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German Pages 258 Year 2017
Jochen Lange Schulische Materialität
Qualitative Soziologie
Herausgegeben von Jörg R. Bergmann Stefan Hirschauer Herbert Kalthoff
Band 23 21
Jochen Lange
Schulische Materialität
Empirische Studien zur Bildungswirtschaft
ISBN 978-3-11-051940-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052212-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051944-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Sergeyryzhov/iStock/Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Mein Dank gilt zuvorderst den Menschen im Feld, die mir die teilnehmende Beobachtung während ihrer Praxis gestatteten und so die Forschung, das vorliegende Buch sowie die damit verbundene Promotion ermöglichten. Betreut, beraten, begleitet und begutachtet wurde meine Arbeit dabei von Jutta Wiesemann und Herbert Kalthoff. Sie boten mir mit ihren Rückmeldungen Orientierung und ließen mir zugleich den Freiraum, eigene Wege zu gehen. Das von ihnen geleitete DFG-Projekt „Die gewerbliche Entwicklung und Erprobung didaktischer Objekte“ war mir als wissenschaftlicher Mitarbeiter zudem ein Arbeitskontext der vieles ermöglichte. Besonders bedanken möchte ich mich bei Klaus Amann, durch dessen kritische Anmerkungen, wichtige Fragen und wertvolle Hinweise die Arbeit viel gewann. Chantal Munsch und Matthias Trautmann danke ich dafür, bei dem Rigorosum und der Verteidigung der Dissertation als ebenso anspruchsvolle wie faire Diskutanten geprüft zu haben. Durch die Beteiligung an den zum Siegener Sonderforschungsbereich „Medien der Kooperation“ (SFB 1187) gehörenden Kolloquien, insbesondere der Werkstatt Praxistheorie, durfte ich ferner an wichtigen Diskussionen partizipieren und von diesen profitieren. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer ethnografischen Forschungswerkstatt und des bildungswissenschaftlichen Nachwuchsforums der Universität Siegen danke ich für den kollegialen Austausch in ergiebiger Runde – auf fachlicher wie persönlicher Ebene. De Gruyter gilt mein Dank für die professionelle Arbeit an der Veröffentlichung, insbesondere bei Annette Huppertz bedanke ich mich für das ausgezeichnete Lektorat. Nicht zuletzt sei Julia Stäsche für ihre schulische und Ursula Lange für ihre linguistische Perspektive auf meine Kapitel gedankt, wie auch allen Freunden und Familienmitgliedern, die meine eremitischen Phasen am Schreibtisch nicht als mangelndes Interesse an ihrer Person werteten, sondern mich stets unterstützen und ermutigten.
Siegen, im Mai 2017
Inhalt 1 1.1 1.2 1.3 1.4
Einleitung: Blackbox Bildungswirtschaft | 1 Dinge der Bildung: das Epistemische | 6 Bildung der Dinge: das Design | 19 Prototypisch: Experimentierkoffer | 37 Sachen, Sachverhalte, Sachunterricht | 41
2
Ethnografie: Vorgehen in Feld und Text | 59
3 3.1 3.2 3.3
Feldvorstellung: Kooperationen, Expertisen, Dinge | 67 Erster Feldkontakt: ein neues Projekt | 67 Akteurinnen und Akteure, Selbstbilder, Problemstellungen | 78 Neukonstellation und Projektneustart | 90
4 4.1 4.2 4.3
Unterrichtliche Produkte: das Format des Koffers | 97 Stringenz der Reihe | 97 Ökonomie der Didaktik | 100 Aufgaben des Materials | 115
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Probieren und Aushandeln: das Kofferpacken | 145 Kindorientierung als Begründungsfigur | 145 Phänomenale Effektstärke | 160 Eigenaktives Forschen | 170 Was kommt wobei raus? | 177 Eckpunkte des Stationmachens | 198
6 6.1 6.2 6.3
Schluss: Made in Industry | 207 Praktische Untrennbarkeiten | 207 Nützliche Zwänge | 209 Konstruierte Naturwelt | 218
Abbildungsverzeichnis | 237 Literaturverzeichnis | 238
1 Einleitung: Blackbox Bildungswirtschaft Materialien verschiedenster Art sind seit jeher Bestandteile schulischer Praxis. Ein Raum wird nicht zuletzt durch seine spezifische Einrichtung und Ausstattung zu einem Klassenraum. Auch ohne die Anwesenheit von Schüler(inne)n und Lehrer(inne)n erkennen Beobachter(innen) anhand der vorhandenen Dinge, dass es sich um einen Ort des Lernens handelt. Darauf verweisen z. B. die Anordnungen der Tische und Stühle, umherliegende Stifte, großflächige Tafeln, Overheadprojektoren, interaktive Whiteboards, experimentelle Versuchsaufbauten und spezielle Modelle, die von atomaren Molekülanordnungen bis zum Sonnensystem reichen können. Ohne derlei Materialien erscheinen bildungswirksame Lernprozesse und die Vermittlung von Wissen vielfach nicht möglich. So bilanzierte z. B. Heinrichs, dass Unterricht nicht ohne den massiven Einsatz von „Lehr- und Lernmitteln“ erfolgreich durchzuführen sei (vgl. Heinrichs 1968: 3). Es vermag daher zu überraschen, dass mit der materiellen Dimension des Unterrichts vielfältige Forschungsdesiderate einhergehen. Oelkers charakterisiert „Lehrmittel“ als publizistisches „Aschenputtel“, obwohl sie in der Praxis das „Rückgrat der Schule“ bilden (vgl. Oelkers 2010: 18). Wenn Matthes darauf verweist, dass „Lehrmittelforscher“ ihr „Exotendasein“ hinter sich lassen, indem sie sich in internationalen Gesellschaften wie der für „historische und systematische Schulbuchforschung“ organisieren (vgl. Matthes 2011: 1), wird zudem deutlich, dass „Lehrmittel“ vielfach mit Schulbüchern gleichgesetzt werden. Zahlreiche Arbeiten proklamieren ein Forschungsdesiderat zu „Lehrmitteln“ und beziehen dies letztlich auf Bücher (vgl. z. B. Wiater 2003; Höhne 2003; Matthes 2013). Die Pluralität der für schulische Lehr- und Lernprozesse vorhandenen Materialien reicht jedoch weit über Druckerzeugnisse hinaus. Didaktische Arbeiten wenden sich diesen Dingen1 der Schule zu, indem sie z. B. physikalische Experimentierkästen aus Sicht von Lehrer(inne)n evaluieren (vgl. Möller et al. 2008) oder die bildungswirksame Begegnung von Kindern mit einer „Leonardobrücke“ beforschen (vgl. Schomaker 2013: 142). Vielfältige Schulpädagogische und vereinzelte fachdidaktische Forschungen beziehen sich zudem auf soziologische Arbeiten zum Verhältnis von Mensch und Ding – z. B. auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Latour 1987; Callon/Latour 2006). Mit der so orientierten Unterrichtsforschung werden z. B. die Rollen der Dinge beim
|| 1 Mit dem Begriff „Ding“ soll hervorgehoben werden, dass es an dieser Stelle primär um Materialien geht, deren taktile bzw. manuelle Dimension vor ihrer medial-schriftsprachlichen Trägerschaft steht: Es geht um Dinge wie z. B. physikalische Instrumente, Magnetsteine oder Fahrzeugmodelle und weniger um Bücher, Hefte oder Arbeitsblätter. Wenngleich es keine einheitliche Begriffsarchitektur zur Materialität von Bildung gibt, ist der Begriff des Dings im Diskurs doch prominent. Abgrenzende Systematisierungen der verbundenen Begriffe (Ding, Objekt, Artefakt, Material u. a.) werden im Laufe dieses Kapitels diskutiert.
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Rechnen im Mathematikunterricht empirisch fokussiert (vgl. Fetzer 2015), Lernprozesse mit virtueller 3-D-Lernumgebung im Kontrast zum Lernen mit der traditionellen Wandtafel analysiert (vgl. Sørensen 2009) und Unterricht grundlegend als Netzwerkgeschehen der Analyse zugänglich gemacht (vgl. Fenwick/Edwards 2010), in dem die Dinge mitwirken (vgl. Asbrand et al. 2013). Die Partizipation der Dinge am schulischen Unterricht und die mit ihnen verbundenen Praktiken der schulischen Vermittlung bzw. Darstellung von Wissen, werden zudem von einigen soziologischen Forschungen analysiert (vgl. Kalthoff/Röhl 2011; Röhl 2013). Alle diese Arbeiten zeigen: Die Praxis des Lernens ist letztlich in nur unzureichender Weise allein als individuellkognitiver Vorgang zu kennzeichnen und die Praxis des Lehrens ist nicht nur als eine dozierende oder moderierende Sprachhandlung zu verstehen. Lernen und Lehren sind in zentraler Weise auch beobachtbare Akte des interagierenden Handhabens verschiedener Dinge, die am Unterricht in unverzichtbarer Weise partizipieren.2 Der schulische Klassenraum – so erscheint es augenfällig – ist dabei der Ort, an dem Unterricht situativ entsteht. Die Relativierung dieses vermeintlichen Allgemeinplatzes stellt für meine vorliegende Arbeit den Ausgangspunkt dar: Es greift zu kurz, einzig die Schulen als Lokalitäten der Hervorbringung von Unterricht zu fokussieren. In den Unterricht werden fertige Materialien der Industrie importiert, die entscheidende Rollen im Prozess des Gelingens von Lernen und Lehren übernehmen (sollen). Röhl stellt heraus, dass sich die schulischen Dinge vielfach durch ihre spezifisch-didaktische Gestaltung auszeichnen, die wiederum Relevanz für unterrichtliche Darstellungspraktiken birgt. „Eine ganze ‚Lehrmittelindustrie‘ (so die Eigenbezeichnung des Feldes) stellt verschiedene Gegenstände her, mit denen im Unterricht auf anschauliche Art und Weise schulisches Wissen vermittelt werden soll.“ (Röhl 2015: 174) Bei dieser Industrie handelt es sich keinesfalls um eine optionale Randerscheinung, denn erst dadurch, dass das Erfinden von „Lehrmitteln“ nicht mehr von allen Lehrer(inne)n selbst vollzogen werden muss, kann Schule überhaupt (bezahlbar) stattfinden (vgl. Oelkers 2010: 19). „Die Zahl der Medien [bzw. Materialien, J. L.], die für den Unterricht – mit mehr oder weniger großem Marketingaufwand – von der Lehrmittel- bzw. || 2 Anmerkung zum Lernbegriff: Lernen wird als traditionsreicher Forschungs- und Publikationsgegenstand der Psychologie von dieser als „nicht beobachtbarer Prozess“ (Mietzel 2005: 211) charakterisiert. Von den grundlegenden Arbeiten Pawlows, über den Behaviorismus Thorndikes, Watsons und Skinners bis zur „Kognitiven Wende“ durch Bandura, Rescorla und Tolman wird Lernen in der Blackbox des Individuums verortet. Die klassisch-psychologische Lerndefinition betont dabei drei Aspekte: „Von Lernen sollte nur gesprochen werden, wenn Verhaltensveränderungen als Ergebnis von Erfahrungen vergleichsweise dauerhaft erfolgt sind.“ (Mietzel 2005: 212; H. i. O.) Neuere Arbeiten der Erziehungswissenschaft fokussieren hingegen auf den situativen Prozess des Lernens, indem sie Lernen als beobachtbar-kulturelle Praxis verstehen, als operative Auseinandersetzung und interagierende Handlung in konkreten Situationen verorten (vgl. Wiesemann 2000). Es geht zunehmend um eine „Pädagogische Theorie des Lernens“ (Göhlich et al. 2007) sowie die Facetten und Wissensbezüge von Lernen. Lernen wird so als sozialer Prozess der Auseinandersetzung verstanden, in dem Kinder als aktive Sinnsuchende gesehen werden (vgl. Scholz 2002).
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Medienindustrie angeboten werden, ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen.“ (Mitzlaff 1997: 273)3 Durch die Orientierung an Kundenbedürfnissen werden die Materialien nicht erst in der Schule zum Unterrichtsgegenstand gemacht. Durch das „Outsourcen“ der Materialentwicklung in die Industrie findet sich jenseits der Schule ein Feld, in dem didaktische, schulpraktische, fachwissenschaftliche aber auch ökonomische Planungen ineinanderfließen. Unterricht wird auch außerhalb der Schule figuriert.4 Die Arbeit folgt der Überlegung, dass die sozialwissenschaftliche Unterrichts- und Lernforschung die Schule verlassen muss, um das Herstellen von Materialien zu beobachten, die ihrerseits den Unterricht induzieren (vgl. Kalthoff 2014b: 876). In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass die Sozialwissenschaften bislang wenig über diese Zulieferindustrie der Schule wissen. Ihre Arbeitsweisen, Selektionsverfahren und auch ihr Marketing sind weitgehend unerforscht. Nur wenige Arbeiten setzen eben hier empirisch an, z. B. erforscht Macgilchrist die Arbeitspraxis innerhalb von Bildungsmedienverlagen in ihren diskursiven Verflechtungen. Mit den Praktiken der Aushandlungen beim Entwerfen von Schulbüchern wird z. B. analysierbar, „was als autoritatives und legitimes (schulisches) Wissen gilt.“ (Macgilchrist 2011: 260f.) Sind mit Unterrichtsmaterialien nicht primär Druckerzeugnisse gemeint, verschärft sich das attestierte Desiderat zu den Arbeitsweisen und den situativen Verhandlungen, mit denen diese Materialien in der Industrie entstehen. Bei eben dieser Forschungslücke zu den Dingen der Bildung setze ich an: Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach dem Wie der Entwicklungspraktiken, mit denen schulisch-periphere Akteurinnen und Akteure der Bildungswirtschaft kommerzielle Unterrichtsmaterialien entwickeln. In den Blick geraten so z. B. Intentionen der Präfiguration und Konfiguration, Orientierungen, Maximen oder Bildungsverständnisse. Welches Bild von fachlichen Bezugswissenschaften wird in welcher Weise materialisiert? Wie wird es für den späteren Unterricht zur Kommunikation vorbereitet? Welche Rollen werden den Materialien hierfür zugedacht und wie sollen sie in der sozialen Praxis des Unterrichts ihren Sinn erhalten? Wie werden dabei Schüler(innen) und Lehrer(innen) bedacht? Zu empirischen Fragen wie diesen stehen die Antworten noch weitgehend aus. Dass diese Vorgeschichte der Materialien selten interessiert ist überraschend. Soziologische Arbeiten zur Entwicklung und Herstellung ökonomischer Güter bzw. technischer Artefakte verfolgen bereits seit längerer Zeit ein ähnlich gelagertes Erkenntnisinteresse. Die „sozialen Implikationen technischer Geräte“ (Linde 1982) geraten dabei ebenso in den Blick wie die Verbindung von
|| 3 Der „Didacta Verband e. V. Verband der Bildungswirtschaft“, der als Vertretungsorganisation eben dieser Industrieunternehmen und als Veranstalter von Europas größter „Bildungsmesse“ fungiert, verweist heute auf über 250 Mitglieder. Für eine alphabetische Aufstellung der heterogenen Mitgliederschaft siehe: http://www.didacta.de/Mitglieder-Produktsuche.php [Zugriff: 06.11.2016] 4 Neben der Bildungswirtschaft sind weitere Institutionen bzw. Organisationen am Stattfindenlassen von Schule und Unterricht beteiligt (staatliche Administrationen konzipieren verbindliche Lehrpläne, Universitäten bilden Lehrer(innen) mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus usw.).
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Designer(in) und Nutzer(in) über das Produkt (vgl. Yaneva 2009). Es wird z. B. ersichtlich, wie die Akteurinnen und Akteure der Produktentwicklung zukünftige Nutzungsszenarien antizipieren und kommunizieren (vgl. Lente/Rip 1998) bzw. wie sie versuchen, ihre Intentionen und Visionen in Objekte und deren Gestaltung einzuschreiben (vgl. Akrich 1992: 208). Eben diese Forschungsperspektiven, die die Genese von (technischen) Produkten für bestimmte Anwendungsgebiete der Gesellschaft betrachten, sind für die Bildungswissenschaften bisher noch wenig nutzbar gemacht worden. Die damit möglichen Erkenntnisse zur Konzeption, Bedeutungsanlage und didaktischen Aufladung der Materialien können rückbezogen gewinnbringend für Analysen der schulischen Verwendung dieser Materialien sein. In einem ersten Schritt (siehe Kapitel 1.1) wendet sich die Arbeit der epistemischen Dimension der Dinge zu. Es wird aufgezeigt, dass die Bedeutung von Dingen tradiert in bildungstheoretische Arbeiten einbezogen ist. Das Kapitel betrachtet dabei Aspekte der materiellen Gestalt und Gestaltung, mit denen die Konstitution der Dinge in Bildungsprozessen zwischen „natürlich gegeben“ und „intentional konstruiert“ verhandelt wird. Dabei wird herausgestellt, dass die Rolle der Dinge in Bildungsprozessen nicht schlicht durch ein Zeigen der seienden Natur zu bestimmen ist. Das Bildungspotenzial der Dinge leitet sich nicht aus einer uns gegenüberstehenden und unveränderbaren Natürlichkeit ab, vielmehr speist es sich aus dem Wandel der Dinge, aus ihrer Gemachtheit und Veränderbarkeit: Die Form und (Um-)Formung bzw. Transformation der Materialien wird für ihre Rolle in Lern- und Bildungsprozessen als äußerst relevant gekennzeichnet. Trotz dieser – nicht neuen – Positionen, ist die Gemachtheit und das Design (siehe Kapitel 1.2) von schulischer Materialität ein marginalisiertes Thema. Arbeiten zu didaktischem Design formulieren zumeist lernpsychologisch begründete Best-Practice-Hinweise zur Gestaltung von Schulbuchtexen und Aufgabenstellungen. In Abgrenzung zu diesen Arbeiten begründe ich die Notwendigkeit einer normativ enthaltsamen Analyse von Design- bzw. Entwicklungspraxis. Die Bildungswirtschaft als Zulieferer von Schule wird vor diesem Hintergrund charakterisiert und mit ihren Erkenntnispotenzialen für empirische Forschungen vorgestellt. Entgegen lernpsychologisch orientierter Arbeiten zu didaktischem Design, suche ich Anschlüsse an die soziologische Design- und Technikgeneseforschung. Sozialkonstruktivistische Ergebnisse zu Entwicklungsprozessen und Technik werden dabei in Beziehung zu erziehungswissenschaftlichen sowie fachdidaktischen Betrachtungen von „Lehrmitteln“ gesetzt. Anhand der so vorgeschlagenen bildungswissenschaftlichen Designforschung stellt sich die Frage, welche konkreten Materialien aus der breiten Produktpalette der Bildungswirtschaft in ihrer Entwicklung forschend begleitet werden sollen. Kapitel 1.3 formuliert hierauf eine Antwort, indem es schulische Experimentierkoffer als prototypisches Unterrichtsmaterial beschreibt und an ihnen eine Begriffsarchitektur entfaltet, um die Vielfalt schulischer Materialität zu fassen. Die gewählten Experimentierkoffer werden für das naturwissenschaftliche Lernen in der Grundschule entwickelt, mit ihnen gerät das Schulfach Sachunterricht in den Blick, dessen Zielsetzungen zwischen Allgemeinbildung,
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(Natur-)Wissenschaftsorientierung und kindorientierter Lebenswelterschließung verhandelt werden (siehe Kapitel 1.4). Insbesondere wird das Bestreben diskutiert, über schulische Experimente eine Heranführung an naturwissenschaftliche Arbeitsweisen didaktisch zu initiieren und so zu einer „scientific literacy“ zu führen, mit der an eine „Natur der Naturwissenschaften“ (Shamos 2002: 68) geglaubt wird. Die soziomaterielle Herstellung derartiger Disziplin- und Bildungsverständnisse steht im kulturanalytischen Fokus meiner Arbeit. Das formulierte Anliegen, das Wie der Praxis der Produktentwicklung innerhalb der Bildungswirtschaft zu beforschen, legt methodologisch einen ethnografischen Zugang nahe. Dieser wird mit Bezug zu meinem Forschungsfeld und Vorgehen in Kapitel 2 dargestellt. Mit den Kapiteln 3 bis 6 wird die Forschungsfrage empirisch bearbeitet und theoretisierend rückgebunden. Durch teilnehmende Beobachtungen bei einem großen Hersteller von Unterrichtsmaterialien im deutschsprachigen Raum werden Praktiken verschiedener Akteurinnen und Akteure im exemplarischen Entwicklungsalltag der Analyse zugänglich gemacht. Kapitel 3 beschreibt und reflektiert den ersten Feldkontakt und wendet sich im Anschluss der grundlegenden Zusammenarbeit der Akteurinnen und Akteure, ihren Problemstellungen und Personalwechseln im Laufe des Entwicklungsprozess zu. In Kapitel 4 nehme ich die didaktischen Materialien als unterrichtliche Produkte in den analytischen Blick, die bestimmten Determinationen und Formatierungen unterliegen sollen, ökonomisch gerahmt sind und dezidierte Aufgaben im Unterricht zu übernehmen haben. Mit Kapitel 5 erfolgt abschließend die Fokussierung der konkreten Entwicklungspraktiken zu einzelnen Experimenten, mit denen die Akteurinnen und Akteure den Kofferinhalt letztlich füllen und selektieren. Es geht um die verfertigende Verhandlung von einzelnen Lernstationen für den späteren Unterricht, um das Machen naturwissenschaftlicher Experimente für die Schule. Dabei wird ein Blick auf das in das Material eingehende Bildungsverständnis möglich, das situativ materialisiert wird. Die in die Kapitel 3 bis 5 eingeflochtenen Diskursbezüge und Abstraktionen werden in Kapitel 6 mit einer Systematisierung anhand theoretischer Perspektiven weiter aufgegriffen und ausgebaut. Dabei schließt die Arbeit den Bogen von der Bildungswirtschaft zurück in die Schule, indem die empirischen Ergebnisse auf Theorien des Unterrichts und didaktische Diskurse rückbezogen werden.
