Oper, Mozarts universellstes Werk, ist zugleich, um mit Mauriac völlig anachronistisch zu reden, die Musik gewordene österreichische »Seele«. Ingmar Bergman hat in seiner Verfilmung der Zauberflöte den universalen Charakter von Mozarts Botschaft durch zwei Bilder unterstrichen  : die Gegenwart eines von der Musik bezauberten Kindes und eines Publikums, in dem alle Lebensalter und Völker gemischt waren. Die Zauberflöte kombiniert den Mythos des Orpheus von der Allmacht der Musik mit einem Evangelium des menschlichen Eros  : Das Beinahe-Tier Papageno und die Prinzessin Pamina, die in der rauen Wirklichkeit alles trennen würde, singen gemeinsam »Mann und Weib, und Weib und Mann, / reichen an die Gottheit an«. Die Melodie dieses Duetts hat die Einfachheit eines Volkslieds. Ich muss gestehen, dass dieser Mythos verführerisch ist, und ich lasse mich dazu verführen, in Mozarts Oper den schönsten österreichischen Gedächtnisort zu sehen. Sogar er hatte sieben Jahre lang im ihm fremdesten Dienst gestanden.

6. GIBT ES EINE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR  ? Bei der Ausbildung des deutschen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert haben die Philologie und die Literaturgeschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Mit einer beträchtlichen Verspätung auf Frankreich haben die Brüder Grimm mit der Ausarbeitung eines Deutschen Wörterbuchs begonnen, das erst in den 1960er Jahren von der Akademie der Ex-DDR fertiggestellt wurde. Die Philologie und Literaturgeschichtsschreibung im Deutschland des 19. Jahrhunderts hatten zwei Brennpunkte  : das Mittelalter und die klassisch-romantische Epoche, auch Goethe-Zeit genannt. Das Nibelungenlied erhielt den Status eines Nationalepos, die Weimarer Dioskuren wurden zu nationalen Schutzgottheiten erhoben. Die Funktion der Literatur als Instrument des Nationalbewusstseins manifestierte sich mächtig in den Feiern von 1859 zu Schillers 100. Geburtstag. Der Unabhängigkeitskampf der Schweizer in Wilhelm Tell war längst zu einem Symbol des Kampfes um die deutsche Freiheit und Einheit geworden. Wir haben gesehen, wie der RütliSchwur von Friedrich Ebert vor der Weimarer Konstituante »erneuert« und 246

Gibt es eine österreichische Literatur  ?

damit direkt mit der Anschlussfrage gekoppelt wurde. 1859 wurden überall in den Ländern des Deutschen Bundes Schiller-Eichen gepflanzt, Symbole der kulturellen Einheit, die nach 1870 den Bismarck-Eichen weichen sollten, die weniger nationale Kultur als nationale Macht repräsentierten. (Auch die Gründung der »Libertas«, der ersten österreichische Burschenschaft, im Jahre 1860, war eine direkte Folge der Schillerfeiern). Im deutschen Symbolhaushalt besetzt der Wald, vor allem aber die Eiche, und in geringerem Masse die Tanne eine bedeutsame Stelle unter den Erinnerungsorten, deren Wirkung auf das Identitätsbewusstsein unleugbar ist. Deutschland ist das einzige Land, das dem Wald und bestimmten seiner Bäume den Status der Nationalität zuerkennt  : Wald, Eiche und Tanne sind deutsch. Keine andere Nation trug solche Trauer wegen des gefürchteten »Waldsterbens« der 1980er Jahre als die deutsche. Elias Canetti hat im Wald das »Massensymbol der Deutschen« gesehen. Das Kommersbuch, dieses Messbuch des deutschen Nationalgefühls, enthält eine Reihe von Gedichten auf Wald und Bäume, darunter programmatisch als Nummer 1 (!) Die Eichen von Theodor Körner aus dem Jahr 1810. Die Eiche symbolisiert die Nation und ihre wichtigste Tugend, die »alte deutsche Treue«, im Kampf gegen den »Fremden«, d. h. Frankreich. Die Herausgeber des Kommersbuches scheuten in dieser Sache nicht vor Manipulationen an Texten zurück. So wurde in dem berühmten, von Mendelssohn vertonten Gedicht Eichendorffs Der Jäger Abschied (1813) der Refrain der letzten Strophe »Schirm dich Gott, du schöner Wald  !« in »Schirm dich Gott, du deutscher Wald  !« verwandelt. Es handelte sich allerdings dabei um keine Vergewaltigung des Gedichts, denn von diesem Wald, der eine Art Naturheiligtum darstellt, sagt der Dichter selbst, er sei »ein deutsch Panier, das rauschend wallt«, und die Jäger geloben, dass sie auch »draußen« »ewig bleiben treu die Alten«. Trotzdem ist die Verwandlung von »schön« in »deutsch« ein Detail, in dem der nationale Gott sitzt.26 Österreich verfügt über keinen mythologisierten Wald, und als Baum könnte es im besten Fall Schuberts melancholischen Lindenbaum namhaft machen. Die deutsche Romantik, die zu dieser Waldmythologie nicht nur die »Waldeinsamkeit« beigetragen hat, war ein mächtiger Träger des Nationalgefühls. Öster­reich kennt dagegen so gut wie keine Romantik – es ist bestenfalls Gegenstand katholisch-romantischer Vergangenheitsträume. An den Universitäten installierte sich die deutsche Philologie als mächtige Maschine des Nationalbewusstseins. Die ersten deutschen Literaturgeschichten sind geprägt vom Willen, an der Bildung der Nation mitzuwirken, und sie haben für die österreichische intellektuelle und literarische Produktion Verachtung oder gar Totschweigen übrig. Die Idee einer »österreichischen Literaturgeschichte« stößt im 19. Jahr247

Identitätskonstruktionen

hundert logischerweise auf die Existenz der Vielsprachigkeit des Staates. Die Frage der Nation spiegelt sich unmittelbar in der Frage der Definition des »literarischen Feldes« Österreich. Es gibt keine »österreichische Literatur«, sondern ungarische, tschechische und eben deutsche Literatur. Diese deutsche Literatur in Österreich kann je nach der gewählten Perspektive als integrierender Bestandteil des deutschen literarischen Feldes angesehen werden oder als ein autonomes deutschsprachiges österreichisches Literaturfeld. Diese Option besteht im Grunde erst seit den 1970er Jahren und der systematischen Gründung von Lehrstühlen für österreichische Literatur an den österreichischen Universitäten, also der Institutionalisierung des Faches »Austriazistik«. Die gezielte Außenkulturpolitik der Republik hat zur Folge gehabt, dass auch im Ausland, namentlich in Frankreich, Italien, Großbritannien, Polen und den USA Österreichstudien an den Universitäten eingerichtet und spezifische Publikationsorgane gegründet und subventioniert wurden. In den maßgeblichen deutschen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts ist die Literatur aus Österreich der arme Vetter, jedenfalls ist sie kaum an der Kanonbildung in Deutschland beteiligt. Im Jahre 1849 – das Trauma der Revolution von 1848, in der das Überleben der Monarchie auf dem Spiel stand, war noch lebendig – reagierte Franz Grillparzer äußerst gereizt auf Georg Gervinus’ Geschichte der poetischen NationalLiteratur der Deutschen, das Standardwerk der Epoche, in dem der Primat des Politischen (= des Nationalen) vor dem Ästhetischen verkündet worden war  : »Die ganze Poesie wäre also nichts als eine Vorschule für die politische Freiheit und Goethe und Schiller nur die bornierten Vorläufer der Herren Gervinus und Dahlmann und sonstiger volkstümlicher radikaler Lumpe« (Grillparzer III, 713). Grillparzer hatte ein hochentwickeltes Sensorium für die Verwüstungen, die der triumphierende Nationalismus anzurichten imstande war. Er macht die Deutschen dafür verantwortlich  : »Ich nehme jedermann zum Zeugen, ob nicht die Deutschen, als nach den Befreiungskriegen sich ein maßloser politischer Eigendünkel ihrer bemächtigt hatte, zuerst das Wort Nationalität in die Welt geschleudert haben« (Grillparzer III, 916). Sein Aphorismus über den Gang der neueren Geschichte kann nicht oft genug ins Gedächtnis gerufen werden  : »Der Weg der neueren Bildung geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität« (Grillparzer 1, 14). Er ist aber auch ein Musterbeispiel für den Minderwertigkeitskomplex, den die geistige Welt Österreichs gegenüber Preußen-Deutschland empfindet. Seinen zur Selbstverachtung neigenden Freunden, die die kulturelle Zurückgebliebenheit Österreichs beklagten, antwortete er mit Goethes Götz-Zitat (Grillparzer III, 1040). Der kulturellen und wissenschaftlichen Überlegenheit des »Auslands« (= Deutschland) stellte er, stolz 248

Gibt es eine österreichische Literatur  ?

darauf, Österreicher zu sein, schon 1837 folgende Eigenschaften gegenüber  : hüben »Bescheidenheit, gesunder Menschenverstand und wahres Gefühl«, drüben »scharfsinnige Spekulationen«, Neigung zum »Abstractum«, »willkürliches Gedankending« statt Anerkennung der Realität. ([Worin unterscheiden sich die österreichischen Dichter von den übrigen  ?]) (Grillparzer III, 810–811). Seine Abneigung gegen die deutschen Romantiker kennt kaum Grenzen. Doch Grillparzer weiß, dass das nicht ausreicht, er ist dem Bewusstsein des Ungenügens und der Passivität ausgeliefert, das er als »Halbheit«27 bezeichnet. Er vergleicht sich selbst dem Halbmond und legt dem künftigen Kaiser Mathias in seiner Geschichtstragödie Ein Bruderzwist in Habsburg die Worte in den Mund, die das österreichische Dilemma nahezu sprichwörtlich zusammenfassen  : »Das ist der Fluch von unserm edlen Haus, / Auf halbem Wege und zu halber Tat / Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben. / Ja oder nein, hier ist kein Mittelweg.« Diese Unfähigkeit, zu handeln und Entscheidungen zu treffen, ist fundamental anti-faustisch, und Faust gehörte zu den bedeutungsvollsten Figuren nationaler Identifikation, nicht zuletzt durch seine eigenmächtige Übersetzung des biblischen »Im Anfang war das Wort« ins »Im Anfang war die Tat  !«, die edle Devise, die sich ins verhasste MW verwandeln sollte. Unfähigkeit zu handeln, ja zu reden, wird schon von Grillparzer zu einer Eigenschaft des Österreichers erklärt. Der Österreicher lässt nicht nur den Anderen handeln, er überlässt ihm sogar das Wort  : »[Der Österreicher] denkt sich sein Teil und lässt die andern reden« heißt es in der »Lobrede« auf Österreich in König Ottokars Glück und Ende. Die Kritik an der Sprache, ein Ungenügen an ihr, die eine generalisierte Unsicherheit erzeugt, die Idee, dass kein Verlass auf die Sprache sei, schlägt sich in der österreichischen Literatur, Psychologie und Philosophie der ausgehenden Monarchie nieder. Davon zeugen Hofmannsthal, Freuds Psychoanalyse, Mauthner und Wittgenstein. Eine Ungewissheit über die eigene Identität greift um sich. Auf Grillparzers Bekenntnis der eigenen Schwäche antwortet zu seinem 80. Geburtstag 1871 und bei seinem Tod 1872 Ferdinand Kürnberger (1821–1879), eine bedeutende kritische Potenz, die wie viele seiner Zeitgenossen bereits für den »Anderen« (sprich Bismarck) optiert hatte. (Er war unter anderem Generalsekretär der deutschen Schiller-Stiftung, Sitz Wien.) Diese Wahl war nicht zuletzt motiviert durch den liberalen Antiklerikalismus (der dem Josephiner Grillparzer auch nicht fremd war). Kürnberger sieht Österreich von einer Invasion durch »ultramontane Fliegenschwärme« (Kürnberger 2, 63) und »das Unkraut der wühlenden Verdummungspresse« (Kürnberger 2, 92) bedroht. Seine Sprach- und Pressekritik nimmt Kraus oft vorweg, der ihn hoch geschätzt hat. Er verlangt eine »konfessionslose Schule« als einziges Mittel 249

