Schwebezustände: "Frauen" von Thomas Schütte 9783110693195, 9783110671117

Paul-Clemen-Preis 2019 Thomas Schütte’s Frauen (Women) reactivate the intensely debated field of the conventional fem

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German Pages 272 [248] Year 2020

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Schwebezustände: "Frauen" von Thomas Schütte
 9783110693195, 9783110671117

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Schwebezustände

Linda Walther

SCHWEBEZUSTÄNDE Frauen von Thomas Schütte

DE GRUYTER

D61 Die Dissertation ist in dem DFG-Graduiertenkolleg „Materialität und Produktion“ an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf entstanden. Sie wurde von der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. gefördert und mit dem Dissertationspreis des Kreises der Freunde des Instituts für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und mit dem Paul-Clemen-Preis ausgezeichnet.

ISBN 978-3-11-067111-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069319-5

Library of Congress Control Number: 2020937621 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Covergestaltung: Katja Peters, Berlin, unter Verwendung eines Details eines Fotos von Nic Tenwiggenhorn der Plastik Aluminiumfrau Nr. 12 von Thomas Schütte (wie Farbtafel 21 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020). Satz: LVD GmbH, Berlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com



INHALT

  7 EINLEITUNG  13  15  19  22  30

I. PRODUKTION I.1 Ceramic Sketches I.2 Frauen I.3 Prozesse I.4 Zusammenfassung

 33  36  46  56  66  76  81  85

II. MATERIAL II.1 Ton II.2 Gips II.3 Stahl II.4 Bronze II.5 Aluminium II.6 Oberflächenmaterialien II.7 Zusammenfassung

 89 III. TRANSFORMATIONSPROZESSE  89 III.1 Ceramic Sketches  96 III.2 Bezugsysteme 102 III.3 Zusammenfassung IV. SUJET 105 IV.1 Der weibliche Akt 105 120 IV.2 Einzelanalysen 150 IV.3 Zusammenfassung V. PRÄSENTATION 155 V.1 Regal und Tisch 155 159 V.2 Gruppenpräsentationen 173 V.3 Einzelpräsentationen 178 V.4 Zusammenfassung

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INHALT

181 FAZIT 185 FARBTAFELN 233 LITERATUR 245 BILDNACHWEIS

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EINLEITUNG

In den Jahren 1998 bis 2006 entsteht in Düsseldorf eine Gruppe von insgesamt 90 überlebensgroßen Plastiken aus Stahl, Bronze und Aluminium mit dem Titel Frauen.1 In ihrem monumentalen Format und in ihrer irritierenden Figürlichkeit rekurriert diese Werkgruppe einerseits auf vorgeblich längst obsolet gewordene, die Bildhauerei betreffende, Gattungsfragen und andererseits reaktiviert sie auf der Ebene des Sujets das heftig debattierte Feld des tradierten weiblichen Aktes, das am Ende des 20. Jahrhunderts ebenfalls als anachronistisch gilt.2 Es stellt sich die Frage, wie Thomas Schüttes Frauen vor diesem Hintergrund einzuordnen sind und insbesondere auf welche Weise sich der Künstler, Jahrgang 1954, zu einer Zeit, in der die klassische Aktfigur seit gut 30 Jahren aus der Kunstproduktion der Avantgarden verschwunden ist,3 diesem problematischen Themenkomplex nähern kann.

1   Die Jahresangaben des Entstehungszeitraums der Werkgruppe sind der Homepage von Thomas Schütte entnommen, in der Literatur weichen sie teilweise geringfügig ab (vgl. http://www.thomas-schuette.de/ ajax.‌php#/2.08.10 (14.12.2017 08:40)). 2   In den Kapiteln Produktion und Sujet der vorliegenden Arbeit werden die beiden genannten Problemfelder vertieft. 3   Den Referenzrahmen bildet hier die westliche Kunst(-geschichte), in der die Aktfigur sich, wie in dem Abschnitt Der weibliche Akt des Kapitels Sujet der vorliegenden Arbeit skizziert, entwickelt. Henry Moore kann als einer der letzten Bildhauer angesehen werden, die sich diesem Sujet in klassischer Weise, wenn auch im Rahmen formaler Experimente und innerhalb teils deutlicher Abstraktion, im großen Format und tradierten Material widmen. In dieser Form spielt der menschliche Körper seit den 1960er Jahren in der Bildhauerei eine untergeordnete Rolle. Die Beispiele für figurative Plastik dieser Zeit (zu nennen sind Künstler wie Bruce Connor, Ed Kienholz, George Segal, Duane Hanson) bestehen aus Kunst- und organischen Stoffen wie Wachs und Gummi. Auch werden diese Figuren nicht mehr auf Sockel gestellt, sondern z. B. Teil verschiedener Szenerien. Vgl. dazu auch Reuter, Guido: Die figürliche Plastik von 1945 bis heute. Grundzüge der allgemeinen Entwicklung mit einem Blick auf die Situation an der Düsseldorfer Kunstakademie, in: Kunst­ akademie Düsseldorf und Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Hgg.): Die Bildhauer. Kunstakademie Düsseldorf, 1945 bis heute, Ausst. Kat., Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Bielefeld 2013, S. 42–50 sowie überblickshaft z. B. Rugoff, Ralph (Hg.): The Human Factor. The Figure in Contemporary Sculpture, Ausst. Kat., Hayward Gallery, London, London 2014. Vertiefend und grundlegend für Entwicklung und Kritik der Bildhauerei im 20. Jahrhundert vgl. Krauss, Rosalind E.: Passages in Modern Sculpture, New York 1977, Krauss, Rosalind E.: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge 1985, Potts, Alex: The Sculptural Imagination. Figurative, Modernist, Minimalist, New Haven/London 2000 und Rowell, Margit (Hg.): Skulptur im 20. Jahrhundert. Figur – Raumkonstruktion – Prozeß, München 1986.

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Einleitung

Die Untersuchung der Frauen im Hinblick auf diese Frage geht von der These aus, dass ein grundlegendes Prinzip des In-der-Schwebe-Haltens es dem Künstler ermöglicht, das klassische Sujet im klassischen Material zu bearbeiten. Gemeint ist eine künstlerische Strategie, die Schüttes gesamtem Œuvre inhärent ist, an zentralen Stellen produktiv wird und Freiräume schafft. Im Fall der Frauen – so die zu überprüfende These – bewahrt sie die Figuren davor, zu den klassischen, idealen, gültigen Kunstwerken zu werden, die sie auf den ersten Blick – z. B. großformatiger, liegender Frauenakt in Bronze – zu sein scheinen. Damit verbunden ist auch das Ergebnis, dass für überholt erklärte Praktiken, Materialien und ebenso das Sujet für die aktuelle Kunstproduktion im Sinne einer Neuausrichtung zurückgewonnen werden können. Die Benennung dieses Konzeptes des Schwebezustands geht auf eine Formulierung Thomas Schüttes in einem 1994 publizierten Interview von Matthias Winzen zurück, in dem er sagt: „Dagegen ist so etwas wie Leichtigkeit ein Grundbedürfnis von mir, also Dinge in der Schwebe halten.“4 Dieser Gedanke entwickelt sich bereits in seinen frühen Arbeiten. In Bezug auf die Arbeit Lager (1978), die er in der Klasse von Gerhard Richter während des Rundgangs an der Kunstakademie Düsseldorf präsentiert,5 sagt Schütte in einem Interview von James Lingwood: „It was better to keep things in the air rather than close them down […].“6 Der Künstler beschäftigt sich in den 1970er und ‑80er Jahren in Düsseldorf – wie einige seiner Weggefährten, den so genannten „ModellBauer[n]“7 (u. a. Ludger Gerdes und Wolfgang Luy) – mit 4   Zitat Thomas Schütte, in: Winzen, Matthias: Ein Gespräch mit Thomas Schütte, in: Das Kunst-Bulletin, Nr. 10, Zürich 1994, S. 14–23, S. 21. 5   Die Arbeit Lager wird in dem Kapitel Transformationsprozesse im Abschnitt Ceramic Sketches der vorliegenden Arbeit besprochen. Thomas Schütte hat von 1973 bis 1981 an der Kunstakademie Düsseldorf, zunächst bei Fritz Schwegler und dann bei Gerhard Richter, studiert. Er besuchte darüber hinaus Veranstaltungen von Benjamin H. D. Buchloh. Sein Umfeld bestand aus Studierenden der Bühnenbild- und der Fotoklasse und außerhalb der Akademie aus Künstlern, deren Werk in der Konrad Fischer Galerie (Düsseldorf) präsentiert wurde, wo Schütte 1981 erstmals ausstellt. Dort – und in der Galerie Rüdiger Schöttle (München)  – beginnt seine Karriere, die sich ab den späten 1980er Jahren internationalisiert. (Vgl. für biografische Angaben u. a. Winzen, Matthias (Hg.): Thomas Schütte. Zeichnungen, Ausst. Kat., Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, DePont museum of contemporary art, Tilburg, Neues Museum, Staatliches Museum für Kunst und Design, Nürnberg, Köln 2006 und Friedrich Christian Flick Collection, Berlin (Hg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Köln 2004.) Zu dem Wirken des Galeristen Konrad Fischer vgl. Kölle, Brigitte: okey dokey. Konrad Fischer, Köln 2007 und Kruszynski, Anette (Hg.): Wolke & Kristall. Die Sammlung Dorothee und Konrad Fischer, Ausst. Kat., Stiftung Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Bielefeld 2016. 6   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood, James: Interview. James Lingwood in conversation with Thomas Schütte, in: Thomas Schütte, Ausst. Kat., Whitechapel Art Gallery, London, De‑Pont-Stichting voor Hedendaagse Kunst, Tilburg, Fundação de Serralves, Porto, London 1998, S. 8–37, S. 21. 7   Schmidt-Wulffen, Stephan: Die ModellBauer kommen. Künstler als Bastler, in: Westermanns Monatshefte. Das Kulturmagazin, Nr. 1, München 1985, S. 22–29, S. 22. Dabei handelt es sich um einige zu diesem Zeitpunkt junge (vornehmlich Düsseldorfer) Künstler, die sich in ihren Werken mit dem Modellstatus beschäftigen und das Modell als künstlerische Ausdrucksform nutzen. Sie werden auch gemeinsam ausgestellt, z. B. von Julian Heynen im Jahr 1984 im Haus Esters (Krefeld) (Katalog: Döhne, Volker (Hg.): Ludger Gerdes, Harald Klingelhöller, Wolfgang Luy, Reinhard Mucha, Thomas Schütte, Ausst. Kat., Museum Haus Esters, Krefeld, Krefeld 1984).

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EINLEITUNG

dem Status und der Funktion von Kunst. Sie hinterfragen den autonomen, subjektiven, definitiven Charakter von Kunstwerken und arbeiten an einer Kunst, die nicht länger unter dem (modernen) Diktat der Autonomie steht.8 Dekorative, narrative und figurative Aspekte werden wieder zugelassen und die Vorstellung eines abgeschlossenen Einzelwerks wird infrage gestellt und als eine veränderbare Möglichkeit von vielen ausgehöhlt. Diese grundlegenden Ideen und Prinzipien entwickeln sich in Schüttes Gesamtwerk – exemplarisch für den Modus des Vorschlags sind die kontinuierlich entstehenden Architekturmodelle9 – zu einer künstlerischen Strategie, dem In-der-Schwebe-Halten.10 Zu welchen Zeitpunkten, in welchen Erscheinungsweisen und mit welchen Funktionen diese Strategie innerhalb der Werkgruppe Frauen sichtbar und produktiv wird, zeigt sich in fünf Momenten der Werkgenese, die sich zwischen der Herstellung der Figuren und ihrer Ausstellung in unterschiedlichen Kontexten befinden: Zunächst sind die vielgestaltigen Prozesse ihrer Produktion (I.) und die eng mit diesen zusammenhängenden, verwendeten Materialen (II.) zu nennen. Der Blick auf die Transformationsprozesse (III.) leitet die Analyse in die Bereiche des Sujets (IV.) und schließlich der Präsentation (V.). Diese fünf Analysefelder oder Schwebezustände gliedern die vorliegende Untersuchung der Werkgruppe. Sie ermöglichen es, die Frauen unter Berücksichtigung des Konzeptes des In-der-Schwebe-Haltens, das die traditions- und hunderte Kilo schweren Großplastiken in Bewegung hält, zu erforschen.

8   Vertiefend zu den künstlerischen Ideen und Entwicklungen dieses Umfelds in dieser Zeit vgl. Bußmann, Klaus, König, Kasper und Matzner, Florian (Hgg.): Skulptur Projekte in Münster 1987, Ausst. Kat., Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in der Stadt Münster, Köln 1987; Johnen, Jörg: Einführung, in: Der versiegelte Brunnen, Ausst. Kat., Rotterdamse Kunststichting, Rotterdam 1984, S. 7–14; Johnen, Jörg (Hg.): Goldener Oktober. Architektur, Skulptur, Malerei, Dekoration, Fotografie, Film, Musik, Theater und Tanz, Kunstforum International, Nr. 65, Köln 1983; Hermes, Manfred: Kunstforum. Modelle im öffentlichen Raum, in: Germer, Stefan und Graw, Isabelle (Hgg.): Texte zur Kunst, Nr. 16, Berlin 1994, S. 118–124; König, Kasper (Hg.): Von hier aus, Ausst. Kat., Gesellschaft für aktuelle Kunst Düsseldorf, Köln 1984; Konstruierte Orte. Burton, Gerdes, Huber, Klingelhöller, Luy, Mucha, Schütte, Ausst. Kat, Kunsthalle Bern, Bern 1983; Kreuzer, Stefanie (Hg.): Kavalierstart 1978–1982. Aufbruch in die Kunst der 80er, Ausst. Kat., Museum Morsbroich Leverkusen, Köln 2008; Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (Hg.): Es geht voran. Kunst der 80er: Eine Düsseldorfer Perspektive, Ausst. Kat., Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, München/Berlin/London/New York 2010; Kunstszene Düsseldorf, das kunstwerk. zeitschrift für moderne kunst, Nr. 4/5, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988; Loock, Ulrich: Die Topo­ graphie des Werks, in: Thomas Schütte, Ausst. Kat., Kunsthalle Bern, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Stedelijk Van Abbe-Museum, Eindhoven, Bern 1990, S. 13–34; Meister, Helga: Kunst in Düsseldorf, Köln 1988; Schmidt-Wulffen, Stephan: Spielregeln. Tendenzen der Gegenwartskunst, Köln 1987; Johnen, Jörg (Hg.): Res Publica. Plätze, Gärten, Monumente, Kunstforum International, Nr. 81, Köln 1985; Schneede, Uwe M. und Schneede, Marina: Skulptur-Räume. Die jungen Deutschen der achtziger Jahre. Bogomir Ecker, Stephan Huber, Raimund Kummer, Olaf Metzel, Reinhard Mucha, Hermann Pitz, Thomas Schütte, Regensburg 1997. 9  Vertiefend zu den Architekturmodellen vgl. Thomas Schütte. Big Buildings. Modelle und Ansichten 1980–2010, Ausst. Kat., Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Köln 2010. 10   Einige grundlegende Aspekte zum Œuvre Thomas Schüttes sind in dem Kapitel Werkinterne Sujet-Entwicklung der vorliegenden Arbeit zusammengefasst.

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Einleitung

Das künstlerische Werk von Thomas Schütte genießt seit den frühen 1980er Jahren – etwa seit er die Kunstakademie Düsseldorf 1981 verlassen hat – große Beachtung. Die Literaturlage zu der Arbeit des Künstlers ist entsprechend umfangreich. Dabei handelt es sich vor allem um eine Vielzahl von Ausstellungskatalogen, die sein Œuvre dokumentieren und mit Texten begleiten. Seit 1984 ist jährlich mindestens eine Publikation zu einer Einzelausstellung Schüttes erschienen  – insgesamt sind es in über 30  Jahren etwa 50 Einzelkataloge.11 Die Zahl der Publikationen zu internationalen Gruppenausstellungen, an denen der Künstler beteiligt war, übersteigt schnell einhundert. Diese werden durch zahllose Besprechungen in der (Fach‑)Presse begleitet. Eine wissenschaftliche, universitäre Auseinandersetzung mit dem Werk Schüttes wurde bislang nicht veröffentlicht. Gleiches gilt für die Werkgruppe Frauen. Seit der ersten Präsentation der ersten vier Stahlfrauen unter dem Titel In Medias Res im Jahr 1999 in der Dia Art Foundation (New York) werden sie durch Kataloge mit Abbildungen und Texten und in Ausstellungs­ rezensionen besprochen, dokumentiert, kommentiert, seltener analysiert. In der Publikation zu der New Yorker Schau geben Gertrud Sandqvist und Susan Stewart in ihren Beiträgen einige Hinweise zur Werkgenese und sie weisen auf die Kontexte der Arbeiten im Œuvre und in der Kunstgeschichte hin.12 Auch eine kritische Auseinandersetzung in Bezug auf das Geschlechterverhältnis wird in essayistischer Form, insbesondere von Sandqvist, angestoßen. Als die ersten fünf Bronzefrauen erstmals öffentlich in Deutschland gezeigt werden – im Sommer des Jahres 2000 im Schlosspark Wendlinghausen unter freiem Himmel – erscheint ein knapper Katalog mit Fotografien der Plastiken und einem kurzen, einführenden Text von Angela Lampe.13 Ein Jahr später beschäftigt sich Cay Sophie Rabinowitz im Katalog zu einer Einzelausstellung Schüttes in der Sammlung ­Goetz (München) etwas ausführlicher mit den Figuren und reißt erneut zentrale Fragen zur Interpretation und zur Verankerung im Gesamtwerk und in der Tradition an.14 Die Publikation enthält darüber hinaus ein Interview, das James Lingwood im Jahr 2000 mit Schütte führte.15 Die Frauen sind Hauptgegenstand dieses Gesprächs, in dem der Künstler vor allem Auskunft über die Produktionsprozesse der Figuren  – inklusive der zu11   Die Homepage von Thomas Schütte beinhaltet eine ausführliche Publikationsliste des Künstlers (www. thomas-schuette.‌de (15.12.2017 15:30)). 12   Vgl. Sandqvist, Gertrud: Zwischen Mann und Frau, in: Cooke, Lynne und Kelly, Karen (Hgg.): Thomas Schütte. Scenewright – Gloria in Memoria – In Medias Res, Ausst. Kat., Dia Art Foundation New York, Düsseldorf 2002, S. 140–147 und Stewart, Susan: In Medias Res, in: ebd., S. 122–133. 13   Vgl. Lampe, Angela: Sinnliche Entwürfe. Reflexionen über Thomas Schüttes Installation „5 Frauen“ im Schlosspark Wendlinghausen, in: Kellein, Thomas (Hg.): Thomas Schütte. 5 Frauen, Ausst. Kat., Schlosspark Wendlinghausen, Münster 2000, S. 1–3. 14   Vgl. Rabinowitz, Cay Sophie: Maskierung der Moderne. Thomas Schüttes Akte, in: Goetz, Ingvild und Schumacher, Rainald (Hgg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Sammlung Goetz, München, Ostfildern 2001, S. 89–94. 15   Vgl. Lingwood, James: Gespräch mit Thomas Schütte in Düsseldorf und London. Juli/Dezember 2000, in: ebd., S. 76–88.

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EINLEITUNG

grunde liegenden Ideen, der Widerstände, der Probleme etc. – gibt. Im Rahmen der Präsentation einiger der Frauen im Innenhof des Museum Folkwang (Essen) im Jahr 2002 erscheint eine kleine Falt-Publikation mit Fotografien der Arbeiten und einem sehr kurzen Text von Hans Rudolf Reust.16 Im Jahr 2003 folgt eine umfangreiche Werkschau Schüttes, die ebenfalls einige Frauen beinhaltet und durch die Schweiz, Frankreich und Deutschland tourt.17 Der ausführlichere im Katalog zur Ausstellung enthaltene Beitrag von Jan Thorn-Prikker formuliert unter dem Abschnitt „Kunst als Frauenhandel“18 das problematische Sujet betreffende Aspekte auf eine provokante Weise, ohne sich diesen Fragestellungen vertiefend und systematisch zu widmen. Eine weiterführende Beschreibung der Werkgruppe bilden Ulrich Loocks Text Ein ziemlich ernsthaftes Spiel und sein Interview mit Thomas Schütte. Beide Beiträge sind in dem Katalog einer Einzelausstellung in der Christian Flick Collection (Berlin) im Jahr 2004 publiziert.19 Sie beschäftigen sich zwar mit dem Gesamtwerk des Künstlers, doch bieten sie umfangreiche Informa­ tionen zu den Frauen und den Ceramic Sketches. In den folgenden Jahren findet die Werkgruppe in Publikationen zu Überblicksausstellungen keine oder nur am Rande Beachtung,20 bis im Jahr 2010 der Aufsatz Reclining Sculpture von Penelope Curtis – veröffentlicht in dem Katalog zu einer Einzelausstellung Schüttes im Museo Reina Sofia (Madrid)  – erneut die Werkgruppe in Hinsicht auf kunsthistorische Referenzen befragt.21 Zwei Jahre später – und damit 13 Jahre nach ihrer ersten öffentlichen Präsentation – wird die Werkgruppe erstmals und bislang einmalig komplett in einer Wanderausstellung in Italien, Finnland und Deutschland präsentiert.22 Die dazu veröffentlichte Publikation beinhaltet neben einem umfassenden Abbildungsteil zwei knappe Überblickstexte von Andrea Bellini und Dieter Schwarz.23 Danach werden einige der Frauen weiterhin in 16   Vgl. Reust, Hans Rudolf: Akte aus Ton und Stahl, in: Thomas Schütte. Stahlfrauen, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen, Essen 2002, S. 7–8. 17   Die Ausstellung Kreuzzug war von 2003 bis 2004 zu sehen in: Kunstmuseum Winterthur, Musée de Grenoble und Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. 18   Thorn-Prikker, Jan: Erstarrte Erregung, in: Thomas Schütte. Kreuzzug 2003/2004, Ausst. Kat., Kunstmuseum Winterthur, Musée de Grenoble, K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Essen 2003, S. 5–19, S. 17. 19   Vgl. Loock, Ulrich: Thomas Schütte: Ein ziemlich ernsthaftes Spiel, in: Friedrich Christian Flick Collection, Berlin (Hg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Köln 2004a, S. 9–69 und Loock, Ulrich: Im Gespräch mit dem Autor, in: ebd., S. 71–211. 20   Zu nennen ist u. a.: Thomas Schütte. Zeichnungen, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, DePont museum of contemporary art, Tilburg, Neues Museum, Staatliches Museum für Kunst und Design, Nürnberg (2006– 07), Katalog: Winzen 2006. 21   Vgl. Curtis, Penelope: Reclining Sculpture, in: Cooke, Lynne (Hg.): Thomas Schütte. Hindsight, Ausst. Kat., Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia Madrid, Madrid 2010, S. 52–64. 22   Die Wanderausstellung mit dem Titel Frauen war von 2012 bis 2014 zu sehen in: Castello di Rivoli, Sara Hildén Art Museum, Tampere und Museum Folkwang, Essen. 23   Vgl. Bellini, Andrea: Erreichtes als Neubeginn. Die Skulpturen von Thomas Schütte, in: Thomas Schütte. Frauen, Ausst. Kat., Castello di Rivoli. Museo d’Arte Contemporanea Turin, Museum Folkwang, Essen, Düsseldorf 2012, S. 117–123 und Schwarz, Dieter: Figuren im Abseits, in: ebd., S. 9–12.

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Einleitung

Einzelausstellungen des Künstlers neben weiteren Werken gezeigt.24 In dem Katalog zu der Ausstellung Thomas Schütte. Figur in der Fondation Beyeler (Riehen) erscheint im Jahr 2013 ein Interview von Theodora Vischer mit dem Künstler zu der Werkgruppe und Rita E. Täuber veröffentlicht einen einführenden Text in der Publikation der Kunsthalle Vogelmann (Heilbronn) im Jahr 2014.25 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Thomas Schüttes Frauen sich auf den Ausstellungsbetrieb beschränkt. Die Werkgruppe wird seit dem Beginn ihrer Entstehung vor gut 20 Jahren bis heute in international renommierten Institutionen präsentiert. Zu diesen Ausstellungen erscheinen zahlreiche, meist überblickshafte und beschreibende Texte, die zentrale Aspekte der Figuren – Produktionsbedingungen, historische Referenzen, Geschlechterproblematik – durchaus ansprechen, sich ihnen aber kaum ausführlich widmen. Einige Interviews mit Thomas Schütte zu seinen Werken beinhalten aufschlussreiche Hinweise und Ansätze, bleiben aber weitestgehend unkommentiert und ohne Interpretation. Die vorliegende monografische Analyse widmet sich den Frauen erstmals ausführlich. Unter Berücksichtigung der bereits geleisteten Arbeiten und gestellten Fragen sowie durch das Formulieren und Bearbeiten neuer Fragen, bildet sie somit den Startpunkt für eine akademische Beschäftigung mit dem Werk eines der erfolgreichsten Bildhauer der Gegenwart und insbesondere mit einer seiner bekanntesten und provokantesten Werkgruppen.

24   Zu nennen sind u. a.: Thomas Schütte. With Tears in my Ears, Jarla Partilager, Berlin (2012–13) und Thomas Schütte. United Enemies, Moderna Museet, Stockholm (2016–17). Zu beiden Ausstellungen sind Kataloge erschienen: Wester, Anders (Hg.): Thomas Schütte. With Tears in my Ears, Ausst. Kat., Jarla Partilager, Berlin, Berlin 2012 und Olof-Ors, Matilda (Hg.): Thomas Schütte. United Enemies, Ausst. Kat., Moderna Museet, Stockholm, London 2016. 25   Vgl. Vischer, Theodora: 14 Geschichten. Thomas Schütte im Gespräch mit Theodora Vischer, in: Vischer, Theodora (Hg.): Thomas Schütte. Figur, Ausst. Kat., Fondation Beyeler, Riehen / Basel, Köln 2013, S. 27–158 und Täuber, Rita E.: Frauen, in: Gundel, Marc und Täuber, Rita E. (Hgg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Städtische Museen Heilbronn – Kunsthalle Vogelmann, München 2014, S. 96–101.

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I. PRODUKTION

In demselben Jahr, in dem Thomas Schütte die ersten in Stahl und Bronze gegossenen Exemplare seiner Werkgruppe Frauen erstmals der Öffentlichkeit präsentiert, stellt Dieter Mersch in dem Band Kunst ohne Werk. Ästhetik ohne Absicht (2000) für die aktuelle Kunstproduktion fest, dass sie sich nicht weiter auf die Prinzipien des Werks, der Form, der Gestaltung oder des Ausdrucks stütze, sondern dass sie zunehmend zur Performation, zum Ereignis, zum Spiel oder zur Inszenierung werde.26 Er sieht darin im Anschluss an die Entwicklungen seit den 1960er Jahren eine „radikale[] Transformation der Kunst“27 vom Werkhaften zum Performativen.28 Wie lässt sich diese Diagnose mit Schüttes zeitgleich entstehenden, großformatigen, hunderte Kilo schweren, figurativen Metallplastiken zusammenbringen? Auf den ersten Blick scheinen sie ihr in ihrer massiven, werkhaften Präsenz entgegenzustehen und stattdessen den für überkommen erklärten Prinzipien zu entsprechen. Ein zweiter Blick, der die dynamischen Prozesse der Produktion der Frauen, und nicht nur die statischen (End‑)Produkte, fokussiert, vermag es, diesen vermeintlichen Widerspruch aufzulösen. Er richtet sich – im Sinne einer poietischen Kunstauffassung – auf die konkreten Entstehungsvorgänge der Plastiken sowie auf Phänomene, die diese Vorgänge begleiten, rah26   Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Radikale Transformation der Kunst vom Werkhaften zum Performativen, in: Bianchi, Paolo (Hg.): Kunst ohne Werk. Ästhetik ohne Absicht, Kunstforum International, Nr. 152, Köln 2000, S. 94–103, S. 99. 27  Ebd. 28   Zentral und exemplarisch für diese Entwicklung ist das Konzept der documenta 5 (1972), die Harald Szeemann ursprünglich nicht weiter als ‚Museum der 100 Tage‘, sondern als ‚Hundert-Tage-Ereignis‘ geplant hatte, und die für viele Künstler_innen der Generation wichtige Impulse geliefert hat. Die Kasseler Schau zeichnete sich neben der Betonung des Prozesshaften durch ein Nebeneinander verschiedenster Kunstgattungen, ‑stile und ‑strömungen aus und verhandelte die Frage, was alles Kunst sein kann. Thomas Schütte beschreibt den Besuch der Großausstellung als die Initialzündung für seine ernsthafte Beschäftigung mit Kunst: „Eine Polke-Frage. Wie komme ich zur Kunst? Mit dem Bus. Nein, ganz einfach. Im Jahr der documenta V von Harald Szeemann, also 1972, war ich achtzehn Jahre alt, in einem Alter, wo ich überlegte, was ich machen sollte. Wir fuhren mit der Schule als Zwangsbesucher nach Kassel. Großartig fand ich, was nie abgebildet wurde und nicht abbildbar war, darunter die Streifen von Daniel Buren wie den Raum von Bruce Nauman. Alle waren ganz frisch. Beuys saß da hundert Tage herum. In der Kunst schien mir alles machbar. Danach bewarb ich mich in Düsseldorf an der Kunstakademie.“ (Zitat Thomas Schütte, in: Jocks, Heinz-Norbert: Thomas Schütte: „Man kann auch schattenboxen oder weiter stochern im Nebel“. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, in: Reck, Hans Ulrich: Zwischen erinnern und vergessen, Kunstforum International, Nr. 128, Köln 1994, S. 244–261, S. 244).

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I. Produktion

men und reflektieren und macht damit Bedingungen, Strategien und Akteure sichtbar, die von zentraler Bedeutung für die Analyse der Frauen und ihren Status als Kunstwerke sind.29 Seit dem Beginn seiner bildhauerischen Tätigkeit arbeitet Thomas Schütte innerhalb der zwei Arbeitsfelder Architekturmodelle und (menschliche) Figur, auf denen er sich kontinuierlich bewegt, in Werkgruppen. Im Bereich der menschlichen Figuren dominieren seit den frühen 1980er Jahren aufrechtstehende Exemplare, die Titel wie Mann im Matsch (ab 1982) und United Enemies (ab 1992) tragen. Die Arbeit an den einzelnen Gruppen dauert in der Regel mehrere Jahre an und ihre Bearbeitungszeiten überschneiden sich häufig. Ideen, Konzepte und Ergebnisse transportieren sich auf diese Weise von einer Werkgruppe in die anderen. So sind die Großen Geister, die seit 1995 entstehen und chronologisch die direkten Vorläufer der Frauen darstellen, Resultate einer akribischen, jahrelangen Beschäftigung mit der freistehenden (männlichen) Figur.30 Nach eigenen Angaben befand sich Thomas Schütte mit dem Abschluss der Großen Geister – und der damit einhergehenden Lösung seines Ausgangsproblems, nämlich eine freistehende, überlebensgroße Figur zu schaffen – auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.31 Dass er dafür auf das vermeintliche Pendant (etwa in Bezug auf Motivtraditionen oder Geschlechterstereotypen) – den liegenden weiblichen Akt – zurückgreift, erscheint naheliegend, handelt es sich doch um eine weitere klassische Aufgabe der Bildhauerei, die in den 1990er Jahren (seit den

  Zur poietischen Kunstauffassung vgl. Rosen, Valeska von: Poiesis. Zum heuristischen Nutzen eines Begriffs für die Künste der Frühen Neuzeit, in: Rosen, Valeska von, Nelting, David und Steigerwald, Jörn (Hgg.): Poiesis. Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Berlin 2013, S. 9–41 und darüber hinaus grundlegend und weiterführend zur Theoriebildung künstlerischer Schaffensprozesse u. a. Wildfeuer, Armin G.: Praxis, in: Kolmer, Petra und Wildfeuer, Armin G. (Hgg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg 2011, Bd. 2, S. 1774–1804; Zembylas, Tasos: Epistemologie der künstlerischen Praxis, in: Früchtl, Josef und Moog-Grünewald, Maria (Hgg.): Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Nr. 56/2, Hamburg 2011, S. 203–215; Mattenklott, Gundel und Weltzien, Friedrich: Entwerfen und Entwurf. Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses, Berlin 2003; Zill, Rüdiger: Produktion/ Poisies, in: Barck, Karlheinz, Fontius, Martin, Schlenstedt, Dieter, Steinwachs, Burkhart und Wolfzettel, Friedrich (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart 2003, Bd. 5, S. 40–86; Semsch, Klaus: Produktionsästhetik, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1992, Bd. 7, S. 140–154; Kleger, Heinz: Praxis, praktisch, in: Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1989, Bd. 7, S. 1277–1307; König, Reinhold: Produktion, in: Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1989, Bd. 7, S. 1418–1438. 30   Seit 1982 arbeitet Thomas Schütte an dem Mann im Matsch, der sich in verschiedenen Variationen durch das gesamte Schaffen des Künstlers zieht und u. a. im Jahr 2009 zu der monumentalen, 8,5 Meter hohen Bronzeplastik Mann im Matsch – der Suchende in Oldenburg führt (dazu vgl. Schütte, Thomas: Mann im Matsch, Düsseldorf 2009). Die Großen Geister (1995–2004) weisen keine Geschlechtsteile auf, sind aber aufgrund ihrer Statur männlich konnotiert und werden auch entsprechend rezipiert (vgl. z. B. Jansen, Stefanie: Thomas Schütte, in: Heynen, Julian (Hg.): Sammlung. Kunst der Gegenwart in K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, Köln 2005, S. 232–253). 31   Vgl. Loock 2004b, S. 162. 29

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I.1 Ceramic Sketches

1960er Jahren) aus dem künstlerischen Diskurs verschwunden war und um ein Sujet, das somit zu einer Neubearbeitung reizt.32 Dabei scheint ein weiterer zentraler und charakteristischer Zug in Schüttes Schaffensprozess auf: Er entwickelt seine Werke anhand von Aufgaben oder Problemen.33 Schon zu Beginn seiner Karriere fragt er Kuratoren, die ihn zu Gruppenausstellungen einladen, danach, was nötig ist. Dieses Vorgehen befragt die Funktion von Kunst und es kritisiert ihren überstrapazierten Autonomie-Gedanken. So entstehen beispielsweise eine Publikumsaussichtsplattform für die Westkunst-Ausstellung (1981), ein Eispavillon für die documenta 8 (1987) und Modelle für Nutzbauten und Denkmäler.34 Der physischen Entstehung eines neuen Werks, einer neuen Werkgruppe, geht somit die Konfrontation mit einer Aufgabe, die Kurator_innen oder Auftraggeber_innen oder der Künstler selbst stellen, voraus und die es zu lösen gilt: „If I have a commission or a show, I always ask myself, what could be necessary? I don’t ask myself what I want to do; I ask myself, what really is the problem? What could be necessary, what could be useful, what is missing?“35

In dem Fall der Frauen könnte die selbstgestellte Aufgabe gelautet haben: (Wie) kann man heute noch liegende weibliche Aktfiguren machen?

I.1 Ceramic Sketches Thomas Schütte scheint durch die Arbeit am Material zu Lösungen zu gelangen. Mit der Entscheidung, sich liegenden Frauenakten zuzuwenden, beginnt die Suche nach der passenden Methode und dem passenden Material. Dabei ist eine Orientierung an der vorangegangen Werkgruppe auszumachen: Den rund 2,5  Meter hohen Großen Geistern (1995–2004) gehen etwa 40  Zentimeter hohe Kleine Geister voraus, die Schütte aus Wachsschnüren dreht und knotet, bis sie ihre endgültige Form erhalten und anschließend mit flüssigem Wachs überzogen werden.36 Dieses Verfahren – das Modellieren der  Die werkinterne Sujet-Entwicklung der Frauen wird in dem Kapitel Sujet behandelt.   Julian Heynen weist darauf hin, dass sich Künstler seit den späten 1970er Jahren wieder mit Auftragskunst beschäftigen und sieht dies als „aus der Konzeptkunst herrührende[] Kritik an der Autonomie als einem Dogma der Moderne. Aufträge wurden als Versuch gesehen, in Kontakt mit konkreten sozialen Zusammenhängen zu kommen.“ In dem Zusammenhang nennt er Thomas Schütte, Ludger Gerdes und Scott Burton. (Heynen, Julian: Dekorateure oder Handwerker, in: Vogel, Sabine B. (Hg.): Die neue Auftragskunst. Ende der Autonomie?, Kunstforum International, Nr. 244, Köln 2017, S. 134–137, S. 134). 34   Gemeint sind die Arbeiten Schiff (1980) und Eis (1987) sowie u. a. Modell für ein Museum (ab 1982), Studios (ab 1983), Denkmal für Jacques Tati (ab 1986), Haus des Gedenkens (1995). 35   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 1998, S. 15. 36   Dieses Verfahren erinnert an traditionelle Handwerkstechniken, wie das Kerzendrehen oder das Aufbauen von Tongefäßen aus Wülsten (auf einer Drehscheibe) im Gegensatz zum freien Modellieren. Auf diese Weise erhält Thomas Schütte die Modelle für die später in Aluminium ausgeführten Kleinen Geister (dazu vgl.: Vischer 2013, S. 78). 32 33

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I. Produktion

Figuren aus Schnüren – überträgt er zunächst auch auf sein Vorhaben, liegende Figuren zu schaffen, doch als Material wählt er maschinell in Wülste gepressten Ton. Schütte formt die Ton-Schnüre zu Figuren und nennt diese ersten Versuche First Ceramic Sketches (1997, Abb. 1) und Es tut mir leid – es tut mir sehr leid (1999, Abb. 2). Die Titel der Arbeiten suggerieren, dass diese ersten Experimente für den Künstler offenbar unbefriedigend ausgefallen sind und der Weiterentwicklung bedürfen; er selbst sagt dazu: „Es ist mir so entglitten, dass es mir ganz peinlich war. Deswegen habe ich die Arbeit so genannt.“37 Schütte verwirft also die Technik, die sich für die Geister bewährt hatte, hält aber am Material Ton fest und formt die Frauenfiguren fortan mit bloßen Händen direkt aus Ton.38 Nachdem das Thema für die neue Herausforderung, das passende Material und eine entsprechende Technik gefunden sind, werden die Bedingungen und Strukturen, die ein effizientes Arbeiten erlauben, geschaffen.39 Nach eigenen Angaben richtet Schütte sich mit Helfern in der Kölner Keramikwerkstatt von Niels Dietrich ein. Dort arbeitet er über etwa neun Monate hinweg regelmäßig. Er strukturiert und reglementiert seine Arbeitstage und lässt sich pro Stunde ein Brett mit Ton bringen, um mit seinen Händen kleinformatige weibliche Körper zu formen. Nach jeder Figur macht er eine kurze Pause mit Kaffee und Zigaretten und wendet sich dem nächsten Brett mit Ton zu. Das vergleichsweise leicht formbare Material lässt eine schnelle und spontane Bearbeitung zu und die Strukturierung der Arbeitszeit führt zu einem zügigen Prozess des Modellierens, der ohne lebendes Modell oder Vorzeichnungen auskommt.40 Schütte gibt an, dass er die Figuren, die (vorgeblich) nichts geworden sind, direkt vor Ort mit einem Nudelholz oder einem Brett zerschlagen habe. Nachdem die etwa einstündige Bearbeitungszeit einer Figur abgelaufen ist, wendet er sich – nach der obligatorischen Pause – direkt dem nächsten Rohling zu. Die Formfindung beginnt von vorn, die nächste Figur entsteht; am Tag kommt er so auf sechs bis sieben Figuren, die er Ceramic Sketches (1997–99, Abb. 3) nennt. Die Atmosphäre in der Kölner Werkstatt sei während dieser Prozesse „prickelnd“41 gewesen, sagt der Künstler und er beschreibt den Schaffensakt: „Man kloppt da eben rum wie ein Metzger. Man kann einfach keine Figur auf zwei Beine stellen und dann auch noch daran herum machen. […] Die Körperteile […] das sind Klumpen, und die müssen miteinander verbunden werden. Die schlägt man aufeinander und klatscht die dann auf die Plattform. Das kann man detailliert oder weniger detailliert machen.“42

  Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 166.   Wenn nicht anders vermerkt, für die Details zu der Produktion der Ceramic Sketches in diesem Kapitel vgl. Vischer 2013, S. 96. 39   Thomas Schütte gibt an, dass es ihm im Fall der Ceramic Sketches wichtig gewesen sei, möglichst in der Nähe seines Wohnorts Düsseldorf arbeiten zu können, um in kurzer Zeit möglichst viel zu produzieren (vgl. Vischer 2013, S. 117). 40   Vgl. Loock 2004b, S. 173. 41   Zitat Thomas Schütte, in: Vischer 2013, S. 96. 42   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 166. 37

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I.1 Ceramic Sketches

In einem früheren Interview ist die dem Prozess innewohnende Frustration deutlicher: „Ich dachte, ich wüsste, was ich tue. Man glaubt zum Beispiel, man wüsste, wie ein Fuß aussieht, aber dann machen die Finger nicht das Richtige. Frustrierend ist auch, dass man selbst als geübter Künstler vollkommen blind ist, wenn es um Körper geht.“43

Nach dem Modellieren muss der Ton langsam trocknen, bevor Schütte – immer, wenn etwa 20 bis 30 Figuren fertig sind – die Glasur aufträgt. Seinen Ausführungen folgend, hat er dabei einen Produktionsfehler zum Prinzip gemacht: Bei den ersten Versuchen habe die Glasur sich zusammengezogen und anstatt über den Ton zu fließen und eine homogene, glatte Oberfläche zu erzeugen, bildeten sich Unebenheiten. Thomas Schütte schreibt es Niels Dietrich zu, der „so wach“44 gewesen sei, zu erkennen, dass die Charge benutzbar ist und dass man mit diesem Fehler weiterarbeiten müsse. Also wurde die raue, pockige, zähe, sich zusammenziehende Glasur für die Werkgruppe beibehalten.45 Erst nach dem Glasurauftrag und dem Datumsstempel folgt der Brennprozess. Am Ende dieses klar strukturierten, mehrteiligen Arbeitsprozesses stehen nach circa neun Monaten 120 kleinformatige Keramikfiguren, die aufgrund ihrer formalen und stofflichen Eigenschaften als Werkgruppe identifizierbar sind. Sie sind alle im gemeinsamen Herstellungsverfahren und aus dem gleichen Material entstanden. Alle Figuren befinden sich auf einer immer gleich großen Sockelplattform, sie alle sind farbig glasiert und jede einzelne trägt den Titel Ceramic Sketch.46 Die rechteckige Sockelplattform unterstreicht  – auch durch den obligatorischen, sechsstelligen Datumsstempel – den seriellen Charakter der Arbeiten und gibt die maximale Größe der einzelnen Figuren vor. Sie selbst variiert kaum in ihrer Größe und stellt bei einer Höhe von etwa sieben bis zehn Zentimetern eine Fläche von etwa 30 mal 20 Zentimetern für die Figur zur Verfügung. Die Figuren sind fest mit dem Keramikquader, dessen Größe und Form in etwa der Verpackungseinheit eines unbearbeiteten Tonblocks entsprechen, verbunden. Er gibt die Größe der Figuren vor, die teilweise wie an ihn gefesselt wirken, wie in ihn versinkend oder wie aus ihm heraus entstehend. Er hilft,

  Zitat Thomas Schütte, in Lingwood 2001, S. 79.   Zitat Thomas Schütte, in: Vischer 2013, S. 96. 45   Thomas Schütte zu der Produktion der Glasuren: „Die Glasuren waren eine große Überraschung. Manchmal schmilzt die Glasur nicht über der Form, sondern zieht sich zusammen. In gewisser Hinsicht ist die Glasur eine Art Antiform, sehr fluxushaft. Es sieht sehr brutal aus, wenn die Oberfläche sich zusammenzieht. Es ist das Gegenteil von dem, was die Glasur eigentlich tun sollte, aber es funktioniert. Wir haben dieses Verfahren entwickelt, indem wir etwas falsch gemacht haben. Es handelt sich um ein kontrolliertes Experiment, weil man die Farben aufträgt, aber nicht genau weiß, wie sie dann im Ofen reagieren. Die Farbe ist eine Substanz, und die ist wie Haut, sie lebt, man spürt die chemische Reaktion an der Oberfläche – sie fängt wirklich das Licht ein.“ (in: Lingwood 2001, S. 81). 46   Die Größe der Sockelplattform variiert teilweise um wenige Zentimeter und es gibt einzelne Exemplare, die formal abweichen und z. B. rund statt rechteckig sind (vgl. Stewart 2002, S. 127). 43 44

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I. Produktion

„die kleinteiligen Gliedmaßen der Figuren abzustützen und sie vor Rissen beim Brennen zu bewahren“47. Auch die Glasur stellt ein verbindendes Merkmal der Gruppe dar, obwohl der Umgang mit dem farbigen Überzug mannigfaltig ist: Teilweise ist sie über die Figur und die Sockelfläche gegossen und manchmal ist die Glasur differenzierter gestaltet. Dann ist sie gleichmäßig und auf einzelne Flächen aufgetragen und die Farbgebung des Tonblocks ist klar von der der Figur zu unterscheiden. Teilweise sind auch einzelne Elemente der Figur, beispielsweise die Haare, farblich differenziert.48 Häufig haben die Glasuren sich zusammengezogen und bilden Bläschen oder „Pocken“49. Trotz der beschriebenen formalen Aspekte, die die Ceramic Sketches als Werkgruppe definieren  – das sich wiederholende, stringente Herstellungsverfahren unter Verwendung des einen Materials, die immer gleiche Sockelplattform, die obligatorische Glasur, der fortlaufende, dokumentierende Datumsstempel, der einheitliche Titel –, unterscheiden sich die einzelnen Figuren mitunter deutlich voneinander. Zwar sieht man allen Exemplaren aufgrund ihrer wenig detailliert ausgearbeiteten Formen und teils fehlender Körperteile die schnelle und grobe Bearbeitung an, im Einzelfall divergieren die einzelnen Skizzen aber in Bezug auf ihre Erkennbarkeit als Frauenkörper.50 Neben relativ sorgfältig ausgearbeiteten, klar zu erkennenden menschlichen Formen, die Schütte in sitzenden, hockenden oder liegenden Positionen modelliert, finden sich abstrakte Formen, die beispielsweise in den Tonsockel geritzt sind oder wie aus dem Sockelquader in die Höhe schießende organische Elemente anmuten. Auf der Ebene der Präsentation sorgt ein großformatiges, schwarz lackiertes Stahlregal als zentrales verbindendes Element, in dem die Ceramic Sketches seit ihrer ersten Ausstellung in der Dia Art Foundation (1999–2000) gezeigt werden, für die Sichtbarmachung und Beibehaltung des Gruppenkontextes (Abb. 3). Somit präsentiert Schütte seine Annäherungen an den weiblichen Akt nicht ausgewählt und aufgesockelt als singuläre Kunstwerke, sondern als heterogene, vermeintlich gleichwertige Versuche, als „Formsuche“51 und „Formfindungen“52.53

  Jansen 2005, S. 243.   Die Glasuren werden im Abschnitt Oberflächenmaterialien in dem Kapitel Material differenzierter betrachtet. 49   Zitat Thomas Schütte, in: Vischer 2013, S. 88. 50   Das Thema Weiblichkeit bzw. Frauenakt findet in dem Kapitel Sujet vertiefende Beachtung. 51   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 162. 52   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 166. 53   Diesem Aspekt widmet sich das Kapitel Präsentation weiterführend. 47 48

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I.2 Frauen

I.2 Frauen In dem Jahr 1999, in dem Thomas Schütte die Ceramic Sketches abschließt, beginnt er weiter mit ihnen zu arbeiten. Für den dritten, den Titel In Medias Res tragenden Teil seiner Einzelausstellung in der New Yorker Dia Art Foundation (1999–2000), in der auch die Keramikskizzen präsentiert werden, sollen neue Arbeiten entstehen.54 So nutzt Schütte sein jüngst angelegtes Bilderrepertoire und generiert aus den kleinformatigen Keramik­ figuren weitere Werke.55 Wie schon zu Beginn der Arbeit an den Ceramic Sketches orientiert der Künstler sich dabei an der vorangegangenen Werkgruppe: Genau wie aus den kleinformatigen Kleinen Geistern übermenschengroße Große Geister entstanden sind, entstehen aus den kleinformatigen Ceramic Sketches übermenschengroße Frauen. Idealerweise, so Schütte, hätte er auch die Frauen – wie die ihnen zu Grunde liegenden Skizzen – in Keramik gefertigt, allerdings seien so große Dimensionen in dem Material technisch nicht möglich.56 Schließlich werden auch die Frauen  – wie zuvor die Geister – in der Kunstgießerei Kayser im Düsseldorfer Hafen in Metall ausgeführt. Schütte richtet sich dort in der Werkstatt ein, bezieht einen Spint und arbeitet innerhalb eines Umfelds von anderen Künstler_innen, Handwerker_innen und mit der Hilfe qualifizierter Fachkräfte regelmäßig, an festen Wochentagen an den Großplastiken.57 1999 wählt Thomas Schütte für die ersten vier Frauen vier seiner Keramikskizzen als Vorlagen zur Vergrößerung aus.58 In der Gießerei werden die kleinformatigen Figuren zunächst etwa um den Faktor 7,5 vergrößert.59 Das heißt, der Künstler nimmt die Keramikskizzen mit in die Werkstatt und dort entstehen – in einem ersten, langwierigen Arbeitsschritt – großformatige Gipsfiguren, die als 1:1-Vorlagen für die Gussformen dienen.60 Für diese Gipsfiguren werden zunächst die Konturen der kleinformatigen Keramiken jeweils auf einen großformatigen Styropor-Klotz übertragen, dann wird die Form herausgesägt. Mit dem Wechsel des Formats und des Materials wechselt auch die Technik:61 Während Schütte die kleinen Figuren modelliert hat, werden die großen Frauen   Vgl. Vischer 2013, S. 117 und Lingwood 2001, S. 77.   Die relevanten Prozesse der Übertragung vom kleinen Format ins große werden in dem Kapitel Transformationsprozesse analysiert. 56   Vgl. das Künstlergespräch zwischen Thomas Schütte und Ulrich Loock im Museum Folkwang, Essen am 13.12.2013. Generell ist die Größe von Keramikfiguren oft auf das Volumen des Brennofens beschränkt; großformatige Keramikarbeiten bestehen daher häufig aus mehreren Teilen. 57  Diese Informationen stammen aus einem Gespräch zwischen Thomas Schütte und der Autorin am 10.03.2009 in der Düsseldorfer Wohnung des Künstlers. 58   Vgl. Vischer 2013, S. 117. 59   Vgl. das Künstlergespräch zwischen Thomas Schütte und Ulrich Loock im Museum Folkwang, Essen am 13.12.2013. 60   Wenn nicht anders vermerkt, für die Details zu der Produktion der Frauen in diesem Kapitel vgl. Loock 2004b. 61   Die Auswirkungen des Materialwechsels auf die Arbeitsprozesse (Körperbezogenheit, Technisierungsgrad etc.) werden in dem Kapitel Material analysiert. 54 55

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I. Produktion

aus einem Block herausgeschnitten. Im Anschluss folgt eine aufwendige Herausarbeitung von Details. Die Oberfläche wird mit Gips und Jute weiterbearbeitet. Es wird viel geschliffen, gegipst, wieder geschliffen, kaum modelliert, aber immer wieder korrigiert. Körperteile gelingen, misslingen, werden vereinfacht oder abgeschnitten. Hinzugefügt werden kann aufgrund der Materialbeschaffenheit allerdings nichts. Schütte stellt immer wieder heraus, dass die Arbeit an den Großplastiken körperlich enorm anstrengend sei, im Gegensatz zu dem Verfahren der kleinen Keramikskizzen, das sich schneller, spontaner und leichter gestaltete.62 Es sei ihm bei dieser Werkgruppe aber sehr wichtig gewesen, handwerklich an der Arbeit beteiligt zu sein und viel eigenhändig auszuführen: „[…] man muss es selber machen, man muss das Problem erkennen und für jedes Detail eine Lösung finden.“63 Denn während der Arbeit an den großformatigen Frauen stellen sich technische und gestalterische Fragen, die in der schnellen, spontanen Keramik-­ Kleinplastik wenig relevant erscheinen und umgangen werden können: Wie sollen die Details, ein Fuß, eine Hand aussehen? Wie wird die Konstruktion stabil? Bis die Gipsvorlage für den Guss fertig ist, vergehen maximal sechs bis neun Monate, in denen Schütte zwei bis drei Mal in der Woche an den Figuren arbeitet. „Es ist Arbeit.“64, sagt der Künstler. Mehrere Hände von Expert_innen und Helfer_innen sind im Spiel, Schütte hört auf die praktischen Erfahrungen der beteiligten Arbeiter_innen in der Werkstatt und fällt danach seine Entscheidungen. Denn die Technik ist hochspezialisiert und strategische Planungen sind von Nöten. Hinzu kommt eine präzise Kalkulation, denn die Herstellungskosten einer Metallfrau sind in etwa so hoch wie der Kaufpreis eines neuen Mittelklassewagens.65 Die fertigen Gipsvorlagen dienen im weiteren Prozess als Positive für die Gussformen (Abb. 4). Innerhalb von etwa zwei Monaten werden dann die Teile der großformatigen Frauen im Sandgussverfahren gegossen  – zuerst die Exemplare in Stahl, später dann ebenfalls in Bronze und Aluminium. Nach dem Guss werden die einzelnen Teile miteinander verschweißt, die Nähte werden geglättet und die Oberflächen werden materialabhängig unterschiedlich weiterbearbeitet. Die Patina der Stahl- und Bronzefrauen erzeugt Schütte durch die Bearbeitung mit Säure und Hitze. Auch hier wird – nach Angabe des Künstlers – experimentiert: „Ich habe es mit verschiedenen Farben versucht. Bei den Bronzeskulpturen war es so, dass es umso schlimmer wurde, je mehr ich machte.“66 Um den Oxydationsprozess schließlich zu stoppen und um zu verhindern, dass die Frauen sich weiter verändern, wird die Oberfläche mit Wachs versiegelt und somit kon-

62   Vgl. ebd. und das Künstlergespräch zwischen Thomas Schütte und Ulrich Loock im Museum Folkwang, Essen am 13.12.2013. 63   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 76. 64   Zitat Thomas Schütte im Rahmen des Künstlergesprächs zwischen Thomas Schütte und Ulrich Loock im Museum Folkwang, Essen am 13.12.2013. 65   Vgl. ebd. 66   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 82.

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I.2 Frauen

serviert.67 Während die Bronzefrauen sich durch glatte Oberflächen auszeichnen, sind die Oberflächen der Exemplare aus Stahl durch den Rost aufgeraut. Die Frauen aus Aluminium erhalten durch das Polieren ihre glatten, spiegelnden Oberflächen.68 Allerdings bleibt es nicht bei allen Aluminiumfrauen beim ursprünglichen Erscheinungsbild, denn einige Exemplare werden im Nachhinein – etwa fünf Jahre nach dem (vorläufigen) Abschluss der Werkgruppe – mit farbintensivem, schimmerndem Lack überzogen, der zum Teil weiterbearbeitet, partiell wieder abgeschliffen wird. Innerhalb von etwa acht Jahren entstehen durch das beschriebene Verfahren 18 unterschiedliche Frauen.69 Während der Produktionszeit werden viele der Keramikskizzen verkauft. Unter anderen besitzt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Düsseldorf) einige Exemplare und der Künstler leiht sich die Ceramic Sketches aus dem Museum, um sie zur Weiterverarbeitung mit in die Gießerei zu nehmen. Als ihm die Vorlagen ausgehen, beziehungsweise er keine reizvollen Exemplare mehr findet, entstehen keine weiteren Großplastiken mehr  – lediglich 15  Prozent der Skizzen werden zu Großplastiken weiterverarbeitet.70 Jede der 18 Figuren wird insgesamt – jeweils zum Teil mit leichten Abweichungen – fünfmal gegossen: zweimal in Stahl, zweimal in Bronze und einmal in Aluminium, sodass jede Figur fünfmal ausgeführt wird und die Werkgruppe Frauen aus insgesamt 90 großformatigen Metallfiguren besteht. Zu jeder der Frauen gehört als integraler Bestandteil ein immer gleicher Tischsockel aus angerostetem Stahl. Er stellt für die Figuren bei einer Höhe von 75 Zentimetern eine Fläche von 250 mal 125 Zentimetern zur Verfügung, besteht aus zusammengeschweißten Stahlträgern und geht in seiner Gestalt auf die Arbeitstische in der Kunstgießerei zurück.71 Sie gleichen den Tischen, auf denen die großformatigen Gipsmodelle für die Frauen über Jahre hinweg entstanden sind. Wie bei ihren Vorgängern, den Ceramic Sketches, ist die Sockelkonstruktion eines der verbindenden Elemente, das die Frauen als Werkgruppe kennzeichnet. Neben dem immer gleichen Herstellungsverfahren und dem immer gleichen Tischsockel eint auch der Titel die Gruppe: Jede Figur heißt Frau, differenziert wird lediglich in Bezug auf ihr Material. Schütte nummeriert die Plastiken darüber hinaus chronologisch und es ergeben sich nach dem immer gleichen Schema Titel wie Stahlfrau Nr. 1, Bronzefrau Nr. 2 oder Aluminiumfrau Nr. 3. Trotz der formalen, verbindenden Kriterien – Herstellungsverfahren, Material, Sockelkonstruktion, Titel – zeichnet sich die Werkgruppe durch eine motivische und stilistische Mannigfaltigkeit aus. Auch technische und gestalterische Probleme bestimmen die Formen der Frauen, denn häufig scheinen Teile zu fehlen oder Partien scheinen ver  Vgl. ebd.   Die Materialwirkung wird ausführlich in dem Kapitel Material analysiert. 69   Hierbei handelt es sich um die Kernzeit (1998–2006), in der Thomas Schütte an den Figuren gearbeitet hat, das Weiterbearbeiten der Aluminiumfrauen (2011) ist nicht berücksichtigt. 70   Vgl. Vischer 2013, S. 117. Ausführlichere Angaben zum Auswahlverfahren befinden sich in dem folgenden Abschnitt Prozesse. 71   Die genaue Gestalt und die Funktion der Tischsockel wird in dem Kapitel Präsentation behandelt. 67 68

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I. Produktion

einfacht oder weggelassen worden. Während die Formfindungsprobleme der Ceramic Sketches – weil sie als direkte Vorlagen dienen – bei der Vergrößerung direkt übernommen werden, ergeben sich im großen Format neue Fragestellungen und Widerstände, die sich ebenfalls in der Gestalt der Frauen niederschlagen.72

I.3 Prozesse Das Nachvollziehen der beiden aufeinanderfolgenden Herstellungsverfahren der Ceramic Sketches und der Frauen gibt Aufschluss über die zentralen Charakteristika der Werkprozesse, die sich zunächst durch Analogien auszuzeichnen scheinen: Am Anfang steht ein Problem, eine Fragestellung, die entweder an den Künstler herangetragen wird (Aufträge, Gruppenausstellungen etc.) oder die er sich selbst auferlegt (z. B. eine freistehende Figur schaffen). Somit entsteht eine Aufgabe, der er sich im Folgenden mit strikten Regeln und über längere Zeiträume hinweg widmet. Der Anfang eines Produktionsprozesses ist somit immer schon eine Reaktion auf ein vorangegangenes Ereignis; Techniken, Gestaltungsmuster, Erfahrungen und Praktiken vorangegangener Werke und Werkgruppen transportieren sich in die neueren. Auch wenn Schütte – wie er selbst sagt – schon „seit längerem“73 die Idee hatte „liegende Figuren zu machen“74, war eine Initialzündung, in dem Fall eine neue Herausforderung nach dem Abschluss der Großen Geister, eine neue Ausstellung (In Medias Res), von Nöten. Damit sind bereits zu Beginn zwei zentrale Topoi der Kunstproduktion aufgerufen. Das Arbeiten anhand von Aufgaben zielt auf den Mythos einer autonomen (auf die Selbstverwirklichung des Künstlers ausgerichteten) Kunst, der zusätzlich von Schüttes Aussagen negiert wird: „Mit den Frauen bin ich bei Nummer 15. Das ödet mich auch schon an. Aber es gibt Dinge, die gemacht werden müssen.“75 Und zweitens lässt sich in Bezug auf die Produktion die Idee eines absoluten Ursprungs dekonstruieren, die als vernetztes Feld und eben nicht als „Einfluß (also von der Quelle her), sondern als ein […] Prozeß der Aneignung, Deformation und Reinterpretation definiert“76 ist. In einem ersten praktischen Schritt findet Schütte aufgrund seiner Erfahrungen aus vorangegangenen Werkgruppen und durch das physische Ausprobieren die passende Technik und das passende Material für seine Aufgabe. Sobald Thema, Technik und Material feststehen, schafft er die Rahmenbedingungen für den Herstellungsprozess im 72   Diese Probleme sind zentrale Bestandteile des Kapitels Transformationsprozesse und des Abschnitts Gips (Kapitel Material) und werden dort ausführlich verhandelt. 73   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 76. 74   Zitat Thomas Schütte, in: ebd. 75   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 172. 76   Germer, Stefan: Mit den Augen des Kartographen – Navigationshilfen im Posthistoire, in: Bonnet, Anne-­ Marie und Kopp-Schmidt, Gabriele (Hgg.): Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, München 1995, S. 140–169, S. 149.

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I.3 Prozesse

engsten Sinne. Wichtig erscheint dabei ein geeigneter Ort, eine spezialisierte Werkstatt, der sowohl pragmatische Kriterien, wie leichte Erreichbarkeit, erfüllt und gleichzeitig großen Qualitätsansprüchen gerecht wird. Häufig stellt der Künstler heraus, wie wichtig ihm eine herausragende handwerkliche Technik und die Zusammenarbeit mit ausgewiesenen Expert_innen sind.77 Neben ihrem Fachwissen und ihren Erfahrungen sind es professionelle Werkzeuge und Instrumente sowie hochwertige Materialien, durch die sich die Produktionsorte auszeichnen. Dort richtet Schütte sich ein und schafft innerhalb der dort vorhandenen Strukturen eine Ordnung. Er legt fest, an welchen Tagen in der Woche er dort für wie viele Stunden arbeitet und wie seine Arbeitstage im Detail aussehen. Er strukturiert sie durch Pausenzeiten und gegliederte Arbeitsprozesse. Dadurch nähert er sich den Strukturen und Abläufen in den Betrieben, in denen er temporär arbeitet, an. Er trägt die Arbeitskleidung der Handwerker und stellt – vor allem bei der Werkgruppe der Frauen – heraus, dass gerade der körperliche Bezug zu der Arbeit für ihn von größter Bedeutung ist: „[…] der Tag, an dem ich körperlich an den Sachen arbeite, ist eigentlich der beste in der Woche.“78 Es wird deutlich, dass die beiden Seiten kognitiv/entwerfend und manuell/ausführend keinesfalls als dichotom gegenüberstehend eingeschätzt werden können und dass der gesamte Produk­tionsvorgang sich „als ein[] sich in Zeitlichkeit entfaltende[r] Akt[] mit gewissem Selbstwert-Charakter“79 darstellt. Der Schaffensakt im engsten Sinne, das physische Arbeiten (Modellieren, Formen, Schleifen, Gipsen etc.) in der Werkstatt zeichnet sich innerhalb dieser klaren, ökonomisierten Strukturen hingegen durch einen eher offenen, intuitiven und Unvorhersehbarkeiten zulassenden beziehungsweise provozierenden Charakter aus. Es lassen sich immer wieder offene Momente im Prozess erkennen, die nicht nur in ihrem Charakter offen sind, sondern die auch offengelegt, geradezu inszeniert werden. Seine ersten (vorgeblich gescheiterten) Versuche fasst Schütte in Werkgruppen (First Ceramic Sketches und Es tut mir leid Es tut mir sehr leid) zusammen und stellt sie aus. Als Teil des Prozesses, für den Rezipienten erfassbar, weil offenbar sichtbar sein soll, dass auch das Scheitern zum Prozess und damit zum Werk gehört: „[…] der misslungene Versuch ist Teil der Arbeit, ja vielleicht sogar der Hauptteil“.80 77   Vgl. das Künstlergespräch zwischen Thomas Schütte und Ulrich Loock im Museum Folkwang, Essen am 13.12.2013. Das gilt nicht nur für die Keramiker und Gießer. Arbeiten aus Glas beispielsweise werden auf Murano produziert. 78   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 76. Zu dem (aktuellen) Diskurs um die Frage, in wie weit künstlerische Praxis als Arbeit verstanden werden kann vgl. z. B. Sigler, Friederike (Hg.): Work, London 2017 und Wiener, Jürgen (Hg.): Der Wert der Arbeit. Annäherungen an ein kulturelles Paradigma in Mittelalter, Neuzeit und Moderne, Düsseldorf 2014; grundlegend zum Arbeitsbegriff vgl. z. B. Grimstein, Jens, Skrandies, Timo und Urban, Urs (Hgg.): Texte zur Theorie der Arbeit, Stuttgart 2015 und Eder, Klaus: Arbeit, in: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historischer Anthropologie, Basel 1997, S. 718– 725. 79   Rosen 2013, S 12. 80   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 76.

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I. Produktion

Den darauffolgenden Ceramic Sketches sieht man aufgrund ihrer undifferenzierten Formen, Vereinfachungen und Auslassungen die zügige und intuitive Arbeit ohne Vorzeichnungen und ohne Modell mit bloßen Händen im weichen Material an. Ihre Gestalt zeugt von dem offenen Experimentieren (im strikten Rahmen), dem Probieren und den Schwierigkeiten ihrer Genese. Der Ausgang bleibt offen; wenn das Zeitkontingent, das Schütte für jede Keramikskizze festgelegt hat, abgelaufen ist, bleibt die Form der Figur wie sie ist. Alle Versuche bleiben gleichberechtigt nebeneinanderstehen und Schütte unterstreicht diese Haltung durch die einheitliche Betitelung der Arbeiten als Skizzen und durch ihre Präsentation in einem einfachen Stahlregal, angeordnet vom Museumspersonal.81 Weiterhin wichtig für dieses anscheinend offene Prinzip ist das Zulassen und weiter noch das Einbeziehen, produktive Verwerten, Fruchtbar- und Sichtbarmachen von vorgeblichen Fehlern, wie es bei den Glasuren der Keramikskizzen der Fall ist. Schütte scheint sich in diesem Zusammenhang weiter zurückzunehmen, indem er die Entscheidung, die vermeintlich missglückten Exemplare zu behalten und ein Prinzip daraus zu machen, einem Dritten zugesteht. In der Gießerei ist Schütte – in noch größerem Umfang als zuvor in der Keramikwerkstatt – von der Arbeit, den Ratschlägen und Erfahrungen anderer abhängig, die er in sein Schaffen einfließen lässt und so in das Werk inte­ griert. Schütte stellt immer wieder heraus, wie wichtig ihm die Zusammenarbeit mit Expert_innen und  – damit zusammenhängend  – eine hervorragende Technik sind.82 Den Facharbeitern, Gießern, Formern, Modellbauern, Ziseleuren, Schweißern, Monteuren, Lackierern, Handwerkern, den Materialien, Werkzeugen und Maschinen in den hochspezialisierten Werkstätten räumt er in seinen sprachlichen Äußerungen – wie auch den vermeintlichen Fehlern – einen großen Wert im Produktionsprozess ein, während es allein seine Werke sind, wenn sie die Werkstatt verlassen und nicht die des Akteur-­ Netzwerks. Die Auswahl aus denjenigen der 120 Skizzen, die zu Frauen vergrößert werden sollen, scheint im Einzelfall eher intuitiv, als nach festen Regeln zu geschehen, nichtsdestotrotz bleiben es die Entscheidungen des Künstlers:83 „LOOCK: Wie wählst Du überhaupt die Skizzen aus, die Du benutzen willst? SCHÜTTE: Nach Interesse, ob das interessant ist. LOOCK: Was hat Dich denn an der ohne Kopf, der heruntergebeugten interessiert?

  Vgl. Stewart 2002, S. 126.   Wenn Thomas Schütte in Künstlergesprächen oder publizierten Interviews über seine Arbeit spricht, spricht er stets über die technischen Möglichkeiten, über Fertigungsprozesse, über die Fähigkeiten der beteiligten Personen und über logistische und handwerkliche Prozesse und Widerstände. 83   Zu Beginn der Arbeit an der Werkgruppe nannte Schütte eher formale Kriterien für die Auswahl der Skizzen, die realisiert wurden (insb. die ersten vier für die Ausstellung In Medias Res): „Es ist, wie wenn man aus Zeichnungen oder Skizzen auswählt. Ich wollte zwei zusammengeklappte und zwei in die Länge gezogene haben.“ (Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 76). 81 82

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I.3 Prozesse

SCHÜTTE: Ich wollte mal eine einfache machen. Ich war das mit den Extremitäten leid. Ich

dachte, dass ich mal so einen Wurm mache. Aber das kann man ja nicht erklären. Man kann ja nicht fragen: Wieso spielst Du überhaupt Gitarre. LOOCK: Du guckst sie Dir also an und sagst, die geht und die geht nicht. SCHÜTTE: Das ist nicht so einfach, es ist eine ziemliche Prozedur. Es ist Glückssache – da gibt es so eine schöne Platte „Why do birds sing?“ Ich gebe zu, das ist ziemlich schräg. […]“84

In der Gießerei, bei der Arbeit im großen Format und im neuen Material ergeben sich neue Schwierigkeiten. Dadurch, dass die Formen der Ceramic Sketches ins große Format übertragen werden, werden Gestaltungsprobleme, die sich im kleinen Format und durch das Arbeiten in einem anderen Material ergeben, auch für die großen Frauen aus Metall übernommen. Die Arbeit in Gips und im großen Format allerdings stellt neue technische, handwerkliche, gestalterische und auch körperliche Herausforderungen dar. Neue (De‑)Formationen, Vereinfachungen, Weglassungen erhalten Einzug in die Formen der Figuren, die auf gestalterische und technische Widerstände des Materials zurückzuführen sind und als solche vom Künstler benannt werden:85 „Nach einem halben Jahr, wenn man 50 Mal frustriert raus rennt, sägt man das einfach mal ab.“86 Das Scheitern wird hier zum Gestaltungsprinzip, zur künstlerischen Strategie, erklärt und entsprechend inszeniert. Innerhalb der klaren Regeln werden Momente zentral, die nicht kalkulierbar, nicht festlegbar, nicht bestimmbar sind und den Künstler von seiner Gestaltungsverantwortung befreien. Im Gegensatz zu dem systematisch aufgebauten, reglementierten Beginn einer neuen Werkgruppe scheint sich ihr Abschluss durch Intuition und Offenheit auszuzeichnen, denn es ist nicht festgelegt, wann die Arbeit an einer Gruppe endet. An einem bestimmten Punkt trifft Schütte eine Entscheidung: Die Großen Geister zum Beispiel beendet er, weil sie angeblich Gefahr liefen, zu Markenzeichen zu werden.87 Die darauffolgenden Ceramic Sketches finden nach 120 Exemplaren ihr Ende, weil er zu keinen neuen Ergebnissen mehr kommt und die Frauen enden nach der achtzehnten, weil dem Künstler zufolge keine geeigneten Vorlagen mehr zur Verfügung stehen.88 Bezeichnend ist hierbei, dass sich Erkenntnisse, Techniken, Arbeitsschritte, Mate­ rialien, Produktionsorte aus den vorangegangenen Gruppen in die folgenden transportieren, variiert und übernommen werden. Zentrale Prinzipien der Werkgenese sind somit Wiederholung und Differenz, nicht nur zwischen den einzelnen Werkgruppen – von einer zur nächsten –, sondern auch innerhalb einzelner Gruppen (etwa das Deklinieren

  Loock 2004b, S. 176.   Die Rolle des Akteurs Material wird an diesen Punkten relevant. Eine ausführliche Analyse erfolgt in dem Kapitel Material. 86   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 173. 87   Vgl. Vischer 2013, S. 78. 88   Vgl. ebd., S. 117. 84 85

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I. Produktion

eines einzigen Sujets).89 Somit finden einzelne Werkgruppen zwar ihren Abschluss, schlagen sich aber weiter im Œuvre nieder, werden weiterverarbeitet und – im Fall der Frauen – zum Teil auch weiterbearbeitet und bleiben in letzter Konsequenz ganz grundsätzlich offen.90 Die durch die Bezeichnung Skizze zum Ausdruck gebrachte Vorläufigkeit erlaubt es Schütte, all seine Vorschläge (später im großen Format realisiert oder nicht) stehen zu lassen und die Frage nach dem abgeschlossenen Kunstwerk somit zu umgehen. Auch das mehrfache Ausführen der Großplastiken in verschiedenen Materialien wirkt einer Festlegung entgegen und ebenfalls das einfache Stahlregal, in dem die Keramiken präsentiert werden, hilft, Fragen nach der vollendeten Form und somit „jedem Idealismus aus dem Weg zu gehen“91. In dem Regal erwecken die Ceramic Sketches – wie auch die Frauen auf den Tischsockeln – den Eindruck, als könne jederzeit an ihnen weitergearbeitet werden. Die Figuren erscheinen unfertig, wie im Prozess verharrend. Sie werden als Vorschläge, Variationen, Wiederholungen eines Themas, als eine Formendeklination mit offenem Ende inszeniert, die keine Detailverliebtheit, keine Perfektion zulässt. Und dennoch verbleiben die Figuren nicht in der Werkstatt, sondern sie werden einem internationalen Publikum präsentiert. Die Metallplastiken im monumentalen Format behalten somit stets ihren Vorschlagscharakter und sind keine singulären Meisterwerke im klassischen Sinne. Die Produktionsprozesse, die zu den Frauen führen, zeichnen sich in Bezug auf die äußeren Produktionsbedingungen (Ort, Zeit, Mittel, Personal, eigene körperliche Arbeit etc.) durch eine statische Struktur mit klaren Regeln aus. Beginn und Ende des Prozesses sind dabei vom Künstler bestimmt. Der konkrete, dynamische Schaffensakt innerhalb 89   Für die grundlegende Entfaltung dieser Begriffe vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1992 (orig. 1968) und mit Bezug zur zeitgenössischen Kunst am Bsp. von Gerhard Richter und Sigmar Polke Gelshorn, Julia: Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München 2012. 90  Die Frauen aus Aluminium werden ca. fünf Jahre nach dem Abschluss der Werkgruppe noch weiter mit Lack bearbeitet (vgl. Abschnitt Oberflächenmaterialien im Kapitel Material der vorliegenden Arbeit). Darüber hinaus werden die Frauen innerhalb des Œuvres weiterverarbeitet: Zunächst entstehen im Jahr 2006 Radierungen der Frauen. Jedes Exemplar wird in einer Auflage von 35 (+5 e. a.) in unterschiedlichen Farben auf 61 mal 81  Zentimeter großen Blättern gezeigt. Auch weitere Kleinplastiken einstehen: Die Arbeiten Frauenkopf (2006) und Walser’s Wife (2011, in verschiedenen Materialien ausgeführt) beispielsweise erinnern deutlich an den Kopf von Frau Nr. 17 und kleinformatige Figuren aus Bronze, Stahl oder Kupfer, wie z. B. Schaumfrau (2006) wirken wie in Metall übertragene, vervielfältigte Ceramic Sketches (z. T. werden sie in einer Auflage von 20 produziert). Diese Weiterverarbeitungen der Werkgruppe kann – jenseits ökonomischer Gesichtspunkte, denn diese kleinformatigen, in Auflage produzierten, vergleichsweise niedrigprei­ sigen Arbeiten gelangen schnell in den Kunstmarkt – als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Arbeit an den Frauen nie endet, dass die Gruppe auch auf dieser Ebene nicht abgeschlossen werden kann und dass sie sich der definitiven Form entzieht. Für Thomas Schüttes Arbeit ist es charakteristisch, dass er sich mit einem Thema über viele Jahrzehnte hinweg beschäftigt, es immer wieder verändert, weiter be- und verarbeitet und aus seinen bereits realisierten Werken neue Werke entstehen lässt (vgl. Abschnitt Werk­interne Sujet-Entwicklung im Kapitel Sujet der vorliegenden Arbeit). 91   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 167.

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I.3 Prozesse

dieser Struktur steht mit seinem intuitiven, offenen Charakter (Zufälle, Fehler, Materialeigenschaften, Schüttes Arbeit, Meinungen/Entscheidungen Dritter), in dem der Künstler lediglich ein Akteur unter vielen ist, quer dazu. Sowohl den Ceramic Sketches als auch den Frauen sieht man diese Form der Genese an. Verbindende, homogene Elemente (Herstellungsverfahren, Material, Format, Titel, Präsentationsform etc.) stehen dem heterogenen Erscheinungsbild der Einzelfiguren gegenüber. Innerhalb dieser zu ästhetischen Differenzen führenden Serienproduktion nimmt Schütte somit eine doppelte Rolle ein: Er reglementiert und kontrolliert den gesamten statischen Prozess auf allen Ebenen und ist gleichzeitig innerhalb des dynamischen, physischen Schaffensaktes ein Akteur unter vielen. Es wird deutlich, dass in den Momenten, in denen es um die konkreten Formen der Figuren geht, verschiedene Akteure beteiligt sind. Somit bleibt Schütte der Autor eines Werks, für dessen Gestalt er nicht allein verantwortlich ist.92 Wie durch das Prinzip des Vorschlagscharakters die Festlegung einer definitiven Form verhindert wird, wird hier Distanz zwischen Künstler und Werk geschaffen und damit ein eindeutiges Künstler-Werk-Verhältnis verhindert. In einem Künstlergespräch mit Ulrich Loock erklärt Schütte im Jahr 2013, dass man lediglich die Bedingungen schaffen könne und dass die Kunst dann passiere – das könne man aber vorher nicht wissen.93 Und gut zehn Jahre zuvor hatte er auf die Frage, ob er lange darüber nachgedacht habe, Frauenfiguren zu machen, geantwortet: „Ich wollte auch einmal richtige Kunst machen. Oder es zulassen, dass die mal passieren darf.“94 Durch die Form der Produktion und vor allem durch ihre Sichtbarmachung verschafft Thomas Schütte sich Freiräume; er erhält Distanz zur künstlerischen Tradition und somit die Möglichkeit, sich erneut einem heiklen, traditionsreichen Sujet zu nähern. Ohne ein so hohes Gewicht auf die Produktionsprozesse zu legen, ohne seine Annäherung an den großformatigen liegenden weiblichen Akt unter Berücksichtigung aller beteiligter Akteure zu präsentieren und alle technischen, ästhetischen und kunsthistorischen Widerstände des Topos Frauenakt zu visualisieren, wäre eine Bearbeitung dieses Themas kaum möglich. Denn das (vorläufige) Ende der Produktion bilden überlebensgroße hunderte Kilo schwere, liegende, sitzende und kauernde, unbekleidete Monumentalfiguren, dauerhaft in Metall gegossen, als paradoxe Ergebnisse, die durch einen Blick, der sie lediglich als statische Ergebnisse wahrnimmt, ihr Potential nicht entfalten. Das Offenlegen, mehr noch, die gezielte Inszenierung der Produktionsprozesse manifestiert sich hier als Teil des Werks und als künstlerische Strategie, die durch die sprachlichen Äußerungen des Künstlers stabilisiert werden. Denn nur, weil Thomas Schütte in zahlreichen publizierten Interviews – zu den Frauen sind u. a. drei ausführliche Interviews erschienen: eines zu Beginn der Werkgruppe (Lingwood 2001), eines zum Ende hin 92   Vertiefend zu dem komplexen Begriff des Autors vgl. Jannidis, Fotis (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2009. 93   Vgl. das Künstlergespräch zwischen Thomas Schütte und Ulrich Loock im Museum Folkwang, Essen am 13.12.2013. 94   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 177.