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1.1 Dinge der Bildung: das Epistemische5 Dinge sind bedeutsam für den Wissenserwerb, für Lern- und Bildungsprozesse. Comenius begründet diese Bedeutung mit der Relevanz der sinnlichen Wahrnehmung, bei der die Erkenntnis beginnen muss. Daher sollen sich Schulen anschaulicher Hilfsmittel bedienen, mit denen das angestrebte Wissen geordnet dargestellt und behandelt wird (vgl. Comenius 1966: 97f.). Dabei soll nicht der mittelbare „Schatten der Dinge“, sondern die auf die Sinne Eindruck machenden Dinge selbst nähergebracht werden, um aus dieser Anschauung Wissen zu entwickeln (vgl. Comenius 1966: 135ff.). Es gilt, die Dinge zu zeigen, so wie sie „an sich sind“ und sie kennenzulernen bevor man sie beurteilen oder „mit schönen Worten schildern soll“ (vgl. Comenius 1966: 201). Mit diesem Anspruch des Zeigens geht es Comenius – in seinem Hauptwerk – um die sichtbare Welt („Orbis sensualium pictus“) bzw. die anschauliche Abbildung der Dingwelt in Lehrbuchform: Die äußere Welt, die über gestalterische Prozesse ihre zeichnerische Fixierung findet, wird in die Schule gebracht und an Schüler(innen) herangetragen. In dem Werk finden sich beispielsweise Bilder von Werkzeugen und Materialien aus Prozessen der Erwerbsarbeit, Bilder von Transportmitteln, von der räumlichen Beschaffenheit und Einrichtung die den Menschen umgibt, von der Flora und Fauna sowie dem Einfluss von Naturgewalten auf die materielle Welt. Es beginnt die Relevanz deutlich zu werden, die der physischen Umwelt, den zugehörigen Dingen, ihrer Natur und Natürlichkeit zugeschrieben wird. Der Mensch entwickelt sich nur nach Maßgabe der physischen Dinge, die ihn umgeben. Umstände und Ereignisse, die auf den ersten Anblick seinem Inneren völlig heterogen sind, Klima, Boden, Lebensunterhalt, äußere Einrichtungen u.s.f. bringen in ihm neue, und oft die feinsten und höchsten moralischen Erscheinungen hervor. Durch ein physisches Mittel [...] wird die ein-
|| 5 Mit dem Epistemischen der Dinge ist hier die Verwicklung von Menschen und Dingen in Lern- und Bildungsprozesse betitelt. Spezifischer wurde der Begriff der „epistemischen Dinge“ durch Rheinberger und seine epistemologisch-geschichtlichen Betrachtungen des naturwissenschaftlichen Experiments bzw. des „Experimentalsystems“ prominent. Experimentalsysteme fasst er „als kleinste funktionale Einheiten der Forschung“ (Rheinberger 2001: 8) und hebt die Bedeutung ihrer materiellen Dimensionen hervor. Sie werden als Konstellationen aus zwei verzahnten Entitäten verstanden: technische und epistemische Dinge. Unter technischen Dingen sind Instrumente, Apparaturen, Mittel und Medien zu verstehen (z. B. Reagenzgläser, Petrischalen, Bunsenbrenner). Diese konstituierenden Dinge sind spezifiziert, bestimmt und definiert. Mit ihnen werden die epistemischen Dinge ermöglicht, gebunden, zugerichtet oder modifiziert. Letztere Dinge verkörpern das, was man noch nicht genau weiß, sie sind noch unbenannt und durch eine Vagheit bzw. Unschärfe geprägt (vgl. Rheinberger 2001: 24ff.). Es sind die eigentlichen Gegenstände der Forschung, denen als Zeichen und Objekte auf die Spur gekommen wird (z. B. ein Genom oder Materiebestandteile). Experimentalsysteme generieren Wissen bzw. die materiellen Bedeutungsträger des Wissens, indem sie der Verhandlung epistemischer Dinge dienen, die zugleich in ihnen wurzeln. Die Entstehung von Wissen sieht Rheinberger letztlich als aus einer Relation zwischen Dingen selbst erwachsend.
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mal erworbene moralische Natur übertragen und fortgepflanzt, und dadurch nehmen die intellektuellen und moralischen Fortschritte, die sonst vielleicht vorübergehend und wechselnd sein würden, gewissermaßen an der Stetigkeit und der Dauer der Natur Anteil. (Humboldt 1985: 39f.)
Die bildungstheoretische Orientierung an der natürlichen Welt und ihren Dingen findet sich als Ideal bei Comenius, Humboldt und insbesondere bei Rousseau. „Haltet das Kind von den Dingen abhängig und ihr werdet es naturgemäß erziehen. Setzt seinen unvernünftigen Wünschen nur natürliche Widerstände oder Strafen entgegen, die aus seinem Handeln selbst hervorgehen.“ (Rousseau 1989: 63) Am Beispiel eines durch das Kind zerbrochenen Fensters – das trotz nächtlicher Kälte nicht repariert wird und das Kind so frieren lässt – macht Rousseau deutlich, was die Konturen dieser „natürlichen Bestrafung“ sind. Dreierlei „Lehrer“ werden so unterschieden: „Die Natur oder die Menschen oder die Dinge erziehen uns. Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung.“ (Rousseau 1989: 10) Natur und Dinge werden als an sich seiende „Lehrer“ verstanden, auf deren Eigensinn der menschliche Erzieher keinen Einfluss hat: Sie sind wie sie sind. Dennoch soll und kann der Erzieher – in den Erziehungsbeispielen Rousseaus – ihren Eigensinn für seine bildsamen Ziele nutzen. Natur und Dinge sind dabei jedoch belletristische Figuren, die mit kunstvoller Sprache ihre passenden Rollen in der fiktiven Interaktion mit dem Zögling zugeschrieben bekommen. Für die Unterweisung Emils haben sie einen konstruierten und instrumentellen Charakter.6 Dieses Spannungsverhältnis zwischen der vermeintlich gegebenen Natürlichkeit und der verfertigenden Konstruktion der Dinge für Bildungsprozesse, verkörpert sich beispielhaft mit dem „Orbis sensualium pictus“ des Comenius. Seine Abbildungen zeigen die Welt und entwerfen sie zugleich, sie sind – notwendigerweise – holzschnittartig, selektiv, haben einen Vorder- und einen Hintergrund. Es handelt sich um ein intentional entwickeltes Medium. Rousseau und Comenius können als frühe Fabrikanten von Lehrmaterial verstanden werden: Sie lieferten für Bildungseinrichtungen Anschauungsmaterial und Praxisbeispiele. Diese beziehen sich auf eine ideelle Natürlichkeit bzw. auf die Dinge wie sie vermeintlich „an sich sind“, konstruieren und arrangieren diese aber zugleich durch die Hervorbringung zeichnerischer bzw. narrativer Illustrationen. Die dabei auftauchenden Dinge sind entwickelt und nicht vorgefunden, sie sind didaktisch-intentional inszeniert. Dass sich Bildungsbemühungen dabei nach Naturgegebenheiten ausrichten, erscheint simplifizierend. Verlieren die Dinge demnach ihre Natürlichkeit durch ihre Übertragung auf die Seite eines Buchs? Halten sie in der „echten Welt“ und „primären Erfahrung“ ihre natürliche Unterweisung für uns bereit?
|| 6 Meyer-Drawe fasst Rousseaus Blick auf Dinge als „schwachen Funktionalismus“ zusammen. Die Dinge hätten die Funktion dem Zögling Grenzen aufzuweisen und würden den moralischen Willen des Erziehers camouflieren (vgl. Meyer-Drawe 1999: 331).
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Materialien der Montessoripädagogik sind ein prominentes Beispiel für die Einbeziehung haptischer Dinge in Bildungsprozesse. Kinder sollen Hand anlegen an das Montessorimaterial, das wiederum Aufgaben wie die „Erziehung der Sinne“ oder die „Vorbereitung für Lesen und Rechnen“ übernehmen soll (vgl. Montessori 1922: 15ff.). Die Dinge sollen dabei ganz bestimmte, als naturgegebene verstandene Einsichten und Erkenntnisse kredenzen. Um dies zu vollbringen, werden die Dinge speziell für ihren jeweiligen Zweck entworfen. Es wird demnach nicht der Anspruch verfolgt, dass sie selbst eine Maske der Natürlichkeit tragen sollen: Die Dinge sollen nicht möglichst naturbelassen oder alltäglich wirken, vielmehr sind sie in ihrer artifiziellen Gestaltung unmittelbar als genuin didaktisch „gemacht“ zu erkennen. Sie werden explizit als Instrumente konzipiert, in denen einzelne Eigenschaften bzw. Aspekte isoliert werden sollen, damit sich Kinder auf eben diese und nichts anderes fokussieren (vgl. Montessori 2014: 15f.). „Besonders in der Diskussion um das Montessori-System ist vielfach die Frage erörtert worden, ob Maria Montessoris didaktisches Material nicht oft Anlaß gibt, das Kind da zu zwingen, wo Lenkung genügen würde.“ (Langeveld 1955: 78) Am Beispiel von hölzernen Zylindern mit unterschiedlichen Durchmessern und zugehörigen Körpern mit passenden bzw. unpassenden Einsatzlöchern stellt Langeveld heraus, dass eine andere als die intendierte Auseinandersetzung des Kindes mit dem Material von Montessoripädagog(inn)en problematisiert und sanktioniert wird. Der Umgang wird „monologisch aufgefaßt und die Gegenstände sind von einer angeblichen Eindeutigkeit, dergegenüber es einfach einen Fehlgriff bedeutet, um die Ecke in den Garten der freien Möglichkeiten zu schauen.“ (Langeveld 1955: 79) Mit kritischem Bezug zur naturwissenschaftlichen Kontinuitätslehre von Leibniz stellt Langeveld der Montessoripädagogik und den zugehörigen Materialien folgendes Attest aus: Der sich entwickelnde Geist des Kindes soll garnichts anderes an den Lehrgegenständen der Didaktik entdecken können als die Eigenschaften, welche unter derselben Gesetzmäßigkeit wie jene Entwicklung stehen. Und der Geist des Kindes selbst ist nur als vorläufig zu bewerten, als Durchgangsstadium, durch das hindurch sich der Geist entwickeln muß zur alleinigen Wahrheit der Natur der Naturwissenschaftler. In einem solchen Weltbilde bringt tatsächlich die Freiheit der Entdeckung nur die Gefahr eines Zeitverlustes, und so kommen wir dann mit Montessori in d i e s e r Hinsicht ziemlich nah an die rein autoritäre Erziehung heran. (Langeveld 1955: 80)
Trotz des Versuchs einer dezidiert-belehrenden Gestaltung, mit der das natürlich Seiende anschaulich gezeigt bzw. herausgestellt werden soll, scheint diese Gestaltung kein Garant für das natürliche Hervortreten der intendierten Belehrung über die Natur zu sein. Das Vorhaben einer absolutistischen Isolierung von Eigenschaften in den Dingen wirkt wenig erfolgversprechend. Denn die Dinge selbst sind nicht immunisiert gegenüber Umgangsweisen, die materialisierten Intentionen zuwiderlaufen. Im behandelten Beispiel wachen die Montessoripädagog(inn)en über den „richtigen“ Umgang mit den gestalteten Dingen (vgl. Langeveld 1955: 78f.). Die Pädagog(inn)en stehen der konzipierten Natürlichkeit zur Seite. Ist dies eventuell nicht trotz, sondern
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gerade wegen der dezidierten Gestaltung des Montessori-Materials notwendig? Ist also die haptische Aufbereitung von Dingen durch Pädagog(inn)en ursächlich mit dem Verlust bzw. der Reduktion ihrer Natürlichkeit verknüpft? Gilt mit den pathetischen Worten Rousseaus, dass alles gut ist, so wie es aus der Hand des Schöpfers der Dinge hervorgeht, während hingegen alles unter Menschenhand verdirbt (vgl. Rousseau 1989: 9)? Martin Wagenschein formuliert den Anspruch einer entdeckenden Annäherung an die Natur – unter Hinzuziehung von Dingen, die er als möglichst naturbelassen versteht.7 Das Besondere diesmal [bei der schulischen Behandlung des Themas Magnetismus] war, dass es mir endlich geglückt war, einen authentischen Magnetstein aus einer seriösen Mineralienhandlung zu besorgen. […] Da ich Physik für eine Naturwissenschaft halte, war es mir immer ein selbstverständlicher Wunsch gewesen, bei der Einführung des Magnetismus einen natürlichen Zeugen auftreten zu lassen. Ich hatte ihn nun. Das kostbare Original in der Hand, eilte ich auf den Physiksaal zu, in dem die Klasse wartete. Vor der Tür stand die Studienreferendarin, die bei mir zu hospitieren hatte. Sie wusste schon: „Magnetismus“. „Sehen Sie mal“, sagte ich zu ihr, „was ich da habe!“ Sie begriff, aber sie blickte geringschätzig. Ich (etwas gereizt): „Na! Das ist doch was anderes als diese albernen Artefakte, diese eisernen Stabmagnete, rechteckig und mit Rot und Blau markierten Enden!“ – „Wieso?“, erwiderte sie. „Ich sehe da keinen Unterschied! In beiden sind die Elementarmagnete geordnet!“, und dann: „Sie sind aber ein komischer Physiker!“ Ich würde es so sagen: Sie war noch Physikerin. Ich war schon Physiklehrer. (Wagenschein 2009: 43; H. i. O.)
Mit dem Beispiel im Kontext des exemplarisch-genetisch-sokratischen Unterrichtsansatzes verdeutlicht Wagenschein eine Unterscheidung zwischen vorgefundener Natur und Menschenwerk: In Anlehnung an die naturalistische Position von Aristoteles wird Natur als das verstanden, was nicht vom Menschen geschaffen ist. Der Magnetstein wird als weitgehend unbearbeitetes Ding angesehen, das sich – in Wagenscheins Augen – gravierend vom Artefakt des rechtwinkligen und markierten Stabmagneten unterscheidet. Letzterer sei weit entfernt vom „natürlichen Zeugen“
|| 7 Die von Rousseau hervorgehobene, durch Dinge ermöglichte Anschauung und Erfahrung ist auch für Wagenscheins Ansatz von großer Relevanz. Wagenschein nutzt und konzipiert den Begriff der „Formatio“ (lat. „Gestaltung“) anstelle von Bildung. Er betont hierbei die Relevanz einer (1) produktiven Findigkeit, (2) der Einwurzelung des Verstehens und (3) eines kritischen Vermögens. Unter „produktiver Findigkeit“ wird selbstständiges Denken und Handeln gefasst, das durch einen rein darlegenden Unterricht schnell beschädigt wird. „Einwurzeln“ soll das Lernen in die Primarerfahrungen des Kindes: Fachliches Wissen und lebensweltliche Erfahrungen sollen nicht auseinanderdriften. Es gilt das Erlernte mit dem Erlebten zu verbinden, um so zu wirklichem Verständnis alltäglicher (oft physikalischer) Phänomene zu gelangen. Das „kritische Vermögen“ wird als Kontrollinstanz der „produktiven Findigkeit“ verstanden: Ideen und Vorstellungen sollen kritisch überprüft werden. Das Ziel ist letztlich die aktive Umstrukturierung vorhandener Vorstellungen (vgl. Wagenschein 1997: 75ff.).