Identitätskonstruktionen

der »Geistesentsumpfung« (Kürnberger 2, 92). Ziel der Schule sei »Unterricht«, also Wissensvermittlung, und nicht »Erziehung« auf religiöser Basis. Die Erziehung sei Sache der Familie und des »Nationalgeists im Vaterlande« (Kürnberger 2, 93). Dieses schulische Ideal sei in Preußen verwirklicht. Kürnberger sieht in Grillparzer den »weichen, passiven Österreicher« und behauptet  : »Zur Psychologie Österreichs ist die Biographie Grillparzers unentbehrlich« (Kürnberger 1, 298). Denn  : »In der literarischen Culturgeschichte bedeutet er die Scheidung Oesterreich’s von Deutschland« (Kürnberger 1, 284). Grillparzer habe nicht den Mut zu sich selbst gehabt. Wie sieht das Psychogramm Österreichs nach Kürnberger aus  ? Im Essay »Oesterreich’s Grillparzer« von 1871 ist der Ton mit dem Satz gegeben  : »Grillparzer war in jedem Sinne berufen, ein großer deutscher zu werden. Er wurde nur Oesterreich’s Grillparzer« (Kürnberger 1, 284). Er war Österreicher durch seine »Abwendung von der Zeit«. Sein persönliches Schicksal ist eng mit der Geschichte Österreichs verknüpft  : »Was nun Grillparzer’s Vaterland, was die Geschichte Oesterreich’s betrifft, so nahm sie unaufhaltsam den Gang des Scheins. Man schämte sich, russisch zu sein, man hasste es, deutsch zu sein. Einzige Auskunft – überhaupt nicht zu sein, sondern zu scheinen« (Kürnberger 1, 285). Diese Scheinexistenz wird beispielhaft von den kaiserlichen »Hofräthen« geführt. Und Grillparzer, der berufen war, Österreichs Moses zu sein, dem sein Land zugerufen hatte »Oesterreich wartet auf dich  !« (Kürnberger 1, 297), hat sein eigentliches Sein, das eines Josephiners und Revolutionärs, gegen eine Nichtexistenz als »Hofrath Moses« eingetauscht. »Grillparzer’s Lebensmaske« betitelte Kürnberger seinen Nekrolog, in dem der gefeierte Dichter, der seine Berufung zum österreichischen Moses verfehlt hatte, »als ein alter loyaler Hofrath des Pharao« erscheint (Kürnberger 1, 294). Noch radikaler äußert sich Kürnberger über das österreichische Scheinwesen in dem Essay »Der Reclamewolf in der Schafhürde«, in dem er den österreichischen Charakter als »erzundeutsch« (Kürnberger 1, 329) bezeichnet. Einem Deutschen legt er die Wahrheit über die sprichwörtliche »Gemüthlichkeit« in den Mund  : »Gemüthlich nennt ihr das  ? Feig ist es, schlaff, schlotterig, waschlappig, mattherzig, schwachmüthig etc. Alles Fladen, nichts Stahl und Stein  ! […] Euer ewiges Bedürfnis, liebenswürdig zu sein […] und von Freundlichkeit, Nachgiebigkeit, Gefälligkeit, Wohldienerei und Lieb-Kinderwesen zu überfließen, das ist der slavische Blutstropfen in euch, die Buhlerei, die wollüstelnde Sinnlichkeit, das Weibertemperament, die Weiberschwachheit, und Weiberweichheit. Ein weibisches Volk seid ihr, kein männliches. Nennt euch nicht deutsch  !« (Kürnberger 1, 322–323). Die Quintessenz aller Negativität liefert ihm Friedrich Schlögls Wie250

Gibt es eine österreichische Literatur  ?

ner Blut  : »Unser Schauplatz im Wiener Blut ist die Zone süddeutscher Laxheit, multiplicirt mit slawischer Liederlichkeit und zum Quadrat erhoben durch geistliche und weltliche Missregierung hundertjähriger Dalai-Lama-Absolutie« (Kürnberger 1, 279). Und Grillparzer ist mitschuldig an diesem Elend, das zur »Scheidung Oesterreich’s von Deutschland« geführt hat. Denn  : »Es war möglich, Oesterreich aus dem Kulturgarten Deutschlands heraus in die Steppen ›Kleinrusslands‹ zu führen.« In dieser Lawine antiösterreichischer Stereotype ist besonders interessant die Figur des »Hofraths«, die auch Engels als die einzigen wahren Österreicher angesehen und die Joseph Roth in seinem Bezirkshauptmann Trotta verklärt hatte. Grillparzer, in deinem Lager ist Österreich  ? Diese negativen Vorurteile haben einen einzigen gemeinsamen Nenner  : Der Deutschösterreicher, der im Kommersbuch noch als »Deutscher Stamm in Habsburgs Landen, deutschen Volkes mächtger Arm« gerühmt worden war, wird zum Antipoden des Deutschen. Die Selbstkritik der österreichischen Schriftsteller, die Friedrich Torberg 1957 im Sammelwerk Spectrum Austriae als Selbstgericht in der österreichischen Literatur beschrieben hat, beschränkt sich nicht auf das untergegangene »Kakanien«, sie ist allgegenwärtig während der Ersten Republik und wird in der Zweiten Republik zu einer regelrechten Warenmarke. Doch wenn bis 1938 das zentrale Thema die Identifikation mit oder die Absonderung von Deutschland war, nehmen die Selbstanwürfe in der Zweiten Republik seit dem Staatsvertrag einen inner-österreichischen Charakter an, der vom schlechten Gewissen über die verdrängte Vergangenheit beherrscht wird. Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Robert Menasse, Josef Winkler und eine Schar im Ausland weniger bekannter Autoren sind zu rückwärtsgewandten Propheten des Unheils geworden. Der Essay Torbergs, mit Hans Weigel einer der wenigen aus dem Exil (im Gepäck der amerikanischen Armee) heimgekehrten jüdischen Autoren, ist die Bilanz eines Mannes, der voll und ganz die österreichische Identität bejaht. Kurz zuvor hatte Hermann Broch, der nicht mehr zurückkehrte, in den USA seinen Essay Hofmannsthal und seine Zeit abgefasst, der aufgrund seiner soziologischen, massenpsychologischen und philosophischen Prämissen die Epoche Hofmannsthals einer strengen Prüfung unterzog, die in mancher Hinsicht der brutalen Philippika Kürnbergers ähnelt. Sein Begriff der »fröhlichen Apokalypse« ist sprichwörtlich geworden für die Charakterisierung des »Wertverlusts« und des nihilistischen Hedonismus der Zeit. Brochs Auftrag lautete »Hofmannsthal und seine Zeit«, doch seine Sympathie galt dem »Erzsatiriker«, der der »Zeit« die Antwort erteilt hatte. Man kann dem Erzsatiriker manches vorwerfen, nur eines nicht  : Auf ihn ist keines der von Grillparzer und 251

Identitätskonstruktionen

von Kürnberger für Grillparzer gebrauchten Klischees anwendbar  : Er ist mutig, sein Wort ist mannhaft (ja mörderisch), er ist die verkörperte Wahrheit (»Weißer Hohepriester der Wahrheit« nannte ihn Trakl), er ist ein neuer Moses, ein »Gesetz, das glühte« (so Elias Canetti). Er ist der Meister der internen Kritik. Und als die Existenz des Staates, den er wie keiner kritisiert hatte, in Gefahr war, hatte er nicht gezögert, ihn als Patriot gegen seine früheren Freunde zu verteidigen, ohne sich mit seinen ideologischen Gegnern zu identifizieren. »Der Anti-Österreicher war zum Nur-Österreicher geworden« (Katalog, 481), notierte konsterniert sein Freund Berthold Viertel. Hitler hat Karl Kraus definitiv zum Österreicher gemacht. Was für Kraus gilt, gilt allgemein  : Hitler hat aus Österreich eine von ihrer traditionellen Schizophrenie befreite Nation gemacht. Es ist also Hitler, der den Begriff einer eigenständigen »österreichischen Literatur« ermöglicht hat. Broch und Torberg hätten gerne aus Kraus die Ikone der österreichischen Identität gemacht (was allein schon aus politischen Gründen unmöglich war). Zu seinen Lebzeiten bildete er (mit Musil) den absoluten Antipoden Wildgans’, durch den sich Rechts und Links poetisch erhoben fühlten. Wildgans’ zweideutige Rede über Österreich (siehe oben) hat nach 1945 einen Ehrenplatz in den Schulbüchern eingenommen. Die kritische Dimension, die Wildgans’ Lob des homo austriacus völlig fehlt, findet sich paradigmatisch in der Kraus’schen Satire Das österreichische Selbstgefühl von Oktober 1923 (Fackel, 632–639, 1–26) vorweggenommen. Sie ist der Gegenpol zu jeder Form von Selbstbeweihräucherung oder Selbstmitleid, die sich in Wildgans Rede kristallisiert haben. Kraus ist Zeit seines Lebens als Nestbeschmutzer angesehen worden. Er hat diesen Status ausdrücklich für sich reklamiert und seine Funktion ausführlich dargestellt, z. B. in der Rede Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt von 1927. In der Satire von 1923 handelt es sich darum, eine ganze Reihe von positiven Österreichbildern (Hofmannsthals und vor allem des patriotischen Opportunisten Bartsch) auf den satirischen Prüfstand der Fackel zu stellen. Kraus, der immer ein entschlossener Gegner des Anschlusses gewesen war, überprüft die diversen mehr oder weniger aggressiven Strategien, um eine radikale Differenz zwischen Österreichern und Deutschen (sprich Preußen) zu beweisen, wofür die reflektierteste Variante Hofmannsthals antithetisches Schema »Preuße und Österreicher« und die verbreitetste Bahrs Beschwörung des barock-katholischen Erbes waren. Diesem lächelnden und liebenswerten österreichischen Antlitz (das das Ausland für bare Münze zu halten schien) hält er sein österreichisches Antlitz entgegen, unsterblich geworden durch das Foto, das als ikonographisches Motto über den Letzten Tagen der Menschheit steht  : Der erhängte Battisti umgeben vom zufrieden grinsenden Henker und einer 252

Gibt es eine österreichische Literatur  ?