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I. Produktion

(Loock 2004b) und eines mit zehn Jahren Abstand (Vischer 2013) – Auskunft über die sonst verborgenen Prozesse im Atelier und in den Werkstätten erteilt, sind die Details bekannt und fließen in die Rezeption ein. Er bestimmt, inwieweit die Produktionsprozesse nachvollzogen werden können, welche Informationen an die Öffentlichkeit gelangen und welche er für sich behält. Diese Äußerungen des Künstlers auf ihre Vollständigkeit oder ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu wollen oder sie gänzlich aus der Analyse auszuklammern, wären gleichsam unmögliche wie beschneidende Unterfangen, sind sie doch integrale Teile der Kunst Thomas Schüttes und damit Teile der Produktion.95 Exemplarisch zeigt sich die Kraft der Aussagen des Künstlers an den Begriffen Scheitern und Fehler. Die ersten Versuche, Frauenakte zu schaffen (First Ceramic Sketches, 1997) scheitern nach seiner Aussage. („Es ist mir so entglitten, dass es mir ganz peinlich war.“96) Er bearbeitet sie aber weiter – glasiert und brennt sie und stellt sie aus. Somit stellt sich die Frage, woran genau das Scheitern festgemacht werden kann. Denn die Produktion ist nicht gescheitert. Am Ende stehen die vermeintlich misslungenen Figuren, die vorgeblich gescheiterten Versuche als Kunstwerke im Museum. Vergleichbar verhält es sich mit den Ceramic Sketches. Auch hier spricht Schütte von gelungenen und von misslungenen Exemplaren.97 Beides sind sie aber nur, weil er es bestimmt. Auch hier scheitert die Produktion nicht. Die Skizzen werden verwendet, weiterbearbeitet, ausgestellt, verkauft und ins große Format übertragen. Und auch im großen Format bleibt das vermeintliche Scheitern zentrales Prinzip und wird sogar zum Gestaltungsmuster. Weil er an der Bearbeitung einzelner Körperpartien nach eigenen Aussagen technisch, handwerklich scheitert, deformiert er sie, schneidet sie ab, verzichtet völlig auf sie. Das Prinzip des vorgeführten Scheiterns legitimiert einen freieren, nicht auf Perfektion angelegten Umgang mit der Form. Ganz ähnlich steht es um den Begriff des Fehlers. Einige seiner Ceramic Sketches bezeichnet Schütte als „Fehler“98 und in Bezug auf ihre Glasur spricht er von einem „Produktionsfehler“99, der nicht nur nicht behoben, sondern der zum Prinzip erhoben wird. Auf Ulrich Loocks Frage, wie er entschieden habe, dass einige Figuren Fehler waren, antwortet Schütte ausweichend: „Das sieht jeder.“100 Auch im Zusammenhang mit der nicht ebenmäßigen, sich zusammenziehenden Glasur ist der Fehlerbegriff zu hinterfragen: Im Grunde handelt es sich dabei um (z. T. unvorhersehbare) Ereignisse, um Produktionsmomente innerhalb des Prozesses, die der Künstler als Fehler bezeichnet, die 95  Zu der Problematisierung von Künstleraussagen und zu der Gattung des Künstlerinterviews vgl. Gelshorn, Julia: Künstlerinterviews, in: Butin, Hubertus (Hg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2014, S. 234–238 und Gelshorn, Julia: Der Produzent als Autor. Künstlerische Theorie als kunsthistorische Herausforderung, in: Krieger, Verena (Hg.): Kunstgeschichte  & Gegenwartskunst. Vom Nutzen  & Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln 2008, S. 193–211. 96   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 166. 97   Vgl. Lingwood 2001, S. 76. 98   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 162. 99   Zitat Thomas Schütte, in: Vischer 2013, S. 96. 100   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 162.

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I.3 Prozesse

aber nicht behoben werden, sondern integriert und präsentiert werden. Der Fehler-Charakter wird dann durch die sprachlichen Äußerungen aufrechterhalten, um einer idealistischen Werkauffassung, der Benennung der vollendeten, perfekten Form zu entgehen. „Die Fehler mit einzubauen, das war der Kunstgriff.“101, sagt Schütte. Zentrale Begriffe (Skizze, Fehler) und Klischees der Kunstproduktion (Autor, Scheitern) laufen in Schüttes künstlerischen Praxis gegen- und ineinander. Sie werden auf diese Weise sichtbar und können betrachtet, verhandelt und dekonstruiert werden. Für den Künstler scheint dieses Abarbeiten nicht nur eine Distanz zur Tradition zu schaffen, sondern ebenfalls eine Abgrenzung von der akademischen, anscheinend in Neoexpres­ sionismus, Konzeptkunst und Minimal Art festgefahrenen Bildhauerei seiner Lehrjahre zu bedeuten. Einzelstück und Serie, Meisterwerk und Massenproduktion, Genie und Arbeiter, Atelier und factory, Eigenhändigkeit und Akteur-Netzwerk, Kalkül und Zufall, Einmaligkeit und Wiederholung, Ernsthaftigkeit und Ironie, Abgeschlossenheit und Endlos­prinzip, Rückzug und Inszenierung. Alle diese binären Relationen künstlerischer Praxis klingen in Schüttes Produktion an, sie alle bleiben in der Schwebe und somit verhandelbar. Der Fokus auf die Produktionsprozesse macht verschiedenste Herstellungsverfahren sichtbar, die aufgerufen, angeeignet, affirmiert, modifiziert und negiert werden. Zunächst ist das klassische künstlerische Verfahren der plastischen Skizze, des modello oder im engeren Sinne bozzetto auszumachen. Spätestens für Gian Lorenzo Bernini wird belegbar, dass „zahlreiche, in der Konzeption und Artikulation des gestellten Themas teilweise grundverschiedene Modelle gefertigt wurden, welche gemeinsam aufbewahrt, […] die Möglichkeit boten, den Schaffensprozess […] zu rekonstruieren.“102 Somit entstehen immer wieder neue Bozzetti zur selben Aufgabe; bei Schütte sind es 120  Stück zum Thema Frauen. Der Topos des künstlerischen Schaffens schlechthin – das freie Modellieren der Künstlerhand in Ton – scheint hier auf.103 Darüber hinaus erinnert das Setting der Produktion mit den starren Regeln an einen Versuchsaufbau, bei dem die Keramikwerkstatt zum Labor und die Helfer, die Schütte stündlich ein Brett mit Ton vorlegen, zu Laborassistenten werden. Die einheitliche Einteilung der Tage und die Regulierung der Zeit sind dann festgelegte Parameter des „Experiment[s]“104 Frauenakt oder des „Forschungsprojekt[es]“105. Verfahren der Wissenschaft werden hier sichtbar und gleichzeitig drängen sich Vergleiche fordistischer Arbeits- und Produktionsmodelle auf, denn die 120 kleinformatigen Figuren entstehen fast wie am Fließband innerhalb einer Serienpro  Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 167.  Myssok, Johannes: Bildhauerische Konzeption und plastisches Modell in der Renaissance, Münster 1999, S. 36 f. Eine Alternative wäre das Arbeiten an einem einzigen Modell, das immer wieder umgeformt und weiterbearbeitet wird. 103   Die Rolle des Tons im Kontext verschiedener Schöpfungsmythen wird in dem Kapitel Material behandelt. 104   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 81. 105   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 79. 101 102

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I. Produktion

duktion. Die Produktionsstraße bleibt dabei, ebenso wie das Ausgangsmaterial und die Rahmenbedingungen gleich. Ein anderer Industrie- beziehungsweise Handwerkskontext wird bei der Bearbeitung der Frauen im Blaumann und mit Atemschutzmaske aufgerufen. Im Kontrast dazu steht die Technik des freien Formens des Tons mit den Händen. Sie verweist einerseits auf das Basteln, die Bricolage und das Ausprobieren und zum anderen auf das professionelle (kunstgewerbliche) Töpfern und öffnet somit das Feld vom dilettantischen bis zum professionellen Produzenten. Diese Verfahren entstammen den unterschiedlichsten Kontexten: der bildenden Kunst, der Wissenschaft, der Industrie, des Handwerks und des Kunstgewerbes. Die Fokussierung dieser Prozesse macht weitere Faktoren und Kriterien innerhalb des Produktionsparadigmas sichtbar, die sich verschieben und gegen- und ineinanderlaufen. Zunächst relativiert und definiert sie die beiden dominanten Autoritäten, Künstler und Kunstwerk: Das bereits in der Renaissance einsetzende und spätestens seit dem Barock etablierte Verfahren der kleinformatigen plastischen Skizzen aus Ton führt zu Bozzetti. Das entsprechende Künstlerbild ist das des entwerfenden Schöpfers, dessen Hand sich direkt im feuchten Ton manifestiert. Das Experiment führt in der Regel zu einem überprüften, messbaren, gültigen Ergebnis; der Künstler wird zum Wissenschaftler. Die Serienproduktion generiert perfekte, einheitliche Produkte, die sich nicht unterscheiden und alle untereinander austauschbar sind. Der Künstler nimmt dann die Rolle des Produktionsleiters und Qualitätsmanagers oder des Industriearbeiters ein. Das Töpfern führt zu handgemachten (Gebrauchs‑)Gegenständen, zu Unikaten, der Künstler ist dann Handarbeiter. Doch die Ceramic Sketches sind nicht nur Bozzetti, sie werden als gültige Kunstwerke im musealen Kontext präsentiert. Sie sind auch keine überprüf- und messbaren Ergebnisse künstlerischer Forschung. Sie sind keine typischen Serienprodukte, weil sie heterogen sind. Und sie sind keine Töpferwaren im herkömmlichen Sinne, weil sie ohne das nötige handwerkliche Knowhow (auf Seiten des Künstlers) produziert werden. Und Thomas Schütte wird weder zum Künstlergenie, noch zum artistic researcher, noch zum Produktionsmanager, noch zum Handarbeiter.106

I.4 Zusammenfassung Innerhalb der Werkgruppe Frauen werden Strukturen und Strategien verschiedenster Arbeitsprozesse angeeignet. Gemeint sind hier nicht einheitliche, zentrale künstlerische Methoden, die sich beispielsweise von industriellen Verfahren ableiten, wie etwa die Serialität in den 1960er und ‑70er Jahren als „grundlegend gestalterisches und bildkonsti-

106   Vertiefend zu Künstlerrollenbild und ‑verständnis vgl. Fastert, Sabine, Joachimides, Alexis und Krieger, Verena (Hgg.): Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der Künstler/innenforschung, Köln 2011.

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I.4 Zusammenfassung

tuierendes Konzept“107, sondern die punktuelle Aneignung einzelner Elemente und ihre Kombination zu mehrfachcodierten Herstellungsprozessen. In der Werkgruppe treffen diese Verfahren auf genuin künstlerische Verfahren oder auf Verfahren der Alltagswelt. Klassisches Modellieren in Ton trifft auf Fließbandproduktion, trifft auf Experimen­ telles, trifft auf Handarbeit, trifft auf Handwerk. Keines der verschiedenen, sichtbar gemachten, in der Werkgruppe verwendeten Verfahren wird konsequent umgesetzt, wie andere Künstler es als stringente Arbeitsmethode, etwa zur kritischen Revision oder auch zur Imagebildung durchaus tun – zu nennen wären beispielsweise Markus Lüpertz (Malerfürst), Attila Csörgö (artistic researcher), Jeff Koons (Produktionsmanager) oder auch Grayson Perry (Töpfer) –, sondern sie sammeln sich mit- und nebeneinander innerhalb der Werkgruppe an und wiederholen sich, unterscheiden und generieren sich und führen zu ästhetischen Ergebnissen, zu Kunstwerken, die ihr eigenes Produziertsein, als Produkte ihrer Herstellung, demonstrieren und reflektieren. Sie bringen in einem dynamischen Wechselspiel weitere Perspektiven und Flexibilität in ein dichotomes Künstler-Kunstwerk-Verhältnis und in entsprechende Rollenbilder und binäre Vorstellungen wie etwa alt und neu oder high und low. Und sie zielen auf zentrale Topoi der künstlerischen, bildhauerischen Praxis: Zunächst wird der künstlerische Akt als autonomer, mystischer Prozess und mit ihm das Künstler-Ich als autonome Instanz hinterfragt. Eng verknüpft damit sind Fragen nach der Entzauberung des Künstlerateliers als intimen Ort und der problematisierende Umgang mit traditionellen Techniken und Begriffen. Zentrale Parameter der Kunstproduktion, wie Körperbezogenheit, Subjektbezogenheit, Originalität/Authentizität, Technisierungsgrad, Arbeitsteiligkeit, verschieben sich fortlaufend und bleiben in Bewegung. Die Fokussierung der Produktionsprozesse zeigt, dass die Frauen nicht die statischen Endprodukte sind, als die sie auf den ersten Blick erscheinen. In ihnen wird anschaulich, was Paolo Bianchi in dem Band Kunst ohne Werk. Ästhetik ohne Absicht im Jahr 2000 für „eine ganz andere Form der Gegenwartskunst“108 (gemeint sind Kunstformen wie Poetik, Performance, Ereignis und Environment), die sich gegen alle Konven­ tionen, gegen alles Fertige und Verfertigte richte, postuliert: „Im Crossover werden diverse Materialien und Techniken, Erfahrungen und Vorlieben vermengt.“109 Und dabei falle „ein Mut zur […] Synthese […] auf, der auch den Mut zum Irrtum in sich birgt.“110 Nur spielen sich diese Prozesse hier innerhalb der traditionellen, für obsolet erklärten Gattung der Bildhauerei, innerhalb der großformatigen Aktplastik ab. In der Produktion der Metallfiguren im monumentalen Format treten Strategien des Performativen, des Ereignishaften, des Inszenatorischen hervor, die einer Festlegung als klassische Kunst107   Butin, Hubertus: Serialität, in: Butin, Hubertus (Hg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2014, S. 314–319, S. 315. 108   Bianchi, Paolo: Was ist (Kunst)?, in: Bianchi, Paolo (Hg.): Kunst ohne Werk. Ästhetik ohne Absicht, Kunstforum International, Nr. 152, Köln 2000, S. 56–60, S. 58. 109  Ebd. 110  Ebd.

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I. Produktion

werke entgegenstehen und die hunderte Kilo schweren Plastiken in der Schwebe halten. Die klassische Plastik wird mithilfe zeitgemäßer Verfahren wiederbelebt. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Prozesse nur scheinbar der vollständigen Kontrolle des Künstlers unterliegen. Das verwendete Material kommt in zahlreichen Momenten als zentraler Akteur zum Vorschein, dessen Anteil an der Produktion im Folgenden ausführlich analysiert wird.

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II. MATERIAL

Vor knapp 50 Jahren, zu einer Zeit, als Künstler wie Joseph Beuys und Robert Morris ihre Werke, die oft aus eher kunstfremden Stoffen (Fett, Filz etc.) bestehen, präsentieren, beginnt auch die Kunstwissenschaft sich intensiver dem Thema Material zuzuwenden.111 Zunächst sind zwei Aufsätze von Günter Bandmann zu nennen: Im Jahr 1969 untersucht er unter dem Titel Bemerkungen zur Ikonologie des Materials das Material als Bedeutungsträger für die Kunst des Mittelalters mit einem Schwerpunkt auf Architektur.112 Zwei Jahre später veröffentlicht er den Text Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, den er als einen Wechsel von einem alten „idealistischen“113 zu einem neuen „materialistischen“114 System beschreibt und charakterisiert. In demselben Jahr erscheint der Aufsatz Neue Materialien in der Plastik des 20. Jahrhunderts. Zum Problem: Werkstoff und Kunstwerk von Ursula Aldinger und 1975 veröffentlicht Wolfgang Kemp seinen Text Material der bildenden Kunst. Zu einem ungelösten Problem der Kunstwissenschaft.115 Beide Aufsätze diagnostizieren die Materialfrage als Problem und widmen sich erstmals auch neuerer Kunst unter der Verwendung neuerer Materialien. In den 1980er und frühen 1990er Jahren beschäftigen sich dann einige Ausstellungen – etwa 1981 in Berlin oder 1991 in Wien – mit dem Thema und es entstehen vereinzelt weitere Publikationen, die sich mit der Materialfrage der Kunst im Allgemeinen beschäftigen, Teilaspekte, wie zum Beispiel die Kombination bestimmter Materia-

111   Vgl. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001a, S. 13. Anzumerken ist, dass die Materialfrage in der bildenden Kunst und in der Architektur der frühen Moderne bereits relevant ist (Ready-made, Objet trouvé, Pappmaché, Beton etc.). Die (ikonographische) Kunstgeschichte hat jedoch lange Zeit zwischen Form und Inhalt getrennt und damit keinen Zugang zu der Verbindung auf den Nutzen bezogener, ästhetischer und ikonographischer Phänomene gefunden. 112   Bandmann, Günter: Bemerkungen zur Ikonologie des Materials, in: Holzinger, Ernst und Legner, Anton (Hgg.): Städel-Jahrbuch, Neue Folge, München 1969, Bd. 2, S. 75–100. 113   Bandmann, Günter: Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, in: Koopmann, Helmut und Schmoll, J. Adolf (Hgg.): Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1971, Bd. 1, S. 129–157, S. 135. 114  Ebd. 115   Aldinger, Ursula: Neue Materialien in der Plastik des 20. Jahrhunderts. Zum Problem: Werkstoff und Kunstwerk, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Nr. 16/2, Bonn 1971, S. 242–259 und Kemp, Wolfgang: Material der bildenden Kunst. Zu einem ungelösten Problem der Kunstwissenschaft, in: Prisma. Zeitschrift der Gesamthochschule Kassel, Nr. 9, 1975, S. 25–34.

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II. Material

lien beleuchten oder sich auf ausschließlich ein Material, etwa Stein, fokussieren.116 Eine erste umfassende systematische Studie veröffentlicht Thomas Raff 1994 unter dem Titel Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe.117 Besonders hervorgetan auf dem Gebiet der Materialforschung in der Kunst hat sich Monika Wagner. Sie leitete das DFG-Forschungsprojekt Archiv zur Erforschung der Materialikonographie, das die zunehmende Bedeutung der Materialität in der Kunst des 20. Jahrhunderts (v. a. nach 1945) dokumentiert und verfasst mehr als zehn Publikationen zum Thema.118 Besonders die Schriften Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur (2005), Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn (2002), Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne (2001) und Material (2001) bündeln neue Erkenntnisse und schaffen Grundlagen.119 Innerhalb der letzten 30 Jahre hat sich in der Kunstwissenschaft in Bezug auf das Material der Kunst ein Paradigmenwechsel von einer das Material gegenüber der Form minder bewertenden hin zu einer es als autonome, ästhetische Kategorie ernst nehmenden Auffassung vollzogen.120 Zahlreiche Veröffentlichungen analysieren, formulieren und verwenden einen weiter gefassten „modifizierten, amplifizierten und emanzipierten Materialbegriff “121 und betrachten Kunstwerke „nicht mehr länger unter dem Primat

116   Gemeint sind die Ausstellungen: Bildhauertechniken. Dimensionen des Plastischen (Neuer Berliner Kunstverein e. V. in der Staatlichen Kunsthalle Berlin) und Bildlicht – Malerei zwischen Material und Immaterialität (Museum des 20. Jahrhunderts Wien). Als exemplarische Publikationen können z. B. genannt werden: Lein, Edgar: Die Kunst des Bronzegießens, ihre Darstellung in Traktaten und die Bedeutung von Bronze, in: Meißner, Birgit, Doktor, Anke und Mach, Martin (Hgg.): Bronze- und Galvanoplastik. Geschichte – Materialanalyse – Restaurierung, Dresden 2001, S. 9–24; Heckmann, Stefanie: Figur – Struktur – Index. Zur Modernität des Steins in der Skulptur der Gegenwart. Freiburg im Breisgau 1999; Bartholomeyczik, Gesa: Materialkonzepte. Die Kombination von Materialien in der deutschen Plastik nach 1960, Frankfurt/Main 1996; Gramaccini, Noberto: Die karolingischen Großbronzen. Brüche und Kontinuität in der Werkstoffikonographie, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums und Bericht aus dem Forschungsinstitut für Realienkunde, Nürnberg 1995, S. 130–140; Penny, Nicholas: Geschichte der Skulptur. Material Werkzeug Technik, Leipzig 1995 (orig. 1993). 117   Raff, Thomas: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Münster 2008. 118   Das Projekt wurde inzwischen eingestellt, doch das aufgebaute Archiv ist weiterhin für Forschungszwecke geöffnet. Auch die Literaturdatenbank steht für die Online-Recherche zur Verfügung: https://materialarchiv.rrz.‌uni-hamburg.de/Materialdatenbank/index.‌htm (19.10.17 10:50). 119   Rübel, Dietmar, Wagner, Monika und Wolff, Vera (Hgg.): Materialästhetik. Quellentexte zur Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005; Wagner, Monika, Rübel, Dietmar und Hackenschmidt, Sebastian (Hgg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002; Wagner 2001a; Wagner, Monika: Material, in: Barck, Karlheinz, Fontius, Martin, Schlenstedt, Dieter, Steinwachs, Burkhart und Wolfzettel, Friedrich (Hgg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart 2001b, Bd. 3, S. 866– 882. 120   Vgl. Strässle, Thomas: Einleitung. Pluralis materialitatis, in: Strässle, Thomas, Kleinschmidt, Christoph und Mohs, Johanne (Hgg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien – Praktiken – Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 7–23, S. 9. 121   Strässle 2013, S. 9.

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II. Material

der Form […], sondern gerade umgekehrt die Form als variable Größe und Ergebnis materialer Eigenschaften und Energien“122. Doch wie kann eine solche Neueinschätzung des Materials der Kunst der Analyse von Thomas Schüttes Frauen dienen? Welche Ergebnisse lassen sich erzielen, wenn das verwendete Material nicht nur als Träger der Form, sondern als ikonographische und als ästhetische Kategorie und darüber hinaus als Akteur mit einem gewissen Eigensinn betrachtet wird? Kurz: Welchen Anteil hat das verwendete Material am Kunstwerk? Wie unterschiedlich der Stellenwert des Materials im künstlerischen Prozess bewertet wird und wie vielfältig sich der Umgang der Künstler_innen im vergangenen Jahrhundert mit dem Material gestaltet, zeigt schon die Zitate-Sammlung von Eduard Trier.123 Kurt Schwitters etwa beschreibt es als „unwesentlich“124, während Naum Gabo es „die emo­tionale Grundlage einer Plastik“125 nennt. Auffällig ist, dass in den sprachlichen Äußerungen der Künstler_innen „Wahl, Charakter und Formung des Materials eine hervorragende Stellung“126 einnehmen. Der Wert des Materials und sein Anteil am künstlerischen Werk werden genauso diskutiert wie Vor- und Nachteile bestimmter Werkstoffe. Es werden Rangordnungen der Materialien aufgestellt, das Postulat der Materialgerechtigkeit diskutiert und auch die Verarbeitung der Materialien und die damit einhergehende Beherrschung der handwerklichen Techniken beschäftigen die Künstler_innen des 20. Jahrhunderts.127 122   Ebd., S. 8. Zu nennen sind darüber hinaus u. a. Rübel, Dietmar: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012; Weber, Jutta: Rost in Kunst und Alltag des 20. Jahrhunderts, Berlin 2008; Rübel, Dietmar: Plastizität. Fließende Formen und flexible Materialien in der Plastik um 1900, in: Strässle, Thomas und Torra-Mattenklott, Caroline (Hgg.): Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in der Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg im Breisgau 2005, S. 283–306; Fuhrmeister, Christian: Beton, Klinker, Granit. Material, Macht, Politik. Eine Materialikonographie, Berlin 2001. Zur Vertiefung der Theoriebildung vgl. Kalthoff, Herbert, Cress, Torsten und Röhl, Tobias (Hgg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2016; Weltzien, Friedrich und Scholz, Martin: Die Sprachen des Materials. Narrative – Theorien – Strategien, Berlin 2016; Heibach, Christiane und Rohde, Carsten (Hgg.): Ästhetik der Materialität, Paderborn 2015; Anderson, Christy, Dunlop, Anne und Smith, Pamela H. (Hgg.): The matter of art. materials, practices, cultural logics, c. 1250–1750, Manchester 2015; Lange-Berndt, Petra (Hg.): Materiality, London 2015; Witzgall, Susanne und Stakemeier, Kerstin (Hgg.): Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich 2014; Köhler, Sigrid G., Siebenpfeiffer, Hania und Wagner-Egelhaaf, Martina (Hgg.): Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte, Berlin 2013; Lehmann, Ann-Sophie, Scholten, Frits und Chapman, H. Perry (Hgg.): Meaning in Materials, 1400–1800, London 2013; Lipinska, Aleksandra (Hg.): Material of Sculpture. Between Technique and Semantics, Breslau 2009; Knappett, Carl und Malafouris, Lambros (Hgg.): Material Agency. Towards a Non-Anthropocentric Approach, New York 2008; Naumann, Barbara, Strässle, Thomas und Torra-Mattenklott, Caroline (Hgg.): Stoffe. Zur Geschichte der Materialität in Künsten und Wissenschaften, Zürich 2006. 123   Vgl. Trier, Eduard: Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 61 ff. 124   Schwitters, Kurt: Merz, in: Der Ararat. Glossen/Skizzen und Notizen zur neuen Kunst, Nr. 1, München 1921, S. 3–9, S. 5. 125   Gabo, Naum: Plastik. Bildnerei und Konstruktion im Raum, in: Naum Gabo. Bauten, Skulptur, Malerei, Zeichnungen, Grafik, Neuchâtel 1961, S. 173–177, S. 173. 126  Ebd. 127   Vgl. u. a. Raff 2008 und Trier 1999. Zum Begriff der Materialgerechtigkeit vgl. Bandmann 1971 und Rübel/Wagner/Wolff 2005, S. 95 ff.

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II. Material

Thomas Schütte nutzt für seine plastischen Arbeiten generell sowohl klassische Werkstoffe wie Ton, Gips, Wachs, Stein, Marmor, Holz und Bronze als auch neuere Materialien wie Beton, Aluminium, Stahl, Glas, Plexiglas und weitere Kunststoffe. Genauso verwendet er vorgefertigte Baumarkt- und Bastelmaterialien, zum Beispiel Ziegel, Bleche, Türblätter, Schrauben, Silikon, Farbe, Textilien, Papier und Knetmasse.128 Es scheint, als würde er bei der Materialwahl nicht einer bestimmten Hierarchie folgen und zum Beispiel zwischen alt und neu trennen, sondern stattdessen für seine jeweiligen Projekte das – vielleicht in Bezug auf Praktikabilität oder Wirkung – jeweils passende Material verwenden. Ein solcher, relationaler Materialeinsatz wird in Bezug auf die Werkgruppe Frauen allerdings in Frage gestellt, denn sie werden jeweils in drei unterschiedlichen Materialien ausgeführt, in Stahl, Bronze und Aluminium. Damit werfen sie nicht nur Fragen nach dem verwendeten Material an sich, seiner spezifischen Wirkung und Semantik auf, sondern darüber hinaus die Frage, ob davon auszugehen ist, dass es für ein bestimmtes Kunstwerk, ein bestimmtes Thema, eine bestimmte Form, ein geeignetes, passendes Material überhaupt geben kann. Stahl, Bronze und Aluminium unterscheiden sich nicht nur optisch voneinander (in ihrer Farbigkeit und Oberflächenstruktur), sondern die drei Metalle sind auch durch ihre Verwendungsgeschichte unterschiedlich konnotiert. Innerhalb der Werkgruppe spielen darüber hinaus sowohl Ton, das Material der Ceramic Sketches, als auch Gips, als Transfermaterial, zentrale Rollen. Die Oberflächen der kleinformatigen Keramikskizzen sowie die der großformatigen Metallplastiken werden darüber hinaus mit weiteren Materialien – Glasur, Patina, Lack – bearbeitet. Somit ergeben sich für die Analyse der Materialien der Frauen verschiedene Stoffe – Ton, Gips, Stahl, Bronze, Aluminium und die Materialien der Oberflächen –, die in chronologischer Folge des Produktionsprozesses untersucht werden: Erstens in Bezug auf ihre materiellen Eigenschaften und ihre Verwendungsgeschichten (A) und zweitens bezüglich ihres Einsatzes innerhalb der Werkgruppe Frauen, ihres gestalterischen und semantischen Anteils an den Plastiken und weiterer materialspezifischer Faktoren (B).

II.1 Ton Am Beginn der Werkgruppe Frauen stehen etwa 120 kleinformatige Ceramic Sketches. Der Titel der Arbeiten verweist auf ihren Status als Entwürfe und gibt zugleich Aufschluss über das für sie verwendete Material.

128   Auch in anderen Gattungen verwendet Schütte verschiedenste Materialien: Im Bereich der Grafik finden sich beispielsweise dünne Blätter, die nachlässig aus einem Ringbuch gerissen sind, genauso wie hochwertiges Büttenpapier. Er verwendet verschiedene Druckerfarben und Stifte und zeichnet mit Wasserfarbe, Kreide sowie Tusche. Er malt mit Öl, Acryl und vor allem mit Lack auf Holz, Leinwand, auf Wände, Pappe und Papier.

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II.1 Ton

(A) Das Ausgangsmaterial keramischer Objekte ist Ton. Dieser gehört zu den ältesten Werkstoffen des Menschen und bereits in prähistorischer Zeit findet Ton in verschiedenen Verarbeitungsformen Verwendung als Baumaterial und ‑schmuck und für unterschiedlichste Erzeugnisse, vornehmlich für Gefäße und Kult- und Schmuckgegenstände, etwa kleinformatige Tier- und Frauenfiguren.129 Für Gottfried Semper etwa ist Ton somit der plastische „Urstoff “130 schlechthin, er beschäftigt sich ausführlich mit Keramik und misst ihr innerhalb seiner Einteilung und Beschreibung der Materialien der Künste eine besondere Aufmerksamkeit und einen besonderen Status bei.131 Ton, beziehungsweise seine Verwandten Lehm und Erde, finden sich in verschiedensten Schöpfungsmythen und regen entsprechend spirituelle Überlegungen an.132 Weil die Hand des (künstlerischen) Schöpfers sich in das weiche Material Ton einschreibt, wird er im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck damaliger Pariser Skulpturen als „perpétuelle signature“133 beschrieben: „Je lis le nom de sculpteur partout où sa main s’est posée.“134 Weiter noch beschreibt Henry Jouin 1888 das Material als „l’œuvre vierge“135 und den Akt der Schöpfung erotisierend: „Son créateur seul l’a [la terre] touchée. Lui seul a caressé de son ongle ces longs cils, ce cou délicat, ces cheveux abondants et soyeux. Lui seul a creusé de son doigt ce front plein de pensées, ces joues fermes, cet œil jeune où semble luire un regard de génie.“136

Hier klingt neben der Charakterisierung des Tons als altes, vielseitiges Material und als Material der Schöpfung eine weitere Facette der Konnotation an: Das Material wird mit

129   Ausführlich zur Geschichte und Technik keramischer Erzeugnisse vgl. Denninger, Edgar: Keramik und Porzellan, in: Weiß, Gustav, Denninger, Edgar, Stratmann-Döhler, Rosemarie, Sträßer, Edith M. H. und Gall, Günter: Reclams Handbuch der künstlerischen Techniken, Stuttgart 1986, Bd. 3, S. 69–133. 130  Karge, Henrik (Hg.): Gottfried Semper. Gesammelte Schriften, Hildesheim/Zürich/New York 2008 (orig. 1863), Bd. 3, S. 1. 131   Vgl. ebd., Bd. 3 und Bd. 4. Ausschlaggebend für die Beschäftigung mit und die Hochschätzung der Keramik waren Sempers Auseinandersetzungen mit Ernest de Blosseville und Alexandre Brongniart. Dazu vgl. Genge, Gabriele: Artefakt – Fetisch – Skulptur. Aristide Maillol und die Beschreibung des Fremden in der Moderne, Berlin/München 2009, S. 41 ff. 132   Zu nennende Mythen finden sich u. a. bei: Ovid, Metamorphosen I,76–88 und I, 363–433; Bibel Gn 2,7; Plinius (Naturalis Historiae XXXV, 151); der ägyptische Töpfergott Chnum. Für weitere und vertiefend vgl. Jahn, Wolf: Vom Lehm in Mythen und Überlieferungen, in: Henatsch, Martin (Hg.): Back to Earth. Von Picasso bis Ai Weiwei. Die Wiederentdeckung der Keramik in der Kunst, Ausst. Kat., Herbert Gerisch-Stiftung Neumünster, Neumünster 2013, S. 230–232 und Wiener, Jürgen: Metamorphose Mimesis Material. Schöpfungsmythen bei Ovid und Vergil und die Grotta Grande des Boboligartens in Florenz, in: Busse, Wilhelm: Schöpfung. Varianten einer Weltansicht, Düsseldorf 2013, S. 117–158. 133   Jouin, Henry: Esthétique du sculpteur, Paris 1888, S. 96. 134  Ebd. 135  Ebd. 136  Ebd.

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II. Material

Weiblichkeit assoziiert.137 Seine fehlende Härte und Widerstandsfähigkeit, seine Weichheit und Formbarkeit gelten in einem denunzierenden Sinne als weiblich und führen zu eindeutigen Analogien: „Der einzige Stoff, der keinen Materialcharakter hat, der nicht von sich aus zu irgendwelcher Treue, Stenge, Disziplin zwingt, der einzige Stoff, der dirnengleich schlechterdings alles mit sich machen läßt, der den Begriff Vergewaltigung gar nicht kennt, der jenen höchsten Akt menschlichen Glückempfindens hemmungs- und gefühllos immer wieder mit sich vollziehen läßt, ist der Ton […].“138

Nicht nur die genannten physischen Eigenschaften lassen den Ton in den Hierarchien der künstlerischen Materialien an die unterste Position sinken, auch seine natürliche „trockene, todte“139 Farbe und die durch den Wasserverlust beim Trocknen oder Brennen verursachten Formveränderungen140 machen ihn bis ins 20. Jahrhundert hinein zu einem der „‚niedrigeren‘ Materialien“141. Ein umfassend angelegtes Ausstellungsprojekt mit dem Titel CERAMIX belegt im Jahr 2015 die Hinwendung der künstlerischen Avantgarde seit den 1880er Jahren zur Keramik. Es versammelt mehr als 250 keramische Werke von Künstler_innen sämtlicher Strömungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.142 Die Maastrichter Ausstellung zeigt, dass Keramik sich from Rodin to Schütte – so lautet der Untertitel der Schau – großer Beliebtheit erfreut und häufig und facettenreich eingesetzt wird. Auf der Seite der Rezeption allerdings gilt das Material nach wie vor als vernachlässigt.143 Obwohl es im gesamten 20. Jahrhundert durchweg verwendet wird und vor allem in der zweiten Hälfte einen Aufschwung erlebt, haften die verschiedenen, zum Teil im Laufe des Jahr137   Zu der Untersuchung des Verhältnisses von Keramik und Weiblichkeit, zu dem auch die Charakteristika feucht und warm zählen, vgl. Rübel 2012, S. 51 ff., Genge 2009, S. 64 und Vincentelli, Moira: Women and Ceramics. Gendered Vessels, Manchester 2000. 138   Kuhn, Alfred: Die neuere Plastik. Von Achtzehnhundert bis zur Gegenwart, München 1921, S. 15. 139  Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, Stuttgart 1853, Bd. 3,2,2, S. 372. 140   Durch den Wasserverlust schrumpft Ton um etwa 10 % beim Brennen (vgl. Wagner, Monika: Ton, in: Wagner/Rübel/Hackenschmidt 2002, S. 224–231, S. 225). Vertiefend zu den Materialhierarchien vgl. Rübel/ Wagner/Wolff 2005, S. 34 ff. 141   Raff 2008, S. 36. 142  Ausstellung: CERAMIX. From Rodin to Schütte, Bonnefantenmuseum Maastricht (16.10.15–31.01.16), La maison rouge Paris (09.03.–08.06.16), Katalog: Morineau, Camille und Pesapane, Lucia (Hgg.): CERAMIX. From Rodin to Schütte, Ausst. Kat., Bonnefantenmuseum Maastricht, La maison rouge Paris, Cité de la céramique Sèvres, Köln 2015. Zu nennen sind auch die Ausstellungen: Luster. Clay in Sculpture today, Fundament Foundation, Tilburg (17.09.–20.10.2016); Back to Earth. Von Picasso bis Ai Weiwei. Die Wieder­ entdeckung der Keramik in der Kunst, Herbert Gerisch-Stiftung Neumünster (25.05.–27.10.2013), Katalog: Henatsch, Martin (Hg.): Back to Earth. Von Picasso bis Ai Weiwei. Die Wiederentdeckung der Keramik in der Kunst, Ausst. Kat., Herbert Gerisch-Stiftung Neumünster, Neumünster 2013; Contemporary Ceramics, LeRoy Neiman Gallery, Columbia University School of the Arts New York (16.10.–08.11.2012); A secret History of Clay. From Gauguin to Gormley, Tate Liverpool, (28.05.–30.10.2004), Katalog: Groom, Simon (Hg.): A secret History of Clay. From Gauguin to Gormley, Ausst. Kat., Tate Liverpool, London 2004. 143   Vgl. Morineau, Camille und Pesapane, Lucia: The history of the project, in: Morineau/Pesapane 2015, S. 11–15, S. 12.

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II.1 Ton

hunderts sogar neu hinzugekommenen, eindimensionalen Konnotationen hartnäckig am Material:144 Aufgrund der Verbindung zum Alltäglichen und durch die Verwendung von Ton innerhalb der angewandten und figurativen Künste bleibt dem Material ein kunstgewerbliches, zum Teil sogar hobbymäßiges Image. Innerhalb der Moderne stellt es geradezu ein Tabu für bildende Künstler dar, denn das „avantgardistische Streben nach Durchbrechung traditioneller Codes verbot quasi den Umgang mit jener wertbeständigen Kulturtechnik […]“145. Auch wenn einige Künstler – etwa Paul Gauguin, Pablo Picasso, Joan Miró, Otto Piene, Lucio Fontana – mit Keramik arbeiten, bleibt sie doch eher eine Randerscheinung beziehungsweise führt die Keramik-Vorliebe etwa französischer Künstler zu einer neuen Einschränkung und macht Ton zu einem ‚mediterranen‘ Werkstoff.146 Die Künstler der arte povera nutzen Ton pointiert und programmatisch als ‚armes‘ Material und auch die physischen Eigenschaften des gebrannten Tons, wie die spezifische rötliche Farbigkeit oder die Zerbrechlichkeit werden interpretiert und führen zu einem „fossilen Charakter“147 des Materials. Pathetisch schreibt Ursula Prinz noch 1981 in einem Ausstellungs­ katalog über Keramik: „Im Zerbrechlichsten wird zugleich das Ewige, im Alltäglichsten das Erhabenste verkündet.“148 Auch Lucio Fontanas keramische Arbeiten sind nicht frei von den hartnäckigen Einschreibungen. Der Künstler erklärt: „I am a sculptor, not a ceramicist. I have never turned a plate on a wheel nor painted a vase. I detest lacy designs and dainty nuances.“149 Erst seit den 1980er Jahren kann sich die Verwendung von Ton in der kanonisierten bildenden Kunst langsam etablieren. Zu einer Zeit, als die Keramikwerkstätten der Kunstakademien leer stehen, nehmen Künstler_innen wie Norbert Prangenberg, Rosemarie Trockel, Tony Cragg, Richard Deacon und Thomas Schütte den Traditions­ strang aus dem frühen 20. Jahrhundert auf. Wenn auch teilweise mit einem postmoder  Auch folgende Ausstellungen zeigen die Verwendung von Keramik v. a. in der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Zeitgenössische Keramik von Fontana bis Uecker, Hetjens Museum Düsseldorf (26.11.2015– 20.03.2016); Keramische Räume, Museum Morsbroich, Leverkusen (25.05.–31.08.2014), Katalog: Heinzelmann, Markus (Hg.): Keramische Räume, Ausst. Kat., Museum Morsbroich Leverkusen, Dortmund 2014; Mit Feuer und Flamme, Museum Villa Rot, Burgrieden-Rot (02.10.2011–05.02.2012), Katalog: Dathe, Stefanie (Hg.): Mit Feuer und Flamme. Keramik in der Gegenwartskunst, Ausst. Kat., Museum Villa Rot, Burgrieden-Rot, Biberach an der Riß 2011; Dirt on Delight. Impulses That Form Clay, Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania (15.01.–21.06.2009), Walker Art Centre, Minneapolis (11.07.–29.11.2009), Katalog: Dirt on Delight. Impulses That Form Clay, Ausst. Kat., Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania, Walker Art Centre Minneapolis, Pennsylvania 2009; Makers and Modelers. Works in Ceramic, Gladstone Gallery New York (08.09.–13.10.2007). Vgl. auch Del Vecchio, Mark: Postmodern Ceramics, London 2001. 145   Henatsch, Martin: Warum Keramik als künstlerisches Material?, in: Henatsch 2013, S. 10–15, S. 11. 146   Alfred Stange beschreibt Ton (neben Marmor und Bronze) 1940 auch als griechisches Material (vgl. Stange, Alfred: Die Bedeutung des Werkstoffes in der deutschen Kunst, Bielefeld/Leipzig 1940, S. 15. 147   Prinz, Ursula: Terrakotta. Material mit magischen Qualitäten, in: Bildhauertechniken. Dimensionen des Plastischen, Ausst. Kat., Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 1981, S. 24–31, S. 28. 148   Ebd., S. 31. 149   Fontana, Lucio; La mia ceramica, Tempo, 21 September 1939, zitiert nach: Whitefield, Sarah: Lucio Fontana, Ausst. Kat., Hayward Gallery, London, Berkeley/Los Angeles/London 2000, S. 74. 144

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II. Material

nen, ironischen, protesthaften Impetus, öffnen sie die Verengung der Moderne, tragen somit zur Befreiung des Materials Ton von seinen hartnäckigen negativen Einschreibungen bei und ebnen allmählich den Weg für eine neue Künstlergeneration, die im 21. Jahrhundert wieder vermehrt mit Ton arbeitet.150 Zahlreiche Ausstellungen widmen sich der heutigen Renaissance der Keramik, Keramikzentren, ‑biennalen, ‑museen entstehen und lassen den Werkstoff Ton im künstlerischen Mainstream ankommen. Die Auszeichnung des britischen Künstlers Grayson Perry (geboren 1960), der sich selbst als potter bezeichnet, mit dem renommierten Turner Prize im Jahr 2003 ist nur ein Beispiel für die neue Popularität des einst vernachlässigten und verpönten Materials.151 Ist die Verwendungsgeschichte des Werkstoffs bei Perry weiterhin präsent und leben die Werke unter anderem auch von dem Spiel mit dem Tabu, greifen zahlreiche junge Künstler_innen inzwischen vorbehaltlos zu Ton und schätzen seine plastischen Vorteile.152 Ton ist ein hervorragendes Beispiel für ein kunsthistorisch ‚belastetes‘ Material.153 Zu verschiedenen Zeiten werden ihm verschiedenste Charakterzüge, Konnotationen und Eigenschaften unterstellt und eingeschrieben. Ungeachtet und trotz der tatsächlichen künstlerischen Produktion, halten sich diese Einschreibungen in der Rezeption über Jahrzehnte und Jahrhunderte hartnäckig. Objektiv betrachtet ist Ton ein altes, überaus beständiges Material, das sich für verschiedenste künstlerische Aufgaben bewährt hat.154 Es ist leicht zu beschaffen und kostengünstig. Es lässt sich vergleichsweise einfach, zügig und auf vielfache Weisen bearbeiten: Es ist im feuchten Zustand auch über längere Zeiträume hinweg mit bloßer Hand formbar und lässt sich modellieren, schneiden, falten, kneten, pressen und walzen. Entsprechend groß ist die Varianz der Formen und Oberflächen, die sich mit Ton erzeugen lassen. Durch Trocknen und/oder Brennen kann Ton stabil und haltbar gemacht und auch koloriert und glasiert werden. Der künstlerische Wert des Materials steht somit im

150   Für die kritische Reflexion über die Hinwendung postmoderner Künstler_innen zum Werkstoff Ton vgl. Jain, Gora: Keramik in der zeitgenössischen Kunst. Vom schlichten Stück Klempnerei bis zur obsessiven Monumentalplastik, in: Henatsch 2013, S. 34–40 und Grasskamp, Walter: Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1994, S. 67 ff. Grundlegend und vertiefend zu Entwicklung und Begriff der Postmoderne vgl. z. B. Gloy, Karen: Grundlagen der Gegenwartsphilosophie, Paderborn 2006, S. 156 ff., Huyssen, Andreas und Scherpe, Klaus R. (Hgg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1997 und Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 2015 (orig. 1982). 151   Vgl. Bouvard, Émilie: ‚The Values of the Home‘: From Fountain to Vallauris. Artistic ceramicists 1970– 1990, in: Morineau/Pesapane, 2015, S. 57–62, S. 61. 152   Nachdem etwa die Keramikwerkstatt der Kunstakademie Düsseldorf in den 1980er und ‑90er Jahren völlig leer stand, beschäftigen sich heute viele Studierende mit dem Material; nur ein Beispiel für eine Absolventin der Akademie, die mit Keramik arbeitet, ist Vera Lossau. 153   Vgl. Raff 2008, S. 159. 154   Außerhalb der Kunst zeichnet sich Keramik durch eine lange Verwendungstradition und eine breite Einsatzfähigkeit aus. Vom frühzeitlichen Gefäß bis hin zum zukunftsweisenden Hightech-Produkt kann der Werkstoff als plastischer Stoff schlechthin für die Transformation von Natur in Kultur gesehen werden.

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II.1 Ton

Kontrast zu dem ihm eingeschriebenen Materialwert und seinem tatsächlichen ökonomischen (Beschaffungs‑)Wert.155 Die genannten, auf die Handhabung bezogenen Eigenschaften, die sich aus dem Material selbst ergeben, wissen die italienischen Bildhauer der Renaissance zu nutzen. Sie verwenden hauptsächlich Ton zur Erstellung von plastischen (Entwurfs‑)Modellen für Skulpturen.156 Lässt sich Ton im feuchten Zustand leicht und detailreich bearbeiten, wird er nach dem Brand zur Terrakotta keramisch hart und damit unveränderlich und widerstandsfähig für den weiteren Gebrauch in der Werkstatt – etwa als Vorlage für die endgültige Ausführung der zunächst in Ton modellierten Form in Marmor oder zum Abformen für das Bronzeguss-Modell. Sobald die mit Hilfe der plastischen Modelle entworfene Skulptur in ihrem endgültigen Material (z. B. Marmor) realisiert ist, verlieren die Tonmodelle ihren Zweck und damit ihren Wert.157 Tonmodelle aus dem frühen 15. Jahrhundert sind somit zwar schriftlich belegt, aber kaum erhalten.158 Erst die immer wichtiger werdende Differenz zwischen dem Entwurf und der Ausführung eines Kunstwerks, die sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Giorgio Vasaris Disegno-Begriff theoretisch manifestiert, sorgt für eine Hochschätzung des Entwurfs und Tonmodelle (z. B. Michel­angelo Buonarrotis oder Giovanni da Bolognas) werden als direkte Zeugnisse des künstlerischen Schaffensprozesses zu begehrten Sammlerstücken. Vor allem vor dem Hintergrund der Auffassung, dass sich in den Entwurfsmodellen unmittelbar die Hand und damit der Genius des Meisters niederschlägt, während die Ausführung der Skulptur meist Schülern, Gehilfen, der Werkstatt überlassen wird, kehrt sich das Modell-Ausführung-Verhältnis zu Gunsten des Entwurfsmodells um. Innerhalb der Gruppe der eine Skulptur vorbereitenden Modelle hat sich für die­ jenigen Exemplare, die „nachweislich dem plastischen Entwurf gedient haben und noch deutlich dessen Spuren aufweisen“159 der Begriff bozzetto herausgebildet. Während Modell als Oberbegriff gebraucht wird und vor allem die detailliert ausgearbeiteten plastischen Vorlagen (finire) meint, steht bozzetto für eine erste Formgebung (bozzare).160 Im 155   Vgl. Marchand, Eckart: Material distinctions: plaster, terracotta, and wax in the Renaissance artist’s workshop, in: Anderson, Christy, Dunlop, Anne und Smith, Pamela H. (Hgg.): The matter of art. materials, practices, cultural logics, c. 1250–1750, Manchester 2015, S. 160–179, S. 160. Diese Dimension wird auch daran deutlich, dass alles, was aus dem vielseitigen, zeitlosen Stoff Ton gemacht wird – vom Gefäß, über Kunst, bis hin zu Hightech-Produkten –, wertvoller (teuer) ist als der Werkstoff selbst (materiam superabat opus). Damit steht er im Gegensatz zu etwa Bronze, die – in bestimmten Kontexten – höher geschätzt werden kann, als die aus ihr bestehenden Produkte: Kunst aus Bronze wird etwa zur Waffenproduktion eingeschmolzen. 156   Auch Wachs wurde zu diesem Zweck genutzt (vgl. Myssok 1999, S. 28 und Marchand 2015, S. 161). 157   Die Ausführungen zu den Themen Modell und Bozzetto beziehen sich – wenn nicht anders vermerkt – auf Myssok 1999, S. 33 ff. 158   Das erste skizzenhafte Entwurfsmodell hat sich von Andrea del Verrocchio (um 1475/76) erhalten (vgl. Myssok: Johannes: Bozzetto/Entwurfsmodell/Skizze/Vorstudie, in: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, Stuttgart 2011, S. 75–78, S. 75). 159   Myssok 1999, S. 19. 160   Vgl. ebd. und Brinckmann, Albert E.: Barock-Bozzetti, Frankfurt/Main 1923, S. 5.

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II. Material

Barock erfährt der Bozzetto als Zeugnis der Entwurfsarbeit eine enorme Aufwertung.161 Ein Bildhauer arbeitet nicht an einem einzigen Modell, das er immer wieder umformt und bis zu seiner Zufriedenheit weiterbearbeitet, sondern spätestens für Bernini wird belegbar, dass „zahlreiche, in der Konzeption und Artikulation des gestellten Themas teilweise grundverschiedene Modelle gefertigt wurden, welche gemeinsam aufbewahrt, […] die Möglichkeit boten, den Schaffensprozess […] zu rekonstruieren.“162 Die stufenweise plastische Werkkonzeption, die bis dahin unter vielen Umformungen eines Tonmodells verschwindet, wird hier sichtbar, indem immer wieder neue Bozzetti zur selben Aufgabe entstehen. Beide serielle Produktionsverfahren lässt der Werkstoff Ton zu: Auf der einen Seite kann er im feucht gehaltenen Zustand über lange Zeiträume hinweg weiterbearbeitet und verändert werden, bis die finale Form erreicht ist. Für die Betrachter_innen verschwinden die einzelnen Stufen der Formfindung dann in einem singulären Modell, das lediglich als Vorlage für das in einem ‚edleren‘ Material ausgeführte Kunstwerk dient und das nach der Vollendung des endgültigen Werks ebenfalls verschwindet.163 Auf der anderen Seite kann aber jede noch so flüchtige Idee zügig im weichen Ton festgehalten und durch das Trocknen und Brennen im Ofen dauerhaft bewahrt werden. Ton wird beiden unterschiedlichen Anforderungen gerecht – von leicht formbar, weich, veränderund zerstörbar bis hart, formecht, konservier- und sammelbar. So sorgt nicht nur die ideelle Umwertung im Entwurf-Ausführung-Paradigma dafür, dass durch die Hochschätzung des Entwurfs Bozzetti zu beliebten Sammlerstücken wurden, sondern auch das Material und die Technik des Trocknens und Brennens machen die Jahrhunderte lange Konservierung einer ersten Idee möglich.164 Ohne die originären Eigenschaften des Materials und ohne die entsprechenden technischen Verfahren, wäre Ton im künstlerischen Prozess das unsichtbare Material der Vor- und Zwischenstufen. Ein Material, das verschwindet, sobald es seinen Zweck erfüllt hat und zugunsten eines höher geschätzten Materials (Marmor, Bronze) beiseitegelegt und vergessen wird.

161   Vertiefend zur Geschichte und Entwicklung von Tonfiguren von Bernini bis Canova vgl. Boucher, Bruce (Hg.): Earth and Fire. Italian Terracotta Sculpture from Donatello to Canova, Ausst. Kat., The Museum of Fine Arts Houston, Victoria and Albert Museum, London, New Haven 2001. 162   Myssok 1999, S. 36 f. 163   Zum Teil werden diese Tonmodelle nicht gebrannt. Denn weil es keinen Grund gibt, sie haltbar zu machen, werden sie nach der Vollendung des nach ihrer Vorlage geschaffenen Kunstwerks funktionslos geworden beiseitegelegt. 164   Der Wunsch der zeitgenössischen Sammler Bozzetti zu besitzen, der durch eine Mischung praktikabler (kleines Format, geringer Preis, kurze Lieferzeit) und ideeller Motive (große Unmittelbarkeit, das Werk eines berühmten Künstlers) begründet zu sein scheint, führt seit dem Barock generell zu der „Tendenz zur Verselbstständigung der Skizze und ihrer Loslösung von der bloßen Entwurfsfunktion“ (Olbrich, Harald u. a. (Hgg.): Lexikon der Kunst, Leipzig 2004, Bd. 6, S. 703). So kommt es im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend zu einer Aufwertung des Offenen und des Unvollendeten und damit zu einer „regelrechten Vertauschung von Entwurfsmodell und vollendeter Skulptur“ (Myssok 2011, S. 77), so dass (etwa bei Clodion) kleinformatige Tonplastiken entstehen, die die skizzenhafte, spontane Anmutung der Bozzetti imitieren.

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II.1 Ton

Mit Antonio Canova kommt es zu einer neuen Qualität der Bozzetti, die nun die dezidiert „erste Stufe im Werkprozess“165 darstellen, entsprechend „nur in äußerst reduzierter, abstrahierter Form angelegt sind“166 und nicht mehr der Delegierung des weiteren Arbeitsprozesses an die Werkstatt dienen. Das Unvollendete wird im 18. Jahrhundert zum Ideal künstlerischen Schaffens und das Entwurfsmodell aus Ton gegenüber der ausgeführten (Marmor‑)Skulptur zum eigentlichen Kunstwerk. Diese Werkauffassung und die damit verbundene Ästhetik transportieren sich bis in die Moderne, wo vorbereitende Entwürfe zugunsten der direkten Arbeit an der Skulptur zunehmend obsolet werden. Künstler wie Auguste Rodin oder Alberto Giacometti schaffen Kleinplastiken mit ‚Bozzetto-Charakter‘, die allerdings nicht mehr Teil des Werkprozesses sein müssen, sondern auch autonome, vollendete Skulpturen darstellen. Die Bevorzugung der Erfindung zum Nachteil der Ausführung eines Kunstwerks und die damit verbundene Aufwertung des Entwurfs zum Nachteil des endgültigen Werks,167 führen zu einer Emanzipation des Materials Ton von einem unsichtbaren Material der Vor- und Zwischenstufen hin zu einem sichtbaren (adäquaten) Material für Kunst. Die Verwendung von Ton in der Bildhauerei erfährt an diesem Punkt eine Erweiterung. Die auf die Handhabung bezogenen Materialeigenschaften rücken in den Vordergrund und das Verwendungsfeld öffnet sich: vom allerersten, flüchtigen Entwurf über ein detailliert ausgearbeitetes Modell bis hin zum um seiner selbst Willen angefertigten Kunstwerk.168 (B) Innerhalb dieses aufgespannten Feldes – zwischen plastischem Entwurf und vollendetem Werk und dem Verwenden von Ton innerhalb serieller Produktionsverfahren  – wird die Analyse von Thomas Schüttes Ceramic Sketches (Abb. 3) fruchtbar. Als der Künstler 1997 mit der Werkgruppe beginnt, arbeitet er schon seit fast zehn Jahren kontinuierlich (aber nicht ausschließlich) mit Keramik.169 Damit gehört er zu denjenigen wenigen Künstler_innen, die zu dem in den 1980er Jahren überwiegend noch als reaktionär geltenden Werkstoff greifen, um neue Möglichkeiten der Plastik auszuloten und der Sackgasse der in dieser Zeit vorherrschenden Kunstströmungen zu ent-

  Myssok 2011, S. 77.  Ebd. 167   Vgl. Brinckmann 1923, S. 6. Für die Entwicklung und weitere Aufwertung des Werkprozesses im 18. und 19. Jahrhundert über die „Zentralität der Originalität und Erfindung für die Kunst der Romantik“ bis zum Unabgeschlossenen und Unvollendeten als „Ideal künstlerischen Schaffens“ vgl. Myssok 2011, S. 77. 168   Neben dieser Entwicklung bleibt Ton selbstverständlich weiterhin ein bevorzugtes Entwurfs­material. 169   Eine frühe Arbeit, für die Schütte Keramik nutzt, ist Schwarze Zitronen (1989). Danach entstehen bis heute kontinuierlich zahlreiche Weitere. Zu Schüttes Keramikwerken vgl. Loock, Ulrich: Der Ton hat ein Gedächtnis, in: Heinzelmann, Markus (Hg.): Keramische Räume, Ausst. Kat., Museum Morsbroich Leverkusen, Dortmund 2014, S. 163–176 und Pesapane, Lucia: How clay became cool: challenging the rules and canons of contemporary art, in: Morineau/Pesapane 2015, S. 65–70, S. 65 f. 165 166

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II. Material

rinnen.170 Sie nutzen Ton und blicken damit zurück auf (vormoderne) Zeiten, in denen Ton verwendet wird, weil er zur Verfügung steht und sich aufgrund seiner physischen Eigenschaften eignet. Schütte bezeichnet Überlegungen zu einer Charakterisierung des Materials Ton als beispielsweise ‚Material der Schöpfung‘ oder ‚des Weiblichen‘ als „ganz altbackenes Gedankengut“171 und führt weiter aus: „Ich mache den Versuch, überhaupt noch Materie in die Hand zu kriegen, wenn man das noch darf. […] Ich werde sicher nicht den Fehler begehen, das mit irrsinnigem, falschem, vollkommen hohlem Pathos aufzuladen.“172

Zunächst erfordert das Arbeiten mit Ton spezifische Verfahren, Techniken und auch Produktionsmuster. Beispielsweise übernimmt Thomas Schütte mit dem Griff zum Material Ton ebenfalls Produktionsmuster aus barocker Zeit, die er mit aus dem Industriezeitalter angeeigneten fordistischen Verfahren kombiniert: Er macht zahlreiche, verschiedene Ton-Entwürfe zu einem gestellten Thema anstatt eine einzige Figur immer wieder weiter zu bearbeiten bis eine emblematische, definitive Form zur Realisierung gefunden ist, um diese im Anschluss verschwinden zu lassen. Diese serielle Fertigung generiert viele Einzelfiguren, die bei Schütte weder auf die Produktion eines einzigen Kunstwerks hinauslaufen (Bernini),173 noch in fordistischer Manier sich bis ins Detail gleichende, perfekte Ergebnisse darstellen. Erstes ist nicht der Fall, weil Schütte aus seinen 120 Ceramic Sketches 18 Exemplare auswählt, die (mehrfach und in unterschied­ lichen Materialien) als Großplastiken in Metall ausgeführt werden. Zweites ergibt sich daraus, dass er sich zwar – wie im Kapitel Produktion gezeigt – für seinen Schaffensprozess Strukturen und Strategien moderner Arbeitsprozesse aneignet (reglementiertes, zeitlich limitiertes, immer gleiches Vorgehen, das an Fließbandarbeit denken lässt), die 120 Figuren aber eben keine gleichförmigen Ergebnisse klassischer Serienproduktionen sind, bei welchen Abweichungen und Unregelmäßigkeiten wesensgemäß ausgeschlossen werden. Die Werkgruppe Ceramic Sketches besteht vielmehr aus 120 unterschiedlichen Entwürfen zum Thema Frauenakt: 120 kleinformatige Figuren, die zwar alle nach demselben Produktionsmuster in der Kölner Werkstatt entstanden sind, aber in ihrer Konzeption und Artikulation völlig heterogen sind. Jede einzelne von ihnen wird getrocknet und gebrannt. Damit werden sie formecht, widerstandsfähig und haltbar. Sie werden zu

170   Ranti Tjan vertritt die These, dass sich in der Postmoderne ein neues Wertesystem in der Kunst etabliert, das neue Kunstkategorien entwickelt und reproduktive und alltägliche Techniken, wie Film, Foto, Textil und eben auch Keramik (wieder) zulässt. (vgl. Tjan, Ranti: Die Emanzipation der Keramik-Kunst, in: Dathe 2011, S. 10–14). 171   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 167. 172   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 171. 173   Exemplarisch für Berninis Arbeitsweise in diesem Kontext ist die Entstehung des Longinus (St. Peter, Rom) (vgl. Pinelli, Antonio (Hg.): The Basilica of St Peter in the Vatican, Modena 2000, S. 776 ff., Wittkower, Rudolf: Sculpture. Processes and Principles, New York 1977, S. 189 ff. und Wittkower, Rudolf: Gian Lorenzo Bernini. The Sculptor of the Roman Baroque, London 1955, S. 42).

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II.1 Ton

eigenständigen Kunstwerken innerhalb einer Serie.174 Dieser Charakter verstärkt sich durch die anschließende farbige Glasur. Die Figuren erlauben – alle gemeinsam oder in größeren Gruppen präsentiert – das Nachvollziehen des Schaffensaktes und stehen doch jede für sich. Nur einige von ihnen werden zu Ausgangspunkten für die monumentalen Großplastiken, die innerhalb dieser Verschränkungen ihre eigene Produktionsweise demonstrieren und reflektieren und somit einer konservativen, auf ein singuläres, definitives Kunstwerk ausgerichteten Werkauffassung entgehen. Welchen Anteil aber hat das Material an den Arbeiten? Beim Betrachten der in ihrer Anlage und Ausarbeitung heterogenen Ceramic Sketches fallen gestalterische Probleme auf. Einzelne Körperteile und auch ganze Figuren sind vereinfacht oder nur angedeutet und manche Partien sogar völlig ausgespart und abgetrennt. Es stellt sich die Frage, ob Ton vielleicht doch nicht das leicht formbare Material ist, das praktisch alles mit sich geschehen lässt und „der emotionalen Geste [des Künstlers] kaum Widerstand entgegen[setzt]“175. Hat er tatsächlich als einziges Material keine „spezifische Eigenschaft, die gewisse Bedingungen auferlegt und den gesamten Ausdruckswillen hemmt“176? Es ist nicht zu bestreiten, dass Ton auf den ersten Blick ein sehr dankbares Material ist: Es ist günstig, verfügbar, man benötigt zu seiner Bearbeitung zunächst kein (anspruchsvolles) Werkzeug, generell keinen speziellen Ort und auch keinen limitierten Zeitraum.177 Innerhalb des Produktionsverfahrens gibt es an der Stelle, an der die Tonplastik zur Keramik gebrannt wird, einen Einschnitt, denn ab diesem Punkt wird das Verfahren technisch anspruchsvoll: Eine Spezialwerkstatt mit einem Brennofen und qualifizierten Fachleuten ist notwendig, um die komplexen Prozesse überhaupt durchzuführen und um das Risiko der Beschädigung oder der Zerstörung der Arbeiten während des Brennens zu minimieren. Denn der komplexe Brennvorgang bringt einige Besonderheiten und Risiken mit sich. Zunächst schrumpft die Arbeit durch den Feuchtigkeitsverlust beim Brennen um etwa zehn Prozent. Somit verändern sich Proportionen und die gesamte Form. Des Weiteren können ganze Arbeiten verloren gehen. Sie verformen sich, reißen, zerspringen, Oberflächen werfen Blasen. Der mit Ton arbeitende Künstler muss sich auf Unfälle und Überraschungen gefasst machen. Während er in der ersten Arbeits­ phase mit dem Material allein ist und die Prozesse eng am Künstlerkörper und am Werkstoff gebunden sind, kommen in der zweiten, technisierten Phase zahlreiche weitere Akteure hinzu, die Einfluss auf die Gestalt der Arbeiten nehmen. Equipment, Ressourcen

174   Damit verhält es sich hier anders als z. B. in der Minimal Art, in der eine Trennung zwischen der zugrundeliegenden Struktur und ihren Elementen vermieden wird, bzw. „das Ganze nicht mehr sein und vor allem nicht mehr bedeuten soll als seine Teile“ (Egenhofer, Sebastian: Minimal Art, in: Butin, Hubertus (Hg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2006, S. 210–214, S. 213). 175   Schwarz 2012, S. 9. 176   Penalba, Alicia: Gedanken bei der Arbeit, in: Alicia Penalba, Ausst. Kat., Städtisches Museum Leverkusen Schloß Morsbroich, Opladen 1964, S. 7–8, S. 7. 177   In der Regel arbeitet man mit den eigenen Händen und einigen einfachen Werkzeugen aus Holz und Metall und Drehscheiben.

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II. Material

und Knowhow werden zentral: Der Ofen etwa, der die maximale Größe der Werk(teil)e vorgibt, die Qualität des verwendeten Tons, der Keramiker mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen, der zum Beispiel die Temperatur und Brenndauer einstellt und das, was passiert, wenn sämtliche Faktoren zusammenkommen und – für niemanden sichtbar – im Ofen kumulieren. Das Werk verändert sich im Ofen ganz sicher und somit setzt diese Arbeit eine Offenheit des Künstlers gegenüber des Ergebnisses voraus. Hinzu kommen logistische und ökonomische Auswirkungen: Das Arbeiten in der Werkstatt von Niels Dietrich, wo neben Thomas Schütte zahlreiche weitere erfolgreiche Künstler_innen Werke produzieren (lassen), ist kostspielig und darüber hinaus aufgrund der Terminlage nicht für jeden möglich.178 Für die dem Brennprozess vorausgehende Werkphase ist festzuhalten, dass – an­ gesichts der vielfach besprochenen, verpönten und gelobten, gefälligen Materialeigenschaften des Tons, die sich unter leichte Verarbeitbarkeit zusammenfassen lassen – den (technischen) Fertigkeiten der Künstler_innen, der Fähigkeit zu modellieren, größtmögliches Gewicht zukommt. Denn die vorgeblich leichte Formbarkeit des Tons – von einigen Bildhauer_innen wegen der Vielfalt der Möglichkeiten hochgeschätzt, von anderen als charakterschwach abgelehnt – legt das Können oder Nicht-Können der Künstler_innen frei. Weil prinzipiell alles möglich ist, können misslungene Partien nur das Verschulden der Künstler_innen sein. Der Ton nötigt seine Bearbeitenden somit zur Ehrlichkeit, er versteckt und verzeiht nichts und er beschränkt die Künstler_innen in keiner offensichtlichen Weise, sondern er zwingt sie subtil, sich selbst zu regulieren. So scheint es für Thomas Schütte notwendig, für die Produktion seiner Ceramic Sketches Rahmenbedingungen festzulegen, etwa einen speziellen Ort (die Kölner Werkstatt) zu bestimmen und sich zeitlich (eine Figur pro Stunde) zu begrenzen. Je mehr Freiheit das Material dem Künstler gewährt, umso mehr scheint er sich selbst disziplinieren zu müssen, um zu formal interessanten Ergebnissen zu kommen. Gerade in der vermeintlichen Einfachheit, Widerstands- und Anspruchslosigkeit des Tons liegt seine Überlegenheit, seine Macht über den Künstler und das Kunstwerk, sein Eigensinn.

II.2 Gips Nach dem Abschluss der Ceramic Sketches kommt auf dem Weg zu den großformatigen Frauen aus Metall ein Material ins Spiel, das weitgehend unsichtbar und von der Forschung unbeachtet bleibt, allerdings wesentlichen Einfluss auf die entstehenden Kunst178   Im Rahmen einer Diskussionsrunde zum Thema Keramik erklärt Niels Dietrich, dass es ihm kaum mehr möglich ist, neue Künstler_innen in seiner Werkstatt aufzunehmen. (Diskussionsrunde Keramik zwischen Trend und Tradition im Hetjens Museum Düsseldorf im Rahmen der Ausstellung Zeitgenössische Keramik von Fontana bis Uecker am 27.01.2016 mit Michael Cleff (Künstler), Niels Dietrich (architectural ceramics), Dr. Markus Heinzelmann (Museum Morsbroich, Leverkusen), Marianne Heller (Galerie Heller) und Vera Lossau (Künstlerin)).

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II.2 Gips

werke hat: Gips.179 Einige der Keramikskizzen wählt Thomas Schütte aus und bringt sie in die Düsseldorfer Kunstgießerei Kayser, wo sie vergrößert und dann in verschiedene Metalle gegossen werden.180 Aus den kleinformatigen Skizzen entstehen zunächst großformatige Gipsmodelle, die dann im weiteren Prozess als Positive zur Anfertigung der Gussformen dienen (Abb. 4). (A) Gips ist ein Mineral, das nach der Gewinnung durch Erhitzen entwässert wird und somit die Fähigkeit erlangt, durch das Anrühren mit Wasser von einem pulvrigen Stoff zunächst zu einer breiigen Masse zu werden und danach zu einem festen Stoff auszuhärten. Aufgrund dieser und weiterer Eigenschaften wie zum Beispiel die geringen Kosten und die leichte Beschaffung ist das Sulfat Gips eines der klassischen Materialien der Bild­ hauerei. Als traditionelles Abdruck- und Abgussmaterial nimmt es jede beliebige Form und jede beliebige Oberflächentextur an, hält sie fest und gibt sie wieder.181 Gips ist im weichen, flüssigen Zustand leicht formbar sowie schnell zu verarbeiten und wird durch das Trocknen an der Luft zu einem mehr oder weniger spröden, stumpfen, weißen, matten von sich aus gleichmäßig strukturlosen Stoff. Trotz seiner vielfältigen Verwendungsund Verarbeitungsmöglichkeiten – gießen, modellieren, schnitzen, sägen, schleifen etc. –, bleibt Gips überwiegend entweder als Material des Entwurfs und des Modells unsichtbar im bildhauerischen Prozess oder er verharrt als Material der Ausführung in der Regel auf der Ebene der Kopie oder des Repliks.182 In beiden Fällen kommt ihm die Rolle eines Transfermaterials zu, das eine Form übersetzt und dem kaum ein eigenständiger künstlerischer Wert beigemessen wird.183 Das ‚Material des Übergangs‘ ist nicht so bedeutungs-

179   Es gibt einige publizierte Fotos, die die Gipsmodelle im Arbeitsprozess und fertig bearbeitet zeigen (z. B. in Thomas Schütte. Frauen, Ausst. Kat., Castello di Rivoli. Museo d’Arte Contemporanea Turin, Museum Folkwang, Essen, Düsseldorf 2012 und Cooke, Lynne (Hg.): Thomas Schütte. Hindsight, Ausst. Kat., Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia Madrid, Madrid 2010), aber sie werden (im Gegensatz zu den Keramikskizzen) nicht ausgestellt. Auch in der Rezeption spielen die Gipse kaum eine Rolle, trotz der Hinweise Schüttes in Interviews (z. B. in Loock 2004b, S. 173 f.). Generell zur Geringschätzung und Fehlinterpretation von Gips seitens der Kunstgeschichte vgl. Hartog, Arie: Warum Kunsthistoriker so viel Müll über Gips ­reden. Hypothesen zum zentralen Material der modernen Bildhauerei, in: Wallner, Julia und Wellmmann, Marc (Hgg.): Skulpturenstreit. Texte zur Skulptur und Bildhauerei der Moderne, Tagungsband des Symposiums SkulpturenStreit am 23. und 24. November 2012, Berlin 2014, S. 125–131. 180   Die Auswahlprozesse werden im Kapitel Produktion der vorliegenden Arbeit beschrieben. 181   Dadurch, dass Gips beim Trocknen um 1 % wächst, gelangt er in jede Ritze. Diese Präzision macht ihn als Abformmaterial konkurrenzlos: Für eine eingehende Analyse des Abdrucks vgl. Didi-Huberman, Georges: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999. 182   Für Stuck findet Gips als Endprodukt Verwendung und seit dem frühen 20. Jahrhundert entstehen eigenständige Kunstwerke aus Gips (vgl. z. B. Heusinger von Waldegg, Joachim: Erinnerungen an Gips. Zur Geschichtlichkeit eines Werkstoffs, in: Kunst & Antiquitäten. Zeitschrift für Kunstfreunde Sammler Museen, Nr. 2, Hannover 1988, S. 106–113). 183   Vgl. Uppenkamp, Bettina: Potentiale der Bescheidenheit. Über kunstvolle und kunstlose Möglichkeiten in Gips, in: Wagner, Monika (Hg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002a, S. 137–162, S. 143. Allerdings

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II. Material

belegt wie die klassischen ‚Materialien der Ausführung‘, etwa Bronze oder Marmor, sehr wohl aber schwanken seine semantischen Konnotationen und Bewertungen historisch. Seit dem späten 17. Jahrhundert haben Gipse aufgrund einer idealistischen Werkauffassung, die die Idee über das ausgeführte Kunstwerk stellt, vor allem in Künstler­ ateliers, Werkstätten, Studiensammlungen und im Lehrbetrieb innerhalb der Künstlerausbildung ein breiteres Publikum. Weil der Fokus auf der Erfindung des Werks liegt, ist das Material der Ausführung weniger erheblich, nahezu störend. In diesem Zusammenhang scheint Gips sogar das kleinste Übel darzustellen, denn er weist von sich aus keinerlei Oberflächenreize und Unregelmäßigkeiten (etwa Färbung, Glanz, Fehler) auf, sondern hält sich zugunsten der Idee zurück und gibt sie in der reinsten Form, in einem gleichmäßigen, matten, weißen Ton wieder.184 Innerhalb dieses Kontextes erlangt Gips in den klassizistischen Bildhauerwerkstätten große Bedeutung. Exemplarisch und paradigmatisch dafür ist die Etablierung der ‚Originalgipse‘ im Maßstab 1:1 bei Antonio Canova.185 Johannes Myssok analysiert die revolutionäre und zukunftsweisende Verwendung von Gips innerhalb des bildhauerischen Prozesses des Künstlers:186 Während Gips zuvor überwiegend entweder (als Abguss) der Reproduktion antiker Vorbilder oder aber (als Modell im kleineren Maßstab) der Übersetzung einer Form in Marmor  – beides mit dem Ziel einer möglichst exakten Kopie und nicht etwa der Schaffung eines neuen Kunstwerks – diente, macht Canova das Material zum „part of a creative process“187 und seine Gipse zu Werken, die nicht unbedingt direkt für die Übertragung in Marmor bestimmt und – im Gegensatz zu den (kleinformatigen) Entwurfsmodellen aus Ton (oder Wachs) – der Öffentlichkeit zugänglich sind.188 Bettina Uppenkamp beschreibt den Gips bei Canova pointiert einerseits als „das Medium, in welchem das aus der Hand des Künstlers hervorgegangene [Ton‑]Modell in Erscheinung“189 tritt und stellt andererseits heraus, dass durch Canovas neu etablierte Praxis (gezeichnete Skizzen → kleine Entwurfsmodelle aus Ton → Tonmodell in voller Größe → Gipsabguss des Tonmodells: 1:1-Gips-Positiv → Übertragung mittels Punktierverfahren in Marmor) „das Konzept von Einmaligkeit eines Kunstwerks […] ebenso unterlaufen [wird] wie jenes, welches

gibt es auch schon im 16. Jahrhundert seltener Plastiken und Reliefs aus Gips, die auf wertvollere Werkstoffe, wie Marmor referieren (vgl. z. B. Marchand 2015, S. 166). 184  Vgl. Uppenkamp, Bettina: Gips, in: Wagner/Rübel/Hackenschmidt 2002b, S. 106–113, S. 109. Hinzu kommt der Mythos der ‚weißen Antike‘, der blendend weiße Oberflächen als ästhetischen Wert schlechthin etabliert und die daraus folgende ideelle Gleichsetzung mit Weiß und Schönheit und Wahrheit. 185   Zur Arbeitsweise Canovas vgl. Honour, Hugh: Canova’s Sculptural Practice, in: Pavanello, Giuseppe und Romanelli, Giandomenica (Hgg.): Antonio Canova, Ausst. Kat., Correr Museum Venedig, Gipsoteca Possagno, Venedig 1992, S. 33–43. 186   Vgl. Myssok, Johannes: Modern Sculpture in the Making: Antonio Canova and plaster casts, in: Frederiksen, Rune und Merchand, Eckhart (Hgg.): Plaster Casts. Making, Collecting and Displaying from Classical Antiquity to the Present, Berlin 2010, S. 269–288. 187   Myssok 2010, S. 274. 188   Vgl. ebd., S. 285. 189   Uppenkamp 2002a, S. 150.

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II.2 Gips

Originalität an die Handarbeit des Künstlers koppelt“190. Canovas Praxis revolutioniert klassische bildhauerische Verfahrensweisen, sorgt damit für die Relativierung der ranghöheren Materialien der Ausführung und legt den Fokus auf die Werkerfindung. Damit einher geht eine neue Arbeitsteilung und die Problematisierung des Konzeptes der Eigenhändigkeit. Der Künstler selbst ist für die Werkkonzeption (Skizzen, Tonmodelle) zuständig, während die Arbeit mit Gips (der Abguss) und letztendlich auch der mechanische Vorgang des Übertragens der Form in Marmor durch das Punktierverfahren von Gehilfen übernommen werden. Der Künstler kontrolliert diese Prozesse und legt gegen Ende nochmals Hand an den Marmor, um Details und Oberflächen zu be­ arbeiten und sprichwörtlich für den letzten Schliff zu sorgen.191 Die einmaligen ‚Ori­ ginalgipse‘ verbleiben als Manifestationen der Form im Künstleratelier, während die ausgeführten Skulpturen, die Reproduktionen des einen Gipsmodells sind, das Atelier verlassen. Die Hochschätzung des Gipsmodells als reine Manifestation der künstlerischen Idee darf nicht als eine Aufwertung des Werkstoffs Gips missverstanden werden: Canova scheute die Arbeit in Gips, es gab nur keine Alternativen.192 Der Werkstoff Gips gilt im 19. Jahrhundert zunehmend als charakterlos, noch dazu als gefügig, billig, unehrlich, blutleer und tot und wird zu einem „armseligen Zeugen einer verstaubten und obsoleten Tradition“193. Diese, einem neuen Materialismus Vorschub leistenden, Charakterisierungen richten sich vor allem gegen die Praxis der Abgüsse von Kunstwerken, die Teil der unmodernen, akademischen Künstlerausbildung sind.194 Legendär ist der Bertel Thorvaldsen zugeschriebene Ausspruch: „Ton ist Leben, Gips ist Tod, Marmor Auferstehung.“195 Friedrich Theodor Vischer bescheinigt 1852 Gipsarbeiten beispielsweise nicht nur „zu wenig Härte und Dauer, und man sieht es ihnen auch an“196, sondern er verweist despektierlich auf seinen „todten, trockenen Ton, und da das undurchsichtig Trockene hier weiß ist, so treten alle Formen mit roher Wahrheit hervor, alles Flüssige, Geschmeidige verschwindet […]. Es ist der fahle, klanglose Eindruck, den alle erdig breiige, dann verhärtete Substanz macht. Gyps ist daher zum Mittel der bloßen Vervielfältigung oder des ersten Abdrucks der lebendigen Form für Zwecke der Vorstudie heruntergesunken.“197

 Ebd.   Diese Praxis ist im Zusammenhang mit den Kunstmarktentwicklungen und den ökonomischen Faktoren der Reproduzierbarkeit, der Schnelligkeit, der Arbeitsteilung, der Kostenreduktion zu sehen. Die Gipse dienen auch dazu, sie potentiellen Käufern zu zeigen, die dann die Realisierung in Auftrag gegeben (vgl. Unterdörfer, Michaela: Die Rezeption der Antike in der Postmoderne. Der Gipsabguss in der italienischen Kunst der siebziger und achtziger Jahre, Weimar 1998, S. 77 ff.). 192   Vgl. Honour 1992, S. 35. 193   Uppenkamp 2002b, S. 110. 194   Vgl. Uppenkamp 2002a, S. 147. Für weitere sprachliche Äußerungen zum Charakter von Gips (von z. B. Johann Wolfgang von Goethe, Johann Friedrich Overbeck, Gottfried Semper, August Reichensperger), die in diese Richtung zielen und den Werkstoff abwerten, vgl. Raff 2008, S. 42 f. 195   Zitiert nach: ebd., S. 148. 196   Vischer 1853, Bd. 3,2,2, S. 372. 197  Ebd. 190

191

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II. Material

Über 30 Jahre später unterstreicht Moritz Carrière diese Auffassung: „Der weiße Gips erscheint kreidig und todt […]; man verwendet ihn zu Abgüssen, die sich leicht herstellen lassen, jedoch ein Notbehelf bleiben, der das Original nicht erreicht, aber formenstrenger und genauer als ein Kupferstich das Gemälde oder die Zeichnung ersetzt.“198

Als Material des Übergangs oder als Hilfsmaterial – etwa für Modelle – innerhalb des bildhauerischen Prozesses spielt Gips nach wie vor aufgrund seiner konkurrenzlosen auf den optimalen Nutzen bezogenen Vorzüge eine große Rolle. Als Material der Ausführung erscheint er im 19. Jahrhundert allerdings inakzeptabel. Erst 1900 präsentiert Auguste Rodin im Rahmen der Pariser Weltausstellung neben seinen ‚Originalgipsen‘ (zur Übertragung in Stein) und seinen plastischen Skizzen, den idées modellées, ebenfalls gipserne Assemblagen, die sich von den vorherrschenden Vorstellungen der Plastik weit entfernen, somit den Pluralismus des 20. Jahrhunderts vorwegnehmen und die Gipse von ihrer ausschließlich den Guss vorbereitenden oder der Marmorübertragung dienenden Funktion befreien.199 Im frühen 20. Jahrhundert formulieren die Künstler des Dadaismus, des Futurismus und des Surrealismus Forderungen nach einer Pluralität der für Kunstwerke verwendeten Materialien. Sie wenden sich programmatisch gegen traditionelle Vorstellungen, wie sie zu der Zeit durchaus noch vorherrschen – etwa Bronze und Marmor für Skulptur, Öl auf Leinwand für Malerei – und sprechen sich explizit für die Verwendung von neuen, beziehungsweise als neu bezeichneten, nicht etablierten und für Kunst anerkannte Materialien aus.200 Gips gilt in diesem Kontext zwar als retrospektives, aber durchaus experimentelles Material, das vielen Künstlern des 20. Jahrhunderts  – etwa Pablo Picasso, Constantin Brâncuşi, Max Ernst, Alberto Giacometti, Hans Arp und innerhalb der arte povera – der kritischen Revision künstlerischer Traditionen dient, anpassungsfähig, provisorisch und bescheiden erscheint und keinen Anspruch auf Kostbarkeit oder Dauer stellt.201 Die Gründe, aus denen Gips zuvor abgelehnt wurde, werden nun zu den zentralen Argumenten, ihn zu verwenden. „Das Ephemere, Experimentelle, ständige Unterwegssein  – wichtige Wesensmerkmale der Moderne  – scheinen sich gegen die End­ gültigkeit der dauerhaften Materie zu sperren.“202 Und Gips wird zum „Symbol des Wandelbaren, Offenen, auch nicht Vollendbaren“203. Als Übergangsprodukt bleibt es das beliebte Ideenmaterial für die Entwurfsentwicklung und zur Modellrealisation im Übergangsstadium bis hin zur endgültigen Plastik. Es entstehen künstlerische Vor-, Zwi198   Carrière, Moritz: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung im Leben und in der Kunst, Leipzig 1885, S. 142. 199   Vgl. Uppenkamp 2002a, S. 151 f. 200   Vgl. Raff 2008, S. 158 und Rübel 2005. 201   Eine Sonderstellung unter den mit Gips arbeitenden Künstler_innen nimmt Hans Arp ein (vgl. Heusinger von Waldegg 1988, S. 107). 202   Heusinger von Waldegg 1988, S. 108. 203  Ebd.