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(Magnetstein). Die Differenz gründet sich dabei im Grad der jeweiligen Verfertigung: Mit zunehmender Be- und Verarbeitung verlieren die Dinge ihre Natürlichkeit und entfernen sich von dem, was Naturwissenschaften eigentlich zum Gegenstand haben sollten, so Wagenschein. Eben diese Sicht wird von der Referendarin nicht geteilt, sie sagt: „Ich sehe da keinen Unterschied!“ Dabei beruft auch sie sich auf eine (ihre) genuin naturwissenschaftliche Sicht der Dinge: Parallel gerichtete Elementarmagnete werden als gemeinsame Eigenschaft und gleiches Identifikationsmerkmal ausgemacht, das Kongruenz stiftet und in beiden Fällen naturgegeben ist. Für die Referendarin wird somit kein nennenswerter Unterschied sichtbar, der eine Bedeutung für den Unterricht hat oder zur Klassifikation beitragen könnte. Schon dies verdeutlicht: Die intersubjektive Unterscheidung zwischen Ding und Artefakt, Gegebenem und Geschaffenem vermag schneller an Grenzen zu stoßen als es zunächst scheint. Mit der Unterscheidung zwischen Natur und Menschenwerk teilt Wagenschein zugleich in vorgefundene Natur und erklärende Naturwissenschaft. Er kritisiert in diesem Zusammenhang z. B. die modellhafte Verfassung physikalischen Wissens für den Unterricht, die eine Kluft zu lebensweltlichen Erfahrungen reißt und über allzu perfekt für Belehrungen gefertigte „verfremdende Apparaturen“ den Blick der Schüler(innen) abrupt verstellen kann. Unter Apparaturen fasst Wagenschein dabei komplexe Versuchsanordnungen und Arrangements, mit denen Naturgesetze für den Unterricht „eingefangen“ werden sollen (z. B. der fresnelsche Spiegelversuch). Bei diesem Vorhaben des Einfangens von Naturgesetzen würden die Apparaturen den Schüler(innen) jedoch oft „unnatürlich“ erscheinen. Dies sei für eine Einführung in naturwissenschaftliches Denken und Handeln hinderlich (vgl. Wagenschein 1997: 67ff.). „Manchmal kann er [der Schüler] den Eindruck nicht loswerden, das Arrangement erzeuge etwas, statt zu zeigen, was er doch auch ohnedies als in der Natur vorhanden verstehen möchte. Die Apparatur wirkt dann „gesucht“, (vom Lehrer, nicht vom Schüler).“ (Wagenschein 1997: 67) Wagenschein plädiert für eine natur- und lebensweltnahe Entdeckung statt für eine scheinbar perfekt-überzeugende Darbietung. Die Antworten sollen nicht von schulischen oder wissenschaftlichen Spezialapparaturen gegeben werden, sie sollen von den Kindern in der Natur – z. B. im Garten – gefunden werden. Den höchsten Bildungseffekt sieht er im produktiven Mitvollziehen des Weges, „der vom Natürlichen zum Apparativen führt.“ (Wagenschein 1997: 68) So könnten die später notwendigen Apparaturen den Schüler(inne)n zu eigen gemacht werden. Von der lebensweltlichen Naturerfahrung ausgehend sollen Schüler(innen) in einem kontinuierlichen Fluss hin zu wissenschaftlich angemessenen und exemplarisch-verstandenen Erklärungen der Natur, ihren Dingen und Phänomenen gelangen (vgl. Wagenschein 1997: 75ff.). Dies führt zu Wagenscheins Postulat, dass es gelte, mit dem Kind von der Sache auszugehen, die für das Kind die Sache ist (vgl. Wagenschein 2009: 47). „Denn Kinder denken, sich selbst überlassen, immer von der Sache aus, ihrer Sache, der Sache die sie antreibt. Und nicht von jener anderen, sekundären Sache, die Generationen von Fachleuten daraus gemacht haben.“ (Wagenschein 2009: 47) „Sache“ kann hier – wie noch differenziert herausgestellt
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werden wird – mehr sein als ein materielles Ding, sie kommt aber vielfach nicht ohne materielle Dinge aus, wenn es gilt sie in der Schule zu behandeln. Im Zuge einer wagenscheinschen Auseinandersetzung mit der Sache kann es beispielsweise um die Frage gehen „Wie springt ein Ball?“ (vgl. Thiel 1987). Für diese beispielhafte schulische Fragestellung setzt Wagenschein auf Entdeckung durch Beobachtung des Phänomens. Damit sollen Lehrer(innen) hinter Kind und Sache zurücktreten. Es wird das Vertrauen in die „schöpferischen Fähigkeiten“ der Kinder deutlich, die sich selbstständig „auf dem Weg zur Physik“ befänden (vgl. Wagenschein et al. 1973). Die Forderung des Zurücktretens verdeutlicht aber zugleich die Präsenz der Sachen und ihrer materiellen Dinge, die es zu untersuchen gilt. Zudem wird deutlich, dass auch der exemplarisch-genetisch-sokratische Ansatz nicht ohne gestaltete bzw. „unnatürliche“ Dinge auskommt: Ein aus der Industrie stammender „Flummiball“ aus Gummi springt, wenn ihn die Kinder fallen lassen – eine Murmel aus Ton tut es nicht. Indem diese unterschiedlichen Bälle auf einer von der Klasse mit Ruß geschwärzten Glasplatte ihre Abdrücke hinterlassen, soll Materialverformung und Elastizität im Wortsinn als Spur zur Erklärung sichtbar gemacht werden (vgl. Thiel 1987). Auf diese Weise und in dieser Auseinandersetzung verhalten sich die Dinge zu den Schüler(inne)n und den Untersuchungen. Dinge werden so als aktiv Beteiligte an Bildungs- und Erkenntnisprozessen konzipiert. Die Stärke von Wagenscheins Ausführungen liegen in der kritischen Reflexion des konstruierten Charakters spezieller Apparaturen und den mit ihnen verbundenen Darlegungen der Naturwissenschaften. Die naturalistische Gegenüberstellung von Natur und Menschenwerk, in der seine Reflexionen gründen, erscheint jedoch zweifelhaft. Die Prämisse, dass natürliche Dinge und sich natürlich auf dem „Weg der Physik“ befindliche Kinder über natürliche Phänomene schließlich (und erneut natürlich) zu den Arbeitsweisen und Ergebnissen der Naturwissenschaften gelangen, darf als fragwürdig bezeichnet werden (vgl. z. B. Muckenfuß 2001: 76). Die Schulklasse soll über den aktiven Umgang mit den Dingen letztlich zu eben der naturwissenschaftlichen Erklärung kommen, die Lehrer(innen) als Lernziel vorgesehen haben. Ähnlich wie beim Beispiel der Montessoripädagog(inn)en und -materialien gilt: Dass Kinder im Unterricht den Weg der Naturwissenschaften beschreiten, erscheint in der Praxis vor allem dann wahrscheinlich, wenn Lehrer(innen) wachehaltend hinter Kind und Sache stehen. Lehrer(innen) dabei also den Umgang der Kinder mit den Dingen redigieren und subtil lenken. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil die Erfahrungen, die Dinge – seien sie dezidiert Gestaltet oder vermeintlich „natürlich“ – ermöglichen, nicht eindeutig sind, sie aber auch nicht als beliebig gelten können. Phänomenologisch orientierte Arbeiten zum Beitrag der Dinge für das Lernen betonen diese Vieldeutigkeit der Dinge. Sie ermöglicht es, „dass im Lernen eine gleichermaßen bedingte wie freie Zuwendung stattfinden kann, dass Lernen schöpferisch ist und nicht nur rezeptiv.“ (Stieve 2008: 286) Dinge stehen den Menschen nicht autoritär gegenüber, sind aber auch nicht beliebig frei umdeutbar. Entgegen radikal konstruktivistischer oder naturalistischer Erklärungen steht die gegenseitige
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Bezogenheit von Subjekt und Objekt aufeinander im Zentrum des Interesses, die Verschränkung des Sozialen und Sachlichen wird fokussiert. Ein Seil kann im Kindergarten zum Springseil oder im Kontext eines Zirkusspiels zur Dompteurspeitsche werden (vgl. Stieve 2008: 174f.) Unter Aufgriff weiterer Beispiele (Alltagsdinge wie Pantoffel, Telefon u. a.) systematisiert Stieve die appellativen Strukturen der Dinge, die zum Lernen auffordern. Die Dinge kommunizieren dabei mit uns in einer Sprache, die durch mehrdeutig-sinnliche, ästhetische und emotionale Qualitäten bestimmt ist und erfahren werden kann. Dinge erscheinen so als aktive Miterzieher – mit begrenzter Macht und wechselnden Deutlichkeiten. Stieve plädiert dafür, Lernen weniger als theoriegeleiteten Prozess zu verstehen, sondern vielmehr als offenen Dialog, in dem die Sprache der Dinge sowie die Sprache und Erlebensweise der Kinder aufeinander bezogen ihren Platz haben sollen. Rivalitäten mit wissenschaftlich bestimmten Wissensbeständen gilt es, im Dialog zuzulassen (vgl. Stieve 2008: 320). Die Beziehung zwischen Mensch, Ding, Natur und Erkenntnis gewann in jüngerer Vergangenheit zudem durch Arbeiten der neueren Wissenschaftsforschung an Gegenwärtigkeit. Ethnografische Feldforscher stellten die Frage, wie wissenschaftlich bestimmte Wissensbestände entstehen. Für diese Forschung wurden Labore als Orte naturwissenschaftlicher Praxis aufgesucht. Mit diesen „Laborstudien“ geht es um die Erforschung der alltäglichen Hervorbringung von Wissen und Wissenschaft in situ. In den Blick gerät „The Manufacture of Knowledge“ (Knorr-Cetina 1981), das „Laboratory Life“ (Latour/Woolgar 1986) oder „Art and Artifact in Laboratory Science“ (Lynch 1985). Es wird „auf einen Wissensbegriff abgezielt, der naturwissenschaftliche Resultate nicht nur als historisch-sozial eingebettet ansieht, sondern auch als konkret im Labor konstruiert.“ (Knorr-Cetina 2002: 22; H. i. O.) Die Arbeiten verstärken die Einwände gegen die naturalistische Dingwelt, die den Menschen als gegeben gegenübersteht und aus der sich objektive – vom Subjekt gelöste – Erkenntnisse über das an sich Seiende ableiten lassen. Mit der sozialen und in konkreten Situationen verorteten Konstruktion von Fakten geht die Entdeckung des starken Verwobenseins von Subjekten und Objekten in den Naturwissenschaften einher. „Ja, die wissenschaftlichen Fakten sind konstruiert, aber sie lassen sich nicht auf das Soziale reduzieren, weil dieses mit Objekten bevölkert ist, die mobilisiert worden sind, um es zu konstruieren.“ (Latour 1995: 13f.) Die Partizipation der Dinge am Leben im Labor geht so weit, dass Latour gewillt ist, sie als Handelnde bzw. soziale Akteure anzuerkennen. „Ja, diese Dinge sind real, aber sie gleichen zu sehr sozialen Akteuren, um sich auf die von den Wissenschaftstheoretikern erfundene Realität ‚dort draußen‘ reduzieren zu lassen.“ (Latour 1995: 14) Entwickelt wird eine vielfach rezipierte Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Ding, Subjekt und Objekt: Der Mensch ist weder Herr noch Sklave der Dinge (vgl. Latour 2000: 213ff.). Latour postuliert dabei einen Mittelweg, über den er nicht schlicht Natur durch Kultur zu ersetzen sucht. Er fordert die tradierte Dichotomie zu überwinden – und bezieht damit letztlich eine radikale Position: Die Trennung von Subjekt und Objekt müsse aufgegeben werden, da sie als Akteure verstanden letztlich symmetrisch zueinanderstehen (vgl. Latour 2000: 219). Für
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Latour agieren Menschen und Dinge zwar nicht in identischer Weise, doch eben beide werden als (miteinander) Agierende konzipiert: „[...] any thing that does modify a state of affairs by making a difference is an actor [...]“ (Latour 2005: 71). Für diese Handlungen kommt es zu einer Reihe von Übersetzungsprozessen und Bedeutungsverschiebungen. Diese Prozesse erzeugen Netzwerke, in denen sich Menschen und Dinge verknüpfen. Dabei werden Dinge als Akteure konzipiert, die ganz Bestimmtes in das Netzwerk einbringen. Dies verdeutlicht Latour mit gedankenexperimentellen Beispielen: Die (künstliche) Bodenwelle auf der innerorts gelegenen Straße sorgt dafür, dass die Autofahrer bremsen. Der voluminöse Anhänger am Hotelschlüssel erschwert sein Verlegen (vgl. Latour 1991: 104ff.). Dinge sind demnach zentral an Handlungen beteiligt und prägen sie in „ihrer“ Weise mit. Durch ihre „stählernen Eigenschaften“ verleihen sie den Netzwerken (und damit auch der Gesellschaft) Stabilität (vgl. Latour 2007: 111ff.). Insbesondere die so entwickelte Akteur-NetzwerkTheorie (vgl. Latour 2001; Callon/Latour 2006) stellt vielfach einen relevanten Bezug dar, wenn es gilt, sich der „Verquickung von Menschen und nichtmenschlichen Wesen“ (Latour 2000: 213) zu nähern8 – auch für die Erziehungswissenschaft. Nohl bezieht sich auf die mit der Akteur-Netzwerk-Theorie postulierte „symmetrische Anthropologie“, um Latours Forderung einer Überwindung der Dichotomie zwischen Mensch und Ding bildungstheoretisch nutzbar zu machen (vgl. Nohl 2011: 34ff.). Bildung verlässt so als Prozess das menschliche Individuum und wird im Hybriden aus Mensch und Ding gesucht. Unter Hinzuziehung des Konzepts der „Kontagion“ von Mannheim wird die Erkenntnisrelevanz des direkten Kontakts mit Dingen, ihrer Berührung, Ansteckung und Aufnahme herausgearbeitet. Aus diesen unmittelbaren Berührungen entstehen „konjunktive Transaktionsräume“ (vgl. Nohl 2011: 14) innerhalb derer Menschen den Dingen mit spezifischen Orientierungsmustern begegnen und Dinge ihrerseits – mit den Worten Heideggers – „Stimmungen“ haben oder erhalten (bestimmte Dingfunktionen bzw. Potenzialitäten). Menschen und Dinge werden auf Basis ihrer Kontagion miteinander verwickelt und aufeinander gestimmt (vgl. Nohl 2011: 176). „Die Dinge werden zum Teil der Menschen, wie auch diese für die Dinge konstitutiv sind.“ (Nohl 2011: 172) Nohl attestiert, dass sich die Bildung des Menschen mit den Dingen nur dann adäquat thematisieren lässt, „wenn Veränderungen auf beiden Seiten gleichermaßen rekonstruiert werden.“ (Nohl 2011: 91) Der bildungswirksame Wandel bzw. die Transformation von Orientierungsmustern beim Menschen wird mit dem Wandel von Dingfunktionen bzw. neuen Stimmungen parallelisiert. Dieses gänzlich Neue der Dinge unterscheidet sich von stetigen Verbesserungen des schon Vorhandenen:
|| 8 In ihrer Radikalität lädt die Akteur-Netzwerk-Theorie fraglos zu Kritik ein. So kann ihr skizzierter Handlungsbegriff als schwach bzw. als wenig differenziert beschrieben werden (vgl. z. B. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002: 33).
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Dinge werden verbessert, wenn sie sich so verändern, dass sie Funktionen, die man von ihnen erwartet, eher erfüllen können. Die Zinken der Gabel so zu biegen, dass sie die konkave Form eines Löffels annehmen, erleichtert das Heranführen von Nahrungsmitteln zum Mund, eine Funktionalität, die der Gabel auch schon zuvor zugekommen war. Gegenüber der Verbesserung von Dingfunktionen ist die Entstehung neuer Dingfunktionen dadurch gekennzeichnet, dass im Austausch zwischen Menschen und Dingen deren Funktionen erhalten, die zuvor nicht von ihnen erwartet wurden, sondern – wie diejenige der Hefe – erst entdeckt werden müssen. Neue Dingfunktionen entsprechen in dieser Hinsicht der Entstehung neuer menschlicher Orientierungen. (Nohl 2011: 95f.; H. i. O.)
Die im Zitat angeführte Hefe nimmt Bezug auf das von Latour analysierte Beispiel ihrer Entdeckung durch Pasteur, der mit Milchsäuregärung experimentierte. Latour sieht in der Hefe einen handelnden Aktanten der Gärung, der mit dem forschenden Pasteur verbunden ist und im Austausch steht (vgl. Latour 2000: 140ff.). In der dauerhaft-tradierten Verbundenheit mit Dingen bzw. in stabilen konjunktiven Transaktionsräumen sieht Nohl die Festigung von Verhaltensmustern begründet, die mit Bezug auf Peirce als „habits“ gefasst werden (vgl. Nohl 2011: 146, 2011: 177f.). Bestimmte Habits – und damit bestimmte konjunktive Transaktionsräume – können nach Nohl auch Lernstoff der Schule sein (vgl. Nohl 2011: 194). Hieraus erwachsen einigen Kindern habituelle Lernvorteile: „Zum Beispiel sind Kinder, die zuhause schon mit 4 Jahren an die Blockflöte gewöhnt wurden, gegenüber Kindern aus anderen Transaktionsräumen im Vorteil, wenn sie im Musikunterricht ein Instrument spielen sollen.“ (Nohl 2011: 194) Nohl unterscheidet hier und in späteren Publikationen deutlich zwischen Bildung und Lernen, Alltagswelt und Schule. „Bildung soll [...] als Entstehung neuer Orientierungen beim Menschen definiert werden, wobei diese neuen Orientierungen sich auf unterschiedliches beziehen können, von der beruflichen Perspektive [...] bis hin zu Orientierungen gegenüber den Dingen selbst. Demgegenüber verstehe ich unter Lernen den Erwerb von Können im Umgang mit Dingen und von Wissen über sie im Rahmen gegebener Orientierungen.“ (Nohl 2011: 95; H. i. O.) Transformative Bildungsprozesse würden sich in der Schule kaum vollziehen: „Schule – und damit auch der Sachunterricht – dienen eben vornehmlich der Vermittlung von Wissen und Können, also dem Lernen.“ (Nohl 2013: 60) 9 Die Vermittlung von Wissen bzw. Können ist fraglos vielfach ein Lernziel des Unterrichts und Dinge werden dabei zu Lernaufgaben. Bezüglich der Bildungswirksamkeit ist jedoch zu diskutieren, ob das Musikinstrument aus dem Kinderzimmer dem Musikinstrument in der Schule gleicht – auch wenn es sich bei beiden Instrumenten um eine Blockflöte handelt. Der Fußball aus dem Sportverein scheint mir nicht identisch mit dem Fußball aus dem Sportunterricht und auch das Fahrrad wandelt sich im Kontext
|| 9 Unterricht sei von Lehrplänen und Curricula bestimmt und würde damit Handlungen von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n kanalisieren. Die für Bildung wichtige Spontaneität werde hier oft als Störung begriffen und sei zu selten – im Umgang mit den Dingen – möglich (vgl. Nohl 2013: 59ff.).