Gruppe von lächelnden Offizieren und Zivilisten. Er erinnert die Österreicher auch daran, dass sich die sterbende Monarchie bis zuletzt auf die Schulter des großen Bruders gestützt habe. Er, der die »Nibelungentreue« und den Geist des M.W. einem unerbittlichen satirischen Gericht unterworfen hatte, findet es unanständig, dass sich Österreich von Deutschland in einem Moment tiefster Erniedrigung distanziert, im Jahr der Ruhrbesetzung und der surrealistischen Gigainflation. Denn die Österreicher, deren Währung eben »saniert« worden war, wussten nichts Besseres zu tun, als sich über die deutsche Inflation lustig zu machen und von ihr zu profitieren. Er will nicht von der im Ausland herrschenden Antipathie gegen das Deutschtum »profitieren«. Das hässliche Antlitz ist mit dem Krieg nicht verschwunden, es beherrscht auch das »herzige Staaterl« (Fackel, 632–639, 5), das übriggeblieben ist. Die Republik hat es nicht zu verwandeln gewusst. Kraus, der sich mit dieser Republik solidarisiert hat, ist nicht gewillt, das »österreichische Antlitz der Wurstigkeit« zu tolerieren. Die »freudige Bereitschaft […] fremden Schaden durch die eigene Wurstigkeit gutzumachen« fasst Kraus in dem folgenden Pseudo-Schnadahüpfel zusammen  : »Wärst net aufigstiegen, schmecks, / nachher wärst net abigfalln. / Hast dir’s selber zuzuschreiben,/wirst schon sehn, ujeh  ! / Mir is eh schon alles wurscht, / ja da kann ma halt nix machen. // Die letzte Zeile ad libitum auch  : Ihr könnt’s alle gern mich haben« (Fackel 632–639, 25). Das österreichische Selbstbewusstsein ist eine der witzigsten Reflexionen über Kraus’ Status als »Nestbeschmutzer«, dessen Essenz darin besteht, auf keinen Fall ein fremdes (ausländisches, und sei es das ungeliebte neudeutsche) Nest zu beschmutzen, sondern das eigene zu säubern, was zur Umkehrung des Begriffes führt  : Nicht Kraus beschmutzt das Nest, sondern er wird vom Nest beschmutzt. Man kann sich die Frage stellen, ob es nicht in der österreichischen Literatur eine Tradition der Nestbeschmutzer gibt, die vom Hanswurst des 18. Jahrhunderts über Nestroy und Kraus bis in die Gegenwart führt. Die deutsche Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat alles, was mit der Tradition des österreichischen Volkstheaters zu tun hat, für unwürdig befunden, in die Literaturgeschichte aufgenommen zu werden, deren Mission es war, das deutsche kulturelle Bewusstsein zu stärken. Es war also natürlich, dass Nestroy als Verderber des guten Geschmacks und der bürgerlichen Sittlichkeit aus dem Pantheon der deutschen Literatur verbannt wurde. Der Fall Nestroy ist paradigmatisch für die Funktion, die der Literaturgeschichte bei der Herstellung von identitätsstiftenden Symbolen zukommen kann. Aus ihr ausgeschlossen zu sein, macht aus einem Autor ein kulturell bedeutungsloses, ja nichtiges Subjekt, dem jeder Anspruch auf symbolische Repräsentation aberkannt wird. Unter 253

Identitätskonstruktionen

anderem wird er aus der Kette der Überlieferung durch Schule und Universität entfernt. Was Nestroy lange nach seinem Tod widerfahren ist, ist vermutlich der interessanteste Fall einer totalen Umwertung des literarischen Kanons und einer symbolischen Rehabilitierung in der Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. Natürlich war es nicht die meist deutsch-national orientierte Gilde der Literaturhistoriker, die diesen Prozess eingeleitet hat. Die Umwertung hat ihren ersten Höhepunkt in Karl Kraus’ Essay Nestroy und die Nachwelt, 1912 zum 50. Todestag verfasst und öffentlich im Großen Musikvereinssaal (!) vorgetragen. Der Nachfahre des Hanswurst wurde dabei in den Rang des größten Satirikers deutscher Sprache erhoben und in eine Linie mit Aristophanes, Shakespeare und Molière gestellt. Für Kraus war er der erste Autor, bei dem sich die »Sprache Gedanken über die Sprache machte«, was ihm zusätzlich zu seinem literarischen Status die Rolle eines Vorläufers der sprachkritischen Philosophie verschaffte, die zum Signum der österreichischen Philosophie werden sollte. Egon Friedell hat aus ihm in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit sogar den einzigen österreichischen Philosophen gemacht. Die akademische Rehabilitierung hat nicht auf sich warten lassen  : Eine erste historisch-kritische Ausgabe wurde von Otto Rommel 1930 erstellt, eine zweite ist vor kurzem von einem internationalen Team fertiggestellt worden. Der aus der deutschen Literaturgeschichte Ausgeschlossene ist der beispielhafte Fall für eine spezifisch österreichische Kultur geworden, eine Art Garantie für die differentia specifica der literarischen Eigenständigkeit, die lange Zeit von den akademischen Eliten Deutschlands und Österreichs von oben herab angesehen worden war. Die Rehabilitierung Nestroys ist mehr als anekdotisch, sie entspringt dem bewussten Willen, das herrschende ästhetische Referenzsystem in Frage zu stellen und aus einem underdog der Theaterkultur einen exemplarischen Garanten einer kulturellen Identität zu machen. Kraus wandte sich in Hunderten von Lesungen aus dem Werk Nestroys an ein intellektuelles Publikum, doch er wusste auch, dass das österreichische Volk manche Werke Nestroys liebte und sie auf Amateurbühnen spielte. Ich kann das selbst bezeugen  : Das erste Theaterstück, das ich gesehen habe, war Lumpazivagabundus, in dem sich Hanswurst und der liebe Augustin die Hand reichen, aufgeführt von der Amateurtruppe meines Dorfes. Und seit den 20er Jahren wurde Nestroy aus dem Volkstheater ins Burgtheater geholt, also in jene Institution, die nicht zuletzt gegründet worden war, um den Geist des Hanswurst zu bekämpfen und aus dem Theater zu vertreiben. Die Würdigung des »kosmischen Hanswursts« Nestroy durch Kraus, den entschlossensten Anschlussgegner, provozierte einen »Paradigmenwechsel« in jenem Bereich, der als Ausdruck par excellence der nationalen kulturellen Iden254

Gibt es eine österreichische Literatur  ?

tität gilt. Zu seinen Lebzeiten hätte Nestroy vermutlich eine Satire über seine Erhebung zur nationalen Schutzgottheit geschrieben, obwohl er wie Grillparzer »kaisertreu« war und die Nationalismen aller Couleurs verachtete und ablehnte. Kraus’ Lob der Nestroy’schen Torheit vollzog sich parallel zu seinem Bruch mit dem Milieu der Berliner Avantgarde. Kraus entschied sich gegen den das Futurum des Futurismus, dieses »Imperfektum exaktum« (Fackel 406–412, 125), für einen Repräsentanten der Vergangenheit. Über Kraus hat Nestroy auf die kommende literarische Nachwelt in Österreich einen unübersehbaren Einfluss ausgeübt. Auf ihn berufen sich Horváth, Canetti und Elfriede Jelinek, denen der Nobelpreis quasi für Nestroy verliehen wurde. Nicht nur Nestroy und selbstverständlich Grillparzer haben die Ehre einer historisch-kritischen Ausgabe erfahren. Auch ein anderer Nachfahre Hanswursts, Ferdinand Raimund, ist ihrer würdig befunden worden. Trotz dieser philologischen Kanonisierung haben es weder Nestroy noch Raimund wirklich zu internationaler Anerkennung (außer im akademischen Betrieb) gebracht. Die Übersetzungen scheitern meist an der adäquaten Wiedergabe des subtilen Spiels mit den verschiedenen Sprach- und Stilebenen. Zwar ist Nestroy kein österreichischer Dialektdichter, wozu ihn patriotischer Eifer sogar durch »Übersetzung« in den Wiener Dialekt zu machen versucht hat, aber ohne die dialektale Basis ist sein Witz nicht verständlich. Die extreme Sprachbezogenheit dieses Witzes setzt eine Verstehensschranke, selbst innerhalb der deutschsprachigen Literatur. Raimund illustriert ein anderes Dilemma des österreichischen Kanons  : Während im 18. Jahrhundert Hanswurst bewusst die Rolle des Störenfrieds in der noblen Sphäre spielte, versuchte Raimund in seinen Zauberstücken eine Koexistenz zwischen der »höheren« Welt, in der man oft ungeschickt ein edles Deutsch sprach, und der volkstümlichen Sphäre, deren Repräsentanten (z. B. Diener und Bauern) Schwierigkeiten mit der kultivierten deutschen Sprache hatten. Trotz dieser Entstehung eines kulturellen Selbstbewusstseins durch die Aufwertung der Volkstheatertradition darf nicht übersehen werden, dass nicht alle österreichischen »Lager« mit dieser Entwicklung einverstanden waren. Denn die Figuren, die mit den Aufklärungsgeboten des Josephinismus im Konflikt lagen, blieben auch den Erben der Aufklärung, den National-Liberalen und den Sozialdemokraten, ein Dorn im Auge. Hanswurst war für sie eine Feindfigur und wurde als gängiges Schimpfwort gegenüber den politischen Gegnern (Katholiken, Konservative, Monarchisten) gebraucht. Selbst eine so unhanswurstische Figur wie Ignaz Seipel wurde als Hanswurst verunglimpft. In säkularisierter Form scheint Luthers gegen den Papst gerichtete Diatribe Wider 255

Identitätskonstruktionen

Hanswurst Auferstehung zu feiern. Dieses Phänomen zeigt, wie schwierig es in Österreich war (und ist), einen symbolischen Konsens herzustellen. Drei österreichische Autoren haben schon im 19. Jahrhundert den Status »österreichische Klassiker« erreicht  : der Dramatiker Grillparzer, der Epiker Stifter, der Lyriker Lenau. Im Gegensatz dazu hat es die österreichische Literatur der Aufklärung nie geschafft, mehr als das marginale Interesse der Literaturwissenschaftler zu erregen. Und der Großteil der lyrischen Produktion des 19. Jahrhunderts war – nimmt man Lenau aus – Angelegenheit von längst vergessenen poetae minores. Jedenfalls galt die österreichische Literatur immer als armer Vetter der deutschen. Selbst Grillparzer wurde als provinzieller Epigone Goethes und Schillers angesehen, überdies belastet durch seine multinationale Thematik und den Rückgriff auf die spanisch-barocke und die Volkstheater -Tradition. Stifters Weltanschauung war ein Konzentrat der Feindseligkeit gegen jede Form von Fortschritt und Modernität, und in der nationalen Frage predigte er wie Grillparzer das friedliche Zusammenleben von Slawen und Deutschen in Böhmen. Man kann sich schwerlich einen radikaleren Antipoden zum Geist des preußischen M.W. und zu der grandiosen geschichtsphilosophischen Spekulationen Hegels denken. Es war also nicht erstaunlich, dass man versucht hat, den homo austriacus im »Stiftermenschen« vorweggenommen zu sehen. Der Zufall hat es gewollt, dass die deutsche Antithese zu Stifter, der von Hegel genährte Dramatiker Hebbel, in Wien gelebt und dort aus seiner Abneigung gegen Stifter und Nestroy kein Hehl gemacht hat. Nestroy hatte am großsprecherischen Pathos von Hebbels Judith und Holofernes einen satirischen Zerstörungsakt vorgenommen. Er hat auch Wagner (Lohengrin und Tannhäuser) nicht verschont und die romantische Gefühlskultur im Allgemeinen lächer­lich gemacht, was Hebbel in einem Gespräch mit Wagner so kommentiert haben soll  : »Der verstorbene Hebbel bezeichnete mir einmal im Gespräche die eigentümliche Gemeinheit des Wiener Komikers Nestroy damit, dass eine Rose, wenn dieser daran gerochen haben würde, jedenfalls stinken müsste« (Fackel 351–353, 31). Stifters friedliche Vision der Geschichte missfiel Hebbel, der eine tragisch-dialektische Auffassung der Geschichte im Drama umzusetzen versuchte. Hebbel vereinigte in der Tat in sich alle Eigenschaften, die man bei den Österreichern im Allgemeinen und bei Grillparzer im Besonderen vermisste. Er war laut Kürnberger der deutsche Hecht im österreichischen Karpfenteich. Mit Grillparzer, Stifter, Lenau, Raimund und Nestroy hat sich ein identitätsstiftender Sockel in der österreichischen Literaturhistorie herausgebildet, der weit von den Entwicklungslinien der deutschen Literatur ablag. In der Tat 256

Gibt es eine österreichische Literatur  ?

