Schulvielfalt als Verfassungsgebot [1 ed.]
 9783428472789, 9783428072781

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FRANK-RÜDIGER JACH

Schulvielfalt als Verfassungsgebot

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 608

Schulvielfalt als Verfassungsgebot

Von Dr. Frank-Rüdiger Jach

Μψ UJHSü JVeritasL ) Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Jach, Frank-Rüdiger: Schulvielfalt als Verfassungsgebot / von Frank-Rüdiger Jach. Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 608) ISBN 3-428-07278-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1 9 9 1 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07278-2

Inhaltsverzeichnis

Α.

Vorbemerkung

7

Β.

Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

8

I. Π.

Der Begriff der staatlichen Schulaufsirht Die extensive Auslegung der staatlichen Schulaufsicht

8 11

ΙΠ.

Die Legitimation der umfassenden staatlichen Schulaufsicht

13

IV.

Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen S c h u l a u f s i c h t . . .

18

1. Die Anknüpfung an den historisch überlieferten Begriff der staatlichen Schulaufsicht

19

a) Staatliche Schulaufsicht unter der Weimarer Reichsverfassung

19

b) Das Verhältnis von Elternhaus und Schule unter der Weimarer Reichsverfassung

20

c) Die Rechtsstellung des Kindes in der Schule unter der Weimarer Reichsverfassung

21

d) Zusammenfassende Wertung der historischen Entwicklung staatlicher Schulaufsicht

22

2.

Systemgerechte Auslegung der staatlichen Schulaufsicht

23

3.

Die Bedeutung des Sozialstaats- und Demokratieprinzips

28

4.

Schulaufsicht und die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes . . . .

29

a) Die objektivrechtliche Bedeutung der Grundrechte im Bereich der Schulverfassung

30

b) Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates und Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren C.

Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht I. Π. ΙΠ.

IV.

32 34

Elternrecht und staatliche Schulhoheit als eigenständige Rechte

34

Rechte der Eltern in der Schule

37

Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das elterliche Erziehungsrecht bei der Organisation und Ausgestaltung des Schulwesens

40

1. Schulvielfalt und elterliches Erziehungsrecht

40

2.

45

Partizipationsrechte und staatliche Schulaufsicht

Das Wahlrecht der Eltern zwischen privater und staatlicher Schule

48

Inhaltsverzeichnis

6

1. Privatschulfreiheit als Untenichtsfireiheit 2.

im Grundschulbereich 3.

48

Die Zulassung privater Ersatzschulen mit besonderer pädagogischer Prägung 51

Die materielle Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft

53

4. Zum Verhältnis von Schulvielfalt und Schulen in freier Trägerschaft

55

5.

Die Beteiligung der Schulen in freier Trägerschaft an der staatlichen Schulaufsicht

57

D. Schulaufsicht und das Recht des Kindes auf freie und umfassende Entfaltung seiner Persönlichkeit I. Π.

Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das Persönlichkeitsrecht des Kindes

59

Die Bedeutung des Menschenbildes des Grundgesetzes für die schulische Erziehung

62

ΙΠ.

Mündigkeit als umfassendes Erziehungsziel der Schule

65

IV.

Zusammenfassende Betrachtung der objektivrechtlichen Dimension des A r t 2 Abs. 1 GG im Schulverhältnis

E.

59

Schulvielfalt als Verfassungsauftrag - Abschließende Betrachtungen

Literaturverzeichnis

74 78 85

Α. Vorbemerkung

Die Schule wird unter der Geltung des Grundgesetzes weithin als eine Domäne des Staates angesehen. Geprägt durch ein etatistisches Schulverfassungsverständnis lebt die Vermittlung kultureller Werte und Handlungsorientierungen damit ungeachtet einer von pluralistischen Wertvorstellungen geprägten Gesellschaft in der preußisch-absolutistischen Tradition einer umfassenden Gestaltungsbefugnis des Staates im Bereich der schulischen Erziehung. Dies hat zur Folge, daß das staatliche Schulsystem durch ein allgemein verbindliches Unterrichtskonzept geprägt wird, innerhalb dessen aufgrund der umfassenden Dienst-, Fach- und Rechtsaufsicht des Staates nur sehr bedingt Raum für pädagogische Alternativen besteht. Diese sind substantiell allenfalls im Bereich der Schulen in freier Trägerschaft möglich, die jedoch als sogenannte Privatschulen lediglich eine geduldete Insel im Meer der pädagogischen Eintönigkeit darstellen und einer weitreichenden materiellen und rechtlichen Ungleichbehandlung im Vergleich zu den staatlichen Schulen ausgesetzt sind. Im Zeitalter der Postmoderne als "Verfassung radikaler Pluralität"1 mag die Thematisierung von 'Schulvielfalt als Verfassungsgebot' dem unbefangenen Leser zunächst vielleicht als eine Art modernistischer Grundrechtstheorie erscheinen. Dahinter verbergen sich jedoch grundlegende Fragen eines freiheitlichen Kulturverfassungsverständnisses, welches die Tradition der Veranstaltung von Schule als eine primär staatliche Angelegenheit in Frage stellt, um der kulturellen Vielfalt einer demokratischen Gesellschaft auch im Bereich der Schule gerecht zu werden und den Grundrechten von Eltern und Schülern in ausreichender Weise Geltung zu verschaffen.

1

Wolfgang

Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1988, S. 4; s.a. Christian Rittel-

meyer, Die entmachtete Aufklärung. Pluralität und Intuition in der postmodernen Schule, in: Die Deutsche Schule, 1990, S. 408 ff.

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

I. Der Begriff der staatlichen Schulaufsicht Nach Art. 7 Abs. 1 GG steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Diese Verfassungsnorm wird allgemein als institutionelle Garantie1 für die Staatsaufsicht über alle, d.h. auch private2, Schulen verstanden, wobei für Verständnis und Reichweite des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht von der h.M. in Lehre und Rechtsprechung nach der sogen. Anknüpfüngsmethode auf die Weimarer Reichsverfassung verwiesen wird3. Der Begriff der staatlichen Schulaufsicht in Art. 7 Abs. 1 GG wird dabei aus Art 144 Abs. 1 WRV entnommen und als gleichbedeutend mit diesem angesehen4. Schulaufsicht des Staates meint insoweit nicht die Aufsicht i.S. einer Staatsaufsicht über eine Selbstverwaltungskörperschaft (Schule), sondern umfaßt im Bereich der staatlichen Schulen eine unmittelbare staatliche Gestaltungsbefugnis sowohl über die Verwaltung der Schule als auch ihre inhaltliche Ausrichtung5 und wird als Inbegriff der staatlichen Herrschaftsrechte zur Organi1

Friedrich

Klein, in: Hennann von Mangoldt/Friedrich Klein. Das Bonner Grundgesetz, Kom-

mentar, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin und Frankfurt/M. 1957, A r t 7 Anm. ΠΙ 1 b, 2; Bruno Schmidt-BleibtreuJFranz Klein, Kommentar zum GG, 5. Aufl., Bonn 1980, A r t 7 Rdnr. 3; Hans Peters, Elternrecht, Erziehung, Bildung und Schule, in: Karl August Bettermann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner, Die Grundrechte, Berlin 1960, Bd. IV, 1, S. 369 (403). 2

Klein, Art. 7, Anm. ΙΠ 2; Schmidt-B leibtreu/Klein,

3

Thomas Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, Tübingen 1969, S. 252; Wolfgang

A r t 7, Rdnr. 8; BVerfGE 27,201.

Lehrfreiheit des Lehrers, in: DÖV 1970, 34 (38); Schmidt-BleibtreulKlein,

Perschel, Die

A r t 7, Rdnr. 8; zur Kritik an

der sogen. Anknüpfungsmethode s. S. 19 ff. 4

Vgl. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 252; Perschel, Die Lehrfreiheit.., S. 38; Schmidt-

BleibtreulKlein, 5

A r t 7, Rdnr. 3; BVerwGE 6,101 (104).

Vgl. Axel v. Campenhausen, Erziehungsauftiag und staatliche Schulträgerschaft, Göttingen 1967,

S. 21; Hans-Ulrich Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, Berlin 1979, S. 55; Frank Hennecke, Staat und Unterricht, Berlin 1972, S. 108 f.; Peters, Elternrecht, Erziehung und... Schule, S. 410, Christian Starck, Freiheitlicher Staat und staatliche Schulhoheit, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (Bd. 8), Münster 1975, S. 10; Martin Stock, Pädagogische Freiheit und politischer Auftrag der Schule, Heidelberg 1971, S. 77; Ingo Richter, Kommentiemng zu A r t 7 GG, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in 2 Bd. (Reihe Alternativkommentar), Bd. 1, Neuwied und Darmstadt 1984, Art. 7 Rdnr. 2.

I. Der Begriff der staatlichen Schulaufsicht

9

sation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens verstanden6. An. 7 Abs. 1 GG ermächtigt danach den Staat sowohl zur Ausübung der Schulaufsicht im Sinne der behördlichen Überwachung der inneren und äußeren Schulangelegenheiten als auch zur Ausübung der Schulhoheit7 und impliziert nach dem herrschenden Schulverfassungsverständnis "die zentrale Organisationsplanung und -gestaltung, also Struktur, Aufbau und Trägerschaft des Schulwesens in seiner Gesamtheit; die inhaltliche Ausrichtung der Schule durch Normierung der Bildungsziele, Lernziele und -inhalte, durch Entwicklung und Revision verbindlicher Richtlinien, Curricula und Lehrpläne; die Festlegung zentraler Leistungs- und Bewertungsstandards; die Ordnungen der Schulverfassung, der Rechtsstellung des Lehrers, der Schulpflicht und des Schulverhältnisses mit allen seinen Inhalten und Folgerungen; die Zulassung von Schulbüchern und sonstigen Lernmitteln, die Bekanntgabe der Stundentafeln und der Lehrpläne in ihren Einzelheiten, die Festlegung der Mindestanforderungen für Bau und Ausstattung der Schulen und zahlreiche andere Maßnahmen normierender und gestaltender Art"8. Die Vorschrift des Art. 7 Abs. 1 GG wird so in seiner Grundkonzeption als die Fortführung der Staatsbezogenheit des Schulwesens, die Unterricht und Erziehung in den Schulen grundsätzlich als öffentlich-rechtliche Tätigkeit in der Verantwortung des Staates betrachtet, angesehen9. Insofern setze Art. 7 Abs. 1 GG mit der Schulaufsicht des Staates auch ein staatliches Schulerziehungsrecht voraus10 bzw. gehe von einem staatlichen Erziehungsauftrag aus11, so daß unter staatlicher Schulaufsicht immer auch ein Schulerziehungsauftrag zu verstehen sei12. Dementsprechend "gehen höchstrichterliche Rechtsprechung und Schrifttum durchweg davon aus, daß die staatliche Erziehung in der Schule in Art. 7 Abs. 1 GG ihre grundsätzliche verfassungsrechtliche Grundlage findet" 13. Dem Staat obliegt danach in der Schule nicht nur die Unterrichtung und Bildung 6

BVerfGE 47, 46 (80); BVerwGE 47, 194 (198) jew.std.Rspr.; s.a. v. Campenhausen, S. 20; An-

dreas Hamann/Helmut Lenz; Kommentar zum GG, 3. Aufl., Berlin 1970, A r t 7 Rdnr. Β 2; Hans HeckeUPauI Seipp, Schulrechtskunde, 5. Aufl., Neuwied und Darmstadt 1976, S. 158 f.; Norbert Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, München 1976, S. 9 f.; Schmidt-BleibtreuJ Klein, A r t 7, Rdnr. 5; Albert Rau, Emanzipation und politischer Unterricht aus verfassungsrechtlicher Sicht, München 1978, S. 118. 7

Hans Heckel/Hermann

Avenarius, Schulrechtskunde, Neuwied und Darmstadt 1986, S. 165; Ek-

kehart Stein/Monika Roell, Handbuch des Schulrechts, Köln/Berlin/Bonn/München 1988, S. 24. 8

Heckeil Avenarius, S. 165 f.

9

Vgl.: v. Campenhausen, S. 23; Klaus Grupp, 'Schülerstreik' und Schulbesuchspflicht, DÖV 1974,

661 (665); Niehues, S. 7; Klein, Art. 7, Anm. ΠΙ 2; Οpp er mann, Kulturverwaltungsrecht, S. 237, 252; Starck, Freiheitlicher Staat..., S. 18 ff. 10

BVerfGE 34,165 (183); 41,29 (44); 47,46 (72).

11

Niehues, S.22.

12

Ursula Fehnemann, Bemerkungen zum Elternrecht in der Schule, DÖV 1978,489 (491) m.w.N.

13

Erichsen, Verstaatlichung ..., S. 12.

10

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

der Kinder in Form der Vermittlung von Wissen, sondern ebenso die Erziehung der Schüler14. In diesem Sinn führt das Bundesverfassungsgericht aus, daß sich "der Lehr- und Erziehungsauftrag der Schule nicht darauf beschränkt, nur Wissen zu vermitteln. ... Die Aufgaben der Schule liegen auch auf erzieherischem Gebiet"15. Dem staatlichen Erziehungsrecht entsprechend gehört danach zum staatlichen Gestaltungsbereich auch die Festlegung der Unterrichts- und Erziehungsziele16. Der Auftrag der Schule, den Art. 7 Abs. 1 GG nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts voraussetzt, hat neben der Aufgabe, Wissensstoff zu vermitteln, insoweit "auch zum Inhalt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden"17. Die Institution Schule ist demnach "nicht notwendig nur eine Anstalt zur Erschließung und Förderung von Begabungen, sie soll auch zur Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und zu seiner Eingliederung in die Gesellschaft beitragen"18. Der schulische Erziehungsauftrag umfaßt daher auch die Erziehung zum Sozialverhalten19, wobei der Staat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch die unterschiedlichen

14 Jörg Berkemann, Die 'politischen Rechte' des Schülers, in: Knut Nevermann/Ingo Richter (Hrsg.)« Rechte der Lehrer, Rechte der Schüler, Rechte der Eltern, München 1977, S. 102 (107); Ernst-Wolfgang Böckenforde, Zum Ende des Schulgebetsstreits, in: DÛV 1980, 323; Bernd Clevinghaus, Recht auf Bildimg, Diss. Bremen, S. 348 b; Lutz Dietze, Schulverfassung und Grundgesetz, Diss. Mainz 1973, S. 262; ders., Verfassungsfragen lernzielorientierter Curricula, in: DVB1 1976, 389 (395); Evers, Die Befugnis des Staates..., S. 35; Hans Uwe Erichsen, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht zum staatlich-schulischen Erziehungsauftag und zur Lehre vom Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, in: VerwArch 1978, 387 (392); Hamann/Lenz, Art. 7, Rdnr. Β 1; HeckeVSeipp, S. 266; Dieter Hasselberger, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Erziehungs-, Sicherungs- und Strafmaßnahmen gegenüber Schülern, in: RdJB 1974,17 (18); Jürgen Kohl, Schule und Eltern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, München 1984, S. 201 (202 f.); Siegfried Lang, Das Schulveihfiltnis als Anstaltsverhältnis, Diss. München 1969, S. 122; Niehues, S. 10; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 190; ders., Elterliches Erziehungsrecht und staatliche Schulerziehung, in: Kurt Aurin u.a. (Hrsg.), Die Schule und ihr Auftrag, Mainz 1979, S. 71 (84 f.); Ossenbiihl, Rechtliche Grundfragen der Erteilung von Schulzeugnissen, Berlin 1978, S. 40; Peters, S. 405; SchmidtBleibtreu/Klein,

Art. 7, Rdnr. 6; s. hierzu nachstehend S. 34 ff.

15

BVerfGE 47,46 (72).

16

BVerfGE 47,46 (71 f.); BVerfG NJW 1981, 1056; Hans Uwe Erichsen, Geltung und Reichweite

von Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt Zur Regelungskompetenz im Schulverhältnis. Das Recht auf Bildung, VerwArch 67 (1976), 93 (97). 17

BVerfGE 47,46 (72).

18

BVerfGE 34,165 (188).

19

BVerfG NJW 1982, 250; vgl. auch Hennecke, Staat..., S. 24; Monika Franke, Grundrechte des

Schülers und Schulverhältnis, Darmstadt 1979, S. 39; Albrecht Leuschner, Das Recht der Schülerzeitungen, Berlin 1966, S. 65.

Π. Die extensive Auslegung der staatlichen Schulaufsicht

11

Wertvorstellungen auf diesem Gebiet zu achten und jeden Versuch einer Indoktrinierung zu einem bestimmten Sozialverhalten zu unterlassen habe20. In der historischen Entwicklung kann zwar kein Zweifel daran bestehen, daß unter staatlicher Schulaufsicht stets auch die staatliche Befugnis zur inhaltlichen Bestimmung des schulischen Erziehungsprozesses verstanden wurde, doch ist fraglich, inwieweit Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes noch als "rein aus der geschichtlichen Entwicklung weit auszulegender Sammelbegriff, der die Gesamtheit der Rechte und Pflichten des Staates zur äußeren und inneren Gestaltung des Schulwesens einschließlich der Aufsicht im engeren Sinne"21 umfaßt, verstanden werden kann. Hierbei hat schon Ekkehart Stein auf die Problematik eines weit gefaßten Schulaufsichtsbegriffs hingewiesen, der es dem Staat selbst überläßt, "darüber zu bestimmen, welche geistigen Strömungen den Schülern vermittelt und auf welche Weise die Kinder in der Schule geformt werden sollen"22. Es ist deshalb zu untersuchen, ob es angesichts der gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Entwicklung heute noch gerechtfertigt ist, von einem extensiven Schulaufsichtsbegriff und einer umfassenden staatlichen Bestimmungsgewalt mit einer bestimmten wertmäßigen Zielorientierung schulischer Erziehung auszugehen. II. Die extensive Auslegung der staatlichen Schulaufsicht Die h.M. statuiert mit ihrer Interpretation von Art. 7 Abs. 1 GG einen besonderen schulrechtlichen Aufsichtsbegriff, der über den eigentlichen und zulässigen Charakter der Rechtsaufsicht hinausgeht. Damit bemächtigt sich der Staat eines extensiven und unzulässigen Schulaufsichtsbegriffs, weil - wie Richter zutreffenderweise feststellt - "die im allgemeinen Verwaltungsrecht gebräuchliche Bestimmung des Staatsaufsichtsbegriffs als reine Rechtsaufsicht die inhaltliche Steuerung der Bildungsprozesse durch den Staat nicht erklären könnte"23. Dem Staat geht es also bei einer extensiven Auslegung des Schulaufsichtsbegriffs im wesentlichen um die Sicherung der geistigen Macht über das Schulwesen. Deutlich wird dies bei Oppermann, der den herrschenden umfassenden Schulaufsichtsbegriff darin begründet und gerechtfertigt sieht, "daß auch und gerade der demokratische Staat nicht darauf verzichten 2 0

BVerwGNJW 1982,250.

21

Thomas Oppermann, Nach welchen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stel-

lung der an ihm Beteiligten zu ordnen? - Gutachten C für den 51. Deutschen Juristentag, München 1976, S. C 47. 2 2

Ekkehart Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule, Neuwied und Berlin

1967, S. 44. 2 3

Richter, Kommentierung zu Art. 7, Rdnr. 18 a.

12

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

kann, seine künftigen Bürger mit den grundlegenden Werten vertraut zu machen, auf denen er sich aufbaut und deren Respektierung im Sozialleben vorausgesetzt wird. Die Schule, insbesondere soweit sie Pflichtschule ist, erweist sich als die natürliche Stätte für solche Pflege staatsbürgerlicher Erziehung"24. Dies entspricht einem Schulaufsichtsbegriff, der in seinen historischen Ursprüngen von der Notwendigkeit einer Erziehung der Gesellschaft und der Bürger durch den Staat ausging und in Preußen seinen Höhepunkt fand. Der Willensbildungsprozeß der Gesellschaft sollte sich danach auf staatlich gelenkten Bahnen vollziehen, denn die Kulturstaatsidee des 18./19. Jahrhunderts war ja keinesfalls auf die Kinder und die Schule beschränkt. Ein solches Verständnis steht jedoch im diametralen Gegensatz zu einer demokratischen Gesellschaft und deren Willensbildungs- und Selbstverwirklichungsprinzipien. Diese gehen davon aus, daß sich Willensbildung und Selbstverwirklichung in Unabhängigkeit von staatlichen Interessen zu vollziehen haben. Nur vor diesem Hintergrund läßt sich ein für das Grundgesetz systemgerechter Schulaufsichtsbegriff entwickeln und rechtfertigen. Der Parlamentsvorbehalt allein vermag dies nicht zu gewährleisten. Dieser ermöglicht zwar die größere Transparenz schulischer Erziehungsarbeit, nicht aber die notwendige selbständige gesellschaftliche Einflußnahme auf das Schulwesen. Darüber hinaus gewährleistet auch eine parlamentarische Gesetzgebungsbefugnis allein nicht den notwendigen Minderheitenschutz in Erziehungsfragen. Die extensive Interpretation des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht basiert letztlich auf der alten Angst der 'Kulturpolizei' vor gesellschaftlichem Einfluß auf das Schulwesen und der vermeintlichen Gefahr, die Kontrolle über die Bürger und ihr Verhalten zu verlieren. Deutlich wird dies auch bei Campenhausen; über die Fiktion des Staates als geschichtlich gewachsene Individualität, die nichts geistig-sittlich Indifferentes darstelle, wird die Schule verstanden als 'Gesinnungsschule'25. Schulische Erziehung wird dergestalt zu einer genuin staatlichen Aufgabe erklärt, die quasi zur Existenzvoraussetzung seiner selbst erhoben wird 26. Dahinter steht die Angst vor der Gefahr, daß die (Selbst-)Disziplinierungsmechanismen, die zur Formung des bürgerlichen Rechtssubjekts unumgänglich scheinen, ansonsten außer Kontrolle geraten könnten, denn die "Spontanität des Verhaltens der Staatsbürger bedarf immerwährender Pflege" 27 und so "gibt es Erziehungsbereiche, auf die Einfluß 2 4

Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 257. v. Campenhausen, S. 234 f.: "Die Schule ist der Ort, wo die Integration der Staatsbürger in das

Gemeinweisen im bildungsfähigen Alter vor allem geschieht.. Iii einem Rechts-, Sozial- und Kulturstaat wie der BRD kann es sich bei der Erziehung deshalb nicht nur um die Ausbildung von Menschen und wirtschaftliche und technische Aufgaben handeln, sondern es geht um die jungen Menschen selbst, ihre Gesinnung". 2 6

Vgl. z.B. Hennecke, Staat und Unterricht, S. 102; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 257.

2 7

v. Campenhausen, S. 234.

ΠΙ. Die Legitimation der umfassenden staatlichen Schulaufsicht

13

zu nehmen der Staat ein aus seinem Wesen begründetes Interesse haben muß. Denn seine Ordnung ist darauf begründet, daß seine Bürger fähig und willens sind, sie einzuhalten. Hierzu müssen sie erzogen werden"28. Hinter einer solchen Denkweise verbirgt sich in preußisch-absolutistischer Tradition die Vorstellung vom Staat als kulturellem Selbstzweck, in den sich die Bürger schlicht einzuordnen haben. Daß "in einem weltanschaulich neutralen Staat... Toleranz gegenüber der Pluralität der Eltern- und der Schülermeinungen und -Weltanschauungen und -glaubensrichtungen herrschen" muß29 und gerade in der kulturellen Vielfalt einer Gesellschaft der Reichtum und das Essentielle des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates liegt, scheint in diesem Denken zumindest im Bereich der schulischen Erziehung substantiell wenig ausgeprägt und allenfalls durch das Gebot staatlicher Neutralität in weltanschaulich-religiösen Fragen realisierbar. Demgegenüber gilt es, die Sicherung gesellschaftlicher Pluralität als sinnstiftendes Element von Staatsgewalt im Bereich der schulischen Erziehung anzuerkennen. Dabei sind schon die herrschenden Kriterien der Abgrenzung von staatlicher und privater Schule signifikant für das etatistische Staatsrechtsverständnis im Bereich des Schulverfassungsrechts. Danach liegt eine öffentliche, d.h. staatliche Schule immer dann vor, wenn "die Schule einen aus der Staatsgewalt abgeleiteten Bildungsauftrag erfüllt" 30, während jede Form eines in Hinsicht auf die weltanschauliche Basis, die Erziehungsziele sowie die Lehrmethoden und Lehrinhalte eigenverantwortlich geprägten Unterrichts dem Bereich des Privaten zugeordnet werden31. ΙΠ. Die Legitimation der umfassenden staatlichen Schulaufsicht Die extensive Auslegung der staatlichen Schulaufsicht wird von der h.M. mit der Fiktion der gegenseitigen Durchdringung bzw. mit der Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft bzw. der sich im Staat verkörpernden organisierten Gesellschaft32 begründet, wodurch in der Staatsschule Individual- und Allgemeininteresse in Einklang gebracht werden sollen33 und der Staat als Integra2 8

Raimund Wimmer, Das pädagogische Elternrecht, in: DVB11967, 809 f.

2 9

Hans W. Albers, Neue Religionen und Beamtenrecht - Sannyasin als Lehrer, in: NvWZ 1984, 92

(94). •Ό Albrecht Randelzhof er/Michael

Wein, Ausbildungsreform und Bestandsschutz im Privatschulbe-

reich, Berlin 1989, S. 37 unter Bezugnahme auf Maunz. Ebd. 3 2

HeckellSeipp, Schulrechtskunde, S. 216.

33 Ebd.

14

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

tìonsform der auseinanderstrebenden pluralistischen Gesellschaft34 erscheint und ein objektives Allgemeininteresse verfolge 35 und vertrete. Nun wäre zwar ein Schulsystem außerhalb jeglicher staatlicher Verantwortung angesichts der eindeutigen Aussage des Art. 7 Abs.l GG mit der Verfassung nicht vereinbar36, dies sagt jedoch nichts darüber aus, inwieweit der Staat verpflichtet ist, unter seiner Aufsicht den verschiedenen gesellschaftlichen Vorstellungen Raum zur Verwirklichung unterschiedlicher Erziehungsvorstellungen zu bieten, so daß eine grundsätzliche Kritik am Staatsschulwesen entgegen der Ansicht von Niehues37 sehr wohl mit Art. 7 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist Vor diesem Hintergrund gilt es, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Bereich des Schulwesens zu überdenken. Soweit die Ansicht vertreten wird, "das soziale System der modernen industriellen Gesellschaft ist zunächst einmal dadurch charakterisiert, daß die Trennung von Staat und Gesellschaft weggefallen ist, ...(da) Staat und Gesellschaft zusammenwachsen, und zwar von beiden Seiten her: indem der Staat mit seiner Tätigkeit alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchsetzt und indem die gesellschaftlichen Kräfte, zu Großverbänden organisiert, ihre Aktionen in den Staat hinein-, durch ihn hindurchleiten"38, ist offenkundig, daß dies auf den Bereich des Schulwesens nicht zutrifft. Der Staat beansprucht für die schulische Erziehung ein umfassendes Bestimmungsrecht, von dem die Gesellschaft insofern getrennt ist, als sie - von Wahlen abgesehen keine direkte Einflußmöglichkeit auf die Erziehungsarbeit des Schulwesens hat. So kann man im Schulwesen eben gerade nicht davon sprechen, "daß es sich in der Gegenüberstellung von 'Staat' und 'Gesellschaft' praktisch gesehen um denselben Verband handelt"39. Die staatliche Schule ist vom gesellschaftlichen Leben und ihren Institutionen getrennt und tritt, gestützt durch strafrechtliche Schulpflichtbestimmungen, Eltern und Schülern als mächtige Obrigkeit gegenüber, so daß es sich keinesfalls um einen einheitlichen Verbund handelt, zu dessen 'Verdoppelung in Staat und Gesellschaft' kein Anlaß bestehe40. Zwar hat der Gegensatz von Staat und Gesellschaft unter den heutigen gesellschaftlichen, verfassungspo3 4

Hans-Joachim Reeb, Bildungsauftrag der Schule, Frankfurt 1981, S. 23.

3 5

Henneck/t, Staat..., S. 34.

3 6

So auch Hennecke, Staat..., S. 119 m.w.N.: "Eine totale Privatisierung wäre verfassungswidrig".

3 7

Niehues, S.S.

3 8

Hans Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen, in: Emst Wolfgang Böckenförde

(Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, S. 199 (212). 3 9

Horst Ehmke, Staat und Gesellschaft als verfassungstheoretisches Problem, in: Böckenförde,

a.a.O., (s. Anm. 38) S. 241 (243). 4 0

A.a.O., S. 268.