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der Verkehrserziehung. Dadurch, dass die Dinge zu schulischen Lernaufgaben werden verändern sie sich und ermöglichen neue Orientierungen. Die Sachen des Sachunterrichts unterscheiden sich systematisch von denjenigen Sachen, die etwa im familiären Alltag der Kinder oder im wissenschaftlichen Alltag der Natur- oder Sozialwissenschaften auftauchen. Sie unterscheiden sich genau deshalb, weil sie zu Sachen von schulischen Lernthemen gemacht werden. Sie unterscheiden sich, weil sich die schulischen Ziele der Auseinandersetzung mit Sachen von anderen Zielen, also etwa unmittelbar lebenspraktischen oder wissenschaftlichen Zielen, unterscheiden. (Wiesemann 2004: 3)
Dieser „Eigentümlichkeit“ (Wiesemann 2004: 3f.) des schulischen Lernens nachgehend, nimmt Wiesemann Bezug auf Hentig, der in Briefform seinem Neffen auf die Frage antwortet, warum der Besuch der Schule notwendig ist (vgl. Hentig 2001: 18ff.). Er tut dies anhand einer biografischen Erfahrung aus seiner Schulzeit, in der eine durch Hänseleien entstandene Betrachtung verschiedener Bortaufstriche zu der Frage führt, was Butter ist und wie sie gemacht wird. Die Kinder erhalten daraufhin von der Lehrerin die Aufgabe, Sahne in die Schule mitzubringen, die sie dort am folgenden Tag in kleinen Flaschen schütteln. „Nach einer Stunde etwa meldete ein eifriges Mädchen, in ihrer Flasche habe sich die Sahne in Wasser verwandelt und in viele Klumpen, einige so groß wie eine Walnuss. Es war ihre noch ungesalzene, aber schon schmierbare Butter.“ (Hentig 2001: 19) Die besondere Interaktion mit anderen Menschen und das damit verbundene Erklären der Dinge „mit denen man lebt“ machte die Schule für Hentig fortan aus. Er bilanziert: „Ich fühlte mich nun von meinen Eltern und von meiner Schwester weniger abhängig.“ (Hentig 2001: 20) Die Geschichte zeigt u. a., „wie anders eine Sache wird, die zu einem schulischen Lernthema gemacht wird.“ (Wiesemann 2004: 5) Butter als Sache des Sachunterrichts unterscheidet sich von der Butter aus der heimischen Küche.10 Die Sache verändert sich, indem die Didaktik aus ihr ein Thema macht (vgl. Wiesemann 2004: 9). In Hentigs Beispiel wandelt sich die Sache aber auch materiell. Die Kinder machen mit der Sahne etwas Anderes, durch ihre Bearbeitung entsteht etwas Neues: Butter. Mit den Begriffen Nohls lassen sich „neue Dingfunktionen“ ausmachen, die von den Kindern entdeckt werden. Die Entdeckung der Hefe durch Pasteur – dessen Analyse durch Latour von Nohl als Beispiel für das Neue und den Wandel der Dinge genutzt wird – ist der
|| 10 Auch im direkten Umgang, in der Erfahrung mit der heimischen Butter lässt sich vieles lernen: z. B. ist sie hart, wenn man sie direkt aus dem Kühlschrank nimmt, steht sie lange auf dem Tisch, wird sie besser streichbar. Sinnliche Erfahrungen wie diese tangieren jedoch selten Erklärungen. Horst Rumpf analysiert im Gespräch mit Gerold Scholz zu Materialien im Sachunterricht kritisch: „Das [die schulische Aneignung der eigenständigen Lebenswelt der Kinder als Enteignung dieser] wäre ein Schulimperialismus. Und man kann natürlich sagen: Was die Schule berührt, wird schulförmig und verliert seine Wildheit, seine Nichteinordbarkeit. Diese Vereinnahmung gibt es sicherlich. Aber muß das sein? [...] Kann die Schule sich nicht auch öffnen als Erfahrungsfeld, kann sie nicht auch Erfahrungen kultivieren?“ (Scholz/Rumpf 2003: 3)
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schulischen Neuentdeckung der Butter nicht unähnlich. So wie Pasteur mit der Hefe zum Forscher wurde, werden die Kinder mit der Butter zu Schüler(inne)n. Durch thematische und materielle Wandlungen transformieren sich bei ihnen Haltungen gegenüber den Sachen und der Schule selbst: ein bildungswirksamer Lernprozess. Der schulisch-situativen Gegenstandskonstitution, dem damit verbundenen Wandel der unterrichtlichen Materialien und der auf sie bezogenen Rolle von Schüler(inne)n geht auch Röhl nach. Er fokussiert ethnografisch den Gebrauch von schulischen Lehr- und Lernmaterialien im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe (vgl. Röhl 2013). Insbesondere stehen physikalische Experimente mit schulischen Experimentiermaterialien im Interesse seiner Arbeit.11 Mit Blick auf die kulturellen Praktiken des Umgangs der unterrichtlichen Teilnehmer(innen) analysiert Röhl, wie Dinge in fachliche Objekte transformiert werden. Bei dem so als „Objektivierung der Dinge“ verstandenen Statuswechsel werden drei Vollzugsphasen ausgemacht: Die Dinge werden von Lehrer(inne)n zunächst aus dem schulischen Archiv bzw. der „Sammlung“ ausgewählt und vorbereitend als Experimente getestet. Nach einem Raumwechsel werden sie im Unterricht als demonstrierende Experimente arrangiert und veranschaulichend genutzt. Nach dieser Durchführung im Klassenraum erfolgt ein Medienwechsel, mit dem die Beobachtungen versprachlicht und verschriftlicht werden. Damit wird das Experiment letztlich in Formeln und Gesetzmäßigkeiten überführt (vgl. Röhl 2015: 165ff.). Röhl arbeitet heraus, wie die Inszenierung von schulischen Experimenten darauf abzielt, bestimmte – als fachlich-relevant konzipierte – Aspekte zeigend hervorzuheben und andere Beobachtungen in den Hintergrund zu dirigieren. So dient schon die Vorbereitung der Dinge dazu, als Pannen verstandene Überraschungen auszuschließen: „Nur wenn sich die Messergebnisse konsistent mit den zu erwartenden Werten zeigen […] und sie in einem Bereich liegen, der auf der Skala deutlich zu sehen ist, können sie die Experimente beruhigt in den Unterricht mitnehmen.“ (Röhl 2015: 167) Im Unterricht angekommen, sind es die Lehrer(innen), die mit Benennungen und Zeigegesten einzelne Bestandteile als relevant markieren, einordnen oder ausklammern. Neben diesen Selektionen werden die entscheidenden Momente, Zeitpunkte und Phasen des Unterrichts systematisiert (vgl. Röhl 2015: 169), in denen es zu einem Lenken der Beobachtungen der Schüler(innen) kommt. Röhl hält fest: „Die Lehrer bringen durch ihre zeitlichen und kontextualisierenden Hinweise ein physikalisch relevantes Ereignis
|| 11 Ausgehend von der Feststellung, dass die Wissenschaftsforschung wenig über die Tragweite wissenschaftlichen Wissens jenseits des Labors weiß, hält Röhl fest: „Ein Blick in alltäglichere Bereiche kann deshalb zeigen, was mit kanonisiertem wissenschaftlichen Wissen und der dazugehörigen Weltsicht außerhalb der Wissenschaft passiert.“ (Röhl 2015: 163) Für eben diesen Blick ist die Schule ein prädestiniertes Feld der Gesellschaft, in dem die epistemisch-materielle Dimension von Wissen eine entscheidende Rolle spielt. Röhl leistet damit einen Beitrag für die „Social Studies of Teaching and Education“ (Kalthoff 2011), die sich an den oben skizzierten Laborstudien orientieren.
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überhaupt erst hervor, denn oftmals ist den Schülern nicht einsichtig, was es zu beobachten gilt.“ (Röhl 2015: 169) Den an die Experimente angeschlossenen Übersetzungsvorgang und Medienwechsel versteht Röhl als zentralen Schritt. Die präsenten Dinge werden mit generalisierenden Zeichen gefasst, die sich an- und abschreiben lassen. Wissen wird so in eine transportable Version gebracht. Auch bei diesem Schritt wird vieles ausgeblendet, was sich in der Situation und am Experiment beobachten ließ, fachlich aber (gerade) nicht relevant ist. Es geht um die Überführung in eine idealisierte bzw. mathematisierbare Form (vgl. Röhl 2015: 171f.). Trotz der dabei auffälligen Verwicklung und gegenseitigen Bedingung von Mensch und Ding lässt sich beobachten: „Am Ende der Transformationsleistung steht dann ein relativ klar umrissenes mathematisches oder physikalisches Objekt, das als unabhängig von den praktischen Bemühungen der Unterrichtsteilnehmer gilt.“ (Röhl 2015: 173) Für die dem Experiment beiwohnenden Schüler(innen) geht es um das Einüben einer „disziplinären Sicht“, die selektiv auf das gerichtet ist, was für den weiteren linearen Unterricht eine Bedeutung haben wird (vgl. Röhl 2013: 79ff.). Es gilt, Dinge fachlich wahrzunehmen und zu benennen. Der Wandel der Dinge, die in die Schule kommen, hat letztlich viel mit dem schulischen Sehenlernen zu tun, mit der Vorder- und Hintergründigkeit von Materialaspekten und ihrer Akzentuierung. Die Orientierungen, mit denen den Dingen begegnet wird, sollen sich schulisch justieren. Alltagsweltliche bzw. nicht schulische Artefakte, die Röhl als „wilde Dinge“ fasst, „rufen bisweilen unpassende Assoziationen bei den Schülern wach, und es bedarf größerer Anstrengungen, um sie in fachliche Objekte zu transformieren. Gerade hieran können die Schüler aber ein fachliches Sehen erlernen, das sich an der Vieldeutigkeit des alltäglichen Artefakts schärft.“ (Röhl 2015: 174) Diesen Aspekt verdeutlicht auch Rumpf (2001), indem er biografische Erfahrungen von verschiedenen Autoren systematisiert, die sie mit Naturerleben und Wissensvermittlung in ihrer Kindheit machten. Rumpf nimmt Bezug auf Berichte darüber, wie sich der Lehrende in einer Unterweisungssituation damit konfrontiert sieht, dass der Schüler in und an Kieselsteinen mehr sieht als eine Repräsentation von Zahlen, Summen und Differenzen. Die Steine werden sinnlich in ihren Unterschieden, ihren Farben, Formen und Beschaffenheiten erfahren. Sie regen die Gedanken des Kindes in ungewollter Weise an, verleiten zur Fantasie und Narration. Der Lehrer wird unwillig: Er glaubt physiognomielose Sachobjekte vorzulegen – was ist schließlich fantasieabstoßender als pure Kieselsteine, mag er gedacht haben. […] Das Kind soll lernen, sich vom erlebten Ausdruck der je besonderen beiden Steine zu lösen – das ist der Erste, das der Zweite, sagt der Lehrer. Und hofft so die Aufmerksamkeit vom Sog der Qualitäten in den Bereich des antlitzlos Zählbaren hinübergeleitet zu haben. (Rumpf 2001: 311)
Im Bewusstsein von jungen Kindern sträuben sich die Ausdrucksqualitäten in ihren dramatischen und individuell-einmaligen Zügen gegen Subsumtion und Liquidation durch Symbolisierungen, mit denen sie als homogenisierte Dinge aufgefasst werden
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(vgl. Rumpf 2001: 312).12 Der Kieselstein gleicht in den Augen des Lehrers nicht dem Stein, der von dem Kind gesehen wird. Auch wenn die Dinge noch so naturbelassen wirken, verändern wir sie bereits durch unser Sehen, durch die (schulische) Kontextualisierung die wir vorzunehmen lernen und durch die Berücksichtigung der je konkreten Situation. Dies soll nicht bedeuten, dass es didaktisch gleichgültig ist, ob man zum lackierten Stabmagneten oder zum mineralen Magnetstein greift. An die Gestalt und Gestaltung von Dingen knüpfen sich Bildungskonzepte und -praktiken an. Beispielsweise zeigt sich an den Beobachtungen Röhls „deutlich, dass die Gestaltung der Dinge an der Transformationsleistung beteiligt ist. Didaktisch gestaltete Artefakte offerieren die mühelose Einbindung in die objektivierende Transformation und bieten den zeigenden Praktiken der Lehrpersonen kaum Widerstand.“ (Röhl 2015: 174) Die Gestalt von Dingen vermag den zeigenden und lenkenden Handlungen der Lehrer(innen) zwar entgegenzukommen, doch weder macht sie diese Praktiken obsolet, noch garantiert sie, dass die Schüler(innen) „richtig“ erkennen welche Facette gerade als relevant anzusehen ist. Dieses Kapitel 1.1 zeigt ein Wechselverhältnis auf, in das wir mit den Dingen verwickelt sind und das es nicht erlaubt, ein Ding als vorgefundene oder einmal gefertigte Konstante zu begreifen, die unidirekional den Menschen bildet bzw. uns zeigend über die Natur unterweist. Dinge verändern sich im Zuge des Austausches mit Menschen und zugleich verändern sich die Menschen (vgl. Nohl 2011: 45). Eben hier liegt das Bildungspotenzial der Dinge. Sie ermöglichen fraglos Erfahrungen sowie Anschauungen, Menschen gestalten diese jedoch auch mit den Dingen und vielfach versuchen sie hierfür, die Dinge selbst zu gestalten. „Der Mensch designt die Dinge, die wiederum den Menschen performen.“ (Zirfas/Klepacki 2013: 51)
|| 12 An einem weiteren Unterrichtsbeispiel orientiert, hält Rumpf fest: „Der Lehrer röntgt gewissermaßen diese Erlebnisse, filtert Allgemeines heraus. Der Hund und das Pferd [aus den Erlebnisberichten und der Lebenswelt des Kindes] verlieren ihre Besonderheit, den einmaligen Geschmack und Geruch des Konkreten – sie entfärben sich zum Fall. Das Allgemeine, das in Büchern und Lehrtexten steht, es scheint wichtiger zu sein.“ (Rumpf 2001: 313) Mit der Hervorhebung von kindlich-sinnlichen Erlebensweisen, die im Kontrast zur Fachsprache der Lehrtexte stehen, lässt sich ein Plädoyer für eine phänomenologische Lernbetrachtung formulieren, wie es Claus Stieve (2008) tut. Rumpf selbst verweist abschließend auf Wagenschein, auf den bruchlosen Weg der Kinder, von ihrer Erfahrung ausgehend und zur Physik hinführend (vgl. Rumpf 2001: 321f.).
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1.2 Bildung der Dinge: das Design Ein Interesse am Design, also dem Entwerfen, Konstruieren, Gestalten und planerischen Konzipieren von unterrichtlichen Materialien findet sich innerhalb der Bildungswissenschaften selten.13 Vielfach scheint schon der Begriff „Design“ als modischer Anglizismus in Verdacht zu geraten, schulische Werte und nüchterne Inhalte zu torpedieren. „Heutige Lehrmittel sind, wenn ich richtig sehe, oft ausgerichtet auf Produktdesign. Die Produkte werden mit ästhetischen Motivationsregeln entwickelt, aber sie haben ihren dienenden Charakter verloren. Anschaulichkeit fast um jeden Preis definiert geradezu «Lernbarkeit», was leicht zur Vernachlässigung der Inhalte führen kann.“ (Oelkers 2010: 20)
Exkurs: Begriff der „Lehr- und Lernmittel“ In Roloffs frühem Lexikon der Pädagogik ist zu lesen: „Unter Lehrmittel verstehen wir hier alle Hilfsmittel, deren sich der Lehrer bei der Vorbereitung auf den Unterricht u. bei dessen Erteilung bedient, mit Ausschluß der zur sachgemäßen Ausstattung des Schulzimmers gehörenden Gegenstände (wie Bänke, Kartenständer, Bilderhalter u. dgl.).“ (Schiffels 1914a: 307) Als Beispiele für den Gebrauch in der Volksschule werden „Lehrerhandbücher“ zu dem Stoff der Lehrpläne, „Anschauungsmittel“ sowie „besondere Geräte, die der methodisch richtige Unterrichtsbetrieb voraussetzt (Schultafel, Turnu. Spielgeräte; Geige et al.)“ angeführt (vgl. Schiffels 1914a: 307). Die Trennung zwischen „Lehrmitteln“ als „Hilfsmittel“ für den Unterricht und „Gegenstände[n ,] die zur sachgemäßen Ausstattung des Klassenraums“ (Schiffels 1914a: 307) gehören, erscheint problematisch: Helfen nicht auch die Kartenständer dabei den Unterricht nach Plan durchführen zu können? Sind sie so weit entfernt von Tafel und Turngerät – also den „besonderen“ Geräten für den methodisch richtigen Unterrichtsbetrieb –, dass sich ein solches Statusgefälle rechtfertigt? 100 Jahre später hat sich an der Charakterisierung von „Lehrmitteln“ als dienende Hilfsmittel wenig geändert. Unterschiede in heutigen Definitionen von „Lehrmitteln“ sind allenfalls darin zu sehen, dass ihre schriftlich-mediale Dimension an Dominanz gewonnen hat: „Bei Lehrmitteln handelt es sich um im Unterricht eingesetzte Hilfsmittel, die in der Regel in gedruckter Form vorliegen. Das Schulbuch ist ein klassisches Lehrmittel (auch Lehrmedium), weitere sind etwa Arbeitshefte und Arbeitsblätter.“ (Stadtfeld 2011: 72) Zudem fällt auf, dass die Kennzeichnung von 2011 Arbeitsmittel für Schüler(innen) (Arbeitshefte und Arbeitsblätter) einschließt. Dies führt zu der Frage, ob und wie eine Unterteilung von „Lehr- und Lernmittel“ sinnvoll ist. 1914 wurde diese Trennung klar mit einem eigenen lexikalischen Eintrag vollzogen: „Unter Lernmitteln sind die für die Hand der Schüler bestimmten Hilfsmittel zu verstehen, die für das Gelingen der Unterrichtsarbeit unentbehrlich od. doch wünschenswert sind. Sie werden nicht nur beim Unterrichte, sondern auch bei des Schülers Vorbereitung auf die Stunden gebraucht u. dienen hauptsächlich der Übung, Einprägung u. Wiederholung u. somit zur Sicherung der Unterrichtsergebnisse.“ (Schiffels 1914b: 361) Im Unterschied zu den 1914 beispielhaft angeführten „Lehrmitteln“ sind
|| 13 Nicht zwangsläufig mit Bezug zu unterrichtlichem Material gruppieren sich unter den Überschriften „didaktisches Design“ bzw. „didactical and educational design research“ meist fach- und oft mathematikdidaktische Ansätze, die das praxis- und anwendungsbezogene Design von Unterrichtseinheiten respektive -sequenzen zu optimieren suchen vgl. z. B. Akker (2006); Doorman et al. (2013); Komorek/Prediger (2013); Artigue (2009). Es geht um die möglichst lerneffiziente Vermittlung und Aufbereitung verschiedener Themen und Inhalte.
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die genannten „Lernmittel“ dominant schriftlich: Gesang- und Gebetbuch für den Religionsunterricht, Fibel und Lesebuch für den Deutschunterricht (vgl. Schiffels 1914b: 362). Geigen oder ähnliche – als „wünschenswert“ denkbare – Artefakte finden sich nicht mehr. Das Zitat verdeutlicht zudem ein weiteres Statusgefälle: Das Eigentliche der Bildung – das was jenseits der Übung, Einprägung und Wiederholung liegt – vollzieht sich durch die Lehrperson und seine „Lehrmittel“. Auch wenn „Lehr- und Lernmittel“ heute stärker als eine gemeinsame Kategorie geführt werden, wird mit ihnen doch vielfach noch die Lehrtätigkeit als unterrichtskonstitutiv verstanden. „‚Lehrmittel‘, die (unverkürzt) immer als Lehr- und Lernmittel zu denken sind – seien es das Schulbuch oder digitalisierte Lernprogramme – dienen der Planung, Initiierung, Strukturierung, Unterstützung und Evaluation unterrichtlicher Informations- und Kommunikationsprozesse. Sie nehmen somit im Unterricht eine Schlüsselrolle ein.“ (Matthes 2011: 1; H. i. O.) So verstandene (Lehr-)Mittel sollen in einem soziotechnischen Prozess der gelingenden Ausgestaltung von Unterricht durch Lehrer(innen) „dienen“. Vor eine Erziehungs- und Beziehungskommunikation tritt die erfolgreiche Organisation von Unterricht (technokratisch: das „Classroom Management“).