gehorchte die in Österreich geschriebene Literatur einer anderen Periodizität als die deutsche  : Da ist keine Spur von »Sturm und Drang«, keine Romantik, kein Naturalismus, nicht einmal ein wirklicher Expressionismus, kein Futurismus, kaum Dada. Die Romantik war in Österreich zu Gast in Gestalt der Konvertiten, die in Wien nicht die blaue Blume, sondern die Rückkehr zur katholischen Universalmonarchie vor der Reformation suchten. Wie die Literatur der Aufklärung mit ihrer Neigung zur Parodie und Satire ist auch die Literatur der katholischen Restauration zwischen 1815 und 1914 aufgrund ihrer unleugbaren ästhetischen Schwächen außerhalb der etablierten Kanons geblieben. Doch eine Besonderheit darf in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben  : Es gibt zwei Texte, die dank der Musik ein außerordentliches Schicksal gehabt haben und aus dem religiösen und kulturellen Gedächtnis Österreichs nicht wegzudenken sind. Es handelt sich um die Worte der deutschen Messen von Michael Haydn und Franz Schubert, die in ihrer Wirkung mindestens den volkstümlichen Chorälen Luthers und Bachs im protestantischen Bewusstsein ebenbürtig sind. Es gibt (gab  ?) also eine volkstümliche religiöse Kultur, die Woche für Woche von einem großen Teil der Bevölkerung wirklich geteilt wurde. Als katholische »Gedächtnisorte« haben sie ein dem »Stille Nacht« vergleichbares Gewicht. Natürlich hat die Säkularisierung der Gesellschaft die Wirkung dieses musikalischen Erbes geschwächt. Doch über lange Zeit war dies der volkstümliche symbolträchtigste Konkurrent des Kommersbuches, dieser alldeutschen Gesangs-Bibel der akademischen Eliten. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (2002) von Heinz Schlaffer, die zu vielerlei Polemiken Anlass gab, zeichnete sich unter anderem durch die These aus, dass sich ab 1900 die österreichische Literatur, die zuvor aus dem deutschen literarischen Kanon ausgeschlossen war, als das Referenzsystem der Moderne durchgesetzt habe, anders gesagt als zweite große Epoche der deutschsprachigen Literatur nach der Goethe-Zeit. Eine solche Hochschätzung beruhte auf der völligen Umwertung der Kanons in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Umwertung, die in hohem Maß durch die Katastrophe des Nationalsozialismus bedingt war. Denn die meisten Starautoren der Ersten Republik und des Ständestaats, die heute vergessen oder zu regionalen »Größen« degradiert sind, widersetzten sich formal und ideologisch konsequent der literarischen Moderne. Lange fand nur ein einziger dieser Modernen Gnade vor der akademischen Zunft  : Hugo von Hofmannsthal, der Verteidiger des österreichischen und spanischen katholischen Barockerbes. Die Kulturpolitik der Zweiten Republik und die germanistischen Lehrstühle haben sich, nicht ohne Bedenken, zu dieser verbannten Moderne bekannt, die inzwischen Weltgeltung 257

Identitätskonstruktionen

erlangt hatte. Die Liste ist lang  : Freud, Schnitzler, Altenberg, Hofmannsthal, Kraus, Rilke, Trakl, Zweig, Werfel, Broch, Musil, Ernst Weiss, Roth, Horváth, Canetti. Viele von ihnen waren Juden, und alle, die 1938 noch am Leben waren, gingen gezwungen den Weg ins Exil. Der »Borderliner« Canetti hat 1981 den ersten österreichischen Nobelpreis für Literatur im Namen der großen Ahnen Kraus, Kafka, Musil und Broch, denen er sich verpflichtet sah, entgegengenommen. Wie das Jacques Bouveresse für die Philosophie getan hat, könnte man von einem Gipfelpunkt der österreichischen Literatur zwischen 1890 und 1938 sprechen. Und wie für die Philosophie sind Ruhm und Anerkennung von außen gekommen, denn diese Autoren hatten eine kosmopolitische Dimension gewonnen, bevor sie in den österreichischen Kanon integriert wurden, um fortan als entscheidendes Argument der neuen kulturellen Repräsentation nach außen zu dienen. Der spektakulärste Fall der »Heimholung« eines der Großen des Exils war sicherlich die Bewunderung des Exilanten Bruno Kreisky für Robert Musil. Bei der Ausstellung Vienne – naissance d’un siècle im Pariser Centre Pompidou im Jahre 1986 war Kreisky als Redner einer Veranstaltung zu Ehren Musils vorgesehen  ! Eine seltene Konstellation  : Nicht ein Schriftsteller vertritt den Staat, sondern ein Staatsmann den toten Schriftsteller. Das nimmt sich aus wie eine Parodie auf die von Musil ironisch verspottete »Kulturpolitikskultur« des Ständestaats. Die Szenographie dieser Ausstellung entsprach vollendet dem Schicksal dieser Literaten  : Im letzten Saal waren die Aquarelle Hitlers und ein Exemplar von Mein Kampf ausgestellt, und eine Videoinstallation zeigte eine doppelte Bewegung  : In dem Maß, in dem sich Hitler Wien näherte, verließ das »kosmopolitische« Österreich die Stadt. Den Abschluss dieses »Requiems« bildete eine Reihe von Totenmasken von Mahler bis Zweig. Aber nicht alle Schriftsteller und Intellektuellen haben Österreich im Augenblick seiner tiefsten Erniedrigung verlassen. Viele, vor allem jene, die an der Konkurrenz ihrer jüdischen und kosmopolitischen Mitbürger Ärgernis nahmen, haben begeistert den Anschluss und den Führer begrüßt. Ein einziger unter ihnen, Heimito von Doderer (1896–1966), hat sich ernsthaft vom Nationalsozialismus losgesagt und ist während des Krieges zum Katholizismus konvertiert, um nach 1945 zum poeta austriacissimus erhoben zu werden, der für Österreich den antiken Humanismus und die thomistische Philosophie als Erbe reklamierte. Sein Hauptwerk, der Roman Die Dämonen von 1956, hatte zwischen 1930 und 1936 noch den Titel Die Dämonen der Ostmark getragen und sich als pandaemonium judaicum verstanden. Doderer gehörte zu einer beträchtlichen Zahl von Autoren, die zwischen Katholizismus, Regionalismus 258

Gibt es eine österreichische Literatur  ?

und Nationalsozialismus schwankten und die nach 1945 mehrheitlich für den österreichischen Patriotismus optiert haben. Paradigmatisch für dieses literarische österreichische Antlitz ist der Literaturhistoriker Josef Nadler, Autor einer monumentalen von Antisemitismus und Antislawismus geprägten Geschichte der deutschen Literatur nach Stämmen und Landschaften, die von Bahr und Hofmannsthal als akademisches Meisterwerk angesehen wurde. Die Versuchung, die österreichische Literatur mit ihrer unleugbaren katholisch-barocken Herkunftslinie zu identifizieren, war groß und erklärte, warum selbst Hofmannsthal in einer stammeskundlichen Literaturgeschichte zu Ehren kam. Nadler, der Prototyp der katholisch-nationalsozialistischen Symbiose, hat als erster nach 1945 eine Österreichische Literaturgeschichte veröffentlicht, deren letzter Teil dem »Freistaat« (sprich der Republik) gewidmet ist, der nach seinem Kalender von 1918 bis 1945 (!) ohne sichtlichen Bruch gedauert hat. Andere waren der Meinung, man müsse im Gegensatz zu dieser deutsch-österreichischen Kontinuität sieben Jahre aus dem Kalender streichen, um dort fortzusetzen, wo man durch einen Irrsinnigen unterbrochen worden war. Zu den eindrucksvollsten Umwertungen gehörte die Neudeutung des Nibelungenlieds, das im Mittelalter auf dem Territorium der Babenberger verfasst worden war. Mythisches Monument und fundamentaler Gedächtnisort der Alldeutschen und Nationalsozialisten wurde es dank der Persönlichkeit Rüdigers von Pöchlarn, des humanistischen Vermittlers inmitten der entfesselten Barbarei, ins spezifisch österreichische Erbe aufgenommen. Es handelt sich dabei um ein Extrembeispiel einer »positiven« Abgrenzungsstrategie. Das andere Extrem des Umgangs mit diesem literarischen Monument der nationalen Identität liefert Heiner Müllers Dekonstruktion des Mythos in Germania – Tod in Berlin, den allerletzten Tagen deutscher Menschheit. Nadlers Literaturgeschichte gehört wie der Großteil der Autoren seines »Freistaats« der Vergangenheit an. Heute herrscht kein Mangel mehr an österreichischen Literaturgeschichten. Und sogar die deutsche Lexikographie hat ein Lexikon mit dem Titel Hauptwerke der österreichischen Literatur (1997) hervorgebracht, zu denen das Nibelungenlied zählt, aber auch die Werke einer Reihe von »Borderliners«, deren Zugehörigkeit zur österreichischen Literatur nicht ganz selbstverständlich ist  : Kafka und Rilke stehen neben Canetti und Celan. Nach 1945 hat die Zweite Republik einen »Staatspreis für Literatur« geschaffen und damit eine Praxis des Ständestaats erneuert, der mit diesem Mittel das Bewusstsein einer österreichischen Identität fördern wollte. Es war verlorene Liebesmüh, 1938 haben alle Preisträger ohne zu zögern für den Anschluss optiert, denn kein einziger Name der literarischen Moderne war dieses Preises 259

Identitätskonstruktionen

für würdig befunden worden. Unter den Kriterien für die Zuerkennung des Staatspreises hat die Zweite Republik festgelegt, dass der Preisträger innerhalb der Grenzen der k. u. k. Monarchie geboren sein musste. So konnte Manès Sperber zu den Preisträgern gehören, doch im Falle des in Bulgarien geborenen Elias Canetti genügten sogar seine Wienaufenthalte als Kriterien. Und selbst das deutsche Lexikon hat darüber hinweggesehen, dass Paul Celan erst 1920 in Czernowitz geboren wurde und hat ihn zum Österreicher ernannt. Diese Manipulationen entsprangen sicher dem Bedürfnis nach Kompensation und dem Weiterwirken einer übernationalen Österreichidee. Wie alle Umfragen (übrigens auch beim Publikum der Pariser Ausstellung) zeigen, spielt die Literatur im öffentlichen Bewusstsein als identitätsstiftender Faktor eine untergeordnete Rolle. Gegen die Musik oder Malerei ist sie chancenlos. Aber man darf ihre Wirkung in Schule und Universität nicht unterschätzen, obwohl sich hier seit der alldeutschen Kampfgermanistik vieles geändert hat. Hier liegt der einschneidende Unterschied zur Monarchie und Ersten Republik  : die einstmals dominierende national-liberale Tradition ist zur Minderheit in allen Institutionen geworden, die die historische und kulturelle Identität des Landes bestimmen. Nicht nur die klassisch gewordene österreichische Moderne hat (wie schon zu Lebzeiten ihrer Autoren) eine wichtige Position im deutschen Verlagswesen, auch die Gegenwartsliteratur behauptet eine auffallende Sonderstellung auf dem literarischen Markt. Sie hat gewöhnlich einen extrem kritischen, »nestbeschmutzerischen« Zug, denn sie kann sich nicht von der Vergangenheit lösen, in der ihre Identität unklar, ja schizophren war. Es gibt eine Unmenge von »Reden über Österreich«, sie sind gewöhnlich kritisch bis grausam-satirisch gegenüber dem Staat und seinen Geschichtslügen. Eine ihrer Hauptfunktionen ist auch heute noch die Auseinandersetzung mit der verdrängten austrofaschistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit, die wie in Deutschland nicht so bald vergehen will. Damit zeugt sie paradoxerweise von einer ihrer selbst sicher gewordenen nationalen Identität, für die der kritische Geist vital ist. Der berühmteste Österreichverächter, Thomas Bernhard, dessen Suada im Ausland zuweilen für realistische bare Münze gehalten wurde, ist seinem Land in einer exemplarischen Hass-Liebe verbunden. Das Paar, das er mit dem Präsidenten Waldheim bildete, hat geradezu emblematischen Charakter.28 Und der Schatten des größten Österreichers, der sein Land auslöschen wollte und es dadurch erst wirklich begründet hat, wird noch lange über der österreichischen Literatur liegen.

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Gibt es eine österreichische Philosophie  ?