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II.2 Gips

schen- und Endprodukte aus Gips. Endgültig wird er zum vollgültigen Material und ist nicht mehr nur Hilfsmittel, Substitut, Vorstufe und Reproduktionsstoff. Ab der Jahrhundertmitte wird Gips aufgrund seiner physischen Vorzüge hochgelobt: Jean-Paul Sartre schreibt 1948 in Bezug auf Alberto Giacometti: „Dieser rege und beharrliche Arbeiter liebt den Widerstand des Steins nicht, der seine Bewegungen bremsen würde. Er hat sich ein gewichtloses Material ausgesucht, das gefügigste, vergänglichste und geistigste: den Gips. […] Nie war die Materie weniger ewig, zerbrechlicher, menschen­ ähnlicher.“204

Bildhauer unterstreichen die Hochschätzung des Werkstoffs aufgrund seiner Vorteile bei der Verarbeitung, seines geringen Gewichts und seiner einheitlichen Farbe. Auch George Segals Einschätzung von 1976 feiert die leichte Handhabung und die Flexibilität: „Ich liebe den Gips, weil er ein vollkommen charakterloses Material ist, das jede Textur, die ihm gegeben wird, aufnehmen kann … Es ist ein Vergnügen, auf ein Material zu stoßen, das sich in der Bildhauerei auf jede Art Textur, jede Fertigkeit beziehen kann […].“205

Gips bleibt nach wie vor Teil des üblichen Entstehungsprozesses von Plastiken:206 In der Regel entsteht zunächst ein (oft kleinformatiges) Modell aus einem beliebigen Werkstoff und davon ausgehend dann in der Gießerei ein (oft vergrößertes) Gipsmodell, das im Maßstab 1:1 in dem gewünschten Material, etwa Bronze, ausgeführt wird. Innerhalb dieses Dreischritts verschieben sich nicht nur die aufgrund ihrer Vorzüge für die jeweiligen Anforderungen verwendeten Werkstoffe (z. B. Ton → Gips → Bronze), sondern mit ihnen auch die Parameter, die Akteure der Produktion, wie die beteiligten Personen und ihr Anteil am Werk sowie die Werkzeuge, Bedingungen und der Ort der Entstehung: Während das freie Modellieren im kleinen Format in Ton  – bei Thomas Schütte die Ceramic Sketches – in der Regel durch die Hände der Künstler_innen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einfacher Werkzeuge (Spachtel, Messer, Modellierhölzer), im Atelier geschieht, entsteht das vergrößerte Gipsmodell bereits innerhalb der Gießerei, in der Modellierwerkstatt.207 Oft geben Künstler_innen diesen zweiten Schritt der Übertragung (und ggf. der Vergrößerung) des Tonmodells in Gips zum großen Teil oder sogar vollständig an die Mitarbeiter_innen der Gießerei ab und kontrollieren und korrigieren den Prozess und das Resultat lediglich.

204   Sartre, Jean-Paul: Die Suche nach dem Absoluten, in: Sartre, Jean-Paul: Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst, Reinbek 1999 (orig. 1948), S. 13. 205   Zitat George Segal, in: Pantheon, Nr. 34/3, 1976, S. 234, zitiert nach: Uppenkamp 2002b, S. 112. Für die Gips-­Vorliebe der Künstler_innen in der Postmoderne (u. a. George Segal, Olaf Metzel, Giulio Paolini, Michel­angelo Pistoletto, Hans-Peter Feldmann) vgl. Unterdörfer 1998. 206   Bei modellierten und im Anschluss gegossenen Plastiken dient das Gipsmodell zum Erstellen der Gussformen, bei gehauenen Skulpturen werden die Gipsmodelle mit Markierungen für das Punktierverfahren zur Übertragung in z. B. Marmor versehen. 207  Schüttes Ceramic Sketches entstehen nicht im Atelier, sondern in der professionellen Keramikwerkstatt von Niels Dietrich in Köln.

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II. Material

Von diesem einmaligen, detailliert ausgearbeiteten Gipsmodell ausgehend werden dann die Gussformen für die Ausführung in zum Beispiel Bronze erstellt. Gips ist vor allem deshalb für diese Zwischenstufe besser geeignet als Ton, weil er leichter ist, schneller trocknet, auch im ausgehärteten Zustand noch zu bearbeiten ist und darüber hinaus ohne einen aufwendigen, risikoreichen Brennvorgang formbeständig ist. Während sowohl das Material des ersten Modells (Ton, Wachs, Gips etc.) als auch das Material der Ausführung (Bronze, Stahl, Aluminium etc.) generell variieren können, bleibt ‚das Material dazwischen‘ in den allermeisten Fällen Gips. Kein Weg führt aufgrund seiner nützlichen Vorzüge an ihm vorbei. Und auch wenn es nicht das bevorzugte Material ist, so ist es doch das Material, in dem die endgültige Form mit jedem Detail festgelegt wird. Die Auseinandersetzung mit Gips ist also obligatorisch im klassischen bildhauerischen Prozess. Und obwohl (oder gerade weil) dieser meist Gehilfen übertragene Zwischenschritt in hohem Maße künstlerisch-handwerkliches Können und physischen Einsatz verlangt, bleibt er bis heute in aller Regel unsichtbar. Das von den Künstler_innen (im Atelier) erarbeitete Modell gelangt in die Gießerei und wird dort von (in der Regel) Fachleuten in die gewünschte Größe in Gips übertragen. Meist kontrollieren die Künstler_innen das große Gipsmodell nochmals und ändern gegebenenfalls Details, bevor die Gussformen direkt von dem Gipsmodell abgenommen werden. Die fertige Plastik aus zum Beispiel Bronze steht dann am Ende als vollgültiges Werk. Von Interesse für die Forschung oder für den Kunstmarkt sind oft auch die Entwürfe (im Speziellen die kleinen Modelle, in die sich die Künstler_innen-Hand niedergeschlagen hat oder auch Zeichnungen), aber das reine Arbeitsmaterial Gips, das die Künstler_innen oft kaum berühren, bleibt – genau wie die mit ihm verbundene Arbeit der Gießereimitarbeiter_innen – unsichtbar, obwohl es das Material ist, in dem die endgültige Erscheinung des Werks final festgelegt wird. (B) In dem Fall von Thomas Schüttes Frauen scheinen sich diese Zusammenhänge zu verschieben. Er bringt keine fertigen, ausgearbeiteten Modelle in die Gießerei, sondern einzelne Exemplare seines in Keramik angelegten Formenrepertoires. Sie dienen zwar als Vorlagen – jeweils ein Ceramic Sketch für eine Frau – allerdings geht es nicht um eine reine Vergrößerung durch Gehilfen der im Kleinen vom Künstler entwickelten, gültigen Form, sondern die Arbeiten verändern sich zum Teil enorm durch die sechs- bis neunmonatige Arbeit des Künstlers mit Gips. Die eigene physische Auseinandersetzung von Schütte mit seinen Gipsfiguren ist hier von zentraler Bedeutung. Nachdem mithilfe eines Rasterkäfigs ein Styropor-Dummy als leichter Kern gebaut wurde, wird dieser mit Jute und Gips überzogen.208 Mit dem Trocknen beginnt die eigentliche Arbeit am Gipsmo-

208   Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Informationen zum Vorgehen in der Gießerei Kayser, Düsseldorf aus einem Gespräch mit Rolf Kayser am 26.04.2016, dem an dieser Stelle ganz herzlich für die geduldigen Erläuterungen gedankt ist..

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II.2 Gips

dell: Es wird „endlos gehämmert und geschliffen“209 oder auch geschnitzt, mit Sägen und Schleifmaschinen direkt im Material. In einem Interview mit Ulrich Loock erzählt Thomas Schütte von seiner Auseinandersetzung mit dem Gips und von den gestalterischen, technischen, visuellen und physischen Problemen und Anstrengungen, die das widerspenstige Material ihm abverlangen.210 Es ist spröde, staubig, nicht mehr modellierbar und es sorgt für Frustrationen und Kompromisse, für Unfälle und Scheitern. Der Werkstoff wird zum zentralen Faktor: „Das entscheidet sich alles im Material.“211, sagt der Künstler. Das Material bestimmt die Werkzeuge, die Technik, letztendlich die Gestalt der Arbeit: „Es gab mal eine Phase, da waren alle Köpfe und Arme abgeschnitten, weil ich es einfach nicht hingekriegt habe.“212 Auf schwarz-weißen Fotografien aus der Werkstatt sieht man Schütte in Arbeitsoverall, Arbeitsschuhen und Wollmütze mit den Händen arbeiten, mit Schmirgelpapier Details verfeinern und mit dem Handschleifgerät größere Partien bearbeiten (Abb. 5). Und während eines Künstlergesprächs im Museum Folkwang (Essen) erklärt er, dass das Material der Ausführung für die Form im Grunde keine Rolle spiele, sondern dass die ganze Arbeit im Gips liege.213 Von einem Material, das (im klassischen Verfahren) Formen lediglich übersetzt, wird Gips bei den Frauen – ebenso wie der Ton – zum Material, das Formen provoziert, ja produziert. Vom reinen Transfermaterial wird es zum gültigen Akteur. Dieser Umstand wird nur deutlich, weil Schütte entsprechende Fotos publiziert und ausführlich über die Arbeit in der Werkstatt spricht.214 Im Museum sind die Gipsmodelle nicht zu sehen. Selten sieht man sie auf Fotos. Genau wie die meisten Frauen aus Metall sind sie dann von Nic Tenwiggenhorn fotografiert. Doch während die Aluminium-, Stahl- und Bronzefrauen und auch die Ceramic Sketches in farbig und meist im White Cube oder in der Landschaft fotografiert sind, sind die wenigen Gipsmodelle in der Regel schwarz-weiß abgebildet – und immer ganz sichtbar innerhalb der Werkstatt: auf einem Werktisch, mit Material und Werkzeug im Hintergrund oder während der Bearbeitung durch den Künstler. Die große Diskrepanz zwischen der zentralen Bedeutung der Gipsmodelle für den Prozess, der damit verbundenen besonderen Aufmerksamkeit sowie dem großen Zeitaufwand (sechs bis neun Monate pro Stück), der ihnen zu Teil wird – an keinem anderen Zeitpunkt innerhalb des Prozesses hält der Künstler sich so lange auf – und ihrer mangelnden Präsenz im Ausstellungsraum und in Publikationen, erscheint vor dem Hintergrund irritierend. In letzter Konsequenz bleibt der Gips hier – trotz seines großen, jetzt vermittelten Einflusses auf das Werk – das ewige Material der Zwischenstufen.   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 172.   Ebd., S. 172 ff. 211   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 173. 212  Ebd. 213   Vgl. das Künstlergespräch zwischen Thomas Schütte und Ulrich Loock im Museum Folkwang, Essen am 13.12.2013. 214   Diese performativen Strategien stellen einen entscheidenden Teil in Schüttes Werk dar. Sie werden u. a. in dem Kapitel Produktion analysiert. 209 210

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II. Material

In seiner plastischen Werkentwicklung bleibt Thomas Schütte zunächst dem üblichen, seit Canova gültigen Dreischritt – kleinformatiges Tonmodell → 1:1-Ausführungsmodell aus Gips → ausgeführte Plastik – treu. Doch während ein Künstler üblicherweise im klassischen Verfahren lediglich ganz zu Beginn und am Ende der Produktion – bei der Entwicklung des Tonmodells und für den letzten Schliff am ausgeführten Werk – in Erscheinung tritt, betont Thomas Schütte die Mitte, die Arbeit mit Gips. Diese Werkphase, die traditionell an Dritte abgegeben wird, nimmt den längsten Zeitraum in der Produktion der Frauen ein und verlangt die größte körperliche Anstrengung. Das erzählt Schütte in Interviews, das zeigt er auf dokumentarischen Fotografien. Doch der Gips bleibt Arbeitsmaterial. Die Gipsmodelle sind keine gültigen Kunstwerke, sondern Arbeitsgeräte. Mehr zwar als der nötige, technische Schritt zur Ausführung und Vervielfältigung, aber weniger als ‚das Kunstwerk‘. Das Delegieren der Arbeit ist schon deshalb nicht möglich, weil es nicht einfach nur um die Umsetzung und Vergrößerung des Tonmodells in Gips geht, sondern weil das Material und mit ihm sein Eigensinn und seine ganz eigenen und speziellen Charakteristika sich im Kunstwerk niederschlagen und seine visuelle Erscheinung bestimmen. Am Ende sind es all die verschiedenen Akteure, die die Gestalt des Werks bestimmen und die sich unveränderbar, ewig und final in schweres Metall gegossen, manifestieren. Die Hände des Künstlers, seine handwerkliche Auseinandersetzung mit dem Material, seine psychische und physische Verfasstheit, die zur Bearbeitung notwendigen Werkzeuge (Holz bei den Skizzen, Maschinen beim Gips), die charakteristischen Bearbeitungsspuren des Tons, des Gipses, die der Helfer_innen, die Umstände, die Witterungsbedingungen („Heute muss es mal ganz schnell gehen, mir ist kalt.“215) kulminieren im Werk. Sie alle sind im Sinne einer Akteur-Netzwerk-Theorie im Werk vorhanden, schreiben sich ein, konstituieren es.216 Thomas Schütte hätte die kleinen Modelle zur Ausführung, zur Reproduktion im großen Format in die Gießerei bringen können und vermutlich perfekte Formen erhalten. Zentral scheint für ihn allerdings vielmehr die eigene physische Auseinandersetzung mit dem Material – das Arbeiten, das Experimentieren und das Suchen nach Lösungen im Material –, die gleichsam die Betonung der Produktion, der nötigen Fähigkeiten sowie der einzelnen Akteure (und deren Anteil am Werk) mit sich bringt. Nicht im Sinne einer ökonomischen arbeitsteiligen Produktion, wie sie (teilweise bewusst zynisch) von zeitgenössischen Kollegen – zu nennen wären in der Folge von Andy Warhol etwa Künstler wie Damien Hirst, Jeff Koons, oder Takashi Murakami – propagiert wird, die die Arbeit der Ausführung Assistent_innen übertragen und auch dann noch Anspruch auf Autorschaft   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 177.   Vgl. einführend für die ANT: Belliger, Andrea und Krieger, David J. (Hgg.): ANThologie. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, mit Bezug auf die Kunstwissenschaften: Früchtl, Josef und Moog-Grünewald, Maria (Hgg.): Akteur-Netzwerk-Theorie, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Nr. 57/1, Hamburg 2012 und vertiefend: die Forschungen Bruno Latours, u. a.: Latour, Bruno: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005. 215 216

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II.2 Gips

erheben, wenn sie selbst gar nicht mehr an der Ausführung beteiligt sind, sondern im Sinne einer Sichtbarmachung und mit dem Resultat der Auflösung dichotomer Strukturen. Die Frage nach dem Autor als produktiver Instanz, als Arbeiter am eigenen Werk, als Handwerker – vielleicht im Sinne des Begriffs von Handwerklichkeit bei Richard Sennett – wird von Neuem verhandelt.217 Die Frage, auf welcher Ebene des Werkprozesses der Unterschied zwischen eigener und Fremdausführung relevant wird, stellt sich nicht mehr. Es wird deutlich, dass die Materialität des Werks und seine vielfältigen Produktionsprozesse unmittelbar zusammenhängen und auf keiner Stufe des Werkprozesses immer nur ein einziger Akteur tätig ist. Aber auch wenn jeder Schritt, jeder beteiligte Faktor zur künstlerischen Arbeit erhoben, Teil des Kunstwerks wird, ist andererseits lediglich der Künstler bis hierhin an jedem Punkt beteiligt, nicht (nur) als inspiriertes Künstlergenie, nicht (nur) als Kontroll­ instanz, nicht (nur) als Arbeiter im Overall, sondern einmal mehr, einmal weniger als handelnder Akteur unter vielen. An der Werkgruppe Frauen wird eine Reflexion über die zeitgenössische künstlerische, bildhauerische Praxis möglich. Dabei geht es um die Möglichkeiten der Formfindung und um die Gattung Plastik generell, um den Lehrbetrieb an den Akademien und um die Künstlerausbildung, um das System, um Traditionen, und um die Rolle des Künstlers, um die Kunst und um ihre genuinen Prozesse. Die alte Dichotomie von Erfindung und Ausführung eines Kunstwerks wird dabei, ebenso wie der postmoderne Diskurs vom Tod des Autors, als zentraler Topos hinterfragt. Seit Canovas Etablierung des 1:1-Gipsmodells als ausschlaggebendes Originalmodell, das – im Gegensatz zu den später gefertigten Exemplaren – die Idee, die original ausgeführte, modellierte Form, verkörpert, liegt der Fokus noch stärker als zuvor auf der Werkerfindung. Denn die großformatigen Gipsmodelle relativieren, ja marginalisieren die ‚ranghohen‘ Materialien, wie Bronze und Marmor. Der Werkbegriff bei Canova ist von dem Entwurf bestimmt, der sich im Gips manifestiert, mehr als nur ein Modell meint und gerade in der Bescheidenheit des niederen Materials umso mehr aufscheint. In der Werkgruppe Frauen wird dieses durch Canova entstandene Gipsparadigma aktualisiert und die Geist-Materie-Debatte von Neuem entzündet. Nicht die Erfindung ist wichtiger als die Ausführung oder andersherum. Ganz im Gegenteil führt Schüttes Praxis zu der Auflösung der alten – Jahrhunderte lang gültigen – Dichotomie zugunsten einer Pluralität zulassenden Werkauffassung. Damit ergibt sich Kritik an vorherrschenden Mustern des Künstler(selbst)verständnisses, der Materialhierarchien, der Ausstellungspraxis. Gips ist das Instrument dieser Kritik. Obwohl Gips an der Produktion der Frauen entscheidend beteiligt ist, was durch Fotos und sprachliche Hinweise hervorgehoben wird, verharrt er aufgrund seiner Unsichtbarkeit im Ausstellungsraum weiter im Status des ewigen Mediums. In ihm und durch ihn hat sich die endgültige Form entwickelt. Auch das Gipsmodell hätte das Kunstwerk sein können. Es hätte im Museum gezeigt werden können. Der Weg dafür ist   Vgl. Sennett, Richard: Handwerk, Berlin 2008.

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II. Material

spätestens seit Auguste Rodin frei. Schließlich ist die Form des Gipsmodells vollendet. Sie verändert sich nicht mehr. Wozu braucht es noch die Ausführung in Stahl, Bronze und Aluminium?

II.3 Stahl Der Weg der Frauen von Thomas Schütte beginnt mit einem Tonmodell. Im Anschluss werden diese kleinformatigen plastischen Skizzen vergrößert, modifiziert und zur Vorbereitung auf den Metall-Guss in Gips (mit einem Styropor-Kern) übertragen. Diese 1:1-Gipsmodelle fungieren dann als Positive zur Erstellung der Gussformen. Jede der 18 Frauen wird insgesamt fünfmal gegossen: zweimal in Stahl, zweimal in Bronze und einmal in Aluminium. Die ersten vier, im Jahr 1999 für eine New Yorker Ausstellung realisierten Frauen (Stahlfrau Nr. 1 bis Stahlfrau Nr. 4) bestehen aus Stahl.218 (A) Die Gewinnung von Roheisen aus Erz ist seit der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. belegt.219 Bis ins 18. Jahrhundert hinein findet das Material aber kaum Verwendung für Kunstwerke, sondern es ist  – entsprechend seiner kennzeichnenden Eigenschaften „,Härte‘ oder (relative) ,Wertlosigkeit‘“220  – in den Bereichen der (dekorativen) Gebrauchs- und Kultgegenstände und der Waffenherstellung angesiedelt.221 Weil Eisen auf der einen Seite für alltägliche, nützliche (Hausbau, Landwirtschaft etc.) und auf der anderen Seite für kriegerische, gewaltvolle (Waffen, Rüstungen etc.) Gegenstände und Tätigkeiten Verwendung findet, beschreibt Plinius es als „das beste und schlimmste Werkzeug im Leben“222. Über Jahrhunderte hinweg setzt sich die negativ konnotierte Bedeutung des Eisens fort. Auch innerhalb tradierter Materialhierarchien rangiert das Metall hinter Gold, Silber und Bronze weit unten, es ist namensgebend für das fünfte der antiken Welt-

218  Gemeint ist die Einzelausstellung Thomas Schütte. In Medias Res, Dia Art Foundation, New York, 16.09.1999–18.06.2000, Katalog: Cooke, Lynne und Kelly, Karen (Hgg.): Thomas Schütte. Scenewright  – Gloria in Memoria – In Medias Res, Ausst. Kat., Dia Art Foundation New York, Düsseldorf 2002. 219   Zur Geschichte des Materials Eisen bzw. Stahl vgl. Johannsen, Otto: Geschichte des Eisens, Düsseldorf 1953, Made of Iron, Ausst. Kat., University of St. Thomas Houston, Houston 1966 und Metken, Günter: Die Geschichte der Eisen- und Stahlplastik, in: Eisen- und Stahlplastik 1930–70, Ausst. Kat., Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Stuttgart 1970, S. 9–26. 220   Raff 2008, S. 61. 221   Für einige Ausnahmen, in denen Eisen für die Produktion von Kunst genutzt wird, vgl. Raff 2008, S. 87. Es handelt sich dann um geschnittenes Eisen im 16. und 17. Jh. in Süddeutschland und Sachsen. Für den Bereich der (z. T. sehr kunstvoll und auf höchstem Niveau gearbeiteten) Gebrauchsgegenstände vgl. Metken 1970, S. 10. Zu nennen sind u. a. Kaminabdeckungen, Torgitter, Geländer, Türscharniere, Kruzifixe, Tierdarstellungen, Schmuck, Spielzeug. 222  Plinius Naturalis Historiae XXXIV, 138 (vgl. König, Roderich (Hg.): C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde, Lateinisch-Deutsch, Buch XXXIV, Metallurgie, München/Zürich 1989, S. 97).

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II.3 Stahl

alter, das durch Krieg, Waffen und Dunkelheit gekennzeichnet ist, es gilt – etwa als Gegenteil von Ton – als unbelebt und trägt nur selten kultische oder religiöse Bedeutung.223 Eine erste (programmatische) semantische Aufladung des Werkstoffs ist seit dem beginnenden 19. Jahrhundert feststellbar. Das unedle, aber technisch inzwischen stark weiterentwickelte und in Massen produzierbare Metall gilt in Deutschland „seit den napoleonischen Befreiungskriegen […] als nationaler Werkstoff “224, die Zeit der französischen Expansion wird in Preußen als Eiserne Zeit beschrieben und das Metall wird zur gängigen Metapher der Befreiung und der nationalen Erneuerung.225 Auch die Stiftung des Eisernen Kreuzes im Jahr 1813 als Orden für die Verdienste um das Vaterland im Kampf gegen Frankreich unterstreicht die Eisen-Semantik der Zeit: „in seiner Einfachheit und Wertlosigkeit sollte das Eiserne Kreuz an die schwere und eiserne Zeit erinnern, welche es ins Leben rief.“226 Zu erwähnen ist darüber hinaus der in dieser Zeit etablierte Slogan Gold gab ich für Eisen, der ab 1813 zu Goldschmuck-Spenden im Austausch mit Eisenschmuck zugunsten der Kriegsfinanzierung aufruft.227 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und nach der Entwicklung eines vereinfachten Hohlgussverfahrens, das eine preiswerte Vervielfältigung von Büsten und Figuren erlaubt, nutzen auch Bildhauer wie Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch den Eisenguss.228 Adel und Bürgertum geben Figuren aus Eisen in Auftrag und das „schlichte Schwarz, der niedrige Preis und der ‚nationale‘ Charakter des Materials machten den Eisenkunstguss für die nächsten zwanzig Jahre zu einem zentralen Kunstzweig in Preußen“229. Eiserne Denkmäler, wie etwa 1818 bis 1821 das Berliner Kreuzbergdenkmal zur Erinnerung an die Freiheitskriege von Karl Friedrich Schinkel, entstehen „aus eben dem Metalle […], mit welchem der Feind bezwungen und die Freiheit Preussens errungen worden war“230. 223   Für die Opposition von Gold und Eisen in der Kunst vgl. Raff 2008, S. 85 ff. und Huhn, Rosi und Rautmann; Peter: „Gold gab ich für Eisen.“ Materialaspekte zur documenta 7, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Nr. 10, Marburg 1982, S. 21–36. Vgl. zur Materialhierarchie auch den biblischen Mythos um den Traum von König Nebukadnezar (Dan 2,32 f.), in dem eine Statue erscheint, die sein Reich symbolisiert. Ihr Kopf besteht aus Gold, ihre Brust und ihre Arme aus Silber, ihr Leib und ihre Hüften aus Erz, die Beine aus Eisen und die Füße aus Eisen und aus Ton. Für die fünf Weltalter vgl. Hesiod: Werke und Tage. Für die Opposition von Ton und Eisen vgl. den biblischen Mythos vom Fluch für Ungehorsam, in dem gedroht wird, dass die Erde bzw. der Himmel (hart, unfruchtbar, düster, kalt) wie Eisen werde (Dtn 28, 23 und Lev 26,19). Für weitere mythische, kultische und religiöse Deutungen vgl. Metken 1970 und insb. zu Kreuznägeln vgl. Raff 2008, S. 105. 224   Raff 2008, S. 23. 225   Vgl. ebd, S. 88. 226  Ebd. 227   Prinzessin Marianne von Preußen appellierte 1813 an alle Frauen Preußens, ihren Goldschmuck gegen eine Brosche oder einen Ring aus Eisen mit der Inschrift GOLD GAB ICH FÜR EISEN zu tauschen. Dieser Aufforderung wurde vielfach nachgekommen. Eisenschmuck wurde zur Mode aller Patriotinnen, die damit ihren Beitrag zur Unterstützung der Befreiungskriege zeigten. 228   Vgl. Raff 2008, S. 89. 229   Ebd., S. 89. 230   Ebd., S. 90.

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II. Material

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verliert das Material seine vaterländische Bedeutung wieder, es verschwindet aus der bildenden Kunst und wird zum typischen Werkstoff des Industriezeitalters. Das gehobene Bürgertum lehnt Eisenerzeugnisse als billige Ware ab; Kunst und Denkmäler entstehen wieder aus Bronze oder Stein, Schmuck wieder aus Gold.231 Das Eisen-Image büßt ein: „Die Serienherstellung löste das handgeschmiedete Stück ab. Denkmäler, Grabkreuze und ‑figuren, Ornamente: alles wurde in Gußeisen gefertigt. Dies billige Material, ohne Zwang zur Perfektion, im Grunde auch ohne Charakter, ließ sich im Schnellverfahren jedem Zweck anpassen. […] Im Widerspruch mit seiner Natur, seinen Eigenschaften, wurde das Eisen zu den gleichen Zwecken verwendet wie Stein oder Bronze.“232

Das Material an sich, seine semantische Bedeutung, scheint hier nicht das Problem zu sein. Eisen gilt, anders als etwa Ton, nicht als charakterlos und damit problematisch für die Kunstproduktion, sondern es sind die weiterentwickelten Verfahren, die aus dem harten, starken Material einen verhältnismäßig leicht zu verarbeitenden, anpassungsfähigen Werkstoff machen. Im weiteren Verlauf der Industrialisierung vermehrt sich der Einsatz von Eisen vor allem in der (Industrie‑)Baukunst aber auch im Kunstgewerbe. Als stabiler und zugleich flexibler Werkstoff wird er zum Bau von Brücken, Hallen und der Eisenbahn sichtbar eingesetzt; die Skelettbauweise wird zur Ikone des technischen Fortschritts. Damit verbunden erfährt Eisen eine enorme ideologische Aufwertung. In der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände von 1852 liest man: „Unter allen Metallen ist unzweifelhaft das Eisen das wichtigste und nützlichste, da sein Gebrauch mit allen Zweigen der Technik und fast allen Bedürfnissen des täglichen Lebens unzertrennlich verwebt ist.“233

Im selben Jahr schreibt Friedrich Theodor Vischer: „Seine Stärke und Bildbarkeit durch Schmieden und Guß, die Leichtigkeit seiner Verbindung durch Schrauben usw., das Verhältniß der Kraft zum Volumen, […] scheint eine Welt neuer Entwicklungen zu versprechen.“234

Innerhalb eines Jahrhunderts wird das Material semantisch aufgeladen, entladen und neugeladen. Aufgrund von politischen, ökonomischen, ästhetischen und ideologischen Gesichtspunkten wird es vom dunklen, kriegerischen Material als Symbol für Gewalt und Krieg, zum armen, harten Material als Symbol für Tapferkeit und nationale Erneuerung bis hin zum zukunftsorientierten, Hoffnung bringenden Werkstoff als Symbol einer aufstrebenden Industrienation und einer zukunftsgläubigen Gesellschaft. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit den weiterentwickelten Herstellungs- und Verarbeitungsverfah  Nicht einmal die Monumente für den eisernen Kanzler sollten aus Eisen sein (vgl. Raff 2008, S. 91).   Metken 1970, S. 14. 233  Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Leipzig 1852, Bd. 5, S. 403. 234   Vischer 1853, Bd. 3,2,1 S. 215. 231 232

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II.3 Stahl

ren. Unflexibles Gusseisen wird in Hochöfen und Stahlwerken in großen Mengen zu formbarem Schmiedeeisen, zu flexiblem Stahl. Während des Ersten Weltkriegs erneuert sich die Gold gab ich für Eisen-Parole. Wieder werden die Menschen aufgefordert, ihren Goldschmuck gegen eisernen zu tauschen. Wer Eisenschmuck trägt, ist engagiert_e Patriot_in, wer weiterhin Gold trägt, riskiert das Ansehen. Und damit erneuert sich die Wertschätzung des Eisens auch innerhalb der Kunst. Alexander Heilmeyer fasst diesen Zusammenhang im Jahr 1917 zusammen: „Eisen beherrscht jetzt die Welt. […] Es ist das beherrschende Element des Krieges wie des Kapitalismus, der Urstoff der neuen Massenkulturen im Zeitalter des Verkehrs und der Maschine. […] Auch die bildende Kunst bedient sich statt des Bronzegusses wieder des Eisens. Die Erfahrung hat gezeigt, daß der Eisenguß der Bronze in nichts nachsteht und daß er zudem noch den Vorzug der Billigkeit hat. Der Eisenguß bietet einen Ersatz für Bronze und ein treffliches Material für Statuen und Büsten […]. Blut und Eisen sind die Symbole unserer Tage. Eisern ist die Zeit und die Menschen. Darum bilde, Künstler, das eiserne Gesicht unseres Volkes!“235

Die ideologische, aus der Not geborene Überformung des Materials findet erneut statt und dringt in sämtliche Ebenen des Lebens ein. Parallel dazu entwickeln sich in den 1910er und ‑20er Jahren neue Ansprüche an die bildende Kunst. Zentral ist dabei die Forderung nach neuen, meint bisher kunstfremden Materialien (wie z. B. Pappe oder Glas), wie sie die Avantgarde formuliert und das Aufbrechen der geschlossenen Formen und Oberflächen der Skulptur.236 Erich Franz beginnt seine Geschichte der Eisen­skulptur mit Picassos Gitarre aus dem Jahr 1912.237 Diese sich neu entwickelnden Eisen­skulpturen sind Ergebnisse additiver, konstruktiver, verbindender Verfahren. Sie sind aus (oft gefundenen) Blechen, Schrauben, Drähten geschnitten, gebogen, montiert und nicht etwa gegossen oder industriell hergestellt und stellen abstrahierte Körper und Gegenstände dar. Neue künstlerische Verfahren, etwa die Technik der Collage und kunstfremde Materialien (‚Schrott‘) schlagen sich in der Skulptur nieder, Assemblagen entstehen als plastische, dreidimensionale Antwort auf die kubistische Malerei. Die Bildhauer stellen keine Vorformen aus Ton oder Gips her, sie arbeiten direkt mit dem Material. Innerhalb dieser Kunstform steht offenbar eher die Stabilität und die Flachheit der Bleche im Vordergrund, die das Material geeignet erscheinen lassen, als die eigentlichen Qualitäten des Werkstoffs Stahl. Durch die neuen Verarbeitungs- und Verwendungsformen verliert   Heilmeyer, Alexander: Eisenplastik, in: Die Plastik, Nr. 2, 1917, S. 9 ff., zitiert nach: Rübel/Wagner/Wolff 2005, S. 211 f. 236   Diese Tendenzen finden sich v. a. in den Strömungen des Dada und des Futurismus (vgl. z. B. Schilling, Jürgen: Nichttraditionelle Materialien. Der erweiterte Spielraum, in: Bildhauertechniken. Dimensionen des Plastischen, Ausst. Kat., Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 1981, S. 138–151 und Schneede, Uwe M.: Die Zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, Köln 1979). 237   Vgl. Franz, Erich: Material und Raum. Zur Geschichte der Eisenskulptur und der künstlerischen Begründung ihrer rostigen Oberfläche, in: Korzus, Bernard und Rüth, Uwe (Hgg.): Nur Rost …? Das Problem des oxydierenden Stahls in der Kunst, Ausst. Kat., Museum Glaskasten Marl, Münster 1986, S. 17–23 und darüber hinaus für die Geschichte der Eisen- und Stahlplastik auch Metken 1970. 235

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II. Material

das Eisen sein (technisches, kunstgewerbliches etc.) Image und es wird in der bildenden Kunst verwendet. In Picassos Folge sind es zunächst die Konstruktivisten, wie Vladimir Tatlin, Alexander Rodschenko, Antoine Pevsner und Naum Gabo, die Stahl für ihre Arbeiten verwenden und vor allem Julio González tut sich durch die Verwendung des Materials vor dem Zweiten Weltkrieg hervor. Im Nationalsozialismus wiederum gibt es keinen Gold gab ich für Eisen-Aufruf. Die Heimat- und Ewigkeitsideologie fordert für Kunst die Verwendung von Naturstein – auch, weil Eisen und Stahl wieder für die Waffenindustrie reserviert sind.238 González hält an dem inzwischen semantisch wieder um- und neugeladenen Werkstoff fest, reflektiert und fordert gleichzeitig im Jahr 1954: „L’âge du fer a commencé, il y a des siècles, par produire (malheureusement) des armes, quelques-unes très belles. De nos jours, il permet en plus la construction de ponts, d’édifices industriels, de rails de chemin de fer, etc. … Il est grand temps que ce matériau cesse d’être meurtrier et simple matériau d’une science mécanisée. La porte est toute grande ouverte, aujourd’hui, afin que ce matériau, pénétrant dans le domaine de l’art, soit battu et forgé par de paisibles mains d’artistes.“239

In der Arbeit des Künstlers bleibt es – im Gegensatz zu den bis dahin traditionellen bildhauerischen Verfahren des Hauens oder Modellierens (in Stein und Holz, Gips und Ton) – bei dem durch Picasso auf den Weg gebrachten Füge-Verfahren, das Einzelteile (Alltägliches, Fundstücke, Schrottteile) collagenhaft zusammensetzt. Dabei stehen noch die individuelle Handschrift des Künstlers beim Montieren des gefundenen oder auch angefertigten Materials durch Schrauben, Biegen, Schweißen, Fräsen oder die Formsprache des (gefundenen) Materials selbst, als Form-Fundstücke im Vordergrund – die Kunstwerke sind Unikate. Während der Beschäftigung weiterer Künstler mit Eisen und Stahl, wie unter anderen David Smith, Anthony Caro, Alexander Calder, John Chamberlain, Jean Tinguely, Norbert Kricke und auch Eduardo Chillida vor allem seit den 1960er Jahren, dient das Material mehr und mehr der kritischen Auseinandersetzung mit modernen Arbeits- und Produktionsprozessen der Industriegesellschaft sowie mit der gängigen künstlerischen Praxis.240 Die Handschrift des Künstlers tritt zugunsten der physischen Präsenz des Materials selbst und seiner ästhetischen Qualitäten zurück. Die Arbeiten der Minimalisten, wie Carl Andre und Donald Judd, verzichten schließlich auf das manuelle Eingreifen des Künstlers, ihre stereometrischen Gebilde werden industriell hergestellt und sollen auf nichts verweisen. Für das Werk von Richard Serra wird das Material Stahl mit seiner industriellen Herstellung und Verarbeitung seit den 1970er Jahren zum unverzichtbaren Mittel. Der mit Serra endgültig in die bildende Kunst eingezogene Stahl hat allerdings   Vgl. Rübel/Wagner/Wolff 2005, S. 221.   Zitat Julio González, in: Begründer der modernen Plastik, Ausst. Kat., Kunsthaus Zürich, Zürich 1954, S. 8 (aus einem Konvolut z. T. unveröffentlichter Aufzeichnungen des Künstlers, zur Verfügung gestellt von seiner Tochter Roberta González für die genannte Publikation). 240   Ausführlich zu der Verwendung von Eisen bei Chillida vgl. Weber 2008. 238 239

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II.3 Stahl

wenig mit dem noch im 19. Jahrhundert verwendeten Gusseisen, beziehungsweise den unlegierten Stählen des 20. Jahrhunderts gemein.241 Vielmehr handelt es sich bei den Werken des amerikanischen Bildhauers meist um Cortenstahl, einen kostenintensiven Edelstahl, der durch bestimmte Legierungszusätze (v. a. Chrom, Kupfer und Nickel) an der Oberfläche eine Rostschicht entwickelt, deren Wachstumsgeschwindigkeit im Laufe der Zeit abnimmt und die den Stahl somit lediglich ummantelt und vor weiteren Korrosionen schützt.242 Genau diese (eigentlich edle und schützende) Rostschicht ist es, die zu massiver Kritik an dem Werk Serras führt. Es ist nicht (nur) der aus der Schwer­industrie stammende Werkstoff an sich, der mit den traditionellen Vorstellungen von Kunst kollidiert und der in den 1970er Jahren öffentlich diskutiert wird, sondern seine rostende Oberfläche.243 Der mit Verfall, Vernachlässigung, Zerstörung und Stillstand assoziierte und deshalb unerwünschte Rost steht im Kontrast zum hochwertigen, glatten, blitzenden, polierten Bild des Edelstahls zu dieser Zeit und provoziert die Öffentlichkeit zur emotionalen Debatte und überwiegend vehementer Ablehnung und gleichsam die vermehrte Hinwendung der Künstler zum (rostenden) Stahl, wie etwa Horst Antes, Marino Di Teana, Heinz Mack, David Rabinowitch, James Reineking und Giuseppe Spagnulo.244 Mit der neuen, homogenen, feinkörnigen, geschlossenen Rostbildung des Cortenstahls gehen geschlossene skulpturale Formen einher. Die montierenden werden von industriellen Verfahren (Gießen, Biegen, Walzen, Schweißen) abgelöst und ebenso die klein- bis mittelformatigen, mehrteiligen offenen Werke von großformatigen, geschlossenen. Somit ist die Hinwendung zum Stahl in den 1970ern nicht neu, aber auch nicht erschöpft und weiterhin zukunftsorientiert. Und auch, wenn Günter Metken in seiner Geschichte der Eisen- und Stahlplastik 1970 postuliert, dass „wir uns [auch in der Kunst] 241   Das gegen Korrosion unbeständige Gusseisen (Sandguss) entsteht durch die Verhüttung von Eisenerzen ohne weitere Zusätze (der Kohlenstoffgehalt liegt bei über 2 %). Bei der Produktion von Schmiedeeisen (unlegierten Stählen) wird Sauerstoff zugeführt. Es rostet feinkörniger und kann besser und vielfältiger weiterverarbeitet (geschweißt, geschraubt) werden (der Kohlenstoffgehalt liegt bei unter 2 %). 242   Bei Edelstählen handelt es sich um mit Chrom, Nickel und andern Elementen legierte Stähle, die dadurch nicht rosten. Eine Sonderform ist der in den 1930er Jahren in Amerika patentierte und seit den 1960ern vermehrt eingesetzte Cortenstahl. Der Name (vergeben durch die Herstellerfirma US Steel Corporation) setzt sich aus den beiden zentralen Eigenschaften der Metalllegierung zusammen: CORosion Resistence und TENsile Strengh (Korrosionswiderstand und Zugfestigkeit). Für Details dazu vgl. Riederer, Josef: Rostender Stahl. Materialverhalten und Restaurierungsprobleme, in: Korzus, Bernard und Rüth, Uwe (Hgg.): Nur Rost …? Das Problem des oxydierenden Stahls in der Kunst, Ausst. Kat., Museum Glaskasten Marl, Münster 1986, S. 26–29, S. 27. 243   Als prominentes Beispiel für die vehemente Ablehnung des rostenden Eisens für die Kunstproduktion kann Serras Plastik Terminal in Bochum angeführt werden (vgl. Kunstmuseum Bochum (Hg.): Terminal von Richard Serra. Eine Dokumentation in 7 Kapiteln, Bochum 1980). 244   Zahlreiche Stimmen weisen darauf hin, dass Rost (ganz anders als die Patina der Bronze, die positiv mit Alter und Erhabenheit assoziiert ist) mit den genannten negativ bewerteten Eigenschaften der Endlichkeit, Vernachlässigung und der Strafe in Verbindung gebracht wird (vgl. u. a. Raff 2008, S. 86; Weber, Jutta: Eisen, in: Wagner/Rübel/Hackenschmidt 2002, S. 67–70, S. 70; Riederer 1986, S. 26; Smithson, Robert: Eine Sedimentierung des Bewußtseins: Erdprojekte, in: Schmidt, Eva und Vöckler, Kai (Hgg.): Robert Smithson. Gesammelte Schriften, Köln 2000, S. 130–140 (orig. 1968), S. 135.

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II. Material

offenbar dem Ende der Eisenzeit [nähern], so wie das Ende der Maschinenära abzusehen ist“245 und Klaus Rinke aufgrund der neuen Beliebtheit rostender Oberflächen und der damit verbundenen popularisierten „Arbeiterästhetik“246 1977 feststellt: „[…] was früher Ölmalerei war, ist heute Rost“247, ist auf der documenta 7 (1982) eine große Präsenz des Werkstoffs Stahl und damit verbunden auch die theoretische Auseinandersetzung mit dem Material zu verzeichnen.248 In der Folge findet nahezu eine Glorifizierung des Rosts statt, Franz Bernhard beispielsweise schreibt 1990: „Rost ist ein ehrliches Produkt, vielleicht ist er die ehrlichste Farbe der Welt.“249 Heute, in postindustrieller Zeit, hat Rost, als vermeintliches, romantisiertes Relikt einer ganzen Epoche, eine eigene Ästhetik die von der Kunst aus längst im Alltag angekommen ist. Beispiele für den neuen Industrieschick finden sich in Objektdesign (Gartenbrunnen, Regale etc.) und Architektur (Fassadenverkleidung, stillgelegte Industrieanlagen als exklusive Event Locations etc.). Die Künstler_innen der jüngeren Generationen haben längst andere Materialien, Themen, Wege, Herausforderungen für sich entdeckt. Stahl ist wieder aus der aktuellen bildenden Kunst verschwunden und im Alltag angekommen. (B) Im Jahr 1999 werden die ersten vier Frauen (Stahlfrau Nr. 1 bis Stahlfrau Nr. 4) in Stahl gegossen.250 Das Material wird somit gewissermaßen reaktiviert und in Bezug auf Verarbeitungsform und Sujet erweitert: In den vergangenen 100 Jahren, seit Stahl in der bildenden Kunst angekommen ist, sind gegossene Formen selten und figurative Arbeiten ebenfalls. Es ist festzustellen, dass der Weg der Verwendung des Werkstoffs Stahl – von Picassos Hinwendung zur abstrakten Form, über die Konstruktivisten, die Minimalisten, bis hin zu Serra – in der Moderne weg von der Figuration führt. Wo es um die spezi­ fischen, oft als überwältigend beschriebenen, ästhetischen Qualitäten des Materials selbst und seine semantische Aufladung (mit dem Industriellen) geht, scheint kein Platz für Figürlichkeit zu sein. In der Düsseldorfer Kunstgießerei Kayser, in der bereits die Gipsmodelle der Frauen gefertigt wurden, werden die Gussformen für den Stahlguss erstellt. Der Guss allerdings kann aufgrund der hohen Temperaturen, die zur Stahlverarbeitung nötig sind, nicht in der Kunstgießerei durchgeführt werden. Eine Krefelder Industriegießerei fertigt die ein  Metken 1970, S. 25.   Zitat aus Klaus Rinkes Antworten auf die Künstlerumfrage in: Baumann, Hans D., Baumann, Ulla, Bunse, Lucia, Clarke, Kevin, Goos, Michael und Wackerbarth, Horst (Hgg.): Kunst und Medien. Materialien zur documenta 6, Kassel 1977, S. 90. 247  Ebd. 248   Vgl. Huhn/Rautmann 1982. 249   Bernhard, Franz: Über meine Arbeit, in: Romain, Lothar (Hg.): Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, München 1990, S. 15. 250   Bei dem für die Frauen verwendeten Stahl handelt es sich nicht um Cortenstahl, sondern um einen hochwertigen, nicht durchrostenden Stahl, wie er u. a. auch im Schiffsbau verwendet wird. (vgl. Gespräch zwischen Thomas Schütte und der Autorin am 10.08.2016 in der Düsseldorfer Wohnung des Künstlers). 245 246

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II.3 Stahl

zelnen Teile der Stahlfrauen.251 Diese gelangen wieder zurück in die Düsseldorfer Kunstgießerei, wo sie zusammengeschweißt und weiterbearbeitet werden. Die Oberflächen werden behandelt, poliert, geglättet, die Arbeiten werden fertiggestellt. Ab der Fertigstellung des Gipsmodells ist Thomas Schütte vorerst körperlich nicht mehr am Produktionsprozess beteiligt. Dann übernimmt die Kunstgießerei die weiteren Prozesse und beauftragt eine weitere Firma für Schritte, die sie selbst nicht durchführen kann. Das ausgewählte Material verlangt einen erneuten Ortswechsel, neue Fachleute und spezialisiertere Technik. Erst nach Formenerstellung, Guss, Transport und Montage tritt der Künstler wieder mit den Arbeiten in Kontakt, um sie zu begutachten und gegebenenfalls die Oberflächen zu bearbeiten. Der hochwertige Stahl bildet an der Oberfläche eine Schutzschicht aus rötlich braunem Rost. Abgesehen von der Materialwahl, also der Entscheidung für Stahl als Werkstoff für die Frauen, hat Thomas Schütte keinen direkten Anteil an der Herstellung der Stahlplastiken. Während etwa Richard Serra sich zur selben Zeit aufgrund der Materialien seiner Wahl – Stahl und Blei – als Schwerarbeiter inszeniert und die Industriearbeit, ihre Rohstoffe und Verfahren in die zeitgenössische Kunst, in Museen, Galerien und den öffentlichen Raum transportiert, lässt Schütte den Stahl zu einem Werkstoff unter vielen werden.252 Für ihn scheint es keinen Unterschied zu machen, in welchem Material die Großplastiken ausgeführt werden. Während Richard Serra und Eduardo Chillida postulieren, dass man durch die Materialwahl „auch die Möglichkeiten und Grenzen der künstlerischen Form“253 bestimme oder dass man das Material unterwerfen müsse,254 nutzt Thomas Schütte die (technischen) Möglichkeiten und lässt den Werkstoff in die Form bringen, die er vorgesehen hat und die in, mit und durch andere(n) Materialien (Ton, Gips) entstanden ist. Das Material Stahl selbst hat keinen gestalterischen Anteil an der Form des Kunstwerks und Jörn Merkerts Feststellung von 1981 erscheint obsolet: „Viel mehr trug das Material in sich selbst und in den zu ihm gehörenden technischen Herstellungsprozessen auch eine Herausforderung zu anderen bildnerischen ästhetischen Formulierungen […] und beeinflußte so neue Möglichkeiten künstlerischer Hervorbringungen und Wertvorstellungen durch seinen Eigencharakter.“255

 Die Frauen können aufgrund ihrer Größe nicht in einem Stück gegossen werden.   Zu der Verwendung von Stahl bei Richard Serra vgl. Pascheit, Olaf und Rübel, Dietmar: Richard Serra in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2003, S. 34. 253   Zitat Richard Serra, in: Bach, Friedrich Teja: Skulptur als Platz. Ein Gespräch mit Richard Serra, in: Das Kunstwerk. Zeitschrift für bildende Kunst, Nr. 1 XXXI, Stuttgart 1978, S. 3–14, S. 3. 254   Vgl. Chillida, Eduardo: Lieber eine Wolke von Vögeln am Himmel als einen einzigen in der Hand, in: Haenlein, Carl (Hg.): Eduardo Chillida. Skulpturen, Ausst. Kat., Kestner-Gesellschaft Hannover, Hannover 1981, S. 13–19, S. 13. 255   Merkert, Jörn: Eisen. Herausforderungen zu neuen Möglichkeiten, in: Bildhauertechniken. Dimensionen des Plastischen, Ausst. Kat., Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 1981, S. 70–87, S. 70 (in Bezug auf die Kunst der 1920er Jahre). 251

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II. Material

Was in der Werkgruppe für Ton und Gips (als die Materialien des Entwurfs und des Prozesses) gilt, nämlich dass der Eigensinn des Materials entscheidend an der Form des Kunstwerks beteiligt ist, scheint für den Stahl – ein Material der Ausführung – nicht in der Weise wie bei Ton und Gips zuzutreffen. Der gestalterische Einfluss des Materials der Ausführung auf das Kunstwerk scheint auf einer anderen Ebene, zu einem späteren Zeitpunkt stattzufinden; der gestalterische Anteil des Ausführungsmaterials scheint sich an der Oberfläche der Arbeiten zu zeigen, während Ton und Gips die Volumina des Kunstwerks mitbestimmen. Was bedeutet die Verwendung von Stahl in gestalterischer Hinsicht für die Frauen? Sein Einfluss zeigt sich an der Oberfläche, und zwar in Struktur und Farbigkeit. Die Bandbreite, die der rostende Stahl auf beiden Feldern zeigt, ist groß und reicht von grob, rau, hart, steinig und bröckelig wirkenden Oberflächen, hin zu fein, samtig und weich erscheinenden, ebenmäßigen Strukturen. Die Farbigkeit changiert zwischen dunklen, fahlen, fleckigen, gräulich-braunen Oberflächen, die matt oder metallisch glänzend wirken können und homogenen, leuchtenden, flächigen, goldig, rötlich oder orange-­braunen ­Farben. Die ‚Haut‘ der Frauen wirkt dann widerstandsfähig, dick, mächtig und massiv, wie vom Wetter gegerbt oder aber zart, dünn, verletzlich und angreifbar. Das Metall – auch seine Stärke, die einige Millimeter beträgt – ist aber immer gleich, lediglich die Oberfläche suggeriert verschieden ausgeprägte Widerstandsfähigkeit. Die gesamte ästhetische Bandbreite des Stahls, sämtliche Erscheinungsformen des Materials, wird in der Werkgruppe sichtbar. Aber nicht nur das Material aus sich heraus erzeugt die Wirkung. Und nicht nur die Künstlerhand bearbeitet, verändert, optimiert die Oberfläche. Umgebungsfaktoren bestimmen das Kunstwerk zu großen Teilen mit. Zunächst ist das Licht zu nennen, das entscheidenden Einfluss nimmt: Dieselbe Stahlfigur wirkt im Schatten fahl, matt und grau und in der Sonne leuchtend, samtig und golden. Das heißt, die Oberflächen verändern sich je nach Aufstellungsort (innen/außen, beleuchtet/unbeleuchtet), nach Wetterlage (Licht, Feuchtigkeit) und Tageszeit (Lichtrichtung und ‑intensität) temporär in ihrer Erscheinung. Und zusätzlich verändern die Oberflächen sich dauerhaft durch Umwelteinflüsse, die an der speziellen Beschaffenheit des Stahls haften bleiben: Lichteinflüsse, Sauerstoff, Feuchtigkeit, Staub lagern sich auf der rostigen Oberfläche ab und bilden und verändern die Rostschicht gleichermaßen. Der Rost macht, vielleicht als „zeitgemäße Version der Materialpatina“256, äußere Einflüsse sichtbar, indem er sich (seine Farbigkeit, seine Struktur) verändert. Das Konzept der Prozesshaftigkeit, das der gesamten Werkgruppe innewohnt, kommt somit auch auf den Oberflächen der einzelnen Stahlplastiken zur Anschauung, wenn etwa die Spuren des immer auf die gleiche Weise ablaufenden Regenwassers nach und nach sichtbar werden.

256   Bartsch, Ingo: Materialfarbigkeit und Publikumsreaktion, in: Korzus, Bernard und Rüth, Uwe (Hgg.): Nur Rost …? Das Problem des oxydierenden Stahls in der Kunst, Ausst. Kat., Museum Glaskasten Marl, Münster 1986, S. 12–16, S. 15.

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II.3 Stahl

Neben diesem gestalterischen Anteil des Materials am Kunstwerk auf der äußeren, unmittelbar visuell wahrnehmbaren Ebene, bestimmen inhaltliche Vorstellungen zum Material das Kunstwerk auf einer inneren, unter der Oberfläche liegenden Ebene mit. Gemeint sind auf der Ebene der Materialikonographie nicht feststehende, faktische Eigenschaften, sondern sich ändernde semantische Zuschreibungen, wie in Bezug auf Stahl etwa Härte, Banalität, Technik, Schwerindustrie und Gewalt. In der Rückschau wird klar, dass diese semantischen Bezüge Schwankungen unterworfen sind und dass die Materialien der Kunst kaum festgelegte Bedeutungen aufweisen, sondern sich ihr „symbolischer Wert in Auseinandersetzung mit dem historischen Gebrauch der Stoffe außerhalb des Kunstsektors, jeweils neu [bildet]“257. Diese Einschreibungen allerdings bleiben den Materialien hartnäckig erhalten. Zwar werden sie in ihrer Abhängigkeit von Diskursen, Nöten und Programmen im Laufe der Jahrhunderte überschrieben und erneuert, aber sie sammeln sich im Material an, überlagern sich, verschwinden nur temporär und können zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kontexten wieder abgerufen, umgeformt und aktualisiert werden. Zunächst sind alle Zuschreibungen im Material enthalten. Was abgerufen wird, hängt von den Kontexten der Präsentation (Ort, Zeit, Umgebung etc.) und der Rezeption (biografische, geografische, soziale etc. Faktoren auf Seiten der Betrachtenden) ab. In Bezug auf Thomas Schüttes Frauen fällt es schwer, materialikonographisch zu argumentieren. Sämtliche Charakterisierungen des Stahls finden in der Werkgruppe keine Entsprechung und entgegen der Vorstellung von Uwe M. Schneede, der 1970 schreibt, dass Stahl „kein beliebiges oder neutrales Material“258 sei, scheint bei Schütte unterdes genau das der Fall zu sein. Schneede begründet: „Zu eng ist der Begriff Eisen mit der Vorstellung von Verhüttung und industrieller Produktion, von Maschinen und Waffen, ja von Konzernen und Macht verbunden, als daß Eisen lediglich – analog zu Marmor und Bronze – als Rohstoff für Kunstgegenstände gesehen werden könnte. Arbeitet ein Künstler mit Eisen oder Stahl so hat sein Produkt ganz selbstverständlich, bewußt oder unbewußt, einen Bezug zur Rolle dieser Materialien innerhalb unserer Gesellschaft.“259

Auch Monika Wagner betont 1997 (ungefähr zeitgleich zu der Produktion der Frauen) in Bezug auf Richard Serra: „Die Wucht des schwerindustriellen Herstellungsprozesses ist in der physischen Präsenz des Materials anwesend.“260 Was für Serras Werke gilt, findet für Schüttes kaum Bestätigung. Auch die Frauen werden in einer Industriegießerei

257   Wagner, Monika: Industriemüll in der zeitgenössischen Kunst, in: Türk, Klaus (Hg.): Arbeit und Industrie in der bildenden Kunst. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums, Stuttgart 1997, S. 131–140, S. 132. Für die Avantgarde z. B. kam Eisen entweder als armes oder auch zukunftsweisendes Material in Frage. 258   Schneede, Uwe M.: Einführung, in: Eisen- und Stahlplastik 1930–70, Ausst. Kat., Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Stuttgart 1970, S. 5–8, S. 6. 259  Ebd. 260   Wagner, Monika: Sack und Asche. Materialgeschichten aus der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1997, S. 35.

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II. Material

produziert. Aber sie transportieren den Industriekontext und die Wucht des Materials, das nur mit größtem Energiebedarf bearbeitet werden kann, nicht. Ihre Formen, vielleicht ihre Figürlichkeit vereitelt in diesen Fällen das Aufscheinen dieser Assoziationen. Selbstverständlich ist der industrielle Arbeitsprozess inhärent. Allerdings kann er – unterschiedlichen Relationen von Form und Material entsprechend – betont werden und zum Vorschein kommen oder auch nicht. Und entsprechend mehr oder weniger kollidiert das Material mit den traditionellen Vorstellungen von Kunst. Bei Schütte ist in diesen Fällen weniger der Stahl der Bedeutungsträger, sondern eher sind es die Figuren. Diese Verwendung des Stahls in der Werkgruppe Frauen, als gegossene Figuren, führt – so die These – (temporär) zur semantischen Entleerung des Materials. Nach der Betrachtung des ersten Materials der Ausführung lassen sich Verschiebungen in dem, was die unterschiedlichen Werkstoffe der Frauen für die Werkgruppe ausmachen, feststellen: Der Anteil des Materials an der Gestalt der Figuren verlagert sich von Einflüssen, die sich auf die Ausgestaltung der Volumina beziehen, in Richtung Oberfläche (Struktur/Farbigkeit) und geht mit einer Abhängigkeit von weiteren, davor weniger relevanten Faktoren (Licht, Feuchtigkeit etc.) einher, während gleichzeitig der Einfluss des Künstlers ab- und der Einfluss weiterer Akteure (neue Werkstatt, neue Technik) zunimmt und eine offenbar systematische semantische Entleerung des Materials stattfindet. Diese These gilt es zu überprüfen  – am zweiten Material der Frauen, der Bronze.

II.4 Bronze Bronze ist das zweite der drei Ausführungsmaterialien der großformatigen Frauen. Wie auch von den Stahlfrauen gibt es pro Nummer immer zwei Exemplare in Bronze. (A) Das Halbedelmetall – eine Legierung aus Kupfer und Zinn, der auch geringe Mengen Zink, Blei, Silber, Phosphor oder Aluminium beigegeben werden kann – ist ähnlich alt wie Eisen, wird aber, anders als Eisen, seit dem Altertum nicht hauptsächlich für die Fertigung von Waffen, Munition und Werkzeugen, sondern vor allem für Münzen, Gebrauchsgegenstände (Schüsseln, Türklopfer), Glocken und Büsten eingesetzt. In der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. ist das Material Bronze und das Wissen um die notwendige Gusstechnik zu seiner Verarbeitung in Europa flächendeckend verbreitet.261 Im Römischen Reich wird es zum „Garant von Macht und gesellschaftlicher Werte“262 und   Vgl. Rübel, Dietmar: Bronze, in: Wagner/Rübel/Hackenschmidt 2002, S. 49–56, S. 50.   Ebd., S. 51. Diese Konnotation ist durch das Einschmelzen erbeuteter Kunstwerke und die Neuformung des Materials, als Zeichen tugendhafter Überlegenheit der römischen Zivilisation und Legitimation ihres Herrschaftsanspruchs, begründet. 261 262

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II.4 Bronze

auch im Mittelalter wird Bronze, dann überwiegend im sakralen Kontext, unter anderem für Portale, Taufbecken, Kruzifixe, Reliquiare, Sepulkralplastik und Glocken genutzt. Erst in der Renaissance entstehen, wie bereits in der Antike, verstärkt wieder großformatige Bronzeplastiken und Bronze wird als das klassische Material der Bildhauerei aktualisiert.263 Als Kunstgebilde, das nicht – wie etwa Holz – in der Natur vorkommt und ungleich beständiger ist, wird es hochgeschätzt und es übertrifft in der Hierarchie zeitweise sogar den Marmor.264 Weil Bronze scheinbar den unmittelbaren Eindruck des Entwurfs (meist in Ton oder Wachs) festhält und dauerhaft wiedergibt, erscheint sie als idealer Stoff für Kunst. In ihr sollen sich die Frische des Entwurfs mit der Dauer, die sie ihm verleiht, vereinen. Denn Bronze ist korrosionsbeständig, ihre Oberfläche kann auf vielfältige Weisen gestaltet werden (Feilen, Treiben, Ziselieren, Polieren, Patinieren), sie kann dünnwandig verarbeitet werden und ist gleichzeitig hart und elastisch und somit widerstandsfähig und äußerst haltbar.265 Ihre Verwendung bietet darüber hinaus weitere, die Konstruktion betreffende Vorteile und zeigt im Vergleich zu Marmor, dem zweiten der beiden klassischen Materialien der Bildhauerei, weniger starre Grenzen durch Größe, Härte und statische Einschränkungen auf.266 Somit macht Bronze einige Werke erst möglich, die in einem anderen Material kaum zu realisieren wären.267 Bronze ist seit ihrem erneuten Aufschwung in der Renaissance aus der bildhauerischen Produktion nicht wegzudenken. Mit der Entstehung des bürgerlichen Kunstmarkts im 18. Jahrhundert und der damit verbundenen steigenden Nachfrage nach reproduzierbarer Kunst erlebt das Gießereihandwerk einen weiteren Aufschwung und auch, wenn im frühen 19. Jahrhundert Bronze teilweise durch Eisen ersetzt wird, bleibt sie aufgrund ihrer physischen Vorzüge als Reproduktionsmittel und als Symbol für Dauerhaftigkeit, Unvergänglichkeit und Würde bis ins 20. Jahrhundert eines der am häufigsten genutzten Materialien der Bildhauerei.268 In der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts werden vorwiegend   Exemplarisch dafür sind die bronzenen Reiterstandbilder etwa von Andrea Verrocchio und Donatello.   Vgl. dazu z. B. Leon Battista Alberti: „Aus Bronze gefallen sie [die Götterbilder] mir sehr, falls mich nicht der weiße Glanz des reinsten Marmors verlockt. Doch Bronze besitzt etwas, das ich in Anbetracht der Unvergänglichkeit vor allem vorziehe […].“ (Theuer, Max (Hg.): Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst, Darmstadt 1975 (orig. 1512), S. 408 (Buch 7, Kapitel 17). 265   In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass trotz der Beständigkeit des Materials nur ein kleiner Teil der Bronzeproduktion erhalten ist. Werke wurden (z. B. als Kriegsbeute) eingeschmolzen und das Material recycelt und für neue Kunstwerke und/oder Waffen verwendet. Bereits Henry Jouin weist 1888 darauf hin: „Que sont devenues les trente mille statues grecques dont parle Pline? Cinquante, à grand’peine, sont parvenues jusqu’à nous! Le bronze est donc périssable, plus que la pierre, l’ivoire ou le marbre? N’en doutez pas, le temps est son ennemi. Si le temps le respecte, l’homme le mutilera.“ (Jouin 1888, S. 100) Der Geldwert des Materials zeigt sich als der Feind seiner Dauer. 266   Zu nennen sind z. B. gehauene Baumstümpfe, die dem Abstützen der Figuren dienen. 267   Dies gilt u. a. für Benvenuto Cellinis Perseus (1945–54) oder auch für Giovanni da Bolognas Figurae Serpentinatae (vgl. Rübel 2002, S. 52). 268   Vgl. Hartog, Arie: Das Bronzezeitalter. Bemerkungen zur Geschichte des Bronzegusses, in: Gerhard Marcks-Stiftung (Hg.): Bronzeguss im Wachsausschmelzverfahren, Bremen 1999, S. 7–13, vgl. darüber hinaus vertiefend zum Material Bronze Penny 1995, S. 219 ff. 263 264

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II. Material

ihre Vorzüge gelobt, sie wird als ernster, edler und dem Kunstwerk angemessener Stoff empfunden und somit nicht nur den ‚niederen‘ Materialien – Gips, Ton, Wachs, Holz –, sondern auch den kostbaren Metallen – Gold und Silber –, die in der idealistischen Theorie gering geschätzt werden, vorgezogen.269 Georg Wilhelm Friedrich Hegel betont die weite Verbreitung der Bronze, lobt ihre Farbe, ihren Glanz, ihre Glätte und Wärme, ihre zahlreichen Vorteile und vor allem ihre technische, gestalterische Überlegenheit gegenüber dem Marmor.270 Da die Bronze der Idee, die zu der Zeit hierarchisch über der Ausführung steht, ewige Gültigkeit zu verleihen vermag, eignet sie sich besonders zu Repräsentationszwecken im öffentlichen Raum und damit für Denkmäler. Doch die „politisch legitimierte Verwendung von Bronze“271, führt am Ende des 19. Jahrhunderts dazu, dass das edle Metall „schließlich als das Material des Kalküls, der Ausführung, des Triumphs [galt] und [es] war Künstlern, die sich der Moderne verschrieben, verdächtig“272. Es folgt ein anderer, kritischer Umgang mit der traditionsreichen Bronze, der sich zum Beispiel bei Auguste Rodin und Medardo Rosso in schrundigen Oberflächen und gezielten Verunreinigungen des Materials zeigt, sich gegen seinen traditionellen akademischen Gebrauch wendet und etwa bei Constantin Brâncuşi in der Abstraktion und der Negierung der Oberfläche (und damit auch des Materials) gipfelt.273 Dietrich Mahlow beschreibt die Hinwendung Auguste Rodins zur Bronze, die eine Aktualisierung der Verwendung des Materials beinhaltet und resümiert 1981 pathetisch: „Rodin hatte eine zweite Bronzezeit begonnen.“274 Zentrale Charakteristika sind dabei die Darstellung neuer (sozialer) Themen in Bronze, die verstärkte Bewegung der Figur – die Bronze besser als Holz oder Marmor zulässt – sowie das Öffnen der geschlossenen Form des Kunstwerks und damit verbunden auch seiner Oberfläche inklusive dem bewussten

  Vgl. Raff 2008, S. 36.   Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20  Bänden, Frankfurt/Main 1970 (orig. 1832–45) Bd. 14, S. 441. Ebenfalls positiv über Bronze äußern sich auch: Albiker, Karl: Die Probleme der Plastik und das Material des Bildhauers, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Nr. 45, 1919, S. 171–182, S. 171 ff. und Kuhn 1921, S. 13. 271   Rübel 2002, S. 52 f. 272   Ebd., S. 53. 273   In Brâncuşis Oberflächenkult wird die Bronze durch das Glätten und Polieren völlig makellos und quasi entstofflicht. Das Material wird durch eine Art Auflösungsprozess negiert und sein typisches Erscheinungsbild und seine Wirkung werden somit vereitelt (anders als z. B. bei Alberto Giacometti, der die Oberflächen öffnet). Es stellt sich die Frage, ob es in Bezug auf Brâncuşis Werke überhaupt noch Sinn macht, von Bronze zu sprechen (vgl. Morschel, Jürgen: Bronze. Bewegtheit in der Dauer, in: Bildhauertechniken. Dimensionen des Plastischen, Ausst. Kat., Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 1981, S. 58–69, S. 67). Eine Steigerung erfährt diese Auflösung der Oberfläche in der Verwendung von sich in Reflexen auflösendem poliertem Aluminium. 274   Mahlow, Dietrich: 100  Jahre Metallplastik. Bronzeguß Construction Materialsprache Wahrnehmung, Frankfurt/Main 1981, S. 14. Diese Aussage ist gleichzeitig Ausdruck einer einseitigen Perspektive aus einer Teleologie der kanonisierten Moderne. 269 270

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II.4 Bronze

Stehenlassen von Arbeitsspuren.275 Arie Hartog weist zusätzlich darauf hin, dass die Arbeit in Bronze Rodin die Möglichkeit gegeben habe, seine Fähigkeiten als Modelleur zu demonstrieren und er somit „den Möglichkeiten des Materials ein Denkmal [setzte]“276. Denn auch wenn einige Bildhauer in der Folge (z. B. Germaine Richier, Alberto Giacometti, Ossip Zadkine, Marino Marini, Wilhelm Lehmbruck, Aristide Maillol und Henry Laurens) die von Rodin und Rosso vorbereitete Tendenz zur „Verlebendigung der Figur“277 und die damit verbundene Hinwendung zum Material Bronze aufnehmen, ist neben der beschriebenen neuen kritischen Verwendung der Bronze im frühen 20. Jahrhundert eine Hinwendung zu anderen, neueren Materialien zu verzeichnen. Thomas Raff argumentiert, dass vor allem die Bronze sich – neben dem Marmor – „seit der Antike mit ‚Kunstgeschichtlichkeit‘ angereichert habe[], was sich vielleicht am deutlichsten an ihrer Ablehnung durch viele Künstler des 20. Jahrhunderts zeigen lässt.“278 Und mit ‚Kunstgeschichtlichkeit‘ „soll jene Aura bezeichnet werden, welche einige Materialien durch ihre traditionelle Verwendung für Werke der ‚hohen Kunst‘ erlangten.“279 Etwas unklar bleibt dabei die Frage, ob die (durchaus differenziert zu sehende) Ablehnung der Bronze in einer Hinwendung zu anderen Materialien gipfelt, oder ob nicht etwa das Verlangen der Künstler_innen nach anderen Materialien, beziehungsweise ihr bloßes vermehrtes Vorhandensein um 1900 die Bronze partiell verdrängen. Denn auch, wenn die Menschheitsgeschichte eng mit dem Material Bronze verknüpft und diese stark mit Symbolik belegt ist, sind es zunächst ihre genuinen Materialeigenschaften, ihre Dauerhaftigkeit und ihre Vorzüge bei der Verarbeitung, die letztendlich den Anlass zu ihrer durchgängigen Verwendung und damit verbundenen positiven Bewertung geben. Im frühen 20. Jahrhundert werden Forderungen gegen die Vorherrschaft der klassischen Materialien (insb. Bronze und Marmor) formuliert, die allerdings keine generelle Absage an die Materialien darstellen; Umberto Boccioni etwa schreibt im Manifesto tecnico della Scultura futurista von 1912: „Distruggere la nobiltà tutta letteraria e tradizionale del marmo e del bronzo. Negare l’esclusività di una materia per la intera costruzione d’un insieme scultorio. Affermare che anche venti materie diverse possono concorrere in una sola opera allo scopo dell’­ emozione plastica. Ne enumeriamo alcune: vetro, legno, cartone, ferro, cemento, crine, cuoio, stoffa, specchi, luce elettrica, ecc.“280

275   Rodins Themen drehen sich dabei um den Menschen, um seine Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Unruhe. Die stehen gelassenen Arbeitsspuren spielen für die Entwicklung der Plastik eine besondere Rolle: „So lässt Rodin ohne Hemmungen auch Spuren der Darstellung stehen, die nichts zur ‚Darstellung‘ eines Körpers beitragen, sondern die Plastik als selbständige lebendige Form ausweisen.“ (Mahlow 1981, S. 14). 276   Hartog 1999, S. 12. 277   Mahlow 1981, S. 22. 278   Raff 2008, S. 158. Vgl. dazu ebenfalls Bartholomeyczik 1996, S. 46. 279  Ebd. 280   Boccioni, Umberto: Manifesto tecnico della Scultura futurista, in: Pittura Scultura Futuriste (Dinamismo Plastico), Mailand 1914, S. 391–411, S. 409.

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II. Material

Die Idee eines Materialpluralismus und einer Dehierarchisierung der Werkstoffe führt allerdings nicht zu der Anerkennung der Bronze als einen möglichen Werkstoff für Plastiken unter vielen und somit zu ihrer Gleichberechtigung, sondern perspektivisch zu ihrer Ablehnung. Es lassen sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts somit mehrere Gründe für das Überdenken der etablierten Bronzeplastik verzeichnen: Zu nennen sind erstens die Abkehr vom tradierten Verwendungskanon, zweitens die anwachsende Verfügbarkeit von neueren Materialien (Kautschuk, Stahl etc.) und drittens der generelle Wunsch nach ­einem Materialpluralismus und der Gleichberechtigung der eingesetzten Werkstoffe beziehungsweise die Forderung, das Material habe sich in einer dienstbaren Funktion der Form zu unterwerfen und für eine Skulptur solle das Material gewählt werden, nach dem die Idee verlange. Diese Faktoren begründen einen neuen Umgang mit dem Material Bronze (Rodin, Rosso, Brâncuşi) und darüber hinaus den Rückgang der Verwendung von Bronze innerhalb der sich entwickelnden Avantgarde. Während des NS‑Regimes entstehen aus der Hand von beispielsweise Josef Thorak und Arno Breker, neben dem vorrangig verwendeten Stein, großformatige Bronzeplastiken (u. a. nationalsozialistischer Krieger), die sich durch glatte Oberflächen und mächtige Körper auszeichnen. Nach Kriegsende sind Menschenbilder (im monumentalen Format) somit kaum mehr möglich und Künstler wie Alberto Giacometti, Germaine Richier und Emil Cimiotti nehmen die von Rodin und Rosso etablierte strategische, gezielt ‚fehlerhafte‘ Verwendung von Bronze wieder auf und gestalten ihre nicht idealisierten, zum Teil versehrten, auseinanderfallenden Körper mit vernarbten, zerstörten Oberflächen. Doch die Verwendung des Materials bleibt nach wie vor bestehen. Ernst Barlach etwa begründet seine Entscheidung für den Werkstoff 1960: „[…] es unterlaufen mir doch immer wieder Dinge von einer gewissen Gewagtheit, […] bei denen die momentane Geglücktheit so entscheidend ist, daß ihr Gelingen bei langsamer und mühevoller Ausführung in Holz unmöglich wäre. Diese Stücke vor allem verlangen nach Bronze, in der die ganze Frische des augenblicklichen Gefühls erhalten bleibt, hier vermag sie allein getreu zu sein und das Erlebnis der Minuten zu erhalten.“281

Und Emil Cimiotti schwärmt 17 Jahre später: „Die Bronze […] ist derjenige Stoff, welcher […] die reichste Instrumentierung erlaubt: Robuste Volumen und feinste Oberflächendifferenzen, kräftig, gespannte Formen und weiche, sensible Details. Geringste Querschnitte sind möglich, Volumen können vorgegeben oder negiert werden. Grate, Schnitte, Risse können die Oberflächen verletzen, weichste Verwertungen können die Formen umspielen.“282

281   Zitat aus einem Brief Ernst Barlachs an Alfred Flechtheim am 14.10.1930, in: Schult, Friedrich: Ernst Barlach. Das plastische Werk, Hamburg 1960, S. 26. 282   Zitat Emil Cimiotti, in Brusberg, Dieter (Hg.): Emil Cimiotti. Werkverzeichnis der Plastiken 1955 bis 1977, Hannover 1978, S. 24.

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II.4 Bronze

Darüber hinaus bleibt Bronze – vor und auch nach dem Zweiten Weltkrieg und auch bei denen, die sich der Avantgarde verschrieben hatten – aus ökonomischen und auf den Nutzen bezogenen Gründen ein legitimes, da dauerhaftes Reproduktionsmittel, „weil die Bronze so schön stabil daherkommt, glänzend oder rauh: immer interessant, immer stark, immer diskutabel.“283 Diese Praxis, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durchsetzt und Bronze vom ranghohen Material zum reinen Reproduktionsstoff degradiert, führt dazu, dass sie oft als altbacken und nur noch „überlebendes Material“284 wahrgenommen wird. Gleichzeitig bleibt sie ein sicherer Garant für Kunst. Denn Bronze wird kaum in anderen Bereichen verarbeitet. Was in Bronze gegossen ist, hält nicht nur ewig, sondern, was in Bronze gegossen ist, ist Kunst. Diese beiden kritischen Faktoren in Bezug auf die ungebrochene Verwendung des klassischen Materials – zum einen Bronze als kunstmarktnahes, bloßes Reproduktionsmittel und zweitens die Aufrechterhaltung der Sphäre Kunst (Wertsteigerung) durch ihre bloße Verwendung – sind es vor allem, die eine jüngere Generation zu einem ironischen Umgang mit Bronze bringen. Jasper Johns, Giuseppe Penone und auch Jeff Koons hinterfragen diese Zusammenhänge in ihren zum Teil systemkritischen Arbeiten seit den 1960er Jahren und führen eine durch Marcel Duchamp geprägte Strategie fort.285 Johns beispielsweise thematisiert die Wertgarantie von Kunstbronzen in seinem Werk Painted Bronze von 1960, indem er alltägliche Bierdosen in Bronze gießen lässt und so „diese Banalitäten unterschiedslos in das Reich der Kunst, in dem die Bronze auf eine antiquierte Weise das Versprechen auf eine wertvolle Skulptur aufrechterhält“286, überführt.287 Neben den zahleichen ideologisch, reflektierend, zynisch, pragmatisch, ironisch, ökonomisch, politisch motivierten Verwendungsformen von Bronze im 20. Jahrhundert bleibt sie vor allem aufgrund ihrer nützlichen Eigenschaften (Vielseitigkeit, Stabilität, Elastizität, Dauer) bis heute in der künstlerischen Produktion durchweg präsent. (B) Thomas Schüttes Frauen werden ab 1999 ebenfalls in Bronze gegossen. Das Prozedere unterscheidet sich zunächst nur unwesentlich von den Produktionsschritten der Stahlplastiken. In der Kunstgießerei Kayser werden vom Gipsmodell ausgehend die Gussformen für den Sandguss erstellt. Das eine, aufwendig in sechs bis neun Monaten herge  Mahlow 1981, S. 23.   Morschel 1981, S. 60. 285   Während Duchamp den Ort, die institutionelle Rahmung von Kunst, als ausschlaggebendes Kriterium ihrer Bewertung hinterfragte, tun dies die genannten Künstler in Bezug auf das für Kunst verwendete Material. 286   Rübel 2002, S. 54. 287   Andere Künstler verdecken das Material Bronze durch farbige Schichten und negieren somit seine Verwendung, um nicht reaktionär zu wirken. Söke Dinkla spricht in diesem Fall in Bezug auf Georg Baselitz oder Erwin Wurm von einer „elaborierte[n] Camouflage-Technik“ (Dinkla, Söke: An der Oberfläche_On Surfaces. Die Oberfläche als Bedeutungsträger in der Skulptur, in: An der Oberfläche, Ausst. Kat., Lehmbruck Museum Duisburg, Köln 2016, S. 12–27, S. 24). 283 284

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II. Material

stellte Gipsmodell wird dabei für jeden Guss neu abgeformt. Damit das Modell fünfmal (zweimal Bronze, zweimal Stahl, einmal Aluminium) verwendet werden kann, muss es solide verarbeitet sein. Vor allem das Verschließen und Härten der Oberfläche durch das Auftragen von Schellack ist notwendig, damit sie nicht porös wird.288 Die Bronzefiguren werden komplett in der Düsseldorfer Kunstgießerei gefertigt. Das genutzte Verfahren ist Jahrhunderte alt und hat sich – bis auf einige technologische Neuerungen, die die Prozesse erleichtern und beschleunigen – kaum verändert.289 Die Fachleute entscheiden allerdings bei jeder einzelnen Plastik aufs Neue, wie im Detail gearbeitet werden muss, um das optimale Ergebnis zu erhalten. Eine Vielzahl von auf Erfahrung beruhenden Entscheidungen, die den hochkomplexen Prozess immer etwas verändern, ist dabei notwendig; das grundlegende Prinzip bleibt allerdings immer gleich:290 Nach der Fertigstellung des Gipsmodells wird es zunächst in Stücke zerteilt, weil die Frauen zu groß und in ihren Formen zu komplex sind, um sie in einem Stück zu gießen. Die einzelnen Teile des (positiven) Gipsmodells werden in einem zweiteiligen Formkasten in Formsand fest eingepackt. Dazu wird das Modellstück in die erste Hälfte des Formkastens – ein rechteckiger Stahlrahmen – gelegt und mit sehr festem Formsand umgeben. Dieser wird festgestampft, die Oberfläche wird glattgezogen und mit einem Trennmittel behandelt, sodass der zweite Formkasten, der dem ersten gleicht, aufgesetzt und ebenfalls mit Sand gefüllt werden kann. Nachdem auch diese Seite festgestampft wurde, können beide Hälften des Formkastens wieder voneinander getrennt werden, sodass man – nach dem Entnehmen des Gipsmodellstücks – die zweiteilige Negativform im Sand erhält. Damit der Guss hohl bleibt – die Stärke der Bronzewand beträgt etwa sieben Millimeter –, ist ein Formkern aus Sand notwendig. Mit Hilfe des zweiteiligen Formmantels wird ein zweites Positivmodell geschaffen, das sieben Millimeter kleiner ist als das Gipsmodell. Alle Teile – die beiden halben Negativformen und der (verkleinerte, positive) Formkern – werden ineinandergelegt, mit Kanälen für das Eingießen der flüssigen Bronze und für das Entweichen der Luft versehen und mit Metallstangen fixiert, sodass sie sich nicht mehr gegeneinander verschieben können. Lediglich der sieben Millimeter breite Raum, in den beim Guss die Bronze fließt, bleibt hohl. In die kompakte, rechteckige Form wird dann die in einem Schmelztiegel auf etwa 1.200 Grad erhitzte, flüssige Bronze gegossen. Sie fließt durch den Eingusskanal in den Hohlraum, während die Luft durch andere Kanäle ent288   Anders als im Wachsausschmelzverfahren werden beim Sandgussverfahren keine Silikonformen gefertigt, die in der Gießerei verbleiben und die Plastiken einfacher nachgießbar machen. Jede Form wird vom zerteilten Gipsmodell abgenommen und nach den fünf Güssen wird es entsorgt. Wollte man nachgießen, müsste man die fertigen Metallfiguren abformen. 289   Das betrifft v. a. technische, elektrische Neuerungen der Werkzeuge, Vorrichtungen und Geräte; das Verfahren bleibt im Grunde das gleiche. 290   Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, lauten z. B.: An welchen Stellen und in wie viele Teile zerteilt man die Figur? Wie formt man ab, um Untergriffigkeit zu entgehen? Wo müssen Guss- und Luft­ kanäle angebracht werden, damit das Metall nicht reißt? Wenn nicht anders vermerkt, stammen auch diese Informationen zum Vorgehen in der Gießerei Kayser, Düsseldorf aus dem hilfreichen Gespräch mit Rolf Kayser am 26.04.2016 (vgl. Fußnote 208).