In der Beschreibung des „dienenden Charakters“ (Oelkers 2010: 20) der „Lehrmittel“ als Hilfsmittel spiegelt sich die dominierende didaktische Grundhaltung, dass die Dinge als effiziente oder weniger effiziente Instrumente des Unterrichts zur Organisation und zur Vermittlung von Wissen neutral verwendet werden. Die diesem Verständnis von „Lehrmitteln“ – als gegebene Mittel zum Zweck – folgende empirische Frage bezieht sich auf die Evaluation ihrer Effektivität (vgl. z. B. Möller et al. 2008). Arbeiten aus der Kognitions- und Entwicklungspsychologie – bzw. einer entsprechend ausgerichteten Kommunikationswissenschaft – formulieren den Anspruch, Hinweise zur optimiert lernwirksamen Gestaltung von (meist schriftlichem) Material zu geben, dies vielfach mit Rückgriff auf instruktionspsychologische Prinzipien und Systematiken eines „instructional design“ bzw. „Wissensdesigns“ (vgl. Dick et al. 2005; Gagné et al. 1992; Schott 1991). So verfolgt etwa Ballstaedt (1997) unter Stützung auf diese Designforschung das Ziel, abgeleitet Erkenntnisse für die Aufmachung und Bewertung von „Lernmaterial“ (verstanden als Texte, Tabellen, Piktogramme, Abbildungen, Diagrammen) zusammenzustellen. „Definiert“ wird: „Didaktisches Design ist die planmäßige und lernwirksame Entwicklung von Lernumgebungen (von der Bedarfsanalyse bis zu Evaluation) auf wissenschaftlicher Grundlage.“ (Ballstaedt 1997: 12; H. i. O.) Vor diesem Hintergrund geht es primär um Hinweise zur Funktion und Struktur von verschiedenen Textsorten sowie der darbietenden Gestaltung von Visualisierungen. Ähnlich verortet geben Bamberger u. a. Hinweise zur Gestaltung von Schulbüchern zur Steigerung ihrer „pädagogischen Effektivität“ (vgl. Bamberger et al. 1998: 66ff.). Jenseits der Bestrebungen, ein optimales Design von bildungswirksamen Dingen zu entwickeln oder zu evaluieren, suche ich eine Perspektive auf gestaltete Dinge der Bildung einzunehmen, aus der diese normativenthaltsam systematisiert werden.
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Innerhalb der allgemeinen Erziehungswissenschaft wird der Bildungshabitus der Dinge in vereinzelten Arbeiten explizit mit Aspekten ihrer Gestaltung verknüpft. Zirfas und Klepacki analysieren, inwiefern Dinge für Bildung – verstanden als Transformation von Selbst-, Welt- und Anderenbeziehung – bedeutsam werden. Dabei „soll lediglich von einem Aspekt der Dinge, nämlich von ihrer Gestaltung, ihrer Stilisierung bzw. ihrem Design die Rede sein […]“ (Zirfas/Klepacki 2013: 46). Unter Design verstehen Zirfas und Klepacki allgemein das kreative In-Form-Bringen der Dinge, das dem Zweck einer individuellen und sozialen Bedürfnisbefriedigung dient. Design sei dabei in Verbindung zu bringen mit (1) realem Produzieren, Formen und Funktionen, mit (2) symbolischen Verweisen und Werten sowie (3) mit Imaginärem und Fiktiven (vgl. Zirfas/Klepacki 2013: 55). Die Systematisierung von Zirfas und Klepacki fokussiert stark die dingliche Performanz von Weltlichkeit, Sozialität, Individualität: „[…] mit Bezug auf das Design soll dann jeweils eine spezifische performative Perspektive eingenommen werden: Mit der Weltbeziehung wird die Funktionalität der Dinge bedeutsam, unter dem Blickwinkel des Anderen wird der Stil der Dinge thematisch und in der Perspektive der Individualität wird der Frage nach der Kommunikativität der Dinge nachgegangen.“ (Zirfas/Klepacki 2013: 46) Letztlich wird die Bedeutung von Störungen und ambivalenten Verweisen der Dinge für allgemeine Bildungsprozesse herausgearbeitet. In Situationen, in denen die Dinge nicht mehr reibungsloses Mittel zum Zweck sind, sie ihren dienenden Charakter verlieren, entfalten sie ihr Bildungspotenzial (vgl. Zirfas/Klepacki 2013: 52f.). Die Relevanz der Dinge als Medium für menschliche Bildungsprozesse wird herausgestellt und teils mit der Ästhetik bzw. dem Stil der Dinge verknüpft – z. B. zeigt man durch seine designten Dinge wer man ist, man kommuniziert mit ihnen Zuordnung und Abgrenzung (vgl. Zirfas/Klepacki 2013: 49f.). Design als praxeologisch-strukturativer Akteur gerät dabei weniger in den Blick (vgl. Jörissen 2015: 216). Auch Aspekte der Verfertigung von Dingen und ihrer intentionalen Aufladung werden nur gestreift. Fragen nach den spezifischen Designhandlungen von Entwickler(inne)n oder nach unterrichtlichen Materialien werden nicht verfolgt. Jörissen (2015) stellt der heideggerschen „Stimmung“ der Dinge bei Nohl, die aus der lebensweltlichen Begegnung zwischen Mensch und Ding sowie geschichtlich tradierten Gebrauchsweisen bzw. Erfahrungszusammenhängen erwächst (siehe Kapitel 1.1), den „Entwurf“ der Dinge gegenüber. Damit verweist er auf die hinter den Dingen stehenden bzw. in sie eingeschriebenen technologisch-ökonomischen Kontexte. „Design“ versteht er dabei als transformatorischen Prozess der Moderne: Jörissen sieht die moderne Transformation der Dingwelt darin, dass das industriell hergestellte Gebrauchsdesign der modernen Ökonomie mit ihrer Logik, Gestaltung, Herstellung und Zirkulation der Dinge, die Dominanz der handwerklichen Formate ablöste. Aus dieser Veränderungen gehen neue Dinge hervor, die sich auf neue Notwendigkeiten einstellen (vgl. Jörissen 2015: 220f.). Ihr Design kann einen großen Einfluss auf menschliche Handlungen und Verhaltensweisen haben.
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Dem Design der Dinge kommt die Aufgabe zu, ausgehend von einem jeweils gegebenen, maßgeblichen Modell vom „Benutzer“ – d. h. also letztlich ausgehend von mehr oder weniger expliziten Anthropologien: Annahmen darüber, was Arbeit, Körper, Handeln, Sozialität sei – einen funktionalen Möglichkeitsraum als konkrete Form (bzw. konkreten Form-Funktions-Zusammenhang) zu artikulieren. Damit wird es insbesondere auch möglich, Potenziale von Gebrauchsweisen bzw. habits aufzugreifen, zu transformieren, zu verwerfen und zu ersetzen oder auch komplett neu zu projektieren. (Jörissen 2015: 221)
Mit Bezugnahme auf die erzieherischen Intentionen durch Designs der vom Bauhaus beeinflussten „Ulmer Schule“ verweist Jörissen darauf, dass durch „Design“ letztlich nicht „Dinge“ oder „Designobjekte“ entstehen, sondern dass die ästhetischen Formgebungen Relationen zwischen Dingen, materiellen Umwelten und Lebewesen konzipieren. „Zum Objekt wird das Design erst als Verhältnis zu diesen antizipierten Relationen, die ihrerseits mithin auf normativen Grundlagen basieren. Als Objekt jedoch, als designtes Ding, trägt es struktural diese antizipierten Relationen als Potenzial ihrer je konkreten Verwirklichungen in sich.“ (Jörissen 2015: 222f.; H. i. O.) Designte Dinge werden zum sichtbaren und greifbaren Ausdruck der Planungs-, Realisierungs- und Produktionsprozesse. Sie verkörpern diese Prozesse und enthalten „ein strukturimmanentes Wissen über Körper, Subjekte (Nutzer, Konsumenten etc.), Situationen und Gebrauchsszenarien, schließlich über das, was sie selber in diesen Gebrauchsszenarien sein können.“ (Jörissen 2015: 223) Über designte Dinge, die in sozialen Kontexten als epistemisch aufgeladene Elemente fungieren, wird eine normative Strukturierungskraft in soziale Felder eingebracht. Das designte Ding wird als beachtenswerter Aktant im Gefüge von Subjekt und Sozialität verstanden (vgl. Jörissen 2015: 224). Dabei werden zum Designen von „user experience“ in der Ökonomie verschiedene Fragen aufgeworfen: Welches Wissen wird eingeschrieben? Welche anthropologischen Annahmen über Identitäten und Körper, Sozialität und Gedächtnis, Arbeit und Gebrauch, Individualität und Ökonomie werden impliziert? Welche Arten praktischer Probleme werden gelöst? Welche Werte und Leitdifferenzen werden definiert? Welche Erziehungsprogramme werden verkörpert (vgl. Jörissen 2015: 227)? An eben diese Fragen schließe ich mit meiner Arbeit an und beziehe sie spezifizierend auf das Design unterrichtlicher Materialien. Zu was sollen Schüler(innen) mit den unterrichtlichen Materialien geführt werden (Entdeckungen, Verständnis, Wissen, Überzeugung u. a.)? Wie wird dieses Ziel verfolgt und materialisiert? Was wird in welcher Weise versucht in die Dinge einzuschreiben? Um diesen Fragen nachzugehen ist zunächst die Feststellung relevant, dass sich das Einschreiben und Entwickeln, die Genese unterrichtlicher Materialien vielfach nicht ausschließlich in der Schule oder am heimischen Arbeitsplatz von Lehrer(inne)n vollzieht. Eine eigene Industrie hat sich auf dem „Bildungsmarkt“ etabliert und fungiert als ökonomischer Zulieferer von Materialität für schulische Praxis. Die „didaktische Zuspitzung“ respektive die spezielle Zurichtung wird nicht nur durch die Lehrer(innen), sondern
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auch durch die „Lehrmittelindustrie“ vorgenommen (vgl. Röhl 2015: 174f.).14 Angesichts der Präsenz industrieller Produkte in der Schule wird die Frage virulent, aus welchen Argumenten ihre Funktionen, Formen, Farben, Fassung u. a. hervorgegangen sind. Es interessiert dann, wie Gestaltungsentscheidungen für die Schule in der Bildungswirtschaft15 getroffen werden und mit welchen Intentionen sie verknüpft wurden.
1.2.1 Bildungswirtschaft als Zulieferer von Schule Unterrichtlichen Materialien bzw. „Lehrmitteln“ wird ein vergleichsweise geringes empirisches Interesse zuteil. Sie treten deutlich hinter die Themen wie Schulentwicklung, neue Medien oder Leistungsmessung zurück (vgl. Oelkers 2010: 18). „Gemessen an der Bedeutung der Lehrmittel ist es erstaunlich, wie wenig entwickelt der Forschungsstand ist. Über das Zustandekommen und die genaue Wirksamkeit von Lehrmitteln ist empirisch nur wenig bekannt […] [Herv. J. L.].“ (Oelkers 2010: 20; Herv. J. L.) Letztlich plädiert Oelkers vor allem für eine stärkere Beforschung der Wirksamkeit von „Lehrmitteln“ und trifft einige Aussagen bezüglich ihres Zustandekommens. So kennzeichnet er sie als Autorenprodukte, die keiner nennenswerten empirischen Kontrolle unterliegen würden. Er führt an, dass sie zumeist ohne Testserien in das Feld eingeführt werden. Zudem werde ihr Gebrauch in der Praxis – seitens ihrer Autor(inn)en – kaum erhoben, sodass man nicht sagen könne, ob Modifikationen am Produkt sinnvoll waren oder nötig sind (vgl. Oelkers 2010: 20f.). Auch wenn Aussagen wie diese suggerieren könnten, dass das hervorgehobene Desiderat zum Zustandekommen von unterrichtlichen Materialien zu relativieren ist, muss darauf verwiesen werden, dass empirisches Wissen zu ihrer Genese kaum erarbeitet wurde. Ballstaedt hält trefflich fest: „Der Gestaltung von Lernmaterial galt bereits das Interesse des Comenius, aber das Thema blieb bis heute ein Stiefkind der Didaktik.“ (Ballstaedt 1997: 12) Die Forschungslücke der Bildungsmedienproduktion betonend, wendet sich Macgilchrist (2011) ethnografisch der Arbeit von Bildungsmedienverlagen zu, die Schulbücher produzieren. Für meine Arbeit ist die seltene Ausrichtung ihrer For-
|| 14 Rumpf beklagt vor diesem Hintergrund im Gespräch mit Scholz: „Wenn ich in Grundschulen komme, so fällt mir auf: Die Räume sind sehr voll, übervoll. Und das sind meistens gekaufte und nicht selbst produzierte Sachen. Mir wäre etwas wohler dabei, wenn die Räume etwas leerer wären und wenn das eine oder andere wirklich selbst gemacht wäre. Ob für die Grundschule wirklich von anderen hergestellte Lernmaterialien Schlüssel zur Welt sind, daran habe ich Zweifel.“ (Scholz/Rumpf 2003: 3) 15 „Bildungswirtschaft“ ist die Selbstbezeichnung jenes Ökonomiezweiges, aus dem Produkte für Bildungseinrichtungen hervorgehen. Der „Didacta Verband e. V. Verband der Bildungswirtschaft“ präsentiert diese Produkte jährlich auf seiner Fachmesse.
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schung anschlussfähig. Sie erbringt wichtige Einsichten in einen Teilbereich der Bildungswirtschaft und analysiert die dort beobachteten Praktiken. Die Verlage werden von Macgilchrist als Organisationen analysiert, „die offizielles (schulisches) Wissen reproduzieren und stabilisieren oder aber auch unterlaufen und destabilisieren.“ (Macgilchrist 2011: 248) Ferner geht es um die Frage, wie dieses Wissen Eingang in die Schulbücher findet und welche Akteurinnen und Akteure in welcher Weise in die Produktionsprozesse eingebunden sind (vgl. Macgilchrist 2011: 252). Es wird aufgezeigt, dass als Mitglieder der Diskursproduktion nicht nur die vertraglich gebundenen Personen des Verlags verstanden werden können und dass nicht nur die ökonomische Maximierung von Profit die leitende Zielsetzung ist. Dabei gelingt eine analytische Systematisierung der Pluralität von Mitgliedern sowie ihren (teils widersprüchlichen) Zielen, die im Produktionsprozess interagieren und letztlich die Inhalte des Schulbuchs mitbestimmen. Curricula, Medien, Beschwerdebriefe, die politische Ausrichtung der Landesregierung, Lehrer(innen), Schüler(innen) u. v. m. sind beteiligt. Der hier vertretene analytische Blick auf Bildungsmedienverlage sieht diese nicht mehr als Organisationen der linearen Umsetzung, sondern als Organisationen der Diskursproduktion, deren Grenzen sich durch diskursive Verflechtungen mit anderen Räumen des Sozialen verflüssigen und verschwimmen. Dadurch eröffnen sich neue Möglichkeiten, Einsichten zu gewinnen über besonders brüchige Stellen in den heutigen Wissensordnungen und über Praktiken, durch die das ausgehandelt wird, was als autoritatives und legitimes (schulisches) Wissen gilt. (Macgilchrist 2011: 260f.)
Mit Schulbuchverlagen ist eine entscheidende Gattung von Firmen benannt, die zur Bildungswirtschaft gezählt werden. Sie sind als ebenso tradierte wie relevante Zulieferer von Schulen anzuführen. Dennoch sind mit „Lehrmitteln“ auch andere Dinge assoziativ verknüpft: originär haptische Materialien wie z. B. Modelle, experimentelle Aufbauten, Werkzeuge oder Apparaturen des Unterrichts (siehe Exkurs: Begriff der „Lehr- und Lernmittel“). Insbesondere der mit ihnen verbundenen Industrie wurde bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil. Foray und Raffo (2014) fokussieren mit ihrem Beitrag „The emergence of an educational tool industry“ die Möglichkeiten und Herausforderungen, die mit der Entwicklung der „Lehrmittelindustrie“ für Innovationen im Bildungssektor einhergehen könnten. Ausgegangen wird von einer wirtschaftswissenschaftlichen Retrospektive der historischen Entstehung der – noch bereichsunspezifisch gefassten – „tool industry“. Die verbundenen Voraussetzungen und Folgen sollen den heuristischen Rahmen für die Zuwendung zur Werkzeugindustrie des Bildungssektors bieten. Mit dem Aufkommen von Zulieferern, die Werkzeuge und Maschinen an andere Firmen verkaufen, wird attestiert, dass sich eine Verlagerung von Expertise vollzog, eine Verlagerung von den bisherigen Produktionsstätten dahin, wo die notwendigen Werkzeuge und Maschinen hergestellt werden:
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Prior to the emergence of a tool industry, a much greater degree of expertise among the individuals engaged in production activities can be observed. These are the people with specific knowledge of the tools and procedures being employed on the factory floor. But as a machinetool industry emerges, and, with it, companies and factories without machinists – the technician who is capable of rebuilding the machinery or the tool – a vast body of specialised knowledge disappears from the site of use and reappears at the other site – the capital good or tool producer. After the emergence of the tool industry, the production operations are comparatively „deskilled“, involving a relocation of learning and knowledge towards the new tool producers. (Foray/Raffo 2014: 1708)
Die Bedeutsamkeit der „educational tool industry“ für den Bildungssektor wird von Foray und Raffo weiter durch die These betont, dass es diesem dramatisch an Innovationen mangele.16 Kritisiert werden in diesem Zusammenhang letztlich praxisferne Lehrerausbildungen bzw. die zugehörigen Wissenschaften. Man leide im Bildungssektor unter der Unfähigkeit „instructional technologies“, „practical knowledge“ und „know-how regarding pedagogy“ bereitzustellen bzw. abzurufen (vgl. Foray/Raffo 2014: 1708f.). Die Autoren sprechen von einem „delivery problem“ der Schulen und sehen die „Lehrmittelindustrie“ als Ausrüster der Schulen und als Lösung für dieses Problem. Um die Innovationskraft der Ökonomie zu unterstreichen und gleichsam Licht in die Aktivität der „educational tool industry“ zu bringen, betrachten und filtern Foray und Raffo internationale Datenbanken mit Patentanmeldungen. Es steht somit die Frage im Zentrum, wie viele Firmen in welchem Zeitraum Patente für den Bildungssektor angemeldet haben. Die Autoren halten fest: „We observe the formation of a tool industry: a population of specialised firms that invent, design and commercialise educational tools. Such a process, as in any historical case of tool industry emergence, involves a process of delocalisation of knowledge – at least in part regarding the delivery of the educational service. There is a sort of shift in knowledge „holding” that involves the emergence of a new site of knowledge accumulation: the tool producer.“ (Foray/Raffo 2014: 1713) Sie betonen den – angenommenen – Gewinn einer Flexibilisierung der Tools durch die Trennung von Entwicklung und Gebrauchsstätten. Zudem wird die besondere Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologie hervorgehoben.17 Mit Blick auf das unterstellte Defizit an Innovationen
|| 16 Die Autoren räumen jedoch selbst ein, dass sich „Innovationen“ im Bildungssektor schwer empirisch fassen lassen, es unklar ist und auch mit ihrem Artikel unklar bleibt, auf welche definierte Ziele sie sich beziehen und was Innovationen letztlich genau sein sollen. 17 Bei der Betonung der Bedeutung von ICT (Information and Communication Technology) gehen Foray und Raffo so weit, dass sie digitale Informationstechnologie als Quelle der Innovationen für den Bildungssektor beschreiben: „It seems that the renaissance of innovation in practices and methods of pedagogy and instructions is strongly associated with the dynamics of ICTs.“ (Foray/Raffo 2014: 1713). Vor dem Hintergrund, dass verbreitete Lernsoftware simplifizierend-behavioristischen Lernkonzepten eine Renaissance im Klassenzimmer ermöglichte, erscheint diese Einschätzung zumindest fraglich.