7. GIBT ES EINE ÖSTERREICHISCHE PHILOSOPHIE  ? Die Anerkennung einer spezifisch österreichischen Literatur ist heute kaum mehr bestritten. Seit den 1970er Jahren verfügt jede österreichische Universität über einen Lehrstuhl für österreichische Literatur, und es ist sogar die Klage laut geworden, dass sich die österreichische Germanistik nahezu ausschließlich in eine Austriazistik verwandelt habe. Es fehlt auch nicht mehr an modernen österreichischen Literaturgeschichten. Österreichstudien mit spezifischen Publikationsorganen gibt es auch in Italien, Frankreich, Großbritannien und den USA. In Frankreich haben Verleger und Kritiker seit langem die Gewohnheiten, bei den Übersetzungen aus dem Deutschen zwischen den Herkunftsländern (Deutschland, Österreich, Schweiz) zu unterscheiden. Ausgehend von dieser Feststellung und der provokanten Haltung mancher österreichischen Autoren gegenüber »dem, was die Deutschen als das Unantastbarste betrachten, das heißt ihre prestigeträchtigste intellektuelle und philosophische Tradition«, hat Jacques Bouveresse die Frage nach einer eigenständigen »österreichischen Tradition in der Philosophie gestellt, wenn es überhaupt möglich, über solche Dinge zu reden«29. Natürlich lässt sich Bouveresse nicht auf das unsichere Terrain der kulturgeschichtlichen Konstruktionen verführen, die aus dem philosophierenden Kaiser Marcus Aurelius, der zufälligerweise im Jahre 182 nach Christus in Wien gestorben ist, den Urvater der österreichischen Philosophen gemacht haben, oder die im zum Katholizismus konvertierten Flamen Justus Lipsius (1547–1606) »den Vater der österreichischen Philosophie« sehen wollen, dem eine Synthese zwischen Stoizismus und Christentum gelungen sei, die die österreichische Philosophie von 1600 bis 1900 geprägt habe.30 Selbst der »dritte Vater der österreichischen Philosophie«, der Prager Bernhard Bolzano (1781–1848) sei noch von diesem Geist der Synthese abhängig gewesen, der in seinem Fall auch auf das politische Terrain abgefärbt habe, nämlich die Verteidigung des harmonischen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen in Böhmen. Geht man von der Hypothese aus, dass jeder Versuch, die österreichische Identität zu definieren, zu einem Vergleich mit Deutschland führen muss, sind Bouveresses Überlegungen zur Frage nach der österreichischen Philosophie besonders aufschlussreich  : »Auf jeden Fall ist unbestritten, dass der Anspruch auf eine spezifisch österreichische Literatur oder Philosophie zunächst auf das Bedürfnis zurückzuführen ist, gegen die Überlegenheit des deutschen Modells anzukämpfen und sich den kulturellen und politischen Minderwertigkeits261

Identitätskonstruktionen

komplex gegenüber Deutschland abzugewöhnen, an dem Österreich üblicherweise leidet.« »Diese philosophische Tradition hat sich sehr früh ausdrücklich durch eine offene und oft radikale Opposition gegen ihre deutsche Rivalin definiert.« Für Bouveresse sind Ursprung und Ende dieser spezifisch österreichischen Philosophie genau datierbar  : Sie wird mit Bernhard Bolzano in Prag geboren und endet mit der Ermordung Moritz Schlicks (1882–1936) in Wien. Sie weist eine Reihe ihr eigentümlicher Züge auf, die übrigens im totalen Widerspruch zu nahezu allen Faktoren stehen, die man gewöhnlich für die österreichische Identität anführt, sei es das Gewicht der Gegenreformation, sei es die Theatertradition des Hanswurst oder der Großteil der Versuche, die Seele des homo austriacus zu ergründen. Bolzano und Schlick haben zunächst gemeinsam den Primat der Mathematik und der Logik in jeder philosophischen Methode. Der Aristoteliker und Leibnizianer Bolzano gilt deshalb als Vorläufer des logischen Positivismus, aber auch der Phänomenologie und der logischen Untersuchungen Husserls. Der »österreichischen Philosophie« ist sehr viel gelegen an der engen Verbindung von Wissenschaften und Philosophie, wie sie von Ernst Mach, Wilhelm Boltzmann und den Mitgliedern des »Wiener Kreises« (Carnap, Gödel, Hahn, Neurath und sogar Popper) praktiziert wurde. Viele dieser Philosophen stammen aus Deutschland (Brentano, Carnap, Schlick) oder sind jüdischer Herkunft (Husserl, Hahn, Neurath, Popper, Wittgenstein) und hatten unter dem wissenschaftsfeindlichen Klima des christlichen Ständestaats zu leiden. Nach der Ermordung Schlicks (der nicht jüdischer Herkunft war und paradoxerweise Ernst Moritz Arndt, den alldeutschen Dichter und Propagandisten zu seinen Ahnen zählte), behandelte ihn die regierungsnahe Zeitschrift Schönere Zukunft unter der anonymen Feder eines Prof. Dr. Austriacus als Juden und forderte, dass auf den Lehrstühlen des deutschen Österreich nur »christliche Philosophen« ernannt werden dürften, die der Definition des Staates als »christlicher und deutscher« zu entsprechen hätten. Man erinnere sich daran, wie Musil mit der »katholischen Epistemologie« des damaligen Unterrichtsministers Pernter abrechnete.31 Man steht also vor dem Paradox, dass jene Philosophie in Österreich, die sich klar von der deutschen Tradition, namentlich des Idealismus der Kant, Fichte und Hegel, abgrenzte, aufgrund ihres logisch-mathematischen und antimetaphysischen Charakters als un- oder antiösterreichisch verurteilt wurde. In der Frage der Abgrenzung vom deutschen Idealismus kann Bouveresses Kalender ein wenig erweitert werden. Grillparzer hat Zeit seines Lebens Hegel aufs Heftigste abgelehnt. Als anderer spezifischer Zug der österreichischen Philosophie gilt ihr Interesse an der Sprachkritik, das sie mit der Literatur (Nestroy, Kraus, Hofmannsthal, 262

Gibt es eine österreichische Philosophie  ?

Canetti) teilt, und deren bedeutendste Vertreter Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein waren. Schon Bolzano hatte die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Worte in der philosophischen Rede gelenkt. Mit Mauthners voluminösen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache (1902) und Wittgensteins Hauptwerken verwandelte sich die Philosophie in Sprachphilosophie, ja Sprachkritik. Dieser Typus der Philosophie stellt eine Gefahr für alle idealistischen und religiösen Konstruktionen dar, jene »Schwefelfabriken«, die Wittgenstein mit dem Tractatus logico-philosophicus außer Betrieb setzen wollte. Denn ihr analytischer, das heißt »auflösender« Charakter, konnte leicht zum Urteil »Unsinn« führen, was zum Beispiel Carnap an Heideggers philosophischer Sprache demonstriert hat. Nach dem von Bouveresse vorgeschlagenen zeitlichen Rahmen reicht das Jahrhundert der österreichischen Philosophie von Bolzanos Epistemologie zu Schlicks logischem Positivismus. In dieser Optik war die Ermordung Schlicks kein normaler Kriminalfall, sondern ein hochsymbolischer politischer Akt der Hinrichtung des Geistes, der mit den in Deutschland und Österreich zur Herrschaft gelangten »Weltanschauungen« unvereinbar war. Chronologisch trifft das seltsamerweise mit den Phantasmagorien der Geschichtskonstrukteure des österreichischen Menschen zusammen. Für die Vertreter dieser österreichischen Philosophie hieß die Alternative bald in der Tat  : Tod oder Exil. Im angelsächsischen Exil hat sie den Namen »analytische Philosophie« bekommen und galt als Widersacherin des kontinentalen Denkens und ihrer großen metaphysischen und ethischen Probleme. Ihre österreichischen Ursprünge wurden vergessen. In Frankreich wurde sie lange Zeit als amerikanische Philosophie verachtet. Jacques Bouveresse, der Wittgenstein und die anderen Österreicher in Frankreich heimisch zu machen suchte, musste sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht nur als »Geistespolizist«, der logische Genauigkeit einforderte, sondern sogar von Maoisten als »Herold der angelsächsischen Vorherrschaft« behandelt und der Komplizenschaft mit dem amerikanischen Kapitalismus verdächtigt zu werden. Die Wege der Philosophiegeschichte sind undurchdringlich. Diese Tradition logischer und wissenschaftlicher Strenge wurde also nicht nur in Österreich als unösterreichisch empfunden. Wittgensteins Programm, »dem Schwefeln ein Ende zu setzen«, und der aufklärerische Geist Machs und des »Wiener Kreises« wurden zu Recht als Drohung für alle religiösen, philosophischen und politischen Narkotika empfunden. Von Lenins Kritik an Mach über die Österreichbilder, denen die Aufklärung ein Gräuel war, bis zur Verurteilung Musils durch die angeblichen Verteidiger der Kultur, zieht sich eine Linie, die sich in Frankreich in den Angriffen der Heideggerianer und Maois263

Identitätskonstruktionen

ten auf Bouveresse fortgesetzt hat. Diese österreichische Philosophie, die von den deutschen philosophischen Zeitgenossen souverän übersehen und von den politischen Gewalten verfolgt wurde, war gezwungen, sich eine andere Heimat zu suchen. Ich habe diese knappen und lückenhaften Überlegungen zur Philosophie bewusst ans Ende meines Essays gesetzt. Denn der »österreichische« Charakter dieser Philosophie, die wie alle international anerkannten kulturellen Produktionen Österreichs seit langem in den Dienst der auswärtigen Kulturpolitik der Republik gestellt wurde, scheint nahezu allen politischen, historischen und literarischen Versuchen über die österreichische Identität zu widersprechen. Die höchsten Werte dieser Denker – mathematische Strenge, wissenschaftliche Objektivität, quasi-nominalistische Kritik der Sprache – sind nicht die bevorzugten Eigenschaften des homo austriacus, ob er nun gefeiert oder verurteilt wurde. Sie sind prinzipiell widerspenstig gegen einen Geist, der sich in einer nationalen Identität und einer quasi-religiösen Sprache inkarniert. Man könnte mit Karl Renner noch weiter gehen und den »wirtschaftslosen« und »(natur) wissenschaftslosen« Identitätskonstrukteuren vorwerfen, dass sie sich selten mit dem Österreich der Forscher, Erfinder, Ärzte und Ingenieure befassen. Mein Essay, weit entfernt von logisch-mathematischer Strenge und Objektivität, ist ein weiteres Beispiel für diesen perspektivischen Mangel. Dabei wollte er unter anderem zeigen, dass die Identitätsdebatten zu den schlimmstmöglichen »Schwefelfabriken« gehören. Das extremste Beispiel dessen, was in diesem Bereich möglich ist, hat Günther Nenning 1994 in der Zeit mit dem Artikel Wittgenstein, ein Nestroy der Philosophie geliefert. Ein fortschrittskritisches Nestroyzitat reicht ihm hin, die gesamte angeblich typisch österreichische Philosophie unter dem Obertitel »Einen Jux will er sich machen« zusammenzufassen  ! Welche Bestätigung für die Wirkmächtigkeit des »Prinzips Papageno«  ! Es gibt noch eine andere aus Österreich stammende Disziplin, die im Inland als unösterreichische jüdische Wissenschaft galt und ihre Weltgeltung über das Ausland und häufig über das Exil erlangt hat  : die Psychoanalyse. Im Gegensatz zur Philosophie aus Österreich hat sie nicht nur im angelsächsischen Raum, sondern auch in Südamerika und mit besonderer Intensität in Frankreich Wurzeln geschlagen. In den heftigen Polemiken um Freud ist in Frankreich sogar der Verdacht ausgesprochen worden, Freud sei ein Parteigänger des Austro-Faschismus gewesen, obwohl er nur wie Musil festgestellt hatte, dass das »Regiment« seine philosophischen, psychologischen und literarischen Gegner tolerierte und es z. B. Freud ermöglichte, seine Religionskritik unter dem »Schutz« der katholischen Kirche zu betreiben. Auch die Psychoanalyse eignet 264

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sich wenig, um Identitätsmythen zu konstruieren, aber sie ist wie Schnitzler oder Wittgenstein zu einem Exportartikel der Kulturpolitik geworden. Diese Form der Aneignung des Erbes und seiner politischen Verwertung hat gegenüber den oft sehr kriegerisch gesonnenen nationalistischen Modellen den Vorteil der Friedfertigkeit. Heute genügt es, Österreicher und berühmt zu sein, um in den Ruhmestempel und das Schatzhaus der nationalen Identität überführt zu werden und den kulturellen Welthandel zu beliefern.