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II.4 Bronze

weicht. Nach dem Erkalten des Metalls wird die komplette Form (Formmantel und Formkern) entfernt und dabei zerstört. Bei diesem Prozedere mit verlorener Form kann mit einer Form nur einmal gegossen werden. Nach diesen Abläufen ist ein Segment einer Frau gefertigt. Für jedes weitere Segment sind die gleichen Schritte notwendig und jedes einzelne weitere Modellstück wird in diesem Verfahren in Bronze gegossen. Die Gusskanäle und die Metallstangen werden im Anschluss entfernt und wenn alle Teile, in die das ursprüngliche Gipsmodell zerlegt wurde, auf diese Weise fertiggestellt sind, können sie zu einer Frau verschweißt werden. Eine aufwendige Bearbeitung der Oberflächen beginnt mit dem Glätten der Schweißnähte und endet mit dem Auftragen der Patina. Pro Frau vergehen so zwischen Fertigstellung des Gipsmodells und Fertigstellung der Bronzeplastik nochmals bis zu zwei Monate. Als zweites Material der Ausführung nimmt Bronze ebenso wenig Einfluss auf die Form, meint in dem Fall die Volumina, des Kunstwerks wie der Stahl. Ab der Fertigstellung des Gipsmodells bis zur zusammengeschweißten Frau erfordern die Materialien zwar verschiedene Rohstoffe, Orte und Technologien, die Form der Figuren bedingen sie aber – anders als Ton und Gips – nicht. Erst nach dem Zusammenschweißen werden die unterschiedlichen Materialitäten der Metalle für die Gestalt der Kunstwerke relevant, hier stellen sich differenzierende Faktoren heraus.291 Die Oberflächen der Bronzefrauen unterscheiden sich deutlich von den Oberflächen der Stahlfrauen. Sie sind glatt und sie bieten ein weites farbliches Spektrum: Die Tönungen changieren zwischen kräftigen, dunklen, relativ gleichmäßigen Braun- oder Anthrazittönen, die auch durch einige Sprenkel oder Läufer aufgehellt sein können, bis zu helleren, farbenfrohen Oberflächen zwischen grau, grün und braun. Von glänzend bis matt, einfarbig bis vielfarbig, grau, blau, grün, ocker bis braun, bietet die Bronze somit eine breite Farbpalette und insgesamt mehr Möglichkeiten der Oberflächengestaltung: Die Faktoren, die Einfluss auf die Oberflächen nehmen, sind vielfältig und mit den in Bezug auf die Stahlfrauen beschriebenen zunächst deckungsgleich. Die temporären Faktoren, die lediglich für einen abgeschlossenen Zeitraum Einfluss auf die Gestalt der Oberfläche nehmen, hängen mit der unmittelbaren physischen Umgebung der Kunstwerke zusammen. Zu nennen sind im Innenraum vor allem die Beleuchtung und gegebenenfalls leichtere Ablagerungen wie Staub und im Außenraum die Wetterlage in der sich wandelnden Umgebung, die verschiedenen Lichtreflexe, die Wechsel zwischen Licht und Schatten, trocken und nass sowie Spuren, die Pflanzen und Tiere hinterlassen. Zum Teil beeinflussen diese vorrübergehenden Veränderungen – die durch die Feuchtigkeit eines Regenschauers dunkel und glänzend gewordene Oberfläche beispielsweise trocknet nach einiger Zeit in der Sonne wieder, hellt auf und wird matter – die Plastiken auch langfristig. Vor allem unter 291   Thomas Strässle weist darauf hin, dass Materialität gemeinhin als Singular adressiert wird. Somit gerinnt ihm zufolge der Begriff zu einer trügerischen Einheit, „die ihre internen Differenzen auslöscht und ihre intrinsischen Dynamiken stillstellt“ (Strässle 2013, S. 11). Der Materialumgang in Bezug auf die Frauen betont diese Differenzen und Dynamiken.

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II. Material

freiem Himmel hinterlassen Licht, Wasser, Luft, Dreck, Flora und Fauna auch dauerhafte Spuren, die Oberflächen verändern sich dann langfristig. Ab einem bestimmten Zeitpunkt lassen sich die beschriebenen Spuren kaum mehr entfernen, lässt sich der genaue Zustand der Oberfläche, wie er zuvor war, nicht mehr herstellen. In ihrer Prozesshaftigkeit ist sie auch gar nicht auf einen Status Quo angelegt. Jede Behandlung der Oberfläche verändert sie auf eine andere Weise. Der Gestaltungsprozess der Oberfläche ist somit auf doppelte Weise niemals abgeschlossen: Zum einen verändern die zeitlich limitierten Faktoren, wie der Lauf der Sonne, sie immer wieder aufs Neue und zum anderen schreibt etwa das Sonnenlicht sich dauerhaft in die Oberfläche ein. Dieser Prozess kann durch Versiegelungen der Bronze, etwa durch Wachs, Lack oder Öl verlangsamt, aber nicht völlig aufgehalten werden. Vor diesen natürlichen Korrosionen, die die Bronze langsam und stetig – abhängig von ihrem Aufstellungsort – verändern, nimmt aber der Künstler selbst, beziehungsweise nehmen die Gießereimitarbeiter_innen, bevor die Arbeiten die Werkstatt verlassen, durch das Auftragen der Patina den radikalsten Einfluss auf die Gestalt der Oberflächen. Dieser für die Bronzefrauen elementare und ebenfalls langwierige, physisch fordernde Prozess be­inhaltet die Bearbeitung der fertig verschweißten und geglätteten rohen Bronzefiguren, die zu diesem Zeitpunkt einen homogenen goldenen Farbton haben, mit Feuer, farbigen Lacken und Nitraten. Dabei pendelt der Charakter der Bearbeitung zwischen der Beschleunigung der natürlichen Prozesse und der Kontrolle des Künstlers, die aber ebenfalls nicht vollständig gegeben ist, da die Reaktionen der einzelnen Komponenten untereinander nicht vollständig vorhergesehen werden können. Die Gestalt der Oberflächen ist somit das (vorläufige) Ergebnis der Relationen aller beteiligten (menschlichen und nichtmenschlichen) Akteure. All diese genannten Faktoren schlagen sich in dem Material Bronze nieder und machen es zu einem vielgestaltigen Werkstoff, der die Wirkung der Plastiken beeinflusst und sie bunt oder monochrom, laut oder leise, dunkel oder hell, matt oder glänzend, einladend oder abweisend, ruhig oder bewegt erscheinen lassen kann. Viel mehr Ressourcen (Zeit, Wissen, Kraft, Werkzeuge, Stoffe) sind dazu notwendig und so zeigt die genaue und zielgerichtete Analyse der einzelnen Prozesse, dass eine Materialästhetik nie die Ästhetik eines einzigen Materials sein kann, sondern dass sie immer in Abhängigkeiten, die mehr oder weniger steuer- und vorsehbar sind, gesehen werden muss. Die Frage nach dem bloßen Material als Bedeutungsträger fällt im Laufe der Analysen der einzelnen Werkstoffe innerhalb der Werkgruppe Frauen zunehmend schwerer. Weder die Materialikonographie-Konzepte der Wagner-Schule, noch der Versuch einer systematischen Materialikonologie (Raff) scheinen hier befriedigend zu sein. Eine Verwendungsgeschichte der Bronze, die Beschreibungen ihrer Kunstgeschichtlichkeit, ihrer Konnotationen und ihres Images scheinen im Angesicht der Plastiken kaum Relevanz zu besitzen. Die Betrachter_innen nehmen die Werke nicht in diesem Sinne über das Material wahr. Sie denken angesichts der Bronzefrauen nicht an Würde und Dauerhaftigkeit; traditionelle Vorstellungen werden hier nicht eingelöst. Auch verweist die fertig­

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II.4 Bronze

gestellte Figur kaum noch auf die materiellen Bedingungen ihrer Herstellung in einer traditionell arbeitenden Kunstgießerei – genauso wenig wie die Stahlfrauen ihren Industriekontext reflektieren. Hier geht es um eine andere Ebene. Um eine Ebene der spezifischen Materialästhetik, die im dynamischen Prozess angesiedelt ist und eben nicht mit der Entscheidung für ein bestimmtes, aussagekräftiges, vielleicht passendes, oder angemessenes, oder ironisch kontrastierendes Material getroffen wird. Und dazu ist unbedingt die Ausführung des Kunstwerks notwendig, weil man sonst unwiederbringlich auf der Ebene des Disegno verharren würde und alle Chancen, die die Ausführung, die Verarbeitung, die Umsetzung, die Realisierung bietet, vergibt. Bereits Werner Hofmann problematisiert diese allzu statische Vorstellung: „Wer einer Bronzeplastik eine Marmorfassung zur Seite stellt, muß wissen, daß der andere Stoff auch einen anderen Ausdrucksgehalt mit sich bringt, selbst wenn die Arbeiten in Form und Dimension identisch sind.“292

Wie sich gezeigt hat, hängt dieser Ausdrucksgehalt mit der tatsächlichen visuellen Gestalt, im Speziellen der Farbigkeit und der Struktur der Oberfläche, zusammen. Dort entscheidet sich – anders als auf der materialikonographischen Ebene – konkret, inwieweit die Arbeiten sich in verschiedenen Materialien unterscheiden. Thomas Schüttes Werkgruppe führt vor, dass dieser Unterschied nicht in der bloßen Entscheidung für ein bestimmtes Material liegt, sondern dass umgekehrt ein anderes Material immer auch eine andere Form bedeutet. Im Fall der Metalle – alle Frauen sind, unabhängig vom Material, selbstverständlich hohl – liegt diese Form auf der Ebene der Oberfläche und nicht auf der Ebene der Volumina. Sie wird nicht etwa mit der bloßen Entscheidung automatisch mitgeliefert, sondern sie ist dynamisch und entsteht durch die Ausführung immer neu. Eine zu eng gefasste Materialsemantik steht einem solchen, freieren Konzept der Materialästhetik entgegen, denn sie verhindert sie mindestens zweifach: Auf der Seite des Künstlers muss die Bronze erst von ihrem Image befreit werden, beziehungsweise Schütte musste sie für sich selbst und durch ihre Verwendung befreien: „SCHÜTTE: Der Grund für Aluminium war, dass ich damals Angst vor Bronze hatte. LOOCK: Diesen Bezug zur Klassik wolltest Du dann doch nicht. SCHÜTTE: Jetzt habe ich keine Angst mehr vor Bronze, weil ich […] weiß, wie das geht.“293

Der Klassik-Bezug ist also (für den Künstler) zunächst inhärent und wird durch die Ausführung, durch die Verarbeitung ausgetrieben, sodass die Betrachter_innen – und das ist die zweite Seite der Medaille – die alten Klischees nicht wieder abrufen müssen, sondern dem Gewahr werden, was das Material ganz speziell, dynamisch zu genau diesem Zeitpunkt an genau diesem Ort auf der Ebene der Bedeutung für das Kunstwerk beiträgt.   Hofmann, Werner: Die Plastik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1958, S. 22.   Loock 2004b, S. 149 (in Bezug auf die Geister (1995–2004), die Vorgänger-Werkgruppe).

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II. Material

An diesem Punkt der Analyse lassen sich die am Ende des Stahl-Kapitels aufgestellten Thesen überprüfen. Dabei ist zu bestätigen, dass der Anteil der Materialien an der Gestalt der Kunstwerke sich während des langen Prozesses von den Formulierungen der Volumina auf die Gestalt der Oberflächen verschiebt. Weitere Akteure treten hinzu und entfernen sich und auch die Rolle des Künstlers ist den Anforderungen des Materials unterworfen. Für die Bronzefrauen ist beispielsweise keine aufwendige Auslagerung des Gusses in einen Industriebetrieb wie für die Stahlfrauen notwendig, dafür aber sind sie in der Nachbearbeitung aufwendiger und zeitintensiver. Der zunächst so gleichförmig erscheinende Vorgang der Ausformulierung der einen (Gips‑)Form in verschiedene Metalle stellt sich als vielfältig und als dem Material, seinen Gesetzen und Anforderungen gehorchender Prozess heraus. Für den Künstler selbst erscheint der Unterschied in der Produktion zunächst marginal, er trifft lediglich die Entscheidung für ein Material. Für die weiteren Akteure beginnt dann der entscheidende Teil, der allerdings verborgen bleibt, bis der Künstler wieder in Erscheinung tritt und die Oberfläche, den Teil, der nun den großen Anteil an der visuellen Gestalt der Arbeit hat, bearbeitet. Dies geschieht in Zusammenhang mit dem dritten Material der Ausführung, dem Aluminium, auf eine besondere, verzögerte Weise.

II.5 Aluminium In Aluminium, dem dritten Material der Ausführung, wird – anders als bei den Stahlund Bronzefrauen, von denen es jeweils zwei Exemplare gibt – pro Nummer lediglich ein Exemplar, das Künstlerexemplar, gegossen. (A) Aluminium ist das jüngste der drei von Thomas Schütte für die Frauen verwendeten Metalle.294 Es kommt zwar häufig in der Erdkruste vor, kann aber erst seit den 1820er Jahren isoliert werden; eine industrielle Produktion ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts möglich. Das nicht edle Metall gilt zunächst als Luxusartikel, da seine chemische Herstellung noch besonders kostspielig ist. Zum Ende des Jahrhunderts ermöglicht ein elektrolytisches Verfahren dann die preiswertere Massenproduktion und im 20. Jahrhundert ist Aluminium allgegenwärtig. Vor allem in der Verkehrs- und in der Kriegs­ industrie wird das leichte – Aluminium ist etwa um zwei Drittel leichter als Stahl – und widerstandsfähige Material für die Luftfahrt, den Schiffsbau, für Hochgeschwindigkeits294   Für die allgemeinen Informationen zum Aluminium vgl. Ward, Gerald W. R.: Materials and Techniques in Art, Oxford 2008, S. 8 ff. und darüber hinaus ausführlich zur Geschichte und Technik des Aluminiums vgl. Kammer, Catrin: Aluminium-Taschenbuch, Düsseldorf 2011; Marschall, Luitgard: Aluminium. Metall der Moderne, München 2008; Artluminium. An exhibition of contemporary art featuring the use of aluminium, Ausst. Kat., La Maison Alcan, La Galerie d’Art Lavalin, Montreal, Montreal 1989; Joliet, Hans (Hg.): Aluminium. Die ersten hundert Jahre, Düsseldorf 1988.

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II.5 Aluminium

züge und die Automobiltechnologie verwendet. Im Alltag wird das Material darüber hinaus als kostengünstige Massenware für den Haushaltsbedarf (Konserven, Tuben, Töpfe, Bestecke etc.) und für Münzen verwendet. Auch in Design und Architektur macht man sich das leichte, kräftige und flexible Metall zunutze. Möbel und Schmuck aus Aluminium entstehen, der Türen- und Fensterbau verwendet das Metall zunehmend und ebenfalls Fassadenverkleidungen mit Aluminium häufen sich. Bis heute sind Verkehr, Bau, Maschinen- und Elektrotechnik, Haushalt und Verpackung die Bereiche, in denen das vielseitige Metall häufig verwendet wird. Aufgrund der engen Verknüpfung des neuartigen, leichten, glänzenden Metalls mit entscheidenden technischen Neuerungen und Weiterentwicklungen gilt Aluminium gemeinhin als das Material der modernen Industrie, während etwa schwerer und rostender Stahl eher mit der früheren Industrialisierung und der gröberen Schwerindustrie verknüpft ist. Auch der enorme Energiebedarf, der zur Aluminiumelektrolyse notwendig ist und beispielsweise den Bau von Großkraftwerken erfordert, lässt den Werkstoff zum „Synonym für den technischen Fortschritt“295 werden. In Bezug auf die Verwendung von Aluminium innerhalb der bildenden Kunst werden weniger die praktischen oder physischen Vorzüge, die beispielsweise die leichte Beschaffung, die günstigen Eigenschaften (Leichtigkeit, Korrosionsbeständigkeit, Vielseitigkeit) oder die vergleichsweise einfache Verarbeitung des Metalls betreffen, betont, sondern vielmehr sind es Prädikate wie geschichtslos, traditionslos, semantisch neutral und anonym, die in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Material aufgerufen werden.296 Für eine erste Künstler-Generation, die sich in den 1910er und -20er Jahren zunehmend für Aluminium in ihrem Werk entscheiden, mag der Vorteil der ‚Geschichtslosigkeit‘ durchaus nachvollziehbar sein.297 Und gemeinsam mit dem technischen Charakter des Materials – es stammt aus einem technischen Kontext und nicht wie etwa Bronze aus einem Kunstkontext – erscheint es als ideal für konstruktivistische Anliegen von zum Beispiel Vladimir Tatlin und Naum Gabo.298 Mit dem Verwenden des Werkstoffs in der Kunst beginnt auch seine semantische Auf- und Umdeutung. Nach den Konstruktivisten nutzen die Künstler des Futurismus den ‚neuen‘ Werkstoff, stellen die Charakteristika Technisierung, Schnelligkeit, Leichtigkeit, Zukunftsgewandtheit und Überlegenheit heraus und verknüpfen ihn mit einer nationalistischen Programmatik. Filippo Tommaso

295   Mextorf, Lars: Aluminium, in: Wagner/Rübel/Hackenschmidt 2002, S. 17–22, S. 18, vgl. auch Schäfke, Werner, Schleper, Thomas und Tauch, Max (Hgg.): Aluminium. Das Metall der Moderne. Gestalt Gebrauch Geschichte, Köln 1991, Marschall 2008 und Joliet 1988. 296   Vgl. z. B. Mextorf 2002 und Schäfke/Schleper/Tauch 1991. 297   Laut Ward 2008, S. 9 ist die Shaftesbury Memorial Fountain (1885–93) von Alfred Gilbert (Piccadilly Circus, London) die Plastik, für die erstmals Aluminium verwendet wird. 298   Naum Gabo und Noton Pevsner formulieren ihre zentralen Anliegen in Das Realistische Manifest, Moskau, 05.08.1920, in: Gabo 1961, S. 153 ff. Als künstlerisches Beispiel für das Werk Vladimir Tatlins kann hier Eckrelief von 1914/15 angeführt werden.

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II. Material

Marinetti etwa schreibt 1932: „Prepariamo una agilità di corpi italiani adatti ai leggerissimi treni di alluminio che sostituiranno gli attuali pesanti di ferro legno acciaio.“299 Auch in Deutschland wird in den 1930er Jahren zum Beispiel auf Industrieausstellungen das ‚deutsche Image‘ des Aluminiums propagiert.300 Hier löst es sich wieder zunehmend aus der Sphäre der Kunst und tritt verstärkt in den Bereichen der Kriegsindustrie und des häuslichen Lebens in Erscheinung. Nach dem Zweiten Weltkrieg greifen seit den späten 1940er Jahren zunächst Maler wie Jackson Pollock und Frank Stella wieder zum Aluminium in Form von Farben oder Bildträgern. In der Folge sind es die spiegelnden, reflektierenden, scheinbar schwerelosen Objekte von Heinz Mack, Otto Piene, Andy Warhol und Marisa Merz, die aus Aluminium bestehen. Und vor allem die Minimalisten, zum Beispiel Carl Andre, Sol LeWitt und Donald Judd nutzen den Werkstoff für ihre Arbeiten. In Rezeption und Kritik geht die intendierte Bedeutungslosigkeit der Minimal-Objekte Hand in Hand mit der vermeintlichen Traditions­losigkeit und semantischen Neutralität des Aluminiums.301 Ein solcher Kurzschluss ist allerdings zu hinterfragen. Schließlich ist das Material in den 1960ern bereits gut einhundert Jahre alt und es wird etwa halb so lang für Kunst genutzt. Das ist im Vergleich zu etwa Bronze eine kurze Zeitspanne, Geschichtslosigkeit kann hier allerdings wohl kaum konstatiert werden. In den 1980er und -90er Jahren entstehen selten aus Aluminium gegossene Kunstwerke. Zu nennen sind eher weniger rezipierte Künstler wie Jürgen Goertz oder Arnaldo Pomodoro. Generell scheint es den Künstler_innen, die nach 1945 zu Aluminium greifen, weniger um semantische Aussagen, als vielmehr um ein bestimmtes physisches Charakteristikum des Materials zu gehen, das an seiner Oberfläche zum Ausdruck kommt. Frank Stella schreibt 1970: „The aluminium surface had a quality of repelling the eye in the sense that you couldn’t penetrate it very well. […] That shimmering surface has very much its own kind of surface illusionism, its own self-containing space. You can’t quite go into it.“302

Und auch die bereits genannten Künstler_innen experimentieren für ihre oft „sphärische[n] Themen“303 mit den perfekten, spiegelnden, sich in Reflexen auflösenden Oberflächen des Aluminiums. Anders als beim Stahl der Rost, bei der Bronze die Patina oder bei anderen Materialien farbliche Fassungen, verändert sich die zum Glanz polierte Oberfläche des Aluminiums nicht. Die Oberfläche wird nicht durch Farbe geschlossen, sondern sie scheint aus dem Material selbst – im Zusammenspiel mit der Umgebung des 299   Marinetti, Filippo Tommaso: Il Manifesto della Cucina Futurista, in: Gazzetta del Popolo di Torino, 28.12.1930 (in: Marinetti, Filippo Tommaso und Fillìa, Luigi: La cucina futurista, Mailand 1986, S. 27). 300   Zu nennen ist z. B. das Lied vom Aluminium aber auch einiges mehr (vgl. dazu Falk, Susanne und Schwarz, Roland: Aluminium. Metall der Moderne, in: Schäfke/Schleper/Tauch 1991, S. 27–69). 301   Vgl. z. B. Mextorf 2002, S. 17. 302   Zitat Frank Stella, in Rubin, William S.: Frank Stella, New York 1970, S. 60. 303   Vgl. Aldinger 1971, S. 253.

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II.5 Aluminium

Objekts – zu kommen. Eine eigentümliche Verbindung aus Trägermaterial und Oberfläche kommt zutage, kein geheimnisvolles Inneres scheint verhüllt zu werden, eine Einheit von Innen und Außen scheint möglich. Ein postmoderner Oberflächenkult findet im glänzenden Aluminium seine absolute Entsprechung.304 (B) Thomas Schüttes Aluminiumfrauen werden ebenfalls in der Kunstgießerei Kayser ge­ gossen. Das Prozedere des Aluminiumgusses unterscheidet sich lediglich im Detail von dem des Bronzegusses. Alle formalen Schritte des Verfahrens sind – vom Gipsmodell, über den Formenbau, bis zum Guss und der Montage – identisch. Das Schmelzen und Gießen des Aluminiums erfordert allerdings weniger Hitze als die Verarbeitung von Bronze. Konkret bedeutet das in der Gießerei die Verwendung eines anderen Ofens (beide Öfen stehen in einer Halle wenige Meter voneinander entfernt305) und andere Sicherheitsvorkehrungen für die Mitarbeiter_innen. Als drittes Material der Ausführung ändert auch das Aluminium – ebenso wie Stahl und Bronze – nichts an den bereits im Gips fixierten Volumen der Plastiken. Der Unterschied liegt, sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption, an der Oberfläche. Nachdem die einzelnen gegossenen Metallteile miteinander verschweißt und die Schweißnähte geglättet sind, werden die Aluminiumexemplare ­poliert. Die metalleigene Farbigkeit wird somit – anders als bei gerostetem Stahl und patinierter Bronze – (zunächst) nicht von außen verändert. Durch das Polieren wird die zentrale Aluminium-Eigenschaft – das silbrige, spiegelnde Glänzen – verstärkt. Die Oberflächen der Aluminiumfrauen sind in ihren Strukturen somit homogen und glatt. Ihr Farbeindruck hängt von den Lichtverhältnissen und der Beschaffenheit der Umgebung ab. Alles was sich in der Nähe der Frauen befindet und das gesamte materielle Umfeld der Figuren – im Außenraum der Himmel, Architekturen, und freie Flächen, im Innenraum Wand-, Boden-, und Deckenfarben, Interieur und ggf. Lichtquellen –, bestimmt die generelle Grundfarbigkeit schemenhaft oder spiegelt sich detailliert und konkret in ihren Oberflächen; die Frauen bilden ab. So kann eine Aluminiumfrau, die im Museumsraum mit dunklen Wänden und gedimmten Licht installiert ist, einen warmen, gelblich-beigen Farbunterton haben und partiell – durch die geschwungenen Oberflächen verzerrte – Spiegelbilder der Betrachter_innen zeigen, während eine Aluminiumfrau unter freiem Himmel, etwa in einer Parksituation, in kühlen, bläulich-grünen Farben schemenhaft Umrisse von Bäumen oder eine Horizontlinie erkennen lassen kann. Auch, wenn das Material sich mit der Zeit verändert und durch Umweltfaktoren   Vgl. z. B. Stauffer, Isabelle und Keitz, Ursula von: Lob der Oberfläche. Eine Einleitung, in: Arburg, Hans-Georg von, Brunner, Philipp, Haeseli, Christa M., Keitz, Ursula von, Rosen, Valeska von, Schrödl, ­Jenny, Stauffer, Isabelle und Stauffer, Marie Theres (Hgg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Zürich 2008, S. 13–31, S. 24 ff. 305   Bronze wird allerdings sehr viel häufiger gegossen als Aluminium, weil die Nachfrage viel größer ist; sie ist das Kerngeschäft der Kunstgießerei Kayser, Düsseldorf. 304

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II. Material

im Außenraum matt, stumpf und milchig werden kann, so sind die momenthaften, temporären, sich wandelnden Faktoren, wie Licht und unmittelbare Umgebung einschlägiger am Gesamteindruck beteiligt, als sie es etwa bei den Bronzefrauen sind. Während die Veränderungen zur Bronze dazugehört, ist es dem Aluminium nicht gestattet, sich tatsächlich materiell und dauerhaft zu verändern. Hier sind die äußeren Faktoren insoweit am Kunstwerk beteiligt, als dass sie sich an der Oberfläche spiegeln, von ihr abgebildet werden. Sie schreiben sich aber – anders als bei Stahl und Bronze – nicht ins Material ein. So sind die Aluminiumexemplare für den Innenraum gedacht, um einer dauerhaften Materialveränderung vorzubeugen.306 Gleiches gilt für die Hände des Künstlers und der Mitarbeiter_innen. Im Falle eines Patinaauftrags hinterlässt jede_r Patinierende andere Spuren, die Oberflächen der Aluminiumfrauen weisen dagegen keinerlei Bearbeitungs­spuren auf. Während die Stahlfiguren auf Veränderung  – auf Rostbildung, die durch die Behandlung mit Säure forciert wird – angelegt sind und Bronze sich auf eher künstlerische Art durch Patina und durch die Umweltfaktoren sanft verändert, soll die Aluminium­ oberfläche möglichst unbehandelt und unveränderlich, ja statisch bleiben. Man könnte also folgern, dass sich vom Stahl zur Bronze zum Aluminium ein Prozess der Entfernung vollzieht. Der Eingriff in die Materialoberflächen wird immer distanzierter, während das pure Material immer sichtbarer wird.307 Für die ganz konkrete Erscheinung der Figuren bedeutet das Aluminium aber nicht nur eine glatte, spiegelnde, homogene, perfekte Oberfläche, sondern darüber hinaus eine Oberfläche, die dazu tendiert, sich in Reflexen aufzulösen. Konturen verschwimmen, die Präsenz der Figur verändert und verunklärt sich. Sie ist weniger massiv, eher fließend, entrückt, fast immateriell. Diese spezielle Wirkung beschreibt auch der Künstler, allerdings in Bezug auf eine frühere Werkgruppe, die Geister, die ebenfalls in den drei Metallen ausgeführt wurde:308 306   Diese Information stammt aus einem Gespräch zwischen Thomas Schütte und der Autorin am 10.08.2016 in der Düsseldorfer Wohnung des Künstlers. (Im Außenbereich des Museum Ludwig, Köln war temporär eine Aluminiumfrau (Nr. 13) installiert. Aufgrund von Witterung und Vandalismus kam die besondere Materialität nicht optimal zum Tragen.) Dietrich Mahlow fasst 1981 zusammen: „Will man eine raue Oberfläche, dann scheidet Aluminium als Gußmaterial aus. Die stumpf-gespannte Aluminium-Oberfläche wirkt vorteilhaft bei Arbeiten mit einem glatten prallen Charakter oder mit exakten geometrischen Formen. Zur Geltung kommt die nichtlebendige Oberfläche nur, wenn sie bis ins letzte durchgefeilt und poliert wird. Mit der Zeit bekommt Aluminium in freien Räumen eine ungefällige, schmutzige Oberfläche. So sind Aluminiumgüsse für die Aufstellung in Innenräumen geeignet; für Außenräume nimmt man – bei entsprechender Konzeption – Stahl, dessen Materialcharakter unverwechselbar und bei bestimmten Skulpturen sehr wirkungsvoll ist.“ (Mahlow 1981, S. 26). 307   Die Untersuchung der Weiterbearbeitung der Aluminiumoberflächen mit Lack ist Teil des folgenden Unterkapitels Oberflächenmaterialien. 308   Die Materialwahl für die Frauen geht generell auf die Materialwahl für die vorangegangene Werkgruppe, die Großen Geister (1995–2004), zurück: Schütte gibt an, dass er, nachdem er die Kleinen Geister aus Wachs modelliert hatte, auf der Suche nach einem haltbareren, härteren Material gewesen sei. So kam er im Jahr 1995 in die Kunstgießerei Kayser, um die Kleinen Geister in Aluminium ausführen zu lassen. Später in den 1990er Jahren begann er mit der Produktion der Großen Geister, die er – wie die späteren Frauen – in Alu-

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II.6 Oberflächenmaterialien

„Die polierte Aluminiumversion läßt die Figuren in der Oberfläche aufgelöst erscheinen. […] In Stahl […] stehen eben die massiven Körper im Raum, richtig körperlich. In Aluminium sind die >Großen Geister< eher elektrisch, geistig, schillernd, nicht klar zu fassen.“309

Und an anderer Stelle: „Guckt man rein, zerlegen sich die Oberflächen durch irgendwelche Reflexe.“310 Aufgrund der spezifischen Materialeigenschaften wirken die großformatigen Figuren aus Aluminium entrückt, konturlos, fließend, fast wie Hybride aus dem Stoff, aus dem sie bestehen und den Dingen, die sie umgeben. Sie erwecken den Eindruck, als könnten sie jederzeit ihre Form ändern und erhalten eine Leichtigkeit und einen Science-­Fictionhaften Anschein. Assoziationen, die laut Materialikonographie inkludiert sein müssten, spielen entweder keine Rolle oder werden allein durch die visuelle Anschauung aufgerufen. Man muss nicht wissen, dass Aluminium die Luftfahrt einschlägig weiterentwickelt hat und dass der Energiebedarf zur Aluminiumherstellung immens ist, um das Material für leicht, technologisch und futuristisch zu halten. In dem Moment, in dem eine überlebensgroße Aktfigur in Aluminium ausgeführt wird, kommt die unverwechselbare Materialität des Werkstoffs zum Ausdruck. Aber dabei bleibt es nicht.

II.6 Oberflächenmaterialien Innerhalb der Werkgruppe werden die Oberflächen aller Exemplare, die die Werkstätten verlassen und in Museen oder auf den Kunstmarkt gelangen, auf verschiedene Arten bearbeitet: Die Ceramic Sketches sind glasiert, die Stahlfrauen erhalten eine Rostschicht, die Bronzefrauen werden mit einer Patina versehen und die Aluminiumexemplare bekommen – allerdings erst spät, mehr als zehn Jahre nachdem die erste Aluminiumfrau (1999) fertiggestellt ist, – teilweise eine farbige Lackschicht. Die Gipsversionen, die reines Arbeitsmaterial sind und die nach ihrem Gebrauch zerstört werden, bleiben entsprechend ‚nackt‘. Die spezifischen Materialitäten der Ursprungsmaterialen verschwinden teilweise unter anderen Stoffen oder verändern sich deutlich; sie werden auf verschiedene Weisen modifiziert, zum Teil negiert, während die Materialien der Oberflächen auf unterschiedliche Weisen Einfluss auf die Produktion und die (finale) Gestalt der Kunstwerke nehmen.

minium, Bronze und Stahl gießen ließ. Auf die Fragen, warum er sich für Metall entschieden habe und aus welchem Grund er gerade diese drei bestimmten Metalle gewählt habe, gibt er an, er habe sich für die Geister gezielt für Aluminium interessiert und sei dann, auf der Suche nach anderen Möglichkeiten, auf Bronze und Stahl gestoßen. Er sagt, wenn es noch andere Möglichkeiten gegeben hätte, beispielsweise Bleiguss, hätte er auch diese ausprobiert. (Diese Informationen stammen aus einem Gespräch zwischen Thomas Schütte und der Autorin am 10.03.2009 in der Düsseldorfer Wohnung des Künstlers.) 309   Zitat Thomas Schütte, in: Winzen 1997, S. 110. 310   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 147.

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II. Material

Bei allen Exemplaren der vielteiligen Werkgruppe (ca. 120 Tonskizzen und 90 Großplastiken) ist die Oberflächenbearbeitung integraler Bestandteil und letzter Schritt der Fertigung. Die Figuren werden zusätzlich individualisiert und damit unterscheidbarer. Lediglich die Oberflächen der Aluminiumfrauen werden zunächst einheitlich spiegelnd poliert. Erst im Jahr 2011 beginnt Thomas Schütte auch sie weiter zu bearbeiten. Der Großteil der 18 Aluminiumexemplare bleibt, wie er ist, und sieben der Figuren werden an dem Ort ihrer Produktion, in die Kunstgießerei Kayser, mit einem hochwertigen, schimmernden, changierenden Lack überzogen.311 Diese Exemplare sind dann beispielsweise dunkelrot, goldig-gelb, pechschwarz oder kräftig lila. Ihre Oberflächen sind hochglänzend und makellos. Die Frauen erscheinen dann wie reine Oberflächen. Den Betrachter_innen ist sofort klar, dass sie nicht gänzlich aus diesem artifiziellen Hochglanz-Stoff bestehen können, dass etwas darunter sein muss, aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, was sich unter der deckenden, glitzernden Lackschicht befinden könnte. Das Aluminium ist vollkommen negiert, die Frauen erhalten einen nahezu schrillen Anschein, der mit den klassisch anmutenden Formen der Frauen und den anderen verwendeten Materialien auf irritierende und produktive Weise kontrastiert. Im Fall von Aluminiumfrau Nr. 1 (Abb. 14) wurde der weiße (Grundierungs‑)Lack partiell wieder heruntergeschliffen. Die homogene, glatte, dicht scheinende Lack-Oberfläche ist in dem Fall zerstört; es entstehen unregelmäßige Flächen des darunterliegenden, silbrigen Aluminiums und die unruhige, gescheckte Oberfläche erinnert auf erstaunliche Weise an die Oberflächen der Ceramic Sketches (Abb. 15). Auf die kleinformatigen Tonplastiken (Abb. 3) wird auf verschiedene Weise farbiges, opakes Glas aufgeschmolzen. Diese Glasuren wirken teilweise wie über die Figur und die Sockelplattform gegossen und manchmal scheint die Figur wie in ihr ertränkt. Häufig haben die Glasuren sich dabei zusammengezogen und Bläschen gebildet. Eine Figur kann mit nur einer oder mit mehreren Farben bearbeitet worden sein. Es lassen sich auch Beispiele ausmachen, die einen differenzierteren Umgang mit der Glasur zeigen. Der farbige Überzug ist dann entweder gleichmäßig flächig oder differenziert auf einzelne Flächen aufgetragen und die Farbgebung des Sockels ist beispielsweise klar von der Figur zu unterscheiden. Teilweise sind auch einzelne Elemente der Figur, etwa die Haare, farblich differenziert gestaltet, sodass es den Betrachter_innen leichter fällt, die figürlichen, menschlichen, weiblichen Formen zu entschlüsseln. So kann die Glasur Formen klären und gleichsam verunklären. Wie bei den großformatigen Aluminiumfiguren gibt es also verschiedene Verhältnisse zwischen Träger- und Oberflächenmaterial, unglasierte Tonexemplare gibt es allerdings nicht. Besonders die Ceramic Sketches, die über einheitliche Glasuren verfügen, die sich zusammengezogen haben und das darunterliegende Material Ton punktuell freigeben, erinnern visuell an die bearbeitete Aluminium311   Zwei Exemplare unterscheiden sich: Aluminiumfrau Nr. 10 und Aluminiumfrau Nr. 16 sind weder lackiert, noch poliert; sie weisen beide matte, raue, verwitterte bzw. sandgestrahlte Oberflächen auf, die die grobporige Struktur der Oberflächen unterstreichen.

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II.6 Oberflächenmaterialien

frau Nr. 1. Nur hat in diesen Fällen nicht der Künstler die Oberfläche manuell verändert, sondern im Ofen haben sie sich aufgrund eines technischen Fehlers entsprechend ent­ wickelt.312 Beide Oberflächen – die Glasur und der Lack – erscheinen von einem klassisch-konservativen Standpunkt aus betrachtet zerstört, ihre intendierte Makellosigkeit ist nicht mehr gegeben (Aluminiumfrau Nr. 1), beziehungsweise konnte gar nicht erst entstehen (Glasuren). Mit dieser Erwartungshaltung, der Vorstellung, wie die Oberfläche e­ ines plastischen Werks – vor allem in Bezug auf das Material Bronze – aussehen sollte, haben sich zahlreiche Künstler_innen beschäftigt.313 Bronze in ihrer ursprünglichen goldig-glänzenden Farbigkeit sieht man selten. Fast immer ist sie mit einer Patina versehen, die sehr unterschiedlich gestaltet sein kann.314 Thomas Schütte hat die Patina der Bronzefrauen teilweise selbst aufgetragen und er beschreibt diesen Prozess und vergleicht ihn mit dem Glasieren: „Die Patina habe ich selber gemacht, indem ich die Figuren mit Hitze und Säure behandelt habe. […] Dann trägt man Wachs auf, das den Oxydationsprozess stoppt. Es hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Glasieren.“315

Am Beispiel der Patina lässt sich ebenfalls das System der Wertehierarchien anhand von Oberflächen ablesen. Die Oberfläche der ranghohen Bronze wird als edel angesehen; Korrosion, Licht, Feuchtigkeit und Schmutz verunstalten sie nicht etwa, sondern versehen sie mit einer ehrwürdigen, Dauer und Beständigkeit evozierenden Patina: „[…] Bronze, die einen warmen Ton, einen lebendigen Lichtschimmer, auf bräunlicher Unterlage einen matten Goldglanz hat, und durch das Alter selbst mit einem edlen Roste, der grünen Patina, mehr geschmückt als verunstaltet wird.“316

Rostender Stahl hingegen wird gemeinhin eher mit Stillstand und zerstörerischem Altern assoziiert.317 Wie gezeigt wurde, spielen diese semantischen Komponenten in Bezug auf die Frauen eine untergeordnete Rolle, es ist aber festzuhalten, dass diese Einschreibungen stark von den Oberflächenwirkungen abhängen, sich als oberflächliche Deutungskategorien an den Oberflächen ablagern. Zusammenfassend ist für die Oberflächengestaltung der verschiedenen Materialien darüber hinaus festzuhalten, dass sich alle Werke (im Kontrast zum Gipsmodell) durch eine charakteristische Oberflächengestaltung auszeichnen. Sie alle bekommen den letzten   Der Fehler-Begriff wird im Kapitel Produktion behandelt.   Vgl. z. B. Dinkla 2016. 314   Immer schon wurde durch besondere Legierungen und durch nachträgliche Prozesse Einfluss auf die Farbigkeit genommen, die von einem lichten Goldton bis fast zu Schwarz reichen kann. Im öffentlichen Raum ist das patinierte Grün allerdings die gängige Farbe. 315   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 82. 316   Carrière 1885, S. 143. 317   Neuerdings gilt Rost auch als Zeichen für Natürlichkeit (vgl. Weber 2008, S. 177). 312 313

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II. Material

Schliff, werden abschließend behandelt, versiegelt, fertiggestellt. Dieser letzte Schritt findet allerdings in verschiedenen Intensitäten und mit unterschiedlich großem Anteil des Künstlers und anderer Akteure statt: Die Ceramic Sketches werden vorgeblich fehlerhaft und experimentell glasiert, sodass die Glasur sich im Ofen auf schwer vorhersehbare Weise verändert. Der unkontrollierbare Moment im Ofen, der immer, auch bei technisch einwandfreiem Vorgehen, Überraschungen birgt, wird kalkuliert noch unvorhersehbarer, indem Thomas Schütte die Produktionsparameter so verschiebt, dass dieser gestalterische Akt ohne ihn stattfindet. Er wählt die Farben aus und trägt sie auf, aber in dem Moment des Brands, in dem sie unveränderbar zur Oberfläche der Ceramic Sketches werden, kann er keinen Einfluss nehmen. Die Oberflächen der Stahlfrauen werden mit Säure behandelt, sodass sie gleichmäßig rosten. Im Prinzip vollzieht das Material den Prozess aus sich heraus, der Künstler beschleunigt und kontrolliert ihn allerdings. Nachdem ein bestimmter Rostgrad eingetreten ist, verändert sich das Material kaum weiter.318 Der Stahl schützt sich gewissermaßen durch die Rostschicht selbst. Auf die Gestalt der Patina der Bronzefrauen hat Thomas Schütte mehr Einfluss, wenn er sie (teilweise) eigenhändig aufträgt. Er bestimmt die Farben und die Intensität und ebenfalls das Ende der Materialveränderung, indem er den Zustand durch das Auftragen von Wachs konserviert und den Prozess stoppt. Sein Einfluss ist allerdings mit Einschränkungen zu betrachten, denn die Dinge verändern sich ebenfalls auf unterschiedliche, schwer kalkulierbare Weisen: „Bei den Bronzeskulpturen war es so, dass es um so schlimmer wurde, je mehr ich machte. […] In gewisser Hinsicht ist es wie beim Zeichnen, man zeichnet und zeichnet, und an einem bestimmten Punkt hört man auf und muss sich entscheiden – gut, schlecht, okay oder eine Woche warten und hoffen, dass es von alleine besser wird.“319

Auch nach der Fertigstellung verändert sich die Bronzeoberfläche, vor allem im Außenraum ohne zielgerichtetes Zutun des Künstlers weiter. Die Aluminiumfrauen hingegen sind zunächst pures Material. Das Metall ist dermaßen geglättet und poliert, dass es sich in Reflexen aufzulösen scheint und lediglich den Umraum spiegelt. Hier scheint das Material nicht überwunden worden zu sein, indem es verhüllt (Glasur), zerstört (Rost) oder verändert (Patina) wird, hier wird es durch Hochglanz entstofflicht. Und es stellt sich ganz besonders die Frage, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, von dem Material Aluminium zu sprechen, wird es doch wie ein verbrauchtes Relikt zurückgelassen.320 Offenbar   Wenn Stahl über längere Zeit im Außenraum aufgestellt ist und sich z. B. Staunässe an Stellen bildet, an denen Wasser nicht ablaufen kann, verändert sich das Material und korrodiert langsam weiter (v. a. als ­Kontaktkorrosion an den Verbindungsstellen zwischen Figur und Sockel). An dieser Stelle geht ein herzlicher Dank an die Restauratorin Frederike Breder des Museum Folkwang, Essen für ihre hilfreichen Hinweise zu Stahlfrau Nr. 11, die dauerhaft im Innenhof des Museums unter freiem Himmel ausgestellt ist. Das Gespräch fand am 30.09.2016 in Essen statt. 319   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 82. 320   Für den „reliquiare[n] Charakter“ des Materialkerns vgl. Brückner, Wolfgang: Dingbedeutung und Materialwertigkeit. Das Problemfeld, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums und Bericht aus dem Forschungsinstitut für Realienkunde, Nürnberg 1995, S. 14–21, S. 17. 318

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II.7 Zusammenfassung

ist diese Form der Oberfläche nicht überzeugend, denn sie wird teilweise komplett unter einer dichten Lackschicht verborgen, die von einem spezialisierten Gießereimitarbeiter in Schichten aufgetragen wird und den spezifischen Eindruck des Verschwindenlassens des Materialkerns unterstützt. Und in einigen Fällen wird wiederum diese neue Oberfläche durch das Schleifen zerstört und damit erneut weiterbearbeitet. Die Zurichtung des Materials durch den Künstler nimmt in chronologischer Folge innerhalb der Werkgruppe zu. Die Glasuren werden durch den Eigensinn des Materials und anderer Akteure (z. B. den Ofen) bestimmt. Der Rost entsteht ebenfalls ohne großen Einfluss von Thomas Schütte. Auch eine Patina würde sich im Laufe der Zeit durch das Material selbst (in Kooperation mit Umwelteinflüssen) entwickeln, hier nimmt er aber gezielt Einfluss und gestaltet entscheidend, wenn auch nicht vollends mit. Und während die erste Version der Aluminumfrauen lediglich poliert wird, wird das Material durch einen Handwerker zunächst völlig negiert, um dann durch den Künstler partiell wieder freigelegt zu werden. In diesem einen Fall bestimmt er abschließend jeden einzelnen Eingriff, er erhebt sich über den Eigenanteil des Materials und über die Arbeit des Lackierers.

II.7 Zusammenfassung Innerhalb der Werkgruppe Frauen dient Ton einer ersten Annährung an das Thema durch zügiges Modellieren im kleinen Format. Alle so entstandenen plastischen Skizzen werden glasiert, zu Ceramic Sketches gebrannt und damit unveränderbar und haltbar. 18 der etwa 120 Entwürfe werden anschließend in Gips vergrößert und die Figuren erhalten ihre endgültigen Formen. Nachdem die Gussformen für die jeweils fünf Metall-Ausführungen von den großformatigen Gipsmodellen abgenommen wurden, werden diese entsorgt. Es folgt das Gießen in Stahl, Bronze und Aluminium. Abschließend werden die Oberflächen der Metallplastiken mithilfe verschiedener Stoffe und Techniken behandelt. Die Analyse der Materialübertragungen und ‑wechsel gibt Aufschluss darüber, auf welche Weisen und auf welchen Ebenen die verwendeten Werkstoffe Anteil am Kunstwerk haben. Der vermeintlich widerstandslose Ton bestimmt die Gestalt der Figuren – entgegen des gängigen Bildes eines charakterlosen Werkstoffes – entscheidend mit und er transportiert sich durch die entstandenen Formen in die großformatigen Gipsversionen, die dann wiederum bearbeitet werden, weiter. Die physischen Eigenschaften des Gipses nehmen – entgegen der Idee vom Gips als reinem Transfermaterial – wiederum Einfluss auf die Formen der Figuren, wenn, im radikalsten Fall, etwa Teile abbrechen. Die Gestaltungskräfte von Ton und Gips sind also den (hohlen) Metallversionen inhärent, während deren Anteil am Werk sich an die Oberflächen verlagert. Stahl, Bronze und Aluminium lassen sich – anders als Ton und Gips – nicht modellieren oder hauen; sie werden auf nahezu identische Weisen verarbeitet, nämlich verflüssigt und dann in Form gegossen.

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II. Material

Trotzdem unterscheiden die drei Versionen sich, vor allem in ihrer Farbigkeit und in ihrer Struktur, wesentlich voneinander. Sie bestimmen die Wirkung der Frauen, auch durch ihre spezifischen Oberflächen – Rost, Patina, Lack – mit, lassen sie etwa schwer, rau und fleischig oder leicht, glatt und fließend erscheinen. An verschiedenen Punkten der Produktion scheint das Material mit seinem Eigensinn und seinen spezifischen Eigenschaften konkret auf. Dann wirkt es auf die Form des Kunstwerks ein und wird zum Gestaltungspartner. Entweder nimmt es dann eher aktiv Einfluss auf die Gestalt der Figuren (etwa, wenn die Glasur sich im Ofen zusammenzieht) oder es entscheidet auf passivere Art mit, wie die Figur aussieht, indem es zum Beispiel bestimmte Formen nicht zulässt. Ein auf die Rolle der Werkstoffe fokussierter Blick verdeutlicht darüber hinaus, dass diese die Produktionsparameter wesentlich mitbestimmen. Ihre spezifischen Ansprüche bestimmen die Produktionsorte, die zu nutzenden Techniken, die dafür notwendigen Werkzeuge und Maschinen und darüber hinaus auch den Anteil der menschlichen Akteure, der Fachkräfte und Helfer_innen und in letzter Konsequenz auch den des Künstlers. Während Thomas Schütte zu Beginn des Prozesses, beim Modellieren des Tons ganz unmittelbar mit seinen Händen im Material beteiligt ist und er sich am Widerstand des Materials abarbeitet,321 kann er beispielsweise auf die Vorgänge, die in der Industriegießerei geschehen, keinen Einfluss nehmen und die Gestalt der Patina etwa kann er zwar entscheidend lenken, nicht aber final bestimmen. Der vonseiten des Materials in den Blick genommene Produktionsprozess stellt sich somit als komplex und gleichsam dynamisch dar, indem sich – in Abhängigkeit von den Werkstoffen  – nicht nur Faktoren wie Technisierungsgrad, Arbeitsteiligkeit, Körper­ bezogenheit und Subjektbezogenheit verschieben, sondern auch klassische Vorstellungen von Künstler und Kunstwerk in binären Strukturen dekonstruiert werden. Damit geraten auch die Vorstellungen von einem inhaltlichen Aussagewert der Werkstoffe ins Wanken. Die Multiplikation einer Form in unterschiedlichen Materialien verdeutlicht, dass eine materialikonographische beziehungsweise ‑ikonologische Lesart in Bezug auf die Frauen die Relationen im Produktionsprozess zwischen Material und Form nicht sichtbar werden lässt. Wie die materialspezifischen Abschnitte dieser Arbeit zeigen, lassen sich die natürlichen, allegorischen, religiösen, historischen Aussagemöglichkeiten von etwa Stahl, Bronze und Aluminium und auch ihre Positionen innerhalb tradierter Hierarchien durchaus bestimmen. Doch als anwendbare Deutungskategorien für die Interpretation der Werkgruppe sind sie kaum verwendbar. Denn in den Frauen vollzieht sich nicht etwa eine Aktualisierung der alten Materialtrias Gold-Silber-Erz in eine zeitgemäße Stahl-Aluminium-Bronze-Version, sondern

321   Zu der Entwicklung der Form am Widerstand des Materials bei Thomas Schütte vgl. auch Reust, Hans Rudlof: A Modernist Myth, in: Schütte, Thomas: Mann im Matsch, Düsseldorf 2009, S. 40–45, S. 44.

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II.7 Zusammenfassung

eine (systematische) semantische Entleerung der Materialien.322 Die Verwendung von dem vergleichsweise jungen Aluminium, das selten für Kunst und so gut wie nie für figurative Großplastiken genutzt wird, Stahl, der in der Moderne zum angemessenen Material für abstrakte Kunst wird und Bronze, die aufgrund ihrer Verwendungstradition das klassische Material für figurative Plastik ist, sorgt für eine Gleichberechtigung der drei aus unterschiedlichen Kontexten stammenden, mit verschiedenen Konnotationen und Aussagewerten aufge­ladenen Metalle. In der Werkgruppe Frauen werden sie allesamt auf die gleiche Weise verarbeitet und für dieselbe Form genutzt. Und die Frage, welchen Anteil sie durch ihre bloße Verwendung am Kunstwerk haben, wird durch die Analyse der Prozesse und durch die bloße Anschauung der Arbeiten in den variierenden Materialitäten verhandelt. Die starre Kategorie der Materialsemantik wird hier zugunsten einer dynamischeren Materialästhetik, die den Fokus auf die vielfältigen und dynamischen Materialitäten legt, dekonstruiert.323 Fragen wie ‚Was trägt das Material durch seine „Kunstgeschichtlichkeit“324 oder Verwendungstradition zur Bedeutung bei?‘ ‚Welche Aussage trifft der Künstler inhaltlich, wenn er sich zum Beispiel für ein traditionsreiches, teilweise verschmähtes Material wie Bronze für seine Figuren entscheidet?‘ ‚Welche Assoziationen entstehen, wenn ein dem industriellen Kontext entstammendes Material wie Stahl verwendet wird?‘ laufen hier ins Leere. Hilfreich erscheinen dagegen Fragen nach dem Anteil des spezifischen Materials am Werk, durch seine konkrete Schöpfungskraft (Eigensinn) oder seinen generellen Einfluss auf die Produktion (z. B. auf Orte und Techniken) mit den Zielen der Auflösung tradierter Hierarchien und Kategorien durch ein dezidiertes Vorführen von Möglichkeiten. Die Betonung der Ausführung der Kunstwerke erscheint als wesentlich für dieses Konzept. Thomas Schütte: „Ich drücke halt nicht den Zeigefinger auf einen Knopf, sondern stehe mit zwei Füssen und zwei Händen im Material und fange an, das zu bearbeiten, ohne an das Resultat zu denken. Das Material bestimmt stark, was passiert, und die Schnelligkeit, denn wenn die Skizze zu Ende ist, dann kann man nicht mehr viel dran machen. Man kann dann von der Skizze weiter ausgehen, sich weiter herantasten an etwas, das man gar nicht kennt, quasi deutlich werden durch die Bewegung um einen Punkt, ohne diesen Punkt anzutasten. Wenn man die Methoden wechselt oder auch die Materialien, dann kann man den Tod überleben durch Schnelligkeit, durch Wechseln des Standpunktes.“325

322   Die Trias Gold-Silber-Bronze wurde geprägt durch z. B. Jesaja 60,17 und wird bis heute, z. B. in Bezug auf Sportmedaillen, aufrechterhalten. 323   Die Begriffe Materialsemantik, Materialikonographie und Materialikonologie werden in der Forschung nicht eindeutig voneinander differenziert. Dazu vgl. auch Raff, Thomas: Überlegungen zur Methode der Materialikonologie, in: Lipinska, Aleksandra (Hg.): Material of Sculpture. Between Technique and Semantics, Breslau 2009, S. 217–227 und Zuchowski, Tadeusz J.: Sculpture material research. Odering the problems, in: Lipinska 2009, S. 23–31. 324   Raff 2008, S. 158. 325   Zitat Thomas Schütte, in: Winzen 1994, S. 21.

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II. Material

Die Kunstwerke entstehen (entgegen gängiger Idea-Konzepte mit Originalitätsanspruch) erst durch ihre Ausführung. Die Plastik, wie sie ursprünglich gedacht war, gibt es hier nicht. Im Gegenteil wird ein Formenschatz angereichert, der sich im Prozess die eigenen Ergebnisse immer wieder einverleibt. In ihm werden vermeintlich eindeutige Kategorien, Setzungen und Begriffe ausgehöhlt und verschoben, sodass auch die Frauen, als Ergebnisse dieser Prozesse, im indifferenten Schwebezustand verharren. Material (Ton) wird zur Form (Ceramic Sketches) und diese Form wird wieder Material, das zur Form (Gipsmodell) wird, die wiederum übersetzt wird (Metalle) und sich weiter verändert. Die Grenze zwischen dem, was Form und dem, was Material ist, verschwimmt während der zahlreichen Übersetzungsprozesse (die hier nicht enden) und es wird deutlich, dass sie es sind, auf die ein weiterer Fokus gelegt werden muss, um die Analyse der Frauen weiter zu vertiefen.

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III. TRANSFORMATIONSPROZESSE

Innerhalb der beschriebenen Produktionsmuster und Material- und damit Formübersetzungen werden Transformations- und Aneignungsprozesse sichtbar, die von einer eher technischen, materiellen Ebene der Kunstwerke zu einer Ebene des Dargestellten, des Sujets führen. Zentrale Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, lauten: Wie werden, erstens, aus den circa 120 Ceramic Sketches 18 Frauen? Und dabei im Speziellen: Welchen Status haben die plastischen Skizzen im Werk Thomas Schüttes und wie lassen sie sich beschreiben und (ein)ordnen? Welchen Charakter weisen schließlich die Transformationsprozesse hin zu den großformatigen Metallplastiken auf und wie sind in diesem Zusammenhang die etwa 100 vermeintlich überschüssigen, weil nicht vergrößerten Ceramic Sketches zu bewerten? Zweitens stellt sich die Frage nach den Bezugsystemen: Welche weiteren Vorlagen außerhalb des eigens geschaffenen Bildervorrats gelangen (auf welchen Wegen) in die Werkgruppe? Aus der Realität, der Fiktion und der Kunstgeschichte werden mögliche Vorbilder deutlich, zu denen mittels unterschiedlich charakterisierter Aneignungsprozesse Bezüge hergestellt werden. Welche Formen dieser Inbesitznahme lassen sich destillieren?

III.1 Ceramic Sketches Die Anlage eines eigenen Formenrepertoires ist eine zentrale künstlerische Strategie in Thomas Schüttes gesamten Œuvre, die bereits in der frühen Arbeit Lager aus dem Jahr 1978 sichtbar wird. Schütte präsentiert sie während des Rundgangs der Kunstaka­ demie Düsseldorf in der Klasse von Gerhard Richter, in der er zu diesem Zeitpunkt studiert. Die Arbeit besteht aus 150 Holzplatten verschiedener Formate zwischen 30,5 mal 17 und 137 mal 68 Zentimetern. Jeweils drei gleichgroße und in einem Farbton lackierte Platten sind zusammengestellt und ergeben 50 akkurate Stapel. Diese wiederum sind so neben- beziehungsweise hintereinander an zwei aufeinanderstoßende Wände des Klassenraums gelehnt und gestaffelt, dass kein Element verdeckt wird. Zwischen die einzelnen Elemente sind, offenbar zur Schonung der lackierten Oberflächen, Schaumgummistücke geklemmt. Jede der Platten weist vier – jeweils eins in jeder Ecke – Löcher auf, die als Hängevorrichtungen zu fungieren scheinen. Der ursprüngliche Titel der Installation

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III. Transformationsprozesse

lautet Sortiment und verweist somit klarer auf die Analogie zu einem Warenangebot:326 Der Künstler präsentiert den Betrachter_innen, Interessent_innen, Händler_innen, Kunden_innen seine Produkte übersichtlich sortiert in verschiedenen Farben und Größen, nicht festgelegt auf Hoch- oder Querformat, zum selbst auswählen und zusammenstellen, passend zu jedem Sofa, über dem ein Werk installiert werden soll.327 Doch die inhärente Kunstbetrieb-Kritik soll hier nicht thematisiert werden. Stattdessen steht das Schaffen von „unbegrenzten Möglichkeiten“328 und damit das Infragestellen des definitiven Charakters eines Kunstwerks, das Vorstellungen zu einem abgeschlossenen Einzelwerk als eine veränderbare Möglichkeit von vielen dekonstruiert, im Vordergrund.329 Diese Arbeit verharrt auf der Ebene des Vorschlags und sie sträubt sich vor dem Abschluss, der endgültigen Form. James Lingwood formuliert während eines Interviews mit Thomas Schütte 1998 in Bezug auf Lager: „[…] the work was in a state of waiting to be, of not being fully made, […].“ Und Schütte ergänzt: „[…] and storage is a more ­potential state.“ und weiter: „It was important to me to keep a lot of possibilities in play. ‚Repertoire‘ was an important word for us at the time.“330 In den folgenden Arbeiten, die meist in Werkgruppen entstehen, bleibt das betonte Vorführen von Ideen, der Vorschlagscharakter zum Nachteil des gültigen Einzelwerks im Vordergrund.331 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem Schüttes Architekturmodelle, die er seit 1980 entwickelt und die als Modelle von vornherein den Zwi­ schenstatus zwischen Entwurf und Ausführung in sich tragen sowie ebenfalls seine in­ stallativen, an Bühnenbilder erinnernden Arbeiten, wie etwa Laufbahn (Abb. 7) von 1987, die mögliche Szenerien in provisorisch erscheinenden Kulissen andeuten.332 Auch inner-

326   Vgl. Schneede, Uwe M.: Über Zusammenhänge in einem widersprüchlichen Werk. Zu Thomas Schütte, in: Schneede/Schneede 1997, S. 103–114, S. 103. 327   Bestandteil der Arbeit ist ein Handbuch, ähnlich einem Warenkatalog, in dem Schütte die verschiedenen möglichen Kombinationen und Anordnungen vorschlägt. 328   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 1998, S. 20. 329   Als formale und inhaltliche Verwandtschaften zu Zeitgenossen sind hier u. a. Franz Erhard Walther, Imi Knoebel oder Gerhard Richter, der einige Jahre zuvor Farbtafeln geschaffen hatte, auszumachen. Darüber hinaus scheint der Batterie-Gedanke (Stapel/Block als Energie-Potential) von Joseph Beuys verwandt. 330   Lingwood 1998, S. 21. Vgl. auch Bellini 2012, S. 120: „Der Gedanke, ein Repertoire anzulegen und die Arbeiten grundsätzlich offen zu lassen, bestimmt demnach sein [Schüttes] gesamtes Schaffen.“ 331   Der pragmatische, handwerkliche Zugang ist dabei zentral – Schütte bezeichnet sich selbst als Bastler. Er präsentiert seine Modelle stets auf einfachen Holztischen, die – wie auch die Tische der Frauen – integrale Bestandteile der Werke sind. (Das ursprünglich Funktionale wird somit autonomisiert, die Architekturmodelle werden zu Hausskulpturen, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Kunst verschwimmen. Auch die später realisierten Arbeiten im Maßstab 1:1 bleiben Modelle, durch die Veränderung des Maßstabs werden sie nicht realer.) 332   Die ersten drei Modelle Schüttes entstehen für die Überblicksausstellung Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939 (1981, Messehallen Köln, kuratiert von Kasper König u. a., Katalog: Glozer, Laszlo (Hg.): Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Ausst. Kat., Köln 1981). Schiff, Kiste und Bühne waren ursprünglich Vorschläge im Maßstab 1:20, die zur tatsächlichen Realisierung gedacht waren. Da es aus organisatorischen Gründen nicht zu der Ausführung kommen konnte, entschieden Schütte und die Kuratoren,

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III.1 Ceramic Sketches

halb seiner eher klassischen skulpturalen Arbeiten, zum Beispiel Geister, die ab 1995 entstehen, bleibt das offene Repertoire stets sichtbar. Diese Werkgruppe geht den Frauen voraus und ist in ihrer Produktion ganz ähnlich angelegt: Zunächst entsteht im kleinen Format und im weichen Material (in diesem Fall Wachs) ein Formenrepertoire, bevor die plastischen Skizzen vergrößert und in unterschiedliches, formbeständiges Material (Aluminium, Bronze, Stahl) übertragen werden. Innerhalb der Werkgruppe Frauen werden diese Transformationsverfahren reglementierter und sichtbarer. Im Laufe des Prozesses werden die Ceramic Sketches (Abb. 3) – die Thomas Schütte „Musterbuch“333 nennt334  – zu visuellen Vorlagen für die Frauen, die sich auf unterschiedliche Weise in ihnen wiederfinden. Die rund 120 Keramikskizzen bestehen jeweils aus einer rechteckigen, circa 20 mal 30 mal 10 Zentimeter großen Sockelplatte, auf der sich jeweils eine Figur befindet. Dabei gibt es Exemplare, die – zum Teil sehr grob modellierte – menschliche Körper darstellen, die auf der Sockelplatte liegen, sitzen, knien oder hocken. Einige dieser Exemplare sind aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale als weibliche Figuren zu erahnen, andere sind geschlechtlich nicht markiert. Die kleinformatigen Figuren können kompakt und statisch wirken und nur einen kleinen Teil der Tonplattform in Anspruch nehmen, oder sie sind offen und dynamisch gestaltet und winden und rekeln sich, strecken ihre Gliedmaßen von sich und nehmen die gesamte Sockelfläche ein. Insgesamt sind die Figuren nicht detailliert ausgearbeitet. Im Sinne einer ersten Skizze, eines ersten flüchtigen Entwurfs sind lediglich die Grundformen modelliert. Es handelt sich dann um eine erste Annäherung an das Thema des weiblichen Aktes, um Fingerübungen. Auch formale Überlegungen zu dem Größenverhältnis von Sockel und Figur und der Platzierung der Figur auf dem Sockel scheinen im Vordergrund gestanden zu haben. Manche Ceramic Sketches sind nicht als menschliche Figuren zu erkennen. Diese abstrakten, nahezu amorphen Tonformationen lassen verschiedene Assoziationen zu und wirken wie eine Annäherung an das Material Ton, das Format und die Möglichkeiten. Und wenige Tonskizzen sind in die Sockelplattform geritzt oder geschabt. Selten handelt es sich dabei um grob zugerichtete Tonformen, die nicht als menschliche Figuren zu erkennen sind, häufiger sind weibliche Formen wie Zeichnungen oder Radierungen in das Trägermaterial geritzt. Die Fläche der Sockelplatte, die in etwa den Maßen eines DIN A4‑Blatts Papier entspricht, wird dann zum flachen Untergrund für die zweidimensionale Skizze. Darüber hinaus gibt es einige singuläre Ausreißer innerhalb der Werkgruppe, die die Gestalt der Sockelplatte betreffen: Wenige Exem-

die Arbeiten im Modellstatus zu zeigen. Zu den Architekturmodellen vgl. Thomas Schütte 2010, zu Laufbahn vgl. Dürr, Bettina: Der Zeremonienmeister, in: Poetter, Jochen (Hg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Rastatt 1988, S. 7–8. 333   Jansen 2005, S. 243. 334   Auch hier bleibt durch die Bezeichnung der Skizzen als Musterbuch, wie in der Arbeite Lager, die  – durchaus kritisch und ironisch zu verstehende – Analogie zu einem Warenangebot oder einer Dienstleistung inhärent.

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plare sind rund, durchlöchert oder auf andere Weisen verformt, gebogen, geplättet. Generell variieren die Maße der Tonplatten leicht. Alle Exemplare sind mit einer sechsstelligen Nummer, dem Herstellungsdatum, versehen. Darüber hinaus sind sämtliche Skizzen einfarbig oder vielfarbig, flächendeckend oder partiell glasiert. Die verbindenden Faktoren aller Ceramic Sketches – der Titel, das Material, das Format, die Nummerierung, die Kolorierung – weisen Analogien zu Thomas Schüttes grafischem Werk auf und sie unterstreichen den Vergleich mit einem Skizzenbuch, indem die Rahmenbedingungen (Material, Format, Nummerierung/Titel etc.) immer gleich sind, die Gestaltung der einzelnen Seiten (Motivvariationen, farbliche Fassung etc.) aber zu dem Zweck, ein Repertoire von Formen und Variationen zu einem Thema anzulegen und diese gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt auszuarbeiten oder sie zu einem Ganzen zu vereinen, variiert. Der Begriff Skizze meint gemeinhin einen (ersten) flüchtigen Entwurf, sie ist in erster Linie Sache der Zeichenkunst und wird klassischerweise mit schnellarbeitenden Materialien wie Tusche, Kreide oder Kohle ausgeführt, um ein Seherlebnis oder einen Einfall sofort zu fixieren. Thomas Schütte betont die große Bedeutung seiner Skizzenbücher für sein gesamtes Schaffen und auch die Frauen gehen auf Skizzen, auf plastische Skizzen, zurück.335 Allerdings hat er die Ceramic Sketches nach eigenen Angaben zunächst um ihrer selbst Willen und nicht direkt als Entwürfe für Großplastiken geformt.336 Es handelt sich demnach um eine „Formsuche“337, vermeintlich ohne die konkrete Idee der Ausführung, also eher um die Anlage eines „Bildervorrat[s]“338 mit unbestimmtem Ziel. Die Keramikskizzen scheinen bei Schütte eine ähnliche Rolle einzunehmen, wie sie Johannes Myssok für Antonio Canovas plastische Modelle „als seinen Entwurfsschatz, der je nach Gelegenheit benutzt oder gar wiederbenutzt werden konnte“339 beschreibt. Jede der 18 Frauen geht formal auf eine der circa 120 Ceramic Sketches zurück.340 Das bedeutet, innerhalb der Gruppe der Skizzen ist jeweils ein konkretes Exemplar auszu­ machen, das in die größere Form übertragen wird.341 Die Frauen entsprechen ihren zugrundeliegenden plastischen Skizzen unterschiedlich stark und verschiedene Modifikationen und Varianten sind möglich. Generell verändern sich alle Skizzen bei der Übertragung ins große Format im Sinne einer Ausarbeitung, die in drei Kategorien beschrieben werden kann. Erstens werden die   Thorn-Prikker 2003, S. 11.   Vgl. Schwarz 2012, S. 9. 337   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 162. 338   Schwarz 2012, S. 10. 339   Myssok, Johannes: Am Ende der Tradition? Bemerkungen zu Antonio Canovas plastischen Modellen, in: Myssok, Johannes und Wiener, Jürgen (Hgg.): Docta Manus. Studien zur italienischen Skulptur für Joachim Poeschke, Münster 2007, S. 375–383, S. 376. 340   Die folgenden Beschreibungen der Frauen sind auf die Fragestellung des Kapitels hin angelegt, fallen entsprechend knapp aus und berücksichtigen lediglich die hier relevanten Details. Ausführliche Beschreibungen und Einzelanalysen der 18 Großplastiken finden sich in dem Kapitel Sujet. 341   Eine Ausnahme bildet Frau Nr. 18, auf die im Folgenden separat eingegangen wird. 335 336

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III.1 Ceramic Sketches

rauen und grob strukturierten, bunt glasierten Keramikoberflächen im großen Format glatter und homogener.342 Die Figuren werden zweitens detaillierter. Bei der Ausmodellierung großflächiger Muskelpartien, beziehen sich die Bearbeitungen auf die Torsi und die Extremitäten der Frauen. Die Rücken- und Armmuskulatur von Frau Nr. 3 (Abb. 39) beispielsweise tritt in der großformatigen Version differenzierter und voluminöser hervor, als in dem Ceramic Sketch (Abb. 40). Ausarbeitungen einzelner Details und Partien betreffen die Torsi und/oder die Köpfe der Plastiken. Hände und Füße sind in keinem Fall ausmodelliert, keine Figur weist Finger oder Zehen auf. Details und Partien wie Bauchnabel, Brustwarzen, Haare und Gesichter erscheinen dagegen häufiger. Und drittens verändern sich bei wenigen Exemplaren die Körperhaltungen der Figuren. Frau Nr. 5 (Abb. 36) beispielsweise scheint auf dem angewinkelten Unterschenkel ihres rechten Beins zu sitzen, während die ihr zugrundeliegende Skizze (Abb. 37) es angewinkelt in die Höhe streckt. Bei etwa einem Drittel der 18 Figuren wurden die Formen der kleinformatigen Skizzen nicht vollständig ins große Format übertragen und überarbeitet, sondern einige Partien und ganze Körperteile wurden ausgespart. Dreimal bleiben Frauen ohne Gesicht. An der Stelle, an der sich das Gesicht von Frau Nr. 1 befinden könnte, zeigt sich eine ovale, konkave Fläche, die diese Partie wie ausgehöhlt wirken lässt (Abb. 17). Diese Fläche ist durch zwei sich kreuzende Linien symmetrisch eingeteilt und in der Mitte befindet sich eine einige Zentimeter lange senkrechte Kerbe, als wäre mit der Anlage eines Gesichts begonnen worden. Frau Nr. 15 (Abb. 24) hingegen weist an der vorderen Seite ihres Kopfes eine pyramidenhafte Auswölbung auf, die nicht weiter modelliert ist. Und der Kopf von Frau Nr. 16 (Abb. 32) erscheint als amorpher Klumpen, der kein Gesicht erahnen lässt. Bei weiteren drei Figuren wurden Extremitäten und Köpfe komplett ausgespart. Frau Nr. 7 (Abb. 27) liegt, wie ihre Vorlage (Abb. 28), mit angewinkelten Beinen auf ihrer rechten Seite. Allerdings sind ihre Beine etwa in der Mitte der Unterschenkel und ihre Arme in der Mitte der Oberarme abgetrennt und auch ihr Kopf und ihr Hals sind in einer dreieckigen Form aus dem Oberkörper herausgeschnitten. Die sitzende Frau Nr. 9 (Abb. 34) ist auf ähnliche Weise modifiziert: Ihre Beine enden im oberen Oberschenkelbereich, ihre Arme direkt am Schulteransatz und Hals und Kopf sind genauso ausgespart wie bei Frau Nr. 7 (Abb. 27). Frau Nr. 10 (Abb. 43) hingegen hat ihren Kopf behalten, während ihre Arme im oberen Bereich der Oberarme abgetrennt wurden. Sie wiederum ist mit einem weiteren Charakteristikum ausgezeichnet, das wenige der Frauen aufweisen: Sie hat ein zusätzliches ‚Accessoire‘ erhalten. Um ihren Hals ist ein Band aus glänzendem Aluminium gelegt, das sowohl an Schmuck, als auch an eine Fessel denken lässt. Drei weitere Frauen der Werkgruppe verfügen ebenfalls über zusätzliche Komponenten, die nicht in den Skizzen angelegt sind: Der Rücken von Frau Nr. 13 (Abb. 45) weist im Bereich der Schulterblätter zwei durch Schnitte in rechteckige Strukturen gegliederte Partien auf, die an Flügel erin342   Das liegt zu großen Teilen an den Produktionsschritten und an den verwendeten Materialien, wie in den Kapiteln Produktion und Material deutlich wird.

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III. Transformationsprozesse

nern. Frau Nr. 16 (Abb. 32) ist auf der Höhe ihrer Hüfte seitlich mit einer Art Griff aus Stahl versehen, wie er in der Gießerei an die Figuren angebracht wird, um sie bewegen zu können und der Haarknoten von Frau Nr. 17 (Abb. 55) wird von einem Frisierstab gehalten, während ihre linke Schläfe mit e­ iner zarten Blüte geschmückt ist. Auch diese Details finden sich nicht in ihrer Keramikvorlage. Zusammenfassend lässt sich zunächst für die Transformationsmodi festhalten, dass ein Großteil der ausgewählten Skizzen, elf von 18, weitgehend vorlagengetreu ins große Format übertagen wurde. Sie alle wurden in dem Transformationsprozess überarbeitet, geglättet, (partiell) detaillierter ausmodelliert und in seltenen Fällen auch formal stärker modifiziert (Nr. 5, 6, Abb. 36, 19). Sechs der 18 Frauen zeichnen sich dadurch aus, dass Partien und Teile darüber hinaus ausgespart wurden. Sie wurden dann entweder nicht ausmodelliert (Gesichter von Nr. 1, 15, 16 Abb. 17, 24, 32), oder die entsprechenden Teile wurden abgetrennt (Arme, z. T. Beine und Köpfe von Nr. 7, 9, 10 Abb. 27, 34, 43). Und vier der 18 Exemplare haben eine Zugabe erhalten, die in den Keramikskizzen nicht vorgesehen war (Nr. 10, 13, 16, 17 Abb. 43, 45, 32, 55). Die letzte Frau der Serie, Nr. 18 aus dem Jahr 2006 (Abb. 56), stellt in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme dar. Zunächst ist kein Ceramic Sketch identifizierbar, das als direkte Vorlage in Frage kommt. Ein Torso in der Art von Frau Nr. 9 (Abb. 34) liegt auf dem Rücken und auf ihm ist ein Kopf mit einem nur angedeuteten Gesicht platziert, der durch die Blüte an der Schläfe an den Kopf von Frau Nr. 17 (Abb. 55) erinnert. Eine der rudimentärsten, reduziertesten, am wenigsten Details aufweisende Frauen der Gruppe (Nr. 9) wird hier mit der am detailreichsten bearbeiteten Frau (Nr. 17) kombiniert und diese Kombination, Frau Nr. 18, markiert den Abschluss der Werkgruppe und kombiniert gleichzeitig die Transformationsmodi der Aussparungen und Hinzufügungen. Insgesamt ist der Umgang mit den ausgewählten Ceramic Sketches reglementiert und einheitlich. Das Transformationsprozedere im Sinne einer generellen Überarbeitung, die die Glättung der Oberflächen, die Ausarbeitung von Details und zum Teil auch die Modifikation einzelner Körperteile oder Posen der Figuren betreffen, bleibt – mit Ausnahme von Frau Nr. 18 – immer ähnlich. Darüber hinaus unterscheiden sich einige Exemplare durch stärkere Eingriffe, die entweder Einsparungen sind, die die Extremitäten und den Kopf betreffen, oder aber Hinzufügungen einzelner Elemente bedeuten. Es wurde deutlich, dass die Ceramic Sketches grob drei Gruppen zuzuordnen sind: Die größte Gruppe, in etwa die Hälfte der Skizzen, umfasst Figuren, die menschliche, zum Teil weibliche Körper darstellen und als Annäherung an das Sujet (weiblicher) Akt gesehen werden können. Die zweitgrößte Gruppe, etwa ein Drittel der Gesamtmenge, umfasst die Exemplare, die abstrakt bleiben, sich aber an das Thema Figur annähern, beziehungsweise eher eine Annäherung an das Material Ton und die gestalterischen Möglichkeiten einer Tonfigur auf einem Tonsockel darstellen. Die kleinste Gruppe schließlich führt formal am weitesten von den Frauen weg und versammelt Varianten, die etwa Ritzungen oder andere Gestaltungen und Verformungen des Sockels vereinen und die eine Annäherung an das Format oder den Modus bedeuten können.

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III.1 Ceramic Sketches

Eine chronologische Abfolge innerhalb der Gesamtgruppe – etwa die Annäherung erst an den Modus und ans Format, dann ans Material, dann an die Figur und schließlich an den weiblichen Akt – ist nicht auszumachen. Sie werden stets durchmischt präsentiert, sodass keine lineare Entwicklung vom bloßen Aufbereiteten des portionierten Werkstoffs zur plastischen Vorlage für eine Großplastik erkennbar ist.343 Darüber hinaus wird bei dem Versuch der Kategorisierung der gut 120 Skizzen klar, dass die Einteilungen verschwimmen. Zum Teil ist eine abstrakte Materialkomposition nur als weiblicher Akt erkennbar, weil der Kontext der Entstehung und die Präsentation in der Reihe sie als solchen markieren. Deutlich wird diese Beobachtung an einigen Exemplaren, die in Zusammenhang mit einer Skizze stehen, die ins große Format übertragen wurde: Für Frau Nr. 2 (Abb. 48) etwa ist eine direkte Vorlage identifizierbar (Abb. 49), darüber hinaus gibt es allerdings weitere Varianten, die die kniende und nach vorn übergeneigte Pose der Figur mitentwickeln zu scheinen. Dabei ist zum Beispiel eine stärker differenzierte Figur zu erkennen, die klarer einen weiblichen Körper mit eindeutig zu unterscheidenden, vollständigen und vollständig modellieren Körperteilen aufweist (Abb. 50). Andererseits finden sich in der Reihe auch grobe Variationen der Haltung, die ohne einen Hinweis auf das Dargestellte kaum als weiblicher Akt zu identifizieren wären. Dabei handelt es sich zum Beispiel um einen Tonstreifen, der lediglich die Haltung des Köpers nachempfindet, beziehungsweise sie als Skizze vorbereitet (Abb. 51). In einem weiteren Beispiel ist die Pose bereits angelegt und darüber hinaus sind die Haare durch eine grobe Oberflächenstruktur – wie in der späteren großformatigen Version – von der glatten Oberfläche des Körpers unterschieden (Abb. 52). Thomas Schütte scheint sich also durch das Arbeiten an den Skizzen sukzessive einer Form anzunähern, dabei aber hin und her, vor und zurück zu pendeln und seine Vorstellungen von Skizze zu Skizze zu verändern, zu konkretisieren, zu verallgemeinern, schlicht zu formulieren. Das bestätigt auch seine Aussage: „Bei den Frauen musste ich […] Entwürfe anfertigen, mir durch die Arbeit daran Gedanken machen.“344 Doch nicht die am detailliertesten ausgearbeitete Version wurde zur Vorlage für die Großplastik, sondern ein Exemplar, das auf seinem Weg zur Figur im Vergleich zu den anderen Versuchen zum Thema im Mittelfeld zwischen abstrakt und figurativ liegt. Auch eine Hierarchisierung der Skizzen, in der die Ausgewählte die höchste Stufe darstellen könnte, kommt somit nicht linear zustande. Denn nicht viele mehr oder weniger grobe Entwürfe führen zu einer ‚Masterskizze‘, einer Idealform, die dann wiederum erwählt und ins große Format übertragen wird, sondern eine Variante von vielen wird herausgegriffen. Es kann folglich nicht um das Finden der allgemeingültigen Form gehen, sondern um die Anlage eines Repertoires davon, was weiblicher Akt bedeuten 343   Die Präsentationsformen der Ceramic Sketches werden ausführlich in dem Kapitel Präsentation behandelt. 344   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 76.