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im Klassenzimmer sei es eine gute Nachricht, dass eine wachsende Zahl an Unternehmen den Lehrmittelmarkt entdecke: „Given our observation and discussion of the innovation deficit in „the core“ of the system (the classroom), it is good news that a growing population of entrepreneurs is entering the market for new educational tools. Companies competing to invent and commercialise tools are expected to play a great role in enhancing innovation and productivity in the downstream sector.“ (Foray/Raffo 2014: 1713) Jenseits der normativen Anpreisungen einer sich den Schulen annehmenden Wirtschaft, ist die Analyse der Verlagerung von (schulischem) Wissen in die Zuliefererfirmen der „Lehrmittelindustrie“ ebenso spannend wie beforschenswert. Die betonte Abwanderung von Expertise zu den Tool-Entwickler(inne)n unterstreicht die Relevanz, sich der „Lehrmittelindustrie“ zuzuwenden, eben hier schließe ich empirisch an. Ob sich dieser Wissensverlagerung oder auch nur der Entwicklung und dem Wachstum der „Lehrmittelindustrie“ über die statistische Analyse von Patentanmeldungen empirisch genähert werden kann, erscheint fraglich. Es stellt sich z. B. die Frage, ob es innerhalb der „Lehrmittelindustrie“ um die Entwicklung und Patentüberführung von neuem Wissen oder vielmehr um die anschaulichmaterialisierende Aufbereitung und Reproduktion von historisch gefestigtem Wissen geht. Vor dem Hintergrund der von Foray und Raffo interpretierten Zahlen entsteht zudem der Eindruck, dass es sich bei dem Aufkommen der „Lehrmittelindustrie“ um eine neuartige Entwicklung handelt. Die Vorstellung, man habe es hier mit einem kürzlich entstandenen Wirtschaftszweig zu tun, dessen Entwicklung langsam Fahrt aufnimmt und der die Bildungsinstitutionen schon bald innovativ reformieren wird, lässt sich jedoch – für den deutschsprachigen Raum – nicht halten. Auch wenn ein Interesse an der historischen Analyse der „Lehrmittelindustrie“ bzw. Bildungswirtschaft innerhalb der Bildungswissenschaften kaum wahrnehmbar und die Quellenund Publikationslage äußerst dünn ist, gibt es doch vereinzelte Hinweise auf die weit zurückreichende Entwicklung dieser Industrie. In einer Veröffentlichung von 1908 stellt der Österreicher Hans Kleinpeter konzeptionell-kritische Überlegungen zu den Zuständen, Schulbezügen sowie Handlungs- und Arbeitsweisen innerhalb dieser Industrie an. Kleinpeter betont die Bedeutung, die Mechaniker, Chemiker, Optiker und Elektriker für die Fertigung von Apparaturen des „Lehrmittel-Industriezweigs“ haben, er verweist aber auch auf notwendige Präparatoren von Naturkörpern u. v. m. Zudem hebt er die Verpflichtung des Lehrers hervor, wenn es gilt für den Zustand der schulischen „Sammlung“ Sorge zu tragen (vgl. Kleinpeter 1908: 3ff.). Bei all dem zieht Kleinpeter die deutsche „Lehrmittelindustrie“ als positives Kontrastbeispiel zur heimischen Industrie seiner Zeit heran: Während die größeren deutschen Firmen [...] eigene Werkstätten, ja man kann sagen, fast eigene große Fabriksanlagen besitzen, in denen unter Leitung eines besonderen technischen Beamtenpersonales eine geschulte Arbeiterschaft am Werke tätig ist, erachtet der Wiener Lehrmittel-Unternehmer nichts davon für nötig; nicht einmal der Chef des Unternehmens pflegt fachliche
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Kenntnisse zu besitzen und noch viel weniger gestattet er sich den Luxus eines angestellten Physikers oder Technikers; statt dessen begnügt er sich für seine Person mit rein kaufmännischer Vorbildung [...]. (Kleinpeter 1908: 5)
Die positive Entwicklung der „Lehrmittelindustrie“ in Deutschland verknüpft Kleinpeter mit den Erfolgen der Naturwissenschaft. Das Wirken von Männern wie Liebig, Fraunhofer, Krupp, Siemens und der großen deutschen Naturforscher des 19. Jahrhunderts trug seine Früchte auch über die engeren Grenzen ihrer Tätigkeit hinaus. So wie sich Deutschland eine mächtige Großindustrie schuf, entwickelte sich auch eine eigene Präzisions-Mechanik großen Stiles und eine eigene Lehrmittel-Großindustrie, die jene seiner westlichen Nachbarstaaten nicht nur erreicht, sondern schon längst überflügelt hat. (Kleinpeter 1908: 3)
Kleinpeter führt verschiedene Zahlen an, die die Entwicklung von Unternehmen bemessen und den konstatierten Aufschwung illustrieren sollen (angestelltes Personal, Werksfläche in Quadratmetern u. a.). Letztlich wird die Spezifik des Wirtschaftszweigs deutlich, der mit seinen ökonomischen Ansprüchen geschildert und zwischen Naturwissenschaften und den speziellen Bedürfnissen von Schulen verortet wird. Ferner tritt mit den Ausführungen beachtlich hervor, wie schon vor fast 110 Jahren die Notwendigkeit, Organisation, gesellschaftliche Verstrickung und Etablierung dieser Industrie reflektiert wurde. Einige Jahre nach Kleinpeters Beitrag gründete sich in Deutschland (1920) der „Verband der Lehrmittelverleger und -fabrikanten“, der acht Jahre später die Organisationsform eines Vereins annahm und aus dem sich die „Vereinigung deutscher Lehrmittelhändler“ löste. Die in den Nachkriegsjahren aufgelösten Organisationen hinterließen eine Leerstelle, die 1949 mit dem „Deutschen Lehrmittelverband“ gefüllt wurde. Diesem „Fachverband der deutschen Lehrmittelhersteller und -händler“ gehörten damals 15 Firmen an. Mit steigenden Mitgliederzahlen etablierten sich regelmäßig stattfindende Messen unter der Schirmherrschaft des Fachverbands. Seit 1956 werden diese „europäischen Lehrmittelmessen“ erstmals unter dem Namen „didacta“ ausgerichtet. Mit zunehmendem Erfolg der Messe benennte sich der „Deutsche Lehrmittelverband“ 1985 in „Deutscher Didacta Verband“ um. Die seit 1967 stattfindende Messe des „Verbands der Schulbuchverlage“ – die „Interschul“ in Dortmund – fand bis 1999 räumlich getrennt, aber in terminlich-konkurrierender Nähe zur „didacta“ statt. Nachdem die Messen fusionierten, wurde die gemeinsame Veranstaltung 1999 unter dem Namen „Interschul/didacta“ durchgeführt. In der Folge konnte sich nur die Bezeichnung „didacta“ (mit dem neuen Untertitel „die Bildungsmesse“) behaupten. Der „Deutsche Didacta Verband“ wechselte 2003 erneut den Namen in „Didacta Verband – Verband der Bildungswirtschaft“.18 Mit diesem
|| 18 Für eine Chronik der Entwicklung siehe http://www.didacta.de/download/Chronik_PM.pdf [Zugriff: 16.04.2015]
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Wechsel wurden die bisher lediglich ausgesparten Begriff „Lehrmittelhersteller und -händler“ ersetzt: Bildungswirtschaft ist die neue Selbstbezeichnung. Nach Angaben des Verbands gruppieren sich heute unter seinem Dach 250 Unternehmen und Organisationen der Bildungswirtschaft. Der Verein arbeite für die Marktchancen dieser Mitglieder und setze sich in ihrem Namen – so die Selbstaussage – für den Einsatz qualitativ hochwertiger „Lehr- und Lernmittel“ sowie der bedarfsgerechten Einrichtung bzw. Ausstattung aller Lernorte ein. Derzeit versammeln sich auf der „didacta“ jährlich annähernd 1000 Aussteller aus der Bildungswirtschaft, um auf der Messe um die ca. 100.000 Besucher(innen) zu werben. Vor dem Hintergrund dieser Organisationsgeschichte, der verbundenen Zahlen, ihrer Entwicklung und mit dem letztlich formulierten Anspruch des Verbands, sich aktiv in die Diskussionen zur Weiterentwicklung der Bildungssysteme einzubringen, zeichnet sich auch die lobbyistische und gesellschaftliche Relevanz der Bildungswirtschaft ab.19 Ferner wird deutlich, dass es sich bei der Bildungswirtschaft keinesfalls um eine neuartige Marginalie der ausgerufenen Bildungsgesellschaft handelt. Die gegenwärtige wie historische Bedeutsamkeit dieser Industrie für Schulen wird ersichtlich. Die Bildungswirtschaft erscheint für das ökonomische Betreiben von Schulen derzeit unabdingbar. „Man stelle sich den Aufwand vor, wenn jeder Lehrer und jede Lehrerin ernsthaft ihre ‚methodische Freiheit‘ nutzen und die eigenen Lehrmittel erfinden würde.“ (Oelkers 2010: 19) Erfindungen bzw. Innovationen (vgl. Foray/Raffo 2014) für die Schulpraxis werden somit vielfach als Produktentwicklungsaufgaben der Industrie verstanden. Wenngleich die Bildungswirtschaft als bildungswissenschaftliches Forschungsfeld noch weitgehend im Dunkeln liegt, ist über die wirtschaftliche Produktentwicklung bzw. die Genese von Erfindungen und Innovationen vielfältiges empirisches Wissen erarbeitet worden. Dies insbesondere durch die Arbeiten der Technikgeneseforschung.
Exkurs: zum Technikbegriff Bell fasst „intellektuelle Technologie“ als Regeln zur Lösung von Problemen, die häufig mit technisch-materiellen Werkzeugen (z. B. dem Computer) verknüpft sind. Auch die – oft naturwissenschaftlichen – Problemstellungen der nachindustriellen Wissensgesellschaft haben vielfach einen materiell-technischen Charakter (z. B. Verhältnis von Kraft und Entfernung bei Objekten, Druck von Gasen) und können zu gesellschaftlich wichtigen technologischen Objekten führen (vgl. Bell 1996: 43ff.). Deutlich wird der Facettenreichtum des Technologie- und Technikbegriffs: „Wenn wir von Technik sprechen, denken wir wohl an Autos, Kühlschränke, Fernsehapparate, an Fabriken oder an technische Einrichtungen von Krankenhäusern. Wir denken an den Fortschritt der Naturwissenschaften und an ihre Anwendung in der industriellen Produktion. Aber es gibt auch eine Technik der Diskussionsleitung, der Gesprächsführung und des Vortrags. Es gibt Techniken der Verwaltung und Organisation. [...] Es gibt eine Technik der Forschung, des Experimentieren und eine Technik des Künstlers, diesen besonderen Pinselstrich eines Malers [...].“ (Sachsse 1978: 1) Vertreter einer „sachtechnischen Techniksoziologie“ schlagen vor, den Technikbegriff spezifisch zu fassen und auf Artefakte zu begrenzen, die als materialisierte soziale Sachverhalte begriffen werden (vgl. Joerges 1988: 10ff.).
|| 19 Zu den Angaben des Verbands vgl. http://www.didacta.de/Ueber-uns.php [Zugriff: 16.04.2015]
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Aus dem Lateinischen übersetzt wird mit dem Artefakt die „Kunstfertigkeit“ und das „Hergestellte“ bedeutungsgebend. Wenn Zirfas und Klepacki nach dem Performativen von Dingen in Bildungsprozessen fragen und das Performative dabei als die Stilisierung bzw. das Design der Dinge verstehen, wird deutlich, dass der Begriff „Ding“ als Oberkategorie fungiert, unter die auch Artefakte – als besondere, technologische Dinge – geordnet werden, die vielfach aus der Industrie stammen: „Unter Ding soll hier ein sinnliches, körperlich Gegebenes verstanden werden, wobei vor allem Artefakte, d. h. (Konsum-)Güter und Technologien im Mittelpunkt stehen werden.“ (Zirfas/Klepacki 2013: 54) Rammert unterscheidet zwischen Technik im engeren und weiteren Sinn: „Unter Technik im engeren Sinne werden häufig die sachlichen Artefakte verstanden. Die stofflichen Verkörperungen zweckmäßiger Mittel gelten als eigentliche Technik.“ (Rammert 1993: 10; H. i. O.) Im weiteren Sinn von Technik werden – ähnlich wie schon bei Max Weber – Verfahrensweisen bzw. Handlungen gefasst, „die methodischen Operationsregeln folgen und strategisch einen bestimmten Zweck anstreben“ (Rammert 1993: 11). Mit dem angeführten Beispiel des „natürlichen Zeugen“ von Wagenschein (siehe Kapitel 1.1) entfaltete ich am Begriff des Artefakts eine kritische Reflexion der vermeintlich intersubjektiven Gegenüberstellung von Natur und Menschenwerk. Der Technologiebegriff sollte m. E. nicht auf Artefakte verengt werden. Auch angeblich unverarbeitete Dinge können z. B. als Bestandteil von didaktischen Verfahrensweisen und Planungen, wichtige Technologie (für den Unterricht) darstellen. Die technische Dimension von Lehrmaterialien verdeutlicht sich damit, dass mit diesen bestimmte unterrichtliche Handlungen verbunden werden bzw. entstehen. Diese unterrichtskonzeptionelle Involvierung von Dingen ist nicht selten eine Aufgabe, der sich innerhalb der Bildungswirtschaft angenommen wird.
1.2.2 Technikgeneseforschung Verhältnismäßig lange Zeit fanden sich technikdeterministische Sichtweisen in Soziologie, Philosophie, Anthropologie und auch Theologie. Technik wurde meist als treibende Modernisierungskraft gesehen, die machtvoll eine Anpassung der Gesellschaft erzwingt und ohne die der Mensch in Hilflosigkeit versinkt (vgl. Gehlen 1957). Es wurde von einem dominanten Wesen der Technik ausgegangen, dem der Mensch ausgeliefert sei (vgl. Ellul 1964). Im Gefolge dieser Sichtweise ging es somit primär um Technikfolgen für die Gesellschaft und das Postulat der „Theorie der kulturellen Phasenverschiebung“ („cultural lag“), dass die Gesellschaft bzw. die immaterielle Kultur den vorangeschrittenen technischen Innovationen stets nachhastet (vgl. Ogburn 1923, 1969). Ein soziologisches Interesse an der Entstehung von technischen Geräten findet sich seit den 1970er-Jahren. Technische Geräte und die verbundenen Innovationen werden dabei „soziotechnisch“ in ihrer Verwendung und Entstehung in sozialen Handlungszusammenhängen gesehen. Mit den Arbeiten von Hans Linde und Bernward Joerges wird Technik als sozialer Sachverhalt begreifbar. Insbesondere die Herstellung, Normierung, Widerständigkeit und Strukturierung von Alltagstechnik gerät in den Blick dieser „sachtechnischen Techniksoziologie“. Fertige und gefestigte Technik könne nicht als neutrales Instrument und Wachs in unseren Händen verstanden werden, es gelte vielmehr, dass sie bestimmte (soziale) Verhaltensweisen
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erst hervorbringt und statisch-kanalisierend bestimmt. Es geraten so die Strukturprinzipien soziotechnischer Phänomene und die verbundenen Innovationen in den Blick (vgl. Linde 1982; Joerges 1996). Innovationen – zunächst schlicht verstanden als Hervorbringungen, die neuartig sind, – sind nach Linde zurückzuführen auf Strukturerfindungen oder Funktionserfindungen. Erstere stellen Optimierungen der vorhandenen Technik dar, während letztere neue funktionale Prinzipien und neue Möglichkeiten der Nutzung einführen (vgl. Linde 1982: 8, 1988: 142ff.). Auch Schumpeter unterscheidet für die Beschreibung wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels Phasen relativ statischer Verbesserungen, Imitationen bzw. Anpassungen sowie Phasen der perturbierenden Innovation. Diese Innovationen werden als Produkte gesellschaftlicher Prozesse bzw. Handlungen verstanden und ihnen wird ein Potenzial zur („schöpferischen“) Zerstörung des Alten zugesprochen (vgl. Schumpeter 1964).20 Es gerät die enge Verknüpfung von wirtschaftlichem Unternehmertum und Technikgenese bzw. Innovation in den Blick (vgl. Schumpeter 1964: 110ff.). Aus ökonomischer Sicht werden technologische Innovationen vielfach in Produkt- und Prozessinnovationen geteilt. Während sich Produktinnovationen auf neuartige Waren beziehen, sind mit Prozessinnovationen Erneuerungen von Betriebsabläufen respektive Produktionssteigerungen gefasst: „technological product and process innovations' comprise of implemented (i.e. introduced on the market or used within a production process) technologically new products (means both goods and services) and processes as well as significant technological improvements in products and processes.“ (Organization for Economic Co-operation and Development 1997: 31) Den technischökonomischen Innovationen wird teils eine vermeintlich abgegrenzte Gattung von Innovation gegenübergestellt: die gesellschaftlichen Innovationen. „Innovation wird gern im Gegensatz zur Technik als ein modernes Phänomen angesehen. Das gilt gleichwohl für die engere technische Neuerung wie auch für die gesellschaftliche Innovation. [...] Die Neuzeit beginnt jedoch schon früher, und die Neuerungen sind nicht nur auf diejenigen in Technik und Wirtschaft beschränkt.“ (Rammert 2008: 294; H. i. O.) Eine deutliche Trennung zwischen technischen und gesellschaftlichen Innovationen wird vielfach kritisiert. Braun-Thürmann rekurriert auf ein für meine Arbeit anschlussfähiges Beispiel zur Verwobenheit von gesellschaftlichen und technischen
|| 20 Die Dynamik von Innovation und ihr Kontrast zur relativen Statik von Technik zeichnen sich in den bisher rezipierten Arbeiten ab. „Im Hinblick auf die technischen Innovationen kann man dann zugespitzt formulieren: mit Technik wird die statische Seite der Gesellschaft angesprochen, nach der ihre Erwartungen, Beziehungen und Regeln gefestigt und auf Dauer gestellt erscheinen (versachlichte Sozialbeziehungen, verdinglichte Anschlusshandlungen, künstliche Kommunikation). Mit Innovation rückt die dynamische Seite der Gesellschaft in den Vordergrund, auf der sie sich verflüssigt und rekonfiguriert, indem ihre Regeln und Elemente zum Spielball kritischer und konstruktiver Praktiken, kreativer und destruktiver Kräfte werden (Erforschen, Spielen, Basteln und Experimentieren), [...].“ (Rammert 2008: 295)
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Innovationen: Anhand der „Erfindung“ des Kindergartens wird die gegenseitige Bedingung exemplarisch aufgezeigt. Es geht dabei um die materielle Dimension der Institution in ihrer Relevanz für Kinder: Maria Montessori […] griff als Reformpädagogin diesen materiellen Aspekt [von Friedrich Fröbel, J. L.] nochmals in besonderer Weise auf, indem sie ihr Konzept von Schulung der kindlichen Wahrnehmung durch das bestimmte Design des „Spielzeugs“ zu verwirklichen suchte. Mit der technologischen Innovation des Montessori-Materials sollte es möglich sein, die kindliche Beobachtungsgabe, das Zuordnungs- und Unterscheidungsvermögen zu üben und so dem Kind zu verhelfen, vom konkreten Schauen zum abstrakten Denken zu gelangen. Üblicherweise wird der Kindergarten als gesellschaftliche Innovation begriffen. Doch wie ich es zu zeigen versucht habe, gehört dazu auch die Innovation auf der Ebene des Technologischen in Gestalt eines speziellen Spielgeräts, ohne das die gesellschaftliche Innovation des Montessori-Kindergartens nicht funktionieren würde. (Braun-Thürmann 2005: 28f.)