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Bibliographische Notiz Aus der unerschöpflichen Literatur zur österreichischen Identität seien hier nur die wichtigsten Arbeiten angeführt  : Im selben Jahr 1981 erschienen zwei Hauptwerke zur Frage der österreichischen Identität, zwei leidenschaftliche Kampfbücher für die Causa Austriae. Mein Essay kann als ironischer Kontrapunkt zu beiden gelesen werden. Heer, Friedrich  : Der Kampf um die österreichische Identität. Wien–Köln–Graz, Böhlau, 1981. Kreissler, Félix  : La prise de conscience de la nation autrichienne. 2 Bde. Paris, Presses universitaires de France, 1981. Auf Deutsch unter dem Titel Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen. Wien–Köln–Graz, Böhlau, 1984. Eine ausgezeichnete Synthese des Problems bietet Bruckmüller, Ernst  : Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse. 2. Auflage. Wien–Köln–Graz, Böhlau, 1996. Nach dem Modell von Pierre Noras Lieux de mémoire und Etienne François’ und Hagen Schulzes Deutsche Erinnerungsorte haben Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hanns Stekl ein österreichisches Äquivalent in 3 Bänden konzipiert  : Memoria Austriae. I  : Menschen, Mythen, Zeiten  ; II  : Bauten, Orte, Regionen  ; III  : Unternehmen, Firmen, Produkte. Wien, Verlag für Geschichte und Politik, 2004–2005. Ein nahezu vollständiges Inventarium der Österreich-Diskurse im 20. Jahrhundert bietet der Autor der Österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte (1974/2006)  : Johnston, William  : Der österreichische Mensch  : Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs. Wien–Köln–Graz, Böhlau, 2009.

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Bibliographische Notiz

Zur Geschichte der Monarchie  : Die Habsburger Monarchie 1848–1918. Band III, 1  : Die Völker des Reiches. Wien, ÖAW, 1980. (Monarchie) Die zitierten musikalischen Symbole (Hymnen, Lieder, Märsche und Walzer) sind alle auf YouTube konsultierbar.

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Anmerkungen   1 Andrian-Werburg, Franz Victor von  : Oesterreich und dessen Zukunft. Potsdam, Becker, 1843.   2 Das noch heute gültige Verfassungsgesetz vom April 1919, gewöhnlich »(Anti)-Habsburgergesetz« genannt, sah auch die Abschaffung sämtlicher Adelsprädikate vor. So heißt auf der ersten Ankündigung eines von Karajan dirigierten Konzerts 1929 der Dirigent Herbert Karajan. Für alle offiziellen Dokumente der Republik ist diese Regelung weiter gültig, doch im Alltagsgebrauch und in den Medien hat sich diese obsolet gewordene republikanische Regel mehr oder weniger verloren.   3 Musil hat Karl Kraus und andere geistige Diktatoren (z. B. Freud und Heidegger) mit Hitler verglichen. Er selbst war 1914 Opfer der Verschmelzung seines intellektuellen Ichs mit der kriegsbegeisterten Masse gewesen, ein »Sündenfall«, an dem er sich nach dem Krieg abarbeitete.   4 Zu meinem Entsetzen musste ich nach Kreisslers Tod feststellen, dass er 1951 in der Volksstimme ein hasserfülltes, völlig verzerrtes Porträt Bertaux’ veröffentlicht hatte, das auf Fehlinformationen der französischen Parteipresse beruhte.  5 Deutschland-Österreich. Verfreundete Nachbarn. Bonn  : Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, und Bielefeld, Kerber 2005.   6 Das Wort, das sich in seiner Subsantivform »Verfreundung« sogar in einem Gedicht Paul Celans (»Contrescarpe«) findet, ist in Wirklichkeit uralt, nur war es vergessen, aber es hatte niemals den zweideutigen Sinn, den es durch Gabriele Matzner bekommen hat.   7 Peter Sloterdijk hat 1990 die DDR als ein »preußisches Österreich« bezeichnet  ! (77–78)   8 Während die Melodie der heutigen österreichischen Hymne zwar stark an Mozarts freimaurerische Kompositionen erinnert, aber nicht von ihm ist, hat Mozart ohne Zweifel die Melodien der Kaiserhymne (im Alleluja der Kantate »Exultate« KV 165) und der Marseillaise (im Klavierkonzert KV 503) vorweggenommen.   9 Es entbehrt nicht der Ironie, wenn im Jahr 2015 die bekannte französische Feministin Elisabeth Badinter an einer Biographie Maria Theresias in der folgenden Perspektive arbeitet  : »Ich zeige, dass die absolute Herrschaft (pouvoir) einer Frau viel umfassender ist als die eines männlichen Souveräns. Der Körper der Frau ist eine Quelle von Fruchtbarkeit und unvergleichlicher Macht (puissance)« (Philosophie Magazine 95, 2015/2016). 10 Peter Sloterdijk hat in seiner Philippika gegen den Nationalismus ein Vokabular gebraucht, in dem der »Mutterschoß« und »die gekränkten Muttergöttinnen mit ihren allegorischen Busen und Fahnen und Tränen und mit ihren Heldensöhnen« mit dem »feuchten vielversprechenden Grab« assoziiert werden. Maria Theresia als Nationalikone scheint diese düstere Vision zu widerlegen. 11 Die folgenden Ausführungen verdanken sich weitgehend dem außerordentlich instruktiven Aufsatz Wolfgang Häuslers, »Kaiserstaat oder Völkerverein  ? Zum österreichischen Staats- und Reichsproblem zwischen 1804 und 1848/49« in Was heißt Österreich  ? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute. Herausgegeben von Richard G. Plaschka, Gerald Stourzh und Jan Paul Niederkorn. Wien, ÖAW, 1995, S. 221–244. Im Text zitiert als Häusler. 12 Siehe dazu Schmid, Julia  : Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890–1914. Frankfurt am Main/New York, Campus, 2009, 120–141. 13 Ebda, 283.

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Anmerkungen 14 Claudio Magris  : Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966, S. 211 und Fussnote 116 für »k. k. Sozialdemokratie«. 15 So Victor-Franz von Andrian-Werburg in Oesterreich und dessen Zukunft. Potsdam 1843. 16 Das Buch ist zu einem astronomischen Preis auf Deutsch (2002), Englisch (2004) und Französisch (2010) im Verlag »Books on Demand« erhältlich und hat eine Leserschaft gefunden, die es sowohl als anthropologische Forschung wie als Bibelexegese ernst zu nehmen scheint. Seit 2011 gibt es eine neue Auflage im Verlag »Geheimes Wissen« in Graz, nach der zitiert wird. Der Verlag hat sich bemüßigt gefühlt, im Impressum festzuhalten  : »Für Schäden, die durch Nachahmung entstehen, können weder Verlag noch Autor haftbar gemacht werden.« 17 Lanz sieht übrigens in den Korpsstudenten der Burschenschaften die einzigen legitimen Vertreter germanischer Solidarität im Gegensatz zu Christentum und Sozialismus. 18 Lanz’ germanisches Virilitätsideal richtet sich nicht nur gegen die minderwertigen Rassen, sondern auch gegen die Frauen, denen wie bei Weininger oder Trebitsch nur die Alternative Mutter oder Hure offensteht. 19 Leopold Andrian (S. 16) verwahrt sich gegen den möglichen Vorwurf, seine Überlegungen über die österreichische Mission als »Phantasmagorien« anzusehen. 20 Es ist unglaublich, aber wahr  : Auch Musil schrieb 1936 in seiner Antwort auf die Frage nach einer »spezifisch österreichischen Literatur«  : »Die alte geistige deutsche Tugend der Weltaufgeschlossenheit müsste in Österreich überwintern« (Musil, Briefe, 754). 21 Ich zitiere nach Karl Kraus’ fulminanter Satire Kriegssegen (Fackel 706–711, Dezember 1925, 29–42), die leicht zugänglich ist im Gegensatz zu Bahrs Original, das er selbst schon 1916 in Schwarzgelb (131–168) ein wenig abzuschwächen suchte. 22 Das ist fast wörtlich Grillparzers Haltung. 23 Franke, Berthold, Ribbert, Ulrich und Umlauf, Joachim (Hg.)  : Kanon und Bestenlisten. Was gilt in der Kultur  ? – Was zählt für Deutschlands Nachbarn  ? Göttingen, Steidl, 2012. 24 Dieser Gedanke findet sich auch bei Josef Redlich, angewandt auf die Deutschnationalen jüdischer Herkunft (wie Friedjung oder Ludo Hartmann), die das »rituell germanische Horn« mit dem »Gott Zebaoth« kombinieren (Redlich, 321). 25 Im Völkischen Beobachter trägt die Rede den Titel »Zum Ruhm des Reiches« und beginnt mit einer Verbeugung vor Goebbels, der die Veranstaltung abgesegnet hatte. 26 Diese Waldmythologie findet sich noch hochstilisiert in Lernet-Holenias Elegie Germanien vom 8. Mai (!) 1946, in der Deutschland als »Wald der Welt  !« angerufen wird. (Lernet-Holenia, 55). 27 Zum Thema der »Halbheit« vgl. Friedrich Torberg in Spectrum Austriae, 386–387. 28 Ich habe dieses antiösterreichische Syndrom unter dem Titel Im Namen Bernhards und Waldheims analysiert in  : Koja, Friedrich und Otto Pfersmann (Hg.)  : Frankreich-Österreich. Wechselseitige Wahrnehmung und wechselseitiger Einfluss seit 1918. Wien–Köln–Graz, Böhlau, 1994, 221–245. 29 Bouveresse, Jacques  : »Infelix Austria. L’Autriche et les infortunes de la vertu philosophique«. In  : Austriaca 44, 1997 (»Aspects de la philosophie en Autriche«), 7–22. Alle Zitate aus diesem Artikel. 30 Diese Perspektive war noch am Werk in der Nummer 28, 1989 der Austriaca (»Aspects de la philosophie autrichienne«). 31 Bezeichnenderweise hat Musil Ende 1935 auf Martin Flinkers Umfrage nach dem Buch, das den »stärksten Eindruck« auf ihn gemacht habe, »ohne jede Frage die Logische Syntax der Sprache von Rudolf Carnap« genannt. Für Bouveresse gehört auch Musil zu den österreichischen Philosophen.