ΙΠ. Die Legitimation der umfassenden staatlichen Schulaufsicht

15

litischen und rechtlichen Umständen "als dominantes Strukturmerkmal der politischen Ordnung an Bedeutung verloren"41, und es ist allgemein anerkannt, daß heute zumindest eine wechselseitige Durchdringung von Staat und Gesellschaft besteht42, obsolet ist dieser Gegensatz für das Schulwesen jedoch keinesfalls geworden. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist hinsichtlich der erzieherischen Kompetenzen, wenn man von der Privatschulfreiheit absieht, eben nicht von einer Durchdringung des anstaltlichen Herrschaftsapparats Schule43 geprägt. Das Ziel, die Trennung von Staat und Gesellschaft zu überwinden und den gesellschaftlichen Gruppen Einfluß auf das Staats- und damit das Schulwesen zu gewähren, setzt eine begriffliche Rückbesinnung auf die Trennung von Staat und Gesellschaft voraus, so daß analytisch zunächst an der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft "aus rechtlichen, funktionellen und organisatorischen Gesichtspunkten festzuhalten" ist44. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der politische Prozeß sei im Rahmen der Bildungspolitik der Parteien Garant der angemessenen Berücksichtigung gesellschaftlicher Gruppen und einer Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft. Die begriffliche "Aufrechterhaltung der Unterscheidung in Staat und Gesellschaft im demokratischen Staat bedeutet nicht die Aufhebung des demokratischen Prinzips, wohl aber eine gewisse Begrenzung und Einbindung desselben zum Zwecke der Sicherung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit"45 und zwar dort, wo im staatlichen Bereich der gesellschaftliche Willensbildungsprozeß bisher nur ungenügend Eingang und Ausdruck gefunden hat. Hierzu gehört der Bereich der Schule. Der herrschende Begriff der staatlichen Schulaufsicht und des Erziehungsrechts des Staates in der Schule basieren auf der Fiktion eines Konsenses von Staat und Gesellschaft hinsichtlich der Erziehung von Kindern, die zum Scheitern verurteilt ist. Um den Anspruch einer Willensbildung von der Gesellschaft hin zum Staat und nicht umgekehrt einzulösen, ist vielmehr eine Neubestimmung des Schulaufsichtsbegriffs nach Art. 7 Abs. 1 GG erforderlich. Gerade im Bereich der Wertorientierung staatlicher Erziehung zeigt der Diskurs sowohl in der pädagogischen als auch in der verfassungsrechtlichen Diskussion, daß in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichen Wertvorstellungen ein die Allgemeinheit verkörpernder Staat nicht existent ist. So konstatiert selbst v. Campenhausenrichtigerweise, daß es heute an einer BilUlrich K. Preuß, Der Staat als bewußt produziertes Handlungswesen, in: Böckenförde, a.a.O., (s. Anm. 38) S. 330 (354). Ludwig Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, Berlin 1983, S. 133 m.w.N. 4 3

Vgl. Preuß, Der Staat..., S. 355.

4 4

L. Schneider, S. 131 unter Verweis auf Böckenförde, m.w.N.

4

3 Ernst-Wolfang

Böckenförde,

Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im

demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders. a.a.O. (Anm. 38), S. 395 (412).

16

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

dungsidee mangelt, die allgemeine Anerkennung genießt, so daß sich der Staat mit ihr identifizieren könnte46. Da der Staat mit der Festlegung von Erziehungszielen jedoch nicht 'wertneutral1 sein kann und es zudem den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nicht um Neutralität, sondern um Verwirklichung ihrer konkreten Erziehungsvorstellungen geht, ist es notwendig, wenn auch das Verhältnis von Staat und Gesellschaft wesentlich durch "Vermittlung und Wechselbeziehung" konstituiert wird 47, hinsichtlich eines vermeintlichen Konsens' über Erziehungsziele an der analytischen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft48 festzuhalten. Dies mit dem Ziel, individuelle und gesellschaftliche Freiheit herzustellen49. Dabei verkenne ich keinesfalls, daß "die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht frei von Gefahren" ist 50 , meine aber, daß die Unterscheidung analytisch notwendig ist, um der Fiktion eines sich im Staat verkörpernden kulturellen Allgemeininteresses entgegenzutreten. "Wird demgegenüber die Funktionsreduzierung des Staates unter Berufung auf den demokratischen Charakter der staatlichen Entscheidungsgewalt aufgegeben, so reduziert sich Freiheit auf demokratische Mitwirkungsfreiheit" 51. Der Staat ist ebenso wie die Verfassung machtbezogenes Ordnungselement einer antagonistischen Gesellschaft52, die ihren Konsens in bestimmten Formen des Miteinander-Umgehens konstituiert, aber keinesfalls in dem, was Persönlichkeitsentfaltung ausmacht und welches die Ziele schulischer Erziehungsarbeit sein sollen. Diese Macht verselbständigt sich gegenüber der Gesellschaft in abstrakten Ordnungsprinzipien und macht es auf der einen Seite notwendig, gesellschaftliche Bereich 'staatsfrei' zu halten, und auf der anderen, dieser Verselbständigung und machtbezogenen Trennung durch gesellschaftliche Kontrolle, d.h. Mitwirkung, entgegenzutreten. Insofern ist esrichtig,"daß es unter dem Aspekt der Wahrung menschlicher Freiheit über die Unterscheidung hinaus wesentlich auch auf eine Verbindung von Staat und Gesellschaft ankommt"53, und zwar von der Gesellschaft zum Staat hin und nicht umgekehrt. Dabei geht es um eine "Ausformung, die geeignet ist, in einem offenen politischen Pro4 6

v. Campenhausen, S. 25.

4 7

Jürgen Seifert,

Der unterschiedliche Gebrauch des Begriffs "Bourgeois' bei Marx und die Folgen,

in: Hans Ernst Böttcher (Hrsg.): Recht, Justiz, Kritik - Festschrift für Richard Schmid, Baden-Baden 1985, S. 451 (461). 4 8

S. a.a.O., S. 457.

4 9

So interpretiert auch Seifert, S. 455, die Unterscheidung bei Böckenförde (Anm. 45).

5 0

Konrad Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von

Staat und Gesellschaft, in: Böckenförde, a.a.O. (Anm. 38), S. 484 (491). 51

Böckenforde,

5 2

Vgl. Preuß, Der Staat..., S. 366.

Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft..., S. 413.

Hesse, Bemerkungen..., S. 496.

Π . Die Legitimation der umfassenden staatlichen Schulaufsicht

17

zeß einenfreiheitlichen, auch Minderheiten respektierenden und schützenden Staat hervorzubringen... (und) zu verhindern, daß letzte und endgültige Entscheidungen getroffen werden, die jede Offenheit aufheben. All dies setzt gesellschaftlichen Konsens, gesellschaftliches Handeln und gesellschaftliche Unterstützung voraus, in deren Gewinnung und Erhaltung Hauptprobleme heutiger Staatlichkeit liegen und die die Ausbildung demokratischer Verhaltensweisen und politischer Fähigkeiten der Mitglieder der Gesellschaft voraussetzen"54. Dieser Konsens und diese Handlungsfähigkeit lassen sich jedoch nicht gegenüber existenten gesellschaftlichen Vorstellungen staatlich verordnen, sondern dieser Konsens ist nur herstellbar, wenn die gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte faktisch anerkennen können, daß dieser Staat als verfahrensrechtliches Ordnungselement antagonistischer gesellschaftlicher Vorstellungen ihnen auch Verwiridichungsraum bietet und sie von daher Interesse an diesem Staat haben und "bereit und in der Lage sind, positiv für (ihn) einzutreten"55. Der Staat kann allenfalls in der Weise als Verkörperung eines Allgemeininteresses der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte erscheinen, als es um die Gewährleistung von Verkehrsformen und eines bildungsrechtlichen Mindeststandards geht, die im Miteinander einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen unter Wahrung der gesellschaftlichen und individuellen Identität ermöglichen. Er kann aber keinesfalls diese Identität selbst zum Gegenstand eines vermeintlichen Allgemeininteresses machen, will er nicht gegenüber der Gesellschaft seines freiheitlichen Charakters verlustig gehen. Erziehung ist der Prozeß der kulturellen Identitätswerdung verschiedener gesellschaftlicher Wertvorstellungen, ihre Transformation in ein staatliches Meta-Erziehungsrecht (Frankenberg) ist das Ende der kulturellen Vielfalt einer Gesellschaft. Hinsichtlich der Annahme der Verwirklichung eines gesellschaftlichen Gemeininteresses im Staat hat Preuß zu Recht darauf hingewiesen, daß heute "weder religiöse noch traditionale oder nationale Gemeinschaftswerte die politische Homogenität einer Gebietsbevölkerung zu begründen vermögen; denn die ökonomische, soziale und sozio-kulturelle Gespaltenheit dieser Bevölkerung erweist sich allemal als stärkeres und wirksameres Element der politischen Ordnung als ein über diese gesellschaftliche Realität schwebender Gemeinschaftswert" 56. Der Staat kann daher nicht "als Repräsentant und aktualisierte Einheit einerreligiösen,völkischen, ökonomischen, sozialen oder politischen Homogenität"57 erscheinen. Deshalb bedarf es zur Bewahrung der Demokratie durch Integration widerstreitender Interessen nicht der Fiktion ei5 4

Ebd.

55 Ebd. 5 6

Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen, Stuttgart 1969, S. 131.

5 7

A.a.O.. S. 131

2 Jach

18

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

nes im Staate wiederkehrenden Allgemeinwillens in der Erziehung, sondern allein freiheitssichernder Strukturprinzipien für die Organisation schulischer Erziehung. Dies wäre die explizite positive Aufgabe staatlicher Schulaufsicht. Dabei kann es nicht darum gehen, eine Trennung von Staat und Gesellschaft dergestalt zu statuieren, daß die erzieherische Tätigkeit soweit wie möglich aus der Schule herausgehalten und der Schule in erster Linie die Aufgabe der "Vermittlung von Kenntnis und Wissen" zugeordnet wird 58. Vielmehr muß es darum gehen, den erzieherischen Prozeß der Schule und die gesellschaftliche Vielfalt in Erziehungsfragen miteinander zu verbinden, damit "sich die Willensbildung in der Gesellschaft und von der Gesellschaft zum Staat hin" vollzieht59. IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht Aus Art. 7 Abs. 1 GG ergibt sich zunächst die grundsätzliche Befugnis und Verpflichtung des Staates, Aufsichtsbefugnisse über das öffentliche, d.h. das staatliche und private Schulwesen auszuüben und die Voraussetzungen für eine gemeinschaftliche Unterrichtung und Erziehung der Kinder sicherzustellen. Art. 7 GG ist darüber hinaus jedoch weder zu entnehmen, ob es sich bei dieser Aufsicht um eine umfassende Dienst-, Rechts- und Fachaufsicht handelt, noch daß der Staat notwendigerweise selbst Träger dieser Schulen ist und umfassende Gestaltungsbefugnisse im Bereich der schulischen Erziehung in Anspruch zu nehmen befugt ist. Dem Staat obliegt zwar die Gesamtverantwortung für das öffentliche Schulwesen, die einer vollständigen Vergesellschaftung der Schule unter der Geltung des Grundgesetzes Grenzen setzt60, und verpflichtet den Staat darüber hinaus zur Sicherung einer schulischen Grundversorgung. Doch ist damit nicht die Frage beantwortet, inwieweit der Staat bei der Gestaltung des Schulwesens unter der Geltung des Grundgesetzes auf die Vielfalt der Erziehungsvorstellungen in der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen und darüber hinaus diesen unterschiedlichen Vorstellungen unter seiner Aufsicht Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung zu geben hat61.

5 8

Vgl. Ossenbühl, Rechtliche Grundfragen..., S. 40 ff.; (Urs., Schule im Rechtsstaat, DÖV 1977,

801 (808); s.a. Erichsen, Verstaatlichung..., S. 25. 5 9

BVerfGE 20,56 (98 ff.); 44,125 (139 f.).

6 0

Vgl. Heckel!Avenarius,

6 1

Dies verneint ausdrücklich v. Campenhausen, S. 19 m.w.N.

S. 164.

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht

1. Die Anknüpfung an den historisch überlieferten der staatlichen Schulaufsicht

19

Begriff

Für eine verfassungskonforme Auslegung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes gilt es zunächst, die Kritik an der sogenannten Anknüpfungsmethode aufzunehmen und für die uns betreffende Frage weiterzuentwickeln. Zu Recht wird an dem Verständnis eines umfassenden Schulaufsichtsbegriffs unter Verweis auf den gleichen Wortlaut von Art. 144 WRV kritisiert, daß ein Verweis auf den Schulaufsichtsbegriff der Weimarer Reichsverfassung einer notwendigen spezifisch grundgesetzlichen, objektiv systematischen Betrachtungsweise nicht gerecht wird 62, da insoweit ein einzelner Begriff isoliert interpretiert wird, obgleich er heute in einem ganz anderen Zusammenhang steht als in der Weimarer Verfassung, nämlich im Spannungsfeld zum elterlichen Erziehungsrecht und zu den Grundrechten des Schülers. a) Staatliche Schulaufsicht unter der Weimarer Reichsverfassung Die Weimarer Reichsverfassung regelte das Schulwesen ganz im Sinne der preußisch-deutschen staatlichen Schultradition. Das Schulwesen wurde demgemäß als Angelegenheit des Staates aufgefaßt, der nach Art. 143 Abs. 1 WRV für die Bildung der Jugend durch öffentliche Anstalten zu sorgen hatte. Die in Art. 144 Abs. 1 WRV statuierte Schulaufsicht des Staates wurde insofern nicht näher erörtert, da diese aus der historischen Entwicklung als eindeutig und bekannt vorausgesetzt galt63. So beinhaltete der Schulaufsichtsbegriff der Weimarer Reichsverfassung die Fortschreibung der Säkularisierung des Schulwesens in der Ablehnung kirchlicher Bestimmungs- und Aufsichtsgewalt64 und die Sicherung der "Herrschaft des Staates über die Schule"65 in dem Sinne, "daß die Schule Staatssache schlechthin ist,... nicht private, nicht kirchliche, nicht Selbstverwaltungs-, nicht sonst jemandes Sache"66. Schulaufsicht wurde dementsprechend verstanden als "das dem Staate über die

6 2

C lev inghaus, S. 366 m.w.N.; Wolfgang

Perschel, Staatliche Schulaufsicht und kommunale

Selbstverwaltung nach dem Grundgesetz, in: Knut Nevermann/Ingo Richter (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung der Schule, Stuttgart 1979, S. 315 (326 f.). 6 3

Vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 10. Aufl.

1929, Art. 144 Rdnr. 1; Walter Landé, Die Schule in der Reichsverfassung, Berlin 1929, S. 63. 6 4

Landé, S. 62.

6 5

Anschätz, a.a.O., Rdnr. 1.

6 6

Landé, S. 64.

20

Β . Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

Schule ausschließlich zustehende administrative Bestimmungsrecht"67. Dieses umfaßte demnach sowohl die organisatorische Gestaltung des Schulwesens als auch die inhaltliche Bestimmungsgewalt über die Erziehungs- und Unterrichtsarbeit. Die Schule blieb auch unter der Weimarer Reichsverfassung in ihren Erziehungszielen und ihrem Selbstverständnis in der preußisch-deutschen Tradition ein Instrument der Erziehung zu Volk und Staat1 im Sinne einer Erziehung zur 'Staatsgesinnung'68. Wesentliches Mittel hierzu war die Schulaufsicht des Staates und eine extensive Interpretation dieses Begriffes zugunsten des Staates69. Entsprechend war auch die Rechtsstellung von Eltern und Schülern ausgestaltet. Mit "der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis Schule, in dem, vermittelt über einen extensiven Schulaufsichtsbegriff, autoritär-absolutistische Verkehrsformen und rechtsfreie Räume fortleben" 70, verhinderte der Staat die Geltendmachung von Rechten der Eltern und Schüler, die seine Erziehungsarbeit hätten behindern können. b) Das Verhältnis von Elternhaus und Schule unter der Weimarer Reichsverfassung Eine Begrenzung der Erziehungsgewalt des Staates in der Schule ergab sich auch nicht aus dem Elternrecht. In der Weimarer Reichsverfassung fand die Bedeutung der allgemeinen öffentlichen Erziehung in den Schulartikeln ihren Ausdruck, denen das Elternrecht lediglich deklamatorisch gegenüberstand. Während das elterliche Erziehungsrecht gem. Art. 120 WRV lediglich als Einrichtungsgarantie oder Programmsatz angesehen wurde, gehörten die Schulartikel 142 bis 149 WRV zu den wichtigsten Grundsätzen des Zusammenlebens der staatlichen Gemeinschaft71. Zwar war nach Art. 120 WRV die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, doch endete dieses an der Schultüre. Im Verhältnis von Schule und Elternhaus galt hinsichtlich der Verteilung von Erziehungskompetenzen nämlich nicht nur das Prinzip 'Staatsrecht über6 7

Ebd.; ebenso Anschütz, a.a.O., Rdnr. 1.

6 8

Vgl. den Gayischen SchulerlaB v. 28.6.1932, abgedruckt bei Geihardt Giese, Quellen zur deut-

schen Schulgeschichte seit 1800, Göttingen 1961, S. 250 ff.; s. hierzu auch Frankenberg,

Verrechtli-

chung schulischer Bildung, Diss. München 1978, S. 22; Christoph Fähr, Zur Schulpolitik der Weimarer Republik, Weinheim 1970, S. 208 ff. 6 9

Vgl. Frankenberg, Verrechtlichung..., S. 23.

7 0

Frankenberg, Verrechtlichung..., S. 23.

7 1

Peters, S. 371.

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht

21

höht Elternrecht', sondern auch das Separationsprinzip, d.h. eine strikte Trennung der Befugnisse des Staates in der Schule einerseits und der Eltern außerhalb des schulischen Bereichs andererseits72: "Die Erziehungsberechtigten haben auf dem Gebiete des Schulrechts verfassungsgemäß die Rechte, die die Schulartikel geben. ... Darüber hinaus gibt ihnen Art. 120 nicht das geringste Recht auf dem Schulgebiet"73, etwa in Form einer möglichen Einflußnahme auf die erzieherische Ausrichtung und Gestaltung des Unterrichts. So war selbstverständlich, "daß Art. 120 die staatliche Schulhoheit nicht beschränkt. Die staatliche Schulgesetzgebung und die in ihr sich ausdrückende Herrschaft des Staates über die Schule bleibt unberührt"74. Was den Eltern blieb, war das Privatschulwesen, wo sich reformpädagogische Elemente verwirklichen konnten (z.B. Waldorfschulen). Gem. Art. 147 Abs. 1 WRV konnten mit Genehmigung des Staates private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen errichtet werden, wenn die Privatschulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstanden und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wurde. Private Volksschulen waren gem. Abs. 2 nur zuzulassen, wenn für eine Minderheit von Erziehungsberechtigten eine öffentliche Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung in der Gemeinde nicht bestand oder die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkannte. Dieses Recht auf Errichtung von Privatschulen als Absage an ein uneingeschränktes staatliches Schulmonopol75 ermöglichte es den reformpädagogischen Bestrebungen zumindest außerhalb der staatlichen Schulen, ihre Ansprüche einer Pädagogik 'vom Kinde aus' - vorbehaltlich der verfassungsrechtlichen Einschränkungen in geschlossenen pädagogischen Konzepten zu entfalten. c) Die Rechtsstellung des Kindes in der Schule unter der Weimarer Reichsverfassung Konnte nach dem Selbstverständnis des Staates hinsichtlich der Erziehungs- und Bildungsziele von einem Recht des Kindes auf freie Entfaltung 7 2

Vgl. Landé, S. 51 f.; Frank-Rüdiger

Jach, Elternrecht, staatlicher Schulerziehungsauftrag und

Entfaltung sfr eiheit des Kindes, KJ 1984, 85 (88); s. hierzu insbesondere auch Ingo Richter, BildungsVerfassungsrecht, Stuttgart 1973, S. 44 ff., der aus dem Separationsprinzip unter der Weimarer Reichsverfassung und der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes den Nachweis zu erbringen versucht hat, daß nach der historischen Ausgangslage der Parlamentarische Rat auch für das Grundgesetz das Separationsprinzip zur Grundlage für das Verhältnis von Elternhaus und Schule gemacht habe. 7 3

Landé, S. 32.

7 4

Anschütz, Art. 120 Rdnr. 2.

7 5

A.a.O., Art. 147 Rndr. 2.

22

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

seiner Persönlichkeit keine Rede sein, so konnte das Kind auch nicht auf etwaige eigene Grundrechtsansprüche zurückgreifen, da die Weimarer Reichsverfassung ein Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht kannte76 und zudem "die Grundrechte mangels unmittelbarer Verbindlichkeit... außerstaatliche Randerscheinungen der Verfassung mit lediglich programmatischem Charakter"77 blieben. Selbst wenn prinzipiell eine Berufung auf Grundrechte möglich gewesen wäre, wäre diese spätestens mit der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis gescheitert, wonach der Einzelne sich insoweit nicht auf seine Grundrechte berufen konnte, als eine Einschränkung seiner Freiheit vom Zweck der Einrichtung, d.h. hier der Schule, gefordert wird 78. Da der Zweck der Schule in der historischen Entwicklung des Schulaufsichtsbegriffs in der Weimarer Reichsverfassung unzweifelhaft als staatliche Bildung und Erziehung verstanden wurde, war der Staat aufgrund der Vorstellung einer grundsätzlich unbeschränkten staatlichen Schulhoheit79 in der Bestimmung von Erziehungszielen an Persönlichkeitsrechte des Kindes nicht gebunden.

d) Zusammenfassende Wertung der historischen Entwicklung staatlicher Schulaufsicht Von der Durchsetzung der staatlichen Schulaufsicht im 18. Jahrhundert bis zur Herrschaft der Nationalsozialisten läßt sich resümierend feststellen, daß die umfassende staatliche Schulaufsicht wesentliches Instrument zur einseitigen Verwirklichung der Ziele staatlicher Erziehung war. Demgegenüber fand eine nicht an staatlichen Interessen ausgerichtete Erziehung 'vom Kinde aus', die der umfassenden Entfaltung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung vom Staat abweichender gesellschaftlicher Erziehungsvorstellungen dienen sollte - bis auf partielle Ansätze zu Beginn der Weimarer Republik - keine Ausdrucksmöglichkeit in der staatlichen Schule. Das Kind wurde in der Schule zum Untertanen erzogen, dem vorzuschreiben war, was und wie es zu denken, handeln und fühlen hatte. Die bürgerlichen Erziehungsideale, die auf Selbstkontrolle der autonomen Person unter Herrschaft der Vernunft über die Triebe und Affekte gerichtet waren, führten zwar als ein wesentliches Ele-

7 6

Vgl. OVG Hamburg DVB11953,508 (509 f.).

7 7

Hans-Peter Schneider, Eigenart und Funktion der Grundrechte im demokratischen Verfassungs-

staat, in: Joachim Pereis (Hrsg.): Grundrechte als Fundament der Demokratie, Frankfurt/M. 1979, S. 11. 78 Es würde den Rahmen und Umfang dieser Arbeit sprengen, hier im einzelnen auf die Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis näher einzugehen, vgl. daher die Darstellung bei Frankenberg, S. 18 ff. 7 9

BVerfGE 34,165 (182) m.w.H.

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht

23

ment zur Institutionalisierung staatlicher Erziehung, ihren Niederschlag bei der Bestimmung von Erziehungszielen fanden sie jedoch nie 80 . Aufgrund der spezifisch preußisch-deutschen gesellschaftlichen Bedingungen, wo die "Zerstörung naturwüchsiger und traditioneller... Sozialisationsprozesse zu einem Totalitätsanspruch der staatlichen Erziehung führte" 81, war die schulische Erziehung auf externe Befehle und Unterordnung ausgerichtet. Diese Ambivalenz von bürgerlichen Erziehungsidealen und staatlichem Schulehalten, "das Auseinanderfallen von formeller und materieller Konstitution des bürgerlichen Staates"82, spiegelte sich dabei insbesondere auch in dem preußisch-deutschen Verständnis von staatlicher Schulaufsicht wider. So hat schon Landé darauf hingewiesen, daß die preußischen Verfassungsurkunden bis hin zur Weimarer Reichsverfassung mit ihren inhaltlichen Vorstellungen staatlichen Schulehaltens den Sinn der Grundrechtsgewährleistungen, worunter die Schulrechtsbestimmungen ja eingeordnet waren, "nicht nur abgeschwächt, sondern entscheidend umgeformt" haben83. Ihr Inhalt blieb ein selbstherrliches staatliches Bestimmungsrecht über die Objekte der Erziehung in der staatlichen Schule. Dabei scheint es unzweifelhaft, daß der Staat seine Aufgabe nicht nur in der Wissensvermittlung, sondern ebenso in der staatlich ausgerichteten Erziehung der Kinder sah. Die besondere Bedeutung der historischen Entwicklung des Schulwesens liegt dabei heute vor allem darin, daß auf diesen Begriff der staatlichen Schulaufsicht zur Rechtfertigung der heutigen staatlichen Befugnisse, wie in keinem anderen Bereich sonst, extensiv und systemwidrig verwiesen wird 84. 2. Systemgerechte Auslegung der staatlichen Schulaufsicht Ein Aufsichtsbegriff, der in seiner historischen Entstehung die sonstigen an der Erziehung Beteiligten nur als Objekte bzw. Nichtberechtigte in bezug auf staatliches Handeln begriffen hat, kann unter der Geltung des Grundgesetzes keinen Geltungsanspruch im Sinne bloßer Anknüpfung besitzen. Dies gilt umso mehr, als auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts "der Entstehungsgeschichte (einer Norm, F.-R. J.) für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ausschlaggebende Bedeutung nicht

8 0

Vgl. hierzu ausführlich Frank-Rüdiger

Jach, Vom staatlichen Schulsystem zum öffentlichen

Schulwesen, Diss. Bremen 1988, S. 1 ff. 81

Katharina Rulschky, Schwarze Pädagogik, Frankfurt/Berlin/Wien 1977, S. X X I X .

8 2

Frankenberg, Verrechtlichung..., S. 14.

83

Landé, S. 19.

8 4

S. vorst S. 8 ff.

24

Β . Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

zukommen kann"85. Aus der Tatsache, daß der Parlamentarische Rat den Begriff der staatlichen Schulaufsicht aus Art 144 WRV übernommen hat, ohne sich mit diesem weiter auseinanderzusetzen, ergibt sich - wie Friedrich Müller als Mindermeinung zu Recht konstatiert - lediglich, "daß für die Auslegung des Art 7 Abs. 1 GG kein selbständiges Argument aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zur Verfügung steht; nicht aber etwa, der Schulaufsichtsbegriff der Verfassung von 1949 müsse der Sache nach wie Art. 144 WRV und damit wie die fraglichen Normen der Preußischen Verfassungen von 1850 und 1848, des Verfassungsentwurfs der Frankfurter Nationalversammlung von 1849, der Instruktionen von 1839 und 1817 und schließlich wie die Vorschriften des Allgemeinen Preußischen Landrechts interpretiert werden"86. Gegen eine extensive Auslegung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht spricht auch, daß der traditionelle Schulaufsichtsbegriff dem "normalen" rechtlichen Verständnis und Gebrauch des Begriffs der "Aufsicht" nicht entspricht87, da "Aufsicht nämlich im Gegensatz zum Begriff der Leitung beschränkt (ist) auf eine Überwachung fremder Angelegenheiten, so daß lediglich der Umfang einer Aufsicht, nicht aber die Möglichkeit einer Selbständigkeit schlechthin streitig sein kann"88. Schon Peters hat auf die unzulässige Ausdehnung des Schulaufsichtsbegriffs hingewiesen, durch die der in der Rechtsordnung festliegende Begriff der Staatsaufsicht im Sinne der Kontrolle und Überwachung auf die Fachaufsicht übertragen wird und in einer "unzulässigen Auslegung dahin verstanden (wird), daß der Staat 'absoluter Herr der Schule' geblieben ist und weitgehend unmittelbar die sogenannten inneren Schulangelegenheiten bestimmen darf' 89. Diese Befugnis ist zwar heute mit dem Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis und der Anerkennung der Geltung von Grundrechten der Eltern und Schüler auch im Schulverhältnis durch den Gesetzesvorbehalt relativiert, doch ist die Grundstruktur und ihre Denkweise erhalten geblieben. Mit dem Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis als "inneres Organisationsverhältnis staatlicher Organisation, in dem dem Bürger keine (oder nur vermindert) subjektive öffentliche Rechte zustanden und in dem - anders als im sogenannten allgemeinen Gewaltverhältnis ... Eingriffe keiner gesetzlichen Grundlage bedurften" 90 und der Institutionalisierung eines schulischen "Rechts- und Pflichtenverhältnis8 5

BVerfGE 51,97 (110); 41,291 (303).

8 6

Friedrich Müller, Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz, Berlin 1982, S. 77 f. Dies wird auch von den Befürwortern einer extensiven Interpretation des Begriffs der staatlichen

Schulaufsicht nicht verkannt, vgl. insofern z.B. v. Campenhausen, S. 20. 8 8

Clev inghaus, S. 366 f.

8 9

Peters, S. 410 f.

9 0

Michael Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, in: XZ 1984, 685 (688).