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III. Transformationsprozesse

kann. Aus ihm werden verschiedene Möglichkeiten, verschiedene Varianten, verschiedene Stadien der Ausarbeitung gewählt und zur großformatigen Metallplastik. Erneut wird klar, dass hier ein Konzept der linearen Werkgenese mit einem idealen Ergebnis, das ins große Format und ins dauerhafte Material übertragen wird, hinterfragt, dekonstruiert, demonstrativ ad acta gelegt wird.

III.2 Bezugsysteme Die Beschäftigung mit dem Thema des weiblichen Aktes innerhalb des Materials Ton führt zu Vorlage um Vorlage, die wiederum nicht aus dem Nichts entstehen, sondern ihrerseits fremde visuelle (Vor‑)Bilder in die Werkgruppe transportieren. Gemeint ist nicht eigens vom Künstler generiertes, sondern Vorlagenmaterial im Sinne bereits existierender Bilder und dessen künstlerische Verarbeitung. In Thomas Schüttes Aussage „Tatsächlich bin ich erst als alle vier Figuren fertig waren, nach Paris gefahren, um mir dort wieder Rodin, Maillol, Picasso usw. anzusehen […].“345 impliziert das Wort ‚wieder‘, dass Schütte die Arbeiten dieser Künstler vorher kannte. Als er sich als Bildhauer dem weiblichen Akt zuwandte, wusste er, wo er hinschauen konnte, um Bezüge herzustellen, Lösungen und Orientierung zu finden, ja inspiriert zu werden, ohne die bereits existierenden Bilder nochmals genau zu studieren. Entsprechend sind kunsthistorische Referenzquellen im Sinne von Kunstwerken, die Schütte vorher im Original oder als Abbildungen in Katalogen und anderen Medien gesehen hatte, ohne dass er sich selbst bereits künstlerisch mit dem weiblichen Akt auseinandergesetzt hätte, identifizierbar. Dieses eher diffuse Bildmaterial aus der Kunstgeschichte fließt ebenso in die Werkgruppe ein, wie andere Bilder aus der (persönlichen) – nicht primär künstlerischen oder kunsthistorischen – Welt (Schüttes). Dabei handelt es sich um seine Erfahrungen mit realen weiblichen Körpern, wie um nicht-kunsthistorisches Bildmaterial aus der Alltagswelt, aus der Popkultur. Im Jahr 2001 sagt Schütte zu James Lingwood: „[…] am Anfang [der Arbeit an der Werkgruppe] habe ich mich in eine Frau mit einem schönen Körper verliebt, das hat geholfen.“346 Und in seinen Beschreibungen der Frauen kommen nicht nur Bezüge auf die Werke moderner Bildhauer vor, sondern neben Äußerungen wie „Picasso-Gesicht“347 und „Matisse-­ Körper“348 auch „Walt-Disney-Arme“349, „Mickey Mouse-Füße“350 und „Bilderbuch-Busen.“351 Einige Figuren lassen Assoziationen in den Bereich des Alltags zu: Frau Nr. 4   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 77.   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 78. 347   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 172. 348   Zitat Thomas Schütte, in: ebd. 349   Zitat Thomas Schütte, in: ebd. 350   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 173. 351   Zitat Thomas Schütte, in: ebd., S. 172. 345 346

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III.2 Bezugsysteme

(Abb. 29) liegt auf ihrer rechten Seite und zeigt als erste der Plastiken der Serie ein Gesicht. Augen, Nase und Mund sind zu erkennen, bleiben allerdings ohne individuelle Züge und ohne spezifischen Ausdruck. Das Gesicht erinnert an die Gesichter der Geister (Abb. 12), der vorangegangen Werkgruppe; es ist kein Gesicht eines realen Menschen.352 Eher scheint es aus der Zeichentrickwelt zu stammen. In dieser Welt scheint auch die eigentümliche Form der gesamten Figur verortet zu sein. Sie wirkt wie plattgedrückt, wie geschmolzen, oder als hätte man aus ihr die Luft herausgelassen. Ebenso scheint Frau Nr. 14 (Abb. 25) nicht aus unserer Welt oder aus einer früheren Werkgruppe des Künstlers zu kommen und auch nicht aus der Kunstgeschichte. Die flache und lineare Figur wirkt, als sei sie mit Hilfe einer Form, wie man sie beim Plätzchenbacken verwendet, aus dem Material ausgestochen und anschließend etwas verbogen auf den Stahltisch gebracht worden. Bei dem Bildmaterial, das in die Werkgruppe Frauen einfließt, handelt es sich um eine nicht eindeutig zu entschlüsselnde Bilderwelt, die sich vor allem aus drei Quellen speist: erstens die Kunstgeschichte. In diesem Fall sind zunächst Bilder gemeint, die im Gedächtnis des Künstlers verankert sind, ohne dass er sie sich konkret für die Arbeit an der Werkgruppe angeeignet hat.353 Zweitens sind Erfahrungen aus der realen Welt mit echten Körpern zu nennen. Und drittens Bilder von Figuren und Körpern, die weder der Kunstgeschichte noch der realen Welt, sondern der Fiktion (Filmen, Büchern) entspringen.354 Innerhalb der Analyse des Einzugs fremder Bildlichkeit in die Werkgruppe steht die Auseinandersetzung mit angeeignetem kunsthistorischen Referenzmaterial aus dem Bereich der Bildhauerei im Zentrum. Vorab ist zu bemerken, dass der Begriff der Aneignung als zentrales Verfahren und als eines der bestimmenden Paradigmen künstlerischer Praxis der letzten 50 Jahre hier nicht in Bezug auf seine allzu enge Bedeutung, die seit den späten 1970ern auf die (fotografische oder filmische) Wiederverwertung reproduzierbarer Bilder der Massenmedien zielt, verstanden wird, sondern, dass er hier vielfältige Strategien der Bezug- und Inbesitznahme „fremder Bildlichkeit“355 im Sinne bereits existierender (Vor‑) Bilder und (kunsthistorischer) Referenzen und deren künstlerischer Ver- und Bearbeitung – etwa als Zitat, Imitat, Kopie, Paraphrase – zusammenfasst.356   Die Gesichter von z. B. Frau Nr. 5 und Frau Nr. 17 erinnern an die Gesichter von Schüttes Arbeit Die Fremden (1992). Die werkinternen Bezüge der Frauen werden in dem Kapitel Sujet behandelt. 353   Als weitere Kategorie sind klar zu identifizierende Vorbilder aus der westlichen Kunstgeschichte zu nennen, die durch verschiedene Formen der Aneignung ins Werk gelangen. Diese kunsthistorischen Bezüge der Frauen werden ausführlich in dem Kapitel Sujet behandelt. 354   Generell streut Schütte in seinen Interviews Buchtitel und Musikreferenzen ein (z. B. Jonathan Swift: Gullivers Reisen, Bob Dylan: Gotta serve somebody). 355   Römer, Stefan: Appropriation Art, in: Butin, Hubertus (Hg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2006, S. 15–18, S. 15. 356   Zum künstlerischen Prinzip der Aneignung vgl. Gelshorn 2012, S. 15 und die Ausstellung Von Bildern. Strategien der Aneignung (Museum für Gegenwartskunst, Basel, 29.08.15–24.01.16). Für die enge Begriffsbestimmung seit den 1970ern vgl. als Ausgangspunkt für die Appropriation Art die von Douglas Crimp 1977 352

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III. Transformationsprozesse

Innerhalb der Werkgruppe Frauen finden sich Referenzen an verschiedene Künstler und Werke unterschiedlicher Stile und diese wiederum finden auf unterschiedlichen Wegen Einzug in Thomas Schüttes Werk.357 Häufig fühlen die Betrachter_innen sich an gewisse Darstellungsformen des liegenden Aktes, die sich durch die europäische Kunstgeschichte ziehen, erinnert. Bei Frau Nr. 12 (Abb. 21) zum Beispiel wird der Bezug auf eine tradierte Möglichkeit, eine großformatige, unbekleidete Figur auf einen relativ flachen, rechteckigen Sockel zu bringen, deutlich. Sie liegt auf ihrer Vorderseite, während ihr linkes Bein nahezu gestreckt und das rechte angewinkelt und nach außen gezogen ist, sodass der Blick auf ihren Schambereich frei wird, der durch die exponierte Position des Gesäßes in den Fokus rückt. Frau Nr. 12 erscheint als die explizitere Version eines Typus des liegenden Aktes, der bereits aus der Antike bekannt ist (Schlafender Hermaphrodit), aktualisiert wird – etwa bei Antonio Canova (Sleeping Nymph (1820–24)) – und bis ins 20. Jahrhundert – zum Beispiel bei Arturo Martini (La Pisana (1928–30)) – Verwendung findet. Die Position des Körpers auf dem Sockel und auch die geschlossenen Augen von Frau Nr. 12 reihen sie in die Darstellungen von Schlafenden ein, ohne dass ein konkretes Vorbild zu erkennen wäre. Es ist der Bezug auf einen Typus, der sich seines Kontextes und seiner Attribute entledigt – Gian Lorenzo Berninis luxuriöse Matratze und das dicke Kissen, auf dem Hermaphroditus gebettet ist (Abb. 23), der angedeutete Felsen und das Tuch, auf dem Canovas Nymphe ruht und das Kissen der Pisanerin von Martini. Ähnlich verhält es sich mit einzelnen Elementen der Figuren, die auf bestimmte Details zu referieren scheinen. Dies ist etwa bei Frau Nr. 17 (Abb. 55) der Fall. Sie trägt an ihrer linken Schläfe eine schmückende Blüte im Haar, die an Paul Gauguins Frauendarstellung – etwa an die Tehura (1892) – denken lassen. Während die Blüte im Haar bei Gauguin zum Konzept seiner üblichen Darstellung ‚exotischer‘ Frauen aus der Südsee gehört, fehlt bei Schüttes Frau jeder weitere Hinweis auf ihren Kontext. Die Blüte allein verweist auf einen durch einen bestimmten Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts geprägten Frauentypus. Manche von Thomas Schüttes Frauen vereinen einige dieser Detailreferenzen: Die Beinhaltung von Frau Nr. 1 (Abb. 17) erinnert zum Beispiel an die Pose von Liegende Figur, ein Frauenakt von Henry Moore aus dem Jahr 1932. Auch hier sind beide Beine angewinkelt, wobei das eine aufgestellt und das andere auf der Sockelplatte abgelegt ist. Der über den Kopf gelegte Arm, dessen Ellenbogen in die Höhe zeigt, findet sich beispielsweise bei Liegender Frauenakt (Aurora) von Henri Matisse aus dem Jahr 1907. Auch die Behandlung der Haare, die mehr an eine Kopfbedeckung denken in New York organisierte Gruppenausstellung Pictures und die darauffolgende kritische Aus­einandersetzung von u. a. Rosalind E. Krauss (vgl. Krieger, Verena: Der Blick der Postmoderne durch die Moderne auf sich selbst. Zur Originalitätskritik von Rosalind Krauss, in: Krieger, Verena (Hg.): Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln 2008, S. 143–161). 357   Sämtliche Exemplare der Werkgruppe werden in dem Kapitel Sujet der vorliegenden Arbeit ausführlich analysiert; in diesem Abschnitt werden im Folgenden lediglich die an dieser Stelle relevanten Aspekte hervorgehoben.

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III.2 Bezugsysteme

lässt, erinnert an Matisses Figur. Was den Aufbau der Plastik im Ganzen und ihre Platzierung auf dem schlichten Sockel betrifft, kommen auch Vorbilder wie Henri Laurens Der Herbst aus dem Jahr 1948 in Frage. Ebenfalls Arturo Martinis Frau in der Sonne von 1930 liegt auf der Seite und weist eine ähnliche Beinhaltung wie Thomas Schüttes Frau auf. Frau Nr. 1 (Abb. 17) scheint eine Synthese verschiedener Details und Formen unterschiedlicher plastischer Frauenakte zu bilden. Hier scheint es, als sei der Entstehung einer neuen Form die Analyse bereits bestehender Bilder vorausgegangen, deren einzelne Elemente neu zusammengesetzt wurden.358 In diesem Beispiel zeigt sich Angeeignetes innerhalb einzelner Körperpartien. Die Referenzen sind dabei vielfältig und zahlreich. An Frau Nr. 15 (Abb. 24) zeigt sich eine weitere Form der Aneignung, die sich auf Stilmerkmale bezieht: Ihre flächenhafte und aufgebrochene Oberfläche erinnert zum Beispiel an Pablo Picassos Frauenkopf aus dem Jahr 1909 oder auch an Roger de la Fresnayes Die Italienerin von 1912. Vor allem an den Händen und Armen lassen sich die Ähnlichkeiten ablesen. Auch in diesem Fall betrifft die Aneignung nicht die gesamte Figur; ihre Haare sind, im Gegensatz zu den harten Konturen des Körpers, üppig und lockig fließend dargestellt.359 Als letzte Form der Bezugnahme ist zum Beispiel Frau Nr. 5 (Abb. 36) zu nennen, die sich auf ein ganz konkretes Werk, auf Aristide Maillols La Montagne (Abb. 38) von 1937, zu beziehen scheint. Beide Figuren ähneln sich in ihrer sitzenden Pose teilweise bis ins Detail. Gemeint sind ihre Bäuche mit dem Nabel und einer angedeuteten waagerechten Linie an der Taille sowie die Form ihrer Brüste. Die Haltung, die die Figuren eingenommen haben, ist ebenfalls ähnlich: Beide Figuren sitzen auf ihrem Gesäß, das rechte Bein ist so im Knie gebeugt, dass der Unterschenkel sich unterhalb des Oberschenkels be­ findet und in der jeweiligen Sockelkonstruktion zu verschwinden scheint, während das linke Bein angewinkelt und der Fuß so aufgestellt ist, dass das linke Knie in die Höhe zeigt. Die abstützende Funktion des rechten Arms ist genauso gegeben wie der schräg nach vorn geneigte Kopf mit einem harmonisch wirkenden, mimiklosen Gesicht. Die Details und der formale Aufbau von Frau Nr. 5 scheinen auf die fast einhundert Jahre ältere Figur zurück zu gehen. Es sind die Feinheiten, die aus der harmonisch ausgeglichenen und anmutig ruhenden oder sinnierenden La Montagne eine unsichere, müde und etwas plumpe Frau Nr. 5 machen: Die dichten, geordneten, welligen Haare der älteren Figur sind zu einem Haarknoten am Hinterkopf der jüngeren geworden, der sich aber so löst, dass einzelne Strähnen nach vorn über ihre Ohren fallen und auch die Struktur des Haars hat nichts von dem wohl frisierten Haar von La Montagne. Auch das Gesicht von Frau Nr. 5 ist gröber gearbeitet und der linke Arm, auf den beide Akte sich stützen, ist bei Thomas Schüttes Frau weiter nach hinten gezogen und während die Figur 358   Schütte selbst nennt dieses Verfahren „Synthese“, dem eine „Analyse [heißt ja] zerlegen, zersetzen, zerschneiden“ vorausgegangen ist (Thomas Schütte, in Loock 2004b, S. 172). 359   Für weitere derartige Referenzen vgl. Curtis 2010.

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III. Transformationsprozesse

Maillols sich kontrolliert auf ihren Arm stützt, droht Frau Nr. 5 abzurutschen. Nicht zuletzt – so scheint es –, weil sie sich mit ihren amorphen Händen nicht halten kann. Frau Nr. 5 muss also auch ihren zweiten, linken Arm anstrengen, um sich in ihrer sitzenden Position zu halten, während die ältere Plastik sanft ihren Kopf mit diesem stützt. Aus diesem Grund scheint der Kopf von Schüttes Figur so weit nach vorn zu fallen. Insgesamt erscheint seine Figur kraftlos und sie besitzt nichts von der Kompaktheit der Vorgängerin. Auch die Beine bringen das zum Ausdruck. Das aufgestellte linke Bein, das in einem formlosen Fuß endet, konnte Frau Nr. 5 nicht so eng am Körper halten. Es ist weggerutscht und fast gänzlich gestreckt, sodass die gesamte Figur aus dem Gleichgewicht gerät und schief nach links absinkt, während La Montagne im gewohnten Maillol-­ Stil geschlossen und kompakt bleibt.360 Für den Umgang mit kunsthistorischem Bildmaterial innerhalb der Werkgruppe Frauen lassen sich vier Beobachtungen beschreiben: Erstens ist der lose Bezug auf einen speziellen Typus, wie den der Schlafenden, zu nennen. Zweitens sind Referenzen auf einzelne Elemente konkreter Vorbilder, etwa schmückende Details oder auch eine gewisse Körperhaltung, in Form von indirekten Zitaten zu verzeichnen, die einzeln oder in Kombinationen vorkommen können. Drittens ist der Bezug auf einen Stil, zum Beispiel den des Kubismus, auszumachen und viertens paraphrasieren einzelne Figuren ein anderes Kunstwerk, beispielsweise von Aristide Maillol. Direkte Zitate, Imitate und Kopien sind innerhalb der Werkgruppe nicht auszumachen. Diese unterschiedlichen Strategien der Aneignung, der Bezug- und Inbesitznahmen fremder Bildlichkeit, meinen ein Referenzsystem, dem manchmal etwas Zitathaftes, manchmal etwas Paraphrasierendes inhärent ist und das die Frage aufwirft, welche Qualitäten und Konnotationen diese Formen der Aneignung aufweisen. Teilweise sind die Referenzen plakativ und kaum übersehbar, dann wieder sind sie subtil und akzentuiert. Aber verspotten sie die Referenzwerke und ‑künstler oder ‑stile, oder bewundern sie sie? Schwingen Ironie, Kritik oder Respekt in der Ver­arbeitung mit? Welche Art von Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte lässt sich festmachen und welchen Charakter weist sie auf? Eine Vielzahl der bisher identifizierten Referenzquellen aus der Kunstgeschichte stammt aus dem Zeitraum zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie liegen zwischen Auguste Rodin und Henry Moore. Das mittels unterschiedlicher Strategien und in verschiedenen Intensitäten angeeignete kunsthistorische Material führt, wie Thomas Schütte selbst sagt, „back to the roots“361. Seine künstlerische Referenzzeit auf der Ebene des Sujets liegt also nicht in den Diskursen seiner Studienzeit seit den 1970er Jahren, sondern bei den Klassikern der Moderne. 360   Die inhaltlichen Komponenten dieser Form der Bezugnahme werden ausführlich in dem Kapitel Sujet behandelt, hier geht es um die formalen Strategien des Zugriffs. 361   Dieses Zitat stammt aus einem Gespräch zwischen Thomas Schütte und der Autorin am 10.03.2009 in der Düsseldorfer Wohnung des Künstlers.

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III.2 Bezugsysteme

Das kann als Kritik an der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich, wie Matthias Winzen formuliert, „in den späten 70er Jahren in Konzeptualisierung und Formalisierung festgefahren hatte“362 gelesen werden. In der Werkgruppe Frauen scheint Schütte mit anderen, mit postmodernen Augen auf die vorgeblich historisch längst überholten Möglichkeiten der Figuration zu blicken. In einem Interview sagt er im Jahr 2000: „Die Arbeit eines Künstlers gleicht […] der Bearbeitung oder Neubearbeitung historischer Leistungen.“363 In demselben Gespräch fragt ihn James Lingwood nach der Rolle der modernen Meister des Aktes in der Werkgruppe und Schütte antwortet: „Je mehr ich an den Figuren arbeite, je mehr weiß ich und je mehr Achtung habe ich vor diesen Künstlern. Tatsächlich bin ich erst als alle vier Figuren [die ersten vier] fertig waren, nach Paris gefahren, um mir dort wieder Rodin, Maillol, Picasso usw. anzusehen […].“364

Er selbst gibt immer wieder Hinweise auf Picasso, Matisse, Maillol, Rodin, Laurens, Fautier und stellt es als Selbstverständlichkeit heraus, sich mit diesen Künstlern zu beschäftigen: „Wie kann man noch eine Form finden? Da kommt man automatisch auf Picasso, Matisse … an deren Werken kommt man nicht vorbei.“365 Allerdings betont er mehrfach, dass es dabei nicht um eine direkte Nachahmung gehen kann – „Aber direkte Zitate interessieren mich nicht.“366 –, sondern dass er sich die Werke der genannten Künstler erst im Nachhinein wieder beziehungsweise während des Prozesses, jedenfalls nicht vorher genauer angesehen habe. Etwa sagt er auf Ulrich Loocks Frage nach der Auseinandersetzung mit Laurens oder Matisse: „SCHÜTTE: Ich habe sie mir hinterher sehr genau angeguckt. LOOCK: Hinterher, aber nicht, als Du Deine Sachen gemacht hast. SCHÜTTE: Geht ja nicht. LOOK: Wieso? SCHÜTTE: Man arbeitet solange, bis man nicht mehr weiter weiß, und dann schaut man sich das alles an. Man kann ja nicht studieren und das dann nachmachen.“367

Es scheint, als wolle der Künstler durch seine sprachlichen Aussagen die Komplexität seines Schaffens unterstreichen: „Ich lege mir ja nicht Bücher von Rodin, Maillol oder Fautier hin und frage mich, wie backe ich mir da was draus.“368 Seine Quellen gibt er in diesen Sätzen allerdings durchaus Preis. Damit legt er Spuren in die Kunstgeschichte, um seine Position (mit) zu bestimmen.

362   Winzen, Matthias: Thomas Schütte. Käthe Kollwitz und Jacques Tati, in: Greschat, Isabel (Hg.): Durchgehend geöffnet, Ausst. Kat., Sammlung Frieder Burda, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Köln 2003, S. 74–77, S. 75. 363   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 77. 364   Zitat Thomas Schütte, in: ebd. 365   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 166. 366   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 77. 367   Loock 2004b, S. 167. 368   Zitat Thomas Schütte, in: Vischer 2013, S. 117.

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III. Transformationsprozesse

III.3 Zusammenfassung Die Betrachtung der Werkgruppe unter dem Aspekt der ihr innewohnenden Transformations- und Aneignungsprozesse hat zunächst zu einer Statusbestimmung der Ceramic Sketches – der 18 Vergrößerten und der ca. 100 vermeintlich Überschüssigen – als Bildervorrat geführt, auf den Thomas Schütte für seine Frauen zurückgegriffen hat. Die Analyse des Zugriffs auf diesen und der Verarbeitung von diesem eigens generierten Bildmaterial hat verschiedene Strategien und Intensitäten der Transformation herausgestellt. Während diese eigenen Vorlagen auf nachvollziehbare, weil direkte Weise (fast 1:1) ins große Format transformiert werden, gelangen externe Vorlagen auf komplexeren Wegen in die Werkgruppe. Von direkten, identifizierbaren Vorbildern aus der Kunstgeschichte fließen bestimmte Typen, einzelne Details, Stilelemente oder ganze Werke ein. Kaum nachvollzieh- und identifizierbar ist weiteres ‚diffuses‘ Material aus dem Gedächtnis des Künstlers, wie weitere Beispiele aus der Kunstgeschichte, der Realität und der Fiktion. Wie sich gezeigt hat, gibt Thomas Schütte an verschiedenen Stellen sprachliche Hinweise auf diesen Vorlagenmix, die allerdings angesichts der Werke kaum nötig sind. Die Figuren geben in ihren eigentümlichen Gestalten Auskunft über ihre visuelle Herkunft. Und auch dieses Material entstammt  – wie die unterschiedlichen Werkstoffe – ganz unterschiedlichen Kontexten, Zeiten, Konnotationen, die alle ihre Spuren hinterlassen und in heterogenen Ergebnissen kumulieren. In der Werkgruppe Frauen laufen die Bilder aus den genannten Welten zusammen, verschmelzen miteinander und sind untrennbar miteinander verbunden. Sie stellen erneut binäre Strukturen wie high und low in Frage und sie schreiben sich  – ähnlich wie sämtliche verwendete Werkstoffe –, auch wenn sie am Ende nicht mehr direkt sichtbar sind, in die Figuren ein. So bewahren sie die Frauen vor einer allzu eindimensionalen Lesart und halten sie in der Schwebe. Dies gilt für die Bilder, die Schütte selbst kreiert hat, für die, die er bewusst übernimmt und auch für diejenigen Bilder, die unbewusst, ja eigensinnig einfließen. All diese Bilder werden als visuelles Material genauso zum Gestaltungspartner wie die verwendeten Werkstoffe und sie haben an verschiedenen Zeitpunkten  – vor dem Beginn der Arbeit, beim Erarbeiten der Skizzen, bei der Transformation ins große Format und nach der Fertigstellung in den Augen der Betrachter_innen – Anteil am Kunstwerk. Ein weiteres Mal löst sich die klassische Vorstellung des aus sich heraus schöpfenden Künstlers (vom Auge durch die Hand ins Werk) in Anbetracht der zunächst so klassisch erscheinenden Plastiken auf. Die Widerstände sind in dem Fall nicht handwerklich-künstlerischer, konkret-materieller Natur, sondern es sind ästhetische Widerstände, Widerstände der Kunstgeschichte (des letzten Jahrhunderts). Und die Dekonstruktion vollzieht sich dieses Mal nicht anhand tradierter Werkstoffe, sondern anhand eines tradierten Motivs der europäischen Kunstgeschichte, an dem liegenden weiblichen Akt.

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III.3 Zusammenfassung

Der These folgend, dass sich in der Multiplikation und Kumulierung der Werkstoffe innerhalb der Werkgruppe eine (systematische) semantische Entleerung vollzieht, soll an dieser Stelle die Frage aufgeworfen werden, ob hier – in der Deklination und Kombination des weiblichen Aktes  – eine semantische Entleerung des (klassischen) Motivs (mit dem Ergebnis der Befreiung des liegenden weiblichen Aktes) stattfindet, der im folgenden Kapitel nachgegangen wird.

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IV. SUJET

Das von Thomas Schütte durch seine Werkgruppe Frauen gewählte Sujet, der weibliche Akt in der Plastik, gehört zu den zentralen Themen der europäischen Kunstgeschichte. Doch was kann weiblicher Akt am Beginn des 21. Jahrhunderts bedeuten? Welche Konzepte des Sujets werden in welcher Form (re)produziert, problematisiert, (de)stabilisiert? Diese Fragen umkreisen die folgenden Einzelanalyen der 18 Figuren. Zuvor jedoch erscheinen einige grundlegende Überlegungen zum Sujet hilfreich.

IV.1 Der weibliche Akt Um die Funktion dieses Sujets genauer bestimmen zu können, ist zunächst seine Ver­ ortung im Œuvre des Künstlers sinnvoll (A): Welche Entwicklungen des Themas Figur lassen sich in seinem Gesamtwerk nachzeichnen, wie kommt es darin schließlich zum weiblichen Akt und was zeichnet ihn aus? Um die visuellen, thematischen, semantischen Komponenten der Frauen breiter zu erfassen, muss zweitens die werkexterne Genealogie ihrer motivischen Vorläufer berücksichtigt werden (B): Ein historischer Überblick über den weiblichen Akt in der Plastik bereitet ebenfalls das Feld für die Einzelanalysen vor und bildet eine Basis, in dem Sinne, dass einige paradigmatische Typen und kunsthistorische Grundlagen und Probleme des Sujets sichtbar werden. (A) Erste Beobachtungen der Themen im Gesamtwerk Thomas Schüttes zeigen, dass sie stets im Bereich des Gegenständlichen bleiben. Sie sind vielfältig und lassen sich grob in drei Felder zusammenfassen: Erstens sind Architekturen zu nennen. Der Künstler entwirft unterschiedliche Bauwerke, auf Papier und als dreidimensionale Modelle in verschiedenen Maßstäben: Wohnhaus, Atelier, Bunker, Museum, Hotel, Tankstelle, Vogelhaus; am bekanntesten ist wohl der Pavillon Eis für die documenta 8 aus dem Jahr 1987.369 Das zweite große Thema in Schüttes Werk ist die menschliche Figur. Das Spektrum reicht von Masken über Gesichter, Köpfe und Büsten zu ganzen Figuren, die wenige Zentimeter groß oder überdimensioniert sein können. Sie können grob skizziert und schemenhaft oder   Vertiefend zu den Architekturmodellen vgl. Thomas Schütte 2010.

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IV. Sujet

detailliert ausgearbeitet sein und sie kommen in den verschiedenen Gattungen (Plastik, Malerei, Grafik, Fotografie) und in vielen unterschiedlichen Materialien vor. Das dritte Feld fasst weitere Objekte, Tiere (Hunde, Vögel, Eulen), Blumen und Lebensmittel zusammen. Obst und Gemüse tauchen immer wieder auf, am bekanntesten ist wohl die Kirschensäule für Skulptur. Projekte Münster 1987. Zum Repertoire gehören ebenfalls Einrichtungsgegenstände wie Vorhänge, Tapeten, Lampen, Möbel und Vasen. Für die Verortung der Frauen im Werk des Künstlers wird die zweite der genannten Kategorien, die Entwicklung der menschlichen Figur in seinem bildhauerischen Œuvre, in den Blick genommen. Thomas Schütte beschäftigt sich während seiner Studienzeit an der Kunstakademie Düsseldorf von 1973 bis 1981 mit Aspekten der dekorativen Kunst, mit der Frage nach der Funktionalität von Kunst, mit Rauminstallationen, Architekturmodellen und mit bühnenartigen Arrangements. Zunächst gibt es keine Figur in seinem bildhauerischen Werk. Die ersten Figuren, die sich in seinem bildhauerischen Werk zeigen, sind aus Sciencefiction-Serien stammende Spielzeugfiguren, die seine Architekturmodelle, die er im Maßstab 1:20 baut, bevölkern.370 Sie fungieren etwa bei den Westkunst-Modellen (Abb. 6) von 1980 als maßstäbliche Parameter und dienen den Betrachter_innen, indem sie als Publikum-Stellvertreter die Ausmaße der Architekturen anzeigen. Ulrich Loock formuliert 2004 in Bezug auf den Einzug der Figur in Schüttes Werk: „Figuren treten in dem Moment auf, als die Bezugsgröße seiner Kunst nicht mehr die vorgefundene Realität eines Ausstellungsraumes, einer Wohnung oder eines Büros ist, sondern eine vorgestellte Welt, die er in Form von Architekturmodellen und bildlichen Darstellungen wachruft […].“371

Etwa fünf Jahre später entsteht eine zweite Form dieser Stellvertreter: Es handelt sich um aus Sperrholz ausgesägte, flache, schablonenhafte Figurinen, wie sie zum Beispiel in der Arbeit Laufbahn (Abb. 7) aus dem Jahr 1987 zu sehen sind. Die Holzschablonen aus diesem Werk weisen sieben unterschiedliche Konturformen auf, wirken aber ansonsten uniform. Laufbahn thematisiert als ein Stück in sieben Aufzügen das Künstlerleben, das auf Rollbrettern in sieben Stationen an dem Publikum, den Holzfigurinen, vorbeizieht.372 Für beide Formen von Figuren wird deutlich, dass sie sich von ihrer Funktion als bloße Maßstabsanzeiger in der Hinsicht emanzipieren, als dass sie als Betrachter_ in-Stellvertreter einen narrativen Charakter erzeugen. So wie die Püppchen in den Mo-

370   Zuvor gibt es bereits (agierende) Spielzeugfiguren in fotografischen Arbeiten wie z. B. Großes Theater (1980). Vgl. hierzu Hentschel, Martin: Eine kurze Geschichte von vielen Figuren, in: Hamburger Kunsthalle (Hg.): Thomas Schütte. Figur, Ausst. Kat., Hamburger Kunsthalle, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Ostfildern 1994, S. 7–20. 371   Loock 2004a, S 22. 372   Dabei zeigt Laufbahn  1 eine Glühbirne, die den „erste[n] Auftritt des Genies auf der Lebensbühne“ (Dürr 1988, S. 7) markiert. Dann ziehen weitere Stationen – die Liebe, die Ausbildung, die Erfolge, der Kollaps und der Tod vorbei – und das Stück endet schließlich bei Laufbahn 7 mit einer „monumentale[n] Trophäe oder gar dem Sektkelch, mit dem auf den Nachruhm angestoßen wird“. (Dürr 1988, S. 7).

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IV.1 Der weibliche Akt

dellen arrangiert sind, erzählen sie kleine Geschichten von Museumsbesuchen oder Schiffsreisen. Und in Laufbahn formieren sie sich abhängig von der gezeigten Szene neu, als würden sie reagieren. Die Betrachter_innen finden sich in ihnen wieder, denn „nähert man sich der einzelnen Figurine, so gelingt es ihr, aus ihrer einfarbigen, einförmigen Anonymität heraus Posen zu diesem Modelleben einzunehmen: das Männchen schaut, beobachtet, spaziert, wartet, steht in Grüppchen, für sich allein, interessiert, gleichgültig“373.

Die Figuren werden zu Modellen menschlichen Verhaltens, die bedeutungstragender Teil der Arbeit sind. Parallel arbeitet Thomas Schütte seit 1982 an verschiedenen Varianten des Mann im Matsch (Abb. 8). Aus vorgeblich „mangelnde[m] handwerkliche[n] Vermögen, einen menschlichen Körper plastisch auszuarbeiten“374, greift er dazu zunächst auf Spielzeug­ figuren zurück, die er mit Wachs übergießt. Später modelliert er die kleinen Figuren eigenhändig aus Wachs, ihre rudimentären Oberflächen bleiben dann entweder in der Materialfarbe oder werden bemalt. Der zentralen Herausforderung, die darin besteht, diese kleinen Figuren auf ihren zwei Beinen zum freien Stehen zu bringen, scheint Schütte zu begegnen, indem er sie knietief ‚in den Matsch‘ steckt.375 Diese Bilder des Feststeckens und des Stillstands werden in unterschiedliche Richtungen interpretiert: Julian Heynen ringt ihnen soziale und politische Aspekte ab, sieht sie aber auch als Bilder für die Existenz des Künstlers selbst.376 Ulrich Loock fasst die Aussage weiter und sieht diese Arbeit als „Schüttes Allegorie der Moderne – er interpretiert sein gescheitertes Vorhaben, eine Figur zu modellieren, als Bild für das Scheitern einer ganzen Epoche der Kunst“377. Unabhängig von etwaigen Interpretationsansätzen stellt der Mann im Matsch, an dem der Künstler sich mehr als zehn Jahre abarbeitet, in all seinen Variationen einen weiteren Entwicklungsschritt der autonomen figurativen Plastik innerhalb seines Werks dar:378 Sie ist nun nicht mehr nur Beiwerk oder ein Bestandteil eines Werks unter vielen, sondern sie ist Hauptakteur. Diese Verlagerung des Schwerpunkts, die Konzentration auf die Figur und ihre Emanzipation, geht mit der eigenhändigen Produktion einher, denn der Mann im Matsch wird nicht gekauft oder als uniforme Massenware hergestellt. Diese Entwicklung vollzieht sich ahistorisch, entgegen dem modernen Topos: Vom Ready-Made, über die Serienproduktion zum eigenhändig hergestellten Unikat.

  Dürr 1988, S. 8.   Hentschel 1994, S. 12. 375   Vgl. ebd. 376   Vgl. Heynen, Julian: Our world, in: Thomas Schütte, Ausst. Kat., Whitechapel Art Gallery, London, DePont-Stichting voor Hedendaagse Kunst, Tilburg, Fundação de Serralves, Porto, London 1998, S. 38–109, S. 93. 377   Loock 2004a, S. 24. 378   Es gibt unterschiedliche Variationen des Mann im Matsch: Beispielsweise Mann im Matsch mit Hund (1982) oder Zwei Männer im Matsch (1985). Darüber hinaus wird das Motiv in verschiedene Installationen eingebaut: Kleiner Respekt (1993), Großer Respekt (1994) und No Respekt (1994). 373 374

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IV. Sujet

Seit der Mitte der 1980er Jahre findet eine Konzentration auf modellierte Köpfe statt: Es entstehen vorgeblich erneut aus der Not geborene Dreibeiner aus kleinformatigen, detailliert modellierten Köpfen aus Knetmasse, die jeweils auf drei mit Textilien drapierten Hölzstäbchen gesteckt sind.379 Exemplarisch für diese Werkgruppe ist die Installation Mohr’s Life (Abb. 9) aus dem Jahr 1988. Zu sehen ist eine Atelierszene: Der schwarze Künstler, eng verschnürt in seinem schlichten Gewand, steht vor einem Gestell mit wie zum Trocknen aufgehängten Socken. Auf seiner Leinwand werden diese zu Regenwolken. Er scheint der tristen Realität wundersame Bilder abzuringen, als der weiße Atelierbesucher, vielleicht Sammler oder Kunsthändler, in einer großzügigen Robe das Atelier betritt. Wie in Laufbahn und Mann im Matsch wird hier das Künstlerleben thematisiert. Mit den eigenhändig modellierten Köpfen werden Thomas Schüttes Figuren individueller. Gestik und Mimik sind zu erkennen und auch ihre Kleidung wirkt differenzierend. Dabei beziehen sie sich nicht auf konkrete Personen, sondern sie repräsentieren einen Typus, zum Beispiel den des Künstlers. Sie bleiben Repräsentanten, werden aber zunehmend aus der Anonymität der früheren Arbeiten, der Holzschablonen und Spielzeugfiguren befreit. Thomas Schütte modelliert jetzt Köpfe mit wiedererkennbaren Gesichtszügen und dramatischer Mimik, als wolle er individuelle Erscheinungsformen akribisch untersuchen wie Physiognomisten, die der „Überzeugungen [waren], dass das Gesicht, das jahrhundertelang als Ort der Vereinigung von Körper und Seele galt, ein Spiegel des Charakters und seiner Beweggründe sei“380. Auch die Präsentationsform der United Enemies von 1992 bis 1997 erinnert an zu Studienzwecken ausgestellte Exponate oder an Kuriositätenkabinette. Zu zweit zusammengeschnürt werden die Dreibeiner auf Sockeln und unter Glasglocken, die sie gleichzeitig schützen, einsperren und ausliefern, zur Schau gestellt. Mit der Aussage „Diese Figuren machen betroffen, ihre Lebensnähe ist durch die krückenähnlichen Stelzen zwar stilistisch gebrochen, der Irrsinn ihrer Befindlichkeit dadurch aber gleichzeitig verstärkt.“381

bringt Renate Puvogel diese Ambivalenz 1995 auf den Punkt. Parallel zu den kleinformatigen Köpfen aus Knetmasse entstehen in den späten 1980er Jahren größere rudimentär modellierte Köpfe und Büsten aus Ton. Als ein Beispiel für diese Werkgruppe kann der Vorschlag für ein Denkmal zur Erinnerung an den verunglückten Einhandsegler Alain Colas aus dem Jahr 1989 gesehen werden (Abb. 10):382

  Vgl. Hentschel 1994, S. 15.   Janus, Elizabeth: Die Unschuldigen, in: Raymond Pettibon, Thomas Schuette, Tony Oursler, Zürich 1996, S. 129–131, S. 129. Janus untersucht Schüttes Gesichter in diese Richtung und bezieht sich auf Lavater, Johann Kaspar: Physiognomische Fragmente, Zürich 1775–1778. Schüttes Interesse an dem Modellieren von Köpfen wird in Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo (1992–93) gesehen, wo er Portraitbüsten studiert haben soll (vgl. z. B. Heynen 1998, S. 97). 381   Puvogel, Renate: Thomas Schütte, in: Puvogel, Renate: Lehrgeld, zwanzig Künstler-Portraits, Stuttgart 1995, S. 125–134, S. 132 f. 382   Die Stadt Clamency (Frankreich) hatte im 1988 einen Wettbewerb ausgeschrieben. 379 380

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IV.1 Der weibliche Akt

Der Segler kehrte von einem Rekordversuch nicht zurück und ist seitdem verschollen. Thomas Schütte lässt ihn in seinem Werk heimkehren, dazu verdammt, seine Reise auf immer zu wiederholen. Mitten im Fluss platziert er die Büste des Alain Colas. Bei niedrigem Wasserstand ist er bis zu den Schultern zu sehen, bei hohem Wasserstand ist er bis zu den Lippen versunken. Die Plastik wurde nicht realisiert. Das Modell aus Holz, Ton, Polyurethan und Farbe, das im Maßstab  1:1 produziert wurde, markiert aber einen wichtigen Schritt innerhalb des bildhauerischen Werks Thomas Schüttes, nämlich das Bemühen um Portraitähnlichkeit. So greift er markante Merkmale der realen Person, wie etwa die ausgeprägten Koteletten, auf und gibt sie wieder. In den frühen 1990er Jahren häufen sich großformatige figurative Plastiken in Schüttes Werk. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Köpfe und Gesichter, einen Sonderfall stellt die Arbeit Die Fremden (Abb. 11) aus dem Jahr 1992 dar, die erstmals lebensgroße Ganzfiguren beinhaltet. Die vielteilige Arbeit setzt sich aus drei Männern, drei Frauen, drei Kindern und allerlei Gepäckstücken und Gefäßen  – Säcken, Kisten, Kübeln, Vasen – zusammen. Sie wurde zur documenta IX auf dem Portikus des Kasseler Kaufhauses Leffers installiert und ist von Weitem sichtbar.383 Nicht nur der Titel der Arbeit weist die Figuren als Fremde aus: Durch ihren Aufstellungsort distanzieren sie sich von den offiziellen Ausstellungsorten der Großausstellung, sie stehen daneben. Auch ihre Figürlichkeit und das verwendete Material – die Arbeit besteht aus Keramik – distanzieren sie von dem „stillschweigend sanktionierten Kanon des aktuellen Kunstbetriebs“384. Nach Aussagen des Künstlers nimmt die Arbeit inhaltlich Bezug auf seine persönliche Betroffenheit angesichts der Schrecken des Golfkriegs, auf die Bilder tausender Menschen, die vertrieben mit ihrem Hab und Gut durch die schneebedeckten Berge der Türkei zogen.385 Thomas Schütte lässt sie ankommen. Sie stehen da und scheinen auf ihr Schicksal zu warten – mit reduzierter Gestik und Mimik und mit gesenktem Blick. Julian Heynen beschreibt ihren Ausdruck einige Jahre später: „Without being over-dramatic, something fundamental is observed that could not be expressed either more easily or with greater difficulty: human dignity.“386 Interessant für die formale Entwicklung der Figur bei Thomas Schütte ist, dass auch Die Fremden keine Zweibeiner sind und der Künstler eine neue Lösung für sein Statik-­ 383   Interessant ist hier die Platzierung im Vergleich zu den allegorischen Portalfiguren auf der Attika des benachbarten Museum Fridericianum (Philosophie, Architektur, Skulptur, Malerei, Geschichte und Astronomie). Vgl. dazu Hentschel 1994, S. 19. 384   Schumacher, Rainald: Nachhut. Zurück in die Zukunft, in: Goetz, Ingvild und Schumacher, Rainald (Hgg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Sammlung Goetz, München, Ostfildern 2001, S. 13–34, S. 23. Thomas Schütte in Bezug auf Die Fremden: „Dass Figur heute ein künstlerisches ist, das ist klar.“ (Winzen 1994, S. 18). 385   Vgl. Loock 2004a, S. 51. Die Arbeit wird in der Literatur immer auch auf den Beginn des Jahrzehnts, als der sozialistische Machtblock zusammenbricht, territoriale Kämpfe wüten und die Verfolgung ethnischer Minderheiten zunimmt, bezogen. Auch wird die Arbeit als Anspielung auf zunehmende rassistische Übergriffe in Deutschland zu dieser Zeit gewertet (z. B. bei Lingwood 1998, S. 10). 386   Heynen 1998, S. 102.

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IV. Sujet

Problem gefunden zu haben scheint. Die Dreibeinkonstruktion wird nun (wie bei Tischfußball-Figuren) durch einen schlichten einteiligen Unterbau an der Stelle, wo eigentlich die Beine unter den Mänteln zu sehen sein müssten, ersetzt. Diese Konstruktion erinnert an hohle Gefäße, beispielsweise an Urnen, wie sie bei Thomas Schütte später in den 1990er Jahren entstehen. Die Körper von Die Fremden sind nach wie vor schematisiert, ihre Köpfe allerdings sind vergleichsweise detailliert modelliert: Die Gesichter bleiben mit ihren einheitlich gesenkten Augen zwar stereotyp, durch ihre verschiedenen Kopfbedeckungen, Frisuren, Bärte und Inkarnate sind sie aber als Individuen gekennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit lebensgroßen Plastiken scheint für Thomas Schütte auch das Auseinandersetzen mit den Möglichkeiten figurativer Plastik in der Kunstgeschichte zu bedeuten. Es ist auffällig, dass die Figuren den Plastiken Ernst Barlachs, und damit Arbeiten eines Künstlers, der in der zeitgenössischen Debatte um 1990 eine untergeordnete Rolle spielt, ähneln: Die niedergeschlagenen Augen der Figuren lassen zum Beispiel an seinen Asketen von 1925 oder an den Schwebenden Engel aus den Jahren 1926/27 denken.387 Parallel zu und im Anschluss an Die Fremden entstehen weiterhin großformatigere Arbeiten, vornehmlich detailliert modellierte, portraithafte Keramik-­ Köpfe und ‑Masken; eine Konzentration auf Köpfe und Gesichter, die viele Jahre andauert, wird erneut sichtbar.388 Die ersten großformatigen Metallplastiken, die Thomas Schütte entwickelt und die den Frauen vorausgehen und zum Teil parallel mit ihnen entstehen, tragen den Titel Große Geister (Abb. 12). Ihnen gehen im Jahr 1995 etwa 100 Kleine Geister voraus.389 Zunächst entstehen circa 45  Zentimeter große Modelle, die der Künstler aus Wachsschnüren dreht und knotet. Dieses Material hat den Vorteil, dass es leicht formbar und zugleich zäh ist und somit Festigkeit bietet. Es lässt darüber hinaus keine klare Differenzierung in der Modellierung zu, sodass Schütte „die Frage nach dem zu wählenden Abstraktionsgrad umgeht“390. Diese Rohlinge werden in flüssiges Wachs getaucht, das auf der einen Seite eine glatte und gleichmäßige Oberfläche entstehen lässt, auf der anderen Seite auch die Tropfspuren erklärt, die sich später auf die Großplastiken (z. B. an den Armen) übertragen. Nachdem diese Wachsmodelle getrocknet und ausgehärtet sind, werden sie im kleinen Format in Kunststoff und Aluminium gegossen. In den Jahren 1995 bis 2004 entstehen dann zwanzig unterschiedliche circa 2,5 Meter hohe Große Geister, zunächst aus Aluminium, dann auch aus Stahl und Bronze. Die Aluminiumgeister erinnern durch ihre glänzenden, spiegelnden Oberflächen an Sciencefiction-Figuren, die aus dem Nichts auftauchen, wieder verschwinden und sich jederzeit in andere Gestalten transformieren können, während die Stahlgeister eine rostige Patina erhalten und 387   Auch die Arbeiten von Käthe Kollwitz und Oskar Schlemmer können in diesem Zusammenhang genannt werden. 388   Zu nennen sind z. B. Dirty Dictators (2003), Wichte (2006), Männerköpfe (2011) und viele weitere. 389   Zur Produktion der Großen Geister vgl. Jansen 2005, S. 242 und Loock 2004a, S. 20. 390   Loock 2004a, S. 20. Hier wird erneut die Rolle des Materials als Gestaltungspartner deutlich.

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IV.1 Der weibliche Akt

an Comic- oder Märchenfiguren, wie Wilhelm Buschs in den Kuchenteig gefallene Figuren Max und Moritz denken lassen. Obwohl die geschlechtslosen Großen Geister überlebensgroß sind, unberechenbar und wie nicht von dieser Welt erscheinen, wirken sie nicht furchteinflößend. Eher sehen sie komisch aus, wie sie sich winden und gestikulieren, als seien sie ausschließlich damit „beschäftigt, ihre amorphe Masse aufrecht zu halten […]. [Sie] legen das unfreiwillige, aber ausdrucksstarke Balanceverhalten ungeübter Schlittschuhfahrer an den Tag“391 oder scheinen in einen Disput verwickelt, der momenthaft eingefroren ist. Man ist geneigt, die Geister als hilfsbedürftige Nicht-Existenzen zu betrachten, die in eine ferne, fremde Welt, in der sie sich nicht mitteilen können, entlassen wurden. Sie sind damit möglicherweise auch „eine ironische Parodie auf die Gebärden von Kommunikation und Gesellschaft“392 ihrer Entstehungszeit. Der Künstler selbst nennt den Hauptausdruck seiner Geister „Ratlosigkeit“393. Thomas Schütte ist von kleinformatigen Wachs-Studien zur Standhaftigkeit von Figuren auf zwei Beinen zu großformatigen Plastiken gelangt, die – auch wenn sie noch etwas unbeholfen wirken – ohne weitere Stützen auf ihren beiden Beinen stehen. Den Kleinen Geistern ist anzusehen, dass an ihnen verschiedene Möglichkeiten der Arm- und Beinhaltung ausprobiert wurden, um die Figuren auszubalancieren und Statik-Probleme zu lösen. Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass die Geister ohne eine Sockelkonstruktion auf einer Ebene mit den Betrachter_innen stehen. Auch aufgrund ihrer Gestik lassen sie an Auguste Rodins Bürger von Calais und die Neuerungen der Plastik um 1900 denken. So thematisieren sie zentrale Topoi der modernen Bildhauerei, auch die Überwindung der Schwere des Materials scheint in der Ambivalenz von den zerfließenden Formen und der Härte des Materials auf.394 Mit Blick auf die Frauen ist hervorzuheben, dass hier – im Rahmen der ersten überlebensgroßen Metallplastiken des Künstlers – zentrale Punkte der Herstellungsverfahren (die Entwicklung im kleinen Format, das Serielle, der Materialwechsel), der Materialwahl (die Trias aus Aluminium, Bronze und Stahl) und der indifferenten Inhaltsebene (Ontologie, Geschlecht, Referenzen) bereits angelegt sind. Angesichts der großen Themenvielfalt in Schüttes Œuvre ist es auffällig, dass es vor den Ceramic Sketches (1997–99, Abb. 3) kaum weibliche Figuren in seinem Werk gibt. Im Jahr 1980 tritt Prinzessin Leia als Spielzeugfigur in einigen Werken auf.395 Ein Jahr später gibt es in der Gemälde-Serie Rote Bilder neben zum Beispiel Hochhaus, Bratwurst und Zwei Flaschen die Arbeit mit dem Titel Busen – zwei weiße größere Kreise in deren   Winzen 2003, S. 76.   Posca, Claudia: Thomas Schütte. Grosse Geister, in: Metzger, Rainer (Hg.): Was ist Kunst? Über das Kanonische, Kunstforum International, Nr. 162, Köln 2002, S. 320–322, S. 322. 393   Winzen 2003, S. 77. 394   Vgl. Fitschen, Jürgen: Die zeitgenössische Bildhauerkunst, in: Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen (Hg.): Die Pop Art und die zeitgenössische Bildhauerkunst, Ausst. Kat., Gerhard-Marcks-Haus, Bremen, Bremen 2002, S. 64–85, S. 74. 395   Z. B. in Westkunst Modelle und Skizzen zum Projekt Großes Theater. 391 392

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IV. Sujet

Mitte sich wiederum je ein kleinerer Kringel befindet. Über zehn Jahre später sind innerhalb der Arbeit Die Fremden (Abb. 11) Frauenfiguren dabei und in der Aquarell-Serie Requiem ist neben vielen anderen Motiven ebenfalls das Portrait einer weiblichen Figur vertreten. Erst 1996 widmet sich die Serie Luise dem Thema Frauenportrait: Auf 66 Blättern sind mit Aquarellfarbe, Buntstift, Bleistift und Tinte in verschiedenen Kombinationen Portraits einer Frau festgehalten. Die einzigen modellierten weiblichen Figuren innerhalb Schüttes bildhauerischem Schaffen bis zu den Frauen bleiben also diejenigen aus Die Fremden von 1992. Wie auch die weiteren menschlichen Figuren dieser Arbeit, sind ihre Körper geometrische Volumen, die durch ihre Symmetrie und ihren einheitlichen Aufbau an Matroschkas erinnern. Formale Analogien werden ebenfalls zu den zum Werk gehörenden Gepäckstücken, Kisten, Säcken und Tonnen, vor allem aber zu Vasen deutlich. Thomas Schütte unterstreicht sie, indem er zu seinen ersten lebensgroßen Keramikfiguren erklärt: „Einmal, sehr naiv figürliche Keramik anzufangen und zu sagen, so ein Mensch ist ein Körper, ein Behälter, eine Vase, dann kann ich auch richtige Vasen und Gepäckstücke dazustellen.“396

Und an einer anderen Stelle: „Die Idee war, lebensgroße Tonfiguren zu machen, Menschen als wertvolle große Vasen.“397 Zu der formalen Komponente, die die Gestalt der Volumina betrifft, tritt eine semantische Ebene: Der Mensch als Gefäß.398 Diese Relation verschärft sich etwa fünf Jahre später, als Thomas Schütte parallel zu der Herstellung der Ceramic Sketches (1997–99, Abb. 3) menschengroße Urnen (1999, Abb. 13) erarbeitet. Im Material Keramik verschränken sich die nun konzentrierte Beschäftigung mit dem Thema weiblicher Akt mit monumentalen Gefäßen.399 Als Schütte 1999 zum ersten Mal Arbeiten aus der Werkgruppe Frauen ausstellt (Stahlfrau Nr. 1 bis Stahlfrau Nr. 4), sind neben den ihnen zugrundeliegenden Ceramic Sketches in der New Yorker Dia Art Foundation unter anderem diese Urnen zu sehen.400 Drei zentrale Komponenten der werkinternen Genealogie des weiblichen Aktes bei Thomas Schütte kommen hier zum Vorschein: Das Material Keramik, der Topos des (weiblichen) Körpers als Gefäß und die Motivgenese aus Die Fremden.401   Zitat Thomas Schütte, in: Winzen 1994, S. 15.   Zitat Thomas Schütte, in: Gould, Trevor: It is Difficult to Arrange an Earthquake. An Interview with Thomas Schütte, in: Parachute Nr. 68, Montréal 1992, S. 38–41, S. 41, zitiert nach: Stewart 2002, S. 126. 398   Dabei handelt es sich um einen tradierten Topos, der in Platons Seelenlehre zentral ist. 399   Parallel arbeitet Schütte in anderen Materialien an weiteren Themen, z. B. entstehen die Großen Geister seit 1995. Vgl. zu der Verschränkung von Keramik, Gefäßen und dem weiblichen Körper vgl. Genge 2009, S. 61 ff. 400   Diese Ausstellung mit dem Titel In Medias Res wird ausführlich in dem Kapitel Präsentation behandelt. 401   Nach dem vorläufigen Abschluss der Werkgruppe Frauen im Jahr 2006 treten weibliche Figuren als ein Motiv unter vielen v. a. auf Papier, meist als Radierungen, auf. Als vereinzelte Ausnahmen können der Bronzebrunnen Weinende Frau (2010), ein Frauenkopf in Ackermanns Tempel (2012) und einige Portrait-Keramikovale der Serie Luise, Anna & Katharina (2014) genannt werden. Nach der intensiven, fast zehn Jahre andauernden Beschäftigung mit dem Thema weibliche Figur scheint das künstlerische Interesse Schüttes daran abzuebben und denselben Platz einzunehmen, den es auch vor 1997 innehatte. 396 397

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IV.1 Der weibliche Akt

Für die Entwicklung der menschlichen Figur in Thomas Schüttes bildhauerischem Schaffen lassen sich verschiedene Stufen, die aufeinander folgen, ineinanderlaufen oder sich parallel vollziehen, verzeichnen. Erst nach seinem Abschluss an der Düsseldorfer Kunstakademie zieht sie nach und nach in sein Werk ein: Die ersten Figuren sind gekaufte Spielzeugpüppchen, die seine Architekturmodelle und Bühnenbilder bevölkern. Etwas später beginnt der Künstler seine Figuren eigenhändig zu entwerfen und zu produzieren. Es entstehen schablonenhafte Holzfigurinen, die integrale Bestandteile der Werke sind. Beide Varianten haben den Charakter von Maßstabsanzeigern, die auch den Betrachter_innen dienen, sich in die einzelnen Arbeiten einzufinden. Seit 1982 beginnt die Beschäftigung mit dem freien Modellieren einer stehenden menschlichen Figur im kleinen Format, die zunächst zehn Jahre intensiv anhält, sich aber auch darüber hinaus als zentrales Thema im Œuvre hält und 2009 in einer 8,5 Meter hohen Bronzeplastik mit dem Titel Mann im Matsch – der Suchende einen Höhepunkt erfährt.402 Für die Arbeiten der 1980er Jahre ist insgesamt festzuhalten, dass sie einen gewissen Bastelcharakter aufweisen: Zum einen verwendet Schütte eine Vielzahl von unterschiedlichen, zum Teil unkonventionellen Materialien, wie Plastilin, Styropor, Ton, Knetmasse, Gips und Textilien und zum anderen erwecken die erwähnten Hilfskonstruktionen – das Verwenden von vorgefertigten Figuren oder das Benutzen eines dreibeinigen Stativs anstelle eines Körpers – diesen provisorischen Eindruck. Im Vergleich zu seinem Zeitgenossen Stephan Balkenhol etwa, der geradezu altmeisterlich seine Figuren aus je einem Holzblock haut, ist Thomas Schüttes Technik unkonventionell: „Das sind die Arbeiten von jemandem, dem weder die formalen noch die technisch-materiellen Möglichkeiten eines ausgebildeten Bildhauers zur Verfügung stehen, und genau diesen Mangel pflegt Schütte, um der Falle des Akademismus zu entgehen.“403

Darüber hinaus ist für diese Phase festzuhalten, dass die Emanzipation der Figur mit der direkten Arbeit mit den Händen einhergeht. In dem Moment, indem Schütte selbst zu modellieren beginnt, werden die Figuren individueller, autonomer, freier, großformatiger.404 In diesem Kontext sind auch weitere kleinformatige Figuren, die beschriebenen Dreibeiner, zu sehen, die seit 1992 entstehen und auch die 1995 einsetzende Arbeit an der prominenten Werkgruppe Geister, die den Frauen direkt vorausgeht beziehungsweise parallel mit ihnen entwickelt wird, ist Teil dieser werkinternen Genealogie der frei stehenden menschlichen Figur.405 Parallel dazu vollzieht sich eine zunehmende Konzentration auf Köpfe und Gesichter, auf das Spiel mit Mimik, das Schaffen von identifizierbaren Repräsentanten eines Typus und schließlich das Bemühen um Portraitähnlichkeit. All diese 402   Vgl. hierzu z. B. Reust, Hans Rudolf: Der Suchende, in: Loock, Ulrich (Hg.): Thomas Schütte. Public/ Political, Köln 2012, S. 167. 403   Loock 2004a, S. 48. 404   Vgl. Schumacher 2001, S. 20 f. 405   Geister: 1995–2004, Frauen: 1998–2005.

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IV. Sujet

eigenhändig modellierten Figuren lösen sich von Kontexten, wie Architekturen und Kulissen und werden autonom. Auffällig ist, dass sämtliche zur Verfügung stehende Werkstoffe, anscheinend ohne Rücksicht auf Kontext und Konnotation, rein nach ihren auf den jeweiligen Nutzen bezogenen Eigenschaften gewählt werden. Alltägliches, wie Fimo und alte Socken, ist dabei genauso gut wie klassisches Bildhauermaterial, wie Wachs und Bronze. Eine eigene Kategorie im bildhauerischen Schaffen Thomas Schüttes stellt das Material Keramik dar. Seit Die Fremden (1992) entstehen bis heute kontinuierlich Arbeiten aus glasiertem und gebranntem Ton. Die Fremden bleiben als lebensgroße Ganzfiguren allerdings Ausnahmen. Im Zentrum der keramischen Werke stehen seit 1992 Köpfe und Gesichter sowie Gefäße, wie Urnen und Vasen, während andere Themen seltener vorkommen. Als die Arbeit an den Ceramic Sketches beginnt, gibt es bis auf Die Fremden lediglich Köpfe und Masken aus Keramik, parallel entstehen dann Urnen. Als Entwurfsmaterial hat Ton bisher keine Rolle bei Thomas Schütte gespielt. Nach 15 Jahren der intensiven Beschäftigung mit der menschlichen Figur mit dem Ergebnis ihrer Emanzipation zum eigenständigen Thema, nach dem Erproben verschiedener Arrangements, Materialien, Statusstufen, Bearbeitungsmöglichkeiten geschlechtsneutraler oder maskulin konnotierter Figuren kommt es 1997 zu der Beschäftigung mit dem weiblichen Akt. (B) Der (unbekleidete) weibliche Körper ist eines der vorherrschenden Sujets der Kunst. Neben zahlreichen Werken der Malerei und der Grafik sind Frauendarstellungen in der Bildhauerei zentral und kontinuierlich in vielfältigen Ausformulierungen vertreten, die an dieser Stelle nicht gänzlich wiedergegeben werden können. Einige Aspekte der Motiv­ geschichte sollen aber vor Augen geführt werden. Neben einigen kleinformatigen unbekleideten weiblichen Figuren aus der Steinzeit, die in der Forschung, auch aufgrund ihrer markanten, ausladenden Formen an Hüfte und Brust, als Fruchtbarkeitsidole mit magisch-kultischer Bedeutung beschrieben werden, scheint die Geschichte des weiblichen Aktes in der Antike, in der Spätklassik zu beginnen.406 Prominent sind dabei verschiedene Darstellungen der Venus als wohl komponierte, idealschöne Göttin in stehender Pose, auf die in Kunst und Kunsttheorie immer wieder referiert wird.407 Da keine der 18 Figuren der Werkgruppe Frauen in einer ste­ henden Position dargestellt ist – die Hälfte der Figuren befindet sich in liegenden Haltungen, andere sitzen, hocken oder kauern – geht die für ihre Analyse interessantere motivi-

406  Die Venus von Laussel und die Venus von Willendorf gelten als ursprünglich, naturverbunden, nicht unterworfen (vgl. z. B. Ohlsen, Nils: Vergewisserung und Experiment. Aspekte der Aktdarstellung in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in: Sommer, Achim und Ohlsen, Nils (Hgg.): Der Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst. Kat., Kunsthalle Emden, Köln 2002, S. 12–23, S. 15). 407   Diese Figuren tauchen ebenfalls in Popkultur und Werbung auf. Zu nennen sind als Urtypen insb. die Venus von Knidos, die Venus von Kyrene, die Kapitolinische Venus und die Medici Venus.

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sche Linie von einem anderen hellenistischen Skulpturentypus, von dem der Schlafenden Ariadne, aus.408 Eine Replik dieses antiken Typus (Abb. 16) wird zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Cortile delle statue des Belvedere im Vatikan aufgestellt.409 Somit gehört die überlebensgroße Marmorfigur neben den Statuen des Laokoon, des Apollon und einigen weiteren zu den ersten Stücken, die Papst Julius II. im Rahmen der neu gegründeten Antikensammlung dort installieren ließ, was entscheidend dazu beitrug, dass Ariadne zu einer kanonischen und immer wieder kopierten Figur wurde.410 In der Nordost-Ecke des Hofes ist die schlafende Frauengestalt, die bis ins späte 18. Jahrhundert (vermutlich aufgrund ihres Schlangenarmbands) für eine Darstellung der Kleopatra gehalten wird, zunächst in einer Nische über einem Brunnen installiert, sodass sie auch als Muse oder Nymphe gedeutet wird, die im Garten neben einer Quelle eingeschlafen war.411 Dieser Kontext verstärkt sich, als die Figur in der Mitte des 16. Jahrhunderts innerhalb des Vatikan ihren Aufstellungsort wechselt und in der nach ihr benannten Stanza della Cleopatra oberhalb einer angedeuteten Grotte als schlafende Nymphe inszeniert wird, wo sie als eine der „am meisten bewunderten Antiken Roms“412 bis weit ins 18. Jahrhundert – bis zu der Gründung des Museo Clementino – verbleibt. Sie wird von zahlreichen Menschen gesehen und häufig vor allem in grafischen Werken widergegeben.413 Die Vorbildhaftigkeit der Darstellungsform kommt durch Großplastiken, etwa in den Brunnen- und Grottenanlagen der römischen Gärten von Angelo Colocci und von Hans Goritz sowie durch weitere liegende Brunnenfiguren aus dem späten 16. Jahrhundert, etwa an der Straßenkreuzung der Via delle Quattro Fontane und der Via Quirinale in Rom, zum Ausdruck.414 Der Typus der liegenden, auf die vatikanische ‚Kleopatra-­Nymphe-Ariadne‘ zurückgehende Frauenfigur in Gärten kommt daraufhin häufiger in Rom und in weiteren Teilen Italiens vor.415 Die Darstellungsformen von Ariadne, Venus und Nymphe mi408   Wenn nicht anders vermerkt stützen sich die Ausführungen zu Ariadne im Folgenden auf Wolf, Claudia Marie: Die schlafende Ariadne im Vatikan. Ein hellenistischer Statuentypus und seine Rezeption, Hamburg 2002. Vertiefend vgl. auch Köhn, Silke: Ariadne auf Naxos. Rezeption und Motivgeschichte von der Antike bis 1600, München 1999. 409   Es gibt mindestens vier Repliken (vgl. Wolf 2002). 410   Für ausführliche Informationen zu dem Cortile delle statue vgl.: Winner, Matthias, Andreae, Bernhard und Pietrangeli, Carlo (Hgg.): Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan, Mainz 1998. 411   In der Literatur wird als mögliche Quelle dieser Installation eine Illustration eines Venus-Brunnens in Hypnerotomachia Poliphili (Francesco Colonna, 1499) angegeben. (Wolf 2002, S. 21 und MacDougall, Elisabeth Blair: Fountains, Statues and Flowers. Studies in Italian Gardens of the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Washington 1994, S. 43 ff.). 412   Wolf 2002, S. 257. 413   U. a. von Raffael, Hendrik Goltzius und Leonardo da Vinci (vgl. Wolf 2002, S. 257 ff.). 414   Z. B. auch in Nymphen-Bronzestatuetten, wie Giovanni da Bolognas Bronzegruppe (um 1575, Staatliche Kunstsammlungen Dresden) (vgl. Wolf 2002, S. 272 ff., dort finden sich ebenfalls weitere Beispiele). 415   Laut MacDougall 1994, S. 43 ff. werden antike Nymphen (halb bekleidet, Kopf auf Arm, Beine gekreuzt) erst später im 16. Jahrhundert rezipiert. V. a. das Motiv des über den Kopf gelegten Arms (laut Wolf 2002, S. 337 in der Antike ein typischer Schlafgestus (z. B. in Vasenmalerei)) ist typisch für Ariadne und wird auch an anderer Stelle übernommen: Genannt werden Michelangelo Buonarrotis Nacht und Sklave, und ebenso

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schen sich in der Folge in den unterschiedlichen Gattungen und es kommt zu einer Blüte des liegenden weiblichen Aktes vor allem in Frankreich. Als Franz I. den Künstler Francesco Primaticcio im Jahr 1540 beauftragt, in Rom die berühmtesten antiken Skulpturen abzuformen, fertigt dieser auch eine Gipsform der vatikanischen Schlafenden Ariadne – nach wie vor als Cleopatra bezeichnet – an und vervielfältigt die Figur für das Schloss in Fontainebleau in Bronze. Dort verbleibt sie bis zum Ende der Französischen Revolution in der Gartenanlage und wird umfassend rezipiert und reproduziert. Einige adelige Auftraggeber folgen dem Vorgehen und installieren Großfiguren nach antikem Vorbild auf ihren Anwesen, die (vatikanische) Cleopatra – als Sinnbild für Stolz und Selbstachtung – gehört dabei zum Kanon.416 In Frankreich mehren sich die auf wenige Grundformen gebrachten Darstellungen weiblicher Aktfiguren. Als ein frühes zentrales Beispiel ist Benvenuto Cellinis Nymphe de Fontainebleau (1542) zu nennen, der zahlreiche Liegende folgen.417 Von der Schlafenden Ariadne, die als Katalysator für diese Nymphen-Blütezeit beschrieben werden kann, werden weiterhin Gipsabgüsse als Sammlerstücke und zur Künstlerausbildung erstellt und die römische Version wird in den beiden folgenden Jahrhunderten in zahlreichen Stichwerken wiedergegeben.418 Die Cleopatra steht zu der Zeit, wie die anderen antiken Skulpturen im Vatikan, im Mittelpunkt des künstlerischen und wissenschaftlichen Interesses.419 In diesem Kontext ist auch die Umdeutung der Skulptur zunächst durch Johann Joachim Winkelmann als Venus oder Nymphe und schließlich 1784 durch Ennio Quirino Visconti als schlafende Ariadne zu sehen.420 In der Epoche der Empfindsamkeit erfreut sich die Darstellung der Verlassenen, Trauernden, Sehnsüchtigen großer Beliebtheit und das Motiv erhält sich in verschiedenen Formaten, Variationen und Medien.421 Und auch, wenn im 18. Jahrhundert liegende weibliche Akte entstehen, die sich formal zum Teil weit von der Darstellung des Ariadne-Typus entfernen, wie etwa Claude Michel Clodions völlig entblößte, spielende, scheinbar kindlich Lucas Cranach d. Ä., Albrecht Dürer, Giorgione (vgl. Wolf 2002, Mai, Ekkehard: Entzauberung und Mystifikation. Wechselbilder der Venus-Olympia von Cabanel bis Cézanne, in: Bayerische Staatsgemäldesammlung (Hg.): Venus. Bilder einer Göttin, Ausst. Kat., Alte Pinakothek München, München 2000, S. 106–123 und MacDougall 1994). Ekkehard Mai spricht sogar von einem „Ariadne-Faden der Liegenden“, der sich, ausgehend von der vatikanischen Antiken-Replik, durch die Kunst ziehe und nennt als Stationen: Leonardo da Vinci, Hendrik Goltzius, Giorgione, Tizian, Peter Paul Rubens, Nicolas Poussin und Jean-Auguste-Dominique Ingres. (Mai 2000, S. 117). 416   Z. B. Marisa von Ungarn, Philipp IV., Ludwig XI. und Isabella d’Este (vgl. Wolf 2002, S. 278 und S. 296). Darüber hinaus gab es ebenfalls im 18. Jahrhundert in England Nymphenbrunnen (Stourhead, Twickenham). Vgl. dazu auch Haskell, Francis und Penny, Nicholas: Taste and the antique. The Lure of Classical Sculpture 1500–1900, New Haven/London 1981, S. 1 ff., 79 f., 184 ff. 417   Z. B. die Diana von Anet (um 1550) und weitere Werke von Bartolomeo Ammannati, Giovanni da Bologna und Jean Goujon. 418   Zu nennen sind für das 17. Jahrhundert u. a. François Girardon und Michel Anguier und für das 18. bzw. 19. Jahrhundert u. a. Jean-Antoine Houdon, Jean-Baptiste Carpeaux und Antonio Canova. 419   Vgl. Wolf 2002, S. 290 ff. 420   Vgl. ebd., S. 294. 421   Vgl. ebd., S. 302 ff.

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und naiv wirkende, tatsächlich forciert sexualisierte La Gimblette (1760) und eine Entmythologisierung des Motivs einzusetzen scheint, halten die Künstler des Klassizismus an tradierten Darstellungsformen fest. Antonio Canova stellt die nur teilweise mit einem Tuch verhüllte, auf einem Bett liegende Paolina Borghese in den Jahren 1805 bis 1808 als ruhende Venus dar. Entscheidend ist hier, dass nicht eine Göttin, sondern eine Frau in der Pose einer Göttin zu sehen ist, die ihre Nacktheit legitimiert. Die erotisierende Kunst des 19. Jahrhunderts hält an der Wiedergabe der (von Dionysos zur Braut genommenen) Ariadne in der Skulptur fest, die sich aber immer weniger an dem antiken Typus orientiert. Vielmehr wird der Typus der liegenden oder halbsitzend Schlafenden Ariadne für die Darstellung von (mythologischen) Frauengestalten übernommen. Exemplarisch dafür sind die schlafenden, passiv und wehrlos erschei­ nenden Schönheiten von Jean-Baptiste Auguste Clésinger, Alexandre Schoenewerk oder Jacques Loysel. Die bildimmanente Legitimation der Nacktheit bleibt auch ohne antike Darstellungsformen notwendig. Die Liegenden, Stehenden, Hockenden des 19. Jahrhunderts sind alibihaft in unterschiedliche Kontexte eingebettet, um ihre Nacktheit plausibel erscheinen zu lassen.422 Zu nennen sind Bäder, Betten, Ateliers, Aktsäle, die Antike, der Orient. Der weibliche Akt bleibt ein scheinbar leeres, tatsächlich deutlich sexualisiertes Zeichen, das (durch Kontext und Darstellungsform) mit Bedeutung gefüllt werden muss. Eine unbegründet nackte Frau bleibt bedeutungslos, unsignifikant, nicht darstellungswürdig.423 In der Plastik trägt Edgar Degas mit seinen Darstellungen bewegter, oft tanzender, weiblicher Körper dazu bei, den Akt von den tradierten, gesellschaftlich akzeptierten Posen zu lösen. Er stellt ihn weniger in gestellten Posen dar, sondern in Haltungen und Bewegungen in (vermeintlich) unbeobachteten Momenten. So beginnt zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Zeit mit neuen formalen und motivischen Perspektiven für den weiblichen Akt, die sich durch die Befreiung von akademischen und ikonographischen Traditionen zu eröffnen scheinen.424 Entscheidend erweitert Auguste Rodin die Darstellung der unbekleideten Frau mit seinen nüchternen, realistischen Bildern und trägt damit zur Überwindung der Darstellung des allgegenwärtigen, idealschönen weiblichen Körpers in seinem vorgegebenen Kontext bei.425

  Auch innerhalb der im 19. Jahrhundert neu entstehenden ikonographischen Typen der Frau wird die Differenz zum Mann stets aufrechterhalten; sie bleibt ihm stets fremd und positiv oder negativ überhöht (vgl. Rodiek, Thorsten: Das Bild der Frau in der Plastik von den Anfängen bis 1900, in: Das Bild der Frau in der Plastik des 20. Jahrhunderts, Ausst. Kat., Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg, Duisburg 1986, S. 8–37, S. 35) und ist stets dazu konzipiert, dem Auftraggeber/Rezipienten zu gefallen (vgl. Ohlsen 2002, S. 22). 423   Vgl. Körner, Gudrun: Nackt ist schön, in: Schulze, Sabine (Hg.): nackt! Frauenansichten. Malerabsichten. Aufbruch zur Moderne, Ausst. Kat., Städelsches Kunstinstitut Frankfurt am Main, Ostfildern-Ruit 2003, S. 247–254, S. 248. Zum Zeichencharakter des weiblichen Körpers vgl. vertiefend Bronfen 2003, Genge 2000, Söntgen 1996, Wenk 1996. 424   Vgl. Körner 2003, S. 252. 425   Zu nennende Werke Rodins sind z. B. Eva (1881) und Die einst schöne Helmschmiedin (1885). 422

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IV. Sujet

Im 20. Jahrhundert halten auch explizit anti-klassisch und anti-akademisch arbeitende Künstler an dem liegenden weiblichen Akt fest. Es kommt anhand des tradierten Sujets zwangsläufig zu einem Dialog zwischen Tradition und Moderne, Hochkunst und Alltäglichem – ob die Künstler sich an die Tradition zu binden suchen oder offenkundig traditionelle Formen ablehnen.426 Exemplarisch dafür sind unter anderem die vereinfachten Figuren von Henri Laurens und Henri Matisse, das Aufbrechen der Formen von Pablo Picasso und den Kubisten sowie die glatten Abstraktionen von Constantin Brâncuşi und Henri Moore. Die inhaltliche, semantische Ebene des Dargestellten scheint nicht weiter zentral, viel mehr treten die stilistischen und formalen Komponenten in den Vordergrund. Der weibliche Akt scheint zum Nachteil seiner sinnbildhaften Bedeutung zum eher künstlerischen, formalen Problem zu werden. Gängig ist zunächst die Schlussfolgerung, dass der Akt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Diesseits angekommen sei und er sich endgültig von seinen ästhetischen, voyeuristischen, moralischen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen Traditionen löse, die sich über die Jahrhunderte eingeschrieben haben.427 Wie auch den Werkstoffen könnte also hier dem Sujet eine semantische Entleerung diagnostiziert werden, die es zu überprüfen gilt. Die Propaganda-Bildhauerei des Nationalsozialismus, die schöne, gesunde, leistungs- und gebärfähige, unbekleidete Frauen in der Regel in aufgerichteten Haltungen wiedergibt, unterbricht den sich entwickelnden Pluralismus der Moderne zugunsten einer allgemeingültigen Semantik und Formensprache. Nach dem Zweiten Weltkrieg stagniert die figurative Bildhauerei in klassischen Medien bis auf wenige Ausnahmen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrscht zunächst Abstraktes vor, Installatives entwickelt sich und großformatige Menschenbilder treten erst in Pop Art und Hyperrea­ lismus wieder auf. Die künstlerische Beschäftigung mit dem menschlichen, insbesondere mit dem weiblichen Körper erfährt seit den 1960er Jahren einen radikalen Richtungswechsel und findet nicht mehr in den tradierten Materialien der Bildhauerei statt. Während in den 1950er Jahren noch postuliert wird, dass der weibliche Akt „im Beschauer irgendeine Spur von erotischen Gefühlen wecken sollte“428, da er andernfalls „als Kunst schlecht und unsittlich“429 sei und dass die Neuerungen der Moderne „gewagte Verunstaltungen“430 seien, die es zu überwinden gelte,431 beginnen vor allem Künstlerinnen in den 1960er Jahren neue 426   Vgl. House, John: Der moderne Akt, in: Schulze, Sabine (Hg.): nackt! Frauenansichten. Malerabsichten. Aufbruch zur Moderne, Ausst. Kat., Städelsches Kunstinstitut Frankfurt am Main, Ostfildern-Ruit 2003, S. 18–27, S. 27. Eine Sonderstellung nimmt hier Aristide Maillol ein, dessen Skulpturenauffassung in Bezug auf Frau Nr. 3 und Frau Nr. 5 eine zentrale Rolle spielt (vgl. den Abschnitt Sitzende/Hockende (Nr. 5/Nr. 3) im Kapitel Werkexterne Sujet-Entwicklung und den Abschnitt Bezugsysteme im Kapitel Transformationsprozesse der vorliegenden Arbeit). 427   Vgl. z. B. Cinotti, Mia: Der Frauenakt in der Skulptur, Novara 1953. 428   Clark, Kenneth: Das Nackte in der Kunst, London 1958, S. 8. 429  Ebd. 430   Cinotti 1953, S. 8. 431   Vgl. ebd.