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Personenregister Abraham a Sancta Clara 209 Adenauer, Konrad 115 Adler, Alfred 131, 169 Adler, Friedrich 111, 115, 119, 122–124, 130, 131 Adler, Max 130, 131 Adler, Victor 87, 105, 112, 116, 118,119, 129, 130 Adorno, Theodor W. 28 Aischylos 212 Albrecht, Erzherzog 174 Alexander der Große 229 Altenberg, Peter 258 Amann, Klaus 197, 198 Anderson, Benedict 11, 13, 14, 76, 169 Andrássy, Gyula von 210 Andrian-Werburg, Leopold 63, 132, 163– 165, 167 Äneas 159 Aristophanes 158, 254 Aristoteles 226 Arminius 158 Arndt, Ernst Moritz 66, 68, 70, 78, 80, 82, 84, 85, 174, 175, 222, 262 Artus (König) 159 Aslan, Raul 207 Attila (Etzel) 86, 140 Auersperg, siehe Grün, Anastasius 71 Augusta, Königin 96 Augustus 159 Austerlitz, Friedrich 119, 130 Bach, Johann Sebastian 184, 242, 257 Bacher, Eduard 136, 163 Bachmann, Ingeborg 32, 251 Badeni, Kasimir Felix 110 Bahr, Hermann 86–92, 95, 118,119, 129, 133, 152, 153, 164, 181–189, 193, 211, 222, 242, 252, 259 Barrès, Maurice 183 Bartsch, Rudolf Hans 252 Battisti, Cesare 182, 252

Bauer, Otto 36, 37, 111, 115, 116, 118–125, 127, 128, 130, 131, 186, 192 Bäuerle, Adolf 64 Becher, Johannes R. 49 Beethoven, Ludwig van 27, 38, 49, 50, 88, 92, 134, 168, 175, 184, 204, 210, 214, 237, 238, 242, 243 Benedikt, Moriz 136, 137, 163 Bergman, Ingmar 246 Bernhard, Thomas 21, 32, 189, 236, 251, 260 Bernstein, Leonard 50 Bertaux, Pierre 29–31 Bismarck, Otto von 54, 60–62, 73, 75, 76, 80–100, 102–105, 112, 121, 125, 136, 138, 158, 182, 184, 185, 203, 210, 213, 218, 222, 236, 247, 249 Blücher, Gebhard Leberecht von 80, 179 Blum, Robert 119, 128 Böhm, Karl 241 Boltzmann, Ludwig 262, 263 Bolzano, Bernhard 261, 262 Bourdieu, Pierre 31 Bouveresse, Jacques 27, 31, 258, 261–264 Brahms, Johannes 38, 83, 88, 204 Braun, Felix 169 Braunthal, Julius 192 Brecht, Bertolt 49, 169, 198 Breitner, Burghard 22 Brentano, Clemens 176 Brentano, Franz 262 Broch, Hermann 30, 130, 131, 187, 190, 200, 215, 251, 252, 258 Brod, Max 144 Brook, Peter 28 Brutus 93 Buber, Martin 144 Büchner, Georg 234 Burckhardt, Jacob 59 Calderon de la Barca, Pedro 212 Canetti, Elias 28–31, 38, 132, 161, 169, 173, 187, 196, 200, 222, 225, 247, 252, 255, 258–260, 262

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Personenregister Carnap, Rudolf 262, 263 Celan, Paul 132, 139, 259, 260 Chamberlain, Houston Stewart 134, 154, 195 Chevènement, Jean-Pierre 32 Cicero 229 Chaplin, Charlie 225 Clemenceau, Georges 40 Collin, Heinrich von 174, 175 Comenius, Jan 210 Cranach, Lukas 193 Csokor, Theodor 132, 133, 144 Dahlmann, Friedrich Christoph 248 Dahn, Felix 195 Daim, Wilhelm 153 Daniel (Prophet) 160 Dante 243 D’Aviano, Marco 156 Dido 159 Deutsch, Julius 130 Doderer, Heimito von 64, 258 Dolgorouky, Alexandre 236 Dollfuß, Engelbert 47, 156–159, 165, 166, 223, 239 Don Juan d’Austria 19 Dreyfus, Alfred 130 Droysen, Ernst 68 Ebert, Friedrich 41, 246 Eco, Umberto 153 Egger-Lienz, Albin 25 Eichendorff, Joseph von 247 Eisler, Hanns 49 Elisabeth (Sissi) 44, 48, 219 Elisabeth II. (Zarin) 54 Engels, Friedrich 99, 121, 251 Etienne, Michel 136 Eugen von Savoyen (Prinz) 79, 98, 138, 156, 209–211, 214 Euripides 212 Felix, Julius 60, 102 Ferdinand I. (Kaiser von Österreich) 66 Ferdinand II. (Kaiser des Imperium Romanum) 51 Fichte, Johann Gottlieb 174, 234, 262

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Ficker, Ludwig von 27 Figl, Leopold 10, 171 Fischer, Ernst 36, 115 Fischer von Erlach, Johann Bernhard 185 Fischhof, Adolph 128, 141–144 Flinker, Martin 199 Forman, Milos 244 Franckel, Adolph 68 François, Etienne 235 Frankl, Ludwig August 73, 74, 108 Franz I. (Kaiser von Österreich) 9, 19, 44, 68, 72, 79, 175, 176 Franz II. (Kaiser des Imperium Romanum) 18, 43, 173, 174 Franz Ferdinand (Erzherzog) 104, 137, 151, 180, 181, 187, 215, 218 Franz Joseph I. 17, 19, 44, 45, 48, 60, 61, 85, 95, 06, 102, 116,125, 133, 137, 152, 181, 215–217, 219, 237 Franz von Lothringen 53 Franzos, Karl Emil 128, 137–140 Freud, Sigmund 11, 33, 34, 119, 129, 131, 169, 199, 200, 226, 229, 249, 258, 264 Fried, Erich 23 Friedell, Egon 138, 139, 254 Friedjung, Heinrich 118, 119,210 Friedrich I. (Großer Kurfürst) 93 Friedrich II. (der Große) 51, 53–61, 64, 80, 93, 97, 134, 138, 147, 158,161, 162, 167, 179, 182, 210, 225, 236 Friedrich III. (Kaiser) 19, 44 Fritzl, Josef 33 Furtwängler, Wilhelm 238, 241 Garibaldi, Giuseppe 73 Gellert, Christian Fürchtegott 230 Gentz, Friedrich von 176 Gerl, Franz Xaver 244 Gerlach, Leopold 95 Gervinus, Georg 248 Gluck, Christoph Willibald 60, 88, 211, 234 Goebbels, Joseph 184, 241 Gödel, Kurt 262 Goethe, Johann Wolfgang von 27, 96, 119, 130, 176, 184, 185, 192, 193, 212, 226, 227, 233, 242, 244, 246, 248, 256 Grillparzer, Franz 19, 64, 68, 107, 116, 185,

Personenregister 187, 193, 199, 204, 208, 209, 237, 240, 245, 248–252, 255, 256 Grimm, Jacob und Wilhelm 246 Grimm, Melchior 237 Grün, Anastasius 72–74, 108 Gründgens, Gustav 241 Grünewald, Matthias 193 Gugitz, Gustav 232 Habsburg, Otto 19, 45, 158, 166 Haecker, Theodor 145, 158, 159 Hahn, Hans 262 Haider, Jörg 28, 32, 33, 81, 88, 116, 216, 236 Händel, Georg Friedrich 88 Handke, Peter 32, 251 Hanslick, Rudolf 88 Hartl, Karl 243 Hartmann, Ludo 119 Häusler, Wolfgang 68, 69 Haydn, Joseph 38, 42, 43, 45–47, 49, 50, 60, 71, 168, 175, 193, 208, 210, 211, 214, 245 Haydn, Michael 257 Hayek, Friedrich 131 Hebbel, Friedrich 67, 88, 204, 219, 227, 256 Heer, Friedrich 55, 167, 177, 179, 180, 206, 207, 215 Hegel, Friedrich Wilhelm 31, 208, 234, 256, 262 Hegemann, Werner 158 Heidegger, Martin 31, 263 Heine, Heinrich 78, 162 Heinrich von Neustadt 206, 234 Henneberg, Johann Baptist 244 Herder, Johann Gottfried 141 Hermann der Cherusker (Arminius) 55, 80, 83, 84 Herzl, Theodor 119, 129,130 Hildebrandt, Lukas von 185 Hilferding, Rudolf 119, 130 Hindenburg, Paul von 220 Hitler, Adolf 9, 11, 13, 16, 20, 28, 34, 37, 41, 46, 47, 54, 60, 84, 85, 89, 91, 99, 102–105, 107, 137, 144–155, 158, 162, 165, 167, 168, 171–174, 177, 180, 183,

184, 187, 197, 199, 201, 214, 216, 223, 238, 239, 241, 252, 258, 260 Höbelt, Lothar 76 Hofbauer, Clemens Maria 185 Hofer, Andreas 80, 176, 178, 211 Hoffmann von Fallersleben, August von 44, 174 Hofmannsthal, Hugo von 38, 58–63, 81, 116, 130, 131, 163, 166–168, 177, 183, 193, 201–203, 206, 208–214, 219, 222, 227, 228, 249, 251, 252, 257–259, 262 Hojac, Peter 216 Homer 185, 243 Hormayr, Joseph von 174 Hörnigk, Philipp von 174 Horváth, Ödön von 64, 78, 200, 206, 255, 258 Huizinga, Jan 104 Humboldt, Wilhelm von 185 Hurdes, Felix 22 Husserl, Edmund 262 Innitzer, Theodor 117, 160, 171 Jahn, Friedrich Ludwig 83, 85, 93, 109, 223 Jandl, Ernst 231 Janouch, Gustav 221 Jelačić, Josip 67 Jelinek, Elfriede 32, 225, 251, 255 Johann (Erzherzog) 66 Johannes (Evangelist) 154 Johannes Paul II. 52 Joseph II. 52, 54, 57, 85, 88, 102, 108, 116, 130, 147, 148, 185, 210, 216, 227, 237 Josue 220 Julius Caesar 17, 159 Jungmann, Josef 143 Kafka, Franz 30, 131, 144, 200, 221, 222,258, 259 Kampusch, Natascha 33 Kant, Immanuel 119, 130, 221, 234, 262 Kara Mustapha 228 Karl, Erzherzog 174, 175 Karl der Grosse 159, 173, 178 Karl I. 45, 103, 123, 181, 182, 188, 211, 216

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Personenregister Karl IV. 170 Karl V. 19, 145, 159, 176, 177 Karl VI. 53 Karl VII. 53 Kelsen, Hans 131 Kernstock, Ottokar 42, 46–48, 193 Kienzl, Wilhelm 46–48 Klahr, Alfred 36, 37 Kleist, Heinrich von 80, 174–176, 226 Klopstock, Friedrich Gottlieb 80 Kohl, Helmut 32, 35 Konrad, Helmut 142 Körner, Theodor (Bundespräsident) 22 Körner, Theodor (Dichter) 80, 154, 247 Korngold, Erich Wolfgang 131 Kotzebue, August von 180 Kralik, Richard von 193 Kraus, Karl 26–28, 30, 31, 33, 43, 47–49, 75, 125, 126, 128, 131, 132, 135, 137, 158, 159, 162, 169, 182, 183, 188, 190, 191, 193, 195, 200, 203, 206, 212, 215– 225, 249, 251,252, 254, 255, 258, 262 Krauss, Clemens 241 Kreisky, Bruno 28, 30, 32, 63, 115, 135, 196, 225, 258 Kreissler, Felix 14, 30, 31, 33 Křenek, Ernst 169 Krickl, Julius 109 Krupp, Gustav 220 Kuh, Anton 238 Kurelat, Fran 140 Kürnberger, Ferdinand 138, 139, 203, 249–252, 256 Lanz von Liebenfels, Jörg 134, 135, 153–155 Lassalle, Ferdinand 121 Lehar, Franz 216 Leibniz, Gottfried Wilhelm 193 Lenau, Nikolaus 72, 204, 209, 256 Lenin 263 Leo XIII. 112 Leopold I. 159, 226 Leopold II. 159, 241 Le Rider, Jacques 31 Lessing, Gotthold Ephraim 237 Lévy, Bernard-Henri 33 Lipsius, Justus 261

280

Lohenstein, Daniel Casper von 159 Ludwig II. von Bayern 93 Lueger, Karl 76, 103–106, 110, 112, 116, 117, 131, 136, 146, 147, 150, 215 Luther, Martin 55, 76, 84, 145, 146, 157– 159, 178, 179, 227, 255, 257 Lützow, Adolf von 80 Mach, Ernst 262, 263 Magris, Claudio 106, 107 Mahler, Gustav 131, 169, 237 Mahler-Werfel, Alma 162, 237, 258 Maimann, Helene 23 Mann, Klaus 241 Mann, Thomas 55–60, 134, 145, 158, 162, 189, 199, 237 Marcus Aurelius 261 Margarita 160 Maria Theresia (Kaiserin) 45, 49, 51, 53–61, 63, 80, 93, 97,103, 116, 117,134, 135, 138, 147, 156, 161, 166, 167, 170, 181, 187, 208, 210, 214, 225, 235–237 Marie-Antoinette 55 Marie-Louise 178 Marwitz, Friedrich August von der 178 Marx, Karl 31, 119, 223 Masaryk, Tomáš G. 127 Matthäus (Evangelist) 154 Matzner-Holzer, Gabriele 34 Mauriac, François 239, 246 Mauthner, Fritz 131, 249, 263 Maximilian (Kaiser von Mexiko) 61 Mayreder, Rosa 49 Mell, Max 209 Menasse, Robert 251 Mendelssohn, Felix 247 Mendelssohn, Moses 176 Metternich, Clemens von 18, 69, 71, 72, 76, 82, 138, 150, 156, 175, 179, 210 Meyerbeer, Giacomo 163 Michelangelo 243 Miklas, Wilhelm 116 Mildenburg, Anna 88 Mitterrand, François 31 Molière 254 Moltke, Helmuth von 162 Mortier, Gérard 33