Bildungsinstitutionen werden als prädestiniert-exemplarische Beispiele für die enge Verwicklung von technisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Innovationen verstanden. Eben die speziellen „Spielgeräte“ bzw. unterrichtlichen Materialien haben – wie aufgezeigt wurde – eine entscheidende ökonomische Dimension. Es stellt sich die auch bildungswissenschaftlich relevante Frage, wie der Vollzug und die Entstehung von Innovationen in der Industrie genauer beschrieben werden können. Klassischerweise kann zunächst auf zwei elementare Mechanismen verwiesen werden, die sich auf die Ursachen von Innovationen beziehen: Zum einen wird im Sinn eines Demand-Pull-Ansatzes darauf verwiesen, dass die Nachfrage auf dem Markt verbesserte Produkte hervorbringt, indem Entwickler(innen) die Wünsche der Kunden bedienen (vgl. Schmookler 1966). Auf der anderen Seite geht der TechnologyPush-Ansatz davon aus, dass neue Technologie als radikal-revolutionäre (Produkt-)Änderung Nachfrage generieren kann.21 Diese Technologieschübe sind nicht auf erhobene Kundenwünsche bezogen, können ökonomisch scheitern oder erfolgreich neue Märkte schaffen. Um sich derlei Innovationsprozessen und den verbundenen Risiken ökonomisch anzunähern, sie auf einer Mikroebene der Organisation zu beschreiben und für Unternehmen handhabbar zu machen – bzw. sie als handhabbar erscheinen zu lassen –, wird häufig auf lineare Modelle zurückgegriffen. Prominentes Beispiel ist das von Cooper (vgl. Cooper 1990; Cooper/Kleinschmidt 1993) entwickelte Stage-Gate-Model, mit dem der Innovationsprozess als graduell-zielgerichteter Produktentwicklungsprozess einen Planungs- und Handlungsrahmen für Firmen beschreibt. Dies im Sinn einer Orientierung stiftenden Roadmap, auf der es klar abgegrenzte Phasen („stages“, z. B. „discovery, scoping, development, launch“) und angeschlossene Kontrollpunkte („Gates“) gibt. Bei letzteren handelt es sich um
|| 21 Auch wenn beide Mechanismen heute kritisch ausdifferenziert wurden und keinen absolutistischen Gültigkeitsanspruch geltend machen können, lassen sich doch verschiedene Fälle und Beispiele mit ihnen erklären.
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„go/kill decision points” für erstere (vgl. Cooper 1990: 46). Diese normativen Prozessmodelle einer wirtschaftlichen „Best Practice“ gerieten vor allem in Bezug auf ihre Linearität in die Kritik. Innovationen und Neuentwicklungen sind als Prozesse weniger gerichtet zu beschreiben, ihnen wohnen genuin Abbrüche und zirkulierende Rückkopplungen inne (vgl. z. B. Maidique/Zirger 1985). Damit geraten die aufbauenden Abfolgen der Phasen ebenso in die Kritik wie ihre unterstellte Trennbarkeit. Die Praxis ist letztlich komplexer und weniger gerichtet, beispielsweise kann es auch später im Prozess zu relevanten Entdeckungen oder Erfindungen kommen, die es zu berücksichtigen gilt (vgl. Hughes 1976). Nonlineare Beschreibungen von Innovationsprozessen betonen somit die Rekursivität der Prozesse (vgl. z. B. Braun-Thürmann 2005), beschreiben fließende Übergänge zwischen kaum zu trennenden Phasen und ihren auch zeitlich wenig graduell-regelmäßigen Verlauf. Mit erneutem Bezug auf Schumpeter kann von zyklischen Verläufen gesprochen werden, mit denen sich die Phasen der Innovation und Imitation abwechseln (vgl. Schumpeter 1964). Neuerungen können so vielfach in Anlehnung an ein evolutionäres Modell erklärt werden. Auch wenn hierbei eingeräumt wird, dass Technik nicht sprichwörtlich vom Himmel fällt, stehen die konkreten Verfertigungspraktiken von Technik noch nicht im empirischen Interesse entsprechender Modellierungen. In starker Abkehr der eingangs dargelegten technikdeterministischen Sichtweise postulierte eine neuorientierte Techniksoziologie der 1980er-Jahre die technikkonstituierende Rolle der agierenden Entwickler(innen) in sozialen Handlungszusammenhängen. In den empirischen Fokus gerieten so Entscheidungsprozesse der Akteurinnen und Akteure der Technikgenese bzw. das Machen von Innovationen. Die Analysen führten zu einer sozialkonstruktivistischen Sicht auf die Entstehung von Technik und soziotechnischen Systemen (vgl. z. B. Bijker et al. 1987; Weyer et al. 1997; Rip/Schot 2002). Damit wendet sich der Blick ab von einer vermeintlichen Prägung der Gesellschaft durch Technik und fokussiert die Formung der Technik durch Menschen. Das empirische Interesse gilt den Aushandlungen, den Kontroversen, dem Grad an interpretativer Flexibilität der Entwürfe, der situativen und retrospektiven Bewertung von Kriterien sowie den Prozessen der „sozialen Schließungen“, mit denen sich Kompromisse finden und ein bestimmtes Design durchgesetzt wird (vgl. Rammert 2007: 28). Diese Schließungen sind nicht als objektiv „beste“ Lösungen zu verstehen. Pinch und Bijker haben z. B. an der Entwicklung des Fahrrads aufgezeigt, dass schon deswegen nicht davon gesprochen werden kann, dass sich die „beste“ und überlegene technische Variante durchsetzt, weil unterschiedliche soziale Akteurinnen und Akteure auch unterschiedliche technische Lösungen als Ideal favorisieren (vgl. Pinch/Bijker 1987). Van Lente und Rip zeigen, dass am Anfang der Entwicklung Storys ausgebreitet werden, die nicht unbedingt an den aktuellen Stand der technologischen Entwicklung gebunden sein müssen. Diese Erzählungen bedingen und lenken die Entwicklung, können sich aber auch selbst vor dem Hintergrund der Entwicklung verändern. Die Storys und die verbundenen Versprechen der Technik konkurrieren untereinander und sind verknüpft, es geht um das jeweils favorisierte
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Bild der Zukunft und die verschiedenen menschlichen Rollen in dieser (vgl. Lente/Rip 1998: 224). „Since implications for action are drawn, the stories become assembled into a repertoire used by actors to define possibilities and strategies, as well as to evaluate the actions of others. Thus, prospective structures emerge, i.e. arrangements that do not yet exist, but are nonetheless forceful due to the perceived implications of the projected future.“ (Lente/Rip 1998: 206) Geschichten können zu Szenarien werden und Szenarien zu einer kollektiven Agenda der Akteurinnen und Akteure. Letztlich gilt es die verbundenen Erwartungen – die einst Versprechen waren – in technische Anforderungen umzuformen und als Handlungsorientierungen und Funktionen der Technologie zu realisieren (vgl. Lente/Rip 1998). Auch Braun-Thürmann hält fest: „Das Objekt am Ende eines Innovationsprozesses ist mit dem, was anfänglich intendiert, geplant und entworfen wurde, selten identisch.“ (Braun-Thürmann 2005: 63f.) Über das Konfrontieren normativer Annahmen mit (betrieblicher) Praxis gerät z. B. in den Blick, dass es nicht so ist, dass alle Mitarbeiter(innen) eines Unternehmens gleiche, verpflichtende und rationale Ziele verfolgen. „Weit realistischer ist es, ein Unternehmen als eine Arena zu begreifen, in der differente Wahrnehmungs- bzw. Urteilsschemata, Handlungslogiken und Interessen aufeinander treffen und in einem Innovationsprozess verhandelt werden.“ (Braun-Thürmann 2005: 25) Warum sollte sich eine bildungswissenschaftliche bzw. schulpädagogische Arbeit der „Arena- Bildungswirtschaft“ auf Grundlage der skizzierten soziologisch-sozialkonstruktivistischen Technikgeneseforschung zuwenden? Die Fragestellung, wie Unterrichtsmaterialien entworfen, ausgehandelt, sozial geschlossen und konstruiert werden, ist für Schulpädagogik und Fachdidaktiken weitreichend. Sie verlangt ihnen einen Perspektivwechsel auf Unterrichtsmaterial ab. Ist in Schulpädagogik und Fachdidaktik die Rede von „Lehr- und Lernmittel“, so werden diese (1) vielfach – und meist dann, wenn sie tradiert-analog sind – als neutrale Werkzeuge, Instrumente, Zweckmittel und Sklaven des Unterrichts verstanden, die den in Kapitel 1.2 zitierten „dienenden Charakter“ (Oelkers 2010: 20) haben sollen. Oder sie werden (2) – meist dann, wenn sie digital-medial sind – dämonisierend bzw. glorifizierend hinsichtlich ihrer wirkmächtigen Folgen für den Unterricht diskutiert. Die Unzulänglichkeiten beider Sichtweisen lassen sich auf Basis der bisherigen Ausführungen zur Technikgenese aufzeigen und in ein Forschungsplädoyer überführen. (1) Die technikanthropologische Haltung, dass Technik als Mittel zum Zweck dem Menschen dient, findet sich schon in der pädagogisch beeinflussten Technikphilosophie von Ernst Kapp (vgl. Kapp 1877). Sie ähnelt der gesellschaftlich verbreiteten Vorstellung von Technik als „verfügbare Ressource“ und wird von einer modernen Techniksoziologie als unzureichend angesehen (vgl. z. B. Rammert 2008: 291ff.). Auch schulische Technik (verstanden als Materialien mit denen unterrichtliche Verfahrensweisen und Handlungen verbunden sind) ist mehr als neutrales Werkzeug und verdient eine erweiterte empirische Aufmerksamkeit. Die derzeit dominierende Forschung zu zweckdienlichen „Lehrmitteln“ fragt
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nach der Effektivität und sucht Antworten zur didaktischen Qualität: Wie gelungen ist das Werkzeug? Als ersten Schritt zu einem erweiterten Verständnis von schulischer Technik plädiere ich dafür, den Terminus „Lehrmittel“ zu meiden und stattdessen von „Unterrichtsmaterial“ zu sprechen, da sich im Begriff des „Mittels“ der neutral-zweckdienliche Charakter manifestiert. Ferner sind weitere empirische Arbeiten im Anschluss an Forschungen anzustellen, die – z. B. in Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie – für Materialien eine größere Partizipation an unterrichtlichen Lern- und Bildungsprozessen konzedieren (vgl. Sørensen 2009; Fetzer 2010; Fenwick/Edwards 2010; Kalthoff/Röhl 2011; Röhl 2013; Asbrand et al. 2013). Mit einem solch erweiterten Blick auf die technischen Materialien im Unterricht kann die Fokussierung auf sie als passive (Lehr-)Mittel zum Zweck überwunden werden. Es gilt, eine posthumanistische Sichtweise auf die Materialität des Lernens einzunehmen (vgl. Sørensen 2009: 137). (2) Die angenommene Wirkmächtigkeit von schulischer Technik tritt vor allem mit Diskussionen hervor, in denen die Frage verhandelt wird, ob es eine Pflicht und Chance der Schule ist, den neuen Technologien (aus der die Schule umgebenden Gesellschaft) Einlass in die Klassenzimmer zu gewähren – oder ob damit Probleme importiert werden. Bringt das interaktive Whiteboard eine neue Frontalausrichtung des Unterrichts aufgrund seines aufmerksamkeitsabsorbierenden Wesens und seiner Stellung im Klassenraum? Oder wird mit seiner multimedialen Bündelung und Flexibilität nun alles besser, wenn sich die Lehrer(innen) einlassen und den Umgang erlernen? Sollen Unterrichtsstunden an neue Technologien angepasst, ihre Potenziale genutzt und die Schüler(innen) an sie herangeführt werden oder soll es nicht vielmehr die Pflicht der Schule sein, sich in Teilen zu verschließen und ein bewusstes Kontrastprogramm, ein Moratorium zu bilden, mit dem sich wieder auf das Tradierte und seine Mittel besonnen wird? In diesem Sinn äußert sich Hentig exemplarisch zum Einzug des Computers in die Schulen: „Wir werden niemanden medienkompetent machen, wenn wir nicht selber erst ernstlich geprüft haben, was für eine neue Welt uns die Medien bescheren, und dann entscheiden ob wir unsere Kinder dem unterwerfen oder sie abhärten oder sie davon befreien.“ (Hentig 1999: 155) In der Hentig entgegengebrachten Kritik, dass er hier eine bewahrpädagogische Grundhaltung offenbare (vgl. z. B. Böhme 2006: 41), spiegelt sich letztlich nur das Dilemma der schulischen Sicht auf Technik. Egal ob in dieser Diskussion die revolutionären Chancen oder die immensen Risiken hervorgehoben werden, dreht sie sich um die Folgen von Techniken und Innovationen.22 In den Diskussionen um neue Technik in Schulen ist eine fortwährende Verhandlung von Ogburns technikdeterministischem „cultural
|| 22 Beispielhaft für den zugehörigen und relevanzunterstreichenden Duktus: „[...] unzweifelhaft ist, dass die Neuen Medien nicht nur erhebliche Rückwirkungen auf Lernen und Lehren, sondern auch
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lag“ (1923) zu sehen: Soll die Schule anpassungswillig der Technik hinterher hetzen oder angesichts der angenommenen Unmöglichkeit den technischen Fortschritt einzuholen, die Verweigerung als Mehrwert verstehen? Die Techniken werden dabei stets als fertig und die Innovationen als vollzogen betrachtet, wenn ihr Eingang in die Schule verhandelt wird. Doch die Technik, die in die Schule drängt, ist ebenso wenig aus dem Nichts entstanden wie die Technik, die aus Firmen und Laboren ihren Weg in die Gesellschaft findet. Es gilt, die Blackbox der entwickelnden Unternehmen empirisch zu öffnen und sich der Bildungswirtschaft zuzuwenden. Auch wenn die Frage nach den Folgen der Technik für Schule und Gesellschaft in vielen Facetten relevant ist, geht mit ihr vielfach eine verengende und deterministische Sichtweise einher. Die von der Soziologie vollzogene Wende, weg von einem radikal anthropologischen und deterministischen Blick auf Technik, gilt es weiter, in Schulpädagogik und Fachdidaktiken zu etablieren. Als einen Schritt hierzu schlage ich vor, den Klassenraum zu verlassen und die Bildungswirtschaft als Feld bildungswissenschaftlicher Forschung zu entdecken. Der damit einhergehende Perspektivwechsel orientiert sich an der sozialkonstruktivistischen Technikgeneseforschung. Mit der vorliegenden Arbeit will ich daher diesen Schritt gehen und schulische Technik nicht als gegebenes Mittel oder Schicksal, sondern als menschliche Konstruktion in ihrer Entstehung erforschen.
1.2.3 Außerschulische Akteurinnen und Akteure der schulischen Praxis Da das Design bzw. die Entwicklung von schulischen Dingen zu großen Teilen in den Händen der Bildungswirtschaft liegt, sind die hier tätigen Akteurinnen und Akteure – so lässt sich vermuten – mit dem schulischen Unterricht verbunden. Für dieses Postulat bieten die Arbeiten der Laborstudien (siehe Kapitel 1.1) erneut wichtige Anschlusspunkte. So hebt beispielsweise Latour mit seinen Netzwerkanalysen hervor, dass Vernetzungen über Zeit und Raum hinweg gebildet werden können: Ein Architekt wirkt über die Materialisierung des fertiggestellten Gebäudes in lokale Situationen, die in diesem Haus zwischen anwesenden menschlichen und nicht menschlichen Wesen ablaufen (vgl. Latour 2001: 247f.). Über die Netzwerke bzw. gestalteten
|| auf die Erziehungs- und Bildungsaufgabe der Schule sowie generell auf alle gesellschaftlichen Bereiche pädagogischen Handelns haben.“ (Stadtfeld 2011: 69); siehe auch die Ausführungen zu „technischen Fortentwicklungen“ (Fernsehen, Lehrautomaten, Rechengeräten) als Ansätze für „[…] eine Revolution unseres traditionellen Unterrichtsbetriebes [...]“ (Heimann 1965: 7).
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Materialien können Handlungsaufforderungen vermittelt werden, indem Entwickler(innen) ihre entsprechenden Intentionen in die Dinge übersetzen.23 Es kann geltend gemacht werden, dass auch die Bildungswirtschaft, die zu ausgewähltem Wissen Artefakte entwickelt und diese in den Unterricht exportiert, so in konkreten Unterrichtssituationen zugegen ist, wirkt und mit den schulisch-lokalen Akteur(inn)en eine Verbindung eingeht. Es kann vermutet werden, dass das, was in der Industrie für den Unterricht entwickelt und hergestellt wird, Einfluss darauf haben wird, was in der Praxis des späteren Unterrichts passiert, es den Unterricht möglicherweise in einer spezifischen Weise strukturiert. Ich möchte in diesem Sinn und mit Blick auf die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft von außerschulischen Akteurinnen und Akteuren der schulischen Praxis sprechen, die über ihre Produkte translokal mit Schüler(inne)n und Lehrerinnen vernetzt sind. Über die Zuwendung zur Bildungswirtschaft als Forschungsfeld soll die verfertigende Bildung der Dinge situativ in den Blick genommen werden. Damit trete ich gewissermaßen einen Schritt hinter didaktische Arbeiten zurück, die selbst die Entwicklung optimierter Designs für schulische Lernprozesse anstreben (siehe Kapitel 1.2). Analysiert werden sollen etablierte Entwicklungspraktiken innerhalb der Bildungswirtschaft, mit denen Materialien für den alltäglich stattfindenden Unterricht entstehen. Es steht zu vermuten, dass die Gestaltungen in der Bildungswirtschaft durch verschiedene – bildungswissenschaftlich relevante – Faktoren bedingt werden, z. B. durch die Berücksichtigung der Pluralität staatlicher Lehrpläne, das Formulieren von Lernzielen, den Rückgriff auf bestimmte Leitbilder von Bezugswissenschaften, die Verhandlung von Unterrichtskonzepten und Lernprozessen oder durch die antizipierten Ansprüche von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n. Derartige handlungsleitende und -rahmende Aspekte bzw. Konzeptionen von „gutem“ Lernen können sich letztlich in einem unterrichtlichen Produkt materialisieren. „Es kommt auf die bewußte Einarbeitung der didaktischen Absicht in die Lehr- und Lernmittel an.“ (Holstein, zit. nach Heinrichs 1968: 3)24 Ob und wie derartige bewusste (oder unbewusste) Einarbeitungen didaktischer Absichten in das Material vorgenommen werden, steht als empirische Frage im Zentrum meines Interesses. In welcher Weise werden unterrichtliche Intentionen und Wissensbestände materialisiert? Mit der Konkretisierung des Forschungsvorhabens stellt sich ferner die Frage, welche konkreten Erzeugnisse aus den vielfältigen Angeboten der Bildungswirtschaft exemplarisch aufgegriffen und in ihrer Entwicklung beforscht werden sollen. Ich werde im Folgenden ein erkenntnisprädestiniertes Produkt vorstellen.
|| 23 Latour konzipiert Dinge als Akteure, die Bestimmtes in das Netzwerk einbringen, z. B. erschweren Anhänger das Verlegen des Schlüssels (vgl. Latour 1991: 104ff.). 24 Das Zitat von Hermann Holstein findet sich bei Heinrichs als einführendes Schmuckzitat ohne Datum oder Zuordnung einer Literaturangabe (vgl. Heinrichs 1968: 3). Es macht jedoch pointiert deutlich, was im empirischen Interesse meiner Arbeit steht und findet daher Eingang in diese.