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriff der statlichen Schulaufsicht

25

ses"91 im Sinne eines Sonderstatusverhältnisses92 ist nicht primär die Befugnis des Staates zur Herrschaftsgewalt über die Institution Schule in Frage gestellt, sondern seiner Beliebigkeit im Verwaltungshandeln enthoben worden. Eine grundsätzliche Beschränkung findet die staatliche Bestimmungsgewalt in der Schule unter der Geltung des Grundgesetzes insoweit darin, daß sich angesichts des Rechtsstaats- und des Demotoitieprinzips aus dem Begriff der staatlichen Schulhoheit, der nach herrschender Meinung an sich die Gesamtheit der staatlichen Befugnisse zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens umfaßt, nicht rechtfertigen läßt, "daß das Schulverhältnis ein gesetzesfireier Raum sei, der von der Schulverwaltung ausgefüllt werden könne"93. Dies gilt nach allgemeiner Ansicht nach dem Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis selbst bei der Annahme einer weitgehenden Gestaltungsfreiheit des Staates bei der inhaltlichen Festlegung der Erziehungs- und Unterrichtsziele und der Bestimmung des Unterrichtsstoffes. "Auch im Schulverhältnis spielt die Grundrechtsrelevanz eine erhebliche Rolle. Die Grenze zwischen dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) und dem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) sowie den Persönlichkeitsrechten des Kindes (Art. 2 Abs. 1 GG) sind oft flüssig und nur schwer auszumachen. Ihre Markierung ist für die Ausübung dieser Grundrechte vielfach von maßgebender Bedeutung. Sie ist daher Aufgabe des Gesetzgebers"94. So ist heute zwar anerkannt, "daß unter dem Grundgesetz hauptsächlich in Folge der Geltungskraft der Grundrechtsposition der Art 2 Abs. 1, Art 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 4, Art. 28 Abs. 2 GG die Schulaufsicht nicht mehr wie früher im Sinne einer völlig umfassenden staatlichen Schulgestaltungsmacht verstanden werden kann, sondern wie alle öffentliche Gewalt gebunden und begrenzt ist"95, doch kann kein Zweifel daran bestehen, daß dem Staat weiterhin umfassende Gestaltungsbefugnisse insbesondere auch im Hinblick auf die pädagogische Arbeit der Schule zustehen, die je nach der politischen Mehrheit im jeweiligen Bundesland aufgrund der Kulturhoheit der Länder zu einem unitaristischen pädagogischen Einheitsschulsystem geführt hat, in dem je nach politischem Standpunkt entweder die Schulform des Gymnasiums oder die der Gesamtschule favorisiert wird. Von Schulvielfalt im Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener pädagogischer Schulformen und Konzeptionen kann im staatlichen Schulsystem nicht die Rede sein und Schulen in freier Trägerschaft sind, sofern sie eine besondere pädagogische 9 1

BayVerfGH NJW 1982,1089.

9 2

Vgl. hierzu Albert Bleckmann, Zum Sonderstatus insbesondere der Straf- und Untersuchungsge-

fangenen, in: DVB11984,991 f. 9 3

Oppermann, Gutachten..., S. C 47.

9 4

BVerfGE 47,46 (80).

9 5

Oppermann, Gutachten..., S. C 47.

26

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

Prägung aufweisen, nicht nur im Genehmigungsverfahren 96, sondern insgesamt einer ständigen Reglementierung und Schlechterstellung gegenüber staatlichen Schulen ausgesetzt. Die Notwendigkeit der Reduzierung der umfassenden staatlichen Schulaufsicht in Form einer Fach-, Dienst- und Rechtsaufsicht war deshalb schon bei der Formulierung des Musterentwurfs für ein Landesschulgesetz durch die Schulrechtskommission des Deutschen Juristentages 1981 erkannt worden97, wobei Nevermann allerdings zu Recht darauf hingewiesen hat, daß allein eine Reduzierung der Schulaufsicht auf eine Rechtsaufsicht dann keine positiven Ansätze zugunsten pädagogischer Autonomie entfalten kann, wenn - wie im Gesetzentwurf vorgesehen - die Lehrpläne durch Rechtsverordnungen weitestgehend vorbestimmt sind98. Dieser Entwurf, der im Ansatz normative Vorgaben einer Befreiung der pädagogischen Arbeit aus staatlicher Bevormundung zum Gegenstand hatte, fand zwar gewisse Beachtung in der erziehungswissenschaftlichen Literatur, wurde jedoch von der Ministerialbürokratie und den politisch Verantwortlichen in seinen Autonomietendenzen insgesamt ablehnend beurteilt99. Es soll zwar nicht verkannt werden, daß auch die Schulverwaltungen die Notwendigkeit pädagogischer Freiräume zumindest partiell sehen und geringfügige Handlungsalternativen einräumen100, doch kann ungeachtet mancher Entwicklungstendenzen festgestellt werden, daß von pädagogischer Autonomie der Schulen als Ausdruck von Schulvielfalt nicht die Rede sein kann, 101 und erziehungswissenschaftliche Untersuchungen ergeben haben, daß "die methodische Monokultur [den F.-R.J.] alltäglichen Unterricht (kennzeichnet). Dies meint, daß der Schweipunkt der unterrichtlichen Arbeit im kognitiven 9 6

Siehe A r t 7 Abs. 5 GG, zur Problematik vgl. insbesondere Frank-Rüdiger

Jach, Privatschulfrei-

heit am Scheideweg - Vielfalt oder institutionelle Erstarrung, im DÖV 1990, 506 (508 ff.) mit weiteren zahlreichen Nachweisen. 9 7

Vgl. § 73 des Entwurfs, RdJB 1981,224 ff.

9 8

Vgl. Knut Nevermann, Autonomie der Schule, Kompetenz der Lehrer, Partizipation der Eltern und

der staatliche Bildimgsauftrag, in: Sebastian Müller-Rolli (Hrsg.), Das Bildungswesen der Zukunft, Stuttgart 1987, S. 188. 9 9

Vgl. dazu Nevermann, S. 190; Siegfried

Jenkner, Schule zwischen Staat und Selbstverwaltung,

PSOW 37 (1989), S. 44,46; ders.; Entwicklung und Perspektiven der Schulverfassung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 27/89 v. 30.6.1989, S. 3 (8). 1 0 0

Vgl. aus jüngster Zeit Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 15.11.1990, wonach durch den

neuen niedersächsischen Kulturminister per Erlaß die Entscheidungsfreiheit und die Autonomie einzelner Schulen bis hin zu AlternativstundenplXnen, in denen fünf Freistunden enthalten sein können und die Befugnis zur Einrichtung musisch-kultureller Schwerpunkte gestlrkt worden ist; siehe auch Ulrich Scheel, Von der Schulaufsicht zur Schulberatung, in: Forum Pädagogik 1989, S. 21 (23). 101

Hartmut von Hentig, Bilanz der Bildungsreform in der BRD, Neue Sammlung 1990, S. 366 (380).

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht

27

Bereich liegt und in der Form des gelenkten Unterrichtsgesprächs durch Klassenunterricht"102. Einem solchermaßen geprägten Schulsystem ist nicht nur aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ein Verständnis der Pädagogik als "Lehrkunst"103 fremd, sondern es verhindert auch unter verfassungsrechtlich bedeutsamen Aspekten schulische Vielfalt, als nämlich in allen staatlichen Schulformen eine einseitige intellektuell-verstandesmäßige Persönlichkeitsbildung auf der Basis eines abstrakt-kognitiven Unterrichtskonzepts angestrebt wird. Erziehungsziele und -konzepte der traditionellen oder neuen Reformpädagogik 104, deren Bedeutung in der jüngsten erziehungswissenschaftlichen Diskussion betont wird 105 , haben ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Relevanz im Rahmen des staatlichen Schulsystems so gut wie keinen Platz. Sie finden sich allein im Reservat der Privatschulen. Damit stellt sich das Problem der Schulvielfalt nicht primär innerhalb des staatlichen Schulsystems im Widerstreit des Nebeneinander von Gymnasien und Gesamtschulen, die beide gleichermaßen durch einen abstrakt didaktisch und leistungs(zensuren-)orientierten Unterricht geprägt sind, sondern insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung von Unterrichtsfreiheit im Sinne pädagogischer Freiheit. Dies zeigt, daß in dem Verständnis der Bedeutung der staatlichen Schulaufsicht gleichzeitig die Frage nach dem kulturellen Selbstverständniss einer Gesellschaft dahingehend impliziert ist, ob sich hinsichtlich der schulischen Erziehung die Willensbildung von der Gesellschaft her vollziehen soll, oder ihre Inhalte und Schulformen staatlich vorgegeben werden. Hierbei stellt sich auch die Frage, inwieweit Art. 7 Abs. 1 GG in einer pluralistischen Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtung des Staates, die Grundrechte der Eltern und Kinder bei der Gestaltung des Schulwesens zu beachten, noch als Legitimation für die Einwirkung des Staates "auf die Weltanschauung, das Gewissen, die Meinung und die politischen Auffassungen des einzelnen Schülers"106 sowie "auf Charakter und Einstellung des Jugendlichen"107 angesehen werden kann.

102

Scheel,

103 104

S. 226; relativierend dagegen Nevermann, S. 194 f.

Vgl. dazu die zahlreichen Beiträge in Neue Sammlung Heft 1 1990. Z u den Unterrichts- und Erziehungszielen der traditionellen Reformpädagogik vgl. von Hentig,

Vorwort zu David Gribble: Considering Children, in: Neue Sammlung 1990, S. 232 (239). 105

Vgl. die zahlreichen Beiträge in Heft 5/89 der Zeitschrift "Pädagogik".

ì06

Evers,

S. 90.

107

Christian

1975, S. 21 (31).

Tomuschat, Der staatlich geplante Bürger, in: Festschrift für Eberhart Menzel, Berlin

28

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

3. Die Bedeutung des Sozialstaats- und Demokratieprinzips Eine Begrenzung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht ergibt sich bereits aus dem Sozialstaats- und Demokratieprinzip108, welches angesichts der besonderen Bedeutung der Erziehung für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Schulwesen besondere Relevanz besitzt109. Die Beteiligung und Selbstbestimmung gesellschaftlicher Gruppen bei der inhaltlichen Gestaltung und Erneuerung erzieherischer Prozesse ist als Weiterentwicklung der Demokratie im Rahmen der Staatszielbestimmung des Art 20 Abs. 1 GG geboten, weil in einem demokratischen Gemeinwesen der kulturellen Selbstverwirklichung und Identitätswahrung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen besondere Bedeutung zukommt, die es unabhängig von der jeweiligen politischen Mehrheit zu schützen und zu fördern gilt. Dazu bedarf es jedoch eines neuen Verständnisses der im Grundgesetz vorgesehenen institutionellen Ordnung110, insbesondere einer Neufassung des Schulaufsichtsbegriffs und der sich darauf gründenden Kompetenzen. Hierbei kommt dem Modell der Selbstverwaltung als Minoritätenschutz eine besondere Bedeutung zu, denn "Selbstverwaltung ist tendenziell ein Prinzip gegen die vollständige Einpassung von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen in den gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhang"111, mithin Schutz vor einer Nivellierung kultureller Identitäten. Im Sinne eines Minoritätenschutzes ist auch Preuß1 Ansatz einer 'sozialstaatlichen Selbstverwaltung' der Schule zu verstehen, den er aus dem in Art 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG enthaltenen Prinzip der Teilhabe als "einem verbindlichen legitimierenden Prinzip der politischen Ordnung"112 entwickelt. Preuß versteht sozialstaatliche Selbstverwaltung als den "Bereich spezifischer verfassungsrechtlicher Legitimation und Verantwortlichkeit, in dem aus dem Verwaltungsapparat der Organe des politischen Gemeinwesens ausgegliederte, grundsätzlich nicht standardisierbare Funktionen der Daseinsvorsorge für die konkreten Bedürfnisse der Adressaten abweichend von den Prinzipien der Art. 20 Abs. 2, 28 Abs. 1 GG in voll- oder teilrechtsfähigen Organisationen demokratisch verwaltet werden"113. "Die politische Kraft und Legitimation eines sozialstaatlichen Selbstverwaltungsbegriffs" ergebe sich insofern aus den "Prinzipien der sozialen Demokratie als der Staatsform, in 1 0 8

S. hierzu Berkenumn, Die politischen Rechte der Schüler, S. 103; Dietze, Von der Schulanstalt zur

Lehrerschule, S. 100; Reeb, Bildungsauftrag der Schule, S. 16. 109

Richter,

Bildungsverfassungsrecht, S. 295.

1 1 0

A.a.O., S. 246.

111

A.a.O., S. 240.

1 1 2

Ulrich K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, S. 215 ff.

113

A.a.O., S. 211 f.

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht

29

der die Politisierung gesellschaftlicher Bereiche historisch am weitesten fortgeschritten ist" 114 , jedoch "die Garantie des zivilisatorischen Minimums dem Sektor konkurrierender Interessenauseinandersetzung entzogen" sein muß 115 . Der 'sozialstaatlichen Selbstverwaltung1 kommt insofern kompensatorische Funktion116 zu, als deren Eigenart darin besteht, "mit öffentlichen Mitteln 'auf individuelle Bedürfnisse nach kompensatorischen Organisationsangeboten' (Edelstein) zu antworten"117. Hierfür schlägt Preuß die Gründung von Modellschulen als einen denkbaren Weg in diese Richtung vor, deren Aufgaben und Selbstverständnis darauf abzielen, die kulturelle Selbstbestimmung zu ermöglichen, wobei der kulturelle Minderheitenschutz für sozio-kulturell unterprivilegierte oder minoritäre Gruppen neue Bedeutung gewinnt118. Dieser Ansatz von Preuß hat auch heute noch seine Aktualität als eine mögliche Zwischenlösung in der gegenwärtigen historischen Situation119, wobei es gilt, "mit dem Begriff der gesellschaftlichen Selbstverwaltung das aus dem 19. Jahrhundert überkommene, oppositionelle, freiheitlich-staatsfeindliche Prinzip der gegenwärtigen Selbstverwaltung neu zu beleben"120. 4. Schulaufsicht und die Grundrechtsgewährleistungen

des Grundgeset

Die Frage nach einem verfassungskonformen Verständnis der staatlichen Schulaufsicht gewinnt unter der Geltung des Grundgesetzes insbesondere deshalb an Gewicht, weil entgegen dem Grundrechtsverständnis der WRV heute weithin anerkannt ist, daß die Grundrechte des Grundgesetzes nicht nur als subjektive Freiheitsrechte Abwehrrechte des einzelnen Grundrechtsträgers gegenüber dem Staat gewähren, sondern darüber hinaus als objektive Grundsatznormen "für alle Bereiche des Rechts gelten, und jegliches staatliche Handeln im Rahmen von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung binden"121. Inhalt und Reichweite dieser objektiven Dimension der Grundrechte sind freilich in der Rechtswissenschaft umstritten und bergen grundle-

1 1 4

A.a.O., S. 200 f.

115

A.a.O., S. 207.

1 1 6

A.a.O., S. 226.

117

A.a.O., S. 227; dies vor allem, weil die staatliche Schulverwaltung bis auf Ausnahmen wie die

Laborschule in Bielefeld oder die Glockseeschule in Hannover der Erprobung alternativer Unterrichtsmodells in geschlossenen pädagogischen Schulmodellen sehr ablehnend gegenübersteht 118

A.a.O., S. 229.

1 1 9

A.a.O., S. 227.

1 2 0

A.a.O., S. 197.

121

Vgl. grundlegend BVerfGE 7,198 (204 f.).

30

Β . Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

gendste Fragen des Verfassungsverständnisses in sich122, deren Bedeutung und Auswirkungen im nachfolgenden am Beispiel der Zuordnung und Abgrenzung von Kompetenzen im Bereich der schulischen Erziehung und Bildung dargelegt werden soll. Hierbei ist der Versuch zu unternehmen, eine den Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes adäquate Theorie der objektiven Dimension der Grundrechte im Bereich der Schulveifassung zu entwerfen, welche in einem kulturellen und schulischen Vielfaltsgebot ihren Ausdruckfinden wird. a) Die objektivrechtliche Bedeutung der Grundrechte im Bereich der Schulverfassung Die objektivrechtliche Bindung des Staates an die Grundrechte bei der Gestaltung des Schulwesens ist unter der Geltung des Grundgesetzes insoweit unbestritten, als heute über den negatorischen Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat "über die institutionelle oder wertmäßige Sicht des Grundrechtsteiles weithin anerkannt (ist), daß sich die Bedeutung der Grundrechte in den Individualpositionen nicht erschöpft" 123, und es ferner "weithin Gemeingut (ist), daß die Grundrechte über ihren individualrechtlichen Aspekt hinaus im indirekten Sinne einer aufgestellten Wertordnung Ausstrahlungswirkungen entfalten, an denen sich die staatliche Tätigkeit mit auszurichten hat" 124 . Dies hat zur Konsequenz, daß der Staat bei der Gestaltung des Schulwesens insbesondere an die Grundrechte des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG und das elterliche Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG in Verbindung mit der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG dergestalt gebunden ist, daß er nicht nur nicht in die Eigensphäre des jeweiligen Grundrechtsträgers eingreifen darf, sondern darüber hinaus hat er das Schulwesen im Sinne eines staatlichen Handlungsauftrags in einem Maße zu ordnen und zu gestalten, daß die Grundrechte der Eltern und Schüler optimal zur Geltung gelangen125. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht insoweit davon aus, "daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat, und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der 122

Z u m Stand der Diskussion vgl. Robert Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive

Normen, Der Staat, 1990 (Bd. 29), 49 if.; Ernst-Wolfgang

Böckenförde,

Grundrechte als Gnmdsatznor-

men. Der Staat 1990 (Bd. 29), 1 ff. 123 124

Oppermann, Gutachten..., S. C 14.

Oppermann,

1 2 5

a.a.O., S. C 37.

Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt/M. 1986, S. 75 ff., "Grundrechte als Optimierungsgebote".

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht

31

Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der inneihalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse"126. Danach sind in der Verfassung die Wertvorstellungen fixiert, "die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht" hat 127 . Die Verfassung des Grundgesetzes hat sich danach für zentrale Grundwerte entschieden, die sie in ihren Schutz nimmt und dem Staat aufgibt, sie zu sichern und sie zu gewährleisten128, und aus denen sich unabhängig von subjektiven Abwehrrechten des Einzelnen als objektivrechtlicher Gehalt der Verfassung bestimmte Schutz- und Handlungspflichten des Staats ergeben129. Soweit über den Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat heute allgemein anerkannt ist, daß die Grundrechte den Staat auch objektivrechtlich dergestalt binden, als dieser zumindest gehalten ist, die Grundrechte als Leitentscheidung für alle Bereiche des Rechts zu achten, ist zwar entgegen der herrschenden Meinung nicht von einem geschlossenen Weitsystem, sondern von der Verfassung als punktueller Gewährleistung von Freiheit auszugehen130, doch wird man "auch bei kritischer Einstellung gegenüber dem Wertedenken die Grundrechte jedenfalls insoweit zu den materiellen Grundlagen der Rechtsordnung zählen können, als hierdurch ihre Effektivität erhöht und die Geltungskraft individueller Freiheitsgarantien verstärkt wird" 131 . Insofern ist es gerechtfertigt, die Grundrechte prinzipiell nicht nur als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat zu sehen, sondern auch als objektivrechtliche Inpflichtnahme des Staates. Diese Inpflichtnahme kann jedoch nur als eine - und darin liegt der wesentliche Unterschied zu einer wertmäßigen Sicht der Grundrechte - dem Inhalt nach nicht apriori determinierte verstanden werden. Dies bedeutet, daß der Staat zwar hinsichtlich der schulischen Erziehung objektivrechtlich verpflichtet ist, das elterliche Erziehungsrecht und das Potential der in Individuen veranlagten Fähigkeiten bei ihrer Entfaltung zu schützen und zu fördern, dies heißt aber nicht, daß der Begriff der Persönlichkeitsentfaltung von der Verfassung vorgegeben ist und wertmaterial zu verstehen wäre. Gleichwohl gibt die Verfassung mit der objektivrechtlichen Inpflichtnahme des Staates zur Wahrung und Optimierung 126

B V e r f G E 7 , 1 9 8 (205 f.).

127 12

BVerfGE 7.199(206).

®BVerfGE 39,334 (349).

1 2 9

Vgl. BVerfGE 39,1(42).

1 3 0

Vgl. hierzu nflher HJ*. Schneider, Eigenart und Funktion der Grundrechte..., S. 21.

131

A.a.O., S. 32.

32

Β. Staatliche Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes

der Grundrechte der Eltern und Schüler Organisationsprinzipien für die Ausrichtung der schulischen Erziehung. Aus den Grundrechten als der Gewährleistung zweckungebundener Freiheit, die in das Sozialstaats- und Demokratieprinzip eingebettet ist 132 , folgt daraus mit Richter als Konsequenz, daß sich "die Prinzipien der Pluralität und Toleranz, der Freiheitlichkeit und Sozialität und der Partizipation" als bindende Rahmenbedingungen der staatlichen Schulaufsicht darstellen, obgleich "diese Prinzipien... als Erziehungsziele die staatliche Bestimmung des Bildungsprozesses nicht inhaltlich steuern" kön-

b) Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates und Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren In der neueren Grundrechtsdiskussion, die im wesentlichen vom Diskurs über die Reichweite der objektiven Dimension der Grundrechte geprägt ist, kommt dabei der "Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung durch Organisation und Verfahren 134 entscheidende Bedeutung zu. Im sogenannten Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 Abs. 3 GG heißt es im Sinne eines dem Grundrechtsträger zugeordneten subjektiven Rechts, daß dem "einzelnen Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG aus der Weitentscheidung ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art (erwächst), die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerläßlich sind, weil sie ihm eine wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen"135. Auch im Bereich des Rundfunkrechts setzt sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage organisationsrechtlicher Schutzpflichten des Staates auseinander. Danach obliegt dem Staat die Verpflichtung, durch gesetzliche Vorkehrungen für die Freiheit des Rundfunks dergestalt Rechnung zu tragen, daß der Rundfunk staatsfrei und pluralistisch ist 136 . Über den Charakter von Abwehrrechten hinaus betont das Bundesverfassungsgericht damit Schutzpflichten des Staates zugunsten des jeweiligen Grundrechtsträgers. Die Organisation von Hochschule und Rundfunk wird damit nicht dem alleinigen politischen Gestaltungswillen der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit und ihren Ordnungsvorstellungen überlassen, sondern durch die Freiheitsverbürgung des jeweiligen Grundrechts inhaltlich dei32

Böckenßrde,

133

Richter,

Grundrechtstheorie..., S. 1538.

Kommentierung zu Art. 7 ...» Rdnr. 19.

1 3 4

Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 430 m.wJi.

1 3 5

BVerfGE 35,79 (119).

136

BVerfGE57,295,322 f.

IV. Kritik und Begrenzung des extensiven Begriffs der staatlichen Schulaufsicht

33

terminiert. Versteht man wie Alexy die in der objektiven Dimension der Grundrechte zum Ausdruck gekommenen Grundentscheidungen als "Prinzipien mit Optimierungsgebot", so ist für eine Inpflichtnahme des Staates über den politischen Willensbildungsprozeß hinaus entscheidend, daß Grundrechte Positionen manifestieren, "die so wichtig sind, daß ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der parlamentarischen Mehrheit überlassen werden kann"137 und die verfassungskonforme Begründung von Schutzpflichten oder Leistungsrechten darauf abzielt, dieser Indisponabilität Rechnung zu tragen138. Auch wenn die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zur Wissenschafts- und Rundfunkfreiheit nicht uneingeschränkt auf den Bereich der Schule übertragbar sind, so können hiervon gleichwohl gewichtige Impulse für die Gestaltung des Schulwesens ausgehen. Die Grundrechte von Eltern und Kindern begründen danach im Rahmen der Schule ein Recht auf solche Maßnahmen organisatorischer Art, die ihnen eine Persönlichkeitsentfaltung des Kindes nach ihren Wertvorstellungen und frei von staatlichen Zweckinteressen ermöglichen. Dies gilt es nachstehend anhand der durch Art 6 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Freiheitsrechte näher zu verifizieren.

1 3 1

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 406.

1 3 8

Vgl. Alexy, a.a.O., S.409.

3 Jach

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

Nach Art. 6 Abs. 2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuförderst ihnen obliegende Pflicht, welches allgemein unter der Geltung des Grundgesetzes als Grundrecht im klassischen Sinne anerkannt ist1. Daraus ergibt sich die Frage, welchen Einfluß die Grundrechtsgewährleistung des Art 6 Abs. 2 auf die Organisation des unter der Aufsicht des Staates stehenden Schulwesens hat I. Elternrecht und staatliche Schulhoheit als eigenständige Rechte Die systematische Stellung und Normierung von Elternrecht und staatlicher Schulaufsicht in zwei aufeinander folgenden, aber selbständigen Grundrechtsartikeln ist nicht zufällig 2, sondern Ausdruck einer bewußten Entscheidung des Parlamentarischen Rates. Dabei könnte die Entstehungsgeschichte von Art 6 und 7 GG zunächst die Vermutung nahelegen, Art. 7 GG stehe ungeachtet der Normierung des Elternrechts in Art. 6 Abs. 2 GG pluralistischen Tendenzen im Schulwesen entgegen. Mit der Fassung von Art. 6 und 7 GG wurde der Antrag von CDU und Zentrumspartei zurückgewiesen, die Regelungen über das Elternrecht und das Schulwesen in einem Artikel des Grundgesetzes zu fassen3. Der Antrag verfolgte das Ziel, über das Ausmaß und die Grenzen des Elternrechts die Schule primär unter dem Gesichtspunkt des den Eltern obliegenden 'natürlichen Elternrechts' zu sehen. Dies spiegelte die Position der katholischen Naturrechtslehre wider, die das Elternrecht als gottgegebenes, vorstaatliches Naturrecht über das staatlich-positive Erziehungsrecht stellt und letzteres dem Elternrecht unterordnet4. Insbesondere für die katholische Kirche konnte nach ihrer Soziallehre der Staat nur ein - in seinen Kompetenzen durch die von Gott geschaffene objektive Weltordnung mit einer für 1

Vgl. statt vieler Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Kommentienmg, A r t 6 Rdnr. I V ; Theodor Maunz,

Kommentierung zu A r t 6 Rdnr. 6, in: dersTDOrig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl., München, September 1980 (Stand der 25. Erglnzungsliefenmg 1987); BVerfGE 24,119 (138). 2

Peters, S. 371.

3

Vgl. hierzu Jach, Elternrecht.., S. 388 m. Nachw.

4

Vgl. Gisela Baumgarte, Das Elternrecht im Bonner Grundgesetz, Diss. Köln 1966, S. 3 ff.

I. Elternrecht und staatliche Schulhoheit als eigenständige Rechte

35

Staat und Erziehung verbindlichen Wertordnung - christlicher Staat mit christlichen Erziehungszielen sein, wobei die Befugnis 'christliche Erziehungsziele' zu bestimmen, nicht dem Staat, sondern den Eltern und über diese in deren Bindung an die katholische Kirche derselben selbst oblag5. Die katholische Lehre erkennt "das elterliche Erziehungsrecht als Naturrecht zwar an, macht aber aufgrund ihres Lehr- und Hirtenamtes die Voraussetzung, daß die Eltern ihre Kinder nach den Weisungen der Kirche zu erziehen haben"6. Damit wäre die Abhängigkeit des Staates bei der Gestaltung des Schulwesens von den Eltern nichts anderes als die Abhängigkeit von der Kirche. Auch die evangelische Kirche forderte die Verbindlichkeit christlicher Normen für Staat und Verfassung7 und damit auch für die Erziehung und die schulischen Erziehungsziele, wobei in Abgrenzung zur katholischen Soziallehre jedoch zu berücksichtigen ist, daß die evangelische Staatsrechtslehre einen Erziehungsauftrag des Staates auf der Basis einer Kooperation von Eltern und Schule nie bestritten hat8. Mit der Ablehnung dieses Antrages von CDU und Zentrumspartei sollte der Versuch der Kirche um Wiedergewinnung eines dominierenden Einflusses auf die öffentliche Erziehung mit einem absoluten Geltungsanspruch kirchlicher Werte zurückgewiesen werden. Es ging darum, die Säkularisierung von Bildung und Erziehung fortzuführen bzw. aufrechtzuerhalten. Nur in diesem Sinne kann m.E. die Fassung von Art. 6 und 7 GG in ihrer historischen Ausgangslage dahingehend richtig verstanden werden, daß verhindert werden sollte, das Elternrecht zum Angelpunkt des Schulrechts zu machen9. Die normative Fassung des Art. 7 Abs. 1 GG kann daher aus seiner historischen Ausgangslage heute nicht so verstanden werden, daß mit der Schulaufsicht des Staates jeglicher Einfluß gesellschaftlicher Gruppen vom Staatsschulwesen ausgeschlossen werden sollte, sondern Art 7 Abs. 1 GG sollte primär zunächst nur "die kirchliche Schulaufsicht ein für alle Mal ausschließen"10. Als Ausgleich für das von der Kirche geforderte konfessionelle Elternrecht wurde der erzieherische Einfluß der Eltern auf religiösem Gebiet dadurch gesichert, daß den Eltern als 'echtes Grundrecht'11 gem. Art. 7 Abs. 2 GG das Recht obliegt, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu be5

Vgl. a.a.O., S. 72 f.; s.a. hierzu Bengt Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach

1945, Berlin 1973, S.23ff. 6

Erwin Stein, Die rechtsphilosophischen und positivrechtlichen Grundlagen des Elternrechts, in:

ders./W. Joest/H. Dambois: Elternrecht, Heidelberg 1958, S. 28. 7

Beutler, S. 32.

8

Dietze, Schulverfassung..., S. 86 f.

9

Peters, S. 402.

10

HeckeUSeipp, Schulrechtskunde, S. 157.

11

Peters, S. 403.