Personenregister Moses 221, 250 Mozart, Leopold 230 Mozart, Wolfgang Amadeus 25, 27, 28, 43, 49, 60, 88, 116, 117, 135, 159, 168, 184, 185, 204, 211, 212, 214, 227–246. Müller, Adam 176 Müller, Heiner 259 Müller, Robert 186–188, 211, 222 Musil, Robert 15, 16, 30, 31, 64, 126, 135,143, 152, 169, 183, 187, 189–201, 208, 213, 219, 223, 225, 252, 258, 262–264 Mussolini, Benito 39, 46 Nadler, Josef 40, 52, 54, 259 Napoleon I. 18, 41, 43, 55, 79, 80, 82, 99, 148, 152, 173, 174, 176, 178, 182, 210, 237 Napoleon III. 82, 95 Naumann, Friedrich 97–100, 103, 104, 180, 186, 203, 219 Nebukadnezar 220 Nenning, Günther 264 Nestroy, Johann 69–71, 74, 188, 190, 204, 216, 227, 253–256, 262, 264 Neurath, Otto 262 Nicolai, Friedrich 205 Nikolaus I. (Zar) 99 Nora, Pierre 235 Novalis 61, 176, 213 Odysseus 206 Offenbach, Jacques 70 Onfray, Michel 169 Palacký, František 66,67, 95, 125 Palm, Johann 148, 173, 174 Paulus (Apostel) 57 Pernerstorfer, Engelbert 90, 111, 112, 116, 118–120, 135 Pernter, Hans 199, 200, 262 Pichler, Adolf 67 Pius IX. 75 Plutarch 91 Pollak, Michael 31 Pompadour 54, 134 Popovici, Aurel 113

Popper, Karl 262 Praxiteles 243 Preradović, Paula von 49 Qualtinger, Helmut 216 Radetzky, Joseph von 19, 65, 68, 71, 208 Raimund, Ferdinand 63, 204, 255, 256 Rathenau, Walter 64, 149 Rauscher, Joseph Ottmar von 52, 73 Ray, Marcel 224 Redlich, Joseph 68, 119, 133, 180–182, 185–188, 211 Reich, Wilhelm 131 Reinhardt, Max 131 Rembrandt 243 Rembrandtdeutsche = Paul de Lagarde 195 Renner, Karl 17, 46–48, 111, 115–117, 120, 122–128, 136, 160, 181, 264 Rieger, František 143 Rilke, Rainer Maria 135, 183, 184, 189, 191, 193, 195, 200, 258, 259 Rommel, Otto 254 Rosenberg, Alfred 162 Roth, Joseph 33, 81, 82, 131, 132, 140, 158, 166–169, 187, 251, 258 Rousseau, Jean-Jacques 56 Rovan, Joseph 32 Rüdiger von Pöchlarn 86, 259 Rudolf (Kronprinz) 44, 60, 61, 97, 101, 102, 136, 137 Rudolf IV. (der Stifter) 169, 170 Saar, Ferdinand von 206 Sand, Karl Ludwig 180 Sartre, Jean-Paul 28, 224 Schack, Benedikt 244 Schärf, Adolf 118 Scharnhorst, Gerhard von 80 Schenkendorf, Max von 81 Schikaneder, Emmanuel 244 Schill, Ferdinand von 80 Schiller, Friedrich 27, 41, 42, 74, 80, 83, 85, 88, 96, 130, 174, 205, 206, 214, 246–248, 256 Schirach, Baldur von 184, 240–244 Schlaffer, Heinz 257

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Personenregister Schlageter, Leo 174 Schlegel, Friedrich 176–178 Schlick, Moritz 200, 262 Schlögl, Friedrich 250, 251 Schnitzler, Arthur 119, 128, 129, 200, 258, 265 Schönberg, Arnold 49, 131 Schönerer, Georg von 84, 88–92, 100, 109, 112, 118, 119, 129, 137, 142, 146, 150 Schopenhauer, Arthur 187, 220 Schorske, Carl 130 Schubert, Franz 168, 185, 211, 247, 257 Schulze, Hagen 235 Schuschnigg, Kurt von 42, 162, 168, 197 Schüssel, Wolfgang 52 Schwarzenberg, Friedrich von (Kardinal) 102 Schwarzenberg, Friedrich von (Dichter) 73, 209 Schweitzer, Charles 224 Seipel, Ignaz 115–117, 186, 206, 255 Severin (Heiliger) 170 Shakespeare, William 212, 227, 243, 244, 254 Silcher, Friedrich 78 Sloterdijk, Peter 11, 14 Sonnenfels, Joseph von 226 Soyfer, Jura 169 Sperber, Manès 132, 260 Spitzer, Daniel 137, 140–142 Srbik, Heinrich von 40, 52, 54 Staackmann (Verlag) 195 Stadion, Philipp Graf 174, 210 Stalin 36, 120, 124 Starhemberg, Rüdiger von (Graf ) 156, 248 Starhemberg, Rüdiger von (Fürst) 156 Stelzhamer, Franz 152, 185 Stifter, Adalbert 107, 116, 153, 185, 204, 209, 256 Stranitzky, Joseph Anton 228–230 Strauss, Johann (Vater) 68, 71, 208 Strauss, Johann (Sohn) 70, 71, 135, 208, 227, 235 Strauss, Joseph 71, 208 Strauss, Richard 184, 241 Stürgkh, Karl von 122 Suttner, Bertha von 49

282

Szeps, Moriz 101 Taaffe, Eduard von 101 Tacitus 78, 83, 95, 189 Tandler, Julius 130, 131 Tell, Wilhelm 93 Torberg, Friedrich 132, 251, 252 Toscanini, Arturo 238 Trakl, Georg 27, 252, 258 Trebitsch, Arthur 58, 134, 135, 138, 155 Trotski, Leon 120 Tschirschky, Heinrich von 180 Tschuppik, Karl 60, 167 Uhland, Ludwig 72, 82 Ulbricht, Walter 240 Ungerer, Toni 240 van Swieten, Gerhard 226 Veit, Dorothea 176 Velasquez, Diego 160 Vergil 145, 158 Viertel, Berthold 224, 252 Voltaire 56 Wagner, Adolf 91 Wagner, Eva 154 Wagner, Richard 21, 53, 56, 62, 84, 86–89, 91, 92, 154, 164, 184, 185, 195, 214, 219, 227, 236, 237, 242, 245, 256 Waldheim, Kurt 32, 216, 236, 260 Walter, Bruno 237, 239 Walther von der Vogelweide 209 Wandruszka, Adam 136 Wassermann, Jakob 165 Watzlawick (siehe Waldheim) Weber, Carl Maria von 81 Weigel, Hans 132, 251 Weininger, Otto 53, 62, 89, 134, 135, 153–155, 187 Weiss, Ernst 258 Werfel, Franz 131, 132, 157, 158, 160–162, 166, 200, 225, 258 Werner, Zacharias 176 Wessel, Horst 21 Westenthaler (Hojac), Peter 216 Wildgans, Anton 116, 200–209, 222, 252

Personenregister Wilhelm I. 44, 76, 82, 90, 91, 96 Wilhelm II. 55, 56, 119, 137, 152, 184, 218–221, 240 Wilson, Woodrow 41 Winkler, Josef 251 Winter, Ernst Karl 36, 169, 170 Wittgenstein, Ludwig 31, 130,131, 249, 263, 265 Wolf, Hugo 88

Wolff, Theodor 206 Wotruba, Fritz 169 Zemlinsky, Alexander von 131 Zernatto, Guido 36 Zita (Kaiserin) 45, 211 Zoff, Otto 210 Zweig, Stefan 131, 133, 158, 169, 183, 200, 258

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WILLIAM M. JOHNSTON

ZUR KULTURGESCHICHTE ÖSTERREICHS UND UNGARNS 1890–1938 AUF DER SUCHE NACH VERBORGENEN GEMEINSAMKEITEN AUS DEM ENGLISCHEN VON OTMAR BINDER (STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG, BAND 110)

Österreich und Ungarn generierten nicht nur nationale Kulturen, sondern auch eine bisher unterbewertete „Reichskultur“, die ihren Niederschlag in Literatur, Operette, Architektur, Design und Psychoanalyse fand. William M. Johnston bietet anhand seiner profunden Recherche literarischer Quellen eine neue Sichtweise auf die Zeit der Doppelmonarchie und deren Nachfolgestaaten. Auf bauend auf seinen Standardwerken Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte und Der österreichische Mensch untersucht William M. Johnston in seinem neuen Werk Denkmodelle, die die kulturelle Konkurrenz zwischen Wien und Budapest in der Spätphase der Doppelmonarchie beleuchten. Er bedient sich dazu neuer Leitbegriffe, die entweder noch weitgehend unbekannt sind (Virgil Nemoianus „mitteleuropäische Lernethik“, Peter Weibels „dritte Kultur der Wissenschaft als Kunst“) oder die, wie das „Unklassifi zierbare“, neu konzipiert wurden. Gemeinplätze wie „Wien 1900“ oder „Budapest 1905“ werden aus drei Blickwinkeln untersucht: dem österreichischen, dem ungarischen und jenem der Doppelmonarchie. 2015. 328 S. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-79541-4

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William m. Johnston

Österreichische Kultur- und GeistesGeschichte Gesellschaft und ideen im donauraum 1848 bis 1938

Wer erinnert sich heute noch daran, dass etwa die moderne Sprachphilosophie, die Psychoanalyse, die Soziologie des Wissens, der Feuilletonismus, der Ästhetizismus Hofmannsthalscher Prägung, die Reine Rechtslehre, die Zwölftonmusik von Österreich aus ihren Weg angetreten haben? Viele der Persönlichkeiten, die dieses Buch behandelt, sind weltbekannt geworden und geblieben, andere wieder sind so gut wie vergessen, aber ihr Beitrag zu einem neuen Weltbild verdient es sehr wohl, sich mit ihnen auseinander zu setzen. de r autor: William M. Johnston, geb. 1936; war Professor für Geschichte an der University of Massachusetts, seit 2001 lehrt er am College of Divinity in Melbourne. Sein Klassiker „The Austrian Mind“ erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte“ 1974 im Böhlau Verlag und erhielt dafür den Austrian History Award. 2006. 4. erG. aufl. X X XV, 506 s. Gb. m. su. 170 X 240 mm. isbn 978-3-205-77498-3

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FRIEDRICH HEER

DER K AMPF UM DIE ÖSTERREICHISCHE IDENTITÄT

Lange bevor die Diskussion um „kulturelle Identitäten“ eingeläutet wurde, hat einer der bedeutendsten österreichischen Kulturhistoriker, Friedrich Heer, die Frage nach einem „Österreichbewusstsein“ gestellt. Entstanden ist dabei ein Opus magnum, das 1000 Jahre österreichische Geschichte, von der Begründung der Mark bis zur Zweiten Republik, unter spezifisch geistes- und kulturgeschichtlichen Aspekten vor uns abrollen lässt. Friedrich Heer leistet dabei Pionierarbeit zu politischen Psychologie ebenso wie zur Erkundung der „österreichischen Krankheit“, die ein einer prolongierten Identitätskrise besteht. Der Verfasser der „Europäischen Geistesgeschichte“ führt die „österreichische Idee“ auf den Prüfstand der Geschichte – ein Standardwerk in dritter Auflage wieder lieferbar, aktueller denn je. 3. AUFLAGE 2001. 564 S. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-99333-9

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