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IV.1 Der weibliche Akt

Möglichkeiten und Strategien zu entwickeln und sich gegen die Inbesitznahme des weiblichen Körpers durch die männliche Hand und den männlichen Blick aufzulehnen.432 Dominante visuelle Codes werden durch Parodie, Neubearbeitung, Rollenwechsel, unter der Verwendung neuer Medien und des eigenen Körpers dekonstruiert und neue, zuvor tabuisierte Themen der Weiblichkeit, wie Schwangerschaft, Geburt und weibliche Sexualität, werden aufgerufen. Klassische Bildhauerei – der männliche Künstler gestaltet den weiblichen Körper im klassischen Material für den männlichen Betrachter – scheint undenkbar geworden zu sein. In künstlerischen und kunsthistorischen Diskursen des späten 20. Jahrhunderts gilt die Aktplastik als die „Festschreibung der Unterwerfung der Frau unter den Mann, vor allem im Bereich der Sexualität“433. Das thematische Feld, auf das Thomas Schütte sich in den späten 1990er Jahren begibt, gilt zu diesem Zeitpunkt als chauvinistisch, reaktionär und überholt. Fragen, die sich in Anbetracht der Frauen unwillkürlich stellen, lauten: Wie können weibliche Aktfiguren vor diesen Hintergründen – der Jahrhunderte alten Darstellungsgeschichte und der zeitgenössischen Debatte – aussehen? Wie stellt man am Ende des 20. Jahrhunderts ein Sujet dar, das in der Skulptur so häufig wie nur wenige andere Themen dargestellt wurde und das gleichermaßen so problematisch ist, wie kaum ein anderes? Schütte lädt sich durch die Themenwahl somit nicht nur die gesamte Tradition der westlichen Kunst auf, sondern ebenfalls eines der größten und brisantesten Probleme der zeitgenössischen (Auseinandersetzung mit) Kunst. Obwohl die Orientierung an antiken Themen und Darstellungsformen im 20. Jahrhundert nachlässt, sind nach wie vor Referenzen auf die alten Bilder identifizierbar. Claudia Marie Wolf beispielsweise erkennt in Pablo Picassos Demoiselles d’Avignon (1907) Ariadnes über den Kopf gelegten Arm.434 In der Skulptur taucht das Motiv deut  Ausführlich dazu vgl. Saunders, Gill: The Nude. a new perspective, London 1989.   Fleischmann, Antje: Das Bild der Frau in der Plastik des Nationalsozialismus, in: Das Bild der Frau in der Plastik des 20. Jahrhunderts, Ausst. Kat., Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg, Duisburg 1986, S. 40–48, S. 46. Ähnliche Formulierungen finden sich ebenfalls bei Saunders 1989; S. 23; Ohlsen 2002, S. 18; Bronfen, Elisabeth: Nackte Berührung. Disfiguration und Anerkennung im weiblichen Akt, in: Schulze, Sabine (Hg.): nackt! Frauenansichten. Malerabsichten. Aufbruch zur Moderne, Ausst. Kat., Städelsches Kunst­ institut Frankfurt am Main, Ostfildern-Ruit 2003, S. 257–268, S. 262; Kleinspehn, Thomas: Schaulust und Scham. Zur Sexualisierung des Blicks, in: Hoffmann, Detlev (Hg.): Der nackte Mensch. Zur aktuellen Diskussion über ein altes Thema, Marburg 1989, S. 31–50, S. 44. Vgl. zur ausführlichen Untersuchung der Verwendung des weiblichen Körpers in der bildenden Kunst v. a.: Genge 2009; Bronfen 2003; Genge, Gabriele: „Der gebaute Körper“. Der weibliche Akt als Architekturmodell in Aristide Maillols „Méditerranée“, in: Genge, Gabriele (Hg.): Sprachformen des Körpers in Kunst und Wissenschaft, Tübingen/Basel 2000, S. 31–48; Wenk, Silke: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln/Weimar/Wien 1996; Eiblmayr, Silvia: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993; Nead, Lynda: The Female Nude. Art, Obscenity and Sexuality, London 1992; Pollock, Griselda: Vision and Difference. Femininity, Feminism, and the History of Art, London 1988; Schade, Sigrid: Der Mythos des „Ganzen Körpers“. Das Fragmentieren in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte, in: Barta, Ilsebil, Breu, Zita, Hammer-Tugendhat, Daniela, Jenni, Ulrike, Nierhaus, Irene und Schöbel, Judith (Hgg.): Frauen Bilder Männer Mythen, Berlin 1987, S. 239–260. 434   Vgl. Wolf 2002, S. 329. 432 433

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IV. Sujet

licher zum Beispiel bei Henri Matisse auf und Henry Moores zahlreiche Liegende referieren ebenfalls auf den Typus. Konkret wird das Bild der Schlafenden Ariadne in Giorgio De Chiricos Gemälden, etwa in Piazza d’Italia (1950) aufgegriffen, auf das wiederum Andy Warhol 1982 unter dem Titel Italian Square with Ariadne referiert. Die vatikanische Marmorskulptur bleibt also, als Typus oder als konkrete Figur, ganzfigurig oder im Detail, auch im 20. Jahrhundert imitierte und verfremdete Referenzquelle für liegende weibliche Aktfiguren in verschiedenen Gattungen und Materialien. Und sie prägt die Bildsprache für weibliche Liegende, wie es sich im Folgenden an Thomas Schüttes Beispiel zeigt, bis heute. Der Bogen spannt sich in den folgenden Einzelanalysen beginnend bei der klassisch anmutenden Liegenden Frau Nr. 1 über zahlreiche Variationen der liegenden Pose, in der sich neun der 18 Figuren befinden (Nr. 1, 6, 12, 15, 14, 7, 4, 8, 16), hin zu der zweiten Hälfte der Figurengruppe, in denen die horizontale zugunsten von kauernden oder sitzenden Positionen verändert ist (Nr. 9, 5, 3, 10, 13, 2, 11, 17, 18).435

IV.2 Einzelanalysen Nr. 1 (Abb. 17) Einst war die am Strand von Naxos schlafende, dort von Theseus zurückgelassene und daraufhin von Dionysos zur Braut genommene Ariadne Sinnbild der verlassenen, wehrund ahnungslosen Frau (Abb. 16).436 Ihr Schlaf ist dabei als der passive Moment des Übergangs von der menschlichen Existenz zum Dasein als Göttin markiert. Doch die isoliert, ohne Erzählzusammenhang dargestellte vatikanische Figur befindet sich in einem unschuldigen Schlummer, der eher erotisch als verzweifelt konnotiert ist. Ariadne erscheint hier nicht als Opfer menschlicher Untreue, sondern als anziehende Frau und reizvolle Gefährtin.437 Claudia Marie Wolf zeigt, dass diese Deutung Schwankungen unterworfen ist. Beispielsweise erklärt sie die anhaltende Rezeption der Figur in der Neuzeit, als sie für eine Cleopatra gehalten wird, mit der Vorliebe für tragische, heroische Schicksale und als schlafende Nymphe wecke sie die Sehnsucht nach Arkadien und sorge als Muse für die Inspiration der Künstler.438 Die überlebensgroß dargestellte Ariadne liegt auf ihrer linken Seite auf einem felsigen Untergrund. Ihr aufgerichteter, leicht nach vorn geneigter Oberkörper ist an eine Erhöhung gelehnt. Sie stützt sich auf ihren linken mit einem Schlangenband geschmückten Oberarm. Der Ellenbogen dieses Arms ist gebeugt, sodass die linke Hand Ariadnes 435   Frau Nr. 18, die letzte Nummer der Gruppe, nimmt dabei eine Sonderstellung ein und wird zum Abschluss der Einzelbetrachtungen analysiert. 436   Vgl. Schwab, Gustav: Sagen des klassischen Altertums, Frankfurt/Main/Leipzig, 2001, S. 215 (Fünftes Buch, Theseus). 437   Vgl. Wolf 2002, S. 342. 438   Vgl. ebd., S. 344.

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IV.2 Einzelanalysen

nach links geneigten Kopf zu stützen scheint. Handrücken und Kopf nähern sich auf Höhe der linken Schläfe, das Gesicht der Figur mit den geschlossenen Augen wird somit nicht verdeckt. Ariadnes rechter Arm ist senkrecht in die Höhe gehoben, nach vorn geneigt und im Ellenbogen, der den höchsten Punkt der Figur bildet, gebeugt, der Unterarm ist auf der rechten Seite des geneigten Kopfes abgelegt. Die Fingerspitzen der rechten Hand zeigen in Richtung Boden.439 Der aufgerichtete und angelehnte Oberkörper knickt etwa auf Höhe der Taille leicht ein, der Unterkörper der Figur ruht somit fast waagerecht auf dem Untergrund. Das leicht gebeugte Knie des unteren, linken Beins zeigt nach vorn, wodurch sich eine Drehung in Richtung der Betrachter_innen ergibt. Das obere rechte Bein der Ariadne ist ebenfalls leicht gebeugt und der rechte Unterschenkel kreuzt den linken Unterschenkel, sodass der rechte Fuß sich vor den linken schiebt und den untersten Punkt der Figur markiert. Die Knie fallen dadurch locker auseinander und die gesamte Vorderseite der Ariadne – Schoß, Bauch, Brust – ist sichtbar und ungeschützt. Dieser Eindruck wird durch die aufgespannten Schultern, die aus den beschriebenen Armhaltungen resultieren, unterstrichen. Die Gesamtkomposition ergibt somit ein großes Dreieck, dessen längste Seite die Diagonale in Leserichtung von unten links nach oben rechts bildet, wobei die obere Konturlinie stufenhaft ansteigt. Ariadne ist in einem langen Gewand dargestellt, das ihre Beine, bis zu den mit verzierten Sandalen bekleideten Füßen, und ihren gesamten Unterkörper verhüllt.440 Da sich die Befestigung des Stoffes auf der linken Schulter gelöst zu haben scheint, ist die obere Partie ihres Kleids verrutscht. Es verläuft zwischen ihren Brüsten über ihre rechte Schulter nach hinten, sodass beide Brüste und der Bauchnabel unbedeckt sind.441 Ein weiterer Stoff – vermutlich ihr Mantel – liegt über ihrer Hüftpartie und zieht sich über den Rücken und ihren Oberkopf, sodass einige lockige Haarsträhnen und ein Haarband sichtbar bleiben. Er bettet ihren linken Arm und läuft nach unten hin aus. Der üppige, sternförmige Faltenwurf betont ihren Schoß ebenso wie die gestaffelten, scharfkantigen V‑Falten durch den Kontrast ihre runden Brüste hervorheben. Die in dieser exponierten Form schlafende junge Frau wird zum Vorbild für liegende weibliche Figuren. Frau Nr. 1 (Abb. 17), die den Auftakt zu Thomas Schüttes achtzehnteiliger Werkgruppe Frauen bildet, nimmt die Bildsprache der Schlafenden Ariadne auf. Die ebenfalls überlebensgroße Figur liegt auf ihrer rechten Seite gerade auf der flachen Stahlplatte des Tischsockels. Ihr rechter Arm bettet ihren überdimensionierten Kopf und ist gebeugt, sodass der Unterarm nach hinten zeigt und in einer nach oben geöffneten Hand endet. Der linke Arm von Frau Nr. 1 liegt, leichter gebeugt, über ihrem Kopf. Auch die linke hakenhafte Hand öffnet sich nach oben. Zwischen den beiden glatten, wenig detailliert ausgearbeiteten Armen befindet sich der Kopf der Figur. Zentral ist eine ovale konkave   Die Hand lag ursprünglich am Hinterkopf an (vgl. Wolf 2002, S. 74).   Es handelt sich wohl um ein Unterkleid, einen Chiton. Zur Bestimmung und Gestalt der Bekleidung und des Faltenwurfs vgl. Wolf 2002, S. 75 ff. 441   Das sieht man allerdings nicht in der Frontalansicht. Die Betrachter_innen sind gezwungen, sich nach links zu bewegen, um diese Details sehen zu können (vgl. Wolf 2002, S. 77). 439 440

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IV. Sujet

Fläche, die durch zwei sich kreuzende Linien und eine markante einige Zentimeter lange senkrechte Einkerbung in der Mitte gekennzeichnet ist. Es scheint sich um die Fläche für das Gesicht zu handeln, das allerdings auf eine irritierende, unnatürliche Weise in einer etwa 90°-Drehung zur Körperachse steht. Die obere Hälfte des glatten Ovals ist mit einem wenige Zentimeter breiten unregelmäßig rau strukturierten Band umgeben, das wie ein Haaransatz anmutet. Nahezu das gesamte Kopfoval ist von einer wulstigen, undefinierbaren Formenzone umgeben, die auf der linken Seite auf dem Arm endet und rechts bis auf die Stahlplatte fließt. Am Hinterkopf laufen diese Formen zu einer Art Zipfelmütze zusammen (Abb. 18). Die linke Seite des Brustkorbs wölbt sich mächtig nach oben, während die linke Achselhöhle eine unnatürlich tiefe Einwölbung darstellt. Die runden Brüste der Figur liegen übereinander, wobei die untere, rechte Brust flach auf der Sockelplatte aufliegt. Die Taille von Frau Nr. 1 erscheint vergleichsweise schmal und ist durch einen Bauchnabel gekennzeichnet. Das linke Bein der Figur ist angewinkelt und so aufgestellt, dass das Knie in die Höhe zeigt. Der Oberschenkel des rechten Beins liegt auf der Stahlplatte auf und das Knie ist etwa im 90°-Winkel gebeugt, sodass der Unterschenkel das andere Bein kreuzt. Seine rechte, untere Seite liegt auf dem Spann des aufgestellten linken Fußes und berührt den unteren Teil des Schienbeins des linken Unterschenkels. Diese Beinhaltung – gekreuzte Unterschenkel bei abgelegtem rechten und aufgestelltem linken Bein  – gibt den Blick in den geschlechtsteillosen Schoß der völlig unbekleideten Figur frei.442 Die Rückseite von Frau Nr. 1 zeigt die bereits beschriebenen Arme und Hände und den Hinterkopf, der auch hier ohne Hals an den gewölbten Rumpf anschließt. Der obere und mittlere Rücken der Figur wirkt auffallend fleischig – entlang der Wirbelsäule und zwischen den Schulterblättern zeichnen sich kräftige Muskelstränge ab – und kontrastiert mit der sehr schmal gehaltenen Taille und dem schmalen Gesäß, von dem lediglich ein Teil der linken Hälfte zu sehen ist. Der übrige Teil des Gesäßes scheint in der Sockelplatte zu verschwinden. Die Rückenansicht zeigt darüber hinaus die Sohle des rechten Fußes. Kompositorisch ist die Figur – von der Frontalansicht ausgehend – in eine auf der Längsseite liegende langrechteckige Form eingeschrieben. Die untere Kontur ist von der Stahlplatte gerade begrenzt und oben lässt sich eine nahezu waagerechte Linie vom linken Ellenbogen zum linken Knie ziehen. Diese beiden höchsten Punkte der Figur bilden ebenfalls die Spitzen zweier Dreiecke, die sich am schmalsten Punkt der Figur in der Hüftbeuge überschneiden und diesen Bereich somit zusätzlich betonen. Der Vergleich der beiden Figuren zeigt eine ähnliche Positionierung des gesamten Körpers und besonders der Extremitäten. Zentral sind dabei der über den Kopf gelegte Arm und die sich kreuzenden, auseinanderfallenden Beine. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass eine Art Umkehrung stattgefunden hat: Zunächst sind beide Figuren   Zur Darstellbarkeit des weiblichen Geschlechtsorgans vgl. z. B. Lehmann, Ann-Sophie: Der schamlose Körper, in: Wismer, Beat und Badelt, Sandra (Hgg.): Diana und Actaeon. Der verbotene Blick auf die Nacktheit, Ausst. Kat., museum kunst palast, Düsseldorf, Ostfildern 2008, S. 192–197. 442

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IV.2 Einzelanalysen

in unterschiedliche Richtungen liegend dargestellt. Ariadnes Füße befinden sich links, ihr Kopf rechts; Frau Nr. 1 ist gespiegelt. Die Arme von Frau Nr. 1 liegen kompakt an ihrem Kopf an, während Ariadne rechts und links von ihrem Kopf mit ihren Armbeugen dreieckige Freiräume bildet. Bei Schüttes Figur kreuzt das untere Bein das obere, während die ältere Figur das obere über das untere kreuzt. Entsprechend sind beide Beine der Ariadne abgelegt und sie berühren einander auf ihrer gesamten Länge, während sich die Beine der Frau Nr. 1 lediglich punktuell berühren und das eine Bein aufgestellt ist, sodass hier ein dreieckiger Freiraum entsteht. Darüber hinaus steht der ansteigenden Komposition, die sich aus Ariadnes aufgerichtetem Oberkörper ergibt, bei Schütte eine eher horizontale, flache Komposition entgegen. Die beschriebenen Differenzen zwischen den beiden Figuren sorgen für fundamentale Unterschiede bei der Betrachtung der Figuren. Die Blicke der Betrachter_innen wandern den entspannt ruhenden Körper der Ariadne von ihren Füßen aufsteigend stufenweise nach oben zu ihrem geneigten Kopf, der durch die ausladenden Armpositionen zusätzlich betont wird. Die geschlossenen Augen zeigen an, dass die Figur schläft. So kann der Blick der Komposition weiter folgen und an den durch den Faltenwurf hervorgehoben Stellen haften bleiben. Zu nennen sind zunächst die freigelegte linke Brust und der zentrale, verhüllte Schoß. Da die Betrachter_innen aus ihrer frontalen, untersichtigen Perspektive lediglich die linke Brust der Figur sehen und die rechte nur erahnen können, bewegen sie sich vermutlich weiter nach links, um nicht nur die rechte ebenfalls entblößte Brust, sondern auch die gesamte rechte unbekleidete Flanke, einen Teil des Bauches und ebenfalls den Nabel der Figur sehen zu können. Diese Zweiansichtigkeit inszeniert und sexualisiert die weibliche (partielle) Nacktheit und macht die Betrachter_innen zu Voyeur_innen, die durch ihre Bewegungen nach links gezwungen sind, sich auch als solche zu offenbaren. Die Schlafende Ariadne wird so zu einem Kippbild zwischen schamhaft bekleideter und reizvoll halb nackt schlafender junger Frau. Innerhalb einer Subjekt-Objekt- oder aktiv-passiv-Dichotomie bleiben die Rollen von männlich und weiblich klar verteilt: Das bedeutet zunächst, um es mit John Berger zu sagen: „men act and women appear“443. Und auch, wenn bei genauer Betrachtung festzustellen ist, dass auch die Figur agiert, indem sie die Betrachtenden zwingt zu reagieren, nämlich sich zu bewegen, bleibt die Rezeption in diesem binären System verhaftet. Die Impulse, die Interaktionen verlaufen durchaus in beide Richtungen, doch bleibt die weibliche Figur nackt und unbeweglich den Blicken der (männlichen) Betrachter ausgeliefert während diese sich bewegen können. Dieses Machtgefälle wird zusätzlich durch die Asymmetrien der Blicke erzeugt und aufrechterhalten.444 Auch,   Berger, John: Ways of Seeing, London 1972, S. 41.   Für ausführliche Ausführungen zum Blick vgl. Wulf, Christoph: Der Blick. Kontrolle, Begehren, Anschauung, in: Bilstein, Johannes und Reuter, Guido (Hgg.): Auge und Hand, Oberhausen 2011, S. 19–34; Wismer, Beat und Badelt, Sandra (Hgg.): Diana und Actaeon. Der verbotene Blick auf die Nacktheit, Ausst. Kat., museum kunst palast, Düsseldorf, Ostfildern 2008; Bronfen 2003; Söntgen, Beate: Den Rahmen wechseln. Von der Kunstgeschichte zur feministischen Kulturwissenschaft, in: Söntgen, Beate (Hg.): Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, Berlin 1996, S. 7–23; Kleinspehn 1989. 443 444

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wenn die Augen der Betrachter von der Figur geführt werden, dürfen sie ungehindert wandern, verharren, fixieren, starren. Oder wie Gill Saunders generell formuliert: „Staring is a male prerogative, a strategy for dominating women […].“445 In diesem Sinne sind die Augen der weiblichen Figur geschlossen. Sie kann die Betrachter nicht ansehen. Sie müssen sich ihren Blicken nicht ausliefern, sondern können ganz Subjekt bleiben und die Figur visuell und imaginär in Besitz nehmen. Viele Jahrhunderte hindurch war dies der gängige Darstellungsmodus für liegende weibliche (Akt‑)Figuren. Die Augen werden geschlossen, der Blick unterbunden oder das Gesicht versteckt, damit Individualität verhindert, der Körper auf einen Stereotypen zur Anregung männlicher Lust reduziert.446 Eine zweite, sich etwa seit dem 18. Jahrhundert häufende Variante besteht darin, die weibliche Figur zu den Betrachter zurückblicken zu lassen. Hier wird sie meist als selbstbewusst interpretiert, bezogen auf die Betrachter bedeuten ihre Blicke aber viel mehr Einladungen. Sie sind kokett und Zeichen der Bereitschaft für die Begierden des Mannes. Sie verurteilen ihn nicht, bringen ihn nicht in Bedrängnis, kontrollieren ihn nicht. Und sie lösen das Dilemma der Asymmetrie der Blicke nicht auf. Die Wahrnehmung von Thomas Schüttes Frau Nr. 1 beginnt in der Frontalansicht von links direkt bei dem monströsen Kopf. Seine irritierenden Materialwülste fesseln die Blicke der Betrachter_innen und verhindern zunächst einen sanften Einstieg über den weiblichen Körper der Figur, wie es bei Ariadne der Fall ist. Auch das fehlende Gesicht und entsprechend die fehlenden Augen bringen das Machtgefälle aus dem Ungleichgewicht.447 Es ist zunächst ungeklärt, ob die Figur schlafend dargestellt ist oder ob sie etwa zurückblickt. Obwohl der über den Kopf gelegte Arm die tradierte Darstellungsform für Schlaf ist, lässt das aufgestellte linke Bein auf einen wachen Zustand schließen und auch die unnatürliche Haltung des Gesichtsovals suggeriert nicht schlafende Entspannung, sondern eher geöffnete, blickende Augen.448 Aber was könnte das für ein Blick sein?449   Saunders 1989, S. 25.   Es gibt viele Varianten der dämonischen Frauengestalt – von der Hexe bis zum Vamp –, deren (An-)Blick Männer gefährdet. Das Spiel von Wunsch und Abwehr, gebannt und abgeschreckt ist dabei zentral (dazu vgl. Kleinspehn 1989). 447   Elisabeth Bronfen fasst dieses Dilemma zusammen: „Weil traditionell der weibliche Körper und der ihm anhaftende Mangel eines Gliedes als Antithese – und somit als Gegenspiegelung – zum männlichen Geschlecht begriffen wird, mag die auf ihre Nacktheit reduzierte Frau sowohl faszinieren als auch erschrecken. Letztlich aber stellt sie, in der konventionellen Lesart des weiblichen Aktes zumindest, immer eine Bestätigung männlicher Potenz dar.“ (Bronfen 2003, S. 262). 448   Zum Schlaf-Motiv vgl. z. B. Weber, Gregor J. M.: Töchter der Giorgione-Venus, in: Bayerische Staatsgemäldesammlung (Hg.): Venus. Bilder einer Göttin, Ausst. Kat., Alte Pinakothek München, München 2000, S. 16–31, S. 20. 449   Innerhalb einer geschlechtsspezifischen Trennung des Blicks werden dem männlichen Blick Attribute wie beherrschend, kontrollierend, starr, sezierend, normierend zugeordnet, während der Frau der böse Blick zugesprochen wird, der gleichzeitig verführerisch und bedrohlich ist und vor dem der Mann Ängste entwickelt (vgl. Kleinspehn 1989). Hierzu passt die formale Analogie des maulhaften Kopfes der Figur zu dem Motiv der Vagina Dentata (vertiefend dazu vgl. Ross, Sonja: Die VAGINA DENTATA in Mythos und Erzählungen. Transkulturalität, Bedeutungsvielfalt und kontextuelle Einbindung eines Mythenmotivs, Bonn 1994). 445 446

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Die Imagination der Betrachter_innen wird hier angesprochen. Frau Nr. 1 ist keine ahnungslos Schlummernde, über deren Körper nach Belieben verfügt werden kann. Auch ein einladender Blick ist kaum denkbar. Eher scheint die Figur angespannt zu starren, die Betrachter_innen zu fixieren, sie herauszufordern. Sie bietet ihre Reize, den perfekten Busen und auch ihren Genitalbereich offen dar. Doch ihr nicht oder nur implizit vorhandener Blick lässt die Betrachter_innen zögern. Ist sie vielleicht mächtiger? Können sie ihren ausgestellten Körper ausgiebig betrachten oder sollten sie auf der Hut sein? Hier kommt das Subjekt-Objekt-Verhältnis in Bewegung. In ihrer Position auf dem etwa 70 Zentimeter hohen Tischsockel blickt Frau Nr. 1 in Schoßhöhe auf die Betrachter_innen und somit auf ihre Körper, auf ihre Intimbereiche und nicht in ihre Gesichter. Obwohl das alte Prinzip der nackten Liegenden in bekannter seitlich arrangierter Pose mit über dem Kopf gelegtem Arm eingehalten wird, kommt die aktiv-passiv-Verteilung ins Schleudern  – und zwar aufgrund des fehlenden, legitimierenden Blicks der Frau, der weder einladend noch ahnungslos ist. Unterstützt wird diese Wirkung der Entobjektifizierung des weiblichen Körpers durch das Vermeiden einer Stereotypisierung. Frau Nr. 1 ist weder idealschön noch anatomisch korrekt dargestellt. Sie entspricht weder einem gängigen Schönheitsideal noch einem reellen weiblichen Körper. Sie ist eine Riesin, die – würde sie aufrecht stehen – etwa drei Meter hoch ist. Ihr Gesicht fehlt, die Partie rund um ihren Kopf lässt sich nicht entschlüsseln, ihre Hände sind hakenhaft, ihre Füße nicht ausmodelliert und ihr gesamter Körper ist auffallend kräftig und muskulös. Er verweigert innerhalb des patriarchalen, phallozentristischen Paradigmas, das den weiblichen Körper normiert, durch seine Besonderheiten seine Festlegung zum Objekt der Begierde des (männlichen) Betrachters. Das erste Exemplar der achtzehnteiligen Werkgruppe mit dem Titel Frauen greift formal den Urtypus der Liegenden auf. Auf dieser Folie der Tradition finden kompositorische und motivische Modifikationen statt. Das Ausschalten beziehungsweise das Verunklären des Blicks und das Nicht-Normieren des Körpers erscheinen dabei als zentrale Punkte, die innerhalb der Werkgruppe weiter variiert werden. Für diejenigen Exemplare der Werkgruppe, die in liegenden Haltungen dargestellt sind – das sind neun von 18 – scheint dieses Muster zu gelten. Innerhalb dieser Beschäftigung mit dem weiblichen Akt werden darüber hinaus weitere Strategien sichtbar. Nr. 6 (Abb. 19) Frau Nr. 6 wirkt wie eine dynamischere und formal markantere Frau Nr. 1 (Abb. 17). In der Hauptansicht, aus einer nach rechts versetzten Betrachterposition, beschreibt die auf ihre linke Seite gestützte Figur ein unregelmäßiges Dreieck.450 Es spannt sich zwischen ihrem unteren, vorgezogenen und gebeugten linken Knie, ihrer rechten Schulterpartie und einem undefinierbaren Teil am Kopf der Figur, der mit ihrer rechten Hand verbun  Das ist die Perspektive, aus der die Figur häufig fotografiert wird.

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den ist, auf. Frau Nr. 6 ist so auf dem Sockel platziert, dass lediglich dieser Teil, die linke Gesäßhälfte und das linke Knie die Sockelplatte berühren. Somit wölbt sich die Unterseite des Rumpfes nach oben und auch der waagerechte, nicht abgelegte linke Oberschenkel lässt einen Freiraum zwischen Figur und Sockel entstehen. Das obere rechte Bein erscheint aus dieser Perspektive gestreckt und verschwindet hinter dem linken Oberschenkel. In einer geraden Diagonalen führt es über die gestreckte rechte Hüfte nach oben eine gerade Flanke entlang bis zum höchsten Punkt der Figur. Von dort aus schließt der rechte Oberarm an, der die diagonale Linienführung der oberen Kontur aufnimmt. Im Ellenbogen ist der Arm so gebeugt, dass der Unterarm parallel zu der kürzesten Seite des Dreiecks verläuft und die rechte Hand in seiner rechten Ecke mündet. Trotz der unregelmäßigen, spannungsvollen und instabil wirkenden Basis des Dreiecks wirkt die Komposition kompakt, geschlossen, ruhig und stabil. Die kleine runde Aussparung auf dem Bauch der Figur zeigt als Nabel ihre Mitte an und sie scheint ihr Gesicht zu verbergen und mit ihrem rechten Unterarm abzuschirmen, der auch den Brustbereich verdeckt. Der Kopf von Frau Nr. 6 ist von spitzen, flammenartigen Formen umgeben, die möglicherweise ihre Haare darstellen. Beim Umschreiten der Figur zerfällt diese ruhige Ansicht und die Spannung, die die Unterseite bereits andeutet, entlädt sich in einem Aufbrechen der Achsen und Konturen. Die linke Schulter und der linke Arm werden sichtbar. Er ist schräg nach hinten gedreht und ausgestreckt und endet in einer pfoten- oder hufhaften linken Hand (Abb. 20). Da die untere, nun sichtbare Schulter nicht abgelegt ist, werden das auf dem Kopf lastende Gewicht und die damit verbundene starke Krümmung der Wirbelsäule deutlich. Kopf und Hals sind auch aus dieser Ansicht kaum zu erkennen, sie scheinen amorph ineinander überzugehen, wirken aber ebenso kräftig und muskulös wie die sich anschließende Rückenpartie der Figur. Die Wirbelsäule wölbt sich mächtig hervor und erinnert an den Kamm eines Reptils oder auch an eine Art Rückenflosse. Im unteren Rücken ist eine tiefe Kerbe entstanden, die die Taille weiter verschmälert und das kräftige, fast eckig wirkende Gesäß umso mächtiger erscheinen lässt. Im weiteren Umrunden von Frau Nr. 6 wird deutlich, dass ihre Beine vorzeitig enden. Das obere rechte Bein endet etwa in der Mitte des Oberschenkels und das linke Bein unterhalb des Knies. Beide Partien sind mit je ­einem geraden Schnitt abgeschlossen. Auch die linke Hand, die aus dieser Perspektive eher wie die Pfote eines Tieres wirkt, hat eine glatte Unterseite. Der doppelte, kippbildhafte Betrachterbezug, der im Fall Ariadnes zwischen brav bekleidet und aufreizend halbnackt pendelt, bewegt sich bei Frau Nr. 6 von einer ruhigen, körperlich unversehrt wirkenden zu einer sich windenden, krümmenden Figur mit unvollständigen Gliedmaßen. Wie bei Frau Nr. 1 können die Betrachter_innen ihren Blick nicht deuten, denn auch ihr Gesicht ist nicht sichtbar. Anders als bei der früheren Figur scheint Frau Nr. 6 es aber zu verbergen. Allerdings lässt sich aus keinem Blickwinkel eine Kontur oder eine Form erkennen, die auf ein Gesicht hindeutet. Eine zweite Variante der Entmachtung der Frau, die nicht darin besteht, ihre Augen zu schließen und sie schlafend zu zeigen, sondern darin, ihr Gesicht abzuwenden oder zu verbergen,

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sodass die Betrachter_innen ihren Körper ungestört anschauen können, zeigt sich hier. Nur ist die Situation des Kopfes, des Gesichts, der Augen, des Blicks von Frau Nr. 6 völlig ungeklärt. Das irritiert die Betrachter_innen und hindert sie am unbeschwerten Erleben des weiblichen Körpers. Denn ihnen ist nicht klar, was Frau Nr. 6 für ein Wesen ist und was es im Schilde führt. Hat es überhaupt ein Gesicht? Und ist es traurig, müde, verletzt? Ist Vorsicht geboten? Auch dieses Exemplar der Werkgruppe stellt keinen normierten weiblichen Körper dar. Die Formen des Körpers sind nicht, was klassischerweise unter feminin verstanden wird. Nicht rund, weich und üppig, nicht fein, fest und zart. Die Figur ist muskulös, breitschultrig, kantig, teilweise mit animalischen Formen versehen, voller Kraft. Ihr Genitalbereich ist sichtbar, aber kein Geschlechtsteil ist zu sehen. Und dennoch, die Figur ist Teil der Werkgruppe Frauen und ebenfalls voller Fallen. Was eigentlich macht sie zur Frau? Was bedeutet weiblich, was männlich? Was bedeutet Mensch? Und mit Blick auf die Rückenpartie der Figur: Was unterscheidet ihn vom Tier? Wie können wir die Figur auf einen ontologischen Status festlegen? Wie einem Geschlecht zuordnen? Frau Nr. 6 hält all diese Fragen in Bewegung. Und auch, wenn die Betrachter_innen die beiden glatten, runden Partien auf Brusthöhe der Figur erblicken, die wirken, als seien dort Brüste abgetrennt worden, können sie sich nicht sicher sein. Hatte die Figur einmal Brüste? Sollten welche angelegt werden? Oder sind die beiden Flächen kalkulierte Leerstellen, vielleicht im Sinne visueller Ausstreichungen von Sexualisierung? Was macht eine Frau zur Frau? Nr. 12 (Abb. 21) Diese Frage stellt sich in der Werkgruppe durchweg. Zwei der Figuren zeigen das Spektrum an, in dem sich diese kaum zu beantwortenden Fragen innerhalb der Gruppe bewegen: Frau Nr. 12 und Frau Nr. 14. Erstere führt vor, was am ehesten von einem weiblichen Akt zu erwarten ist. Sie liegt – wie schon das passende Ceramic Sketch (Abb. 22) – auf ihrer Bauchseite, sodass ihre linke Gesichtshälfte, ihre unter der Brust zusammen­gezogenen Unterarme, ihre Knie und ihre Fußrücken die Sockelplatte berühren. Das Gesäß der Figur ist in die Höhe gedrückt und bildet ihren höchsten Punkt. Auch die bis zu den Knien gespreizten Beine, die bis zu den Füßen wieder zusammenlaufen, betonen den Intimbereich von Frau Nr. 12 und geben den Blick auf ihre Vulva frei. Während die Oberfläche von Gesäß und Oberschenkeln wie die anderen Partien der Figur, die Haut anzeigen, glatt gestaltet ist, ist der Bereich zwischen ihren Beinen, ähnlich wie das Haupthaar der Figur, durch eine rauere Struktur gekennzeichnet, die auf Schamhaar schließen lässt. Die Taille der Figur ist auffallend schmal, während ihre Extremitäten, vor allem die Oberarme und Oberschenkel kräftig wirken. Der zarte Hals führt zu dem vollständig modellierten Gesicht der Figur. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund ist leicht geöffnet und der Ausdruck changiert zwischen Schmerz und Lust. Das Gesicht wird durch eine voluminöse Haarpracht gerahmt, die auch den Nacken der Figur bedeckt. Somit entspricht Frau Nr. 12 unter den Figuren der Werkgruppe am ehesten dem tradierten Idealtypus Frau. Zunächst

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einmal erscheint ihr Körper unversehrt, vollständig und in zu erwartender Form gestaltet. Alle Gliedmaßen sind vorhanden und vergleichsweise wohl proportioniert. Schmale Taille, kräftige Schenkel, festes, exponiertes Gesäß, zarter Hals, feines Gesicht, kräftige, lange Haare, darüber hinaus ist ihr Intimbereich sichtbar und die Betrachter_innen können sich sicher sein, auch wenn sie in dieser Posi­tion gerade nicht sichtbar sind, normierte Brüste sind vorhanden. Diese Figur führt vor, wie die Aktplastik lange Zeit funktioniert hat. Sie ist nach einem gängigen Schönheitsideal gestaltet: Ihr Körper wird passiv liegend in einer gefälligen Pose ausgestellt, während ihr Gesicht – schön, aber anonym und ohne Blick – daran nichts zu ändern vermag. In Frau Nr. 12 ist dieses Muster übersteigert. Für die hohe Kunst wirkt sie allzu explizit, aber die Frau ist eine Frau, so viel scheint sicher. Die Tatsache, dass sie sich motivisch auf die Darstellungsform des Hermaphroditus (Abb. 23), der sowohl männliche als auch weibliche körperliche Merkmale aufweist, bezieht, verunklart die Geschlechterrolle durch die Rezeptionsgeschichte der Figur und nicht durch ihre materielle Gestalt.451 Die ‚weiblichste‘ Figur der Werkgruppe ist im Typus einer Zwittergestalt dargestellt. Sie hinterfragt auf diese subtile Weise, in der Dargestelltes und Darstellungsform nicht korrelieren, eine eindeutige Festlegung, ein Schema in Bezug auf Geschlechter(rollen) und auch sie ist somit eine Falle. Nr. 15 (Abb. 24) Frau Nr. 15 erscheint wie eine transformierte und in Bewegung versetzte Frau Nr. 12. Die Figur liegt auf ihrer linken Körperseite, ihr Oberkörper dreht sich allerdings ab dem Brustbereich nach oben hin auf, sodass sich ihre rechte Schulter der Sockelplatte nähert und der Hinterkopf bereits auf der Platte aufliegt. Durch die Drehung hat der obere rechte Arm sich angehoben und ist nahezu gestreckt, sodass die Hand nach oben zeigt und den höchsten Punkt der Figur bildet. Der linke Arm liegt lediglich punktuell auf der Sockelplatte auf und ist im Ellenbogen gebeugt. Entsprechend befindet sich die linke Hand der Figur einige Zentimeter vor dem Körper, etwa in Höhe des Dekolletees. Unterhalb der Brust liegt Frau Nr. 15 in einer geraden Achse auf der Sockelplatte auf. Die Beine liegen übereinander und sind beide im Knie gebeugt und nach vorn gezogen, wobei das obere Bein sich leicht vor das untere schiebt. Die Figur wirkt, als habe sie sich aus der Haltung von Frau Nr. 12 gelöst. Die auf der Vorderseite, sich leicht nach rechts öffnende Frau Nr. 12 scheint sich mit dem rechten Arm und dem rechten Knie von der Sockelplatte abgedrückt zu haben, wodurch sich ihr Körper auf die linke Seite gedreht hat. Durch das weitere Öffnen des oberen Arms hat sich eine Torsion im Oberkörper ergeben, die Dynamik anzeigt und darauf schließen lässt, dass die Bewegung noch nicht abgeschlossen ist. Mit dem Lösen aus der passiven, exponierten Position von Frau Nr. 12 scheint sich ebenfalls die Formensprache der Figur verändert zu haben. Die naturalistische Darstel451   Dies ist ein Beispiel dafür, wie Geschlecht im Laufe der Jahrhunderte normiert wird: Schlafender Herm­ aphrodit (Antike), Antonio Canova: Sleeping Nymph (1820–24), Arturo Martini: La Pisana (1929) (siehe auch den Abschnitt Bezugsysteme im Kapitel Transformationsprozesse der vorliegenden Arbeit).

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lungsform von Frau Nr. 12 ist in Frau Nr. 15 aufgebrochen. Die Oberfläche der Figur zitiert die kantige, flächige Formensprache des Kubismus. Pablo Picassos Frauenkopf aus dem Jahr 1909 ist als Referenz zu nennen. Und Roger de la Fresnayes Die Italienerin von 1912 zeigt an den Händen und Armen einen nahezu identischen Umgang mit den Formen. Doch während Roger de la Fresnaye die ganze Figur in diesem Stil ausführt, ist das Gesicht von Frau Nr. 15 nicht in dieser Art ausgestaltet; es ist zu einer senkrecht in die Höhe ragenden pyramidenhaften Form vereinfacht.452 Und die Haare der jüngeren Figur kontrastieren mit den glatten, kubistischen Formen des Körpers. Rund um den Kopf von Frau Nr. 15 fließt eine an Bauschaum erinnernde üppige Lockenpracht. Und auch Schamhaare sind durch eine raue Oberfläche angedeutet. Der Kontrast zwischen dem glatten, flächig-aufgebrochenen Körper und den runden, fließenden Haaren der Figur unterstützt die Spannung, die sich aus der sich in Bewegung befindenden Position der torsionierten Figur ergibt. Für diese Haltung finden sich in der Kunstgeschichte ebenfalls mögliche Referenzquellen. Für die seitliche Haltung mit nach oben gedrehtem Oberkörper ist Ernst Ludwig Kirchners Liegende von 1911/12 zu nennen und Aristide Maillols La Rivière und L’Air können Vorbilder in Bezug auf Dynamik und Spannung sein. Nr. 14 (Abb. 25) Frau Nr. 14 bildet, wenn Frau Nr. 12 als Beispiel für eine weiblich normierte Figur gelten kann, ihren Gegenpol in der Werkgruppe. Diese Figur ist wohl am weitesten von der Darstellung einer typisierten Frau entfernt. Mit ihrer klaren, linearen Kontur, die bereits in dem Ceramic Sketch (Abb. 26) deutlich wird, wirkt sie, als sei sie mithilfe einer Form aus einer Fläche Material ausgestochen worden. Somit lässt sie an einen Lebkuchenmann denken. Es lassen sich zwei Beine und ein Arm ausmachen und darüber hinaus eine runde Scheibe, die übergangslos an den Körper anschließt und durch zwei runde, unterschiedlich große Aussparungen gekennzeichnet ist, die als Augen ausgelegt werden können. Ein drittes, etwas größeres Loch befindet sich mittig in der Figur und markiert wohl ihren Bauchnabel. Frau Nr. 14 liegt auf ihrer linken Seite. Die Unterseite des Körpers und auch die linke Außenseite des nach vorn geneigten Kopfes sind auf die Stahlplatte gelegt, sodass lediglich auf Höhe des Halses ein Freiraum zwischen Figur und Sockelplatte entsteht. Das obere rechte Bein der Figur ist als zusätzliche Stütze nach vorn gezogen und bildet somit eine Gegenbewegung zu dem oberen rechten Arm, der senkrecht in die Höhe gestreckt weit nach hinten zieht. Diese Figur treibt die Frage nach männlich und weiblich, menschlich und nicht-­ menschlich auf die Spitze, denn sie scheint jenseits von all dem einer anderen, fiktiven Welt aus Kinderbuch oder Trickfilm zu entstammen. Das Geschlecht ist unbestimmbar und ihr ontologischer Status liegt irgendwo zwischen Märchenfigur und riesigem Weih452   Hier spielt eventuell die Technik eine entscheidende Rolle. Möglicherweise sind die flächigen, kantigen Formen Folgen der Bearbeitung des Modells mit einer großen Säge, die eine detaillierte Formung eines kleinteiligen Gesichts nicht zulässt (vgl. den Abschnitt Gips des Kapitels Material der vorliegenden Arbeit).

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nachtsgebäck. Doch auch sie trägt den Titel Frau. Spätestens jetzt wird klar, dass auch der Titel der Werkgruppe eine Falle ist und dass er nicht nur dazu anregt, auszuloten, was alles Frau sein kann und was nicht, sondern dass der Begriff ausgehöhlt und ad absurdum geführt wird. Am Ende des 20. Jahrhunderts greifen keine tradierten Kategorien und Zuschreibungen mehr.453 Auch, wenn sie in einem klassischen, allzu bekannten Gewand daherkommen, das dazu verführen vermag, die Falle zuschnappen zu lassen. Andersherum wird daran erinnert, dass, wenn das beschriebene Wesen als Frau bezeichnet werden kann, das leere Zeichen Frau mit jeglichem Inhalt gefüllt werden kann. Nr. 7 (Abb. 27) Frau Nr. 6 regt nicht nur dazu an, über den Mann/Frau- beziehungsweise den Mensch-Status nachzudenken und dabei nicht den überkommenen Begriffen aus überholten, dichotomen Strukturen, innerhalb derer Frau Nr. 12 und Frau Nr. 14 die äußeren Pole bilden könnten, aufzusitzen, sondern sie ruft ein weiteres zentrales Thema der Werkgruppe und der Geschichte der Bildhauerei auf, das ebenfalls den Topos des normierten (weiblichen) Körpers destabilisiert. Gemeint sind die anscheinend unvollständigen Körperteile, insbesondere die Beine von Frau Nr. 6 (Abb. 19). Beide Beine der Figur sind in dem Sinne unvollständig, als dass sie an einem Punkt  – einmal oberhalb, einmal unterhalb des Knies – abrupt enden und wie abgetrennt erscheinen. Wie durch einen geraden Schnitt entfernt, enden die Extremitäten mit einer glatten Fläche. Frau Nr. 7 ist ein Beispiel, an dem sich diese spezielle Form der ‚Unvollständigkeit‘ deutlicher zeigt. Die Figur liegt auf ihrer rechten Seite. Ihre Arme und Beine sind nicht vollständig ausgeführt; beide Arme enden etwa in der Mitte der Oberarme und beide Beine im unteren Drittel der Unterschenkel mit einem geraden Schnitt und einer glatten Fläche. Auch weist die Figur weder Kopf noch Hals auf. Der Hals scheint wie durch zwei gerade, v‑förmig aufeinander zulaufende Schnitte aus dem Rumpf geschnitten. Durch die fehlenden Gliedmaßen und den horizontal nahezu symmetrischen Aufbau wirkt Frau Nr. 7 in ihrer embryoähnlichen Haltung kompakt. Da die Knie der Figur auf Höhe der Taille vor den Oberköper gezogen sind, ragen ihre Beine kaum über die Länge des Rumpfes hinaus. Der obere linke Armansatz verläuft in Richtung linkes Knie und schließt somit die obere Kontur und der untere rechte Armansatz weist im 90°-Winkel in Richtung Betrachter_innen und suggeriert Stabilität. Durch eine gedachte waagerechte Linie, die sich mittig einmal um die gesamte Figur zieht, wird die Komposition zusätzlich ausbalanciert und beruhigt. Sie verläuft von dem unteren Punkt des Hals‑Vs, zwischen den übereinanderliegenden gleichförmigen Brüsten, über den Bauchnabel, zwischen den Beinen, einmal um den Körper herum, über die Gesäßfalte, die Wirbelsäule entlang, zwischen den Schulterblättern und endet auf der Rückseite ebenfalls am   Vgl. für die vielfältigen Entwicklungen der Skulptur in diesem Zeitraum z. B. Vogel, Sabine B. (Hg.): Grenzenlose Skulptur. Ein Überblick über das skulpturale Heute, Kunstforum International, Nr. 229, Köln 2014.

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unteren Ende des Halsausschnitts. Auch die Körperstatur von Frau Nr. 7 ist kompakt. Die höchsten Teile sind die linke Schulter und die linke Hüfte. Die Taille ist schmal, das Gesäß ist ausladend und rund dargestellt, auch die Schenkel der Figur sind kräftig und weich, wie ihre runden Brüste und der glatte Rücken. Der Körper erscheint menschlich und weiblich normiert. Was ihn unterscheidet, sind die fehlenden Gliedmaßen, die Frau Nr. 7 zu einem Torso machen. Bei den Betrachter_innen stellt sich die Frage, ob die Figur einst über alle Körperteile verfügt hat – in diesem Sinne vollständig war – und diese entfernt wurden, oder ob die Figur unvollendet ist, in dem Sinne, dass Unterschenkel und Füße, Unterarme und Hände, Hals und Kopf nie modelliert wurden.454 In der Figur kreuzen sich somit zwei zentrale Richtungen des Torso-Topos.455 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gilt der Torso gemeinhin als Überrest einer einstmals vollständigen (antiken) Skulptur, die durch Alter und äußere Einwirkungen teilweise zerstört und durch das Fehlen von Kopf und/oder Gliedmaßen auf den Körperrumpf minimiert wurde. Diese Auffassung geht von dem Körper als Ganzes aus; der Torso ist dann das Ergebnis einer Zerstörung. Die Bereitschaft, einen Torso als abgeschlossenes Werk zu sehen, etabliert sich erst allmählich, besonders durch die Werke von Auguste Rodin um 1900.456 Somit ist der Grundstein für eine Moderne gelegt, die sich (auch) in fragmentarischen Bildern ausdrückt. Die Fragmentierung wird nicht länger als verletzende Destruktion eines vormals heilen und damit schönen Ganzen aufgefasst, sondern sie macht in der Dekonstruktion die Idee des Ganzen rückgängig, indem sie die Bedingungen seiner Herstellung thematisiert und damit die Verdrängungen, die sich in diesem normativen Ideal verbergen.457 Deutlich wird diese gegenläufige Auffassung im Nationalsozialismus, dessen Formensprache auf idealschönen, vermeintlich klassischen und naturalistischen, vor allem aber gesunden, heilen und ganzen Körpern beruht, die, zum einzigen Ideal erhoben, alles abweichende, gebrochene, fragmentarische als irrsinnig und krank, kurz als entartet ausgrenzen. Für die figurale Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich gegen die Ganzheitsphantasmen eines einzigen intakten Subjekts als autonome Entität wendet, bedeutet die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper erneut Auflösung, Verfremdung und Fragmentierung. Das Individuum zerfällt in eine Vielheit, die fragmentarischen Bilder ignorieren Identifikationswünsche und wecken viel mehr Ergänzungswünsche und sie erinnern daran, dass (bei der Konzeption des Menschen) eine Vereinheitlichung nicht ohne eine Zerstü454   Dass solche Auslassungen auch Resultate und damit Hinweise auf den Werkprozess sind, wird im Abschnitt Prozesse des Kapitels Produktion deutlich. 455   Für die Torso-Thematik ausführlich vgl. Das Fragment. Der Körper in Stücken, Ausst. Kat., Musée d’Orsay, Paris, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, Bern 1990 und Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980. 456   Auch bei Michelangelo Buonarrotis Torsi bleibt der Aspekt der Unvollendeten, das von einem Ganzen ausgeht, im non finito inhärent. 457   Vgl. Schade 1987, S. 249.

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IV. Sujet

ckelung zu haben ist. Oder anders herum: Der ganze Körper ist uns nicht gegeben, er muss konstruiert werden.458 So wirkt Frau Nr. 7 aus einem kunsthistorisch verklärten Blickwinkel zunächst wie eine Erinnerung aus einer anderen, romantischeren verlorenen Zeit, in der Menschen noch ganz waren. Dann wirkt sie aus einer (feministisch) psychologisierenden Perspektive wie eine beschnittene, vielleicht sogar verstümmelte, nicht handlungs- und ausdrucksfähige, entmündigte und auf das Wesentliche reduzierte weibliche Gestalt. Und gleichzeitig ist sie die in festes Metall gegossene Erinnerung daran, dass der Körper niemals ganz und niemals eins ist. Und dass es sich mit der Konzeption des Menschen genauso verhält wie mit der Konzeption von Weiblichkeit, von Geschlecht – sie ist kon­ struiert. Nr. 4 (Abb. 29) Figur Frau Nr. 7 ist ein Beispiel für eine zunächst idealschöne weibliche Gestalt, die die unmögliche Normierung von Weiblichkeit dadurch reflektiert, dass sie selbst lediglich ein Fragment ist und schon deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Das, was sich in dieser Figur in der Dekonstruktion als paradoxe Verschränkung zeigt, nämlich dass nie ein allgemeingültiges Bild (des liegenden weiblichen Aktes) entworfen werden kann, führt Frau Nr. 4 auf eine andere Weise vor. Auch diese Figur liegt auf ihrer rechten Körperseite. Ihre gesamte untere Seite  – Kopf, Schulter, die rechte Brust, Taille, Hüfte, das untere rechte Bein und der Fuß sowie das angewinkelte und nach vorn gezogene linke Bein – liegt auf eine unnatürliche Weise flach auf der Sockelplatte auf. Alle Körperteile der Figur sind zu erkennen. Sie sind allerdings nicht im Detail modelliert, sondern vereinfacht dargestellt. Das gilt auch für das Gesicht von Frau Nr. 4. Vertiefungen und Erhebungen für Augen, Nase und Mund sind zu erkennen, trotzdem wirkt es mit seinen ausdruckslosen, groben Zügen nicht wie das Gesicht eines Menschen.459 Auch diese Figur scheint aus einer anderen Welt zu stammen. Wie Frau Nr. 14 wirkt sie, als entstamme sie einem Zeichentrickfilm oder einem Comic. Die Gestaltung der gesamten Figur deutet darauf hin, aber vor allem die Details unterstreichen diese Wirkung. So sind auch die Füße in ihrer vereinfachten, amorphen, undifferenzierten Form zwar zu erkennen, aber es sind keine Füße eines Menschen. Die Frage, was Mensch, was Frau bedeuten kann, zieht sich somit weiter durch die Werkgruppe. Sofort erkennen die Betrachter_innen, dass dieses liegende Wesen menschen­ ähnlich ist und auch die runden Brüste sind zu erkennen, doch würde man die Gestalt 458   Zur Konstrukthaftigkeit des Körpers vgl. Wenner, Stefanie: Ganzer oder zerstückelter Körper. Über die Reversibilität von Körperteilen, in: Benthien, Claudia und Wulf, Christoph (Hgg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek 2001, S. 361–380 und Genge 2000. (Stefanie Wenner analysiert Vorstellungen von Ganzheit und Zerstückeltheit von Körpern anhand zentraler Thesen von Jacques Lacan, Jacques Derrida, Sigmund Freud, Roland Barthes, Dietmar Kamper, Elisabeth Bronfen.) 459   Wie im Abschnitt Bezugsysteme des Kapitels Transformationsprozesse bereits festgehalten wurde, besteht eine visuelle Ähnlichkeit zu den Gesichtern der Werkgruppe Geister.

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IV.2 Einzelanalysen

nicht als Frau bezeichnen. So wie die Fragmentierung von Frau Nr. 7 die Identifikation der Betrachter_innen mit der dargestellten Figur verhindert, verhindert Frau Nr. 4 sie durch vereinfachende Verfremdung. Das auffälligste Merkmal dieser Figur aber ist ihre Flachheit. Ebenso flach wie die rechte Körperseite auf der Stahlplatte aufliegt, ist die weniger als 50  Zentimeter hohe Figur nach oben hin abgeschlossen. Es wirkt, als habe ein flaches, glattes, großes, schweres Objekt, vielleicht eine Stahlplatte wie die, auf der Frau Nr. 4 platziert ist, von oben auf die Figur eingewirkt und alle erhabenen und vertieften Stellen auf eine Ebene gebracht. Diese Wirkung setzt voraus, dass Frau Nr. 4 zunächst auch in der Vertikalen plastisch ausgearbeitet war und dass etwa die Schulter höher war als die Taille und beispielsweise der Hals nicht auf der Sockelplatte auflag. Dann, so könnte man meinen, wurde sie zwischen zwei schweren Stahlplatten geklemmt und alle vertikalen Teile wurden auf eine Ebene und etwas in die Breite gepresst. Da weder Aluminium, Bronze noch Stahl diese Art der Bearbeitung zulassen, wird klar, dass sich diese Technik am Tonmodell vollzogen haben muss (ein entsprechendes Ceramic Sketch ist auch vorhanden, Abb. 30). Entscheidend ist, dass der Ausgangspunkt eine vollplastisch gestaltete Figur war, die im Ganzen – durch das Pressen zwischen zwei harte Flächen – neu geformt wurde. In der Literatur ist in Bezug auf diese Vorgehensweise von Deformation zu lesen.460 Bei genauer Betrachtung stellt sich aber die Frage, ob die vermeintliche Deformation (mithilfe zweier Platten) nicht viel mehr der Prozess einer Formfindung ist. Denn die entstandene Form ist die Form, die ins große Format und ins dauerhafte Material übertragen wird. Die Deformation der Figur ist somit fraglich, weil schon die Form (Mensch, Frau) fraglich ist. Die Frage nach einem normierten, darstellbaren Körper und nach dem nach wie vor existierenden verfestigten Bild von einem einzigen, (auf Geschlecht) festgelegten heilen Körper, die Frau Nr. 7 zwischen den Polen heil/ganz und zerstückelt/fragmentarisch verhandelt, erscheint bei Frau Nr. 4 zwischen Idealform und Deformation. Eine Deformation bedeutet eine Gestalt- oder Volumenveränderung eines Körpers durch auf ihn einwirkende Kräfte, eine Verformung. Aber ist der Gestaltungsprozess in Ton, so wie er für die Werkgruppe beschrieben werden kann, nicht eine Folge von Deformationen? Und somit der Prozess zur Formfindung? Die kleinformatigen Figuren werden je circa eine Stunde lang mit den Händen und wenigen rudimentären Hilfsmitteln (Brett, Rundholz) frei geformt, umgeformt, neu geformt, entformt. Es ist ein Prozess des Formens und des Deformierens. Wie ist dann am Ende von einer Deformation der Figur zu sprechen? In Schüttes Worten: „Das war mal eine echte Figur, die dann irgendwie nicht richtig geworden ist und mit dem Holzhämmerchen flach geklopft wurde. Das ist ja auch eine Form. Der Formverlust ist ja auch eine Form.“461

460

  Vgl. z. B. Thorn-Prikker 2003.   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004, S. 163.

461

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IV. Sujet

In welchem Zustand ist die Figur, die Figur, die dann deformiert wird? Wann ist der menschliche Körper menschlich, der weibliche weiblich? Und was ändert die ‚finale Deformation‘ daran? Und wieso ist Deformation nach wie vor negativ besetzt? In der Medizin bedeutet sie eine nach der Geburt eintretende krankhafte Veränderung. Weil man davon ausgeht, dass der Formungsprozess im Verborgenen (im Mutterleib, im Atelier) abgeschlossen ist und alles, was sich danach öffentlich, im Leben, an der Form verändert, krankhaft, anomal, falsch ist? Dann ist Frau Nr. 4, auch wenn die auf sie einwirkenden Kräfte ihre Volumina und ihre Gestalt verändert haben, nicht deformiert. Nr. 8 (Abb. 31) Ganz ähnlich verhält es sich mit Frau Nr. 8. Auch sie wurde, so scheint es, final im Ganzen mit einem Gegenstand bearbeitet. Nur ist diese Figur nicht, wie Frau Nr. 4, gleichmäßig flach, sondern ihre obere Kontur verläuft wellenförmig, während die gesamte untere Seite auf der Stahlplatte des Tischsockels aufliegt. Man kann sich vorstellen, wie Thomas Schütte die zugrundeliegende Tonfigur mit einem Rundholz der Länge nach ausgestrichen und somit geglättet hat. Bei diesem Prozess, so scheint es, hat sich an einem kurzen Ende, an dem der Kopf zu vermuten ist, ein Materialüberschuss ergeben, der mit dem Holz über die Kante der Sockelplattform geschoben wurde und über sie hinaus einige Zentimeter nach unten fließt. Der Halsbereich ist der flachste Teil der Figur. Wellenförmig erhebt sich der Schulter- und Brustbereich, zur Taille hin flacht sie wieder ab, um sich auf Hüfthöhe nochmals zu erheben und dann am höchsten Teil mit einer steilen Kante abrupt abzuschließen. Bei Frau Nr. 8 sind die einzelnen Körperteile nicht klar zu unterscheiden. Die Extremitäten der Figur sind lediglich angedeutet. Es wird nicht klar, ob die Figur auf ihrer Vorder- oder Rückseite liegt. Am oberen Oberkörper und im Bereich des Beckens – den beiden höchsten Punkten der Plastik – sind jeweils zwei durch eine Kerbe getrennte Flächen entstanden. Sie könnten die Brüste oder die Schulterblätter, das Gesäß oder die Oberschenkel markieren. Der Körper ist nicht (mehr) in seine einzelnen Teile unterscheidbar, die Körperteile sind nicht (mehr) eindeutig benennbar. Alles fließt in einer großen wellenförmigen Bewegung und geht ineinander über: Kopf  – Hals  – Schulter/Brust  – Taille  – Becken  – Arme/Beine. Hier stellt sich die Frage, ob die Betrachter_innen die Plastik überhaupt als menschliche Figur erkennen oder ob sie als abstraktes, amorphes Formgebilde wahrgenommen wird. Wahrscheinlich ergibt sich erst durch den Titel der Versuch, aus der Plastik eine (weibliche) Figur zu entschlüsseln. Wenn, wie Dietmar Rübel postuliert, die moderne Bildhauerei sich in Prozessen der Verflüssigung ausdrückt, dann wird der von ihm entwickelte Plastizitätsgedanke in dieser Figur sichtbar.462

  Vgl. Rübel 2012.

462

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IV.2 Einzelanalysen

Nr. 16 (Abb. 32) Mit Frau Nr. 16 verbinden sich die Hinweise auf das Gemacht-Sein und auf die form­ gebenden Verfahren mit Referenzen auf konkrete motivische Vorgänger. Wie eine von Henry Moores zahlreichen seitlich liegenden Figuren stützt sich Thomas Schüttes auf ihrer linken Seite liegende Figur auf ihren linken, aufgesetzten Ellenbogen, während der Unterarm und die Hand vor dem Körper auf der Sockelplatte abgelegt sind. Dadurch hebt sich der frontal ausgerichtete Oberkörper an und der detail- und gesichtslose Kopf scheint ebenfalls geradeaus oder nach schräg rechts in Richtung Betrachter_innen zu blicken. Der Oberkörper weist zwei nebeneinander schräg versetzt aufgebrachte, unterschiedlich große, unregelmäßige runde Formen auf, die auf Brüste verweisen. Die obere rechte Hüfte ist durch eine starke Auswölbung gekennzeichnet, die wirkt, als liege die rechte Hand der Figur an dieser Stelle, während der Arm hinter ihrem Körper verschwindet. Die Vorderseite von Frau Nr. 16 ist nicht weiter ausgearbeitet, Bauch- und Schambereich sind nicht markiert. Recht weit nach unten versetzt trennen sich die Beine der Figur durch eine Einkerbung. Sie sind übereinanderliegend dargestellt und enden, zu kurz proportioniert, etwa in Höhe der Knie abrupt, wobei das obere rechte Bein etwas länger ist als das untere. Die Rückseite des Kopfes, Hals- und Schulterpartie zeigen eine Auswölbung, die durch unregelmäßige, einige Zentimeter große eckige Aussparungen wie gemustert erscheint. Diese strukturierte Fläche könnte Haare andeuten. In dieser Figur sind die Spuren der drei verschiedenen formgebenden Verfahren sichtbar: Das Ceramic Sketch (Abb. 33) macht deutlich, wie Thomas Schütte die einzelnen Partien aus Ton geknetet, gerollt und miteinander verbunden hat. Auch am Kopf der Großplastik ist vorstellbar, wie er das weiche Material mit seinen Fingern in Form gedrückt hat, denn die Form überträgt sich ins große Format, in den Block aus Styropor und Gips. Die Figur erhält einen festen, starren Kern aus Styropor, auf dem weiche, schnell trocknende und erstarrende Gipsmasse aufgetragen wird. Geschmeidiges Modellieren mit den Händen im kleinen, handlichen Format in Ton wird zur groben Bearbeitung einer festen, spröden Figur im großen Format. Die Formen von Frau Nr. 16 sind nicht so rund wie die der Tonskizzen und auch die Oberfläche der Figur ist nicht so glatt. Die runden Brust-Kringel beispielsweise werden im großen Format flach und kantig, wie die gesamte Oberfläche der Figur. Es wirkt, als sei die Figur, der Styroporblock, mit einer Säge bearbeitet und in Form gebracht worden und jede flächige Partie sei das Ergebnis eines Schnitts mit dem Sägeblatt.463 Auch ist vorstellbar, dass die Gipsmasse anschließend mit einem Spachtel auf den Styroporkern aufgebracht wurde und sich dadurch die flächenhafte, grobe, raue Oberflächenstruktur ergibt. Diese Form wird durch das Gießen eins zu eins ins Metall übernommen. Die materielle Beschaffenheit der Ton­ skizze und des Gipsmodells sind im Metall sichtbar und werden auf der motivischen Ebene zu Stilelementen. Auf der dritten Stufe kommt noch ein weiteres Element hinzu, das die schwere, unflexible, großformatige Metallplastik reflektiert: Auf der oberen Seite   Vgl. den Abschnitt Gips des Kapitels Material der vorliegenden Arbeit.

463

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IV. Sujet

der Figur, unterhalb der rechten Hüfte ist ein rechteckig gebogenes Moniereisen befestigt, wie es in der Gießerei verwendet wird, um die Metallfiguren zu bewegen. An dieser Figur wird die Herstellung in den verschiedenen Phasen anschaulich. Damit verweist sie auf ihr physisches Konstruiert-, Gefertigt-, Gemacht-Sein; sie unterstreicht den Prozess der Formfindung und veranschaulicht gleichzeitig, dass es kein ideales, normiertes Ergebnis geben kann. Nicht in Bezug auf Kunst, den Körper, den weiblichen Körper. Dass dieses Experiment am Thema des liegenden weiblichen Aktes – ein Evergreen und ein Klischee der Kunstgeschichte – vollzogen wird, führt diese Zusammenhänge umso eindrücklicher vor. Frau Nr. 16 geht motivisch auf Henry Moore und damit auf den letzten Bildhauer, der sich umfassend mit dem Thema beschäftigt hat, zurück. Wenn Frau Nr. 1, von dem Urbild der Schlafenden Ariadne ausgehend, den motivischen Bogen des liegenden weiblichen Aktes in der Werkgruppe aufspannt, endet er bei Frau Nr. 16 mit einer Referenz auf Henry Moore. Dieser erste Bogen spannt sich über die Hälfte der 18 Frauen von Thomas Schütte, über die Figuren, die in liegenden Positionen auf die Sockelplatte gebracht sind (Nr. 1, 4, 6, 7, 8, 12, 14, 15, 16), während der zweite sitzende und hockende Figuren umfasst. Nr. 9 (Abb. 34) Auch dieser zweite Bogen, der der Sitzenden und Hockenden, führt in den Vatikan. Frau Nr. 9 stellt einen mittig auf der Stahlplatte platzierten weiblichen Torso in sitzender Position dar. Er ist symmetrisch aufgebaut und nach vorn geneigt, frontal, ohne Drehung zur Längsseite der Stahlplatte ausgerichtet. Beide Beine der Figur enden am Oberschenkelansatz. Sie sind leicht voneinander getrennt, sodass der rau und dadurch behaart erscheinende Schambereich der Figur zu sehen ist. Der Bauch der Figur ist in der Leistengegend durch v‑förmige und mittig durch waagerechte Hautfalten und durch e­inen Nabel gekennzeichnet. Die Figur wirkt entsprechend üppig. Auch die Hüftpartie und die Brüste von Frau Nr. 9 sind rund gestaltet. Die Rückseite zeigt ein ausladendes Gesäß und die nach vorn geneigte Rückenpartie, die fleischig gestaltet ist. Knochen, Muskeln oder Sehnen sind nicht auszumachen, eher wirkt die Figur fleischig und weich. Sie weist keine Armansätze, keinen Halsansatz und entsprechend keinen Kopf auf. Die Stelle des De­ kolletees ist beidseitig v‑förmig ausgespart. Trotz zentraler Abweichungen im Detail, kann für Frau Nr. 9 der Torso vom Belvedere (Abb. 35) als Formenvorbild angeführt werden. Sicherlich ist der Charakter dieser Referenz nicht der eines direkten Bezugs, doch gilt der Torso aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. als Urbild für sitzende Torsi, für Torsodarstellungen im Allgemeinen, für die Entwicklung einer neuen Auffassung der Bildhauerei und als Symbol der gesamten Bildhaue­ rei schlechthin.464 Der Torso vom Belvedere wurde ebenfalls, wie die Schlafende Ariadne, 464   Vgl. Le Normand-Romain, Antoinette: Der Torso vom Belvedere, in: Das Fragment. Der Körper in Stücken, Ausst. Kat., Musée d’Orsay, Paris, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, Bern 1990a, S. 99–115.

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mit weiteren berühmten Antiken in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Cortile delle statue des Vatikan aufgestellt. Seitdem wird er von Kunst und Kunstwissenschaft ausführlich rezipiert. Im Vergleich zu Frau Nr. 9 lässt sich der vatikanische Torso als Gegenstück deuten. Der männliche Torso sitzt ebenfalls mit leicht gespreizten Beinen auf dem Sockel, sodass sein Geschlechtsteil sichtbar ist. Allerdings sind die Oberschenkel der Figur fast vollständig erhalten. Das linke Bein reicht bis unter das Knie, das rechte endet kurz über dem Knie. Beide Torsi haben keine Arme und keinen Kopf, doch während bei Frau Nr. 9 auch der Hals symmetrisch und akkurat ausgeschnitten scheint, ist bei dem männlichen Torso ein Halsansatz, als abgebrochener Stumpf vorhanden. Auch der Torso vom Belvedere neigt sich leicht nach vorn, er allerdings ist eingedreht: Die rechte Schulter der Figur zieht nach links. Die Muskulatur des männlichen Torsos ist ausgeprägt. Der gesamte Rumpf und auch die Oberschenkel sind durch kräftige Muskelstränge gekennzeichnet, was den Dargestellten als körperlich starken Mann auszeichnet. Ob als Herakles, für den die Figur lange Zeit gehalten wird, oder als Aias, als den Raimund Wünsche sie in den 1990er Jahren identifiziert,465 stellt die Figur einen mächtigen Helden aus der griechischen Mythologie dar. Selbst in der sitzenden Position ist der männliche Körper durch seine Muskulatur und die Drehung als kräftiger, dynamischer, aktiver Körper gekennzeichnet und der weibliche Körper ist in seiner statischen Symmetrie und in seiner üppigen Gestalt als unbeweglich und passiv markiert. Schüttes Figur bietet keinerlei Hinweise auf eine Identität der Dargestellten, während die ältere Figur durch ihre Darstellungsform und Attribute identifiziert werden kann. Allerdings führt gerade der Torso vom Belvedere – ebenso wie die bereits betrachtete ‚Ariadne-Kleopa­traVenus-Nymphe‘ – vor, dass eindeutige ikonographische Bestimmungen trotz tradierter Darstellungsformen mit entsprechenden Attributen nicht eindeutig sind, mit der Zeit verschwimmen können und auch verloren gehen, weil sie für die Diskurse sekundär oder gar irrelevant sind. Die berühmtesten Werke der Kunstgeschichte sind nicht eindeutig lesbar. Sie können ihre Bedeutungen im Laufe der Zeit verändern und bleiben semantisch teilweise bis heute in der Schwebe. Auch der männliche Körper erscheint hier als leeres Zeichen, das – einer ikonografischen Lesart folgend – mit Inhalt und Bedeutung angereichert werden muss. Im Vergleich zu Frau Nr. 9 wird deutlich, dass auch er nicht ohne weiteres darstellungswürdig ist und dass das Gegensatzpaar weiblich/ schwach/passiv versus männlich/stark/aktiv nicht aufgeht und allzu kurz greift. Neben der semantischen Ebene wird der Torso als „eigenständiges Genre der Plas466 tik“ zum Thema von Frau Nr. 9. Im Gegensatz zu dem Torso vom Belvedere, dem Prototypen des Genres, erscheinen die fehlenden Körperteile hier explizit nicht, wie bei der älteren Figur, als abgebrochen und verloren gegangen, sondern als akkurat abgetrennt und damit als bewusst weggelassen. Dieser Eindruck kommt durch die geraden Flächen 465   Vgl. Wünsche, Raimund: Der Torso vom Belvedere: Denkmal des sinnenden Aias, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, München 1993, Bd. 44, S. 7–46. 466   Olbrich 2004, Bd. 6, S. 703.

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IV. Sujet

zustande, die den Torso an den Schnittstellen (ab)schließen. Darüber hinaus ist die Oberfläche der gesamten Figur glatt, homogen und geschlossen. Der Torso vom Belvedere ist nicht mehr in seinem Urzustand, man sieht, dass die fehlenden Teile abgebrochen sind und dass auch der noch vorhandene Rumpf in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Oberfläche großer Teile der Brust der Marmorfigur ist abgeschürft und unregelmäßig. Auch, wenn diese Figur neuzeitliche Bildhauer, namentlich Michelangelo Buonarroti, zum non finito angeregt haben soll, ist sichtbar, dass sie einst vollendet war. So geht auch Auguste Rodin am Ende des 19. Jahrhunderts zunächst noch von einer vollständigen Figur aus, von der er in einem Verfahren der Reduktion Körperteile abtrennt.467 Im Sinne einer „Ökonomie der Form“468, bei der alles Überschüssige zugunsten des reinsten Meisterwerks weggelassen wird, entstehen seine modernen Torsi. Glaubt man Thomas Schüttes Aussagen, fehlen die Gliedmaßen einiger Frauen, weil er an ihren Ausführungen gescheitert ist.469 Der Rumpf als Fragment ist allerdings immer vorhanden. Im Sinne Aristide Maillols scheint dieser Teil der Figur der wichtigste zu sein und auf zweitrangige Partien, wie Arme und Beine kann demnach verzichtet werden. Ausgangspunkt für Maillol ist der Rumpf als „ursprüngliche[r] und wichtigste[r] Bestandteil eines Werks, der sich sehr gut ohne Kopf und Glieder ausdenken ließ […], während das umgekehrt nicht möglich ist“470. Es ist bekannt, dass für den Bildhauer, dessen Hauptthema der weibliche Akt darstellt, die Gliedmaßen – ebenso wie für Schütte – eine schwierige Etappe sind; die Arme soll er seinen Leidensweg genannt haben.471 Der Torso erscheint auch hier als Aussage über die Schwierigkeiten der Gestaltung von Gliedmaßen, die neben dem Kopf das größte rhetorische Potenzial besitzen. Er wird zum Zeichen einer resignativen Verweigerung von Ganzheit und gleichsam zum Postulat gegen ein Verständnis von Kunst, das die Ausgestaltung des menschlichen Körpers zum Maßstab ihrer Qualität hat. Schütte markiert das Verschwinden dieser Fähigkeiten in der Moderne als Verlust. Nr. 5 (Abb. 36)|Nr. 3 (Abb. 39) Doch Frau Nr. 5 (Abb. 36), die Figur in Schüttes Werkgruppe, die am eindeutigsten von Aristide Maillol, im Speziellen von seinem Werk La Montagne (Abb. 38), inspiriert zu sein scheint – und die bereits ausführlich in dem Abschnitt Bezugsysteme des Kapitels Transformationsprozesse der vorliegenden Arbeit besprochen wurde –, ist eine der vergleichsweise wenigen vollständig ausgearbeiteten Figuren der Gruppe. Das gilt auch für Frau Nr. 3 (Abb. 39). Die symmetrisch aufgebaute Figur ist in etwa mittig sitzend auf dem Tischsockel positioniert. Sie ist so ausgerichtet, dass die längere Seite der Sockelplatte parallel mit ihrer längeren Seite verläuft. Die Füße von Frau Nr. 3 sind gerade, parallel 467   Vgl. Le Normand-Romain, Antoinette: Weibliche Torsi, in: Das Fragment. Der Körper in Stücken, Ausst. Kat., Musée d’Orsay, Paris, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, Bern 1990b, S. 133–155. 468   Ebd., S. 149. 469   Vgl. den Abschnitt Frauen im Kapitel Produktion der vorliegenden Arbeit. 470   Le Normand-Romain 1990b, S. 152. 471   Vgl. ebd.

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IV.2 Einzelanalysen

zueinander, etwa schulterbreit einige Zentimeter vor ihrem Gesäß auf die Stahlplatte aufgestellt. Entsprechend sind ihre beiden Knie gleichmäßig gebeugt und zeigen in die Höhe. Sie stellen die höchsten Punkte der Figur dar, da der Oberkörper ab der Hüfte nach vorn zwischen die Beine klappt, sodass der Kopf von Frau Nr. 3 in Stirnhöhe zwischen den Füßen auf der Sockelplatte aufliegt. Beide Arme der Figur reichen gerade ausgestreckt nach hinten und die Hände berühren den Untergrund. Die Haltung der Figur ergibt kompositorisch ein flaches, circa 50  Zentimeter hohes Dreieck mit einer langgestreckten – zwischen den Zehen- und Fingerspitzen aufgespannten – Basis. Insgesamt ist die Figur nicht detailliert ausgearbeitet, einzelne Glieder an Füßen und Händen sind nicht unterscheidbar, die Struktur des Haupthaars ist nicht zu erkennen, Knochen, Sehnen und Muskeln sind nicht im Detail sichtbar und auch Geschlechtsmerkmale sind nicht auszumachen. Die Figur wirkt kräftig bis athletisch und vor allem die Muskelstränge links und rechts der Wirbelsäule treten deutlich, aber nicht weiter differenziert hervor. In ihrer symmetrischen, sitzenden Haltung erinnert Frau Nr. 3 an Aristide Maillols ebenfalls überlebensgroße La Nuit (Abb. 41+42) aus dem Jahr 1902. Auch diese Figur ist in einer sitzenden Position dargestellt. Ihre Füße sind ebenfalls parallel zueinander und nah am Körper aufgestellt. Anders als bei Schüttes Figur berühren sie einander. Die gebeugten Knie öffnen sich in etwa schulterbreit, geben den Blick auf die Vorderseite – Bauch und Brüste – der Figur frei und dienen ihren Armen als Stützen. Der rechte Ellenbogen liegt auf dem rechten Knie und ist in einem 90°-Winkel gebeugt, sodass die rechte Hand auf dem linken Knie ruht. Der linke Arm wiederum ist so über den rechten gelegt, dass sein Ellenbogen auf dem rechten Handrücken und seine Hand auf dem rechten Ellenbogen aufliegt. Die Stirn der Figur liegt an dem linken Unterarm an, ihr Gesicht ist somit nicht zu erkennen. Ihr höchster Punkt ist ein nicht im Detail ausgearbeiteter Haarknoten am Hinterkopf. Damit der Kopf auf den auf den Knien ruhenden Armen abgelegt werden kann, ist der obere und mittlere Rücken von La Nuit gebeugt. Die Partie unterhalb der Schulterblätter wölbt sich nach außen und verläuft dann diagonal über den unteren Rücken zum sitzenden Gesäß der Figur. Der Rücken zeigt allerdings keinerlei Knochen, Sehnen oder Muskeln. Wie die ganze Figur ist er weich, füllig und glatt dargestellt. Die gleichmäßige Oberfläche von La Nuit erscheint – wie für Maillol charakteristisch – geschlossen, rein und klar. Auch sie weist keine Details auf, an denen die Augen der Betrachter_innen haften bleiben. Maillol stellt nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine, die Volumina und den geometrischen Aufbau der Figur dar. So wirkt die geschlossene, völlig symmetrische Komposition kompakt, ruhig und harmonisch. Sie ragt nicht über die Sockelfläche hinaus und Vorder- und Rückseite der Figur beschreiben leicht hochrechteckige Formen, die keine Zwischenräume oder Durchsichten aufweisen. Seitlich ist die Figur in ein auf der Spitze stehendes, gleichschenkliges Dreieck eingeschrieben, das durch die Rückenlinie und die Unterseite der Oberschenkel beschrieben ist. Es erhält durch die waagerecht verlaufenden Oberarme, die wiederum die Basis für ein kleineres, flacheres Dreieck bilden, dessen Spitze über dem Haarknoten

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IV. Sujet

liegt, Stabilität. Beide Dreiecke ergeben somit ein auf der Spitze stehendes Drachenviereck, das durch die lange Diagonale stabilisiert wird, die sich von den Zehenspitzen, über die Knie, die Ellenbogen und den Oberkopf der Figur erstreckt und parallel zu der Linie des unteren und mittleren Rückens verläuft. Beide Freiräume – unterhalb der Arme und zwischen Ober- und Unterschenkeln – stellen kleine Dreiecke mit jeweils etwa gleichlangen Seiten dar. Auch hier werden die formale Ordnung und die dadurch resultierende visuelle Ausgewogenheit der Figur unterstützt. In vielerlei Hinsicht referiert Frau Nr. 3 auf La Nuit: strenge Symmetrie, glatte Oberfläche, keine Dynamik, keine gestalterischen Details, sitzende Position bei aufgestellten Beinen und nach vorn geneigtem Kopf. Die jüngere Figur scheint diese Charakteristika allerdings zu übertreiben. Dies gilt vor allem für die Aufgabe der Details und für die Übernahme der Pose. Während La Nuit bei aller verallgemeinernden Formulierung und Entindividualisierung detailliert ausgearbeitet ist und zum Beispiel über modellierte Haare, Ohren, Brüste, Finger und Zehen verfügt, ist Frau Nr. 3 nicht bis ins Detail gestaltet. Die Figur gibt nicht nur ihre persönliche Identität auf, sondern darüber hinaus ihre Geschlechteridentität. Während bei Maillol noch klar zu sein scheint, dass es sich bei La Nuit um die Darstellung eines weiblichen Körpers handelt, gibt es bei Schüttes Figur keine visuellen Hinweise mehr auf das Geschlecht der offenbar menschlichen Gestalt. Die Verallgemeinerung der Kategorie weibliche Figur ist in Frau Nr. 3 bis zu ihrer Auflösung auf die Spitze getrieben. Ähnlich verhält es sich mit der kompakten, harmonischen Haltung der älteren Figur. Durch das Lösen und Strecken der Arme und die Platzierung der Hände hinter dem Gesäß, durch die Öffnung der Knie und durch das Einknicken in der Hüfte und das Ablegen des Kopfes zwischen den Füßen auf der Sockelplatte, wirkt Schüttes Figur wie eine zusammengefaltete La Nuit. Als wäre auch die allerletzte Spannung, der letzte Widerstand aus Maillols Figur entwichen, gibt Frau Nr. 3 all ihr Gewicht in Richtung Boden ab. Die stützende Diagonale – Füße, Knie, Ellenbogen, Stirn – konnte nicht aufrechterhalten werden und die Figur ist zugunsten einer formal noch ruhigeren, in ein stabiles, flaches Dreieck mit einer langen Basis eingeschriebenen Komposition modifiziert worden. Auch hier ist das Postulat der Ruhe, Stabilität und Kompaktheit so übertrieben, wenn nicht sogar ironisiert, dass sich bei den Betrachter_innen Argwohn breitmacht. Die Pose ist  – auch für einen besonders flexiblen Menschen  – kaum einnehmbar; sie wirkt in jedem Fall unkomfortabel und beklemmend. Frau Nr. 3 nimmt zwei Klischees, die die Hauptcharakteristika der Maillolschen Bildhauerei und zentrale Punkte der Bildhauerei auf dem Weg zur Abstraktion darstellen – der allgemeine Ausdruck zum Nachteil des Speziellen und die Ausgewogenheit der tektonischen Form zum Nachteil der inhaltlichen Dimension  – auf und bearbeitet sie weniger im Sinne einer Persiflage, als eher im Sinne einer Bewusstmachung des Umgangs mit modernen Mythen und dem Wieder- und Wiedererzählen moderner Geschichten, vor allem in Bezug auf die moderne Kunst, die Avantgarden. Frau Nr. 3 (Abb. 39) und Frau Nr. 5 (Abb. 36) – beides Referenzen auf Aristide Maillol, der sich mit Bezug auf die griechische Skulptur an der Extremitäten-, insbesondere

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IV.2 Einzelanalysen

an der Arm-Frage abgearbeitet hatte – thematisieren die Problematik der Arme, indem in beiden Fällen ihre stützende Funktion aufgegeben wird und die Figuren als Folge davon ins Wanken geraten, aus ihren kompakten Posen fallen und buchstäblich in sich zusammensinken. Sie geraten in Bewegung, obwohl oder gerade weil Maillol die Darstellung von Bewegung ablehnt, weil er sie für deformierend hält.472 Frau Nr. 5 scheint das Gleichgewicht verloren zu haben und in Schieflage geraten zu sein, während ihr Kopf ungestützt nach links vorn fällt und Kopf und Oberkörper von Frau Nr. 3 scheinen aufgrund des fehlenden Halts der Arme zwischen ihre Beine nach vorn gefallen zu sein. Die Arme beider Figuren erfüllen ihren stabilisierenden Zweck nicht und sind somit überflüssig geworden. Bei Frau Nr. 3 sind sie ausgeführt und sie weisen somit auf das Extremitäten-Dilemma und das Postulat der beginnenden Moderne ‚Alles ist im Torso enthalten‘ hin und führen vor, was passiert, wie es sich darstellt, wenn die Arme nicht miterdacht werden. Nr. 10 (Abb. 43) Einen Gegenentwurf zu dieser Auffassung und Problematisierung der Torso-/Extremitäten-Frage stellt Frau Nr. 10 dar. Diese Figur ist aufrecht sitzend in etwa mittig auf dem Tischsockel platziert. Wie Frau Nr. 3 und Frau Nr. 5 (und damit anders als Frau Nr. 9) ist sie so auf der Platte installiert, dass sie in Richtung der schmalen Seite schaut. Frau Nr. 10 ist in einer Art Fersensitz dargestellt. Die Füße und die größten Teile der Unterschenkel sind nicht zu erkennen, sie scheinen in der Sockelplatte zu versinken, sodass das Gesäß der Figur die Platte berührt. Man erkennt die stark gebeugten Knie, die soweit gespreizt sind, dass der behaart dargestellte Schambereich von Frau Nr. 10 zu sehen ist. Die gesamte Vorderseite der Figur ist gut sichtbar und vergleichsweise detailliert gestaltet: Der leicht gewölbte Bauch ist durch eine angedeutete waagerechte Linie in Ober- und Unterbauch geteilt und mit einem Nabel versehen, die runden Brüste weisen Brustwarzen auf und weiter oben zeichnen sich unter der Haut die Schlüsselbeine ab. Die Neigung des gesamten, gerade aufgerichteten Oberkörpers der Figur nach hinten verstärkt den Eindruck der freien, aufgespannten Vorderseite, die durch keine Gliedmaße verdeckt wird. Der Kopf von Frau Nr. 10 ruht auf einem geraden Hals und ist nach vorn blickend ausgerichtet. Das Kinn verläuft parallel zum Boden und das Gesicht der Figur ist ausmodelliert und symmetrisch dargestellt. Die Augen sind geöffnet, erscheinen aber, ebenso wie Nase und Mund ohne Mimik. Ohren sind nicht zu erkennen und das Haupthaar der Figur wirkt blockhaft und brüchig konturiert. Ein kräftiger Zopf, der auf der Rückseite in Nackenhöhe zusammengefasst ist, reicht bis zwischen die Schulterblätter. Die gerade, symmetrische, mimiklose Darstellungsform der geöffneten, blicklosen Augen und die rudimentäre Gestaltung der Haare, die scheint, als sei sie von Zeit und Wetter geformt, verleiht der Figur etwas Archaisches, etwas Sphinxhaftes. Dieser Eindruck wird in der Stahlvariante durch die sandhafte, körnige Oberflächenstruktur und rötliche Erdfarbe   Vgl. Le Normand-Romain 1990b, S. 133 f.