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

36

stimmen und gem. Art 7 Abs. 4 und 5 GG Privatschulen zu errichten. Insofern gewährt Art. 7 GG den Eltern im weltanschaulich-religiösen Bereich ausdrückliche Rechte im Schulverhältnis. Dabei wird allgemein davon ausgegangen, daß das Recht der Eltern auf Errichtung von Privatschulen eine Absage an ein staatliches Schulmonopol darstellt12. Indem der Verfassungsgeber durch die Formulierung des Erziehungsrechts der Eltern in Art. 6 Abs. 2 GG und der Schulaufsicht des Staates in Art. 7 Abs. 1 GG eine Trennung der Erziehungsträgerschaften in verschiedene Normen des Grundgesetzes vorgenommen hat, ist nach h.M. anerkannt, "daß die Schule ein Eigenrecht hat, daß also ihr Erziehungsrecht nicht aus dem Elternrecht abzuleiten ist"13 und es sich nicht nur um eine formale Trennung handelt14. Elternrecht und staatliches Schulerziehungsrecht stehen danach als eigenständige, unabgeleitete Rechte nebeneinander15. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist demnach der allgemeine Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet16, so daß weder dem Elternrecht noch dem Erziehungsauftrag des Staates ein absoluter Vorrang zukomme und der Staat daher unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen könne17. Da das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG und das staatliche Schulerziehungsrecht aus Art. 7 Abs. 1 GG als eigenständige, unabgeleitete Rechte und als Verfassungsnorm prinzipiell gleichrangig nebeneinander stehen18, stellt sich die Frage, inwieweit beide Rechte miteinander kollidieren und "eine sinnvolle Verständigung über die beiderseitige Reichweite und das gegenseitige Verhältnis dieser beiden wichtigsten Erziehungsträger" herzustellen ist19. Indem das Grundgesetz neben dem Erziehungsrecht der Eltern in Art. 6 Abs. 2 GG das Verhältnis zum staatlichen Schulerziehungsrecht ausdrücklich in Art 7 Abs. 2, Abs. 4 S. 1 und Abs. 5 regelt, liegt die Vermutung nahe, daß die Eltern zunächst keine weiteren Rechte gegenüber der Schule herleiten können. Mit Ausnahme der ausdrücklichen Regelungen in Art. 7 GG würde da12

BVerfGE 27,195(201).

13

Peters, S. 386, ebenso Böckenförde,

Zum Ende des Schulgebetsstreits, S. 32; Evers, S. 69; Op-

permann, Kulturverwaltungsrecht, S. 262; v. Campenhausen, S. 53. 14

Peters, S. 402.

15

BVerfGE 34,165 (183); 41,29 (44); für die h.L. vgl. Oppermann, Gutachten..., S. C 99 m.w.N.

1 6

BVerfGE 47, 46 (72); ebenso BVerwGE 5, 153 (155); 18, 40 (42); v. Campenhausen, S. 32

m.w.N.; Oppermann, Gutachten..., S. C 99; HeckellSeipp, S. 263. 17

BVerfGE 47,46 (72).

18

Oppermann, Gutachten..., S. C 99.

19

A.a.O., C . C 98.

Π. Rechte der Eltern in der Schule

37

nach wie unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung das Separationsprinzip von elterlich-familiärer und öffentlich-schulischer Erziehung gelten, d.h., daß die Eltern keine weiteren Rechte in der Schule aus ihrem Erziehungsrecht herleiten können. Mit der Grundrechtsanerkennung des Elternrechts in Art. 6 Abs. 2 GG als der Verstärkung des individuellrechtlichen Moments der Erziehung im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes hat sich jedoch als zentraler Streitpunkt der Diskussion über das Verhältnis des Erziehungsrechts der Eltern zum Schulerziehungsrecht des Staates die Frage entwickelt, inwieweit die Eltern unter dem Gesichtspunkt eines pädagogischen Elternrechts auf die Gestaltung des Schulwesens Einfluß nehmen können und der Staat elterliche Interessen bei der schulischen Erziehung zu berücksichtigen hat. II. Rechte der Eltern in der Schule Entgegen der Ansicht Richters20, der in einer eingehenden Analyse versucht hat nachzuweisen, daß aus dem Separationsprinzip unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung und der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zu folgern sei, daß der Parlamentarische Rat nach der historischen Ausgangslage das Separationsprinzip auch zur Grundlage des Verhältnisses des Erziehungsrechts der Eltern zum Schulerziehungsrecht des Staates unter der Geltung des Grundgesetzes gemacht habe21, besteht heute weitestgehend Einigkeit darüber, daß die staatliche Schulaufsicht der Begründung von individuellen (subjektiven) Rechten der Eltern in der Schule aus Art. 6 Abs. 2 GG nicht entgegensteht. Während das Erziehungsrecht der Eltern in der WRV durch seine Normierung in Art. 120 WRV Berücksichtigung fand, ohne sich dabei vom Primat der staatlichen Erziehung zu befreien, beendet das Grundgesetz damit die Subsidiarität des Erziehungsrechts der Eltern gegenüber dem staatlichen Schulerziehungsrecht22. Denn "aus Art. 7 Abs. 2 und 5 GG ... kann nicht geschlossen werden, daß dieser Artikel des Grundgesetzes als lex specialis allein und abschließend die Reichweite des Elternrechts im Schulwesen regele... Gegenüber der Vorstellung einer grundsätzlich unbeschränkten Schulhoheit, wie sie die Weimarer Reichsverfassung beherrschte..., hat das Grundgesetz innerhalb des Gesamtbereichs Erziehung* das individualrechtliche Moment verstärkt und den Eltern, auch soweit sich die Erziehung in der

2 0

Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 44 ff.

2 1

A.a.O., S. 55.

2 2

Jach, Elternrecht..., S. 88.

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

38

Schule vollzieht, größeren Einfluß eingeräumt, der sich in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zu einer grundrechtlich gesicherten Position verdichtet hat"23. Die Herleitung des Separationsprinzips unter der Geltung des Grundgesetzes wird zu Recht abgelehnt, weil die Gewährleistung des Elternrechts in Art. 120 WRV entgegen der Grundrechtsanerkennung des Elternrechts in Art. 6 Abs. 2 GG lediglich den Charakter eines Programmsatzes bzw. einer Einrichtungsgarantie gehabt hat und aufgrund dieser geänderten verfassungsrechtlichen Lage die Interpretation der Weimarer Reichsverfassung für die Bestimmungen des Grundgesetzes nicht zugrundegelegt werden kann24. Art. 6 Abs. 2 GG kommt deshalb eine wesentliche andere Bedeutung als Art. 120 WRV zu, weil er aus dem Sinngehalt und der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes auszulegen und eine Begrenzung des Rechts der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder wie unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung unter der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr zulässig ist25. Aus dem Schweigen des Grundgesetzes über die Auflösung des Spannungsverhältnisses des Erziehungsrechts der Eltern zum Schulerziehungsrecht des Staates kann daher nicht geschlossen werden, "das elterliche Erziehungsrecht endet an der Pforte der Schule"26, sondern es erstreckt sich auch auf den schulischen Bereich27. Rechte der Eltern in der Schule begründen sich verfassungskonform daher, daß die Bezeichnung des Elternrechts in Art. 6 Abs. 2 GG als das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht nur als der prinzipielle Vorrang der elterlichen Erziehung vor der des Staates interpretiert werden kann28 und die Eltern dem Rang und der Bedeutung nach der erste Erziehungsfaktor 29 sind, so daß die Erziehung des Kindes daher primär in der Verantwortung der Eltern liegt30. Auch das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß die Eltern in erster Linie diejenigen sind, die ihre Kinder zu erziehen und "das Recht haben, Pflege und Erziehung nach ihren eigenen Vorstellungen frei zu gestalten... Diese Verantwortung ist eine Elternverantwortung und jedenfalls keine primäre Staatsverantwortung. Die Eltern genießen insoweit Vorrang vor anderen Erziehungsträgern. Allerdings sind im Bereich der Schule Erziehungsrechte der Eltern und staatlicher Erziehungsauf2 3

BVerfGE 34,165 (182); 47,46 (74).

2 4

Vgl. Evers, S. 68 f.; Peters, S. 372 f.; Erwin Stein, S. 39.

2 5

Erwin Stein, S. 39.

2 6

Evers, S. 68.

2 7

Ebd.; v. Campenhausen, S. 33; Baumgarte, S. 72; Oppermann, Gutachten..., S. C 98; Maunz,

Kommentierung zu Art. 6 GG, Rdnr. 25 d. 2 8

Oppermann, Gutachten..., S. C 99.

2 9

Campenhausen, S. 32.

3 0

Ossenbühl, Schule im Rechtsstaat, DÖV 1977, 801 (805).

Π. Rechte der Eltern in der Schule

39

trag einander gleichgestellt"31. Danach sind "die Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder verantwortlich, in ihre primäre Entscheidungszuständigkeit fällt die Befugnis, den Bildungsweg ihrer Kinder in der Schule zu bestimmen und zu wählen"32. Der Staat hat daher in der Schule die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder zu achten und darf durch schulorganisatorische Maßnahmen nie den ganzen Werdegang des Kindes regeln wollen33 und "sich nicht anmaßen..., die Kinder in allem und jedem unterrichten zu wollen, weil sie (die Schule, d. Verf.) sonst möglicherweise den Gesamterziehungsplan der Eltern unterlaufen würde"34. Das Bundesverfassungsgericht spricht in seiner Entscheidung zur hessischen Förderstufe 35 und zur Sexualerziehung in der Schule36 davon, daß sich die gemeinsame Erziehungsaufgabe von Elternhaus und Schule nicht in einzelnen Kompetenzen zerlegen lasse und in einem sinnvoll aufeinanderbezogenen Zusammenwirken zu erfüllen sei. Das Bundesverfassungsgericht strebt damit eine dynamische Lösung an, die dem von Hesse37 entwickelten Prinzip "praktischer Konkordanz" nahekommt38. Dieses Prinzip hat nach Hesse39 die Aufgabe, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter in der Problemlösung, wenn sie - wie Elternrecht und staatliches Schulerziehungsrecht in der Schule - kollidieren, einander so zuzuordenen, "daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt". Hesse40 spricht insofern von einer Aufgabe der Optimierung, als daß beide Güter zu begrenzen sind, um beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen zu lassen. "Die Grenzziehungen müssen daher im jeweiligen konkreten Falle verhältnismäßig sein; sie dürfen nicht weiter gehen als es notwendig ist, um die Konkordanz beider Rechtsgüter herzustellen"41. Diese Verhältnisbestimmung darf dabei niemals so vorgenommen werden, daß "die grundrechtliche Gewährung mehr als notwendig oder gar gänzlich ihrer Wirksamkeit... beraubt" wird 42. In diesem Rahmen gewährt Art. 6 Abs. 2 GG den Eltern ein Abwehrrecht gegenüber staatlichen Maßnahmen im Bereich der 3 1

BVerfGE 59,369 (384 f.); s.a. BVerwGE 64,308 (312).

3 2

BVerfGE, a.a.O., unter Verweis auf BVerfGE 34,165 (183 f.).

3 3

BVerfGE 34,165 (183).

3 4

BVerfGE 47,46 (75).

3 5

BVerfGE 34,165 (183).

3 6

BVerfGE 47,46 (74).

3 7

Hesse, Grundzüge..., S. 28 f.

3

* S.a. Fehnemann, Bemerkungen..., S. 494.

3 9

Hesse, Grundzüge..., S. 28 f.

4 0

A.a.O., S. 29.

4 1

Ebd.

4 2

A.a.O., S. 135.

40

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

Schule, die ihre Gesamtverantwortung für die Erziehung ihres Kindes gefährden. HL Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das elterliche Erziehungsrecht bei der Organisation und Ausgestaltung des Schulwesens Die Formel eines "sinnvollen Zusammenwirkens der beiden Erziehungsträger" scheint auf der Basis der Berücksichtigung des Erziehungsrechts der Eltern für das Wohl des Kindes und die Anerkennung der Verantwortung des Staates für die Entfaltung der Persönlichkeit der Kinder der beste Lösungsansatz, dessen inhaltliche Bestimmung jedoch konkret vorgenommen werden muß. Eine Zusammenarbeit beider Erziehungsträger, die der Identitätsfindung des Kindes dient, setzt ungeachtet der Befugnis des Staates zur Festsetzung eines Mindeststandards schulischer Bildung und Erziehung grundsätzlich voraus, daß für die Eltern über die Gewährung von Abwehrrechten gegenüber unzulässigen Eingriffen hinaus die Möglichkeit besteht, eine schulische Erziehung für ihr Kind zu wählen, die ihren Wertvorstellungen entspricht, setzt also Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der weltanschaulichen, bekenntnismäßigen oder pädagogischen Ausrichtung der Schule voraus. Rechte der Eltern in der Schule wie z.B. Informationsrechte 43 oder die Begrenzung des staatlichen Schulerziehungsauftrags auf bestimmte Teilbereiche sind demgegenüber nur eine unzureichende Kompensationsmöglichkeit für den Ausgleich unterschiedlicher Vorstellungen. 1. Schulvielfalt

und elterliches Erziehungsrecht

Ein wesentlicher Bestandteil des elterlichen Erziehungsrechts ist insbesondere die weltanschaulich-religiöse Erziehungskomponente, deren Bedeutung auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt ist. Danach schließt das Elternrecht i.V. mit Art. 4 Abs. 1 GG "auch das Recht der Eltern ein, ihren Kindern die von ihnen für richtiggehaltene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu vermitteln"44. Die besondere Bedeutung der Eltern für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes muß jedoch zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis mit dem staatlichen Erziehungsanspruch geraten, wenn die Eltern - aus ihrer Sicht zum Nachteil des Wohles ihres Kindes - in der Schule mit einer Ausrichtung der Erziehung konfrontiert werden, die ihren Vorstellungen grundlegend oder zumindest in weiten Bereichen zu4 3

Zum Informationsanspruch der Eltern vgl. BVerfGE 47,46 (76); BVerfG DVB11982.406.

4 4

BVerfGE 41,29 (47 f.).

ΠΙ. Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das elterliche Erziehungsrecht

41

widerläuft. Dies erkannt auch das Bundesverfassungsgericht und konstatiert, daß "eine bekenntnismäßig (oder auch weltanschaulich oder pädagogisch, F.R.J.) anders geprägte Schulerziehung das gesamte Eltern-Kind-Verhältnis belasten" kann43, kommt aber angesichts dessen, daß "es in einer pluralistischen Gesellschaft faktisch unmöglich (sei), bei der weltanschaulichen Gestaltung der öffentlichen Pflichtschule allen Elternwünschen voll Rechnung zu tragen"46, zu dem Schluß, daß kein Anspruch der Eltern gegenüber dem Staat bestünde, "daß die Kinder in der gewünschten weltanschaulichen Form erzogen werden"47. Dieser Ansicht ist insofern zuzustimmen, als aus Art 6 Abs. 2 GG kein subjektives Recht gegen den Staat herzuleiten ist, allein dem Individualinteresse von Eltern entsprechend schulische Erziehungseinrichtungen vom Staat einzuklagen. Dies würde in der Tat dazu führen, über subjektive Rechtspositionen von Einzelnen staatliches Handeln an Individualinteressen auszurichten. Das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis läßt sich jedoch nicht allein durch den Verweis auf einen zu suchenden Ausgleich der Interessen nach dem Gebot der Toleranz und Neutralität innerhalb des bestehenden staatlichen Schulwesens48 lösen. Indem das Neutralitäts- und Toleranzgebot als das Verbot der Indoktrination und einseitiger ideologischer Beeinflussung der Kinder im Rahmen des Unterrichts bis hin zu einem "Grundrecht der Schüler und Eltern auf eine ideologisch tolerante Schule"49 erhoben wird, bleibt das Problem auf der Ebene subjektiver Rechtsansprüche verhaftet und dient allenfalls dazu, mißliebige Unterrichtsinhalte negatorisch wegzuklagen50. Ziel muß es demgegenüber sein, den Gegensatz von Elternhaus und Schule, öffentlich und privat weitestgehend aufzulösen, was eine grundsätzliche Berücksichtigung der verschiedenen gesellschaftlichen Erziehungsvorstellungen bei der Gestaltung des Schulwesens voraussetzt. HieAei ist es notwendig, die erzieherische Aufgabe der Schule uneingeschränkt anzuerkennen51, gleichzeitig aber die Schule aus der Allmacht des Staates zu lösen und unter einer Neubestimmung des Organisationsprinzips der staatlichen

4 5

A.a.O., S. 47.

4 6

A.a.O., S. 50.

4 7

A.a.O., S. 48.

4 8

BVerfG DÖV 1980,333 (336).

4 9

Oppermann, Gutachten..., S. C 94.

5 0

Helmut Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, S. 133; zur Problematik

des Toleranzgebots, s.a. Frank-Rüdiger

Jach, Die Bedeutung des Neutralitäts- und Toleranzgebotes bei

der Entscheidung über die Zulassung eines Schulbuchs zum Unterrichtsgebraudi, RdJB 1989,210 ff. 5 1

Restriktiv insoweit Ossenbühl, Rechtliche Grundfragen..., S. 40 ff.; s.a. ders., Schule im Rechts-

staat, S. 808; Erichsen, Verstaatlichung der Kindeswohlentscheidung, Berlin/New York 1979, S. 25; s.a. ders., Höchstrichterliche Rechtsprechung..., S. 391; Uwe Jessen, Anmerkung zu OVG Berlin NJW 1973,819; in: NJW 1973,1340 (1341).

42

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

Schulaufsicht den gesellschaftlichen Einfluß auf die Erziehung in Form weltanschaulich und pädagogisch differenzierter Erziehungs- und Unterrichtskonzeptionen zu gewährleisten. Die Vorstellung einer ergänzenden Erziehungsfunktion des Staates und des gemeinsamen Zusammenwirkens von Eltern und Schule wäre unproblematisch, wenn über die Erziehung ein allgemeiner gesellschaftlicher Konsens bestünde. Dies ist aber, wie die Streitigkeiten über die Förderstufe 52 und die Sexualerziehung53 nur vordergründig zeigen, keinesfalls der Fall. Wenn der Staat gehalten ist, neben dem Recht des Kindes auf Persönlichkeitsentfaltung die besondere Bedeutung des Erziehungsrechts der Eltern zu achten - dies war historisch vor der Grundrechtsanerkennung des Elternrechts beim staatlichen Schulehalten nicht der Fall -, so kann über die Gewährung subjektiver Rechte der Eltern hinaus aus der Gesamtheit der Verfassung objektivrechtlich der Begriff der staatlichen Schulaufsicht heute nur dahingehend ausgelegt werden, daß der Staat dafür Sorge zu tragen hat, daß die schulische Erziehung in einer Weise organisiert wird, die eine Verwirklichung, nicht nur eine Duldung oder Respektierung, der unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen ermöglicht. Der Staat ist danach verpflichtet, Schulvielfalt zu gewährleisten und neben den heutigen Schulformen auch solche alternativen pädagogischen Schulformen anzubieten oder zu ermöglichen, wie sie heute nur die Privatschulen als inhaltliche Alternative zur Staatsschule darstellen. In dem verfassungsrechtlichen Postulat der Gewährleistung von Schulvielfalt gewinnt dabei der Aspekt pädagogischer Vielfalt gegenüber dem weltanschaulich-religiösen Bereich (im engeren Sinne) besondere Bedeutung, weil sich hierin die gebotene Kindeswohlorientierung von Elternrecht und Schule auch im Gebot der Schulvielfalt angesichts der wissenschaftlichen Fundierung verschiedener pädagogischer Konzepte verobjektiviert. Darüber hinaus ist der Staat bei entsprechender Nachfrage verpflichtet, Gesamtschulen - oder auch Gymnasien, sofern die Gesamtschule Regelschule ist -, Ganztagsschulen oder z.B. bilinguale Schule anzubieten oder durch materielle Unterstützung als Schulen in freier Trägerschaft zu ermöglichen. Dabei bleibt dem Landesgesetzgeber ein Gestaltungsspielraum, ob er Schulvielfalt im staatlichen Schulsystem oder durch Schulen in freier Trägerschaft sichert, der jedoch substantiell dahingehend ausgefüllt werden muß, daß ein "echtes" Wahlrecht durch im wesentlichen gleiche Bedingungen etwa hinsichtlich der finanziellen Belastungen besteht. Insofern legt das Elternrecht den Staat "darauf fest, Schule kooperativ zu entwickeln, ihre Organisation also nicht einer generellen Mehrheitsentschei-

5 2

BVerfGE 34,165.

5 3

BVerfGE 47,46.

ΠΙ. Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das elterliche Erziehungsrecht

43

dung (im Parlament) zu unterwerfen" 54 und gewährleistet "neben der Garantie der auf den einzelnen Schüler bezogenen individuellen Bestimmungs- und Entscheidungsrechte auch das Recht auf Gewährleistung 'gesellschaftlich relevanter' Schulformen..., die einen erheblichen Rückhalt in der Elternschaft und in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion finden" 55. Diese objektivrechtliche Dimension des Elternrechts ist nicht nur als Recht auf Erhaltung bestehender Schulformen zu begrenzen56, sondern verpflichtet den Staat konsequenterweise darüber hinaus zur grundsätzlichen Gewährleistung pädagogischer Vielfalt, wobei ihm zweifellos ein weiter Gestaltungsspielraum für die Realisierung derselben zukommt. Kultureller Pluralismus als unabdingbares Konstitutionselement des freiheitlichen Verfassungsstaates erfordert auch schulische Vielfalt und das Recht der Bürger, innerhalb des Rahmens des "zivilisatorischen Mindeststandards" einer Gesellschaft die Erziehung ihrer Kinder im Wege der Selbstdefinition zu bestimmen. Allein diese Bedeutung grundrechtlicher Freiheit kann auch die Rechtfertigung dafür geben, eine mit der objektivrechtlichen Sicht der Grundrechte einhergehende Verlagerung der Rechtsgestaltung im Schulwesen vom parlamentarisch-politischen Prozeß auf die verfassungsrechtliche Rechtsbildung zu akzeptieren57, weil insofern Grundrechte wie das elterliche Erziehungsrecht und das Recht des Kindes auf umfassende Entfaltung seiner Persönlichkeit es erfordern, auch vor Gefährdungen ihrer Realisierung gerade durch den politischen Prozeß geschützt zu werden. Hierbei gilt es zu verhindern, daß die umfassende Gestaltungsbefügnis des Landesgesetzgebers in grundlegenden Fragen der Erziehungsziele, der pädagogischen Konzepte und der Schulformen in einer von pluralistischen Wertvorstellungen geprägten Gesellschaft letztendlich zu einer "autoritativen Wertzuweisung" dergestalt führt, daß die jeweilige parlamentarische Mehrheit über die Minderheit entscheidet58. Zwar ist die Schule - wie Art. 7 Abs. 1 GG zeigt - nicht in gleichem Maße als "staatsfreier" Raum wie etwa der Bereich des Rundfunks zu verstehen, doch lassen sich mit der Anerkennung der Geltung der Grundrechte von Eltern und Schülern im Schulverhältnis, die der Freiheit der Erziehung und der zweckungebundenen Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes dienen sollen, zumindest partiell Elemente von Staatsfreiheit auch im Schulwesen nicht ne5 4

Karl-Heinz Ladeur, Elternrecht, kulturstaatliches Vielfaltgebot und gesetzliche Regelung der

Schulschließung, DÖV 1990. S. 945,948. 5 5

A.a.O., S. 949.

5 6

Vgl. hierzu Ladeur, ebd.

5 7

Vgl. hierzu pointiert Böckenfirde,

5 8

Theodor Hanf, Vom pidagogischen Kulturkampf und seiner Vergeblichkeit, in: Festschrift für

Grundrechte als Grundsatznormen, S. 24 ff.

Erwin Stein, Bad Homburg v.d.H. 1983, S. 421. (429 f.).

44

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

gieren. Hinzu kommt, daß in einer freiheitlichen Gesellschaft auch die Bestimmungsgewalt des Staates in der Schule stets eine dienende Freiheit zugunsten des Kindes sein muß59, so daß für den Bereich des Schulwesens zwar nicht der Grundsatz der generellen Staatsfreiheit, gleichwohl aber der Grundsatz des Pluralismus gleichermaßen wie im Rundfunkrecht Geltung beanspruchen kann. Insofern verbinden sich im Pluralismusgebot die objektiv-institutionelle Dimension einer freiheitlichen Schulverfassung und die subjektivrechtliche Dimension der Eltern als Grundrechtsträger in ihrem Anspruch, die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes nach ihrem eigenen Entwurf zu bestimmen. Ebenso wie eine freie und öffentliche Meinungsbildung die Freiheit des Rundfunks von staatlicher Beherrschung und Einflußnahme zur Voraussetzung hat60, ohne daß daraus ein Anspruch des Rundfunkteilnehmers auf Ausstrahlung bestimmter Sendungen erwächst61, oder das Grundgesetz eine bestimmte Form der Rundfunkorganisation vorschreibt62, fordert die Anerkennung eines kulturellen Pluralismus auch in Fragen der schulischen Bildung und Erziehung als Essential eines freiheitlichen Verfassungsstaates keine bestimmte Organisationsform der Schule, die vom einzelnen Grundrechtsträger einklagbar wäre. Der Grundsatz des Pluralismus im Bereich der Schule gibt den Eltern und/oder Kindern kein generell einklagbares Teilhaberecht auf bestimmte staatliche Maßnahmen zur Sicherung dieser schulischen Vielfalt, da dies in der Tat sowohl die Kulturhoheit der Länder als auch den in ihnen stattfindenden politischen Willensbildungsprozeß in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise aushöhlen würde63. Dies heißt aber nicht, daß der Grundsatz des Pluralismus im Schulwesen für den Gesetzgeber als völlig unverbindliche Leitlinie zu verstehen wäre. Als Elemente objektiver Ordnung setzen die Grundrechte auch im Bereich der Schule (objektive) Richtlinien und Maßstäbe für die Planung und Herstellung jener Voraussetzungen, die die Organe der politischen Willensbildung bei aller Freiheit als Minimum für die Gestaltung im einzelnen nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Danach hat der Gesetzgeber durch normative Regelungen dafür Sorge zu tragen, daß Schulvielfalt, insbesondere pädagogische Vielfalt hinsichtlich verschiedener pädagogischer Konzepte, entweder im staatlichen Schulsystem selbst verwirklicht werden kann oder aber eine ausreichende Förderung von Schulen in freier Trägerschaft mit besonderer pädagogischer Prägung erfolgt, die dem Vielfaltsgebot gerecht wird. 5 9

V g l hinsichtlich der Rundfunkfreiheit BVerfGE 75,295 (320).

6 0

BVerfGE 57,295.

6 1

BVerwG DÖV 1979, S. 102.

6 2

BVerfGE 57,295.

6 3

Vgl. Hesse, Grundzüge..., S. 123 ff.

ΠΙ. Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das elterliche Erziehungsrecht

2. Partizipationsrechte

45

und staatliche Schulaufsicht

Gegenstand der normativen Ausgestaltung der Schulaufsicht wäre darüber hinaus, sicherzustellen, daß unter Beteiligung der Betroffenen die gesellschaftlich relevanten pädagogischen Gruppen und Kräfte ausreichend zur Geltung gelangen und in die übergreifende Unterrichtsplanung einbezogen werden. Bei alledem obliegt dem Staat gleichwohl das Recht und die Pflicht zur Sicherung einer schulischen Grundversorgung64 dergestalt, daß es dem Staat unbenommen bleibt, selbst Schulen zu unterhalten, in denen ein nach seinen eigenen bildungspolitischen Vorstellungen in sich geschlossenes Unterrichtskonzept angeboten wird. Darüber hinaus hat er unter Mitwirkung der Beteiligten sicherzustellen, daß ein bestimmter Minimalstandard ungeachtet verschiedener pädagogischer Prägungen eingehalten wird, um dem Kind gesellschaftliche Mobilität und die Vermittlung eines Mindestwissens zu garantieren. Aufgabe solchermaßen ausgestalteter Organisations- und Verfahrensnormen im Bereich der staatlichen Schulaufsicht wäre es, die subjektiven Freiheitsrechte und -interessen des Einzelnen mit den bildungspolitischen Interessen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen. Das eigentliche Problem zwischen elterlichem und staatlichem Erziehungsrecht liegt dabei weniger in Wahlmöglichkeiten zwischen bestehenden Schulformen und einer mangelnden Ausgestaltung formaler Mitsprache- und Informationsrechte, sondern darin, daß nach dem herrschenden Schulaufsichtsbegriff die Bestimmung des Unterrichtsstoffes und der Bildungs- und Erziehungsziele als eine den Eltern und der Gesellschaft verschlossene Domäne des Staates angesehen wird 65. Hierdurch sind die Eltern angesichts einer einseitigen Persönlichkeitsformung in der schulischen Erziehung, die auf der Basis einer kognitiv-abstrakten Form des Lernens beruht, gezwungen, eine bestimmte Persönlichkeitsentfaltung ihrer Kinder in der Schule in Kauf zu nehmen. Für die Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes66 reicht es für ein sinnvolles, nicht nur von den staatlichen Interessen ausgehendes, Zusammenwirken nicht aus, die Eltern über das schulische Geschehen zu informieren und ihnen innerhalb dieses Schulsystems Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Dieses sind zwar wichtige formale Schritte für ein Zusammenwirken, sie ersetzen aber keinesfalls die notwendige inhaltliche Kontinuität zwischen elterlichen und schulischen Erziehungsvorstellungen, um die Identitätsfindung des Kindes zu gewährleisten67. Dies wird im Grundsatz zwar anerkannt, wenn der 6 4

Vgl. zur Rundfunkfreiheit BVerfGE 73,118 (157); 74, 297 (324).

6 5

Ossenbiihl, Erziehung und Bildung..., S. 379; s.a. BVerfGE 34,165 (182); 47,46 (71 f.).

6 6

BVerfGE 34,165 (183).

6 7

Allein darum kann es bei der Formulierung von der Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes

gehen.

46

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

Staat als verpflichtet angesehen wird, ein Schulsystem zur Verfügung zu stellen, das den verschiedenen Interessen und Begabungen Rechnung trägt, weil ansonsten die Grundrechte des Kindes aus Art 2 Abs. 1 GG und der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG in ihrem Wesensgehalt tangiert seien68. Doch verlagert die allgemeine Diskussion dieses Problem allein auf die Ebene formaler Qualifikationen, wenn sie im Streit um die Einführung der Gesamtschule neben oder anstelle des Gymnasiums oder der Hauptschule auf das Wahlrecht zwischen den verschiedenen gegenwärtigen Schulformen abstellt. Ebenso entscheidend ist, daß bezogen auf das elterliche Erziehungsiecht eine inhaltliche erzieherische Wahlmöglichkeit bestehen muß, die einerseits über die Frage von berufsqualifizierenden Abschlüssen im dreigliedrigen Schulsystem oder der Gesamtschule hinausgeht und andererseits nicht in das Reservat des Privatschulwesens mit seiner restriktiven Genehmigungs- und Finanzierungspraxis verlagert werden darf. Aus diesem Grunde ist das heutige Schulsystem von seiner Aufgabe, in seinem Erziehungs- und Bildungsprogramm die Gesellschaft abzubilden69, weit entfernt. Die Problematik liegt insoweit auch darin begründet, daß "ein vom Staat überzogenes Interesse an Einheitlichkeit und Planbaikeit der durch die Schule vermittelten Werte, Normen und Qualifikationen mit dem Interesse der Eltern an einer möglichst wenig eingeschränkten Entfaltungsfreiheit ihres Kindes" kollidiert70. So lautet in der Tat die Frage, inwieweit es nicht den Eltern als Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Wertvorstellungen vorbehalten bleiben muß, "sich gegen eine besondere Ausrichtung der Schule auf ein staatlich gefordertes oder ausdrücklich anerkanntes Erziehungsziel zu wenden"71. So ist wohl auch Roellecke zu verstehen, wenn er den Kernsatz des Bundesverfassungsgerichts zu den Erziehungskompetenzen von Eltern und Staat in der Schule, wonach die gemeinsame Erziehungsaufgabe in der "Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes" besteht72, infragestellt, da "die Bezugnahme auf die eine Persönlichkeit (...) nur einheitliche, das heißt totalitäre Erziehungsansprüche zu begründen (vermag)"73. Der Widerspruch liegt also darin, daß verfassungsrechtlich zwar eine pluralistische Organisation des Schulwesens geboten ist, die Eltern nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gleichwohl nicht verlangen 6 8

Kohl, s. 208.

6 9

A.a.O., S. 211.

7 0

EW.

7 1

Franz Hill, Das natürliche Elternrecht aus verfassungsrechtlicher und zivilrechtlicher Sicht, RdJB

1972,136 (138). 7 2

BVerfGE 34,165 (1983).

7 3

Gerd Roellecke, Die Exekutionsmacht des Lehrers..., S. 517.

ΠΙ. Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das elterliche Erziehungsrecht

47

können, daß der Staat ihnen eine wunschgemäße Schulform zur Verfügung stellt74. Deshalb kann es nicht darum gehen, anstelle des hier vertretenen Vielfaltsgebots in eine umfassende staatliche, über die gesellschaftlichen Gruppen hinweg gesteuerte Erziehungskompetenz zurückzufallen, die je nach politischem Standpunkt für sich in Anspruch nimmt, 'die richtige' Auffassung umfassender Persönlichkeitsentfaltung zu verwirklichen, sondern es geht darum, über eine Neubestimmung des Schulaufsichtsbegriffs in Art 7 Abs. 1 GG 7 5 "die durch die gesellschaftliche Entwicklung (Traditionsauflösung, Macht) kontingent gesetzten individuellen Handlungspositionen innerhalb eines staatlich zu reorganisierenden gesellschaftlichen Prozesses in adäquate Verfahrens- und Organisationsteilhabe"76 zu transformieren, der es "um die Erhaltung bzw. Rekonstruktion (im Bereich des Schulwesens gar um die Erlangung, F.-R.J.) von nichtstaatlicher dezentraler gesellschaftlicher und individueller Autonomie geht"77. Dies kann nur durch eine stärkere Vergesellschaftung - nicht weitere Verstaatlichung oder umfassende Verrechtlichung - des Erziehungs- und Bildungsprozesses unter restriktiver Interpretation des Schulaufsichtsbegriffs geschehen. Aus den bisherigen Untersuchungen hat sich gezeigt, daß die objektivrechtliche Dimension des Elternrechts im Bereich der Schulverfassung ein Schulvielfaltsgebot impliziert, dem die gegenwärtige (Verfassungs-) Rechtslage nicht genügt. Es soll nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein, ob dieses Vielfaltsgebot in Form eines (bedingt) einklagbaren Rechts von Eltern oder Schülern oder in Form eines nicht einklagbaien, an den Staat gerichteten Handlungsgebots zur Gewährleistung von Schulvielfalt im Sinne eines Programmsatzes besteht78. Entscheidend ist insoweit, daß das "Verständnis der Grundrechte als oberster objektiver Normen namentlich für den Gesetzgeber eine (positive) Verpflichtung" impliziert, "alles zu tun, um Grundrechte zu verwirklichen, auch wenn hierauf ein subjektiver Anspruch nicht besteht"79, wobei unbestritten sein dürfte, daß dem Gesetzgeber für die Verwirklichung der objektivrechtlichen Verpflichtung zur Gewährung von Schulvielfalt ein weiter Handlungsspielraum zukommt

7 4

BVerfGE 34,165 (185); 45,400 (415).

7 5

S. dazu nachfolgend S. 80 ff.

7 6

Friedheim Hasel Karl-Heinz Ladeurl Helmut R. Ridder, Nochmals: Refoimalisierung des Rechts-

staates als Demokratiepostulat, JuS 1981, S. 796. 7 7

A.a.O., 798.

7 8

Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 456 ff.

7 9

A.a.O., S. 456 unter Bezugnahme auf Hesse.

48

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

IV. Das Wahlrecht der Eltern zwischen privater und staatlicher Schule Für pädagogische Alternativen als Ausdruck schulischer Vielfalt sind Eltern und Kinder derzeit allein auf Schulen in freier Trägerschaft, sogenannte Privatschulen, angewiesen, die damit eine wesentliche gesellschaftliche Auffangfunktion wahrnehmen. Diese tragen wesentlich dazu bei, ein Schulsystem zu gewährleisten, welches den verschiedenen Wertvorstellungen über die Erziehung in der Gesellschaft entspricht und nicht nur religiös-weltanschauliche, sondern insbesondere auch pädagogische Alternativen gegenüber dem Unterricht im staatlichen Schulsystem mit seiner primär intellektuell - kognitiven - Ausrichtung eröffnet. Signifikant dafür sind die l,ganzheitlichen,, reformpädagogisch orientierten Erziehungskonzeptionen der Freien Schulen, Landerziehungsheime, Montessorischulen und der Waldorfschulen 80. Die Existenz dieser Schulen ist in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG nur bedingt gewährleistet, so daß zu untersuchen ist, ob der Staat dem Verfassungsgebot der Schulvielfalt angesichts der gegenwärtigen Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft ausreichend Rechnung trägt. 7. Privatschulfreiheit

als JJnterrichtsfreiheit

Mit der Gewährung des Rechts auf Errichtung privater Schulen gemäß Art. 7 Abs. 4 GG haben die Eltern zunächst die Wahl und das freie Entscheidungsrecht zwischen staatlicher und privater Schule81. Dieses Wahlrecht ermöglicht es den Eltern in gewissem Rahmen, ihren Kindern eine nach eigenen Vorstellungen geprägte Erziehung und Bildung in der Schule zu vermitteln. Insofern korrespondiert das Recht der Eltern zur Errichtung von Privatschulen mit dem elterlichen Erziehungsrecht82 und ist als eine grundsätzliche Absage an ein staatliches Schulmonopol zu verstehen83. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit in seiner grundlegenden Entscheidung zur Privatschulsubventionierung den freiheitssichernden Aspekt der institutionellen Garantie der Institution des privaten Ersatzschulwesens deutlich herausgearbeitet: "Die Privatschulfreiheit ist im Blick auf das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG), zur Entfaltung der Persönlichkeit in Freiheit und Selbstverantwortlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), zur Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG), zur religiösen und weltanschaulichen 8 0

Siehe hierzu die Darstellung der verschiedenen Unterrichtskonzeptionen in: Arbeitsgemeinschaft

Freier Schulen (Hrsg.), Handbuch Freie Schulen, Reinbek 1988, sowie Hartmut von Hentig, Wie frei sind freie Schulen?, Gutachten für ein Verwaltungsgericht, Stuttgart 1987. 8 1

Vgl. BVerfGE 4,52 (56); BVerwGE 5,153 (155); Heckel/Seipp, S. 264.

8 2

Maunz, Art. 7 Rdnr. 64.

83

BVerfGE 27,195 (201).

IV. Das Wahlrecht der Eltern zwischen privater und staatlicher Schule

49

Neutralität des Staates und zum natürlichen Elternrecht (Art 6 Abs. 2 Satz 1 GG) zu würdigen. Diesen Prinzipien entspricht der Staat des Grundgesetzes, der für die Vielfalt der Erziehungsziele und Bildungsinhalte und für das Bedürfnis seiner Bürger offen sein soll, in der ihnen gemäßen Form die eigene Persönlichkeit und die ihrer Kinder im Erziehungsbereich der Schule zu entfalten" 84. Mit der institutionellen Garantie der Privatschule korrespondiert daher das Recht des Schulträgers, einen eigenverantwortlich geprägten und gestalteten Unterricht insbesondere auch in Hinsicht auf die Erziehungsziele, die weltanschauliche Basis sowie die Lerninhalte und Lernmethoden verwirklichen zu können, weshalb die Absage an ein staatliches Schulmonopol zugleich eine Benachteiligung gleichwertiger Ersatzschulen gegenüber den entsprechenden staatlichen Schulen allein wegen ihrer andersartigen Erziehungsform und -inhalte verbietet85. Danach ist es den Schulen in freier Trägerschaft zwar grundsätzlich möglich, Erziehung und Unterricht in der Schule im Hinblick auf die Persönlichkeitsbildung des Kindes selbständig zu bestimmen, jedoch gilt diese Freiheit des Unterrichts nur innerhalb der einzuhaltenden Genehmigungsvoraussetzungen insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3, wonach die Genehmigung nur zu erteilen ist, wenn die entsprechende Ersatzschule in ihren Lehrzielen nicht hinter staatlichen Schulen zurücksteht. Das Problem der eigenverantwortlich geprägten Unterrichts- und Erziehungsarbeit in den Schulen in freier Trägerschaft liegt daher primär in der Ausfüllung der diesem Grundrecht immanenten Schranken bei der inhaltlichen Bestimmung des Kriteriums der Gleichwertigkeit und der sonstigen Genehmigungsvoraussetzungen für diese auch der staatlichen Schulaufsicht unterliegenden Ersatzschulen. Indem "die Genehmigung die Erwartung ein(schließt), daß die Schule (in freier Trägerschaft, F.-R.J.)... ihren Schülern eine Ausbildung und Erziehung vermitteln wird, die nicht hinter der durch eine öffentliche Schule zu erlangenden zurücksteht"86, finden sich auch die Schulen in freier Trägerschaft - insbesondere schon im Genehmigungsverfahren - bei der Festlegung von einzuhaltenden Mindestanforderungen des Unterrichts weitgehend der Zweckrationalität staatlicher Schulerziehung unterworfen. Deutlich wird die Verhinderung von Schulvielfalt selbst im privaten Ersatzschulwesen durch die Genehmigungspraxis der Schulverwaltung daher nicht nur im Rahmen des Art. 7 Abs. S GG an dem Streit um die Zulassung bzw. an der restriktiven Zulassungspraxis für sogenannte "Freie (Alternativ-)Schulen" im Grundschulbereich bei der Frage der Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses87, sondern auch im Rahmen der allgemeinen Genehmi8 4

BVerfGE 75,40 (62 f.).

8 5

BVerfGE 27,195 (200 f.).

8 6

BVerfGE 27.195 (204).

8 7

Vgl. dazu ausführlich Jach, Privatschulfreiheit..., S. 507 ff.; s. hierzu nachfolgend S. 51 ff.

4 Jach

50

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

gungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG und es ist bezeichnend, daß Schulen in freier Trägerschaft, wenn sie die Genehmigung erhalten wollen, "inhaltlich und organisatorisch wesentlich nach dem Bild des öffentlichen Schulwesens modelliert werden müssen"88. Mit der Formulierung derartiger Gleichwertigkeitsanforderungen wird die Unterrichtsfreiheit der Schulen in freier Trägerschaft in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise relativiert. Die Unterrichtsverwaltung ist daher gehalten, bei der rechtlichen Beurteilung, ob Schulen in freier Trägerschaft eine in den Lehrzielen den staatlichen Schulen gleichwertige Bildung vermitteln, die Pluralität der Erziehungs- und Bildungsvorstellungen in der Gesellschaft mit zu berücksichtigen, so daß etwa Anforderungen an bestimmte Lehrziele und Unterrichtsinhalte auf ein Minimum zu beschränken sind. Insofern müssen auch Schulen in freier Trägerschaft einen bestimmten Grundkonsens für alle Schulen dergestalt einhalten, daß ein bestimmter Bildungskanon vermittelt wird, um unter den heutigen Bedingungen des Berechtigungswesens Chancengleichheit herzustellen und den Kindern später gesellschaftliche Mobilität zu ermöglichen. Ferner ist es jeglicher Schule auch in freier Trägerschaft verwehrt, die Schüler einseitig zu indoktrinieren oder ihnen die Möglichkeit der eigenen Wertbildung zu verbauen; dazu gehört unabdingbar der Grundsatz der Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Darüber hinaus muß es jedoch den Schulen in freier Trägerschaft selbst obliegen, Inhalte und Konzepte ihres Unterrichts zu bestimmen. Verfassungsrechtlich bedenklich ist insoweit auch die privilegierte Stellung sogenannter anerkannter Ersatzschulen im Vergleich zu lediglich genehmigten Ersatzschulen. Eine Ersatzschule erhält die Anerkennung durch die Unterrichtsverwaltung in der Regel dann, wenn ihr Unterricht im wesentlichen dem des staatlichen Schulsystems entspricht, während eine (lediglich) genehmigte Ersatzschule in der Regel durch einen eigenständig geprägten Unterricht gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu den genehmigten Ersatzschulen sind anerkannte Ersatzschulen befugt, eigenständig staatliche Berechtigungen in Form von Zeugnissen zu erteilen, während die Schüler genehmigter Ersatzschulen sogenannte Externenprüfungen ablegen müssen. Angesichts dieser für den Bildungsweg des Kindes entscheidenden Ungleichbehandlung wird ein ständiger und unzulässiger Anpassungsdruck auf die nicht anerkannten, lediglich genehmigten Ersatzschulen ausgeübt, der die Freiheitsgarantie des Art. 7 Abs. 4 unter dem Gesichtspunkt der Schulvielfalt in der Praxis "weitgehend entwertet"89. Die Unterrichtsfreiheit wird so - wie Stein/Roell zu Recht feststellen - weitestgehend "zu dem Recht denaturiert, die Bildungsinhalte der öf-

8 8

Oppermann, Gutachten. S. C 22.

8 9

Stein/Roell, S. 106.

IV. Das Wahlrecht der Eltern zwischen privater und staatlicher Schule

51

fentlichen (d.h. staatlichen, F.-R.J.) Schulen unter privater Trägerschaft zu vermitteln"90. 2. Die Zulassung privater Ersatzschulen mit besonderer pädagogischer Prägung im Grundschulbereich Nach Art. 7 Abs. 5 GG ist eine private Grund- (Volks-)Schule nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt, oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Grundschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht. Die Zulassung einer Grundschule mit besonderer pädagogischer Prägung ist demnach davon abhängig, ob die Unterrichtsverwaltung für diese Schule ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt. Mit einer restriktiven Interpretation dieser Vorschrift seitens der Unterrichtsverwaltung und der Einräumung eines weiten Beurteilungsspielraums durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts91 wird damit der Genehmigungsvorbehalt des Art 7 Abs. 5 GG zu einem wesentlichen Instrument zur Verhinderung von schulischer Vielfalt. Exemplarisch hierfür steht die restriktive Zulassungspraxis gegenüber sogenannten freien Alternativschulen, denen die Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses weitestgehend versagt bleibt92. Diesen freien Schulen wurde die Erteilung einer Unterrichtsgenehmigung mit der Begründung verweigert, ihnen lägen keine neuen wissenschaftlich erarbeiteten Unterrichtsmethoden als pädagogisches Konzept zugrunde bzw. diese würden von anderen Schulen infreier Trägerschaft bereits erprobt. Entscheidend für die Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses durch die Unterrichtsverwaltung sei insofern kein privates, sondern ausschließlich ein öffentliches Interesse dahingehend, "daß nach Auffassung der Unterrichtsverwaltung die zu genehmigende Grundschule auch und gerade im Hinblick auf den verfassungsmäßigen Vorrang der öffentlichen Grundschule eine förderungswürdige pädagogische Prägung aufweist" 93. Entgegen der Ansicht 9 0

Ebd.; zur Benachteiligung von Schülern von Schulen in freier Trägerschaft bei der Ablegung des

Abiturs vgl. Wolf-Dieter

Hauenschild, Chancengleichheit fllr Schüler privater Ersatzschulen beim

Abitur? RdJB 1990,307 ff. 9 1

Vgl. hierzu Jach, Privatschulfreiheit... 508 ff.; ders. Schulverfassung und Grundgesetz, RdJB

1990, 300 (304 f.); Ingo RichterlMartin

Groh, Privatschulfreiheit und gemeinsame Grundschule, RdJB

1989, 276 (284 ff.); Johann Peter Vogel, Zulassungsvoraussetzungen für private Volksschulen, RdJB 1989, 299 (303 ff.); Ulrich Kaschner, Das besondere (pädagogische) Interesse an privaten Volksschulen, RdJB 1983,329 (331). Vgl. dazu BVerwGE 75, 275; ν. H entig, Gutachten, sowie die vorstehend genannten Literaturhinweise. 9 3

BVerwGE 75,275 (278).

52

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

des Bundesverwaltungsgerichts kann nicht ein eigenes besonderes pädagogisches Interesse der Unterrichtsverwaltung für den Zulassungsanspruch entscheidend sein, sondern ein besonderes pädagogisches Interesse an der Zulassung ist immer grundsätzlich dann anzunehmen, wenn es sich um ein pädagogisch fundiertes Erziehungskonzept handelt, welches sich in wesentlichen Punkten von dem der staatlichen Schule unterscheidet. In einem vergleichbaren Prozeß um die Zulassung der Freien Schule Frankfurt ist insoweit substantiell dargelegt worden, daß diese Schulen sehr wohl eine besondere eigenständige, vom staatlichen Schulsystem abweichende pädagogische Konzeption verfolgen, so daß diese Schulen beispielhaft für den Streit um Schulvielfalt stehen94. Die in Art. 7 Abs. 4 GG zum Ausdruck kommende Absage an ein staatliches Schulmonopol, welche mit dem Erziehungsrecht der Eltern korrespondiert, muß auch auf die Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses im Rahmen des Art. 7 Abs. 5 GG zurückwirken. Dies gilt umso mehr, als gerade im Grundschulalter der Entscheidung der Eltern, welche Erziehung sie für ihr Kind wünschen, unzweifelhaft besondere Bedeutung zukommt. Auch im Bereich der Genehmigung von Grundschulen in freier Trägerschaft muß bei der Anerkennungsentscheidung stets berücksichtigt werden, daß die Privatschulfreiheit in einem freiheitlichen Schulwesen ihre Rechtfertigung aus der Pluralität der gesellschaftlichen Erziehungsvorstellung erfährt, und daher auch im Grundschulbereich die Möglichkeit der Verwirklichung alternativer Erziehungsvorstellung bestehen muß, um dem aus dem Elternrecht nach Art 6 Abs. 2 GG folgenden Anspruch auf freie Wahl der Schule gerecht zu werden. Am Beispiel der restriktiven Auslegung des Art 7 Abs. 5 GG durch die Unterrichtsverwaltung zeigt sich in besonderer Weise die Problematik der Monopolisierung kultureller Entscheidungsprozesse durch staatliche Behörden, die schulische und kulturelle Vielfalt verhindert. Daß die gegenwärtige Interpretation der Verfassungsrechtslage durch die Unterrichtsverwaltungen Schulvielfalt auch im Bereich der Schulen in freier Trägerschaft in erheblichem Ausmaße verhindert, wird u.a. empirisch daran deutlich, daß es heute in der Bundesrepublik knapp 20 sogenannte freie Alternativschulen gibt, während nach Ansicht von Erziehungswissenschaftlern diese Zahl ohne staatliche Restriktionen in der Genehmigungspraxis bei ca. 50-80 solcher Schulen läge95. Der Genehmigungsvorbehalt des Art 7 Abs. 5 GG ist deshalb dahingehend auszulegen, daß sich die Unterrichtsverwaltung im Rahmen des Art 7 Abs. 5 GG angesichts der objektiven Grundentscheidungen der Verfassung für die 9 4

Vgl. v. Hentig, Gutachten.

9 5

Hans Christoph Berg, Leben braucht Vielfalt, Flensburger Hefte 29 - Freie Schule, S. 33; Dies

gelte in ähnlicher Weise sicher auch für die Waldorfschulen, Freinet-, Montessorischulen und Peter Petersen Schulen, bei denen allesamt die Nachfrage das Angebot bei weitem überschreitet.

IV. Das Wahlrecht der Eltern zwischen privater und staatlicher Schule

53

Gewährleistung von Schulviefalt der Anerkennung eines pädagogischen Interesses nicht verschließen kann, wenn es sich um eine besondere, pädagogisch wissenschaftlich fundierte Prägung handelt, die sich im staatlichen Schulsystem nicht findet Allein diese Interpretation des Art. 7 Abs. 5 GG hinsichtlich der Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses ist mit dem Schulvielfaltsgebot des Grundgesetzes vereinbar. 3. Die materielle Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschqft Ein wesentlicher Grund für die Verhinderung von Schulvielfalt ist, neben einer restrikten Genehmigungspraxis insbesondere im Grundschulbereich und rechtlichen Beschränkungen der Unterrichtsfreiheit aufgrund von Gleichwertigkeitsanforderungen, die - aufgrund der gegenwärtigen Ausgestaltung der Subventionspraxis der Länder - notwendige Erhebung eines nicht unerheblichen Schulgelds für die Gründung und den Besuch von Schulen in freier Trägerschaft. Hierbei zeigt eine nähere Betrachtung der Rechtslage, daß die gegenwärtige Subventionspraxis verfassungsrechtlich bedenklich und mit dem Schulvielfaltsgebot nicht vereinbar ist Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 96 obliegt dem Staat über die institutionelle Garantie hinaus eine besondere Pflicht zum Schutz und zur Förderung des privaten Ersatzschulwesens. Diese hat sich unter den Bedingungen eines entwickelten Schulwesens zu einer leistungsrechtlichen Handlungspflicht des Staates dahingehend verdichtet, daß der Landesgesetzgeber zufinanzieller oder anderer materieller Hilfe zugunsten der Institution des privaten Ersatzschulwesens verpflichtet ist, da ansonsten die Grundrechtsgewährleistung des Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG zu einem wertlosen Individualgrundrecht auf Gründung existenzunfähiger Schulen und zu einer nutzlosen institutionellen Garantie verkümmern würde. Aufgrund der heute notwendigen Kosten für die Unterhaltung einer Schule kann die Bedürftigkeit privater Ersatzschulen als empirisch gesicherter Befund gelten, weil der Ersatzschulträger ohne materielle Hilfe des Staates nicht in der Lage wäre, sämtliche Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 GG gleichzeitig und auf Dauer zu erfüllen 97. Insbesondere im Hinblick auf das in Art 7 Abs. 4 Satz 3 normierte Sonderungsverbot, wonach eine Sonderung der Schüler nach der gesellschaftlichen Stellung der Eltern nicht gefördert werden darf, ist diese Einstandspflicht des Staates weit auszulegen. Der Staat hat im Rahmen seiner Förderungspflicht grundsätzlich sicherzustellen, daß jedermann die freie Wahl zwischen privater und staatlicher Schule hat, jedenfalls dann, wenn es sich um Schulen in freier Trägerschaft mit einer besonderen 9 6

BVerfGE 75,40 ff.

9 7

BVerfGE 75,40 (63).

54

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

pädagogischen Prägung handelt, die sich im staatlichen Schulsystem nicht findet 98. Der Staat hat danach seine Subventionen so zu bemessen, daß die Notwendigkeit der Erhebung von Schulgeld zumindest für diese Schulen auf ein Minimum reduziert wird. Dieses Gebot der Schulvielfalt auch im Rahmen der Subventionierung des privaten Ersatzschulwesens ist vom Bundesverfassungsgericht im Prinzip anerkannt: "Die staatliche Schutzpflicht privater Ersatzschulen findet ihre Rechtfertigung jedenfalls nicht vorrangig in einer Art Aufwendungsersatz für die Wahrnehmung staatlicher (hoheitlicher) Aufgaben durch Private, sondern in der Förderung eigenverantwortlicher Miterfüllung der durch Art 7 Abs. 4 Satz 1 GG gerade auch der Privatinitiative überlassenen allgemeinen (öffentlichen) Bildungsaufgaben. Der Staat muß den schulischen Pluralismus auch gegen sich selbst in der Weise garantieren, daß er auf eigenen Akten beruhende Beeinträchtigungen dieses Pluralismus durch staatliche Förderung in ihrer Wirkung neutralisiert"99. Die Handlungspflicht des Staates greift insofern auch bei jeder Gefährdung des schulischen Pluralismus innerhalb der Institution des privaten Ersatzschulwesens ein, also etwa schon dann, wenn nur noch finanzkräftige Institutionen wie die Kirchen in der Lage wären, neue Schulen zu gründen, während Schulträger der sogenannten alternativen Schulbewegung nicht mehr die notwendigen finanziellen Mittel für Schulgründungen aufzubringen in der Lage wären. Diese Gesichtspunkte müssen bei der Prüfung einer zumutbaren angemessenen, vom Ersatzschulträger selbst zu tragenden Eigenleistung100 stets ebenso berücksichtigt werden, wie die Frage, ob durch eine bestehende Subventionspraxis die Institution als solche gefährdet ist, weil faktisch keine neuen Schulen mehr gegründet werden 101 . Die Handlungspflicht des Staates in Formfinanzieller Leistungen zur Förderung und zum Schutz der Institution des privaten Ersatzschulwesens besteht insofern sowohl im Normbereich des Art. 7 Abs. 4 G G 1 0 2 als auch im Rahmen der aus der Verfassung folgenden objektivrechtlichen Verpflichtung des Staates zur Sicherung pluralistischer Strukturen des Schulwesens insgesamt. Innerhalb dieses Rahmens sind Leistungsansprüche zwar primär in der Verfassungsstruktur des Art. 7 Abs. 4 GG und nicht durch Art. 1 Abs. 1,2 Abs. 1,

9 8

Jach, Schulverfassung und Grundgesetz, RdJB 1990,300 (303).

9 9

BVerfGE 75,40 (66).

100

V g l . BVerfGE 75,40 (68).

101

Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere die Problematik der Einführung von Wartefristen für

neu gegründete Schulen, siehe hierzu Jach, Privatschulfreiheit..., S. 506 ff. mit ausführlichen Hinweisen. 1 0 2

Vgl. in diesem Sinne Müller, S. 429 ff.

IV. Das Wahlrecht der Eltern zwischen privater und staatlicher Schule

55

4 Abs. 1 und 6 Abs. 2 GG begründet103. Unter dem Gesichtspunkt des Verfassungsgebots der Sicherung und Gewährleistung umfassender Schulvielfalt gewinnen jedoch die Grundrechte der Eltern und Schüler auch hinsichtlich positiver Leistungsansprüche für die Institution des privaten Ersatzschulwesens an Bedeutung, wenn es sich um Schulen in freier Trägerschaft mit besonderer pädagogischer Prägung handelt, also Schulen, deren pädagogisches Konzept sich im staatlichen Schulwesen nicht findet. Bei diesen Schulen verstärkt sich die Inpflichtnahme des Staates über den Normbereich des Art. 7 Abs. 4 GG hinaus zu einem Handlungsauftrag dergestalt, daß der Staat auch im Rahmen der finanziellen Förderung des privaten Ersatzschulwesens sicherzustellen hat, daß sich im Schulwesen die in der Gesellschaft herrschenden Erziehungsvorstellungen widerspiegeln und es den Eltern möglich ist, ihren "Gesamtplan für die Erziehung ihrer Kinder" 104 zu verwirklichen. Bei Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung verstärkt damit das Verfassungsgebot der Schulvielfalt die allgemeine Interventionspflicht des Staates zur Sicherung der Institution des privaten Ersatzschulwesens über den Normbereich des Art. 7 Abs. 4 GG hinaus.