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des Materials unterstrichen. Entsprechend kontrastiert bei diesen Exemplaren das glänzende, einige Zentimeter breite Aluminiumband, das um den Hals der Figur liegt. Es nimmt mit seiner kleinen Musterung die Struktur glitzernder Pailletten auf und ist an der Rückseite geschlossen.473 Es wird nicht deutlich, ob es sich bei diesem Halsband um funktionslosen Schmuck oder um eine Art Fessel handelt, entscheidend ist, dass es den statischen, immobilen Eindruck der ganzen Figur unterstreicht, gleichzeitig für Irritation sorgt und das Mysteriöse der sphinxhaften Figur bestärkt. Denn es betont die Kehle der Figur, die als Würgerin aus der griechischen Mythologie bekannt ist.474 Die Sage beschreibt, dass die – meist als geflügelte Löwin mit Frauenkopf dargestellte – Figur sich auf einem Berg bei Theben aufhielt und denjenigen, die auf sie trafen, immer dasselbe Rätsel aufgab. Konnten sie es nicht lösen, zerriss die Sphinx sie, um sie anschließend zu verspeisen.475 Ödipus, der sich später als Vatermörder und Inzestbezichtigter die Augen ausstechen und ins Exil fliehen wird, gelingt es, das Rätsel der Sphinx, die daraufhin Selbstmord begeht, zu lösen und damit Theben zu befreien. Diese Verstrickung zwischen Tier/Mensch, Mann/Frau, Leben/Tod, Schrecken/Freiheit, Sieg/Niederlage, Sehen/Blindheit, Ruhm/Scham, richtig/falsch kann als symbolhafte Schlüsselepisode für ein konfliktbeladenes Geschlechterverhältnis gelesen werden, das zahlreich künstlerisch und wissenschaftlich bearbeitet wird und auf das auch Frau Nr. 10 durch ihren Ausdruck und ihr auffälliges Accessoire anzuspielen scheint.476 Die Schultern der Figur weisen nach hinten und auch die Armstümpfe suggerieren, dass die Arme ausgestreckt, schräg nach hinten in Richtung Sockelplatte ausgerichtet waren. Das der Figur zugrundeliegende Ceramic Sketch (Abb. 44) beweist diesen Eindruck, denn sie ist so gestaltet, dass beide Handflächen hinter der Figur aufgelegt sind und die ausgestreckten Arme den Oberkörper der Figur stützen. Doch beide Extremitäten der großformatigen Frau enden auf Höhe der Oberarme. Anders als bei den bisher betrachteten Torsi (Frau Nr. 7 (Abb. 27) und Frau Nr. 9 (Abb. 34)), sind hier Unregelmäßigkeiten zu verzeichnen. Die Arme enden auf unterschiedlichen Höhen (der rechte   Die Aluminium-Version der Figur verfügt nicht über ein Halsband.   Griechisch sphíngein = erwürgen. 475   Vgl. Schwab 2001, S. 234 (Fünftes Buch, Die Sage von Ödipus). Kleinspehn 1989 weist darauf hin, dass sich (v. a. in der Literatur) die Angst vor dem anderen, unbekannten Geschlecht (Frau) in der Darstellung bedrohlicher, verführerischer, verschlingender Frauenfiguren (wie Judith, Salome, Delilah) ausdrückt. Weiterhin sind Eva, Pandora und Psyche als Quell des Bösen, femmes fatales, zu nennen. 476   Vgl. z. B. in Helmes, Günter und Eberhardt, Søren: Antikenrezeption und Geschlechterdifferenz. Sphingen bei Helene Böhlau, Else Lasker-Schüler, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke, in: Scheuer, Helmut und Grisko, Michael (Hgg.): Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900, Kassel 1999, S. 258– 283; Rentmeister, Cäcilia: Das Rätsel der Sphinx. Matriarchatsthesen und die Archäologie des nicht-ödipalen Dreiecks, in: Brigitte Wartmann (Hg.): Weiblich-Männlich. Kulturgeschichtliche Spuren einer verdrängten Weiblichkeit, Berlin 1980, S. 151–192; Rentmeister, Cäcilia: Blick zurück im Zorn. Die Geschichte des Ö., in: Dietze, Gabriele (Hg.): Die Überwindung der Sprachlosigkeit. Texte aus der neuen Frauenbewegung, Darmstadt/Neuwied 1979, S. 221–272, Wiener, Jürgen: Sphingenpaare in der barocken Gartenskulptur, in: Möseneder, Karl, Thimann, Michael und Hofstetter, Adolf (Hgg.): Barocke Kunst und Kultur im Donauraum, Petersberg 2014, Bd. 2, 499–511. 473 474

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Arm nah an der Schulter, der linke etwa mittig am Oberarm) und die Endpunkte sind keine geraden Schnitte, sondern sie suggerieren ein Abgebrochensein. Die Kanten sind rau strukturiert und unregelmäßig wie Bruch- und nicht wie Schnittkanten gestaltet. Hier wird der Topos des einst vollständigen, durch die Zeit und die Natur gestalteten Kunstwerks aufgegriffen. Für die Pose der Figur wurden die Arme zwar miterdacht, aber nicht ausgeführt. Anders als bei Frau Nr. 3 (Abb. 39) und Frau Nr. 5 (Abb. 36), bei denen die Armhaltungen verändert wurden, ändert die Modifikation, hier ihr Weglassen, nichts an der Haltung der Figur. Der Oberkörper ist nach hinten gelehnt, als würde er durch die Arme gestützt. Die Betrachter_innen vervollständigen diese imaginär und die Figur wirkt keinesfalls wackelig. Die sichere Komposition eines großen Dreiecks, in das die Tonfigur eingeschrieben ist, wird durch Imagination für die Großplastik vervollständigt. Die Überflüssigkeit der Arme wird hier thematisiert und unterstrichen, während zuvor der Gegenbeweis geführt wurde. Die bisher betrachteten sitzenden Figuren sind somit als Neuverhandlungen bestehender Postulate zu verstehen und gleichzeitig thematisieren sie die Differenz zwischen künstlerischer und vermeintlich natürlicher Gestaltung. Der Torso Frau Nr. 9 (Abb. 34) ist eindeutig durch Menschen-, durch Künstlerhand zugerichtet und auch die Umgestaltung der oberen Extremitäten von Frau Nr. 3 (Abb. 39) und Frau Nr. 5 (Abb. 36) sind künstlerischer Art. Doch Frau Nr. 10 (Abb. 43) erweckt den Eindruck, als sei sie alt und einst vollständig gewesen und von der Zeit, von Unwettern und durch weitere äußere Einwirkungen gestaltet. Nicht nur ihre Arme scheint sie so verloren zu haben, auch der Kopf, insbesondere die Haare der Figur wirken wie auf diese Weise geformt und es würde nicht wundern, wenn der Figur auch ihre Nase genommen worden wäre. Doch verändert sich ihr Ausdruck nicht, denn lediglich der Künstler, so scheint es, vermag es, so in eine Figur einzugreifen, dass sie eine andere wird. Der Torso wird hier zum Zeugnis der künstlerischen Form, die durch unvorhersehbare, äußere Einwirkungen mitgestaltet wird, als Verschmelzung von gestalteter und ungestalteter Materie, von Kultur und Natur. Nr. 13 (Abb. 45) Die starr wirkende, symmetrisch aufgebaute Frau Nr. 10 (Abb. 43) scheint in Frau Nr. 13 in Bewegung geraten zu sein. Auch sie ist in einer sitzenden Position dargestellt. Ihre Unterschenkel und Füße sind nicht zu erkennen und die Oberschenkel verlaufen in etwa parallel zu der Sockelplatte, wobei der linke Oberschenkel der Figur zum Knie hin nach oben ansteigt. Der Oberkörper der Figur ist – wie schon in dem Ceramic Sketch (Abb. 46) angelegt – so nach vorn gelehnt, dass die linke Schulter das linke Knie berührt. Der linke Arm verschiebt sich dadurch aus dem Schultergelenk nach hinten und endet ungefähr mittig am Oberarm mit einer geraden Kante. Der rechte Arm führt ebenfalls nach hinten, ist aber im Ellenbogen so gebeugt, dass er wieder nach vorn führt und in einer nicht weiter ausgearbeiteten Hand zwischen beiden Knien endet. Beide Schultern sind zusammen und weit nach hinten gezogen, sodass der Hals der Figur lang wird und

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gerade nach links oben gestreckt ist. Das modellierte Gesicht von Frau Nr. 13 weist halb geöffnete, nach links oben blickende Augen auf. Augen, Nase und Mund lassen keinen spezifischen Ausdruck erkennen. Sie wirken neutral, aber eher abgekämpft und müde als zufrieden und entspannt und erinnern an die Gesichter aus der Arbeit Die Fremden (Abb. 11). Das lange, grob strukturiert gestaltete Haupthaar der Figur ist am Hinterkopf zu einem dicken Zopf zusammengefasst, der über die rechte Schulter in Richtung rechte Hand fällt. Der Kopf von Frau Nr. 13 gehört zu den detaillierter gestalteten Köpfen der Werkgruppe; er verfügt nicht nur über klare Linien im Gesicht, das neben Augen, Nase und Mund auch Wangenknochen und Augenbrauen erkennen lässt, sondern ebenfalls über Ohren und eine Frisur. Die Rückseite der Figur wird von dem ausladenden, runden Gesäß dominiert (Abb. 4). Beide nach hinten gezogene Oberarme, Nacken und Hinterkopf sind zu erkennen und der Bereich der Schulterblätter ist durch musterhafte Einkerbungen zusätzlich akzentuiert. Zunächst verläuft ein glatter, schmaler Streifen vom Nacken die Wirbelsäule entlang nach unten bis zur Gesäßfalte. Rechts und links dieses Streifens ergibt sich je eine Fläche, die durch den jeweiligen Oberarm seitlich begrenzt ist. Diese in etwa dreieckigen Bereiche sind mit sich kreuzenden Einschnitten in viele kleine würfelförmige Felder geteilt. So ist ein dreidimensionales Muster entstanden, das den Bereich der Schulterblätter hervorhebt und sie wie kleine, angelegte Flügel erscheinen lässt. Der Kopf von Frau Nr. 13 (Abb. 45) – Gesicht und Haare – ähnelt dem von Frau Nr. 10 (Abb. 43). Er ist allerdings nicht so streng aufgebaut und frontal ausgerichtet; die Oberflächen wirken ebenmäßiger und glatter, sodass der sandige, archaische Eindruck von Frau Nr. 10 sich in der jüngeren Figur nicht wiederfindet. Auch die Körper der Figuren unterscheiden sich: Während Frau Nr. 10 schmal und schlank gestaltet ist, ist Frau Nr. 13 üppig und kräftig und das Material scheint an manchen Stellen (etwa im Bereich der Beine an der Vorderseite) zu fließen, während Frau Nr. 10 klar konturiert ist. Die flügelhaften Partien auf dem Rücken der jüngeren Figur erinnern aufgrund der Beschaffenheit der Figur eher an einen Putto als an eine Sphinx – im Zusammenhang mit Frau Nr. 13 würden sie dagegen den Sphinx-Verweis stärken. Ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen den beiden Frauen liegt zwischen Statik (Nr. 10) und Dynamik (Nr. 13). Der Oberkörper von Frau Nr. 13 ist nach vorn gelehnt, während ihr Hals gestreckt, angehoben und gedreht ist und der Blick diagonal nach oben führt. Der Bereich der Schultern und der obere Rücken stehen unter Spannung, weil die Arme nach hinten ziehen, während das linke Knie der Figur leicht angehoben ist. Durch die Torsion und den auffällig gestalteten Rücken fordert die Figur die Betrachter_innen explizit auf, sie zu umkreisen und von allen Seiten anzusehen. Sie ist nicht, wie Frau Nr. 10, streng frontal ausgerichtet. Dieser Unterschied zwischen Einund Vielansichtigkeit – spätestens seit dem Manierismus das zentrale Bildhauerei-Argument im Wettstreit der Künste – und die Rolle des in Bewegung gebrachten Körpers dabei, spielt in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Torso um 1900 eine

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zentrale Rolle und manifestiert sich in der Beschäftigung vieler Künstler_innen mit der Kauernden Venus (Abb. 47).477 Der hellenistische Typus zeigt die im Bad überraschte Göttin in einer hockenden Position. Der linke Fuß der Venus ist dabei aufgestellt, sodass der Unterschenkel vertikal ausgerichtet ist und die Figur ihren linken Unterarm auf den linken Oberschenkel stützen kann. Der rechte Unterschenkel hingegen ist horizontal ausgerichtet, da die Figur lediglich die Zehen des rechten Fußes aufsetzt. Der Oberkörper kann sich somit zu der durch die Beinposition geöffneten rechten Seite drehen. Das Kinn der Figur zeigt zur rechten Schulter und auch ihr Blick führt nach rechts hinten. Der rechte Arm macht eine Gegenbewegung und schließt die Komposition, indem er nach links zieht. Der gebeugte Ellenbogen zeigt in Richtung des linken Knies und die rechte Hand führt zur linken Schulter. Dieser Typus wird von plastisch arbeitenden Künstler_innen wie Emile-Antoine Bourdelle, Auguste Rodin, Camille Claudel, Henri Matisse und schließlich Aristide Maillol zwischen 1890 und 1930 ausführlich rezipiert; sie scheinen das Motiv für die Moderne wiederzubeleben.478 Auch in Thomas Schüttes Figur klingt die Kauernde Venus an. Frau Nr. 13 nimmt eine gemäßigte Variante der Beinhaltung einer klassischen Kauernden Venus ein, ihr Oberköper ist stärker gebeugt und in die entgegengesetzte Richtung verschraubt: der Blick führt nicht nach rechts unten hinten, sondern nach links oben vorn. Der linke, abgelegte funktionslose Arm der Venus wurde in Frau Nr. 13 abgetrennt, während der rechte, die Komposition schließende Arm ebenfalls nach vorne führt. Schüttes Figur scheint sich somit über den (Um‑)Weg der Moderne auf den hellenistischen Typus zu beziehen. Der kauernde weibliche Torso (1884/85) von Claudel ist ebenfalls kompakter, stärker geneigt und nach links verschraubt, während beispielsweise Matisses Hockende Venus von 1918 keinen Richtungswechsel vollzieht. In dieser Zeit verliert die Darstellungsform nicht nur ihre kompositorische Strenge, sondern auch ihre ikonographische Bezeichnung. Maillols Monument für Debussy von 1930 bezieht sich auf den Darstellungstypus, ohne dass ihm der Beiname Venus gegeben wäre. Frau Nr. 13 (Abb. 45) scheint diese motivische Linie aufzunehmen, weiterzuverfolgen und zu modifizieren. In Anbetracht der rundlichen, fließenden, amputierten Figur, die abgesehen von dem üppigen Gesäß keine spezifischen Geschlechtsmerkmale aufweist, denken zeitgenössische Betrachter_innen kaum an eine Darstellung der Venus, der Göttin der Schönheit und der Liebe. Die Fragen nach idealer Schönheit und idealer Weiblichkeit werden hier erneut verhandelt und durch die Flügel um eine weitere Perspektive erweitert. Wie schon bemerkt, sind das nicht die Flügel einer weiblichen Figur, nicht die spitzen, großen Flügel einer Sphinx, sondern es sind die kleinen, runden Flügel eines Puttos. Vor dem Venus-Hintergrund können sie als Anspielungen auf Amors Flügel und auf das beliebte Venus-mit-Amor-Thema gelesen werden, in dem die als junge idealschöne Frau darge  Vgl. z. B. Lullies, Reinhard: Die kauernde Aphrodite, München 1954.   Vgl. Le Normand-Romain 1990b, S. 135 ff.

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stellte Göttin mit Amor in Gestalt eines geflügelten Kleinkinds gezeigt wird. In Frau Nr. 13 scheinen beide Figuren – Venus durch die Pose der Figur und Amor durch die Flügel und die rundliche Rückseite  – repräsentiert zu sein und miteinander zu verschmelzen; eine Festlegung auf einen ontologischen Status, ein Geschlecht, ein Ideal, eine Identität ist nicht möglich. Wir sind immer viele. Nr. 2 (Abb. 48) Nach der Betrachtung der hauptsächlich vertikal ausgerichtet sitzenden Figuren der Werkgruppe scheint der Oberkörper von Frau Nr. 13 (Abb. 45) und mehr noch der von Frau Nr. 3 (Abb. 39) auf dem Weg zur Horizontalität zu sein. Frau Nr. 2 ist, aus einer ähnlichen Pose, wie Frau Nr. 13 sie eingenommen hat, weiter nach vorne, zur Sockelplatte gebeugt. Ähnlich wie die jüngere Figur ist sie hockend auf ihren leicht gespreizten Unterschenkeln dargestellt. Der Oberkörper der Frau ist so nach vorn geneigt, dass ihr Kopf auf der Sockelplatte aufliegt. Dabei verläuft das rechte Bein gerade nach vorn und wird entsprechend von dem Oberkörper der Figur bedeckt, sodass lediglich die Außenseite des Oberschenkels zu sehen ist. Die gesamte rechte Seite der Plastik wirkt somit geschlossen und kompakt in ein flaches horizontales Oval eingeschrieben. Das linke Ende des Ovals bildet das Gesäß, auf der rechten Seite schließt der Kopf die Figur ab, der sich durch eine aufgeraute Oberfläche, die das Haupthaar der Figur darzustellen scheint, auszeichnet. Die Flächen des Körpers, die von Haut bedeckt sind, sind hingegen gleichmäßig und glatt gestaltet. Die rechte Schulter von Frau Nr. 2 ist ausgeprägt und spitz, der dazugehörige Arm scheint unter den Oberkörper der Figur zu führen. Das Gesicht der Plastik ist aus dieser Perspektive nicht erkennbar, die Figur ist geschlossen und scheint ihr Gesicht abzuwenden und es nach links drehend unter ihrer bis zwischen die Schulterblätter fallenden Haarpracht zu verbergen. Beim Umschreiten der Figur lässt sich bereits erahnen, dass ihre linke Seite sich öffnet. Vom Kopf aus betrachtet steht der geschlossenen rechten Schulter auf der linken Seite ein ausladender, zunächst undefinierbarer Materialwulst entgegen und von der Rückseite aus öffnet sich die Komposition eindeutiger: Während der Haarzopf, die Wirbelsäule und die Gesäßfalte die Figur in einer Linie der Länge nach zweiteilen, bleibt die rechte Seite auch aus dieser Perspektive geschlossen. Die linke Seite öffnet sich, indem der Fuß des linken Beins unter der linken Gesäßhälfte zu sehen ist und diese anhebt. Das linke Knie schiebt darüber hinaus nach außen, lässt die Figur raumgreifender werden und entsprechend ist auch der Unterschenkel, der unterhalb des Oberschenkels verläuft, sichtbar. Aus dieser Perspektive lässt sich ein Teil des linken Arms erahnen – ihr formaler Aufbau erinnert nur noch leise an den Typus der Kauernden Venus. Viel dringender scheint hier der Vergleich zu Auguste Rodins Danaïde von 1889, in deren gekrümmter, erschöpfter Pose die Verzweiflung über ihre sinnlosen Mühen zum Ausdruck kommt.479 Die linke Seite der Figur öffnet sich tatsächlich den 479   Rodin stellt eine der 50 Töchter des Danaos, die auf seinen Befehl hin ihre Ehemänner getötet haben, dar. Zur Strafe müssen sie immerfort Wasser in ein durchlöchertes Fass schöpfen (Hyginus Mythographus: Fa-

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Blicken der Betrachter_innen, doch sind keine Details auszumachen. Die Situation der Arme klärt sich nicht und auch die Vorderseite der Figur verliert sich in undifferenzierten Materialformen. Auch ein Gesicht ist nicht zu erkennen. Die Hoffnung der Betrachter_innen, Klarheit über die Figur, ihren Körper, ihre Haltung und letztlich über ihre Identität zu bekommen, löst sich nicht ein. Nähern die Betrachter_innen sich der geschlossenen Seite der Frau, ist zunächst nichts Irritierendes festzustellen. Oberschenkel, Rückenpartie, Oberarm und Kopf sind in einer schlüssigen, vermeintlich unkonventionellen Pose dargestellt. Die Ansichten von vorn und von hinten versprechen eine Öffnung der Figur auf der rechten Seite, die auch eingelöst wird, die aber mehr Fragen aufwirft als sie klären könnte, denn anders als die Betrachter_innen erwarten, vervollständigt die Figur sich hier nicht. Ihr Gesicht scheint nicht nur verborgen, sondern schlicht nicht existent und auch Arme, Brust und Bauch sind nicht eindeutig auszumachen. Das Spiel mit geschlossen und offen, mit figürlich und abstrakt, mit menschlich und nicht-menschlich lässt die Figur bezüglich ihres Status in der Schwebe bleiben. Gleichzeitig ist in der flachen, kompakten, zweigeteilten Komposition die Relevanz des Betrachterstandpunkts angesprochen. Denn er muss sich bewegen, um die Figur erfassen zu können, was ihm aber nicht gelingen kann, weil eindeutige Zeichen fehlen. Somit ist der Figur ein Frustrationsmoment inhärent, das sämtliche Pro­ bleme der figurativen Bildhauerei zwischen Abbild und Abstraktion, Naturalismus und Ideal, Vollständigkeit und Fragmentierung, Inhalt und Form anspricht, ohne allerdings versöhnliche Lösungsansätze zu bieten. Nr. 11 (Abb. 53) Eine gestalterisch ähnliche, allerdings radikalere und kompromisslosere, wenn auch nicht weniger rätselhafte Variante stellt Frau Nr. 11 dar. Auch diese Figur, die bereits in einem Ceramic Sketch (Abb. 54) angelegt ist, sitzt auf ihren Unterschenkeln. Beide Beine sind erkennbar und auch zwei amorphe Füße, die sich unterhalb des Gesäßteils befinden, lassen sich ausmachen. Von diesem Punkt aufwärts scheint sich der ontologische Status der Figur zu ändern. Während der Unterkörper von Frau Nr. 11 als menschlich oder mindestens menschenähnlich identifizierbar ist, wölbt sich von der Hüfte aufwärts eine einheitlich und muskulös erscheinende, glatte Partie nach oben auf, um dann in Richtung Knie wieder abzufallen und vor den Knien in einer doppelten Rundung abzuschließen. Dieser Teil, der, wäre Frau Nr. 11 eine menschliche Figur, Oberkörper, Arme, Hals und Kopf beinhalten würde, erinnert in seiner Form an eine riesige Zunge. Über die gesamte Länge dieser Partie verläuft mittig  – analog zu einer denkbaren Wirbelsäule – ein Kamm mit knorpelhaften Erhöhungen, der an die Rückenpartie eines Reptils erinnert. Anders als bei Frau Nr. 2 erweckt diese Figur gar nicht erst den Eindruck, dass bulae, CLXVIII ff.). Interessant ist, dass Rodin – anders als in ikonographischer Tradition – lediglich eine der Töchter darstellt und dass sie darüber hinaus nicht bei ihrer Strafe, der sinnlosen Tätigkeit, zu sehen ist, sondern im Moment ihrer einsamen, nackten Verzweiflung.

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es sich tatsächlich um eine weibliche, menschliche Figur handeln könnte. Bereits aus der Ferne ist sie als nicht klar zuzuordnendes Mischwesen, als Hy­brid von Mensch, Tier und Fabelwesen zu erkennen.480 Nr. 17 (Abb. 55) Ganz ähnlich und doch ganz anders verhält es sich mit Frau Nr. 17. Diese Figur verfügt über den am detailliertesten ausgearbeiteten Kopf der Werkgruppe. Ihr Gesicht ist symmetrisch gestaltet. Unter den ebenmäßig modellierten Augenbraunen erscheinen gesenkte Augenlider, eine gerade Nase und ein mimikloser Mund mit geschlossenen Lippen. Das Gesicht ist von einer mit flachen, durch viele schmale Einkerbungen strukturierten Fläche der Haare umgeben. Diese sind tief im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst, der von einem schmucklosen Haarstab zusammengehalten wird. Die Ohren der Figur werden von dem Haar überdeckt und etwa auf Höhe der linken Schläfe ist eine runde, schmückende Blüte angebracht. Bei genauer Betrachtung ist unterhalb des linken Auges von Frau Nr. 17 eine ganz leichte horizontal verlaufende Wölbung, die etwa mittig eine Art Tropfen bildet, ähnlich einer Träne, zu erkennen. Somit ist dieser Kopf innerhalb des vorherrschenden Paradigmas der Idealvorstellung von Weiblichkeit nicht nur der idealschönste und detailreichste und damit versöhnlichste der Werkgruppe, sondern er provoziert durch die Träne eine Narration: Weint diese Frau? Ihr Kopf ist leicht gesenkt, in Richtung linke Schulter gedreht und ihr schmaler Hals fließt in zarte Schultern. Unterhalb der Schulterpartie ist allerdings kein passender Körper zu erkennen. Der aufgerichtete Oberkörper und auch der auf der Sockelplatte ausgestreckt erscheinende Unterkörper der Figur wirken wie in einem Kokon steckend oder wie in einen weichen, fließenden Stoff gehüllt. Dabei ist völlig unklar, ob sich unter dieser Oberfläche ein (menschlicher) Körper befindet; es zeichnen sich keine Details ab, alles scheint zu fließen, sich zu vermischen. Die klassische Darstellungsform (die Schlafende Ariadne als schöne Frau, seitlich liegend mit erhöhtem Oberkörper, gesenktem Blick und geschmücktem, sorgfältig frisiertem Kopf), gängige Klischees moderner Weiblichkeit (symbolisiert durch die Blüte), Errungenschaften der modernen Bildhauerei (in dem Fall die Abstraktion), all diese Topoi werden in der Werkgruppe verhandelt, entblößt, verbunden, aktualisiert und sie scheinen in der vorletzten Figur der Gruppe zu kumulieren. So weint die schönste der Frauen nicht, weil sie über keinen weiblichen Körper verfügt oder weil er unbeweglich in einem Kokon gefangen ist, sondern weil sie erneut für die Auseinandersetzung eines männlichen Künstlers mit der Kunst und für seine Form- und Materialexperimente herhalten muss. Erneut hat ein weiteres Klischee der Kunst, die Narration, eine Falle zuschnappen lassen. 480   In ihrer Gestalt eines Mischwesens erinnert Frau Nr. 11 an die Monstrositäten von Hieronymus Bosch oder Pieter Bruegel d. Ä., an das „unendliche Spiel der Austauschbarkeiten“ (Schade 1987, S. 250). Sigrid Schade sieht in diesem „Strukturmerkmal manieristischer Kunst“ (Schade 1987, S. 250) u. a. die „Negierung […] der ein für allemal festgelegten Bedeutung von Formen“ (ebd., S. 250).

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IV.2 Einzelanalysen

Nr. 18 (Abb. 56) Somit könnte die letzte Figur der Werkgruppe, Frau Nr. 18, in ihrer brutalen Gestalt als markanter, vielleicht frustrierter, vielleicht resignierter, vielleicht ratloser, vielleicht überheblicher, vielleicht sarkastischer Schlussstein gelesen werden. Ein Torso in der Art von Frau Nr. 9 (Abb. 34) liegt auf dem Rücken mittig auf der Sockelplatte. Die Arme und Beine sind jeweils mit geraden Schnitten, nah am Rumpf abgetrennt. Der Halsausschnitt ist wie bei Frau Nr. 9 v‑förmig gearbeitet, allerdings klafft eine Art Hautlappen mittig in der Vertiefung auf, sodass sie wie eine Wunde wirkt. Analog dazu ist die Vulva der Figur gestaltet. Im Vergleich zu den anderen Frauen der Serie erscheint sie wie ein klaffendes Loch oder ebenfalls wie eine Wunde.481 Die Brüste von Frau Nr. 18 fallen, ihrer Position gemäß, leicht nach außen. Auf dem Bauch des Torsos liegt umgekehrt ein Kopf – Oberkopf in Richtung Oberschenkel, Hals in Richtung Brust. Das nur grob und schemenhaft angedeutete Gesicht weist nach oben. Es ist von einer ungeordneten, grob strukturierten Haarmasse umgeben und eine Blüte an der linken Schläfe erinnert an den idealisierten Kopf von Frau Nr. 17 (Abb. 55). Doch dieser Kopf ist nicht so sorgfältig modelliert, er wirkt nicht anmutig schön und detailreich ausgearbeitet, sondern grob, unfertig und unbeholfen. Ein kräftiger Hals schließt an, der – wie ein Frisierkopf – auf einem rechteckigen, sockelähnlichen Fuß endet. Frau Nr. 18 besteht aus zwei Einzelteilen – die beiden bislang zentralen Teile des Körpers, Torso und Kopf –, die nicht miteinander verbunden sind, sondern eher achtlos aufeinander gestapelt erscheinen. Sie erscheinen wie eine letzte Referenz: an den letzten Bildhauer, der im 20. Jahrhundert den großformatigen weiblichen Akt zu seinem Thema macht, an Henry Moore und seine zweigeteilten Liegenden. Im Vergleich zu der direkten Vorgängerfigur in der Werkgruppe erscheint Frau Nr. 18 auffallend unbeschönigend und lieblos gearbeitet; das Hässliche, das Achtlose, Morbide, Frustrierte kommt hier zum Vorschein und wird  – in der Bronzevariante  – auch von der Patina unterstrichen. Während Frau Nr. 17 – wie alle Figuren der Werkgruppe – sorgfältig und homogen patiniert ist, erzeugt die Patina von Frau Nr. 18 eine andere Wirkung, denn sie wirkt schmutzig, fleckig und uneinheitlich. Die beiden Teile liegen wie Reste aus der jahrelangen Beschäftigung mit der weiblichen Aktfigur da. Zwei Überschüsse, die neu kombiniert werden, als Überbleibsel der Produktion, Mate­rial­ überschüsse, die am Ende wieder einverleibt werden. Somit bildet Frau Nr. 18, die letzte Frau der Werkgruppe, eben nicht ihren Schlussstein, sondern sie veranschaulicht vielmehr, dass die Produktion immer weitergeht, dass das Problem nie gelöst werden kann und dass es niemals ein Ende oder eine Lösung geben wird.

  Hier zeigt sich gewissermaßen das Gegenstück zu der Vagina Dentata aus der Psychoanalyse: Das Bild der Vagina als Wunde verweist auf Sigmund Freuds Theorie der Kastrationsangst (Die infantile Genitalorganisation, 1923). Demnach interpretiert das männliche Kind beim Anblick eines weiblichen Genitals den fehlenden Penis als Mangel, den es sich als Verlust erklärt. Das Resultat ist die Angst vor dem Verlust des eigenen Penis. 481

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IV. Sujet

IV.3 Zusammenfassung Für die Analyse der Werkgruppe gilt dieselbe Herausforderung für den Analysierenden, die der Künstler auch in Bezug auf ihre Produktion formuliert: „Man muss hinsehen und sich irgendwie einen Tunnel graben durch den Berg von Material.“482 Beim Betrachten der 18 großformatigen, durchnummerierten Plastiken aus Stahl, Bronze und Aluminium wird man an verschiedenen Punkten aufs Glatteis geführt, man tappt in Fallen und folgt irreführenden Spuren. Die Werkgruppe höhlt den weiblichen Akt – eines der tradiertesten Sujets der Kunstgeschichte – durch ihre Heterogenität auf mehreren Ebenen aus. Zunächst wird deutlich, dass der Begriff Frau keine eindeutige Kategorie darstellt. Die Figuren zeigen, dass Frauen zierlich und zart oder üppig und prall sein können, dass sie eine Vagina und Brüste, langes Haar und feine Gesichtszüge haben können. Innerhalb der Gruppe tauchen diese mit Weiblichkeit assoziierten Attribute punktuell immer wieder auf. Gleichzeitig sind die Frauen aber kräftig und muskulös und mit groben Gesichtern und auch ohne die genannten primären, sekundären und tertiären Geschlechtsmerkmale dargestellt. Der Titel Frau korreliert hier also weder mit dem biologischen noch mit dem kulturellen Geschlecht. Dem klassischen Verständnis nach erscheinen einige Frauen explizit feminin, andere weisen eindeutig maskuline Züge auf. Doch diese duale Spur der Geschlechter – deren Gültigkeit seit den 1980er Jahren vehement und differenziert befragt, aber dennoch weiterhin hinreichend verfolgt wird483 – führt in eine Sackgasse. Die Betrachter_innen haben es bei den Frauen nicht mit normierten Frauenkörpern zu tun. Das wird nicht nur in Bezug auf das Geschlecht deutlich, auch auf einer zweiten, geschlechtsneutralen Ebene des menschlichen Körpers versperren die Frauen sich gängigen Idealen und Normen. So sind die Körper nur in wenigen Fällen vollständig, in dem Sinne, dass alle Körperteile vorhanden sind. Zum Teil wurden Extremitäten weggelassen, zum Teil wurden Partien oder auch ganze Figuren nicht im Detail ausmodelliert. Diese Strategien der Fragmentierung, der (De‑)Formation, der Stilisierung, der Vereinfachung führen zu Verfremdungen der Körper, die sie weiter von einer Norm, die am ganzen Körper festhält, entfernt. Auf einer dritten Ebene wird neben den Fragen nach Geschlecht und Körper die Frage nach dem Menschlichen aufgerufen. Denn eine weitere Strategie der Verunklärung besteht darin, dass die Figuren ihre menschlichen Züge aufgeben. Teilweise lassen sich Partien motivisch nicht entschlüsseln, weil sie nicht   Zitat Thomas Schütte, in: Lingwood 2001, S. 79.   Zentral und wegweisend sind hier die Forschungen Judith Butlers (insb. Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990) und Donna Haraways (insb. Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/Main 1995). Vertiefend zu feministischen Konzepten in der Kunst(-Kritik) der Postmoderne vgl. Owens, Craig: Der Diskurs der Anderen: Feminismus und Postmoderne, in: Eiblmayr, Silvia, Export, Valie und Prischl-Maier, Monika (Hgg.): Kunst mit Eigen-Sinn. Aktuelle Kunst von Frauen. Texte und Dokumentation, Ausst. Kat., Museum moderner Kunst/Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, Wien 1985, S. 75–87. 482 483

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IV.3 Zusammenfassung

als menschlich identifizierbar sind. In einigen Fällen weisen die Figuren explizit nicht-­ menschliche, sondern tierische Züge auf und in anderen Fällen scheinen die Figuren von einer anderen Welt zu stammen. Dann wirken sie wie Wesen aus fiktiven von Walt Disney oder DreamWorks produzierten Welten, die zwar menschenähnlich sind, deren ontologischer Status aber ebenso wenig zu klären ist, wie ihr Geschlecht. Auf Seiten des Inhalts führen die Frauen in einem Dreischritt (Frau – Mensch – Nicht-Mensch) von ihrer sprachlichen Bezeichnung weg. Sie hinterfragen so nicht nur ihren Titel, sondern sie regen ein Hinterfragen des Begriffs Frau an, der alles und nichts bedeuten kann, der offenbar nicht bestimmbar ist und damit keine Allgemeingültigkeit zu haben scheint. Die Erinnerungsspuren an weibliche, männliche, menschliche, übermenschliche, tierische Formen passen nicht in eine symbolische Ordnung und die Figuren entziehen sich somit durch ihre Metamorphosen und Metonymien einer Zuordnung und auch ihrer – einer konventionellen Lesart folgenden – Funktion der Bestätigung männlicher Potenz.484 Darüber hinaus wird klar, dass das Bild des (v. a. weiblichen) Körpers – als Kontinuum in der Geschichte der Bildhauerei und gleichsam als historische und kulturelle Kategorie, die sich je nach den herrschenden sozialen, politischen, ökonomischen Kräften ändert und nicht nur eine biologische Größe darstellt485 – wie die für die Werkgruppe verwendeten Werkstoffe semantischen Veränderungen unterworfen ist. Ebenso wie die untersuchten Materialien (Ton, Gips, Bronze etc.) werden dem weiblichen Körper zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen eingeschrieben, die sich zwar ändern, die aber nie ganz gelöscht werden können. In der pluralistischen Ausführung der Frauen, nicht nur in drei verschiedenen Materialien (Stahl, Bronze, Aluminium), sondern auch in 18 verschiedenen Ausformulierungen, kann der Prozess einer semantischen Entleerung – wie sie in dieser Arbeit in Bezug auf die Materialwahl formuliert wurde – in Bezug auf das tradierte Sujet gesehen werden. Denn ebenso wie der verwendete Werkstoff ist auch der abgebildete Körper immer schon kulturell, historisch, sozial kodifiziert. In der Kunst gibt es ebenso keine traditionslosen, bedeutungslosen Werkstoffe wie Körper und ebenso keine unbelasteten Materialien wie Sujets. Das würde bedeuten, dass sich das Thema weiblicher Akt durch die letztendlich zur Differenzierung führende achtzehnfache Wiederholung zunächst semantisch entleert, um dann aktualisiert und neu geladen werden zu können.486 Anders wäre der Rückgriff

484   Bei Clark 1958 etwa wird im Akt „das visuelle Zügeln von ungeformter, leiblicher Materie dank seiner Angleichung an ästhetische Kategorien wie Ordnung, Symmetrie und Bestimmtheit zementiert und zelebriert.“ (Bronfen 2003, S. 263) „Denn die im traditionellen Akt vollzogene Regulierung qua Umgestaltung des weiblichen Körpers versteht er als kulturpolitische Haltung, die dazu dient, weiblichen Selbstausdruck in Schach zu halten […]. Dem idealisierten männlichen Schöpferkonzept angeglichen und unterworfen wird weibliche Sexualität auch beherrscht.“ 485   Vgl. Flynn, Tom: Der Modellierte Körper. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Köln 1998, S. 9. 486   Für die grundlegende Entfaltung der Begriffe Differenz und Wiederholung vgl. Deleuze 1992 (orig. 1968) und mit Bezug zur zeitgenössischen Kunst am Bsp. von Gerhard Richter und Sigmar Polke vgl. Gelshorn 2012.

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IV. Sujet

auf eines der problematischsten aller Sujets innerhalb der Großplastik am Ende des 20. Jahrhunderts kaum denkbar.487 Auch auf der formalen Seite durchbrechen die Frauen dominante visuelle Codes der figurativen Großplastik zugunsten einer erweiternden Pluralität: Sie beziehen sich auf klassische Darstellungsformen mit verschiedensten Konnotationen. Zu nennen sind mindestens fünf Urtypen: die Schlafende Ariadne, die Kauernde Venus, der Torso vom Belvedere, Hermaphroditus und Sphinx. Somit erscheinen die Frauen in den Darstellungsmustern einer irdischen Frau, einer Göttin, einer intersexuellen Gestalt, einer männlichen Figur und eines Mischwesens aus Mensch und Tier und sie wirken somit der Festsetzung einer auf wenige Grundpositionen abgestellten Figuration des (idealen) Weiblichen entgegen. Allerdings korrelieren auch hier – wie schon beim Titel – Dargestelltes und Darstellungsformen nicht: Die Figur, die formal den (männlichen) Torso vom Belvedere aufruft, verfügt nicht über maskuline Züge (Nr. 9, Abb. 34). Dafür könnte die Figur, die in einer Ariadne-Pose dargestellt ist, durchaus männlich sein (Nr. 1, Abb. 17). Und die sphinxhafte Figur weist keine animalischen Komponenten auf (Nr. 10, Abb. 43), wohl aber die Figur, die sich in einer Haltungsvariation der Kauernden Venus (oder der einer Danaïde) befindet (Nr. 11, Abb. 53). Ein weiteres Mal entpuppen sich die Frauen als Fallen, ein weiteres Mal wird die Lücke zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem deutlich und zeigt den Rezipierenden ihre tradierten Gewohnheiten, Vorannahmen und Klischees auf sprachlicher (Werktitel) und auf visueller (Typus) Ebene auf: Was Frau genannt wird, muss nicht Frau sein; was wie Frau dargestellt wird, muss nicht Frau sein. Der größtmögliche historische Abstand zu den genannten (antiken) Urtypen betont den langen Zeitraum dieser schwebenden Zuschreibungen und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Freiräume zu schaffen und Abstand zu den ganz konkreten, gegenwärtigen Geschlechterfragen und ‑konzepten zu gewinnen. In einem engeren Sinne verhält es sich ebenso beim Umgang mit konkreten Vorbildern. Während bisher von Urtypen oder Darstellungsformen die Rede war, sind in der Werkgruppe ebenfalls Referenzen auf spezielle Kunstwerke von speziellen Künstlern identifizierbar. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um männliche Künstler, die sich im 20. Jahrhundert zum Teil ausgiebig mit dem weiblichen Akt beschäftigt haben, ihn sogar zu ihrem zentralen Sujet gemacht haben. Zu nennen sind unter anderen Auguste Rodin, Pablo Picasso, Ernst Ludwig Kirchner, Henri Matisse, Paul Gauguin, Aristide Maillol und Henry Moore. Innerhalb der Werkgruppe Frauen tauchen Werke dieser Künstler auf verschiedene Weisen auf. Ganze Figuren, wie etwa Maillols La Montagne (Nr. 5, Abb. 36) werden ebenso verarbeitet wie die künstlerische Handschrift von Henry Moore (Nr. 16, Abb. 32), die kubistischen Stilelemente Pablo Picassos (Nr. 15, Abb. 24) oder einzelne charakteristische Details, wie Paul Gauguins Blüte als Kopfschmuck 487   In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Beschäftigung mit dem weiblichen Körper und seine Aktualisierung v. a. von Künstlerinnen forciert (vgl. z. B. Saunders 1989, Eiblmayr 1993), nicht aber im Medium der monumentalen Großplastik.

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IV.3 Zusammenfassung

(Nr. 17, Abb. 55). Durch den Bezug auf die genannten Künstler finden die verschiedenen Strömungen und Ismen der modernen Bildhauerei Einzug in die Werkgruppe. Anklänge an den Kubismus, den Primitivismus, den Expressionismus, den Surrealismus finden sich in den 18 Figuren wieder, ohne dass ein verbindendes Element gesucht oder eine vereinende Synthese geschaffen wird. Auch stellen die Frauen keinen auf Vollständigkeit angelegten Katalog der pluralistischen Stile der Bildhauerei im 20. Jahrhundert dar. Eher scheinen die Figuren in einer Art historischem Dialog die Möglichkeiten figurativer Plastik auszuloten, um sie weiter zu erproben. Dieses Weiterführen findet aber nicht im Sinne einer fortschrittsgläubigen, linearen Bewegung der Avantgarden statt, sondern die Frauen sind rhizomartig angelegt mit unterschiedlich weitreichenden Rückgriffen, geraden und krummen Verzweigungen, abgestorbenen Enden und neuartigen Wucherungen.488 Ebenso wie eindeutige Kategorien, gängige Klischees und damit verbundene dichotome Strukturen innerhalb der Werkgruppe in Bezug auf die Produktion – additive Verfahren (Tonskizze)/subtraktive Verfahren (Gipsmodell), das Material (high/low, alt/neu usw.) und den Inhalt (Mensch/Nicht-Mensch, feminin/maskulin, schön/hässlich, weich/ hart, schlank/üppig, fein/grob usw.) – verhandelt werden, stehen sie auch in Bezug auf die (Darstellungs‑)Form zur Disposition. Gemeint sind zentrale Topoi und Darstellungsmodi der Bildhauerei, wie Ganzheit/Fragmentierung, Statik/Dynamik, Symmetrie/Asymme­ trie, Abstraktion/Naturalismus, Formation/Deformation, Allgemeines/Spezielles, Realität/Ideal, Spannung/Entspannung, Horizontalität/Vertikalität, offen/geschlossen, Kalkül/ Zufall. Die Verhandlung fundamentaler Parameter der Bildhauerei findet auf der Folie eines der tradiertesten Sujets der Bildhauerei statt, dem weiblichen Akt. Generell wird für die moderne Kunst eine Erhöhung der Form und des Stils über das inhaltlich-thematische Sujet, das damit nahezu beliebig werde, postuliert. Somit wird der weibliche Körper oberflächlich und scheinbar „im Zuge seiner bildnerischen Darstellung zum auto­ nomen, bedeutungsfreien Objekt erklärt“489. Die Folge scheint zu sein, dass das Bild der Frau nicht mit einer realen Frau verwechselt werden darf (, da Kunst und insbesondere die Darstellung der Frau immer Verweischarakter besitze).490 In Bezug auf Thomas Schüttes Frauen schreibt Penelope Curtis: „Whether Maillol’s figure is a geometric design, or whether Moore’s is a landscape, in both, form overcomes subject […]. I want to remember that reclining women are not women, but art.“491

Sie reagiert damit auf eine allzu buchstäbliche und psychologisierende Lesart der Frauen, die die Figuren als verletzte, vom chauvinistischen Künstler-Mann gequälte, deformierte   Zum Theoriebegriff des Rhizoms vgl. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977.   Genge 2000, S. 32. 490   Vgl. z. B. Ohlsen 2002, S. 22 und Rodiek 1986, S. 35. 491   Curtis 2010, S. 54, siehe auch Genge 2009: Maillols Werke als Architekturen. 488 489

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IV. Sujet

und zugrichtete weibliche Opfer versteht und weist darauf hin, dass es hier nicht um Frauen, sondern um die Bildhauerei gehe. Dabei bleibt die in der Moderne vorherrschende „Fixierung des weiblichen Körpers als Zeichen männlicher Kreativität“492 außer Acht. Griselda Pollock hat 1988 gezeigt, dass der in der Kunstwissenschaft vorherrschende Begriff vom „weiblichen Körper als sinnleeres Instrument der Avantgarde“493 nicht haltbar ist. Der weibliche Körper war – auch und gerade in der Moderne – eine „Sprachform des männlichen Blicks“.494 Vor diesem Hintergrund muss der Begriff Frau als Titel der Werkgruppe ernst genommen werden, denn die vorliegende Analyse zeigt, dass es auch darum geht. Über die Auseinandersetzung mit den zentralen Fragen der Bildhauerei am Beispiel des weiblichen Aktes, wird nicht nur die Bildhauerei verhandelt, sondern auch der weibliche Akt. Und damit die Frau und der Mensch in all seinen Möglichkeiten und Facetten. Über eine Beschäftigung mit der Form gelangt man (wieder) zu einer Beschäftigung mit dem Inhalt. Oder anders: Die Trennung von Form und Inhalt kann ein weiteres Mal nicht aufrechterhalten werden. In der Werkgruppe Frauen geht vielleicht nicht in Erfüllung, was Mia Cinotti sich 1953 in Bezug auf die postmoderne Bildhauerei gewünscht haben mag: „Die Frau ist siegend durch die Bildhauerkunst der Kulturen und Zeiten gegangen. In der Moderne allerdings möchte man, wenn man an die Schönheit des Frauenkörpers denkt, mehr von ehrenvoller Niederlage als von Sieg sprechen. Nun, sie mag lächeln, denn sie wird das alles überwinden und hineingehen in die Bildhauerkunst der Zeiten, die kommen.“495

Aber vielleicht leisten die Frauen einen Beitrag zu Gill Saunders Forderung aus dem Jahr 1989 – also etwa zehn Jahre vor ihrer Entstehung: „[the nude] must be reconstructed, repictured, in images which refuse definition, resist a literal interpretation.“496 Die Frauen halten Aussagen in der Schwebe, sie werden lediglich angedeutet und bleiben in Bewegung. Oder anders formuliert: Sobald nackte Menschen dargestellt werden, werden Diskurse und Definitionen aufgerufen und visualisiert. Schüttes Weg besteht darin, durch seine Formen so viele Bedeutungen zu erzeugen, dass sie sich permanent in die Quere kommen, sich auf komplexe Weise in einem bizarren Gelichgewicht wechselseitig ausstreichen und produzieren.

  Genge 2000, S. 32 in Bezug auf Pollock 1988.  Ebd. 494  Ebd. 495   Cinotti 1953, S. 8. 496   Saunders 1989, S. 132. 492 493

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V. PRÄSENTATION

Für die Wirkweise der Frauen ist die Frage, auf welche Arten, in welchen Kontexten, an welchen Orten sie präsentiert werden und wie diese Umstände die den Figuren enthaltene Potenziale sichtbar werden lassen, von zentraler Bedeutung. Die Werkgruppe (die verschiedenen keramischen Entwürfe und insgesamt 90 Großplastiken aus Metall) wird von Beginn ihrer Entstehung bis heute kontinuierlich in internationalen Institutionen ausgestellt. Dabei lassen sich in einem Dreischritt Präsentationsstrategien und ‑modi destillieren, die entscheidend an der Wirkung der Figuren, ihrer physisch-visuellen und ihrer künstlerisch-inhaltlichen Kraft beteiligt sind. Erstens spielt es eine wesentliche Rolle, wie die Arbeiten unmittelbar im Ausstellungsraum installiert sind: In welchem Verhältnis stehen die Sockelkonstruktionen zu den Figuren und was tragen sie bei, was verhindern sie? Zweitens stellt sich die Frage nach den Bezügen zwischen den einzelnen Kunstwerken innerhalb der Präsentation von Einzelausstellungen Thomas Schüttes: Wie verhalten sich die Einzelfiguren zur Gruppe und wie zu anderen Werken des Künstlers, die davor, danach oder parallel entstehen? Und drittens bleibt die Frage, wie die Figuren präsentiert werden, wenn sie dem Gruppen- und Œuvrekontext sowie ebenfalls der Einflussnahme des Künstlers entzogen werden.

V.1 Regal und Tisch Sowohl die Frauen, als auch die Ceramic Sketches werden stets auf den immer gleichen Stahlkonstruktionen präsentiert, die auf unterschiedliche Weisen Teile der Kunstwerke sind und entscheidenden Einfluss auf Wirkung, Aussage und Status der Figuren nehmen. Im Fall der kleinformatigen Tonskizzen handelt es sich um schwarz lackierte Stahlregale (Abb. 3). Jedes Regal besteht aus mehreren miteinander verschweißten quadratischen Vierkantrohren. Vier senkrecht ausgerichtete, 230 Zentimeter lange Rohre bilden dabei die vertikalen Kanten des Regal-Korpus. Sie sind an den oberen Enden durch vier horizontal verlaufende Rohre miteinander verbunden. Die beiden waagerechten Elemente, die die Breite der Regale vorgeben, sind ebenfalls 230 Zentimeter lang und die

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V. Präsentation

Länge der beiden Rohre, die die Tiefe markieren, beträgt 56 Zentimeter.497 Somit besteht jedes Regal aus acht miteinander verbundenen Rohren, von denen jeweils sechs und jeweils zwei dieselben Maße aufweisen. Sie beschreiben käfigartig die Konturen des quaderförmigen Regals auf langrechteckigem Grundriss. Die Flächen, die zwischen ihnen entstehen, sind nicht gefüllt – es gibt keine Rück- oder Seitenwände. In den Korpus sind in regelmäßigen Abständen über die gesamte Breite und Tiefe drei waagerechte Böden eingezogen, die das Regal in vier Etagen gliedern, die jeweils gleich hoch wie tief sind. So entsteht eine simple und ausgewogene Symmetrie aus quadratischen und rechteckigen Komponenten. Die drei Böden bestehen ihrerseits aus sechs Vierkantrohren: Vier lange Rohre sind durch zwei kurze Rohe miteinander verbunden und bilden so die Auflagefläche für die Tonfiguren. Auf jedem der drei Böden befinden sich jeweils durchschnittlich etwa vier Ceramic Sketches, sodass jedes Regal insgesamt circa zwölf Figuren fasst.498 Diese Regale können im musealen Raum – angepasst an die räumlichen Bedingungen – auf unterschiedliche Weise installiert sein. Im Fall ihrer ersten Präsentation in der New Yorker Dia Art Foundation (1999–2000, Abb. 3) stehen fünf Regale vor einer langen weißen Wand direkt nebeneinander, sodass der Eindruck eines einzigen breiten Regals entsteht. Ganz ähnlich verhält es sich zum Beispiel ebenfalls im Museo Reina Sofia in Madrid (2010), wo drei Regale entlang einer Wand nebeneinandergestellt sind. Im Castello di Rivoli (2012), im Essener Museum Folkwang (2013–14) und auch im Maastrichter Bonnefantenmuseum (2015–16) hingegen stehen drei Regale parallel ausgerichtet voreinander, sodass man sich zwischen ihnen bewegen kann. In jedem Fall und auch in weiteren, leicht abgeänderten Installationen – etwa im K21 der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (2009), wo sie zwar in einer Linie nebeneinander, aber diagonal durch den Raum und nicht entlang an einer Wand verlaufend gezeigt wurden, – werden sie stets im direkten Bezug zueinander präsentiert. Die modular angelegten, gleichförmigen Regale werden innerhalb einer Ausstellung immer zu einem Arrangement zusammengefasst und nicht etwa über mehrere Räume verteilt. Diese Handhabe unterstreicht das Charakteristikum der Werke als Gruppe. Dadurch, dass die Figuren nicht außerhalb der für sie vorgesehenen Regale und damit auch nicht einzeln museal präsentiert werden, wird ihr Zusammengehören und damit auch der Zusammenhang zwischen ihnen deutlich.499 Die Betrachter_innen können durch die 497   Die Maßangaben der Regale variieren in den verschiedenen Publikationen, die genannten Maße sind der Homepage des Künstlers entnommen: http://www.thomas-schuette.de/ajax.‌php#/2.02.08.038 (28.09.2017 09:30). 498   Es ist anzumerken, dass sich die Stahlregale im Laufe der Jahre etwas verändert haben. Bei der ersten Präsentation der Werkgruppe (innerhalb der Ausstellung In Medias Res in der Dia Art Foundation, New York 1999–2000, Abb. 3) bestanden die drei Böden aus geschlossenen Platten und auch nach oben hin wurden die Regale durch eine Platte abgeschlossen, sodass auch auf ihr Figuren präsentiert werden konnten. 499   Eine Ausnahme bildet die Einzelausstellung Thomas Schütte in der Sammlung Goetz, München im Jahr 2001. Dort wurden fünf Ceramic Sketches einzeln auf Sockeln präsentiert (vgl. Abb. in Goetz, Ingvild und Schumacher, Rainald (Hgg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Sammlung Goetz, München, Ostfildern 2001, S. 9).

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V.1 Regal und Tisch

Präsentationsform erschließen, dass die Tonfiguren nicht den Status von Einzelwerken besitzen, sondern dass es sich um vielfältige Variationen zu einem Thema handelt. Die Regale verbinden sie und relativieren ihren Einzelwerkcharakter, obwohl sie letztendlich alle andersartig und verschieden – und nicht gleichförmig wie etwa Werke der Minimal Artists mit den Charakteristika gängiger Serienprodukte – sind. Wäre jede Figur einzeln beispielsweise auf einem brusthohen, weißen Sockel präsentiert, bekäme sie mehr Gewicht. Auch wenn dann zwölf dieser Sockel nebeneinanderstünden, könnte man ihnen den Gruppenverbund, den Verweis auf die serielle Herstellungsform, ansehen; der Status der einzelnen Arbeiten wäre allerdings ein anderer. In dem Stahlregal sind sie nicht einzeln und damit nicht als vollgültige Kunstwerke zu haben. Wie in einem Skizzenbuch, als „Bildervorrat“500, sind die einzelnen Ceramic Sketches dort miteinander verbunden und geben im Gesamteindruck Auskunft über das Werk, das sie gemeinsam bilden. Dabei scheint es auch nicht wichtig zu sein, dass die Betrachter_innen sich nicht jeder einzelnen Figur in gleicher Weise widmen können, denn sie sind unterschiedlich gut sichtbar. Während der oberste der drei Böden für viele Menschen oberhalb der Augenhöhe (bei ca. 170 Zentimetern) liegt, befinden sich die beiden unteren unterhalb einer bequemen Betrachterperspektive. Die Betrachter_ innen müssen sich also bücken und größtenteils auch strecken, um die einzelnen Figuren sehen zu können. Sie sollen ihnen offenbar nicht in einer idealen Form präsentiert werden, sondern auch hier überlagert die Betonung des Verbunds der Gruppe, dessen Rahmen das schlichte, modular erweiterbare Stahlregal ist, die Bedeutung der einzelnen Figuren. Im Fall der Installation im Museo Reina Sofia ist es den Betrachter_innen darüber hinaus nicht möglich, das breite, direkt vor einer Wand installierte Regal zu umschreiten. Somit können die dreidimensionalen Werke nicht vollständig erfasst werden und sie werden auf eine, maximal zwei Ansichten (an den Seiten der Regale) reduziert. Keine der Figuren wird durch diese Präsentationsform hervorgehoben, Museumspersonal räumt sie nach seinem Ermessen in das Regal; es scheint keine Hierarchien und kaum formale Vorgaben zu geben, die ihre Anordnung oder Abfolge bestimmen.501 Ebenso spielt es hier offenbar keine Rolle, welche der Skizzen im großen Format realisiert wurden. Sie alle sind im Stahlregal vertreten. In einigen Fällen erkennen die Betrachter_innen innerhalb der Ausstellung – die Ceramic Sketches werden in der Regel gemeinsam mit den Frauen präsentiert502 – eine Figur oder bestimmte Formen im großen Format wieder, sodass auch hier erneut das Weiterarbeiten mit den Tonskizzen betont wird.

  Schwartz 2012, S. 10.   Vgl. Stewart 2002, S. 126. 502   Ausnahmen in Bezug auf die Präsentation der Ceramic Sketches bilden die Ausstellungen CERAMIX – Art and ceramics from Rodin to Schütte im Bonnefantenmuseum Maastricht (2015–16) und Thomas Schütte in der Sammlung Goetz, München (2001). Dort waren die Tonskizzen ohne die Großplastiken zu sehen. 500 501

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V. Präsentation

Unterstützt wird dieser Punkt durch die schlichte, scheinbar auf Pragmatismus und nicht auf eine bestimmte, in der Kunstpräsentation gängige Ästhetik angelegte, visuelle Konstruktion des Regals. In der gradlinigen Gestaltung erinnert es mehr an ein Lager­ regal oder auch an ein Trockenregal in einer Keramikwerkstatt, als an ein Regal mit Präsentationscharakter, das Objekte – wie in Museen üblich – optimal zeigen und auch schützen soll. Nochmals wird deutlich, dass dieses Regal integraler Bestandteil der Ceramic Sketches ist und dass es an zentralen Punkten zum Werkcharakter beiträgt: In seiner Gestalt eines Lager- oder Trockenregals, in das die Figuren mehr oder weniger zufällig eingeräumt werden, präsentiert es sie nicht als einmalige Kunstwerke. Bei dem Regal handelt es sich um ein Ideenlager und bei den Figuren um Skizzen, um materialisierte Möglichkeiten, mit denen theoretisch jederzeit weitergearbeitet werden könnte. Die Betrachter_innen können wahrnehmen, dass einige der Exemplare bereits zu Großplastiken geworden sind, die Regalform suggeriert, dass der Künstler oder eine andere Person (aus der Keramikwerkstatt, der Gießerei, des Museums) jederzeit neue Figuren hinzufügen, wegnehmen, austauschen könnte. Die Präsentation „im Schuhregal“503, wie Thomas Schütte die Stahlkonstruktion nennt, verhandelt die Unnahbarkeit als ein einem Kunstwerk (im musealen Raum) inhärentes zentrales Charakteristikum. Die Präsentation im Stahlregal, die  – ungeachtet der Herstellungsprozesse der Werke – aus an sich einzigartigen, unveränderbaren Keramikfiguren austauschbare, unvollendete Skizzen oder Formexperimente macht, wird unmittelbar von der institutionellen Rahmung der Präsentation konterkariert. Denn trotz der durch das Stahlregal und die Betitelung der Arbeiten als Ceramic Sketches forcierten Inszenierung als mate­ rialisierte Ideen, haben sie den Weg aus der Werkstatt – ein Ort der diesem Status angemessen wäre  – gemacht und werden im Museum präsentiert. Und die institutionelle Präsentation an einem ausgewiesenen Kunstort, das ist spätestens seit Marcel Duchamps Präsentation eines handelsüblichen Urinals als Fountain (1917) klar, macht Werke zu Kunstwerken. Hier entspinnt sich auf der Ebene der Präsentation die Diskussion um den Status eines Kunstwerks zwischen Einmaligkeit und Unnahbarkeit. Und das Stahlregal wird dabei zum Austragungsort, zum Komplizen des Künstlers und zum Instrument des In‑der-Schwebe-Haltens. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Tischsockeln der Frauen. Jede der Großplastiken ist – unabhängig von dem Material, aus dem sie besteht – auf einer immer gleichen Sockelkonstruktion aus Stahl platziert.504 Sie bietet den Figuren eine Fläche von 250 mal 125 Zentimetern und ist 75 Zentimeter hoch. Der Tischsockel besteht ausschließlich aus miteinander verschweißten Doppel‑T-Trägern und einer circa zwei Zentimeter dicken Platte, mit der die Figur verschraubt ist. Die Konstruktion erscheint simpel: Vier senk  Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 167.   Eine Ausnahme ist Aluminiumfrau Nr. 13 (2003), die als Leihgabe des Künstlers im Außenbereich des Museum Ludwig (Köln) vorübergehend auf einem geschlossenen Stahlquader präsentiert wurde, während im Museumsfoyer auf dem Tischsockel eine Liegende von Henry Moore platziert war. Vgl. dazu https:// www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/40010384 (23.09.2017 22:56). 503 504

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V.2 Gruppenpräsentationen

recht aufgestellte Träger bilden die Beine des Tisches. Sie sind an ihren oberen Enden durch vier waagerecht verlaufende Träger miteinander verbunden, auf denen die Platte aufliegt, die mit den Kanten der Träger abschließt. Darüber hinaus verlaufen an der unteren Hälfte der Tischbeine – einige Zentimeter über dem Boden – vier weitere waagerechte Träger, die die Beine miteinander verbinden und Stabilität schaffen. Diese sind an den langen Seiten durch jeweils ein kurzes, unterstützendes Trägerstück vertikal mit den oberen horizontalen Trägern verbunden. Die Tischsockel wirken in ihrer flachen, rechteckigen, symmetrischen Form kompakt und stabil und wie gemacht, um die mehrere hundert Kilo schweren Frauen zu tragen. Gleichzeitig erhalten die Tische durch die Verwendung von an der Oberfläche rostendem Baumaterial einen industriellen und eher alltäglichen Charakter. Das sind keine Sockel, auf denen (üblicherweise) Kunstwerke – Metallplastiken im monumentalen Format – präsentiert werden und tatsächlich ist ihre Konstruktion an die Werktische der Gießerei, in der auch die Plastiken entstehen, angelehnt. Die Größe und die Höhe der Tische sind modifiziert, doch das verwendete Material und die Konstruktion ver­weisen – ebenso wie die Regale der Ceramic Sketches – auf den Werkstatt-Kontext. Auch hier wird der Charakter des abgeschlossenen, vollgültigen Kunstwerks durch die Präsentationsform auf immer derselben, provisorisch erscheinenden Sockelkonstruktion verhindert. Sie konserviert den Anschein, als könnte jederzeit an den Figuren weitergearbeitet werden. Die große, flache, unempfindliche Stahlplatte bietet eine stabile Arbeitsfläche in einer praktikablen Arbeitshöhe, die den direkten physischen Zugriff auf die Figuren erlaubt. Unnahbarkeit und Einmaligkeit werden verhandelt. Der niedrige, aus dem Werkstattkontext stammende Tischsockel scheint erstere zu unterminieren, so wie die fünffache Ausführung jeder der Figuren mit immer derselben Sockelkonstruktion aus Stahl auf letztere zielt. Die Sockeltische erfüllen – wie auch das Regal der Ceramic Sketches, als Instrumente des In‑der-Schwebe-Haltens – die Funktion, den Vorschlagscharakter der Frauen zu erhalten. Sie tragen somit dazu bei, dass die Figuren nicht zu eindeutigen, unveränderbaren, echten, dauerhaften Monumentalplastiken werden, die sie, formal und einzeln betrachtet, eigentlich sind. Entscheidend dafür ist darüber hinaus der Ausstellungskontext der Werke in unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten. Sie werden im Verbund von mehreren Frauen, den Ceramic Sketches und auch gemeinsam mit anderen Arbeiten Thomas Schüttes (Gruppenpräsentationen) oder aber einzeln und zum Teil in Kombination mit Werken anderer Künstler_innen (Einzelpräsentationen) gezeigt.

V.2 Gruppenpräsentationen Die ersten vier Exemplare der Frauen – Stahlfrau Nr. 1, Stahlfrau Nr. 2, Stahlfrau Nr. 3, Stahlfrau Nr. 4 – werden in den Jahren 1999 bis 2000 in der New Yorker Dia Art Foundation im Rahmen einer Einzelausstellung Thomas Schüttes mit dem Titel In Medias Res

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V. Präsentation

präsentiert.505 Die Ausstellung, die das Publikum laut Titel ohne Umschweife direkt mitten ins Geschehen versetzt, erstreckt sich über vier Räume (Abb. 57). Im ersten Raum sind einige Urnen (1999) zu sehen. Dabei handelt es sich um unterschiedlich große Keramikgefäße in verschiedenen Form- und Erdtonvarianten – Beige, Ocker, Braun. In dem quadratischen Raum stehen sie in zwei Gruppen – einmal zu fünft und einmal zu siebent – auf dem Boden. Da sich in diesem ersten Raum keine weiteren Werke befinden, sind die Betrachter_innen mit den teilweise nahezu menschenhohen Urnen allein. Der neutrale graue Boden und die weißen Wände unterstützen die Fokussierung auf die gruppierten Keramikobjekte, die in ihren Formen und Dimensionen auf Menschen verweisen und auch in Thomas Schüttes Werk eine zentrale Funktion für die Entwicklung der menschlichen Figur übernehmen. So sind sie im direkten Zusammenhang mit den ersten großformatigen Figuren des Künstlers, Die Fremden (1992), zu sehen und darüber hinaus entstehen sie parallel zu den Ceramic Sketches.506 An diesem Punkt beginnt also nicht nur die Ausstellung, sondern hier beginnt die Auseinandersetzung mit dem menschlichen, insbesondere mit dem weiblichen Körper sowie mit dem Material Ton und damit die Arbeit an den Frauen. Der nächste Raum bestätigt diese These, denn wie in einer logischen Folge sind auf mehr als zehn Metern Breite 70 Ceramic Sketches in dem beschriebenen Stahlregal präsentiert. Drei an den Wänden hängende Aquarelle (je 38,5 × 29 cm) mit dem Titel Knoten (1999) scheinen die Tonskizzen zu kommentieren. Sie sind parallel beziehungsweise kurz nach den Ceramic Sketches entstanden und zeigen mehrfarbige Objekte, die wie verknotete und gewrungene Stoffstücke, etwa Taschentücher, wirken und wie formale Analogien auf Papier zu den geformten, verdrehten und vielgestaltigen Tonfiguren erscheinen. Der mittig liegende, langrechteckige Raum, in dem die Tonskizzen und die Aquarelle zu sehen sind, hat innerhalb der Ausstellung die Funktion eines Übergangs. Von ihm aus gelangen die Betrachter_innen in alle weiteren Räume. Zunächst werden sie in den größten Raum der Ausstellung geleitet, in dem die vier Frauen ausgestellt sind. Somit bildet der Raum mit den Ceramic Sketches die Schwelle zwischen Urnen und Frauen, zwischen Objekt und Figur und den Übergang von Keramik zu Stahl und vom kleinen ins große Format. 505   Diese Präsentation ist der dritte Teil einer dreiteiligen, chronologisch aufgebauten Einzelausstellung Thomas Schüttes in der Dia Art Foundation, New York: Die beiden vorangegangenen Teile Scenewright (1998–99) und Gloria in Memoria (1999) versammeln schwerpunktmäßig installative Arbeiten aus den 1980er Jahren. Die detaillierte Beschreibung dieser Präsentation verdankt sich der exzellenten Dokumentation der Ausstellung mit Grundrissen und Fotografien in Cooke/Kelly 2002. 506   Vgl. dazu den Abschnitt Werkinterne Sujet-Entwicklung in dem Kapitel Sujet der vorliegenden Arbeit, Stewart 2002 und Sandqvist 2002, S. 146: „Julia Kristeva hat sowohl die Urne als auch die Fremden mit dem Bild der Frau in Zusammenhang gebracht. Der Fremde ist einer, der ebenso wie die Frau, wie der Schmutz, wie das Unreine und das Zusammengesetzte von der patriarchalen Gesellschaft abgelehnt wird. Das Verworfene ist alles, was einmal zu nah war, die Grenze, an der das Selbst nicht mehr existiert. Und die Urne ist Platons und Kristevas chora, eine vereinigende, aufrechterhaltende Form für alle Definitionen und Individualisierungen, ein anderes Bild für die Grenze selbst.“

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V.2 Gruppenpräsentationen

In dem dritten, rechteckigen Raum sind die vier Stahlfrauen scheinbar ungeordnet verteilt platziert. Sie sind weder in ihrer chronologischen Reihenfolge, noch an den Raumachsen orientiert aufgestellt. Eher kontrastiert ihre scheinbar lose Aufstellung mit der strengen Raumsymmetrie (Abb. 58).507 Mit den Ceramic Sketches im Rücken betreten die Besucher_innen den klaren, gut überblickbaren Raum der Frauen, die alle vier auf je einem der beschriebenen Tischsockel aus Stahl platziert sind. Er präsentiert die Plastiken in einer Höhe (75 cm), die ein bequemes Betrachten ermöglicht und fungiert darüber hinaus als „Rhythmusmaschine“508, denn er macht deutlich, dass diese Figuren zusammengehören. Auffällig ist, dass sich alle Figuren von den Besucher_innen abzuwenden scheinen. Von dem Raumeingang beziehungsweise der Raummitte aus betrachtet, befindet sich links Stahlfrau Nr. 1, die den Betrachter_innen den muskulösen Rücken zeigt. Neben ihr ist die sitzende, zusammengeklappte Stahlfrau Nr. 3 platziert, die schon aufgrund ihrer Haltung den Blick auf ihre Vorderseite verwehrt. In der rechten Raumhälfte befinden sich Stahlfrau Nr. 2, die, ebenfalls sitzend und stark nach vorn gebeugt, ihre Vorderseite verbirgt und so aufgestellt ist, dass sie den Betrachter_innen das Gesäß zuwendet und Stahlfrau Nr. 4, die flache, auf der Seite liegende Figur, die ebenfalls mit dem Rücken zum Eingang und zur Raummitte präsentiert ist. Die Spannung im Raum ergibt sich dadurch, dass die räumlich am weitesten voneinander entfernten Figuren, die sich diagonal gegenüberliegen, formal korrespondieren, denn die zwei liegenden und die zwei sitzenden Figuren sind überkreuzt platziert (die Liegenden vorne links und hinten rechts, die Sitzenden hinten links und vorne rechts). Die Betrachter_innen müssen sich durch den Raum bewegen, um die Figuren erfassen zu können, sie umschreiten und ihre Positionen so verändern, dass sie wieder in Richtung Raumeingang blicken. Dort sehen sie durch die breite Wandöffnung die Ceramic Sketches, die auf den Herstellungsprozess der großformatigen Stahlfrauen verweisen und über die Bedingungen ihrer Entstehung informieren: Diese Stahlfrauen sind vier aus mindestens 70. Sie sind aus der Gruppe herausgegriffen, vergrößert, gegossen, präsentiert und es könnte noch weitere geben. Der Blick zurück in Richtung Tonskizzen erfasst darüber hinaus vier gerahmte Papierarbeiten, die beim Betreten des Raums nicht sichtbar sind, weil sie – jeweils zwei rechts und zwei links – auf die Wände neben dem Eingang gehängt sind. Auch die vier Zeichnungen (Wasserfarbe, Tusche und z. T. Buntstift auf Papier) sind zeitlich parallel zu den Urnen, den Ceramic Sketches und den Stahlfrauen entstanden. Sie stammen aus der Werkgruppe Mirrow Drawings (1998/99, Abb. 59+60) und zeigen immer dasselbe Motiv 507   Der rechteckige Raum wird durch eine breite, von einem quadratischen Pfeiler unterbrochene Wand­ öffnung an einer seiner Längsseiten mittig betreten. An der gegenüberliegenden Wand befinden sich vier hochrechteckige Fenster; die beiden kürzeren Wände weisen keine Unterbrechungen auf. Im Zentrum des Raums befindet sich ein weiterer Pfeiler, der den zentralen Balken der Deckenkonstruktion, der gleichsam die Spiegelachse beider Raumhälften bildet, stützt. Dieser Balken und weitere fünf regelmäßig verteilte Querbalken, die über die gesamte Breite des Raums laufen, gliedern die Decke in rechteckige Felder, auf denen sich Glühbirnen befinden. 508   Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 176.

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V. Präsentation

in verschiedenen Variationen: das Selbstportrait des Künstlers im runden Rasierspiegel. In allen vier Darstellungen rückt der Kopf des Künstlers nah an den Bildausschnitt heran. Haare und Hals sind in keinem Fall abgebildet, Kinn und Stirn sind teilweise angeschnitten. Der Fokus liegt auf dem wiedererkennbaren Gesicht, das ohne Brille und mit großen, ausdrucksstarken Augen dargestellt ist. Alle vier Gesichter blicken ernst und konzentriert, fixieren ihr Gegenüber, das während der Entstehung im Spiegel Thomas Schütte selbst ist und danach, im Ausstellungsraum, die Betrachter_innen und auch die Frauen. Einmal hat der Künstler seine Hand ans Kinn gelegt, was den konzentrierten, abschätzenden Ausdruck verstärkt (und seine Handlungsmacht andeutet). Die vier Papierarbeiten sind, ähnlich wie die vier Stahlfrauen, mit denen sie präsentiert werden, aus einer circa siebzigteiligen Werkgruppe ausgewählt worden. Die Zeugnisse einer „intensiven und melancholischen Selbstprüfung“509 des Künstlers erhalten durch die gemeinsame Präsentation mit den Großplastiken weitere Funk­ tionen. Gertrud Sandqvist interpretiert dieses Verhältnis in ihrem Text im Ausstellungskatalog zu In Medias Res in Hinblick auf die Geschlechterdifferenz.510 Sie weist auf den Kontrast zwischen den gewaltigen, nackten weiblichen Figuren, die „durch und durch Körper [bleiben]“ und dem fragil gezeichneten, kontrollierenden, kurzsichtigen männlichen Blick (des Künstlers) hin, der die mächtigen Frauenkörper deformiert zu haben scheint und folgert: „Mit seinem Blick kann ein kleiner Mann eine große Frau beherrschen.“511 In ihrem Text bringt sie dieses binäre System von Mann/Frau, blickend/nicht blickend, aktiv/passiv auf eine weitere Ebene: „[…] hat die Frau das Potential unendlich mächtig zu sein, so mächtig wie die Natur, so reich und überreich, aber auch ebenso launisch im Hinblick auf die Bedürfnisse der Menschen (der Männer). Sie ist immanent, der Mann transzendent, aber seine Transzendenz ist das Einzige, was sie in Schach hält. Transzendenz wird durch den Blick zum Ausdruck gebracht. […] Der Blick bedarf keiner Erotisierung, denn er kann genausogut auf die Machtverhältnisse in dem großen Zivilisierungsdrama zwischen Mensch und Natur verweisen.“512

Innerhalb dieser Argumentation leisten die Frauen Widerstand, indem sie sich abwenden, ihre Gesichter verbergen und den Blick des Mannes nicht erwidern: „Der sehende Mann wird nur von ihm selbst gesehen, in dem Rasierspiegel im Selbstbildnis. Darin mag ihr Widerstand [der der Frauen] zum Ausdruck kommen.“513

Die von Gertrud Sandqvist entwickelte Variante von dem Künstler, der mithilfe „reiner Kraft“514 diese mächtigen Frauenkörper zunächst geformt und erschaffen hat und sie dann im Ausstellungsraum lediglich durch sein Starren kontrollieren und deformieren   Stewart 2002, S. 130.   Vgl. Sandqvist 2002. 511   Ebd., S. 143. 512  Ebd. 513   Ebd., S. 144. 514  Ebd. 509 510

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V.2 Gruppenpräsentationen

kann, wird dadurch verstärkt, dass die Aquarelle, die die Blicke des Künstlers zeigen, wie Wächter rechts und links des Ausgangs platziert sind. Der leise Widerstand der Frauen besteht dann darin, dass sie sich abwenden, ihm ihre Körper nicht präsentieren, seine Blicke nicht erwidern. Aber sie entkommen nicht, bleiben auf den Tischen des Künstlers liegen und sitzen. „Schütte zeigt Unterdrückung ganz buchstäblich […]“515, schreibt Sandqvist. Christoph Wulf zeigt unter Berücksichtigung zentraler Thesen Maurice Merleau-Pontys und Michel Foucaults, dass der kontrollierende, überwachende und letztendlich unterwerfende Blick sich dadurch auszeichnet, dass er das Auge, zum Nachteil seiner Sinnlichkeit, funktionalisiert und instrumentalisiert und das reine Sehen, das keine Abschweifungen zulässt, idealisiert.516 Dieser Blick richtet sich auf „das Eindeutige, auf das bereits in der Ordnung des Sichtbaren Gegebene“517 und versperrt die Wahrnehmung von Mannigfaltigkeit. Der Mensch, der innerhalb dieses Paradigmas nur als Träger des Blicks eine Rolle spielt, bewaffnet das Auge mit Brillen, Ferngläsern und ähn­ lichen Geräten. Bei den Mirrow Drawings ist das Gegenteil der Fall. Die unbebrillten Augen sind zugunsten des Zulassens einer Vielfalt, des Uneindeutigen, Verhandelbaren bei der Wahrnehmung der Frauen entwaffnet. Die Erotisierung, die Sandqvist lediglich andeutet, eröffnet eine weitere Perspektive der Blickkonstellation.518 Das Konzept des begehrenden, sexualisierten Blicks steht dem kontrollierenden Blick gewissermaßen gegenüber.519 In ihm verselbstständigen die Augen sich, indem sie sich der sozialen Ordnung widersetzen. Ihr Blick allerdings impliziert den Wunsch nach dem Begehren des Angeblickten.520 Mit Bezug auf die Bildhauerei wird hier die Geschichte des von den in seinen Augen zügellosen Frauen enttäuschten Künstlers Pygmalion aufgerufen, der nach seinen Idealvorstellungen eine Frauenfigur aus Elfenbein erschafft, die unter seinen Liebkosungen lebendig wird und aus deren Verbindung ein Kind entsteht.521 Diese erotische Komponente des Verhältnisses vom männlichen Künstler zum weiblichen Kunstwerk ist hier nicht nur durch die Distanz – bei Schütte deutlich gemacht durch Maßstab, Darstellungsform und Materialität – zwischen beiden Parteien versperrt. Auch entsprechen beide Seiten nicht den gängigen Vorstellungen. Der Künstler ist lediglich fragmentarisch, ohne Körper und kurzsichtig anwesend und die Figuren, die er erschaffen hat, sind nicht einmalig und idealschön, nicht aus wertvollem, zartem Elfenbein, sondern aus rauem Stahl. Sie sind keine Frauen und er ist nicht ihr alleiniger Schöpfer.