4. Zum Verhältnis

von Schulvielfalt

und Schulen in freier Trägerschqf

Heute ist zwar weitgehend anerkannt, daß "die Grundsätze der Pluralität und Freiheitlichkeit des gesamten Schulwesens verlangen, daß den Privatschulen das Recht eingeräumt wird, unter Beachtung der Maßstäbe des Art. 7 Abs. 4 und 5 andere Bildungs- und Erziehungsziele zu verfolgen, von den staatlichen Lehrplänen abzuweichen, sowie Unterricht und Erziehung anders zu organisieren als staatliche Schulen"105, doch bin ich nicht der Ansicht, daß sich durch die Privatschulfreiheit in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung in ausreichendem Maße "die gesellschaftliche Pluralität auch in das Erziehungswesen hinein fortsetzt" 106 und diese zu einer durchgreifenden "Aufwertung der freien gesellschaftlichen Initiative im Schulwesen im Wettbewerb mit der Staatsschule"107 geführt hat. Die Garantie der Verwirklichung der Vielfalt pluraler Erziehungsvorstellungen durch das Privatschulwesen ist nicht nur ein nicht eingelöstes Ideal, sondern es darf nicht verkannt werden, 103

Vgl. Bernd Jeand'Heur, Methodische Analyse, freiheitsrechtliche und leistungsrechtliche Konse-

quenzen des Finanzhilfe-Urteils, in: Friedrich Müller (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der Freien Schule, Berlin 1987, S. 67,93. 104

B V e r f G E 34,165 (183); 47,46 (74).

m

Richter, Kommentierung zu Art. 7 GG, Rdnr. 26; s.a. schon v. Campenhausen, S. 58; Oppermann,

Kulturverwaltungsrecht, S. 239 f. l0 6

Evers,

107

S. 150.

Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 237.

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

56

daß sich der Staat seiner Verantwortung zur Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Erziehungsvorstellungen nicht durch Verweis auf private Initiativen entziehen kann und darf. Der Staat selbst ist verpflichtet, allen Schülern und Eltern unter gleichen Voraussetzungen die Wahl zwischen verschiedenen Schultypen mit inhaltlich unterschiedlichen Erziehungskonzeptionen zu ermöglichen. Diese Verpflichtung des Staates stellt gleichsam ein Konstitutionsmoment der angestrebten Synthese von Schule und Gesellschaft dar, dem Übergang vom staatlichen Schulsystem zum öffentlichen Schulwesen. Hierbei geht es nicht darum, daß der Staat sich dem individuellen Willen der Bürger beugen müßte und es in der Tat unmöglich ist, ein Schulsystem zur Verfügung zu stellen, das einer beliebigen individuellen Vielfalt von Erziehungsvorstellungen entspricht108. Es ist ihm aber verwehrt, dem Grunde nach "alternative" Erziehungsvorstellungen dergestalt auszugrenzen, daß diese einer materiellen und rechtlichen Ungleichbehandlung ausgesetzt sind, wie es die gegenwärtige Rechtslage der Privatschulen bewirkt. Der Staat kann sich seiner Verantwortung, allen Bürgern ein den - verschiedenen und grundlegend voneinander abweichenden - Erkenntnissen der Pädagogik und Entwicklungspsychologie entsprechendes Schulwesen zur Verfügung zu stellen, nicht entziehen. Ob er dies durch Schulvielfalt innerhalb des staatlichen Schulwesens gewährleistet oder durch eine materielle und rechtliche Gleichstellung von "Staatsschulen" und solchen "Privatschulen", die eine besondere pädagogische Prägung aufweisen, obliegt allerdings der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Verdeutlichen läßt sich die fortbestehende Bedeutung der Privatschulfreiheit für vom staadichen Schulsystem abweichende Erziehungsvorstellungen am Beispiel der Waldorfschulen und deren Pädagogik. Die Waldorfschulen unterscheiden sich von staatlichen Schulen nach den von mir als grundlegend andersartig bewerteten Kriterien durch eine nicht primär abstrakt-kognitive, sondern stark musisch und künstlerisch-handwerklich betonte Bildung und handlungsorientierte und willensgerichtete Erziehung in einem sogenannten Epochenunterricht ohne Benotung (gleichwohl mit Bewertung) der Leistungen, der auf erfahrbarer und eben nicht abstrakter Begegnung mit dem Unterrichtsstoff aufbaut und sich nach den Entwicklungsstufen des Kindes richtet 109 . Die Waldorfschulen folgen danach - wie auch die sogenannten Freien Schulen, Freinet- und Montessorischulen - einem von v. Hentig als 'mathetisch' - in Abgrenzung zum didaktischen der staatlichen Schulen - genannten Erziehungskonzept110. Sie entsprechen insofern einem Schulmodell, 108

V g l . BVerfGE 34, 165 (184 f.); 45, 400 (415 f.); BVerwG NJW 1981, 1056; HessStGH DÖV

1983,546. 109

Vgl. hierzu auch Jach, Privatschulfreiheit... S. 511; grundlegend zur Waktorfpfidagogik siehe etwa

Erhard Fucke, Lernziel: Handeln können, Frankfurt/M. 1981. 1 1 0

Von Hentig, Gutachten, S. 80 ff.

IV. Das Wahlrecht der Eltern zwischen privater und staatlicher Schule

57

das über das Spezifische der Waldorfpädagogik hinaus zu einer Unteirichtsund Erziehungsform gehört, die sich gegenwärtig im staatlichen Schulwesen nicht findet. Der Grundsatz der Schulvielfalt verpflichtet insofern den Gesetzgeber, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß eine freie Wahl der Eltern auch zwischen einer solchen Schule und einer staatlichen Schule besteht. Dies wäre jedoch nur dann möglich, wenn es den Schulen möglich wäre, durch ausreichende staatliche Finanzierung auf eine Erhebung von Schulgeld weitestgehend zu verzichten, oder wenn der Staat bereit wäre, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß auch in staatlichen Schulen in sich geschlossene pädagogische Modelle dieser Art angeboten werden können. Dies würde voraussetzen, daß die Schule als Selbstverwaltungskörperschaft oder Versuchsschule in der Lage wäre, pädagogisch autonome Entscheidungen zu treffen, sofern eine ausreichende Anzahl von Lehrern und Eltern die Realisierung einer bestimmten pädagogischen Konzeption anstrebt.

5. Die Beteiligung der Schulen in freier Trägerschaft an der staatlichen Schulaufsicht Nach wohl unbestrittener Auffassung liegt der Wesenskern der Privatschulfreiheit nach Art. 7 Abs. 4 und 5 GG darin begründet, in Absage an ein staatliches Schulmonopol die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Gestaltung des Unterrichts im Hinblick auf die Erziehungsziele, die weltanschauliche Basis, die Lehrmethode und die Lehrinhalte zu gewährleisten111. Von daher dürfte auch unbestritten sein, daß im Bereich des privaten Ersatzschulwesens "die allgemeine Schulaufsicht kein inhaltliches Bestimmen, sondern nur ein Überwachen von Grenzen gegenüber den Privatschulen bedeuten"112 kann. Eine darüber hinausgehende Aufsichtsbefugnis etwa in pädagogischen Fragen über die in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG normierten Gleichwertigkeitsforderungen hinaus würde die Unterrichtsfreiheit der Schulen in freier Trägerschaft vollends zu einem wertlosen Grundrecht auf Ermöglichung von Schulen in freier Rechtsträgerschaft karrikieren, zumal durch die erforderliche Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzung der Gleichwertigkeit in den Lehizielen und die Differenzierung in "anerkannte" und lediglich "genehmigte" Ersatzschulen und der damit verbundenen unterschiedlichen Berechtigung zur Vergabe von Zeugnissen die Befugnis zur eigenverantwortlichen Gestaltung des Unterrichts schon weitestgehend durch die indirekte Ausrichtung an Qualitätsmerkmalen des staatlichen Unterrichtssystems relativiert ist. Insoweit ist evident, daß im Rahmen einer extensiven Auslegung des Begriffs der staatlichen Schulaufsicht die Befugnisse des Staates zur Normierung von Bildungszielen 111 112

BVerfGE 27.195 (200 f.); 75,40 (62).

Bodo

Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetzkommentar, München 1989, A r t 7, Rdnr. 19.

58

C. Staatliche Schulaufsicht und elterliches Erziehungsrecht

und -inhalten, zur Festlegung von Lehrplänen und die Bestimmung von Lehrmitteln bis hin zur Festsetzung von Stundentafeln 113 von erheblicher Grundrechtsrelevanz für die davon indirekt betroffenen Schulträger in freier Trägerschaft sind Diese Grundrechtsrelevanz muß auch Auswirkungen auf die rechtliche Ausgestaltung der Schulaufsicht haben. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, daß die Grundrechte "Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften" setzen114. Bezogen auf das Verhältnis von Schulaufsicht und Schulen in freier Trägerschaft ist es insoweit Aufgabe des Gesetzgebers, die Grundrechtsposition der Träger der Privatschulfreiheit im Rahmen der staatlichen Willensbildung115 bei der der Unterrichtsverwaltung vorbehaltenen Bestimmung der Unterrichtsinhalte für staatliche Schulen - ungeachtet des Gesetzesvorbehalts für die Festlegung der Groblernziele - dergestalt zu sichern und zu optimieren, daß ihnen zumindest im Wege von Anhörungs- und Beratungsrechten die Möglichkeit eröffnet ist, Stellungnahmen und eventuelle Einwendungen gegenüber solchen Maßnahmen zu erheben, die für ihre Unterrichtsgestaltung angesichts der Gleichwertigkeitsanforderungen etwa im Hinblick auf das Berechtigungswesen von besonderer Bedeutung sind. Es wäre allerdings verfassungsrechtlich unzulässig, diese Mitwirkung soweit auszudehnen, daß der Grundsatz der parlamentarischen Verantwortung des Gesetzgebers ausgehöhlt würde 116. Insofern sind Partizipationsrechten im Sinne einer Vergesellschaftung der Schulaufsicht verfassungsrechtlich Grenzen gesetzt.

113

Vgl. vorstehend S. 8 ff.

1 1 4

Vgl. etwa BVerfGE 69,315 (355); 75,76 (94); 73,280 (296).

115

Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 440.

116

V g l . dazu grundlegend BVerfGE 9,268.

D. Schulaufsicht und das Recht des Kindes auf freie und umfassende Entfaltung seiner Persönlichkeit

Die Bindung des Staates an das Recht des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in der Schule ist heute allgemein anerkannt. Unter der Geltung des GG kann seit Ekkehart Stein1 die Selbstentfaltung des Kindes zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG als Rechtfertigung und Zielnorm staatlicher Schulerziehung angesehen werden. I. Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das Personlichkeitsrecht des Kindes Verfassungsrechtlich findet dies seinen Ausdruck darin, daß der Staat in der Schule in Abkehr von der Vorstellung einer unbegrenzten staatlichen Schulhoheit unter der Geltung des GG an das Recht des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit gebunden ist. Nachdem die Entwicklung eines 'Schülerrechts' in der juristischen Diskussion erst in der Nachkriegszeit eingesetzt hat2, und bis in die 60er Jahre hinein das Kindes- und Schülerinteresse nur als nachrangiger Aspekt bei den Erziehungsstreitigkeiten zwischen Eltern und Staat über das 'Eraehungsobjekt' Kind angesehen wurde3, ist es heute allgemeine Auffassung, daß das Grundrecht des Schülers auf freie Entfaltung der Persönlichkeit "keineswegs durch die staatliche Schulhoheit verdrängt worden" ist4. Danach ist die Schule "um des Schülers willen da"5 und das oberste Leitziel der Bildungs- und Erziehungsaufgabe der Schule soll das Recht des Schülers auf Selbstentfaltung sein6, da heute allgemein anerkannt ist, daß die Entfaltung der Kindespersönlichkeit in einem freien und humanen Sinn, insbesondere unter Einbeziehung des Verfassungsgebots, die Menschenwürde zu achten, die eigentliche Zielsetzung und Rechtfertigung staatli1

Ekkehart Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule (1967).

2

Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 157, Anm. 42.

3

Clevinghaus, S. 340; Berkemann, S. 103.

4

Niehues, S. 46.

5

Hennecke, Staat.., S. 125.

6

So z.B. Evers, S. 62.

60

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

eher Schulerziehung sei7. Insofern kann kein Zweifel daran bestehen, daß "von Art. 2 Abs. 1 GG auch gewaltige Impulse für die inhaltliche Ausgestaltung der Schule ausgehen. Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist die Basis für ein freiheitliches Schulwesen überhaupt"8. Das herrschende Verständnis des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit bezogen auf das Schulverhältnis gilt somit über den Charakter eines Abwehrrechts, dem es widerspricht, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen9, so daß auch "der Jugendliche nicht nur Objekt der staatlichen Erziehung" sein darf, sondern "von vorneherein und mit zunehmendem Alter in immer stärkerem Maße eine eigene durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeit" darstellt10, hinaus. Insoweit ist allgemein anerkannt, daß Grundrechtsbeschränkungen einer inneren Rechtfertigung aus dem Schulverhältnis bedürfen. So kommen "Grundrechtsbegrenzungen (nur, F.-R.J.) in dem Maße in Frage, wie sie vom Schulauftrag und seiner Realisierung her zwingend notwendig" sind11. Hieraus wird deutlich, daß die Reichweite der Begrenzung des Rechts des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit nicht nur vom Recht auf Persönlichkeitsentfaltung i.S. des grundrechtlichen Abwehrcharakters von Art. 2 Abs. 1 GG, sondern ebenso vom Selbstverständnis des an ein bestimmtes Persönlichkeitsideal orientierten Schulzwecks und -auftrages abhängt und damit von den Erziehungsvorstellungen, die diesen zugrundeliegen. In diesem Rahmen gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG ein "Kindesgrundrecht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auch in der Schule"12. Die Rechtsprechung umschreibt das Recht des Kindes auf Persönlichkeitsentfaltung in der Schule dahingehend, daß "das einzelne Kind (...) aufgrund des Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht auf eine möglichst ungehindert Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Anlagen und Befähigungen (hat)"13. Dieses Recht steht allerdings unter dem Vorbehalt der in Art 2 Abs. 1 GG genannten Eingrenzungen, insbesondere wird "es durch die gemäß Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat zustehende Gestaltungsfreiheit begrenzt"14. Als Beurteilungskriterium ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen, daß die Abgrenzung des staatlichen Schulerziehungsrechts zum Recht 7

A.a.O., S. 58.

8

Hennecke, Ordnungsrecht..., S. 126.

9

BVerfGE 27,1(6).

1 0

BVerfGE 47,46 (74).

11

Reuter, S. 105; s.a. Franke, S. 57; Niehues, S. 116 f.

12

Oppermann, Gutachten..., S. C 14.

13

BVerfGE 45,400 (417); 58,257 (272); 59,360 (382); HessStGH DÖV 1983,546 (548).

14

BVerfGE 53,185 (203).

I. Die objektivrechtliche Bindung des Staates an das Persftnlichkeitsrecht des Kindes

61

des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit "etwa parallel zu der zwischen Art 6 Abs. 2 GG und Art. 7 Abs. 1 GG" verläuft 15. Hierbei läßt die Rechtsprechung offen, was das kindliche Entfaltungsrecht im einzelnen zum Inhalt hat, insbesondere inwieweit es Elemente eines Rechts auf Bildung enthält16, wie es das BVerwG 17 grundsätzlich anerkannt hat In der Literatur wird dabei unter Bezugnahme auf das vom Bundesverfassungsgericht geschaffene 'Menschenbild des Grundgesetzes1 der schulische Erziehungsprozeß in einer fortführenden Idealisierung dahingehend umschrieben, daß der Schüler "nicht Objekt des Erziehungsprozesses, sondern gleichwertiger Partner"18, staatliche Schulerziehung nicht als ein "Prozeß einseitiger Hoheitsausübung, sondern (als, F.-R.J.) ein Prozeß menschlicher Begegnung und ständiger Kommunikation"19 anzusehen ist, die Schule um des Schülers Willen da sei20, und von daher die Person des einzelnen Schülers im Bereich der Erziehung und Bildung im Mittelpunkt stehe21. Diese verfassungsrechtlich begründete Bindung des staatlichen Erziehungsauftrages an die Person des Kindes/Schülers muß sich insbesondere angesichts dessen, daß sie diametral dem historisch entstandenen Interesse des Staates an der Schule entgegensteht22, einer kritischen Überprüfung der formulierten Ansprüche und ihrer Einlösung in der rechtlichen Strukturierung staatlichen Schulehaltens unterziehen. All diese Formulierungen vermögen, so sehr ihnen grundsätzlich zuzustimmen ist, nichts über das eigentliche Problem auszusagen, daß nämlich der Schüler mittels Schulpflicht in der Erziehung durch die Schule einer zielgerichteten Formung seiner Subjektivität unterworfen ist und sich insofern die Frage nach Zielrichtung, Inhalt und Umfang dieser Formung stellt. Der Schüler ist faktisch kein gleichberechtigter Partner, sondern in dem Maße, wie er vorgegebenen 'Erziehungszielen1 unterworfen wird, zunächst notwendigerweise auch Objekt der Erziehung und einem Herrschaftsverhältnis untergeordnet Soweit es mir von daher angebracht erscheint, einer idealistischen Betrachtungsweise mit Skepsis zu begegnen, so gilt es insbesondere, die Bedeutung des 'Menschenbild(s) des GG1 in seinem Bezug auf den schulischen Erziehungsprozeß hin kritisch zu untersuchen. Insofern ist nicht nur die verfassungsrechtliche Reichweite des Art. 2 Abs. 1 GG hinsichtlich des schulischen Erziehungsauftrages aus Art. 7 Abs. 1 GG 15

Ebd.; Thomas Clemens, Grenzen staatlicher Maßnahmen im Schulbereich. NVwZ 1984,65 (71).

16

BVerfGE 45,400 (417).

17

BVerwGE 47,201 (206).

18

Ossenbilhl, Rechtliche Grundfragen..., S. 24. A.a.O., S. 23.

2 0

Vgl. Berkemann, S. 106; Hennecke, Staat..., S. 12; Reuter, S. 146.

21

Niehues, S. 57.

2 2

Vgl. insofern vorstS. 22 ff.

62

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

evident, sondern vor allem ist der Begriff der Persönlichkeit im verfassungsrechtlichen Sinne zu verifizieren und zum Begriff der Erziehung in Bezug zu setzen. IL Die Bedeutung des Menschenbildes des Grundgesetzes für die schulische Erziehung Mit der objektivrechtlichen Geltung des Art 2 Abs. 1 GG als Orientierungspunkt der inhaldichen Gestaltung des Schulverhältnisses stellt sich insbesondere die Frage, ob sich aus der Verfassung selbst eine inhaltliche Determinierung des schulischen Erziehungsprozesses ergibt, die als umfassender Erziehungsauftrag der Schule zu verstehen und sowohl der Disposition des Landesgesetzgebers entzogen ist 23 als auch einer Pluralisierung der Schule entgegensteht. Ausgangspunkte wären danach das 'Menschenbild des GG1 und die Wertentscheidungen der Verfassung', wobei es freilich einer Transformation bedürfte, um aus einem 'Menschenbild' bestimmte Erkenntnisse zu gewinnen, die es ermöglichen, konkrete Anforderungen an die Formung der Persönlichkeit zu stellen und in Erziehungszielen auszudrücken. Hierbei ist zu zeigen, daß eine Umdeutung der Grundrechte in Erziehungsziele vor dem Hintergrunde eines vermeintlichen Menschbildes und bestimmter Wertentscheidungen der Verfassung nur insoweit mit dem schulischen Vielfaltsgebot in Einklang steht, als es um die Sicherung eines zivilisatorischen Mindeststandards geht. In dem wechselseitigen Prozeß von gesellschafdicher Entwicklung und der Vorgabe eines verfassungsrechtlichen Wertsystems ist ansonsten eine staatliche Aneignung und Monopolisierung der Definition dessen, was Persönlichkeitsentfaltung ausmachen soll, zu beobachten. Deshalb ist zu fragen, ob nicht die verfassungsrechtliche Ordnung auch in objektivrechtlicher Sicht für das Schulwesen lediglich Kriterien für die formale Abgrenzung von Rechten anheim gibt, die die erzieherische Arbeit selbst und die Ausfüllung dessen, was Persönlichkeitsentfaltung ausmachen soll, inhaldich nicht vorbestimmen, sondern es vielmehr dem gesellschaftlichen Prozeß überläßt, unter Beachtung der jeweiligen Rechtsposition dies zu bestimmen. Geht man insofern davon aus, daß es über einen 'zivilisatorischen Mindeststandard' hinaus einen "verbindlichen Konsens darüber, worin eine kultivierte Lebensweise besteht, für deren Verbreitung Schulen sorgen müßten", nicht gibt24, und daß die Grundrechte als nicht wertmaterial gebundene Freiheit zu verstehen sind, so kann die Erziehungsarbeit der Schule inhaltlich nicht als verfassungsrechtlich in bestimmter Weise determiniert angesehen werden, sondern obliegt dem gesellschaftlich-politischen Prozeß, wobei zu 2 3

Vgl. etwa Reeb, S. 68; 62 ff.

2 4

GeroLenhardi, Schule und bürokratische Rationalitat, Frankfurt/M. 1984, S. 28.

Π. Die Bedeutung dee Menschenbildes des Grundgesetzes für die schulische Erziehung

63

untersuchen ist, inwieweit die gesellschaftlichen Kräfte in der Erziehung bestimmte Grundwerte zu bestimmen und zu verwirklichen haben. Das Bundesverfassungsgericht hält sich richtigerweise - entgegen Teilen der Literatur 25 - mit der Herleitung eines bestimmten schulischen Erziehungsauftrages bzw. gar konkreter Erziehungsziele aus dem Grundgesetz zurück, betont allerdings zugleich, daß "den Ländern als Trägern der Schulhoheit eine weitgehende Gestaltungsfreiheit bei der inhaltlichen Festlegung von Erziehungs- und Unterrichtszielen" obliege26. In diesem Ausgangspunkt ist dem Bundesverfassungsgericht insoweit zuzustimmen, als es ausführt: "Das Grundgesetz legt... nicht etwa einen 'ethischen Standard' im Sinne eines Bestandes von bestimmten weltanschaulichen Prinzipien fest, etwa 'nach den Maximen, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben1, und nach denen der Staat den von ihm gestalteten Schulbereich auszurichten hätte (vgl. insbesondere Obermayer, Gemeinschaftsschule - Auftrag des Grundgesetzes, 1967, S. 5 ff.). Der 'ethische Standard' des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung von Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwoitung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität"27. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt der freien menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde als höchstem Rechtswert der verfassungsgemäßen Ordnung die Vorstellung des Menschen als einem gel· stig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit als Person zu handeln28. In Anknüpfung an die Maxime kantianischen Denkens, wonach der Mensch immer Zweck an sich selbst bleiben muß, besteht danach die Würde des Menschen als Person gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt29. Versteht man diese personale Freiheitskonzeption in einer objektivrechtlich wertmaterialen Sicht der Grundrechte als verbindlichen Erziehungsauftrag der Schule, so determiniert dies vor dem Hintergrund der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Begriffe von der Person als geistig-sittlichem Wesen und deren Freiheit den Erziehungsauftrag der Schule entscheidend. "Die praktische Philosophie Kants ist bekanntlich die wichtigste geistesgeschichtliche Tradi2 5

So etwa nachfolgend die in Anm. 27 vom BVerfG zit.Lit.

2 6

BVerfGE 59,360 (377).

2 7

BVerfGE 41,29 (50).

2 8

BVerfGE 45,187 (227).

2 9

A.a.O., S. 228.

64

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

tion, der Dürig und mit ihm das Bundesverfassungsgericht bei ihrer Deutung der Menschenwürde verpflichtet sind.... Einen... unvertretbaren inneren Wert, d.i. Würde, hat für Kant nur eines auf der Welt: die mit moralischer Identität, praktisch-vernünftiger Selbstverantwortung und Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung ausgestattete Person"30. Schon frühzeitig hat Dürig als geistiger Vater des Wertsystemdenkens in seiner Konstruktion einer bestimmten Menschenauffassung des Grundgesetzes dargelegt, daß "Persönlichkeit ein fester Begriff der christlich-philosophischen Anthropologie, der christlichen Gesellschaftslehre und der Moraltheorie" sei, der entgegen dem Begriff der Person i.S. des Individuums als ontologischem Seinsgegehalt einen "axiologischen Wertgehalt" besäße31. Für Dürig bedeutet dabei "Würde haben heißt Persönlichkeit sein" eine "Gesamtvorstellung, die das Grundgesetz vom Menschen hat", und die in Absage vom Leitgedanken des Liberalismus nicht "das bindungslos gedachte Individuum, sondern die verantwortliche Persönlichkeit" im Sinne der Gemeinschaftsgebundenheit meint32. Nun kann zwar kein Zweifel daran bestehen, daß der Begriff der Persönlichkeit in der theologischen Philosophie verankert ist33. Dies kann aber keinesfalls bedeuten, daß der Begriff der Persönlichkeit in einer säkularisierten Gesellschaft, die auf einem Kompromiß der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte beruht, als Verfassungsnorm in christlich-abendländischer Weise fixiert ist. Dies muß umsomehr gelten, als der Begriff der Persönlichkeit gerade im Bereich der Erziehung nicht allein als abstrakt (rechts-)philosophischer verstanden werden kann, sondern notwendigerweise das psychologische Moment der Persönlichkeitsbildung i.S. der Identitätsfindung in sich aufnehmen muß. In diesem Sinne ist der Begriff der Persönlichkeitsentfaltung nicht als ein wertbezogener moralischer Begriff zu verstehen, sondern wertfrei als dynamischer Prozeß, in dem sich 'Persönlichkeit' als das Ensemble individueller Einzigartigkeit in seiner biographischen Entwicklung darstellt34. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist daher bezogen auf die Erziehung zunächst als der Anspruch des Individuums auf Findung seiner eigenen Identität zu verstehen. Im Sinne einer Wertentscheidung der Verfassung bedeutet dieses Recht zugleich, daß es dem Staat verwehrt ist, die Persönlichkeitentfaltung des Kindes einseitig an staatlichen Interessen oder einer von ihm als verbindlich geprägten Werthaftigkeit menschlicher Existenz auszurichten. 3 0

Wolfgang Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, in: JZ1985,201 (205).

31

Günter Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, in: JR 1952,259 (260).

3 2

A.a.O., S. 260 f.

3 3

Manfred Koch, Die Begriffe Person, Persönlichkeit und Charakter, in: Handbuch der Psychologie

in 12 Bd., herausgegeben von Ph. Lersch und H. Thomae, Göttingen 1960, Bd. 4: Persönlichkeitsforschung und Persönlichkeitstheorie, S. 1 (9). 3 4

Vgl. a.a.O., S. 21 ff.

ΠΙ. Mündigkeit als umfassendes Erziehungsziel der Schule

65

Darüber hinaus gibt Art 2 Abs. 1 GG keine Vorgaben für den Erziehungsauftrag der Schule (im Sinne eines verbindlichen Erziehungsziels), sondern postuliert im Gegenteil das zu achtende Gebot der Vielfalt menschlicher Existenz und Identität. Die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes implizieren danach auch vor dem Hintergrund des Art 2 Abs. 1 GG, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Privatschulsubventionierungsentscheidungrichtigerweise konstatiert, die Offenheit "für die Vielfalt der Erziehungsziele und Bildungsinhalte und für das Bedürfnis seiner Bürger..., in der ihnen gemäßen Form die eigene Persönlichkeit und die ihrer Kinder im Erziehungsbereich der Schule zu entfalten" 35. In diesem Sinne ist Häberle zuzustimmen, daß Grundrechtssysteme den Namen der Freiheit nur dann verdienen, "wenn sie einem Pluralismus der Orientierungselemente, dem Pluralismus der Leitbilder, auch der Erziehungsziele, Raum lassen" und von daher auch inhaltlich kulturelle Alternativen zur Wahl stehen müssen36, um den Ansprüchen eines freiheitlichen Kulturverfassungsrechts 37 zu genügen38. Grundrechte als Erziehungsziele39 vermögen daher nur dann eine freiheitssichernde Dimension zu entfalten, wenn sie dem Prinzip der Schulvielfalt auch im Hinblick auf die Persönlichkeitsfindung entsprechen. Deutlich wird dies auch, wenn man sich ungeachtet jeglicher Idealisierung näher mit dem wohl unstreitigen Erziehungsziel Mündigkeit als Leitorientierung jedweder Schulverfassung auseinandersetzt ΙΠ. Mündigkeit als umfassendes Erziehungsziel der Schule Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Ausübung der staaüichen Schulaufsicht, insbesondere durch Art. 2 Abs. 1 GG, und der Erziehungsziele der Landesverfassungen herrscht heute weitgehend Einigkeit über den Erziehungsauftrag der Schule, der zusammenfassend mit dem übergeordneten Erziehungsziel 'Mündigkeit1 als gemeinrechtlich geltend festgestellt werden kann. In der juristischen Diskussion werden dabei die Erziehungsziele der Landesverfassungen in Verbindung mit den Schulgesetzen der Länder unter Verweis auf das 'Menschenbild des Grundgesetzes'40 und die 3 5

BVerfGE 75,40 (62 f.)

3 6

Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., Heidelberg 1983, S.

404. 3 7

A.a.O., S. 380.

3 8

Fraglich bleibt allerdings, wie sich dies mit Häberles institutioneller Grundrechtssicht pflichtge-

bundener Freiheit verträgt; vgl. hierzu ausführlicher Jach, Vom staatlichen Schulsystem..., S. 178 ff. 3 9

Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, Freiburg/München 1981,

S. 65. 4 0

5 Jach

Berkemann, S. 107; Reuter, S. 174,176.

66

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

'wertbezogene Ordnung des Grundgesetzes141 entweder explizit als Aufgabe der Erziehung zur Mündigkeit interpretiert 42 oder aber als Erziehung zur Selbstverantwortlichkeit43 umschrieben. Dem Begriff der Mündigkeit wird dabei eine Allumfassenheit und Offenheit unterstellt44, die die Instrumentalisierung des Erziehungsziels in der Fiktion einer an den Interessen des Kindes und seiner Selbständigkeit ausgerichteten 'selbstlosen' staatlichen Schulerziehung ermöglicht. Die Problematik besteht hierbei gerade in der Annahme eines "Mindestbestand(s) übereinstimmender (Hervorhebung des Verf.) Strukturvorstellungen..., der sich wie in pädagogisch-schulrechtlicher, so auch in politisch-staatsrechüicher Hinsicht um das Stichwort 'Mündigkeit' herum ablagert"45. Zum einen gibt es nämlich keinen gesellschaftlichen und pädagogischen Konsens darüber, wie sich die Zielnorm "Mündigkeit" erreichen läßt, zum anderen hat die aus der Zielnorm "Mündigkeit" resultierende Organisations- und Methodenrelevanz46 ungeachtet divergierender Vorstellungen und kontroverser erziehungswissenschaftlicher Diskussionen zu einer unitaristischen Ausrichtung schulischer Bildung und Erziehung im staaüichen Schulsystem geführt, die sich primär an Rationalitätskriterien einer technisch-industriellen Gesellschaft orientiert und eine einseitig kognitiv orientierte Persönlichkeitsentfaltung zur Folge hat. Hierin liegt das Problem der Zielnorm "Mündigkeit", die das Verfassungsgebot der Schulvielfalt virulent werden läßt. Vergegenwärtigt man sich, daß gerade auch reformpädagogische Schulen das Erziehungsziel "Mündigkeit" explizit anstreben, dieses jedoch durch das herrschende Schulsystem als nicht erreichbar ansehen, so zeigt dies die Notwendigkeit pluralistischer Schulstrukturen ungeachtet gemeinsamer Erziehungsziele. Aus entwicklungspsychologischer, reformpädagogischer und kritischer erziehungswissenschaftlicher Sicht ist es weithin Gemeingut, daß die Erziehung zur Ich-Stärke als Voraussetzung gelungener Persönlichkeitsent-

41

Evers, S. 85; Oppermann, Gutachten..., S. C 94; s.a. Leuschner, S. 68.

4 2

Vgl. Dietze f Pädagogisches Elternrecht, S. 140; ders n Eltenrecht als Bestimmungsrecht.., S.

1356; Fehnemann, Rechtsfragen..., S. 117; Franke, S. 39 f.; Heymann/Stein,

Das Recht auf Bildung, in:

Nevermann/Richter (Hrsg.): Verfassung und Verwaltung der Schule, Stuttgart 1979, S. 391 (413); Lang, S. 122 f.; Niehues, S. 134 f.; Reeb, S. 115; Reuter, S. 35; Stock, S. 149. 4 3

Vgl. Evers, S. 36,48; Erichsen, Verstaatlichung..., S. 27; Leuschner, S. 68; Ossenbühl, Rechtliche

Grundfragen..., S. 24; Rau, S. 51; Starck, Freiheitlicher Staat.., S. 22 f.; ders., Organisation des öffentlichen Schulwesens, NJW 1976,1375,1377; Ekkehard Stein, S. 6. 4 4 4 5

Vgl. Stock, S. 157 ff., 186. A.a.O., S. 189. A.a.O., S.

1.

ΠΙ. Mündigkeit als umfassendes Erziehungsziel der Schule

67

faltung mit dem Ziel der Identitätsfindung47 "in dem Gesamt von tradierten und aktuell wirksamen Stereotypen unserer Gesellschaft schwach, sehr schwach gesichert ist (und, F.-R J.)... nicht durch den Kult der Persönlichkeit als höchstes Glück der Erdenkinder widerlegt" wird 48. Daraus wird gefolgert, daß es notwendig ist, einen Erziehungsstil zu entwickeln, der sich der Ich-Bedürfnisse des Menschen annimmt49 und der die defizitäre Affektbildung gegenüber der hochentwickelten Sachbildung in Ausgleich bringt50. Piaget hat insoweit dargelegt, daß für eine gelungene Persönlichkeitsentfaltung 51 eine wesentliche notwendige Voraussetzung das Moment der Aktivität ist 52 , an dem sich die Organisation von Lern- und Erziehungsprozessen aufgrund der Eigenart und Andersartigkeit kindlichen Denkens und Lernens zu orientieren hat53, und es daher notwendig ist, "dem Kind den Unterrichtsstoff nach ganz anderen Regeln als jenen zu vermitteln, denen unser kursiver und analytischer Verstand das Monopol der Klarheit und Einfachheit zuschreibt"54. Wenn v. Hentig exemplarisch "lebhaft bezeugen (kann, F.-R.J.), daß die köiperliche, sinnliche, emotionale Entwicklung der Kinder in unseren Schulen zu kurz kommt, und was zur Befriedigung dieser Bedürfnisse aufgewendet wird, in der Regel keine Beziehung zu den sogenannten kognitiven Anforderungen hat"55, und wenn sich dies über diese exponierten wissenschaftlichen Positionen hinaus56 in den reformpädagogischen Schulkonzepten etwa der Waldorfschulen, Landerziehungsheime, Montessorischulen, Alternativschulen oder Peter Petersen-Schulen als gesellschaftlich relevante Kräfte in der Forderung nach ganzheitlicher Bildung und Erziehung ausdrückt, so muß dies Auswirkungen auf die vom Staat zu verantwortende Ausrichtung und Organisation des öffentlichen Schulwesens haben und kann nicht wie unter den bisherigen

47

Alexander Mitscherlich,

Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, 14. Aufl., München 1982, S.

107. 4 8

A.a.O., S. 170.

4 9

A.a.O., S. 166.

5 0

A.a.O., S. 60.

5 1

Vgl. Jean Piaget , Das Recht auf Erziehung und die Zukunft unseres Bildungssystems, München

1975 (1948), S. 36 f.; s.a. ders., Theorie und Methoden der modernen Erziehung, Wien/München/Zürich 1982, S. 177 ff. 5 2

Piaget , Theorie..., S. 151,154 ff.; s.a. ders., Das Recht auf Erziehung..., S. 54,57.

5 3

Ders., Theorie..., S. 154.

5 4

A.a.O., S. 169.

5 5

V. Hentig, Gutachten..., S. 153.

5 6

Vgl. hierzu v. Hentig, Bilanz der Bildungsreform in der BRD, Neue Sammlung 1990, S. 366,371:

namentlich genannt seien zur Verdeutlichung die diversen Arbeiten von Hellmut Becker, Andreas Flitner, Klaus Hurrelmann, Wolfgang Klafki, Horst Rumpf, Martin Wagenschein.

68

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

Bedingungen in das Reservat der Privatschule gedrängt werden. V. Hentig hat in seinem Gutachten zur Freien Schule Frankfurt dargelegt, daß es sich hierbei um die Problematik der herrschenden didaktischen gegenüber einer mathetischen Pädagogik57 handelt, die sich historisch über die Reformpädagogik der 20er Jahre bis hin zur Antike in ihren Ursprüngen zurückverfolgen läßt58. Hierbei versteht v. Hentig 'Mathetik' als eine Form der Erziehung und Wissensvermittlung, die es, wenn auch in ihrer Gewichtung einzelner Elemente je nach pädagogischer 'Schule1 unterschiedlich59, für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes als notwendig erachtet60, daß die schulische Erziehung und Wissensvermittlung von dem "Lernbedürfnis (des Kindes, F.-R.J.) ausgeht und die sozialen und psychisch-sinnlichen Vorgänge den kognitiven gleichstellt"61. Wenn also die Erziehungsaufgabe der Schule ausdrücklich zu betonen ist, dann deshalb, weil nur so eine umfassende Persönlichkeitsentfaltung gewährleistet wird, während reine Wissensvermittlung (mit einem allenfalls 'notwendigen erzieherischen Annex'62) stets nur die verstandesgemäßen Persönlichkeitsbereiche - und damit nur einen Teilausschnitt der Persönlichkeit erfaßt. So kann eine Erziehung zur Mündigkeit dem Recht des Kindes auf umfassende Entfaltung seiner Persönlichkeit nur gerecht werden, "wenn die Menschen ihre gesellschaftlichen Vermögen im Kleinen haben entwickeln können. Erst dann kommen Vernunft und Sinne, Verstand und Einbildungskraft wieder zusammen"63. Solange Mündigkeit beschränkt bleibt auf den großen Wurf der Vernunft, der Denken und Mathematik in eins setzt64, wird sie nur bedingt zur vollständigen Entfaltung aller menschlichen Anlagen und Befähigungen beitragen, zumal "die vom Bürgertum in unserer Geschichte

5 7

Vgl. v. Hentig, Gutachten, S. 80 ff.

5 8

Vgl. HessVGH, ESVGH 33,89 (97). Je nach dem, ob Vertreter der Waldorfpädagogik oder der Montessoripädagogik, 'Freier Schulen'

oder etwa der Glockseeschule in Hannover oder der Laborschule in Bielefeld, s. hierzu v. Hentig, Gutachten..., S. 80 f. 6 0

Vgl. v. Hentig, Gutachten..., S. 76 unter Verweis auf Piaget .

6 1

A.a.O., S. 81; s.a. S. 87.

6 2

V g l insoweit die restriktive Auslegung des Erziehungsauftrages der Schule bei Ossenbähl,

Rechtliche Grundfragen..., S. 40 ff.; ders., Schule im Rechtsstaat DÖV 1977, 801 (808); Erichsen, Verstaatlichung..., S. 25. 6 3

Oskar Negt, Zur Dialektik der Vergesellschaftung des Menschen - Sechs Thesen über die Not-

wendigkeit der Selbstaufklärung der Aufklärung, in: Der Traum der Vernunft - Vom Elend der Aufklärung - Eine Veranstaltung der Akademie der Künste Berlin, Darmstadt-Neuwied 1985, S. 237 (252); s.a. Max Horkheimer/Theodor

W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969, S. 35: "Die Tren-

nung beider Bereiche läßt beide als beschädigt zurück". 6 4

Horkheimer/Adorno,

S. 83.

ΠΙ. Mündigkeit als umfassendes Erziehungsziel der Schule

69

entwickelte Vernunft (...) die 'herrschaftlichen Verzerrungen' dieser Geschichte in sich selbst (trägt)"65. Indem heute staaüich vorgegeben ist, daß vernünftig ist, was nützlich und "zeitgerecht" ist66, verliert die Erziehung die Möglichkeit einer umfassenden Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes. Hierbei fallen die Unterwerfung der äußeren und inneren Natur des Menschen zusammen67 und nehmen dem Einzelnen die Möglichkeit individueller (und kollektiver) aktiver Auseinandersetzung im Verhältnis von Subjekt und Objekt. Jenseits sozialer Praxis ist heute mit dem Erziehungsziel "Mündigkeit" als anthropologisches Pendant eines wertgebundenen Persönlichkeitsbegriffs, wie er sich allseitig unter die Berufung auf die Vernunft seit der Aufklärung entwickelt hat, in der staatlichen Schule eine einseitige Ausrichtung der Persönlichkeitsentfaltung i.S. abstrakt kognitiv-vernunftmäßiger Erziehung und Unterrichtung indiziert, die eine umfassendere Bestimmung des Erziehungsprozesses als allein die Zielorientierung "Mündigkeit" erfordert, um dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu entsprechen. Es ist insofern entscheidend, daß es jenseits des staatlichen Schulsystems und seiner - unbestreitbar - erziehungswissenschaftlich mitgetragenen Zielorientierung eine ebenfalls gesellschaftlich relevante und erziehungswissenschaftlich fundierte Position gibt, nach der durch die Prägung des Kindes in Form einer von vorneherein von jeder sinnlichen Erfahrung getrennten Begegnung mit 'abstrakten' Lernstoffen eine umfassende Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes und auch die Ausbildung der Vernunft als Voraussetzung einer Erziehung zur Mündigkeit verhindert wird. Wenn etwa v. Hentig davon ausgeht, daß die Kindheit der Schlaf der Vernunft ist, der solange "währt, bis der Körper und die Sinne ausgebildet sind und die Vernunft sie in ihren Dienst nehmen kann"68, oder die Waldorfpädagogik in ähnlicher Erkenntnis ihren Unterrichtsplan nach gänzlich anderen Kriterien ausrichtet als das staatliche Schulsystem69, so zeigt dies, daß sich aus einer bestimmten pädagogisch und entwicklungspsychologisch durchaus nicht unbeträchtlichen - wissenschaftlichen Position unter den heutigen Bedingungen schulischen 6 5

Rudolf zur Lippe, Autonomie als Selbstzerstörung, Frankfurt/M. 1984, S. 39.

6 6

Man denke nur an die bevorstehende 'Vercomputerisierung' der Schulen; s.a. Horkheimerl Adorno,

S. 9: "Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig"; Gunter Eichhorn, Kritik der Aufklärung oder vom Scheitern einer bürgerlichen Förderung zur Krise von Erziehung und Bildung, Collar 1977, S. 87. 6 7

Vgl. Horkheimer/Adorno,

6 8

Hartmut v. Hentig, Die Erziehung des Menschengeschlechts - Ein Plädoyer für die Wiederher-

S. 8,12,15; Eichhorn, S. 11 f.

stellung der Aufklärung, in: Der Traum der Vernunft - Vom Elend der Aufklärung - Eine Veranstaltungsreihe der Akademie der Künste Berlin, Darmstadt/Neuwied 1985, S. 105 (111). 6 9

Vgl. Jach, Privatschulfreiheit.., S. 511.

70

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

Lernens und schulischer Erziehung das angestrebte Erziehungsziel Mündigkeit i.S. der Fähigkeit vernunftbestimmter Erkenntnis und Handelns gar nicht erfüllen kann, da nämlich den Minimalbedingungen kindheitsgemäßer Entwicklung eine Erziehung entgegensteht, die mißachtet, daß das Kind die Fähigkeit der Vernunft erst ausprägen kann, wenn der Körper und die Sinne und mit ihnen die Phantasie ausgeprägt sind. In der Kritik des jetzigen Schulsystems sind dabei "Reichtum des Verstandes und Armut der Sinne zwei Seiten desselben Zivilisationsprozesses. Die beschleunigte Vergesellschaftung des Verstandes, der in seinen wissenschaftlichen und technischen Produktionen eine eigene machtvolle und die Lebensweise aller Menschen durchdringende Gegenstandswelt erzeugt hat, ist von der Entwicklung der Gefühle, der Sinne, der Vorstellungs- und Einbildungskraft abgekoppelt worden"70 und "dadurch, daß die Sinne blind blieben, hat auch der Verstand seine Sehkraft verloren"71. Und wenn Häberle für seine Theorie der Grundrechte als Erziehungsziele auf die Klassikertexte in ihrer geistesgeschichtlichen Tradition und Bedeutung für den Erziehungsauftrag der Schule verweist72, so ist nicht nur auf die Bedeutung des vernünftig-sittlichen Menschenbildes Kants und Hegels für die heute vorherrschenden Erziehungsziele zu verweisen, die zu einer Ausgrenzung des "bloß Sinnlichen" aus der schulischen Erziehung führten 73. So war es schon Hölderlin vorbehalten festzustellen, "man muß im Norden schon verständig seyn, noch eh ein reif Gefühl in einem ist, man muß vernünftig, muss zum selbstbewußten Geiste werden, ehe man Mensch, zum klugen Manne, ehe man Kind ist; die Einigkeit des ganzen Menschen, die Schönheit läßt man nicht in ihm gedeihen und reifen, eh' er sich bildet und entwickelt.... Aber aus blosem Verstand ist nie verständiges, aus bloser Vernunft ist nie vernünftiges gekommen"74. Und so gilt in gewisser Hinsicht noch heute, ohne daß wir Hölderlins Unbefangenheit, die Einheit mit der Natur in unsere Zeit hinüberretten und übernehmen könnten: "Ach! Wär ich nie in eure Schulen gegangen... Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne"75. Auch Schiller ging es darum, im Gegensatz zum Primat der Rationalität der Aufklärung die Einheit des Subjekts mit der Natur und einen Ausgleich bzw. eine Harmonie von Sinnlichkeit und Gefühl auf der einen und der Vernunft auf der anderen Seite 7 0

Negt, S. 244.

7 1

A.a.O., S. 245.

7 2

Häberle, Erziehungsziele. S. 75.

7 3

Vgl. hierzu Jach, Vom staatlichen Schulsystem..., S. 182 ff.

7 4

Friedrich

Hölderlin, Hyperion - oder der Eremit in Griechenland, Tübingen 1797 (Nachdruck der

Originalausgabe, Frankfurt/M. 1979), S. 147. 7 5

A.a.O., S. 11 f.

ΠΙ. Mündigkeit als umfassendes Erziehungsziel der Schule

71

herzustellen76. Schiller geht zwar 'Von Kants Auffassung aus, daß Sittlichkeit untrennbar sei von einem heftigen Kampf zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, versucht aber, den kantischen Dualismus zu mildern und das Ethische dem Ästhetisch-Harmonischen zu nähern", wobei der Kunst die Aufgabe und alleinige Fähigkeit der Herstellung eines harmonischen Verhältnisses zwischen Geistig-Vernünftigem und Sinnlich-Triebhaftem zufallen soll. Denn weil nur "das Kunstwerk selbst geistig-sinnliche Einheit, und zwar harmonisierende Einheit ist, kann sie den ganzen Menschen erfassen und ihn durch Vernunft führen, ohne ihn aus seiner sinnlichen Natur herauszureißen und in innerer Spannung zu halten"77. So heißt es in Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung, daß die Kultur jeweils den sinnlichen und vernünftigen Trieb gegeneinander zu behaupten habe und die ästhetische Erziehung sowohl die Ausbildung des Gefühlsvermögens als auch des Vernunftsvermögens erfordere 78. Auch wenn Schillers "Idee der klassischen deutschen Ästhetik einer 'Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts', die - mit Schillers Worten - implizierte, 'daß das politische Problem einer besseren Gesellschaft durch das Ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch die man zur Freiheit wandert', (...) nicht restauriert werden (kann und darf)" so "kann 'Ästhetische Erziehung' heute ... dennoch... zu Daseins- und Bewußtseinserweiterung führen" 79. Diese Erkenntnis ist für den schulischen Erziehungsauftrag nutzbar zu machen und erfordert das gleichberechtigte Nebeneinander traditioneller und reformpädagogischer Unterrichtsmodelle als Ausdruck von Schulvielfalt, weil nach reformpädagogischer Ansicht nicht das nur kognitiv aufnehmende und begrifflich verarbeitende, sondern das schöpferische und zugleich sinnlich wahrnehmende Subjekt zu einer positiven Individualität als soziales Wesen gelangen kann, bei dem noch von umfassender Persönlichkeitsentfaltung zu sprechen wäre. Sinnlichkeit ist dabei nicht nur zu verstehen als bloße Kategorie äußerer sinnlicher Wahrnehmung. Sie ist die rational nicht ableitbare Ausdrucksform im Verhältnis von Subjekt und Objekt, die Sinne und Geist erfaßt. Denn "was die Zivilisation der menschlichen Sinnlichkeit abfordert, ist nicht nur Triebverzicht im engeren Sinn. Die Zivilisation fordert auch mittels der Schule das Abdrängen inoffizieller Phantasien und Weltversionen, sie fordert das Einstu-

7 6

Vgl. Reble, S. 170 ff.

7 7

Reble, S. 193.

7 8

Friedrich

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Insel - Werkausgabe in 4

Bd., Frankfurt/M. 1960, Bd. IV, S. 229 ff. 7 9

Richard Faber, Subversive Ästhetik, Zur Rekonstruktion kritischer Kultur-Theorie, in: Kursbuch

Nr. 49, Oktober 1977, S. 159 (171).

72

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

dieren eines distanzierten Weltverhältnisses"80. Künstlerische Wahrnehmungsfähigkeit und Ausdrucksform wäre so zu verstehen als 'Ästhetik der Sinnlichkeit', mit der die Fähigkeit sinnlichen Erfassens und denkerischen Erkennens korrespondiert So könnte die Erziehung zur Mündigkeit' von der Unmündigkeit in der Abstraktion' zur Autonomie des Handelns führen. Dies macht deudich, daß eine Erziehung im Sinne der umfassenden Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit nicht nur einer Bestimmung eines formellen Erziehungsziels 'Mündigkeit' bedarf, das das Kind als eigenständiges Subjekt akzeptiert und einbezieht, sondern auch einer inhaltlichen Form des Lernens und Lebens, die den Zusammenhang von Kopf und Körper, Sinnlichkeit und Verstand, Mensch und Natur erfaßt. Solche ganzheitlichen Erziehungskonzepte in der Tradition der Reformpädagogik werden jedoch gegenwärtig als pädagogische Modelle bis auf Ausnahmen wie die Glocksee-Schule in Hannover und die Laborschule in Bielefeld allein im sogenannten Privatschulwesen verfolgt. Schulvielfalt und ein substanzielles Wahlrecht der Eltern erfordern jedoch ein gleichberechtigtes Nebeneinander dieser Schulen mit Schulen in staatlicher Trägerschaft, die ein gänzlich anderes Unterrichtskonzept verfolgen. Hierzu gehört aber auch, daß der Staat innerhalb seines gegenwärtigen Schulsystems z.B. verstärkt musisch-künstlerisch Schulformen anbietet, um dem Anspruch auf umfassende Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes gerecht zu werden. Wichtig für eine umfassende Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes ist daher aus einer gesellschaftlich relevanten Sicht die Ermöglichung einer ganzheitlichen Erziehung, wie sie gegenwärtig im staatlichen Schulsystem nicht gewährleistet wird. So ist zumindest im Ansatz Hocèvar zuzustimmen, wenn dieser ausführt, daß die Schule bestrebt sein muß, "durch gleichmäßige Anregung und Herausforderung aller Persönlichkeitsschichten eine ausgewogene Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit herbeizuführen. Tut sie dies, so folgt sie keinem griechischen Harmonieideal, sondern der nüchternen Erkenntnis, daß der Mensch an Verzerrungen der rational-technischen Welt, die ihm vielerorts entgegentreten, krank wurde und daß er durch Förderung einer ganzheitlichen Nachreifung störungsfreier, lernfähiger, leistungsfähiger und vor allem menschlicher zu werden vermag"81. Daher gilt es festzuhalten, daß eine Erziehung, die sich an einer nicht an staatlichen Interessen und Zwecküberlegungen, sondern an einer umfassenden i.S. einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentfaltung des Kindes orientiert, Alternativen zur gegenwärtigen staadichen Schulerziehung erfordert. "Dazu müssen angesichts des Ernstes der Lage ganzheitliche, weitgehend vom Leistungszwang freie, gemeinschaftsbezogene Erziehungskonzepte, wie z.B. das der Waldorf-Schule, das nunmehr seit 60 Jahren erfolgreich praktiziert wird, (auch F.-R.J.) auf ihre 8 0

Horst Rumpf, Die übergangene Sinnlichkeit, München 1986, S. 200.

81

Rolf Κ . Hocèvar , Bildungsziele der Bayerischen Verfassung, München 1980, S. 15.

ΠΙ. Mündigkeit als umfassendes Erziehungsziel der Schule

73

Übertragbarkeit auf das öffentliche Schulwesen hin gewissenhaft überprüft werden - dies um so mehr, als die Waldorf-Schule als eine Schule für Kinder von Fabrikarbeitern" und damit für breite Bevölkerungsschichten "und nicht wie es heute zuweilen erscheint - für Kinder aus Bildungsschichten gegründet wurde"82. Diese seit der Reformpädagogikbewegung der 20er Jahre sich als Pädagogik 'vom Kinde aus' verstehende Erziehung, für die Waldorf-Schulen hier stellvertretend stehen, und die heute in das Reservat der Privatschulen gedrängt ist, zeichnet sich insgesamt dadurch aus, daß sie jenseits des Maßstabs kultureller Objektivität ein schöpferisches Wachsenlassen der ganzheitlichen Persönlichkeit anstrebt83. Hierbei gilt noch heute die von der Reformpädagogik erhobene "schärfste Kritik an der bisherigen Schule", der sie vorwirft, "daß sie die Persönlichkeit vernichte, den Geist töte und den Menschen vergewaltige"84. Ihr Ziel ist demgegenüber, wie es sich etwa in der Waldorfpädagogik ausdrückt, das Kind als körperlich-seelische Ganzheit in seinen Entwicklungsstufen zu sehen und in der Erziehung dementsprechend unter Zurückdrängung einseitiger rationaler Abstraktion über Phantasiebildung, musisch-künstlerische Bildung und persönliche Führung und Beziehung anzusprechen85. Diese Erkenntnisse der Reformpädagogik und ihre jahrzehntelange Erfahrung bilden insofern einen objektiven Maßstab der Möglichkeiten ganzheitlicher Persönlichkeitsentfaltung, an dem sich das heutige staatliche Schulsystem messen lassen muß. Die Verpflichtung des Staates, eine umfassende Persönlichkeitsentfaltung des Kindes in der Schule zu gewährleisten, verdrängt insofern auch die Ansicht von Erichsen, wonach sich die Verwirklichung pädagogischer Einsichten nach Verfassungsrecht, nicht aber das geltende Verfassungsrecht nach der Pädagogik zurichtenhabe86. Gerade dies macht die objektivrechtliche Substanz der Bindung des Staates an das Recht des Kindes auf Entfaltung seiner Fähigkeiten und Anlagen aus. Hierbei obliegt es dem Gesetzgeber, entweder im staatlichen Schulwesen unterschiedlichen Erziehungskonzeptionen Raum zu geben oder diese über eine umfassende Privatschulfinanzierung zu ermöglichen. Erst dann verifiziert sich der hohe Anspruch, daß Art. 2 Abs. 1 GG alle Rechtspositionen schützt, "die für die Entfaltung der Persönlichkeit notwendig sind"87 und Art. 2 Abs. 1 GG vor solchen schulorganisatorischen 8 2

A.a.O., S. 29.

83

Vgl. Reble, S. 285; Stock, S. 115.

8 4

Reble, S. 285 f.

8 5

Vgl. Reble, S. 307.

8 6

Erichsen, Verstaatlichung..., S. 10 f.

8 7

BVerfGE 34,239 (246).

74

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsechte des Kindes

Maßnahmen schützt, die für die gesamt Persönlichkeit des Kindes und sein Verhältnis zur Gemeinschaft offensichtlich nachteilig sind88. IV. Zusammenfassende Betrachtung der objektivrechtlichen Dimension des Art. 2 Abs. 1 GG im Schulverhältnis Aus dem bisherigen Gang der Untersuchung wird deutlich, daß Art. 2 Abs. 1 GG in seinem objektiven Gehalt nur dann eine freiheitssichernde Funktion bei der Gestaltung des Schulverhältnisses ausüben kann, wenn der Begriff der Persönlichkeitsentfaltung nicht wertmaterial überlagert wird und zugleich die Vielfalt der Vorstellungen dessen, was Persönlichkeitsentfaltung zum Inhalt in der Schule hat, strukturell gesichert ist. Deshalb ist festzuhalten, daß in der objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte weder von einem zu verwirklichenden geschlossenen Wertsystem der Verfassung die Rede sein kann89 noch der Annahme eines bestimmten Menschenbildes zuzustimmen ist, welches den Begriff der Persönlichkeitsentfaltung verfassungsrechtlich fixiert Der Verfassung obliegt es zwar, auf der Basis der geistig-kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft bestimmte, für das soziale Miteinander als unabdingbar erachtete Rechte und Pflichten zu normieren, es kann aber nicht Aufgabe der Verfassung sein, eine bestimmte geistig-kulturelle Entwicklung selbst zu fixieren. Vielmehr muß es Aufgabe des gesellschaftlichen Prozesses bleiben, diese Rechte als Verkehrsformen im geistig-kulturellen Prozeß mit Inhalt zu füllen, so daß die Vielfalt verschiedener Formen geistig-kultureller Existenz und Identität sich entfalten können. Dies muß vor allem deshalb gelten, weil es einen homogenen geistig-kulturellen Entwicklungsstandard lediglich hinsichtlich der Frage der Verkehrsformen, jedoch nicht hinsichtlich der Frage geben kann, was menschliche Existenz und Selbstverwirklichung ausmacht. Die Konstatierung eines Wertsystems, welches in der Fixierung bestimmter Werte beansprucht, die Sinnfragen menschlicher Existenz zu beantworten und verfassungsrechtlich zufixieren, wäre demgegenüber das Ende jeder kulturellen Entwicklung. Aus diesem Grund ist der Versuch abzulehnen, aus dem Menschenbild des Grundgesetzes als "geistig-sittliche Person" verfassungsrechtlich statisch festgelegte Erziehungsvorgaben abzuleiten. Ansonsten wäre das Recht des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit über eine objektivrechtliche Sichtweise der Grundrechte zu einem rechtspolitischen Machtinstrument gegenüber alternativen Zielorientierungen schulischer Erziehung verkehrt Das 8 8

Ursula Fehnemann, Rechtsfragen des Persönlichkeitsschutzes bei der Anwendung psychodiag-

nostischer Verfahren in der Schule, Berlin 1976, S. 92; Niehues, S. 77, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG. 8 9

Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 33.