 Ebd.   Vgl. Wulf 2011. 517   Ebd., S. 24. 518   Vgl. Sandqvist 2002, S. 143. 519   Vgl. Wulf 2011, S. 28 mit Bezug auf Sigmund Freud und Georges Bataille. 520   In diesem Deutungszusammenhang wird eine Analogie des flachen, rechteckigen Tischsockels zu einem Bett als Ort sexueller Handlungen deutlich. 521   Ovid (Zehntes Buch, Geliebtes Bild), vgl. Fink, Gerhard (Hg.): Ovid. Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen, Düsseldorf 2005, S. 243 ff. 515 516

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V. Präsentation

Das von Thomas Schütte inszenierte Spiel in diesem dritten Raum der Ausstellung bietet unter Berücksichtigung der Entstehungsprozesse der Großplastiken sowie den Analyseergebnissen des vorangegangenen Kapitels eine weitere Lesart an: Die Selbstbildnisse des Künstlers sind räumlich zwischen den Ceramic Sketches und den Frauen platziert und somit auf der Zeitachse in dem Moment, in dem er die Produktion der Großplastiken weitestgehend aus der Hand gibt. In Bezug auf die Tonskizzen ist Thomas Schütte ganz nah, mit der Hand im Material, beteiligt. Er formt die Figuren unmittelbar und bleibt – buchstäblich mit seinem Handabdruck – in ihnen anwesend.522 Der Übertragungsprozess der kleinformatigen Skizzen ins große Format, der sich in Gips vollzieht und an dem Schütte nach wie vor, allerdings weniger intim, beteiligt ist, bleibt in der Ausstellungs­ situation unsichtbar.523 Zu sehen sind vier großformatige Stahlfiguren, die die vorläufigen Endpunkte der Produktionskette darstellen und in einer Industriegießerei, ohne direkten Einfluss des Künstlers entstanden sind. Sie sind weiter vom Künstler-­Subjekt entfernt und die Aquarelle, die Thomas Schütte zeigen und ihn in ihrem Raum anwesend sein lassen, verweisen auf diese Distanz zwischen Künstler und Werk. Sein angestrengter, kurzsichtiger Blick kann die Frauen nur noch verschwommen wahrnehmen, sein Einfluss ist erschöpft und er kann nichts weiter tun, als seine provozierenden Arbeiten, für die er sich vorgeblich schämt524, in dieser ersten Ausstellung dem Publikum zu präsentieren. Seine Blicke scheinen sich, dieser Lesart folgend, auf die Besucher_innen zu richten, die den Ausstellungsraum betreten und die Aquarelle nicht sehen, weil sie in ihren Rücken hängen. Sie bewegen sich durch den Raum, betrachten die Stahlfrauen, von allen Seiten und sind ihrerseits den Blicken des Künstlers ausgesetzt, die sie aber erst verspätet wahrnehmen. Vielleicht fühlen sie sich ertappt, vielleicht setzt eine Reflektion über das ein, was sie sehen, über das Verhältnis zu den Großplastiken und den Erwartungshaltungen bei ihrer Betrachtung. Sie sehen zunächst ihre Rückseiten und umschreiten die Figuren, um auch ihre Vorderseiten betrachten zu können und sie erblicken indifferente Formen zwischen männlich und weiblich, menschlich und unmenschlich, einen Kopf ohne Gesicht, einen Intimbereich ohne Geschlechtsteil, verpackt in klassische Posen (der Ariadne, nach Maillol, Rodin etc.). Die Ausstellungssituation entpuppt sich somit auch als ein Kommentar zum Künstler-Werk-Betrachter_innen-Verhältnis. Der Künstler – in dieser Situation auf Distanz gebracht, wie durch ein Guckloch beobachtend dargestellt und auf den Sehsinn reduziert – wird zum Voyeur, der die Rezipierenden beim Betrachten der Großplastiken beobachtet.525

522   Für die Einschränkungen, die das Material Ton bereitet und die spezifischen Herausforderungen bei der Arbeit mit dem Material vgl. den Abschnitt Ton im Kapitel Material der vorliegenden Arbeit. 523   Für die spezifischen Abläufe und Charakteristika der Arbeit am 1:1-Gipsmodell vgl. den Abschnitt Gips im Kapitel Material der vorliegenden Arbeit. 524   „Wenn ich das Regal mit den ganzen Skizzen sehe, dann schäme ich mich.“ (Zitat Thomas Schütte, in: Loock 2004b, S. 163). 525   Zum Voyeurismus vgl. Kleinspehn 1989.

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V.2 Gruppenpräsentationen

Alle Lesarten zielen auf zentrale Mythen der Kunst, erstens auf den der Weiblichkeit und zweitens auf den der Autorenschaft.526 Wer der Spur des Künstlers, dem Titel der Arbeiten, folgt und daran glaubt, dass es sich bei den Frauen wirklich um Frauen handelt und dass ihr Erschaffer der männliche Künstler ist, bleibt in der verkrusteten Dichotomie zwischen maskulinem, sehendem, schöpfendem Künstler-Subjekt  – hier komprimiert und repräsentiert durch Augen und Hand – und femininem, formbarem Objekt-­ Körper, zwischen aktiv und passiv, herrschend und beherrscht verhaftet, stabilisiert und reproduziert die Einteilung in und die Trennung von Mann und Frau (Natur und Kultur usw.) und befindet sich in einer Sackgasse. Die Kapitel Produktion und Material der vor­ liegenden Arbeit analysieren die Herstellungsnetzwerke, die zu den Großplastiken führen und dekonstruieren die Rolle des Künstlers als alleinigen Autor. Die Einzelanalysen der Großplastiken in dem Kapitel Sujet zeigen unter anderem, dass Weiblichkeit keine eindeutige Kategorie mehr sein kann. Die Konsequenz dieser Erkenntnisse ist die Aufgabe eines binären Denkmodells, das andere Zusammenhänge überlagert und birgt die Chance, in der beschriebenen Konstellation etwas Anderes zu sehen als den Geschlechterkampf und die Unterdrückung, nämlich die Reflektion dieser Deutungsmuster, die Verhältnisse zwischen Künstler und Werk, Werk und Betrachter_innen sowie Betrachter_innen und Künstler. Jede der Entitäten und jede Relation zwischen ihnen ist – auch in dieser klassischen Form der Monumentalbildhauerei – stets in Bewegung, verschiebt und verändert sich, bleibt in der Schwebe und wird in jeder Ausstellungssituation neu verhandelt. Beim Verlassen des Raums durch die breite, zweigeteilte Wandöffnung, die von den Mirrow Drawings flankiert wird, gelangen die Ausstellungsbesucher_innen durch den Raum mit den Ceramic Sketches in den vierten, kleinsten und letzten Raum von In Medias Res. Dort sind erneut vier der Spiegelzeichnungen zu sehen. Diese Selbstportraits sind zarter, weniger koloriert und mit einer weicheren Linienführung gestaltet. In diesem Raum sind sie Teile, Kommentator oder Betrachter des Trauermonuments für Thomas Schüttes 1996 verstorbenen Galeristen Konrad Fischer, das aus zwei großformatigen Keramikköpfen mit dem Titel Konrad (1997) und einigen Blüten-Zeichnungen aus der Gruppe Blumen für Konrad (1997) besteht. In dieser Konstellation werden die Zeichnungen, die einen Raum zuvor den kontrollierenden, deformierenden Schöpfer inszenieren, zu melancholischen Ausdrücken von Trauer und Anteilnahme: „[…] die Nahsicht beschränkt sich auf die Unmittelbarkeit der Zeit, und wenn solche Werke als Serie erscheinen, dann zeigen sie die Flüchtigkeit von Seinszuständen und Selbsterkenntnis so wie die Porträts von Schnittblumen deren bevorstehenden Tod verkünden.“527

526   Kurz vor der Entstehung der Frauen erscheint die Publikation Mythen von Autorenschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, die beide Begriffe in Beziehung setzt, umfassend analysiert und problematisiert (Hoffmann-Curtis, Kathrin und Wenk, Silke (Hgg.): Mythen von Autorenschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997). 527   Stewart 2002, S. 132.

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V. Präsentation

Zum Ende dieser ersten Ausstellung der kurz zuvor begonnenen Werkgruppe in der Dia Art Foundation findet im Sommer des Jahres 2000 eine Präsentation in einem konträren Referenzrahmen statt:528 Von Juni bis Oktober sind die ersten fünf Frauen unter freiem Himmel, im Schlosspark Wendlinghausen (Kreis Lippe), installiert. Dort stehen sie abseits der Wege auf Grünflächen und sind jederzeit für jedermann zugänglich (Abb. 61). Während der White Cube des umgebauten vierstöckigen New Yorker Lagerhauses der Dia Art Foundation einen ausgewiesenen Ort für zeitgenössische Kunst darstellt, den internationale Kunstinteressierte zu vorgegebenen Öffnungszeiten und unter Berücksichtigung der üblichen Reglementierungen (z. B. nichts anfassen) besuchen, treffen auf dem Gelände des Renaissance-Schlosses in der deutschen Provinz unterschiedlichste Besuchergruppen auf die fünf Großplastiken.529 Es gibt keine weiteren Arbeiten des Künstlers zu sehen, keinen institutionellen Ausstellungskontext, sondern lediglich eine Broschüre mit einem kurzen, allgemeinen Text, die nicht alle Besucher_innen erreicht. In dem Park sind die Figuren auf den üblichen Stahltischen liegend, sitzend oder kauernd auf sich gestellt. Für Thomas Schütte, der häufig und viel beachtet Werke im öffentlichen Raum präsentiert, ist diese Installation nicht ungewöhnlich, modifizieren die topologischen Be­ dingungen doch bestimmte Parameter auf reizvolle Weise:530 Neben dem fehlenden institutionellen Ausstellungskontext (Raum, weitere Kunstwerke, Regeln, Publikum etc.) verändert sich auch das Material der Frauen. Während in New York ausschließlich Stahl­ frauen (Nr. 1 bis Nr. 4) zu sehen sind, präsentiert Schütte im Schlosspark ausschließlich Bronzefrauen (Nr. 1 bis Nr. 5). Es handelt sich dabei also um die gleichen Figuren (und Nr. 5 zusätzlich im Park) an beiden Ausstellungsorten. Im Innenraum (New York) sind sie in Stahl, im Außenraum (Wendlinghausen) in Bronze ausgeführt. Ein Grund für den Materialwechsel könnte in der optimalen Witterungsbeständigkeit von Bronze liegen. Sicherlich spielt dieser Faktor bei den Überlegungen zu Figuren im Park mit ein, wurde doch bei den Großen Geistern auf ähnliche Weise verfahren.531 Andererseits ist der Stahl, der für die Frauen Verwendung findet, durchaus – wenn auch nicht in dem hohen Maße wie die Bronze – für den Außenraum geeignet. Einige Museen zum Beispiel präsentieren ihre Stahlfrauen durchgehend im Außenraum.532 Da es sich im Schlosspark um eine Präsenta528   In Medias Res endet am 18.06.2000 und die Ausstellung im Schlosspark Wendlinghausen beginnt am 10.06.2000. 529   Inzwischen ist auf dem Gelände des von 1613 bis 1616 als Wasserschloss erbauten Schloss Wendlinghausen vermehrt zeitgenössische Kunst zu sehen (z. B. von Curtis Anderson, Plamen Dejanoff und Tobias Rehberger), doch überwiegend finden dort über das ganze Jahr Veranstaltungen wie Tagungen, Hochzeiten und Märkte statt. Die Dependance der Dia Art Fondation, in der Thomas Schüttes Ausstellung stattfand (548 West 22nd Street, New York), hieß zu der Zeit Dia Center for the Arts. 530   Seit dem Beginn seiner Karriere realisiert Schütte Arbeiten im öffentlichen Raum, u. a. sind zu nennen: Tisch (Hamburg 1985), Kirschensäule (Münster 1987), Die Fremden (Kassel 1992), Mann im Matsch – der Suchende (Oldenburg 2009). 531   Vgl. Vischer 2013, S. 78. 532   Z. B. das Museum Folkwang, Essen und die Sammlung Goetz, München präsentieren ihre Stahlfrauen (Nr. 11 und Nr. 12) dauerhaft unter freiem Himmel.

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V.2 Gruppenpräsentationen

tion für weniger als vier Monate handelt, wären also auch Stahlfrauen in Frage gekommen. Neben diesem pragmatischen Grund kommen ästhetische, semantische und konzeptionelle Komponenten hinzu. Das Braun-Grün-Grau-Blau der patinierten Bronze korrespondiert auf der visuellen Ebene mit den Umgebungsfarben der Wiesen, Bäume, Sträucher und des Himmels und auch auf der materialikonographischen Seite ist Bronze das Material, das sich im Außenraum für figurative Plastik aufgrund seiner Beständigkeit, seines Werts und seiner Tradition bewährt hat. Auf konzeptioneller Ebene ist das Motiv des Ausprobierens zu nennen, das sämtlichen Werken Schüttes inhärent ist und das auch auf der Ebene des Materials zum Vorschein kommt.533 Die Parkbesucher_innen nehmen die Frauen schon von Weitem wahr und erkennen durch ihre Seherfahrung bereits aus der Entfernung – man denke an die zahlreichen in Parks installierten Bronzeplastiken dieser Art von unter anderen Aristide Maillol und Henry Moore –, dass es sich um aufgesockelte menschliche, wahrscheinlich weibliche Figuren handelt. Beim Nähern scheint sich diese Vermutung zunächst zu bewahrheiten, es lassen sich menschliche, teilweise auch weibliche Formen in horizontaler Ausrichtung ausmachen und erst auf den letzten Metern vor der jeweiligen Plastik oder bei ihrem Umrunden wird klar, dass sich die Erwartungen nicht einlösen. Diese über­lebensgroßen Bronzefiguren mit dem Titel Frauen sind eventuell gar keine Frauen; die Betrachter_innen sind mit einer unerwarteten Situation und mit ihren Vorstellungen vom weiblichen Geschlecht, von Kunst, von Kunst im öffentlichen Raum und insbesondere in Parkanlagen, in der vermeintlichen Natur, konfrontiert. Diese Erfahrung zielt auf die jahrhundertealte dichotome Einteilung und Zuordnung von Frau/Natur und Mann/Kultur, als ein weiteres kulturell etabliertes Gegensatzpaar in der Geschlechterdifferenz, etwa neben schwach/stark, passiv/aktiv und so weiter. Das tradierte und populäre Motiv der nackten Frau in der Landschaft legt darüber Zeugnis ab, dass ‚das Weibliche‘ immer schon mit ‚dem Natürlichen‘ assoziiert ist und zieht sich durch die gesamte Kunstgeschichte.534 Hinzu kommen formale Komponenten, etwa die Idee einer Analogie des weiblichen Körpers mit den Formen und Texturen der Natur (Berge, Steine, Fossilien, Wiesen, Moose etc.).535 Thomas Schüttes Frauen korrelieren weder mit der schönen, sanften, kontrollierbaren, zurechtgestutzten und zivilisierten Natur, die der Park suggeriert und die ebensolche Kunstwerke erwarten lässt, noch repräsentieren sie eindeutig die zweite Variante dieses Paradigmas, das der zügellosen, rauen, nicht kontrollierbaren, nicht domestizierten Natur. Sie bleiben in ihrer Gestalt stets zwischen den Polen und ebenfalls jenseits davon in Bewegung. Ein weiteres Mal stellen sich die oben genannten auf den Nutzen (Bronze vs. Stahl), auf die Wahrnehmung (Farbigkeit der Bronze) und auf die Ikonographie (des Materials   Vgl. das Kapitel Material der vorliegenden Arbeit.   Die Verschränkung von Weiblichkeit und Natürlichkeit erscheint paradox, weil Weiblichkeit (bzw. ihre tradierten visuellen, physischen Charakteristika) zunehmend künstlich konstruiert wird. 535   Vgl. dazu u. a. Saunders 1989, S. 94. 533 534

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V. Präsentation

und des Sujets) bezogene Kategorien als Fallen heraus und das kritische Potential der Frauen entfaltet sich auch außerhalb des Museums. Nach diesen ersten konträren Präsentationen der Frauen folgen zahlreiche internationale Einzelausstellungen Thomas Schüttes, in denen – neben anderen Arbeiten des Künstlers – verschiedene Großplastiken der Werkgruppe in verschiedenen Ausführungen und Konstellationen präsentiert werden.536 Sie werden dann gemeinsam in einem Innen- oder Außenraum und somit aufeinander bezogen ausgestellt.537 Nur zum Teil sind ebenfalls die Ceramic Sketches zu sehen, in vielen Fällen aber werden die Frauen von Papierarbeiten flankiert. In diesen Ausstellungen, die häufig den Charakter von Überblicksausstellungen über das Gesamtwerk Thomas Schüttes aufweisen, wird durch die Präsentation zwar deutlich, dass die Frauen eine Werkgruppe bilden, die komplexen Bezüge zur Werkgenese und dem Künstler-Werk-Betrachter_innen-Verhältnis, die die beiden frühen Ausstellungen gezeigt haben, können aufgrund des weiteren Fokus und der höheren Anzahl der ausgestellten Werke allerdings kaum plausibel gemacht werden. Erst im Jahr 2012 widmet sich eine Ausstellung den Frauen wieder ausführlich. Im Castello di Rivoli sind alle 18 Exemplare der Werkgruppe erstmals gemeinsam zu sehen. Unter dem Titel Frauen werden neben den Großplastiken Zeichnungen aus der Gruppe Deprinotes (2007) und einige Ceramic Sketches sowie deren Vorgängergruppen First Ceramic Sketches (1997) und Es tut mir leid, es tut mir sehr leid (1999) präsentiert.538 Die Besucher_innen betreten den langen schmalen, galeriehaften, auf beiden Längsseiten durchfensterten Raum (Abb. 62) an einem Ende und stoßen direkt auf Aluminiumfrau Nr. 1, die ihnen seitlich liegend ihre durch den erhobenen, hinter den Kopf gelegten Arm und durch das aufgestellte obere Bein geöffnete Vorderseite präsentiert. Neben ihr folgt Aluminiumfrau Nr. 2, die quer (also um 90 Grad zur Raumflucht gedreht) in den schmalen Raum gestellt ist. Ihr folgen die weiteren 16 Exemplare der Werkgruppe in chronologischer

536   U. a. sind zu nennen: Thomas Schütte, Konrad Fischer Galerie, Düsseldorf (2001), Thomas Schütte. Neue Arbeiten, Tucci Russo, Turin (2002), Thomas Schütte, Produzentengalerie Hamburg (2002), Thomas Schütte, Marian Goodman Gallery, New York (2003), Thomas Schütte. Kreuzzug, Kunstmuseum Winterthur, Musée de Grenoble, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (2003–04), Thomas Schütte. Works on paper, a retrospective, De Pont Museum, Tilburg (2006), Thomas Schütte, Jarla Partilager, Stockholm (2006– 07), Thomas Schütte, Haus der Kunst, München (2009), Schöne Grüße Thomas Schütte, me Collectors Room Berlin (2013–14). 537   In den Ausstellungen Thomas Schütte. Stahlfrauen im Museum Folkwang, Essen (2002) und Thomas Schütte. Retrospección im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (2010) sind die Frauen (in Essen die Stahlfrauen Nr. 3, Nr. 6, Nr. 9, Nr. 10, Nr. 11 und in Madrid Bronzefrau Nr. 2, Bronzefrau Nr. 5, Bronze­frau Nr.  6, Stahlfrau Nr. 8, Aluminiumfrau Nr. 9, Aluminiumfrau Nr. 11) unabhängig von ihren Mate­ rialien unter freiem Himmel im Außenraum, im Innenhof bzw. im Garten des Museums präsentiert, während andere Arbeiten des Künstlers im Innenraum ausgestellt sind (vgl. Cooke 2010 und Thomas Schütte. Stahlfrauen, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen, Essen 2002). 538  Zu First Ceramic Sketches (1997) und Es tut mir leid, es tut mir sehr leid (1999) vgl. den Abschnitt Ceramic Sketches des Kapitels Produktion der vorliegenden Arbeit.

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V.2 Gruppenpräsentationen

Reihenfolge hintereinander, zum Teil längs und zum Teil quer zur Raumachse aufgestellt:539 Aluminiumfrau Nr. 3, Aluminiumfrau Nr. 4, Aluminiumfrau Nr. 5, Aluminiumfrau Nr. 6, Stahlfrau Nr. 7, Bronzefrau Nr. 8, Aluminiumfrau Nr. 9, Aluminiumfrau Nr. 10, Stahlfrau Nr. 11, Stahlfrau Nr. 12, Bronzefrau Nr. 13, Bronzefrau Nr. 14, Aluminiumfrau Nr. 15, Aluminiumfrau Nr. 16, Stahlfrau Nr. 17 und Bronzefrau Nr. 18.540 Am Ende des langen Raums befinden sich in drei Regalen, die der Länge nach parallel zueinander ausgerichtet aufgestellt sind, die Ceramic Sketches und an der gegenüberliegenden Seite des Raums die weiteren Keramikfiguren.541 An den Längsseiten hängen, im direkten Bezug zu den Frauen, mehr als 50 gerahmte Deprinotes. Dabei handelt es sich um 38 mal 28 Zentimeter große vielfarbige Zeichnungen (Wasserfarbe und Tusche, z. T. auch Buntstift auf Papier) aus dem Jahr 2007, die einzeln oder in kleinen Gruppen (z. B. zu dritt oder zu fünft) zwischen den Fenstern an den Wänden präsentiert sind. Sie stammen aus einer Gruppe von circa 150 Blättern, die jeweils im Zentrum ein Motiv, unter anderem Menschen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände aus dem Alltag und dem Leben, zeigen.542 In der unteren rechten Ecke sind in der Regel handschriftlich kurze titelgebende Kommentare sowie der Tag ihrer Entstehung notiert. Diese tagebuchhaften Notizen heißen zum Beispiel Was bleibt?, Help me to understand you, Wann bin ich fertig?, In the long run we are all dead, Alles gesagt? Für die Kinder, Logo für Lügner oder Wann kann ich es? und kreisen um Themen wie Leben und Tod, Verlust, Angst und Scheitern. Die farbenfrohen aquarellierten Motive wirken aber nicht schwermütig oder wie reine Illustrationen düsterer persönlicher Befindlichkeiten, sondern sie besitzen eine subtile Leichtigkeit und sind, wie ihr Titel Deprinotes – Aufzeichnungen eines Deprimierten oder deprimierende Aufzeichnungen?  – doppelbödig, humorvoll und einprägsam. Bezeichnenderweise beinhalten die Deprinotes ebenfalls kleine Reihen, d. h. Variationen und mehrere Versuche zu einem Thema: Apple I, Apple II, Apple III, Apple 4, Apple 5, Apple 7 zeigen jeweils einen Apfel und sind an zwei aufeinander fol­ genden Tagen entstanden und Verzeihung I, Verzeihung III, Sorry, Verzeihung IV, Verzeihung V sowie 2nd try, Dritter Versuch, 4. Versuch stellen Blumen dar und sind jeweils an einen Tag entstanden. Diese Werkgruppe unterstreicht nicht nur das serielle Arbeiten Thomas Schüttes, das Unregelmäßigkeiten durchaus zulässt beziehungsweise produziert 539   Thomas Schütte in Bezug auf die Präsentation in Rivoli: „Die Aufreihung ist eigentlich eine rein chronologische. Die erste ist die erste, die dritte die dritte, die vierte die vierte, genau so sind sie gemacht worden und genau so sind die durchnummeriert. Aber mit ein paar Schaustellertricks – wo stellt man eine bunte hin und wo eine rostige? – kann man die Spannung doch ganz gut halten auf der langen Strecke.“ (Vischer 2013, S. 117). 540   Bei den 18 Frauen handelt es sich ausschließlich um Bestände der Thomas Schütte Stiftung, Düsseldorf. 541   Anhand der Präsentation der Werkphasen wird die jeweilige zeitliche Dimension deutlich: Während die Ceramic Sketches, die in ca. neun Monaten entstanden sind, auf vergleichsweise kleinem Raum, nah beieinander und komprimiert aufgestellt sind, erstrecken sich die Frauen, an denen Thomas Schütte viele Jahre gearbeitet hat, über viele Meter, den langen Raum entlang. In der Präsentationsform spiegelt sich der Zeiteinsatz. 542   Vgl. Haus der Kunst, München (Hg.): Thomas Schütte. Deprinotes, Düsseldorf 2009.

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V. Präsentation

(und das bereits in Hinblick auf die Ceramic Sketches analysiert wurde), sondern darüber hinaus wird deutlich, dass sie „die Möglichkeiten subtiler wie wesentlicher Bedeutungsverschiebungen visuell ab[tastet] und [auf] die Interpretationsoffenheit der abgebildeten Formen und dahinterstehenden Themen [verweist]“543.

Patrizia Dander schreibt in der Publikation zur Ausstellung im Haus der Kunst (München) zu den Deprinotes 2009 weiter: „Sie verleihen der Skepsis gegenüber jedem Versuch eindeutiger Festschreibungen Ausdruck. Die Aufhebung von Evidenz im Sinne klarer Schlussfolgerungen bringt einen eminenten Rückgewinn an Freiheit. Nicht ein einziges, sondern eine Vielzahl möglicher Bilder steckt in jedem Aquarell. Sich dieses Potential zu eigen zu machen, ohne in der Beliebigkeit zu versinken, ist eine der großen Leistungen der Deprinotes […].“544

Somit treffen sie nicht nur auf der Ebene der Produktion (Serialität, temporäre Bedingungen etc.), sondern ebenfalls auf einer semantischen Ebene im Castello di Rivoli auf die Frauen. Die Deprinotes stehen in keinem direkten Zusammenhang zu den Groß­ plastiken, sie gehen ihnen weder – wie die Keramikskizzen – im Schaffensprozess direkt voraus, noch entstehen sie parallel zu ihnen. Auch gibt es keinen formalen, motivischen Bezug, vielmehr bilden sie eine eigenständige Werkreihe, die trotz des Kontrasts, der kaum größer sein könnte – auf der einen Seite hunderte Kilo schwere Metallplastiken im monumentalen Format, auf der anderen leichte, filigrane Zeichnungen auf Papier, kaum größer als DIN A4 –, die zentrale künstlerische Strategie des In‑der-Schwebe-Haltens doppelt und damit darauf verweist, dass sie sich nicht nur auf die Werkgruppe der Frauen beschränkt, sondern im gesamten Œuvre des Künstlers zu finden ist. In Bezug auf die Frauen dienen sie als Agenten gegen die eindimensionale Festlegung einer Lesart; sie helfen, die schweren Plastiken in Bewegung, in der Schwebe zu halten. Im Vergleich zwischen der Ausstellung in Rivoli (2012) und der ersten Ausstellung der Frauen in New York (1999) fallen zunächst Gemeinsamkeiten auf: Wie auch in den gesamten 13 Jahren, die zwischen den beiden Ausstellungen liegen, sind die Frauen durchweg auf den bekannten Stahltischen und die Ceramic Sketches in den lackierten Stahlregalen zu sehen. Beide Gruppen sind räumlich aufeinander bezogen präsentiert und zusätzlich durch Papierarbeiten ergänzt, die die Plastiken zu kommentieren oder zu unterstützen scheinen und sie um weitere Lesarten ergänzen. Somit werden durch die Tonskizzen Verweise auf die Herstellungsprozesse der Frauen geliefert und durch die Zeichnungen erhält die Werkgruppe weitere semantische Ebenen. In den Deprinotes ist der Künstler weiter anwesend, allerdings nicht mehr so unmittelbar, wie in den Mirrow Drawings der New Yorker Schau.545   Dander, Patrizia: „Und das ist ein gutes Bild.“, in: Haus der Kunst 2009, S. 204–205, S. 205.  Ebd. 545   Darüber hinaus scheint es eine inhaltliche Verschränkung zwischen den Frauen und den melancholischen Themen, um die die weiteren Arbeiten kreisen, zu geben: Leben und Tod, Verlust, Angst, Scheitern. 543 544

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V.2 Gruppenpräsentationen

Doch während es sich bei der Ausstellung in der Dia Art Foundation um die erste Präsentation der ersten vier Exemplare der zu dem Zeitpunkt neuen Werkgruppe handelt, stellt die Schau im Castello di Rivoli die Präsentation einer anscheinend abgeschlossenen, in 13 Jahren häufig und in verschiedenen Konstellationen gezeigten Werkgruppe dar. Die Frauen haben sich in der Zwischenzeit bewährt, sie wurden zahlreich im internationalen Kontext ausgestellt und haben oft den Weg in renommierte öffentliche und private Sammlungen gefunden. Die ersten vier Exemplare sind allesamt in Stahl gegossen, sie sind lose im White Cube der Dia Art Foundation verteilt und wenden sich von den Museumsbesucher_innen ab. Die Präsentation in Rivoli zeigt eine buchstäblich bunte Gruppe der Frauen aus Stahl, Bronze und teilweise in kräftigen Farben lackiertem Aluminium, die ganz selbstverständlich durchnummeriert im musealen Raum besteht. Während die Autorinnen 1999 im Katalog zu In Medias Res das Geschlechter- und Autor-Werk-Verhältnis kritisch hinterfragen, kommt der Katalog zu der Ausstellung Frauen ohne kritische Überlegungen aus und beschränkt sich auf beschreibende Texte, die die Werkgruppe im Gesamtwerk des Künstlers und in der Kunstgeschichte verorten.546 Der Diskurs scheint sich die Werkgruppe einverleibt und sie glatt geschliffen zu haben. Durch das dreizehnjährige, permanente internationale Präsentieren der Frauen in verschiedenen Konstellationen und Kontexten hat ihre Brisanz abgenommen, sie sind akzeptiert, erfolgreich und etabliert und die Schau in Rivoli, die erstmals alle 18 Figuren gemeinsam präsentiert, wirkt wie der Schlussstein am Ende der Werkgruppe. Die letzte Präsentation und nicht das letzte ausgeführte Kunstwerk scheint die Werkgruppe nun zu beenden. Fast alle der insgesamt 90 Großplastiken (18 Stück, je zwei in Stahl, zwei in Bronze und eine in Aluminium) sind an ihren Endstationen – private und öffentliche Sammlungen – angekommen, je ein Exemplar pro Nummer verschwindet nach der einzigen gemeinsamen, wohl geordneten Präsentation als Grundstock der Thomas Schütte Stiftung gut verpackt im Lager im Untergeschoss der stiftungseigenen Skulpturenhalle (Neuss).547 Dort werden sie konserviert und angesichts dieser Tatsache wirkt die Ausstellung in Italien, die mit der parallel im Nouveau Musée National de Monaco stattfindenden Ausstellung Thomas Schütte. Houses koproduziert ist und die im Anschluss noch in   Vgl. Cooke/Kelly 2002 und Thomas Schütte 2012.   Bezeichnenderweise erscheinen kurz nach der zentralen, umfassenden, abschließenden Wanderausstellung (2012–14) die ersten Frauen auf dem sekundären Kunstmarkt, insb. auf Auktionen in den weltweit umsatzstärksten Häusern und zeigen eine rasante Preisentwicklung: a) Bronzefrau Nr. 1: ~1,3 Millionen GBP (Schätzpreis 1,8 Mio.) Sotheby’s, 02/2015 b) Bronzefrau Nr. 13: ~3,7 Millionen GBP (Schätzpreis 1,8 Mio.) Christie’s 10/2016 c) Stahlfrau Nr. 6: ~2,6 Millionen GBP (Schätzpreis 1,8 Mio.) Christie’s 03/2017 d) Bronzefrau Nr. 1: ~5,2 Millionen USD (Schätzpreis 3,8 Mio.) Christie’s 05/2017 Quellen: a) http://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/lot.56.html/2015/contemporary-art-evening-auction-​ l15020 (27.09.2017 01:45) b)   http://www.christies.com/lotfinder/sculptures-statues-figures/thomas-schutte-bronzefrau‑​nr-​ 13-6025050-details.‌aspx?from=​s earchresults&intObjectID=​6025050&sid=​a7538ba2-b4a5-40f6-b08f65f82d52d6dc (27.09.2017 01:40) 546 547

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V. Präsentation

Finnland und Deutschland zu sehen ist, gewissermaßen wie eine blutleer Abschieds­ tournee.548 Wie die Präsentation dieser Wanderausstellung im Museum Folkwang (Essen) zeigt, ist die lineare, chronologische Abfolge der 18 Figuren in Rivoli nicht nur dem langen schmalen Museumsraum geschuldet. Obwohl Thomas Schütte in den Essener Räumlichkeiten die Möglichkeit hat, die Frauen anders zu verteilen und Spannungen und Bezüge wie in den früheren Ausstellungen zu schaffen, wird die großzügige Halle mithilfe von mobilen Stellwänden in drei parallel verlaufende Korridore geteilt. Die einzelnen Wandteile schließen dabei nicht aneinander an, sondern zwischen ihnen bleibt jeweils Platz zum Durchsehen oder auch Durchschreiten (Abb. 63). Wie die Fenster in Rivoli rhythmisieren sie die langen Wandseiten. In jedem der drei Abschnitte befinden sich jeweils sechs Frauen, in einer Reihe von Nr. 1 und bis Nr. 18 präsentiert. An den Wänden sind rechts und links von ihnen die gerahmten Deprinotes installiert.549 Die Keramikarbeiten befinden sich in Essen räumlich von den Plastiken und den Papierarbeiten getrennt am Beginn der Ausstellung. Die drei Stahlregale mit den Ceramic Sketches stehen in einem weiteren Korridor ohne Blick auf die Frauen schräg ausgerichtet parallel voreinander und auch die weiteren keramischen Werke sind den Frauen räumlich vorgeschaltet. Anders als in Rivoli stoßen die Besucher_innen erst auf die keramischen Entwurfsarbeiten, bevor sie die Großplastiken erblicken. Sicherlich kommen ihnen dann einige Figuren bekannt vor und sie können sich vorstellen, dass die großformatigen Plastiken aus den kleinformatigen Keramiken entstanden sind. Nach dieser ersten und letzten gemeinsamen Präsentation der Werkgruppe folgen weitere überblickshafte Einzelausstellungen Schüttes, in denen auch die Frauen in unterschiedlichen Ausführungen präsentiert werden. Zu nennen sind beispielsweise Figur in der Fondation Beyeler (Riehen) im Jahr 2013, Thomas Schütte 2014 in der Kunsthalle Vogelmann (Heilbronn) und 2016 United Enemies im Moderna Museet (Stockholm).550 Diese c) http://www.christies.com/lotfinder/sculptures-statues-figures/thomas-schutte-stahlfrau‑no‑6-6059910-​ details.‌aspx?from=​searchresults&intObjectID=​6059910&sid=​a7538ba2-b4a5-40f6-b08f-65f82d52d6dc (27.09.2017 01:41) d) http://www.christies.com/lotfinder/sculptures-statues-figures/thomas-schutte-bronzefrau‑nr‑i-​ 6076456-​ d etails. ‌a spx?from= ​ s earchresults&intObjectID= ​ 6 076456&sid= ​ a 7538ba2-b4a5-40f6-b08f65f82d52d6dc (27.09.2017 01:43) 548   Die Wanderausstellung Frauen tourt von Castello di Rivoli (2012) ins Sara Hildén Art Museum, Tampere (2013) und im Anschluss ins Museum Folkwang, Essen (2013–14). 549   Bei der Ausstellung im Museum Folkwang (Essen) sind Aluminiumfrau Nr. 10 und Stahlfrau Nr. 11 miteinander vertauscht. Ein Grund dafür könnte die harmonischere Abfolge der Materialien sein. So ist die Abfolge nicht Aluminium (Nr. 9) – Aluminium (Nr. 10) – Stahl (Nr. 11) – Stahl (Nr. 12), sondern Aluminium (Nr. 9) – Stahl (Nr. 11) – Aluminium (Nr. 10) – Stahl (Nr. 12). 550   Thomas Schütte. Figur, Fondation Beyeler (Riehen): 06.10.2013–02.02.2014; Thomas Schütte, Kunsthalle Vogelmann (Heilbronn): 12.07.–12.10.2014; Thomas Schütte. United Enemies, Moderna Museet (Stockholm): 08.10.2016–15.01.2017. Zu allen drei Ausstellungen sind Kataloge erschienen (vgl. Vischer 2013, Gundel, Marc und Täuber, Rita E. (Hgg.): Thomas Schütte, Ausst. Kat., Städtische Museen Heilbronn  – Kunsthalle Vogelmann, München 2014 und Olof-Ors 2016).

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V.3 Einzelpräsentationen

Präsentationen der Frauen ähneln den Ausstellungen, die vor der Gesamtschau der Werkgruppe stattfanden: Einige Exemplare befinden sich samt ihrer Tischsockel in einem Raum, an dessen Wänden kommentierende beziehungsweise korrespondierende (Papier‑)Arbeiten installiert sind.551 Die Figuren sind weder der Reihe nach aufgestellt, noch doppeln sich einzelne Nummern, aber in diesen Einzelausstellungen Thomas Schüttes werden sie stets im Verbund mit mehreren Exemplaren präsentiert. So wird der Zusammenhang der Werkgruppe mit Verweisen auf die Herstellungsprozesse ausgestellt, und darüber hinaus werden Fragen nach Autorenschaft, menschlicher Figur und Weiblichkeit in ihrer Heterogenität verhandelt.552

V.3 Einzelpräsentationen Gelangen die Frauen durch Ankäufe oder Schenkungen dauerhaft in Sammlungen, werden sie einzeln, ohne andere Arbeiten aus der Werkgruppe und ohne die Skizzen ausgestellt, sodass jede Figur in ihrer spezifischen Umgebung (im Museum, im Skulpturenpark, mit den Werken anderer Künstler etc.) in ganz neuen und unterschiedlichen Kontexten isoliert für sich steht und der Gruppenverbund in den Hintergrund tritt. Nur noch der Titel, der sich aus dem verwendeten Material, dem Wort Frau und der fortlaufenden Nummer zusammensetzt, verweist auf die seriellen Herstellungsverfahren und darauf, was das Werk ‚darstellen‘ könnte. Häufig haben die Frauen, die dauerhaft in Sammlungen aufgenommen werden, einen Aufstellungsort im Außenbereich von Museumsbauten erhalten und sind – wie in Bielefeld, München, Winterthur, Krefeld, Minneapolis und Essen – somit der Öffentlichkeit zugänglich.553 Die deutlich an die Schlafende Ariadne erinnernde Bronzefrau Nr. 1 (2000, Abb. 64) ist so vor der Hauptfassade der Kunsthalle Bielefeld installiert, dass sie häufig auf Fotografien des 1968 errichteten Museumsbaus von Philip Johnson abgebildet ist. Der rötlich braune Stahltisch der Figur korrespondiert mit der Museumsfassade aus rotem Sandstein nicht nur farblich, sondern auch die kubische Form und die vertikalen Elemente der unteren Fassadenhälfte werden visuell durch die Beine und die vertikalen Verbindungsstücke des Tisches wiederholt und die massive Tischplatte findet sich in dem ge551   In der Kunsthalle Vogelmann befinden sich an den Wänden keine Zeichnungen auf Papier, sondern runde und ovale, vier Zentimeter dicke kolorierte, glasierte Keramikscheiben (∅ 72 cm), auf denen Mirrow Drawings, Blumen und Frauenportraits zu sehen sind. 552   Als Ausnahme ist eine Installation in der Skulpturenhalle (Neuss) zu nennen: 2017 war dort im Rahmen einer Einzelpräsentation Thomas Schüttes eine einzige Frau (Aluminiumfrau Nr. 7) zu sehen. Sie war mittig in dem kapellenhaften Raum innerhalb der Halle ausgestellt. 553  Die Frauen, die sich in Museen befinden und nicht im Außenraum präsentiert werden, sind größtenteils eingelagert. Das gilt für Bronzefrau Nr. 9 (2002) in der Hamburger Kunsthalle und Stahlfrau Nr. 3 (2000) in der De Pont Foundation (Tilburg). Bronzefrau Nr. 6 (2000) in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Düsseldorf) ist zurzeit (2019) gemeinsam mit einigen Ceramic Sketches im K21 ausgestellt.

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V. Präsentation

schlossenen Riegel der oberen Fassadenhälfte wieder. Die grünlich-grau-braun patinierte Bronzefigur nimmt die Farbe der sie umgebenen Pflanzen auf und fügt sich harmonisch in das Bild. Formal scheint der Aufstellungsort der Frau geglückt, doch entfaltet sich in dieser passenden, ja schmückenden Funktion kaum kritisches Potential. Stimmig liegt die klassischste Figur der Werkgruppe exponiert in tradierter seitlicher Pose vor dem Gebäude. Sie reiht sich in den klassischen Kanon der Bildhauerei ein, denn neben ihr sind in der unmittelbaren Umgebung des Museums und in dem angeschlossenen Skulpturenpark hauptsächlich Werke etablierter (männlicher) Künstler wie unter anderen Auguste Rodin, Henri Laurens, Henry Moore, Richard Serra, Sol LeWitt und Olafur Eliasson zu sehen. Thomas Schütte wird hier ganz augenscheinlich in den Kanon der großen Bildhauer aufgenommen. Formal ganz ähnlich stellt sich die Präsentation von Stahlfrau Nr. 12 (2002–03, Abb. 65) in dem Garten der Münchener Sammlung Goetz dar. Auch diese Figur ist vor der Hauptfassade installiert und gemeinsam mit dem Gebäude häufiges Foto-Motiv. Diese Verbindung beruht allerdings nicht, wie in Bielefeld, auf Harmonie, sondern viel mehr auf Kontrasten. Zunächst handelt es sich mit Stahlfrau Nr. 12 um eine Figur, die sich in der Pose des Hermaphroditus auf ihrer Vorderseite liegend den Blicken der Besucher_innen verschließt und anders als Bronzefrau Nr. 1 zum Museum gewendet aufgestellt ist. Bei dem Münchener Exemplar handelt es sich darüber hinaus um die Stahlvariante und nicht um tradierte Bronze. Somit ergeben Tisch und Figur eine Einheit aus Stahl, die sich sowohl von den Grünflächen und Pflanzen, als auch von der lichten, leicht wirkenden Museumsfassade aus Glas, Aluminium und Birkenholz abhebt. Lediglich die geschlossene, kubische Horizontalität des von Herzog & de Meuron um 1990 geplanten Gebäudes korrespondiert mit der waagerecht angelegten Stahlfrau Nr. 12. Auch die Auswahl der weiteren im unmittelbaren Umfeld der Plastik präsentierten Werke von George Segal, Pawel Althamer, Tatiana Trouvé, Georg Baselitz und Eva Rothschild verraten einen aktuellen, stärker auf Vielfalt und Differenzen gerichteten Blick. In Winterthur nimmt die über vier Meter hohe silbrig glänzende, abstrakte Edelstahlarbeit Footfall (2013) von Richard Deacon den prominentesten Platz im Außenbereich des Kunstmuseums ein. Sie ist an dem Übergang zwischen dem Museums-Altbau aus den 1910er Jahren und dem Erweiterungsbau von Annette Gigon und Mike Guyer aus dem Jahr 1995 aufgestellt und korrespondiert in ihrer Farbigkeit und in ihrer Form, die an ein zur Runde geschlossenes, gezacktes Band erinnert, mit der Neubau-Fassade aus Glas und verzinkten Elementen. Insbesondere das Sheddach, die Treppen und die streng und kühl wirkende vertikale Geometrie des silbrig-grauen Gebäudes finden sich formal in der Arbeit wieder. Auch die zweite der drei um den Erweiterungsbau des Kunstmuseum Winterthur installierten Arbeiten, Down Here, Up There (2007) von Pedro Cabrita Reis  – eine elf Meter hohe, an eine der Seitenfassaden angelehnte Arbeit aus Aluminium und Leuchtstoffröhren – passt in ihrem industriellen, sterilen Charakter visuell zu dem Neubau.

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V.3 Einzelpräsentationen

Thomas Schüttes Bronzefrau Nr. 3 (2000, Abb. 39) ist auf einem schmalen Grünstreifen zwischen der anderen Längsseite des Baus und der Straße gestellt. Sie kontrastiert durch ihre warme rotbraune Farbigkeit, ihre geschmeidige, biomorphe Form und durch ihre ausgeprägte, fast weich wirkende Muskulatur mit dem Erdgeschoss des Baus, das hinter vertikalen, halbtransparenten Glas-Lamellen eine Parkfläche für Autos verbirgt. Bronzefrau Nr. 3 scheint auf den ersten Blick nicht zu dem luftigen, silbrig glänzenden Gebäude- und Skulpturenensemble zu passen. Sie steht, ganz buchstäblich und noch dazu – im Vergleich zu den Präsentationen in Bielefeld und München – an einem etwas undankbaren Platz, daneben. Würde es sich bei der Figur um eine polierte Aluminiumfrau handeln, wäre der Kontrast deutlich schwächer, doch eine Bronzefigur, die noch dazu ein menschliches Wesen – laut Titel eine Frau – darzustellen scheint, wirkt tatsächlich etwas deplatziert und wie aus einer anderen Zeit. Dabei ist Bronzefrau Nr. 3 jünger als der Neubau und Richard Deacon ist älter als Thomas Schütte und beim Betreten des Altbaus wird klar, dass ihre Aufstellung mehr bedeutet, als den Anspruch zu erfüllen, visuell ins Bild zu passen.554 In dem repräsentativen Marmor-Treppenhaus des von Robert Rittmeyer und Walter Furrer geplanten Museumsbaus befindet sich Aristide Maillols Steinfigur La Nuit (1908–12, vgl. Abb. 41+42), auf die sich Schüttes Frau Nr. 3, wie die Analyse in dem Kapitel Sujet der vorliegenden Arbeit zeigt, bezieht. Damit schlägt sie den Bogen von ihrer Position neben dem zeitgenössischen Neubau, zu dem sie nicht zu gehören scheint, zu der klassischen Moderne. So wie sich Aristide Maillol am Beginn des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach der voll­ endeten Form, nach der Konzentration auf das Wesentliche auf die Antike bezieht und sich von den flüchtig wirkenden Entwürfen seiner impressionistischen Zeitgenossen abwendet, scheint Schütte sich von den strahlenden, abstrakten, industriell anmutenden minimalistischen Formen und Materialien seiner Zeitgenossen abzuwenden und auf die beginnende Moderne – seine Antike – zurückzugreifen. Bronzefrau Nr. 2 (2000, Abb. 66) wird durch ihren Aufstellungsort im Wirtschaftshof des Haus Esters in Krefeld kontextualisiert und stellt darüber hinaus einen biografischen Bezug Thomas Schüttes her, der im benachbarten Haus Lange im Jahr 1986 seine erste museale Einzelausstellung präsentierte.555 Die beiden in den späten 1920er Jahren von Ludwig Mies van der Rohe geplanten Wohnhäuser werden seit 1955 (Haus Lange) beziehungsweise seit 1981 (Haus Esters) für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst genutzt und haben seither eine wegweisende Funktion für die aktuellste rheinische und internationale Kunstproduktion. Zeugnisse von diesem außergewöhnlichen Schwerpunkt und Engagement sind die Kunstwerke, die auf dem Außengelände der ehemaligen Unternehmervillen installiert sind. Die Werke von unter anderen Ludger Gerdes, Richard Long, 554   Thomas Schütte und Richard Deacon haben 1995 eine Arbeit mit dem Titel Them and Us gemeinsam realisiert. Zwischen den Bildhauern besteht bis heute eine Verbindung, so stellte Deacon im Jahr 2016 in Schüttes Skulpturenhalle aus (Richard Deacon. Under The Weather, 04.09.–18.12.2016, mit Katalog). 555   Gemeint ist die Ausstellung Thomas Schütte (Museum Haus Lange, Krefeld, 26.01.–16.03.1986, Katalog: Thomas Schütte, Ausst. Kat., Museum Haus Lange Krefeld, Essen 1986).

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V. Präsentation

Ulrich Rückriem, Richard Serra, Claes Oldenburg und Lawrence Weiner beziehen sich auf den speziellen Ort und sein innovatives Ausstellungsprogramm, vornehmlich der 1970er und -80er Jahre. Schüttes Bronzefrau Nr. 2 aus dem Jahr 2000 ist unter ihnen das jüngste Werk. Die Figur ist in dem abgesenkten und durch zwei Backsteinmauern geschützten Hof, links neben Haus Esters, in dem zum Beispiel die Wäsche der Familie getrocknet wurde, platziert und fast vollständig von Backstein umgeben. Die Hausfassade begrenzt den Platz zur rechten Seite und auch der Boden ist mit Backstein ausgelegt, sodass der rechteckige Hof wie ein abgeschlossener Raum wirkt, der sich nach links über wenige (Backstein‑)Stufen zu den Grünflächen der Gartenanlage öffnet. Der rechteckige Stahltisch von Bronzefrau Nr. 2 steht mittig in dem Hof, als wäre er für sie oder sie für ihn gemacht. Seine rötlich braune Farbe findet sich in den Steinen wieder und auch der grau-grünliche Bronzeton der Figur wird im Backstein aufgenommen. Darüber hinaus korrespondiert der schlichte geometrische Stahltisch mit den nüchternen Stahlelementen der Hausfassade, wie zum Beispiel den Fenstergittern. Die Besucher_innen nähern sich der Figur entweder von der Straßen- oder von der Gartenseite über je eine herabführende Rampe und erblicken sie aufgrund der Backsteinmauern erst spät. Sie nehmen die kniende, nach vorn geneigte Figur von der Seite beziehungsweise von vorn, von ihrem Kopf aus wahr und probieren sich beim Umkreisen ein Bild von ihr zu machen. Ein kleines Metallschild an einer der Wände zeigt an, dass es sich um Thomas Schüttes Bronzefrau Nr. II aus dem Jahr 2000 handelt, die im selben Jahr durch die Krefelder Heinz und Marianne Ebers-Stiftung, erworben wurde. Die Tatsache, dass diese Figur so prominent (quasi in einem eigenen Raum) an diesem einschlägigen Kunstort installiert ist – ein Ort, der wie kaum ein anderer die aktuellsten Entwicklungen der bildenden Kunst seit den 1950er Jahren begleitet und beeinflusst und der selbst als Ikone einer neuen Lebens-, Denk-, Kunst- und Bauform gilt –, legitimiert sie in einer Reihe mit den herausragenden Erneuerern der Bildhauerei. Bronzefrau Nr. 2 regt in diesem Kontext darüber hinaus zu einer Auseinandersetzung mit dem auf der Museums­ homepage als „Einheit von Raum und Subjekt“556 und „Zusammenwirken von Geist und Handwerk“557 beschriebenen, durch die Gebäude vermittelten „Bauhaus-Gedanken“558 an. Eine konträre Form der Präsentation, die ohne lokalen, inhaltlichen oder biografischen Bezug auszukommen scheint, stellt die Installation von Bronzefrau Nr. 4 (2000, Abb. 67) im Minneapolis Sculpture Garden dar. In dem belebten Park, der sich – anders als das Krefelder Museum, das vor allem kunstinteressiertes (Fach‑)Publikum anzieht – an die breite Öffentlichkeit richtet, sind mehr als 50 Skulpturen aus dem 20. und 21. Jahrhundert auf engem Raum versammelt. Die Auswahl beschränkt sich vornehmlich auf die 556  Homepage der Kunstmuseen Krefeld, http://www.kunstmuseenkrefeld.de/d/kunstmuseen/hauslangehausesters/(21.09.2017 22:45). 557  Ebd. 558  Ebd.

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V.3 Einzelpräsentationen

Werke international sehr bekannter Bilderhauer, wie unter anderen Alexander Calder, Henry Moore, Roy Lichtenstein, Robert Indiana, Lucio Fontana, Joseph Beuys, Richard Serra, Katharina Fritsch, Jenny Holzer, Monika Sosnowska, Tony Cragg und Danh Vo. Die häufig großformatigen Arbeiten, die oft figurativ, farbenfroh und prägnant sind, sind relativ nah beieinander aufgestellt, wie in einem Freizeitpark reiht sich eine Attraktion beziehungsweise ein großer Name an den nächsten. So befindet sich Schüttes Bronzefrau in direkter Nachbarschaft zu Kiki Smiths Rapture (2001) – einem stehenden Frauenakt aus Bronze mit einem offenbar toten, erlegten Wolf –, KCHOs La soledad (1999/2005) – einer Bronzeplastik, die einen Stuhl mit vier langen Paddeln als Beine verbindet – und Gary Humes Back of Snowman (2001) – zwei aufeinander gesetzte, lackierte Bronzekugeln. Hier ist Bronzefrau Nr. 4 eine Figur eines berühmten Künstlers unter vielen. Im Essener Museum Folkwang hingegen ist Stahlfrau Nr. 11 (2002, Abb. 68) – ähnlich wie in Krefeld – gewissermaßen in einem eigenen Raum, in einem der Innenhöfe des Museums aufgestellt.559 Dieser rechteckige Innenhof ist mit quadratischen, grauen Platten ausgelegt und drei seiner vier Wände bestehen aus Glas, während die vierte mit rechteckigen grauen Steinplatten verkleidet ist. Vom Besucherraum des Museums – ein Ort, an dem Publikationen ausliegen und die Besucher_innen in Sitzgruppen mit Blick auf die Kunst verweilen können – schauen die Betrachter_innen frontal auf die graue Wand. Von diesem Standort ausgehend, befindet sich in der Hofecke hinten links (vor der grauen Wand) ein Baum, der die Gebäudehöhe übersteigt und einige Meter rechts von ihm ist Ansgar Nierhoffs Arbeit Ru Go (1996)  – zwei übermenschenhohe, graue Eisenstelen – installiert. Stahlfrau Nr. 11 ist näher an die Betrachter_innen gerückt, sodass sie wie die Protagonistin innerhalb dieser bühnenhaften Situation wirkt. Die rötlich braune, hockende, nach vorn geneigte, reptilienhafte Figur wird von dem Baum und dem abstrakten Kunstwerk, das farblich und formal mit der architektonischen Situation korrespondiert (ja sogar von ihr geschluckt zu werden droht), hinterfangen. Es ist nicht vorgesehen, dass die Museumsbesucher_innen den Hof betreten, sie blicken aus dieser Hauptperspektive auf das beschriebene Ensemble, das sich je nach Jahreszeit und Wetter- und Lichtverhältnissen verändert. Im Sonnenschein etwa korrespondiert die weich wirkende, goldig schimmernde Oberfläche von Stahlfrau Nr. 11 mit den röt­lichen Blättern des Baumes und kontrastiert mit dem grauen Stahl von Ru Go. Und bei grauem Himmel und im Regen wirkt die Figur glänzend, fahl und auch spröde und passt zu den trostlosen, kahlen Ästen und Zweigen der Pflanze im Winter und zu den nüchternen grauen Eisenstelen. Auf formaler Ebene entspricht die Gradlinigkeit des Stahl­tisches den Eisenstelen und die organischen – wenn auch nicht eindeutig identifizier­baren – Formen der Figur verbinden sich mit dem organischen Element Baum. Inhaltlich kann die Situation innerhalb des Innenhofs als Verortung der Stahlplastik zwischen den beiden 559   Zwei weitere der insgesamt fünf Innenhöfe des Museums sind zurzeit (Oktober  2017) ebenfalls mit Kunstwerken bestückt. Zu sehen sind Henry Moores Glenklin Cross (1956) aus Bronze und Richard Longs Tschudi Cross (2005) aus Gestein.

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V. Präsentation

Polen Natur (repräsentiert durch den Baum) und Kultur (repräsentiert durch das Kunstwerk) gelesen werden. Die Glasscheiben trennen den Raum der Plastik an drei Seiten von dem Raum der Betrachter_innen und sie ziehen somit eine Art Bildgrenze ein, die Stahlfrau Nr. 11 in ihrer Umgebung, die nicht betreten werden kann, festzuhalten und gleichsam zu schützen scheint. Durch die animalischen Formen der exponierten Figur fühlt man sich unweigerlich an eine Zoo-Situation erinnert. Die Museumsbesucher_innen können durch die angrenzenden Räume gehen, den Hof weiter einsehen und die Figur somit aus der Distanz visuell komplett umrunden. Gleichzeitig machen die Glasscheiben aber auch Durchblicke frei und setzen Stahl­ frau Nr. 11 in Beziehung zu der Museumssammlung, die sich innerhalb der angrenzenden Räume befindet. Blicken die Betrachter_innen vom Besucherraum aus zu der sich in der linken Hofhälfte befindenden Stahlplastik, können sie im Hintergrund durch die Scheiben Bilder weiblicher Figuren wahrnehmen. Zu nennen sind Wilhelm Lehmbrucks Große Stehende (1910) und auch sein Kleiner Frauentorso (1910/11) sowie unter anderen ­Alexander Archipenkos Torse tournant (1921/22), Alexej von Jawlenskys Mädchenkopf (um 1915) und Paula Modersohn-Beckers Selbstbildnis mit Kamelienzweig (1906/07). Wenn sie den Gebäudetrakt betreten, stoßen sie auf weitere einschlägige Beispiele: Allen voran Giorgio de Chiricos Piazza di Ferrara (1944–46) – ein Ölgemälde, das die Schlafende Ariadne zeigt –, des Weiteren Emil Noldes Mädchenakt (1911), Pablo Picassos Femme au corsage bleu (1942) und Oskar Schlemmers Rücklings Sitzende am Tisch (1936) und nicht weit entfernt ist schließlich auch Auguste Rodins Kauernde, La femme accroupie (um 1882), zu sehen. Viele der im Kapitel Sujet angesprochenen Bilder, Typen, Künstler, Auffassungen tauchen hier, in unmittelbarer Umgebung von Stahlfrau Nr. 11, auf. Doch sie ist nicht wirklich Teil davon. Obwohl es dem Stahl auf Dauer nicht guttut, steht die Plastik nicht zwischen den genannten Beispielen, nicht inmitten des Kanons der weiblichen Figur im Museumsraum. Sie steht außerhalb, daneben, deutlich räumlich abgegrenzt, aber sie ist dennoch unter ihnen und innerhalb ihres Kontexts. Stahlfrau Nr. 11 steht in einem anderen Raum und auf einer anderen Ebene als ihre anscheinenden (modernen) Vorläufer; sie steht für einen anderen Umgang mit dem vermeintlich gemeinsamen Sujet.

V.4 Zusammenfassung Die Analyse der Präsentationsbedingungen und ‑strategien der Werkgruppe Frauen zeigt, dass das künstlerische Prinzip des In‑der-Schwebe-Haltens nicht bei den Figuren endet, sondern dass es zunächst durch die Regale und Tische, mit denen sie ausgestellt werden, verstärkt wird. Als Instrumente dieses Konzeptes unterstützen sie kontinuierlich in sämtlichen Präsentationszusammenhängen neben dem Gruppencharakter den Eindruck der Unabgeschlossenheit, des Verhandelbaren, des Unbeendbaren. Unterstützt wird diese

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V.3 Einzelpräsentationen

Strategie dadurch, dass die Werke in der Reihenfolge ihrer Entstehung, das heißt sukzessive – zunächst die ersten vier (1999, New York), dann die ersten fünf (2000, Wendlinghausen) usw. – ausgestellt werden. Somit wird über viele Jahre hinweg keine abgeschlossene Werkgruppe präsentiert, sondern der offene Charakter und der damit verbundene Freiraum bleiben lange erhalten. Die Frauen gelangen nicht plötzlich aus der Werkstatt in die Welt und sind dann fertig und gültig, sondern sie werden nach und nach erprobt und in die Welt entlassen. Dann spielen kuratorische Entscheidungen (, die durchaus auch der Künstler trifft,) die zentrale Rolle: Die Arbeiten werden zunächst stets im Werkverbund  – mehrere Frauen miteinander, teilweise gemeinsam mit den Tonskizzen und/oder kommentierenden Papierarbeiten – präsentiert und auch innerhalb des Œuvres Thomas Schüttes verankert. Gerade zu Beginn ihrer Ausstellungshistorie (In Medias Res, New York 1999– 2000) wird auf diese Kontexte großer Wert gelegt, es gibt eine dramaturgische Abfolge der Räume und der Arbeiten sowie eine inhärente, beinahe didaktische Aufbereitung des Werks mit Chronologien, Bezügen und Verweisen. Begleitend dazu erscheinen im Katalog fundierte, kritische Texte ausgewählter Expertinnen, die eine anspruchsvolle, fachliche Auseinandersetzung mit der Werkgruppe bedeuten, vielseitige, kritische Interpretationsansätze liefern und die Frauen in den kunstwissenschaftlichen Diskurs aufnehmen. In den folgenden Jahren wird die Werkgruppe in unterschiedlichsten Kontexten (Kulturräumen, Ausstellungssituationen, räumlichen Gegebenheiten etc.) erprobt und somit vor allem in den Kunstzentren Europas und der USA etabliert (u. a. in Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, New York, Niederlande, Schweden, Schweiz, Spanien). Parallel dazu gelangen einige Frauen in wichtige internationale Sammlungen und werden dem Fachpublikum und der Öffentlichkeit dauerhaft und unter Hervorhebung verschiedener (ikonographischer, lokaler, biografischer, topologischer, kanonischer etc.) Aspekte vorgestellt, bevor in einer großen Überblicksschau (Frauen, Rivoli, Tampere, Essen, 2012–14) erstmals und bislang einmalig alle Figuren der Serie gemeinsam gezeigt werden. Eine breite kuratorische Vermittlung ist in diesem Fall nicht mehr feststellbar, denn die Figuren sind inzwischen im Diskurs verankert und von der Kunstwelt angenommen. Sie bedürfen offenbar keiner weiteren Aufbereitung und Erklärung. Auch danach werden die Frauen, wie vor der umfassenden Präsentation, weiter an einschlägigen Kunstorten (u. a. in Deutschland, der Schweiz und Schweden) ausgestellt; sie zirkulieren weiterhin um die Welt und halten die Fragen nach der menschlichen, weiblichen Figur und den Möglichkeiten ihrer Darstellung in monumentaler Plastik offen und in Bewegung.

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FAZIT

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die klassische Bildhauerei im Zuge der Herausbildung neuer Tendenzen und künstlerischer Praktiken  – Happening, Performance, Environment, Installations- und Konzeptkunst etc.  – zunehmend als obsolet marginalisiert, während gleichzeitig „die Darstellung des nackten weiblichen Körpers, der für alles herhalten mußte, von Symbolen und Metaphern über formale Experimente bis zur Masturbation560“, heftig diskutiert wurde. Thomas Schüttes großformatige Metallplastiken Frauen thematisieren seit den späten 1990er Jahren diese beiden zentralen Themen der Kunst, die sich im 20. Jahrhundert zunächst zugespitzt hatten, dann ausführlich hinterfragt und in der Folge weitestgehend beiseitegelegt wurden: Erstens zielen die übermenschengroßen Figuren aus Stahl, Bronze und Aluminium auf die Problematik klassischer Kunstgattungen, insbesondere auf die Bildhauerei und in diesem Zusammenhang, dem die Krise der Figuration inhärent ist, zweitens auf das Sujet des weiblichen Aktes als traditionelle Formel für Kunst, als „meistgeschätzte[s] Bild“561 und als „häufigste Metapher“562. Bereits auf der Ebene der Herstellung verhandeln die Frauen Praktiken klassischer Bildhauerei in der Kombination mit Strukturen, Strategien und Elementen verschiedener Arbeitskontexte zu mehrfachkodierten Prozessen der Produktion. Die heterogenen, aus unterschiedlichen Kontexten – Kunst, Industrie, Wissenschaft, Handwerk etc. – stammenden Verfahren sammeln sich innerhalb der Werkgruppe an und führen zu künstlerischen Ergebnissen, die ihr Produziertsein, als Produkte ihrer Herstellung, demonstrieren und reflektieren. Diese Prozesse werden durch die Anlage der Arbeiten als Werkgruppe sichtbar, die die einzelnen Herstellungsschritte dokumentieren und darüber hinaus nicht ein einziges Ergebnis produzieren, sondern eine Reihe von Plastiken, die gemeinsam das Werk, das in sich unabgeschlossen bleibt und im Prozess verharrt, bilden.563 Somit treten in der Produktion der Metallfiguren im monumentalen Format Konzepte des Ereignishaf-

  Sandqvist 2002, S. 146.  Ebd. 562  Ebd. 563   Abgesehen von ihrer Sichtbarmachung im Ausstellungsraum anhand der gemeinsamen Präsentation mehrerer Frauen zusammen mit den ihnen zugrundeliegenden Skizzen, werden die Herstellungsschritte durch Fotos und Künstleraussagen in Publikationen deutlich. 560 561

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Fazit

ten, des Performativen, des Inszenatorischen hervor, die die klassische Plastik durch neue Verfahren aktualisieren, sie in den zeitgenössischen Kontext transportieren. Darüber hinaus macht der Blick auf die Produktionsprozesse ein verzweigtes Hersteller-Netzwerk deutlich, in dem das verwendete Material besondere Bedeutung hat. Der zweifache Materialwechsel – horizontal (oder asynchron) von Ton über Gips zu Metall und vertikal (oder synchron) in Stahl, Bronze und Aluminium – betont diesen Akteur, der auf verschiedenen Ebenen Anteil an der Gestalt des Werks hat. Er bestimmt die Formen, die Volumina der Figuren und ebenfalls ihre Oberflächen(-Wirkungen) entscheidend mit, während Vorstellungen von einem inhaltlichen Aussagewert der Werkstoffe relativiert werden. Es wird klar, dass eine spezifische Materialästhetik im dynamischen Prozess und nicht innerhalb eines starren Korsetts einer singulären Entscheidung für ein bestimmtes, aussagekräftiges, angemessenes oder kontrastierendes Material angesiedelt ist. Auch beeinflusst das Material weiterhin wesentliche Produktionsparameter, indem seine spezifischen Ansprüche Orte, Techniken, Werkzeuge, Maschinen und menschliche Akteure vorgeben. Der vonseiten des Materials in den Blick genommene Produktionsprozess stellt sich somit als komplex und gleichsam dynamisch dar, indem er nicht nur Faktoren wie Technisierungsgrad, Arbeitsteiligkeit, Körperbezogenheit und Subjektbezogenheit verschiebt, sondern auch klassische Vorstellungen von Künstler und Kunstwerk in binären Strukturen und weitere Dichotomien (alt/neu, high/low etc.) destabilisiert. Dabei entstehen Freiräume, die die Bearbeitung der beiden zentralen Themen erst ermöglichen. Das Konzept der Ausführung, das durch die Ausdifferenzierung und Multiplikation in unterschiedlichen Materialien zusätzlich betont wird, erscheint als zentrale Strategie, denn die Frauen entstehen erst durch ihre physisch-materielle Herstellung. Im und durch den Prozess wird ein Formenrepertoire geschaffen, das sich die eigenen Ergebnisse immer wieder einverleibt. Material wird zur Form, diese Form wird wieder Material, das zur Form wird, die wiederum übersetzt wird und so weiter. Diese zahlreichen Transforma­ tionsprozesse verwischen nicht nur die Grenzen zwischen Form und Material, sondern sie konstruieren die Figuren auch auf ihrer visuellen Ebene, indem das Dargestellte sich durch sie formuliert. Die zahlreichen mehr oder weniger grob ausgeführten Entwürfe führen nicht zu einer Idealform, sondern mehrere Varianten werden herausgegriffen, weiterbearbeitet und weiter mit Quellen aus verschiedenen Kontexten (der Kunstgeschichte, Realität, Fiktion) angereichert. Es wird deutlich, dass die Anlage eines Repertoires nicht nur in heterogenen Ergebnissen kumuliert, sondern dass sie darüber hinaus auslotet, was Bildhauerei und was weiblicher Akt bedeuten können. An der Stelle verschiebt sich der Fokus von einer handwerklich-künstlerischen, materiellen Ebene auf eine kunsthistorisch-ästhetische, inhaltliche und das Sujet gerät in den Blick. Seit den 1960er Jahren erfährt die künstlerische Beschäftigung mit dem menschlichen Körper, insbesondere mit dem weiblichen Körper, einen radikalen Richtungswechsel und findet kaum mehr in der traditionellen Bildhauerei statt. Als Schütte sich in den späten 1990er Jahren auf dieses Feld begibt, gilt es als chauvinistisch und überholt und es

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FAZIT

stellt sich die Frage, wie weibliche Aktplastiken vor den Hintergründen der Jahrhunderte alten Darstellungsgeschichte und der gegenwärtigen Debatte überhaupt möglich sind. Die den Frauen inhärenten weiblichen, männlichen, menschlichen, übermenschlichen, tierischen Formen und ihre Bezüge auf die unterschiedlichsten (klassischen) Darstellungsformen und konkreten Vorbilder passen nicht in eine symbolische Ordnung. Somit durchbrechen sie dominante visuelle Codes und entziehen sich in ihrer pluralistischen Ausführung – nicht nur in den verschiedenen Materialien, sondern ebenfalls in 18 verschiedenen Ausformulierungen – einer eindeutigen Zuordnung. Sie wirken der Festsetzung einer auf wenige Grundpositionen abgestellten Figuration des (idealen) Weiblichen entgegen und das Thema des weiblichen Aktes wird durch die letztendlich zur Differenzierung führende achtzehnfache Wiederholung semantisch entleert, um aktualisiert werden zu können. Fundamentale Parameter und Darstellungsmodi der Bildhauerei (Ganzheit/Fragmentierung, Statik/Dynamik, Abstraktion/Naturalismus, Allgemeines/Spezielles, Spannung/Entspannung, Horizontalität/Vertikalität, Kalkül/Zufall etc.) kommen auf der Folie eines ihrer tradiertesten Sujets zum Ausdruck. Und durch diese Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Gattung am Beispiel des weiblichen Aktes, wird nicht nur die Bildhauerei verhandelt, sondern auch der weibliche Akt. Über die Beschäftigung mit der Form gelangt man zu einer Beschäftigung mit dem Inhalt und die Trennung von Form und Inhalt kann ein weiteres Mal nicht aufrechterhalten werden; diese Relation muss in Bewegung gehalten werden. Form und Kontext der Präsentation der Frauen sind entscheidend daran beteiligt, welche und in welcher Intensität die ihnen innewohnenden Potentiale abgerufen werden. Zunächst unterstützen und erhalten die Stahlkonstruktionen, in und auf denen die Figuren ausgestellt werden, als Instrumente des In-der-Schwebe-Haltens durchgängig den offenen Vorschlagscharakter der Frauen. Auch die sukzessive, stets im Gruppenbzw. Œuvreverbund stattfindende Präsentation der anwachsenden Werkgruppe zu Beginn ihrer Ausstellungshistorie und ihr stetiges Begleiten durch Texte, Fotos und Interviews stabilisieren dieses essentielle Werkkonzept und speisen die Frauen eingebettet Schritt für Schritt in den internationalen Kunst-Diskurs ein. In den Fällen, in denen sie einzeln an die Öffentlichkeit gelangen und dauerhaft ausgestellt werden, entfalten sie kontextabhängig ihre kritischen, die Ikonographie, Topologie, Biografie oder den Kanon betreffenden Facetten. Dann zirkulieren sie weiter – materiell-physisch und auch analog und digital abgebildet – um die Welt und halten die offenen Fragen nach der menschlichen, weiblichen Figur und den Möglichkeiten ihrer Darstellung in monumentaler Plastik in der Schwebe.

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1  First Ceramic Sketches, 1997, glasierte Keramik, Holz, je Keramik ca. 44 × 33 × 83 cm, Installationsansicht/ Sammlung: Kunsthalle zu Kiel, 1998

2  Es tut mir leid – es tut mir sehr leid, 1999, glasierte Keramik, Stahl, je 168 × 84 × 46 cm, Installations­ ansicht: Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld, 1999, Sammlung: Friedrich Christian Flick Collection, Zürich

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3  Ceramic Sketches, 1997–99, glasierte Keramik, Stahl, je Stahlregal 200 × 100 × 50 cm, Installationsansicht: DIA Art Foundation, New York, 1999/2000

4  Frau Nr. 13, 2003, Gips, 185 × 125 × 250 cm

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5  Thomas Schütte arbeitet am Gipsmodell Frau Nr. 17, 2006

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6  Schiff (Modell 1:20), 1980, Sperrholz, 25 × 50 × 25 cm

7  Laufbahn I, Stein und Glas, 1987, Buchenholz, bemaltes Rollbrett, Zementziegel, Glühbirne, Glas, 95 Figuren je 37 × 12 × 3 cm, Installationsansicht: Konrad Fischer Galerie, Düsseldorf, 1987, Sammlung: Friedrich Christian Flick Collection, Zürich

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8  Mann im Matsch (1. Version), 1982/83, Wachs, Sperrholz, Stahl, Figur 12 × 6 × 4 cm

9  Mohr’s Life, 1988, Mischtechnik, ca. 180 × 350 × 300 cm, Installationsansicht: De Appel, Amsterdam, 1989, Sammlung: Friedrich Christian Flick Collection, Zürich

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10  Alain Colas, 1989, Mischtech­ nik, 132 × 120 × 80 cm, Installa­ tionsansicht: Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, 2010, Sammlung: Museo Canto­ nale d’Arte, Lugano

11  Die Fremden, 1991/92, glasierte Keramik, Lebensgröße, Installationsansicht: documenta IX, Kassel, 1992

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12  Große Geister, 1997–99, Aluminium, Höhe ca. 250 cm, Installationsansicht: Haus der Kunst, Mün­ chen, 2009, Sammlung: De Pont Foundation for Contemporary Art, Tilburg

13  Urnen, 1999, ­glasierte Keramik, Größe variabel, Installations­ansicht: DIA Art Foundation, New York, 1999/2000

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14  Aluminiumfrau Nr. 1, 1999, lackiertes Aluminium, Stahl, 160 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: Castello di Rivoli – Museo d’Arte Contemporanea, 2012, Sammlung: Thomas Schütte Stiftung, Düssel­ dorf

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15  Ceramic Sketch, 1997, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

16  Schlafende Ariadne, Marmor, Breite: 195 cm, Sammlung: Museo Pio Clementino, Rom

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17  Bronzefrau Nr. 1, 2000, patinierte Bronze, Stahl, 160 × 125 × 250 cm, Installationsansicht/Samm­ lung: Kunsthalle Bielefeld

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18  Bronzefrau Nr. 1, 2000, patinierte Bronze, Stahl, 160 × 125 × 250 cm, Installa­ tionsansicht/Sammlung: Kunsthalle Bielefeld

19  Bronzefrau Nr. 6, 2000, patinierte Bronze, Stahl, 163 × 125 × 250 cm, Installa­ tionsansicht: Konrad Fischer Galerie, Düsseldorf, 2001, Sammlung: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düssel­ dorf

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20  Bronzefrau Nr. 6, 2000, patinierte Bronze, Stahl, 163 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: Konrad Fischer Galerie, Düsseldorf, 2001, Sammlung: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

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21  Aluminiumfrau Nr. 12, 2007, lackiertes Aluminium, Stahl, 130 × 125 × 251 cm, Installationsansicht: Kunsthalle Vogelmann, Heilbronn, 2014

22  Ceramic Sketch, 1998, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

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23  Schlafender Hermaphrodit, Marmor, Breite: 148 cm, Sammlung: Museo Nazionale Romano, Rom

24  Bronzefrau Nr. 15, 2002–04, patinierte Bronze, Stahl, 173 × 125 × 250 cm

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25  Bronzefrau Nr. 14, 2003, patinierte Bronze, Stahl, 215 × 125 × 250 cm

26  Ceramic Sketch, 1997–99, glasierte Kera­ mik, ca. 25 × 20 × 33 cm

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27  Aluminiumfrau Nr. 7, 2002, Aluminium, Stahl, 130 × 125 × 250 cm

28  Ceramic Sketch, 1997–99, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

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29  Stahlfrau Nr. 4, 1999, Stahl, 110 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: DIA Art Foundation, New York, 1999/2000

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30  Ceramic Sketch, 1997–99, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

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31  Bronzefrau Nr. 8, 2002, patinierte Bronze, Stahl, 129 × 268 × 125 cm, Installationsansicht: Jarla Partilager, Stockholm, 2006/07, Sammlung: Thomas Schütte Stiftung, Düsseldorf

32  Stahlfrau Nr. 16, 2004, Stahl, 180 × 125 × 250 cm

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33  Ceramic Sketch, 1997–99, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

34  Stahlfrau Nr. 9, 2002, Stahl, 160 × 250 × 125 cm

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35  Torso vom Belvedere, Marmor, Höhe: 159 cm, Sammlung: Museo Pio Clementino, Rom

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36  Bronzefrau Nr. 5, 2000, patinierte Bronze, Stahl, 182 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: Schloss­ park Wendlinghausen, 2000, Sammlung: Friedrich Christian Flick Collection, Zürich

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37  Ceramic Sketch (Figure of Blue Woman), 1999, glasierte Keramik, ca. 21,5 × 19 × 31,5 cm

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38  Aristide Maillol: La Montagne, 1937, Blei, Breite: 193 cm, Installa­ tionsansicht: Jardin des Tuileries, Paris

39  Bronzefrau Nr. 3, 2000, pati­ nierte Bronze, Stahl, 145 × 125 × 250 cm, Installations­ ansicht/Sammlung: Kunstmuseum Winterthur

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40  Ceramic Sketch, 1997, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

41  Aristide Maillol: La Nuit, 1909, Bronze, Breite: 112 cm, Installationsan­ sicht: Jardin des Tuileries, Paris

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42  Aristide Maillol: La Nuit, 1909, Bronze, Breite: 112 cm, Installationsansicht: Jardin des Tuileries, Paris

43  Stahlfrau Nr. 10, 2002, Stahl, Aluminium, 215 × 125 × 250 cm

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44  Ceramic Sketch, 1997–99, glasierte Keramik, ca. 26 × 19,5 × 33,5 cm

45  Bronzefrau Nr. 13, 2003, patinierte Bronze, Stahl, 185 × 125 × 250 cm

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46  Ceramic Sketch, 1997, glasierte Keramik, ca. 15 × 20 × 33 cm

47  Crouching Venus, Marmor, Höhe: 125 cm, Installationsansicht/ Sammlung: British Museum, Lon­ don

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48  Aluminiumfrau Nr. 2, 2000, Aluminium, Stahl, 137 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: Castello di Rivoli – Museo d’Arte Contemporanea, 2012

49  Ceramic Sketch, 1997–99, glasierte ­Keramik, ca. 16,5 × 45 × 27,3 cm

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50  Ceramic Sketch, 1998, glasierte Keramik, ca. 16 × 31,5 × 19,5 cm

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51  Ceramic Sketch, 1997, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

52  Ceramic Sketch, 1997–99, glasierte Keramik, ca. 25 × 20 × 33 cm

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53  Aluminiumfrau Nr. 11, 2002, Aluminium, Stahl, 153 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, 2010

54  Ceramic Sketch, 1999, glasierte Keramik, 17 × 21 × 33 cm

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55  Bronzefrau Nr. 17, 2006, patinierte Bronze, Stahl, 202 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: De Pont Museum, Tilburg, 2006

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56  Bronzefrau Nr. 18, 2006, patinierte Bronze, Stahl, 142 × 125 × 250 cm

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57  Ausstellungsplan Thomas Schütte. In Medias Res, DIA Art Foundation, New York, 1999/2000

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58  Stahlfrauen Nr. 1–4, Stahl, Installationsansicht: DIA Art Foundation, New York, 1999/2000

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59  Mirrow Drawings, 1999, Wasserfarbe, Tusche, Buntstift auf Papier, 38 × 28 cm

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60  Mirrow Drawings, 1998, Wasserfarbe, Tusche auf Papier, 38 × 28 cm

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61  Bronzefrau Nr. 1, 1999–2000, patinierte Bronze, Stahl, 160 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: Schlosspark Wendlinghausen, 2000

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62  Installationsansicht Frauen, Castello di Rivoli – Museo d’Arte Contemporanea, 2012

63  Installationsansicht Frauen, Museum Folkwang, Essen, 2013/14

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64  Bronzefrau Nr. 1, 2000, patinierte Bronze, Stahl, 160 × 125 × 250 cm, Installationsansicht/Samm­ lung: Kunsthalle Bielefeld

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65  Stahlfrau Nr. 12, 2002–03, Stahl, 130 × 125 × 250 cm, Installationsansicht/Sammlung: Sammlung Goetz, München

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66  Bronzefrau Nr. 2, 2000, patinierte Bronze, Stahl, 137 × 125 × 250 cm, Installationsansicht: Haus Esters, Krefeld

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67  Bronzefrau Nr. 4, 1998/2000, patinierte Bronze, Stahl, 110 × 125 × 250 cm, Installationsansicht/ Sammlung: Walker Art Center, Minneapolis, Erworben mit Mitteln der Frederick R. Weisman Collection of Art, 2000

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68  Stahlfrau Nr. 11, 2002, Stahl, 153 × 125 × 250 cm, Installationsansicht/Sammlung: Museum Folkwang, Essen

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LITERATUR

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BILDNACHWEIS

© Kunstmuseen Krefeld – ARTOTHEK (Foto: Volker Döhne): Abb. 2 © Museum Folkwang Essen – ARTOTHEK: Abb. 68 Royal Collection Trust/© HM Queen Elizabeth II 2019, Foto: British Museum: Abb. 47 Gino Bühler: Abb. 5 Joaquín Cortés/Román Lores: Abb. 10, 53 Peter Cox © VG Bild-Kunst, Bonn 2020: Abb. 55 Candida Höfer © VG Bild-Kunst, Bonn 2020: Abb. 6 Florian Holzherr: Abb. 12 Mathias Johansson: Abb. 31 Helmut Kunde, Strande: Abb. 1 Philipp Ottendörfer © Kunsthalle Bielefeld: Abb. 64 Paolo Pellion: Abb. 62 Wilfried Petzi: Abb. 65 Thomas Ruff © VG Bild-Kunst, Bonn 2020: Abb. 7 Thomas Schütte © VG Bild-Kunst, Bonn 2020: 1–15, 17–22, 24–34, 36, 37, 39, 40, 43–46, 48–68 Thomas Schütte. Scenewright – Gloria in Memoria – In Medias Res, Ausst. Kat., Dia Art Foundation New York, Düsseldorf 2002, S. 95: Abb. 57 Nic Tenwiggenhorn © VG Bild-Kunst, Bonn 2020: Abb. 3, 4, 13–15, 17–22, 24–30, 32–34, 36, 37, 39, 40, 43–46, 48–52, 54, 56, 58, 61, 63, 66 Trotz intensiver Recherchen war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber der Abbildungen ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

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