IV. Zusammenfassende Betrachtungen

75

Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der Schule hieße dann in seiner objektivrechtlichen Dimension allein das Recht des Staates zur Definition der Inhalte bürgerlich-personaler Existenz. In der Tat würde so "aus der Freiheit der Individuen zum Anderssein... die Befugnis des Staates zum Andersbehandeln der seinem Rechtszwang unterliegenden Bürger" 90, was zu einer "schleichende(n) Umwandlung der Grundrechte aus individuellen und kollektiven Freiheitsrechten in staadiche Ermächtigungsnormen"91 führen würde. Gegenüber einer wertüberladenen Sicht der Grundrechte auf der Grundlage eines bestimmten Menschenbildes gilt es grundsätzlich, die Substanz der Freiheidichkeit der Verfassung in der Strukturierung von Verkehrsformen des gesellschafdichen Miteinander? und nicht in der Vorgabe eines bestimmten Inhalts der Vergesellschaftung oder der Sinnhaftigkeit von personaler Existenz zu sehen. In diesem Zusammenhang weisen Heymann und Stein zu Recht darauf hin, daß das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte 'Menschenbild des Grundgesetzes1 "keine Aussage über die Natur des Menschen, sondern über die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft"92 enthält. In seiner objektivrechdichen Dimension ist das Wertsystemdenken insbesondere im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG daher nur haltbar, wenn man davon ausgeht, daß sich die "Werttheorie der Grundrechte als solche gegenüber der rechtiichen Freiheit neutral verhält"93. So ist davon auszugehen, "daß die endgültige Formulierung (des Art 2 Abs. 1 GG, F.-R.J.) jedenfalls keine Fesdegung auf ein bestimmtes Persönlichkeitsbild bringen, sondern gerade die Freiheit sichern sollte, seine Persönlichkeit 'frei', also nach eigenem Entwurf und Bilde zu entfalten" 94. Dementsprechend läßt sich prinzipiell der Begriff der 'Persönlichkeit' als verfassungsrechdicher Begriff nicht als ethisch wertbezogen fixierter Begriff auffassen, sondern obliegt selbst der offenen Definition. Dabei muß "am Anfang der Inhaltsbestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG ... die Betonung des Rechts auf private, persönliche, irgendwelchen öffendichen Zwecken nicht verpflichtete Freiheit stehen", wobei Privatheit auch als "eine Eigenschaft des Umgangs mit anderen" zu verstehen ist95. Eine Sichtweise, die den schulischen Eraehungsprozeß objektivrechtlich durch bestimmte verfassungsrechdiche Vorgaben inhaltlich wertgebunden determiniert sieht, zeigt deren Umschlagen von einem Freiheitsrecht in eine 9 0

Ulrich K. Preuß, Die Internalisienmg des Subjekts, Frankfurt/M. 1979, S. 188.

9 1

A.a.O., S. 175.

9 2

Heymann/Stein, S. 408.

9 3

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 155.

9 4

Dieter Suhr, Entfaltung des Menschen durch die Menschen, Berlin 1976, S. 65.

9 5

Adalbert PodlecK Das Recht auf Privatheit, in: Joachim Pereis (Hrsg.): Grundrechte als Funda-

ment der Demokratie, Frankfurt/m. 1979, S. 50 (52 f.).

76

D. Schulaufsicht und Persönlichkeitsrechte des Kindes

mit dem Schulvielfaltsgebot nicht zu vereinbarende Organisationsgewalt des Staates, wenn z.B. Oppermann aus Art. 2 Abs. 1 GG die "Anerkennung des individuellen Leistungsprinzips"96 als verfassungsrechtliche Vorgabe für die Gestaltung des schulischen Bildungs- und Erziehungsprozesses herleitet, dem die Schule organisationsrechtlich durch Noten, Zeugnisse etc. verbindlich Rechnung zu tragen habe. Wie v. Hentig stellvertretend für im weitesten Sinne neoreformpädagogische Erziehungskonzeptionen dargestellt hat97, sind Noten und Leistungsdruck in Form des individuellen Konkurrenzkampfes, wie sie sich in der heutigen Form der staatlichen Schulerziehung zeigen, jedoch keinesfalls leistungsfördemde Konstitutionselemente der Persönlichkeitsentfaltung. In dem Versuch Oppermanns, über einen solchermaßen eindimensionalen Begriff der Persönlichkeitsentfaltung die schulische Erziehung in der Begegnung und dem Umgang mit 'Bildung' zu determiniern, zeigt sich exemplarisch die Problematik, bestimmte pädagogische Vorstellungen als allgemeinverbindlich juristisch zu sanktionieren und abzusichern. Daß dies eine einseitige Sicht der Voraussetzungen von Persönlichkeitsentfaltung darstellt, dürfte zumindest in der pädagogischen und entwicklungspsychologischen Literatur unbestritten sein98. Eine solche Erziehungs- und Persönlichkeitskonzeption zur verfassungsrechtlich verbindlichen Grundlage des Schulwesens machen zu wollen, hat mit der Gewährung und Sicherung von Grundrechten in einem freiheitlichen Schulwesen nichts gemein. Die Konsequenzen einer weitbezogenen Sichtweise seien femer am Beispiel der Sexualerziehung konkretisiert. Evers will die Verbindlichkeit einer vermeintlichen 'Allgemeinmoral' der Verfassung auch der Sexualerziehung zugrunde legen99. Die Konsequenzen eines solchen Verfassungsverständnisses liegen auf der Hand: Es gibt eine verbindliche Sexualmoral, die insbesondere auch die Wertentscheidung' des Grundgesetzes für Ehe und Familie zu berücksichtigen hat, so daß "erzieherische Zielsetzungen, die Schüler von den Geboten dieses Kodexes einfacher Sexualmoral zu emanzipieren, (...) ebenso unzulässig (wären), wie die Vermittlung einer strengeren Sexualmoral als verbindliche Festsetzung"100. Dabei geht Evers gar soweit, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Toleranz bei der Durchführung der Sexualerziehung101 insofern als irreführend anzusehen, als daß die Schule im Hinblick auf die Wertentscheidungen des Grundgesetzes

9 6

Oppermann, Gutachten..., S. C 85.

9 7

Von Hentig, Gutachten..., S. 130.

9 8

S. Alexander Mitscherlich, Toleranz - Oberprüfung eines Begriffs, Frankfurt/M. 1974, S. 150 f.

9 9

Evers, S. 116 ff.

1 0 0

A.a.O., S. 117.

101

BVerfGE 47,46 (77).

IV. Zusammenfassende Betrachtungen

77

und die einfache Sexualmoral durchaus gehalten sei, sich mit diesen Inhalten zu identifizieren 102. Am Beispiel des Versuchs, aus den Grundrechten bestimmte Vorgaben für die Schule und ihre Unterrichtsarbeit als verbindlich zu setzen, zeigt sich deutlich die Problematik einer wertmaterial überlagerten objektiven Grundrechtssicht. Zwar ist unbestritten, daß die Verfassung mit der Gewährung von Grundrechten verbindliche inhaldiche Werte im Sinne eines personalen Menschenbildes setzt, dieses personale Menschenbild betrifft jedoch nur das grundsätzliche Verhältnis Individuum - Gemeinschaft und muß innerhalb dessen der Selbstdefinition des Grundrechtsträgers obliegen. Aus diesem Grunde lassen sich aus den Grundrechten, insbesondere aus Art. 2 Abs. 1 GG, keine konkreten Erziehungsvorgaben ableiten, sondern geben im Gegenteil objektive Kriterien für eine pluralistische Organisation des Schulwesens. In diesem Sinne geht es bei der Verifizierung der objektivrechdichen Dimension der Grundrechte im Schulverhältnis um "eine von unhaltbaren Annahmen gereinigte Werttheorie" 103, die zugleich durch eine strukturale und verfahrensmäßige Inpflichtnahme des Staates zu einer Optimierung der Grundrechte fuhren soll 104 . Wesentiiches Kriterium eines solchen Optimierungsgebots ist im Bereich der schulischen Erziehung die organisatorische Sicherung eines kulturellen Vielfaltsgebots dergestalt, daß sich die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes nicht am Ideal einer staadich vorgegebenen Erziehungskonzeption zu vollziehen hat, sondern den vielfältigen Vorstellungen in der Gesellschaft darüber, welche Anforderungen an eine umfassende Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes zu stellen sind, Rechnung trägt

Evers, S. 118. 103

Alexy,

1 0 4

6 Jach

Theorie der Grundrechte, S. 18.

Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.

E. Schulvielfalt als Verfassungsauftrag — Abschließende Betrachtungen

Aus den bisherigen Ausführungen ist deudich geworden, daß über die Realisierung und die Voraussetzungen einer umfassenden Persönlichkeitsentfaltung des Kindes unzweifelhaft grundsätzlich verschiedene gesellschaftliche Vorstellungen bestehen. Aufgabe eines freiheidichen Schulwesens muß es sein, diesen verschiedenen Vorstellungen Raum zur Verwirklichung zu geben. Gerade dies ist die funktionale Essenz staadicher Schulaufsicht in einer freien Gesellschaft Staadiche Schulaufsicht kann heute nicht mehr Selbstzweck staadicher Erziehungsherrlichkeit sein, sondern allein Gewährleistungsgarantie eines Prozesses, der aufgrund der Schutzbefohlenheit der Kinder öffentlicher Aufsichtskontrolle bedarf. Damit wandelt sich der Schulaufsichtsbegriff notwendigerweise von der umfassenden Fach-, Dienst- und Rechtsaufsicht zur Aufsicht im klassischen Sinne, zur Rechtsaufsicht. Dem Staat obliegt dabei die Verpflichtung, durch organisatorische und finanzielle Maßnahmen Schulvielfalt im Sinne der Verwirklichung verschiedener pädagogischer Erziehungskonzeptionen zu gewährleisten. Hierbei kann es nicht darum gehen, das Grundgesetz oder die Grundrechte zum pädagogischen Maßstab zu erheben, da das Grundgesetz in der Tat keine Kriterien zur (eindeutigen) Beurteilung pädagogischer Fragen enthält1. Gleichwohl gibt es strukturelle Vorgaben für die Organisation des Schulwesens dergestalt, daß die grundrechdiche Anerkennung der Rechte der Kinder und auch der Eltern den Staat verpflichtet, Voraussetzungen für Erziehungsprozesse zu schaffen, die gleichermaßen den grundlegend verschiedenen Anschauungen, unter welchen Bedingungen Erziehung die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes gewährleistet, Raum für eine Realisierung läßt. Aus der Eigenart des Erziehungsprozesses und seinem Bezugspunkt auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes ergibt sich die Verpflichtung des Staates, ein Schulsystem bereitzustellen, welches den wissenschafdichen Grundforderungen primär der Entwicklungspsychologie und der Pädagogik genügt. Demgegenüber ist gegenwärtig zu konstatieren, daß sich die staadiche schulische Erziehung einseitig an einer abstrakt kognitiv-intellektuellen Erziehungskonzeption orientiert, über die wissenschaftlich und gesellschafüich kein Konsens herrscht, sondern die aus gesellschafdich relevanter Sicht vielmehr auch als hemmend für die Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes angesehen wird. 1

BVerfGE 53,185(197).

E. Schulvielfalt als Verfassungsauftrag - Abschließende Betrachtungen

79

Aus v. Hentig's Gutachten zur Treien Schule Frankfurt* wird - unabhängig von seinem konkreten Prozeßbezug - exemplarisch deutlich, daß es in der pädagogischen und entwicklungspsychologischen Diskussion dem herrschenden Schulsystem in der Organisation schulischen Lernens und schulischer Erziehung diametral entgegengesetzte Auffassungen darüber gibt, unter welchen Bedingungen sich die Persönlichkeit des Kindes ganzheiüich zu einem sozialverantwortlichen Individuum entwickelt2. Ist dem aber so, so muß dies für die unter staatlicher Aufsicht zu organisierende Schulerziehung bedeuten, daß auch diese Erziehungskonzeptionen gleichberechtigte Berücksichtigung finden müssen. Schulische Erziehung und Persönlichkeitsentfaltung des Kindes im Sinne 'natürlich organischer Entfaltung' fordern daher keine inhaltliche Festlegung etwa auf das individuelle Leistungsprinzip3 in seiner heutigen Ausrichtung und schließen 'alternative', 'mathetische' oder auch 'antiautoritäre' Erziehungsmodelle gerade ein und nicht aus. Wenn davon auszugehen ist, daß die gegenwärtige Ausrichtung schulischer Erziehung auf einem einseitigen Verständnis von Persönlichkeitsentfaltung beruht, dann bedeutet dies, daß die Grenze zulässiger Persönlichkeitsformung durch den Staat in einer pluralen Gesellschaft überschritten ist: "Verschreibt sich die Staatsschule einem einzigen Bildungsideal und Erziehungsziel und einer Uniformität der inneren und äußeren Schulorganisation, dann verletzt der Staat das Gebot der Neutralität, indem er Andersdenkende, die nicht einmal nur eine Minorität auszumachen brauchen, einem von ihnen nicht akzeptierten Anspruch unterwirft oder aber auf Privatschulen verweist"4. Genau letzteres ist heute der Fall. Im staatlichen Schulsystem besteht ein formales, aber kein materielles Wahlrecht, keine pädagogische Vielfalt, sondern nur eine vertikale in Form verschiedenwertiger Schulstufen zur Vergabe bestimmter Berufszugangsqualifikationen. Angesichts der unterschiedlichen Vorstellungen, was Persönlichkeitsentfaltung ausmacht und welche kulturellen Werte es zu überliefern und an die Kinder in öffentlichen Schulen weiterzugeben gilt, fragt es sich allerdings, ob nicht überhaupt auf die normative Formulierung von "Erziehungsziele(n) als funktionale Bezugspunkte zu verzichten" ist5. Dies umsomehr, als mit Roellecke davon auszugehen ist, "daß Erziehungsziele nicht justiziabel sind"6. Gegenüber einer einseitigen Formulierung von Erziehungszielen durch die je2

Vgl. v. Hentig, Gutachten..., S. 123 ff.

3

Vgl. Oppermann, Gutachten..., S. C 85 f.; grundsätzlich s.a. Ossenbähl, Rechtliche Grundfragen

der Erteilung von Schulzeugnissen; dies schließt andere Formen der Leistungsbewertung nicht aus, vgl. v. Hentig, Gutachten..., S. 130 unter Bezugnahme auf ländgerechte Leistungsbewertung' etwa an den Waldorfschulen i.S. eines positiven Maßstabs. 4

Hennecke, Staat.., S. 177 f.

5

Lenhardt, S. 225.

6

Roellecke, Erziehungsziele..., S. 192.

E. Schulvielfalt als Verfassungsauftrag - Abschließende Betrachtungen

weils gerade herrschende politische Mehrheit muß es darum gehen, unabhängig von politischen Mehrheiten strukturelle Voraussetzungen für ein Schulsystem zu schaffen, bei dem unter Beachtung der verschiedenen Wertvorstellungen in der Gesellschaft die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes gewährleistet wird. Als Organisationsprinzip schulischer Erziehung folgt m.E. aus dem Gesagten die Forderung nach einem Verständnis der staatlichen Schulaufsicht als Gewährleistung inhaldich pluraler und unabhängiger Erziehungsprozesse unter der Aufsicht des Staates. Grundrechtsgewährleistung für Eltern und Schüler heißt dann, daß diese zwar nicht individuell eine bestimmte Form schulischer Erziehung einklagen können, gleichwohl aber, daß der Staat verpflichtet ist, über eine pluralistische Organisation des Schulwesens den Eltern und Kindern die Möglichkeit inhaltlicher Wahlmöglichkeiten zu gewähren. Dies setzt allerdings voraus, daß die einzelne Schule ihre pädagogische Konzeption unter der Mitwirkung der Eltern autonom bestimmen kann, und erfordert die Möglichkeit der Errichtung von öffendichen Selbstverwaltungskörperschaften, sofern dem Schulvielfaltsgebot nicht durch eine rechtliche und materielle Gleichstellung von staadichen und Schulen in freier Trägerschaft Rechnung getragen wird. Allein eine solchermaßen funktional-gewährleistende Funktion der staatlichen Schulaufsicht scheint mir den gesellschafdichen Bedingungen kultureller Identität im Erziehungswesen gerecht zu werden. Insofern kann man der Auffassung, zwischen den Zwecken der Schule und des Staates bestehe eine im Grunde ahistorisch gedachte - Affinität 7, bei der "die Bildungs-, Erziehungs- und Unterrichtsfunktion der Schule (...) zum Staatszwecke erhoben oder umgekehrt ihm dienstbar gemacht (wird)"8, nur mit Skepsis gegenübertreten, wenn nicht damit gleichzeitig gewährleistet ist, daß auch die Wertvorstellungen der verschiedenen gesellschafdichen Kräfte sich in der Schule 'zu Hause' fühlen können. Dabei geht es verfassungsrechtlich um die Sicherung pluralistischer Schulträgerstrukturen i.S. eines Pluralismus des gleichberechtigten Nebeneinanders in sich geschlossener pädagogischer Konzeptionen, da allein binnenpluralistische Schulstrukturen i.S. einer weitgehenden individuellen pädagogischen Autonomie des Lehrers zur Sicherung jà^f Grundrechte von Eltern und Schülern nicht ausreichen, da dies nicht gewährleistet, daß ein gemeinsamer pädagogischer Konsens zwischen Eltern und Lehrern besteht. Die notwendige pädagogische Autonomie des Lehrers muß daher eingebunden sein in pluralistische Grundstrukturen, wobei sicherlich Mischformen zwischen außenpluralistischen und binnenpluralistischen Strukturen denkbar sind. 7

Vgl. insofern Frank Hennecke, Schule zwischen Recht und Politik, Kaiserslautern 1985, S. 57.

8

A.a.O., S. 59.

E. Schulvielfalt als Verfassungsauftrag - Abschließende Betrachtungen

81

Die fehlende kulturelle Identität der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mit der Staatsschule ist auch der Grund und die Erklärung dafür, warum die Schule angesichts der unitaristischen Formalisierung der kulturellen Überlieferung die Antagonismen zwischen Individuum und Gesellschaft nicht aufhebt, sondern verstärkt9. Wenn Lenhardt zu Recht kritisiert, daß die "Formalisierung der kulturellen Überlieferung durch Schulen, ihrer Inhalte sowohl wie ihrer Organisationsformen, (...) die Individuen von der Verfügung über kulturelle, gesellschaftliche und materielle Ressourcen der Selbstdarstellung (enteignet) und (...) so zur Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei(trägt)"10, so ist dies untrennbar mit der Vereinnahmung der Schule durch den Staat verbunden. Roellecke hat daher recht, wenn er behauptet, daß der Staat die ihm vermeintlich gestellte Erziehungsaufgabe, zur freien Entfaltung der Persönlichkeit beizutragen, überhaupt nicht erfüllen kann11. Der in einer pluralistischen Gesellschaft notwendige 'Rettungsanker' des Toleranzgebotes und der Neutralitätspflicht erscheint in seiner heutigen Ausprägung in der Staatsschule für die Entwicklung der Kindespersönlichkeit eher hinderlich als förderlich, da damit zugleich positive Identifikationsprozesse verhindert werden. Diese erfordern jedoch gesellschaftliche Autonomie und Vielfalt. Demgegenüber läßt sich "der Erziehungsauftrag des Staates nur begründen, wenn man eine totale Erziehungswelt annimmt und eine totale Erziehungswelt muß man annehmen, wenn man alle Einflüsse auf (jedes) einzelne Kind vom Standpunkt 'der einen Persönlichkeit des Kindes' aus betrachtet"12, d.h. von einem bestimmten Menschenbild aus. "Ein solcher Erziehungsbegriff ist aber weder mit den prinzipiellen Freiheitsrechten jedes Bürgers vereinbar, ... noch hat er irgendetwas mit einer ... pluralistischen Gesellschaft zu tun. Im Gegenteil. Ein holistischer Erziehungsbegriff widerspricht eklatant der Ausdifferenzierung eines Teils des Erziehungssystems, d.h. der relativen Autonomie von Unterricht und Erziehungswissenschaft"13. Daher gilt es, die Rolle des Staates im Bereich der Erziehung darauf zu beschränken, "die knappen Mittel für das Erziehungswesen sachgerecht (zu) verteilen, die Wissensvermittlung (zu) organisieren und Gefahren für das Gemeinwohl ab(zu)wehren"14. Erst dann könnte der hohe Anspruch, wonach die Gesamtgesellschaft im Staat organisiert und repräsentiert ist 15 , für das Schulwesen Geltung beanspruchen. 9

So die zentrale These Lenhardts, S. 8.

1° Ebd. 11

Roellecke, Erziehungsziele..., S. 195.

12 Ebd. 13 Ebd. 14

Ebd.

15

Hennecke, Schule zwischen Recht und Politik, S. 82.

E. Schulvielfalt als Verfassungsauftrag - Abschließende Betrachtungen

Nach alledem ist entgegen dem herrschenden Schulverfassungsveständnis in dem mit dem Rückzug des Staates aus der Schule verbundenen Verlusts einer zentralen Willens- und Entscheidungsinstanz16 nicht grundsätzlich eine Gefahr zu sehen, sondern im Gegenteil die Verwirklichung demokratischer Willensbildung. Es scheint, als mache sich angesichts der Tatsache, daß sich "die Staatlichkeit der Schule in der Bundesrepublik geradezu als deren hervorstechendes Merkmal"17 erweist, Resignation breit. Denn z.B. auch Hennecke erkennt ja das Dilemma staadichen Schulehaltens, daß nämlich "jede Form von Schulehalten die Konsequenz prinzipieller weltanschaulicher Grundüberzeugungen ist"18 und die gesellschafdich existierenden verschiedenartigen Grundvorstellungen zwangsläufig mit der Staatsschule in Konflikt geraten müssen, wenn sie sich nicht mit ihr identifizieren können. Der Staat ist zwar vermeintlich gehalten, Neutralität zu wahren, "Schule kann aber nicht gehalten werden, ohne daß zugleich irgendwo weltanschaulich Stellung bezogen würde"19. Hennecke hält diesen Widerspruch für nicht lösbar und nimmt ihn als Paradoxie des modernen Staates hin20. Dem kann nicht gefolgt werden. Bei der Ablehnung eines Staatsschulwesens, das gesellschafdichen Einfluß weitestgehend ausschließt, geht es keinesfalls um die Vorstellung von einer harmonischen und liberalen Gesellschaft, die hoffnungslose Utopie sei21, oder um ein überholtes (Anti-)Staatsbild22, sondern um die Anerkennung antagonistischer Interessen, die in Form der Identitätswahrung zum Ausgleich zu bringen sind. Insofern gilt es anzuerkennen, daß es unterschiedliche Wege der Persönlichkeitsentfaltung und -Verwirklichung gibt, die gleichwohl ein fneiheidiches und demokratisches Miteinander ermöglichen. Selbst wenn man der von mir vertretenen Theorie schulischer Vielfalt nicht folgt, bleibt festzuhalten, daß "die Staadichkeit des Schulwesens (...) in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Anschauungen und Interessen nicht die negatorische Neutralität im Sinne der Nichtberücksichtigung, sondern die plurale Neutralität im Sinne der vermittelnden und toleranten Verwirklichung der Grundrechte der Schüler und Eltern (bedeutet)", und zwar hinsichdich der Inhalte und Ziele schulischer Erziehungsarbeit23. 16

A.a.O., S. 88.

17

A.a.O., S. 57.

18

A.a.O., S. 91.

19

Ebd.

2 0

Ebd.

2 1

So Hennecke, Staat.., S. 98.

2 2

So Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 189.

2 3

Richter, Kommentienmg zu Art. 7, Rdnr. 7.

E. Schulvielfalt als Verfassungsauftrag - Abschließende Betrachtungen

83

Das Postulat eines verfassungsrechtlichen Schulvielfaltgebots impliziert dabei keine einseitige, mit der insofern geforderten Gewährleistung der verschiedenen Formen wertbestimmter Erziehung verbundene Verstärkung des kirchlichen Einflusses auf das Schulwesen. Obwohl von dieser Seite eine solche kulturpolitische Konzeption auch vertreten wird 24, handelt es sich hierbei gleichwohl nicht um die Wiedergewinnung kirchlicher Macht über das Schulwesen gem. der katholischen Gesellschaftslehre, da gesellschaftlich der kirchliche Einfluß sehr zurückgegangen ist und die gegenwärtige Verfassungsrechtslage im Bereich des sogenannten Privatschulwesens die Kirchen eindeutig privilegiert. Mit dem durch das Schulvielfaltsgebot eintretenden Effekt der Anregung der kulturschöpferischen Kräfte und ihrer freien Entfaltung im Felde wertbestimmter Bildungs- und Erziehungsvorgänge25 gilt es vor allem auch den vielfältigen säkularisierten, vom staadichen Schulwesen abweichenden Vorstellungen Raum zur Verwirklichung zu schaffen. Der erzieherische Bereich der Schule stellt eine öffendiche Aufgabe dar, die jedoch keineswegs zur staadichen erklärt werden muß, sondern als zugleich staadiche und gesellschafdiche Aufgabe nebeneinander wahrgenommen werden kann26, und zwar über das jetzige Maß in der Form der Privatschulfreiheit hinaus. Sodann könnte es auch gerechtfertigt sein, die staadiche Tätigkeit in Form der Schulaufsicht dem Bereich der Leistungsverwaltung zuzuordnen27, die sich jedoch heute in der Ausrichtung auf ein gewünschtes staadiches Menschenbild jedenfalls gegenüber divergierenden Erziehungsvorstellungen überwiegend nicht als Leistungs-, sondern als Eingriffsverwaltung erweist. Dabei ist jedoch nicht außer acht zu lassen, daß Schulverwaltung insofern zwar Leistungsverwaltung sein könnte, gegenüber dem Schüler mit der Pflicht, zu lernen und sich erziehen zu lassen, aber stets auch Eingriffsverwaltung darstellt28. Aus den bisherigen Ausführungen bestätigt sich, daß "Art. 7 Abs. 1 GG nicht mehr (sagt), als daß der Staat über das Schulwesen wacht" und von daher einen "weiten Raum für die Organisation des öffendichen Schulwesens bis hin zu Selbstverwaltungsmodellen" läßt29. Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetz bedeutet danach eine Gewährleistungsgarantie i.S. der Rechtsaufsicht über die Beachtung der Grund2 4

S.v. Campenhausen, S.226.

2 5

A.a.O., S. 218.

2 6

S.a. Böckenßrde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft.., S. 419 f.

2 7

So die h.M.; vgl. etwa Erichsen, Verstaatlichung..., S. 22 m.w.M.; s. auch Rau, S. 149, Ekkehart

Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung..., S. 37. 2 8

V g l Dietze, Verfassungsfragen, S. 393.

2 9

Perschel Die Lehrfreiheit des Lehrers, S. 39, s.a. Clevinghaus, S. 367; Stock, S. 101.

84

E. Schulvielfalt als Verfassungsauftrag - Abschließende Betrachtungen

rechtsgewährleistungen im schulischen Erziehungsprozeß für Schüler und Eltern unter Bereitstellung von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, die dabei sicherstellt, daß das Schulwesen nicht einzelnen gesellschaftlichen Gruppen oder individuellen Interessen ausgeliefert wird, sondern alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen und Richtungen Berücksichtigung finden und die Rechte der am schulischen Erziehungsprozeß Beteiligten, insbesondere das Recht des Kindes und Jugendlichen auf Findung seiner eigenen Identität, gewahrt werden. Organisationsrechtlich würde dies die Verpflichtung des Staates bedeuten, ein Erziehungs- und Bildungssystem bereitzustellen bzw. zu ermöglichen, daß diesen Anforderungen genügt und über die Sicherung der rechtlichen Stellung der daran Beteiligten die Aufsicht zu führen. Um jedoch eine solche Organisation des staatlichen Schulwesens nicht zu einem 'öffentlich-privaten pluralistischen Handlungsmodell' zur Durchsetzung partieller Interessen30 auf Kosten der Kinder werden zu lassen und "den Dualismus von individueller Freiheit und legitimierter und kontrollierter staatlicher Herrschaft" 31 miteinander in Einklang zu bringen, ist es notwendig, das Gebot der Schulvielfalt auf die Frage abzustellen, unter welchen Voraussetzungen sich nach dem - durchaus kontroversen - Kenntnis- und Wissensstand der jeweiligen Fachdisziplinen wie etwa der Entwicklungspsychologie und Pädagogik die Persönlichkeit des Kindes am besten entfaltet. Dies mit der Konsequenz, das schulische Vielfaltsgebot auf erziehungswissenschaftlich fundierte Unterrichtskonzeptionen zu begrenzen. So zeigt sich, daß sich die Ambivalenz des staatlichen Schulsystems allein durch eine schlichte Entstaatlichung' positiv nicht auflöst 32. Gleichwohl ist es an der Zeit, das Schulwesen vom umfassenden Zugriff des Staates zu befreien, um einem freiheitlichen Kulturverfassungsverständnis und den Grundrechten der Eltern und Kinder genüge zu tun. Solange der Staat in der staatlichen Schule an einer umfassenden Gestaltungsbefugnis festhält, besteht insoweit die Verpflichtung des Staates zu weitgehender materieller Förderung solcher Schulen in freier Trägerschaft, die im Vergleich zum staatlichen Schulsystem eine besondere pädagogische Prägung aufweisen, da nur so dem Verfassungsgebot der Gewährleistung von Schulvielfalt entsprochen werden kann.

3 0

Vgl. Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 303 f.

3 1

A.a.O., S. 305.

3 2

Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, S. 226.

Literaturverzeichnis

Adorno