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1.3 Prototypisch: Experimentierkoffer In den bisherigen Ausführungen wurden verschiedene konkrete Dinge für den Unterricht behandelt, z. B. Stabmagnete und Magnetsteine, Messgeräte, Kieselsteine, Lehrerhandbücher, Kartenständer oder Musikinstrumente (siehe Kapitel 1.1). Sie stehen für verschiedene Typen und Facetten von unterrichtlichem Material. Für die Forschung wähle ich ein Produkt der Bildungswirtschaft aus, das als prototypisch gelten kann und als solches möglichst viele Facetten und Typen von Unterrichtsmaterial in sich vereint: ein für das naturwissenschaftliche Lernen im Sachunterricht entwickelter Experimentierkoffer, der das ökonomische Erzeugnis eines der größten deutschen Unternehmen der Bildungswirtschaft ist.25 Dieser Koffer ist Teil einer tradierten Produktreihe, innerhalb derer sich verschiedene Koffer zu unterschiedlichen Themenblöcken finden, die einen naturwissenschaftlichen Bezug haben. Kennzeichnend für die Koffer ist der Gemeinplatz, dass sie jeweils nur im ruhenden und verschlossenen Zustand als einzelnes Ding, als Box wahrzunehmen sind. Öffnet man sie, so blickt man auf ein Sammelsurium von verschiedensten Subdingen. Diese Einzelteile bewohnen den Koffer, sind zum Teil sehr alltäglich (z. B. Steine, portionierte Materialproben, Gummiringe, Schnüre, Büroklammern, Wasserschalen), teils didaktisch aufbereitet (z. B. rechteckig geschnittene Holzplättchen), teils mit fach- respektive naturwissenschaftlichem Hintergrund (z. B. Thermometer mit verschiedenen Skalen, Saughebelhaken, Erlenmeyerkolben), teils sind sie speziell für den Koffer und damit für den Unterricht entwickelt (z. B. Messgeräte mit weggelassenen Skalierungen und Maßeinheiten zum selbst Nachtragen, eigene Periskope, Halterungen und multifunktionale Ständer). Somit ist jede Box ein Ensemble unterschiedlichster Dinge, die in speziell konzipierten und schulischen Wirkzusammenhängen aufgehen sollen: Als zusammengehörig konzipierte Dinge bilden sie jeweils ein eigenständiges Experiment (eine „Station“). Die Koffer beheimaten verschiedene dieser Experimente, mit denen Kinder umgehen und lernen sollen. Die beispielhafte Beschreibung der unterschiedlichen Dinge des Koffers dient zum einen dem Kennenlernen des Koffers als konkretem Forschungsgegenstand, zum anderen kann mit der Systematisierung seiner Inhalte eine allgemeine Begriffsarchitektur befragt werden. Wir sprechen von Lerndingen, wenn natürliche Objekte (etwa Kieselsteine) im Unterricht verwendet werden; wir sprechen von didaktischen Objekten, wenn es sich um schon bearbeitete natürliche Dinge (ein bemalter Kieselstein) handelt; wir sprechen von schulischen Artefakten, wenn es um materielle Objekte geht, die von der Lehr- und Lernmittelindustrie speziell für den
|| 25 Um dieses geeignet erscheinende Produkt auszumachen habe ich verschiedene Wege des Aufsuchens parallel beschritten: Zum einen habe ich Grundschulen und Lernwerkstätten besucht, um Blicke in ihre Material- und Klassenräume, Schränke und Regale zu werfen. Zum anderen habe ich verschiedene Internetseiten von Händlern und Entwicklern besucht.
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schulischen Unterricht entwickelt und distribuiert worden sind (etwa große Geodreiecke für die Tafel); und wir sprechen von eingeschulten Artefakten, wenn es um aus anderen Lebenswelten importierte, aber schulisch verwendbare Objekte geht (etwa Klangschale, Kuscheltier). (Wiesemann/Lange 2015: 262)
Dass die Gegenüberstellung von vermeintlich „natürlichen“ Dingen und Artefakten problematisiert werden kann, wurde mit Kapitel 1.1 aufgezeigt. Die mit dem Zitat vorgeschlagene Systematisierung sensibilisiert jedoch pragmatisch für die enorm vielfältige Gestalt und Herkunft unterrichtlicher Materialität. Die Systematisierung soll hier in erster Linie dazu dienen, beispielhaft aufzuzeigen, dass der ausgewählte Experimentierkoffer dieser Vielfalt gerecht wird. Die differenzierten Materialien spiegeln sich in den Koffern wider, die als Microsample unterrichtlicher Materialität gelten können: Für die Experimente wird teils auf „Lerndinge“, teils auf vom Hersteller modifizierte „didaktische Objekte“ oder „eingeschulte Dinge“ und teils auf eigens produzierte „schulische Artefakte“ zurückgegriffen. Somit berücksichtigt die Wahl des Koffers die materielle Pluralität des Unterrichts, die über einzelne „schulische Artefakte“ (also z. B. schulische Stabmagneten, Rechenplättchen oder Tafellineale) hinausreicht und dennoch in der Bildungswirtschaft ihre Verfertigung findet.26 Unterrichtsmaterialien bzw. unterrichtliche Materialien verstehe ich als eine der Begriffsarchitektur übergeordnete bzw. das mögliche Ding-Ensemble filternde Kategorie, mit der ich die Fokussierung meiner Arbeit herausstelle: Von den vielfältigen, alltäglichen, spezialisierten und potenziellen Dingen der Bildung27 werden nur die in den Blick geraten, die im Zuge von schulischem Unterricht relevant werden (sollen). Der Begriff des Unterrichtsmaterials berücksichtigt sowohl die didaktische Dimension des Lehrens als auch die mathetische Dimension des Lernens, ich ziehe ihn den Begriffen „Lehrmitteln“ oder „Medien“ vor.
Exkurs: Medialität statt Materialität? Wie dargelegt wurde, halte ich es für angebracht, den Begriff des „Lehrmittels“ zukünftig zu meiden. Er kann weder der komplexen Partizipation der Dinge in sozialer Verwicklung mit dem Menschen (siehe Kapitel 1.1), noch einem interaktionistischen Verstehen von Unterricht als gemeinsame und wechselseitige Hervorbringungsleistung der Schüler(innen) und Lehrer(innen) gerecht werden. Ich bemühe hingegen den Begriff des „Unterrichtsmaterials“, der sich vom Begriff des dienenden „Mittels (zum Zweck)“ distanziert. Es kann nun die Frage gestellt werden, ob Materialien nicht vielfach
|| 26 Es erscheint zumindest fraglich, ob die Erforschung der Entwicklung einzelner und schlichter schulischer Artefakte (z. B. Rechenplättchen) hinreichend erkenntnisproduktive Entdeckungspotentiale bieten würde. 27 Dinge der Bildung können z. B. auch Experimentieraufbauten im universitären Labor, Spielzeuge einer Kindertageseinrichtung oder Bergsteigerausrüstungen für erlebnispädagogische Angebote sein. Nohl verhandelt für seine „Pädagogik der Dinge“ zumeist ausgewählt gewöhnliche Dinge, z. B. Löffel, Puppen, Autos, Kamerazubehör oder Personal Computer (vgl. Nohl 2011).
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eine mediale Dimension haben, es sich also letztlich – im Sinn von Vermittlung – doch um „Lehrmittel“ handelt. „Die mit dem heutigen Begriff ‚Medien‘ gemeinten Sachverhalte sind für pädagogische Überlegungen seit jeher von Bedeutung, wenn dafür zunächst auch andere Begriffe verwendet wurden z.B. Lehr-, Lern-, Arbeits- oder Unterrichtsmittel.“ (Tulodziecki 2006: 389) Wenn „Medium“ – in einem breiten Verständnis als „Mittel“, „Mittelpunkt“ bzw. „Vermittler“ – letztlich nur eine moderne Bezeichnung für „Lehr- und Lernmittel“ darstellt, ist der Nutzen eines solchen unterrichtlichen Medienbegriffs gering.28 Ferner sieht man sich mit dem Problem konfrontiert, dass nahezu alles ein Medium sein kann: „Die inhaltliche Bandbreite des unterrichtsrelevanten Medienbegriffs ist […] groß. Sie reicht vom Körper des Lehrers (Mimik, Gestik, Artikulation), […] über Zeichensysteme (Sprache) bis zu einer Vielfalt von technischer Hard- und Software. Unter didaktischem Blickwinkel können im Grunde alle konkreten Objekte (etwa eine Blume) zu Medien werden.“ (Mitzlaff 1997: 273) Auch wenn somit nahezu alles als Medium bezeichnet werden kann, werden unterschiedliche Medien vielfach auf verschiedenen normativen Stufe verortet: Im pädagogischen Diskurs lässt sich beobachten, wie wertend verschiedene Arten der Medialität verhandelt werden. Obwohl der mediale Aspekt von tradierten „Lehrmitteln“ vielfach hervorgehoben wird, werden sie zugleich häufig in ihrer materiellen Dimension den neuartig-digitalen Medien konkurrierend gegenübergestellt und hinsichtlich ihrer jeweiligen Potenziale, Risiken und Grenzen verglichen (vgl. z. B. Stadtfeld 2011: 72). Verwiesen sei z. B. auf die Laudatio, die von Hentig unter dem Titel „Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit – Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die Neuen Medien“ auf die Tafel hält (vgl. Hentig 1984). Neue und alte Medien werden dabei deutlich voneinander separiert behandelt. Die Dualität manifestiert sich in der pädagogischen Debatte um Primär- und Sekundärerfahrungen: Während erstere z. B. mit haptischen, „echten“ Objekten gemacht würden, entstammten letztere aus – zumeist digitalen – Medien, denen auch in aktuellen Arbeiten vielfach die Ermöglichung sinnlicher Wirklichkeitserfahrungen und wertvoller Vermittlungen abgesprochen werden (vgl. z. B. Spitzer 2005: 2). Aus dem Blick gerät dabei die Verwobenheit von technisch-materiellen und symbolischen Aspekten, die einen spezifischen Medienbegriff ausmachen.29 Die relevante Einschränkung bei der Verwendung eines breiten Medienbegriffs für den Unterricht ist m. E. die Betonung des oben zitierten Werden-Könnens (vgl. Mitzlaff 1997: 273). Es verschiebt die Perspektive vom Objektivierten zum Praktizierten: Mit der zum Medium werdenden Blume wird deutlich, dass es eine Frage des didaktischen Gebrauchs ist, wann ein konkretes Objekt, Ding oder Lebewesen ein Medium ist. Es sind unterrichtliche Handlungen, die das Mediale am Materiellen ausmachen. Ein Ding ist nicht an sich Medium, kann aber zu diesem werden. Da es nicht das Anliegen meiner Forschung ist, unterrichtliche Praxis aufzusuchen, kann ich zu keinen empirischen Aussagen bezüglich Unterrichtsmedien gelangen: Ob und wie ein für den Unterricht entworfenes Material zum Unterrichtsmedium wird, entzieht sich den Situationen meiner Forschung. Es kann hingegen analysiert werden, ob und wie innerhalb der Bildungswirtschaft versucht wird, Materialien in bestimmter Weise zu präfigurieren, sodass Einschreibungen von Wissen oder Intentionen in der späteren Schulpraxis wieder auslesbar gemacht werden sollen. Ob und wie versucht wird, etwas in die Materialien zum Anlegen ihrer Agency eingehen zu lassen (vgl. Latour 2005:
|| 28 Es lassen sich in diesem Sinn Klassiker mit neuen Begriffen kleiden: „Als den eigentlichen Begründer der Mediendidaktik kann [...] der tschechische Pädagoge Johann Amos COMENIUS mit seinem 1658 veröffentlichten Buch ‚Orbis sensualium pictus‘ bezeichnet werden [...]“ (Meister/Sander 1999: 9). 29 Beispielsweise verweist Winkler auf die genuin inneren Spannungen des Medienbegriffs und nähert sich mit einer kumulativen Definition: Medien dienten (1) der Kommunikation und seien „Maschinen der gesellschaftlichen Vernetzung“ mit (2) symbolischem Charakter, sie seien (3) „immer technisch“, legten (4) dem Kommunizieren eine Form auf, überwinden (5) Raum sowie Zeit und würden (6) weitgehend unbewusst genutzt (vgl. Winkler 2004: 9f.).
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63ff.), kann als situative Handlung der Entwickler(innen) analysiert werden. Derartige Handlungen setzen bei der konkreten Materialität an, die ich in der Begriffsarchitektur voranstelle: Es geht um die vorbereitende Entwicklung und Aufladung von Unterrichtsmaterial.
Vor dem Hintergrund der Probleme bei der Fassbarkeit von unterrichtlichen „Medien“ – es kann nicht ohne die Verwendungssituation definitorisch bestimmt werden, welche Materialien Medien sind –, schlage ich vor, eine Unterscheidung zwischen originär schriftlichen (Buch, Heft, Kopie usw.) und originär haptischen Materialien (Magnet, Blume, Lineal usw.) für den Unterricht vorzunehmen. Hiermit ist ein Bezug zur Art und Anlage der potenziellen Medialität, der jeweiligen Gestaltung und intendierten Verwendung hergestellt, wenngleich es zu Überschneidungen an den Grenzbereichen kommt (z. B. Beschriftungen und Skalierungen auf dem Lineal). Auch diese Separierung in originär schriftlich und originär haptisch findet sich prototypisch in den Experimentierkoffern: Zu jedem Koffer der Reihe gehören zwei Hefte. Eine dieser gedruckten Publikationen ist als Lehrerhandreichung konzipiert und enthält eine Anleitung, wie mit dem Material – im Sinn der Entwickler(innen) und der intendierten methodisch-didaktischen Vorgehensweise – in der Klasse zu verfahren ist. Zudem enthält das Heft fachwissenschaftliche Hintergrundinformationen zu den Versuchen: informatives Rüstzeug, mit dem möglichen und weiterführenden Schülerfragen begegnet werden soll. Das zweite Heft beinhaltet primär Kopiervorlagen mit Hinweisen, Anleitungen, Instruktionen, Aufgaben u. a., die als Handreichungen den jeweiligen Versuchen zugehörig sind und somit für Schulkinder verfasst wurden. Die Schüler(innen) haben vielfach die Möglichkeit und Aufgabe das Experiment auf den kopierten Vorlagen zu dokumentieren – dies zeichnerisch oder schriftlich in teils vorgeplanter Weise. Zu dem Koffer-Sample der Dinge summieren sich demnach diese Druckerzeugnisse. Sie können als Repräsentanten von Schulbüchern und -heften verstanden werden, ihr Entstehungsprozess ist der Forschung ebenso zugänglich wie die Entwicklung der Experimente. Als den Koffern zugehörige Materialien ist die Genese der Hefte ein untrennbarer Teil im Entwicklungsprozess. Originär haptische und originär schriftliche Materialien werden durch den Koffer – im Wortsinn – zusammengehalten und thematisch-inhaltlich bzw. konzeptionell geklammert. Das Konzipieren ihres Wechselspiels und ihrer Bezüge kann in den analytischen Blick genommen werden. Bilanzieren lässt sich, dass für die empirische Fokussierung der Experimentierkoffer das kontrastreiche Micro-Sample verschiedenster Materialien spricht, die sie in sich vereinen und mit denen sie als prototypisches Unterrichtsmaterial zu charakterisieren sind. Über die Experimentierkästen gerät notwendigerweise das Fach Sachunterricht der Grundschule in den Fokus, für das die Materialien als Produkte von der Industrie entwickelt werden. Der Sachunterricht ist ein materiell stark durchdrungenes Fach. In den Diskursen der Sachunterrichtsdidaktik werden Materialien in Bildungs- und Lernprozessen schulbezogen verhandelt. Es steht zu vermuten, dass mit
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der Konzeption von Experimentierkoffern das Wie von experimentellen Arbeitsweisen für die Schule konzipiert und materialisiert wird. Das Vorhaben eine schulische Annäherung an Sachverhalte und die Naturwissenschaften zu entwickeln, macht die Kästen und ihre Konstruktion zu einem paradigmatischen Fall für Lernverständnisse des Sachunterrichts.
1.4 Sachen, Sachverhalte, Sachunterricht Der Sachunterricht ist ein Kernfach der Grundschule. Mit ihm gerät der bisher weitgehend ausgesparte Begriff der Sache in den Blick. Auch mit diesem Begriff geht vielfach ein Material- bzw. Dingbezug einher, also ein Rekurrieren auf originär haptische Materialien. Die zur Juristerei gehörende Formulierung „in der Sache“ macht jedoch bereits deutlich, dass die Sache mehr umfasst – ihre Dimension ist nicht nur materiell. Köhnlein verweist darauf, dass es mit Sachen vielmehr um Sachverhalte geht: „Eine Sache ist ein noch nicht näher bezeichnetes Ding oder ein Vorgang, ein Ereignis, eine Begebenheit, eine Angelegenheit, eine Beziehung, eine Aufgabe, ein Anliegen. Gemeint sind also nicht nur Gegenstände und Zustände der physischen Welt, sondern auch solche unseres Denkens, Sprechens und Handelns, also Bewusstseinszustände und soziale Beziehungen sowie Vorstellungen, Theorien, Wissensbestände und Intentionen.“ (Köhnlein 2011a: 495; H. i. O.) Jede Sache stehe in einem Netz aus Zusammenhängen. Mit der Hervorhebung von diesen Sachzusammenhängen werden Sachverhalte charakterisierbar, in die der Sachunterricht einführen soll (vgl. Köhnlein 2011a: 495). Über Sachen und ihre Zusammenhänge wird letztlich ein Bezug zu allgemeiner Bildung hergestellt. Die nachbarschaftliche Nähe von Erziehungswissenschaft und Sachunterricht ergibt sich aus dem gemeinsamen Fokus auf eben diese, der für weite Teile der Sachunterrichtsdidaktik große Bedeutung hat.
Exkurs: Sachunterrichtsdidaktik und allgemeine Bildung Mit dem Anspruch einer Bildungsorientierung als leitende Unterrichtsdimensionierung, ist insbesondere im Sachunterricht der Name Wolfgang Klafki verbunden (vgl. z. B. Pech/Kaiser 2004). Mit seiner bildungstheoretischen bzw. geisteswissenschaftlichen Didaktik und der Weiterentwicklung des zugehörigen Bildungsbegriffs rückt Klafki die Gesellschaft in das Zentrum seiner Konzeption (vgl. Klafki 1994). Der Bildungsbegriff ist verbunden mit einer Orientierung an epochaltypischen (über die Epochen der Gesellschaft hinweg bedeutsamen) Schlüsselproblemen. Diese beziehen sich auf Fragen nach Frieden, Umwelt, gesellschaftlich produzierter Ungleichheit, Gefahren und Möglichkeiten neuer Medien (Technikfolgen) sowie der Ich-Du Beziehung (vgl. Klafki 1997: 182f.). Über die Schlüsselprobleme wird vielfach eine Antwort darauf gesucht, was die bildungswirksamen Sachen des Sachunterrichts sind. Dass der Sachunterricht mit einer – nicht trivialen – Problematik der Fokussierung und Selektion konfrontiert ist, wird deutlich, wenn sich der Blick auf die potenzielle Breite des Fachs richtet. Dessen inhaltliches Spektrum gliedert die GDSU in fünf Perspektiven: die sozialwissenschaftliche, die naturwissenschaftliche, die geografische, die historische und die technische Perspektive (vgl. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts 2013). Über diese Perspektivierungen ergeben sich unstrittig Bezüge zu unterschiedlichen universitären Bezugswissenschaften, späteren Fächern
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der weiterführenden Schulen und zugehörigen Bereichsdidaktiken. Als eigenständiges Fach der Grundschule ist der Sachunterricht jedoch mehr als ein aufsummierter Sammelpunkt für kindgerecht gestalteten Einzelfachunterricht der Sekundarstufenfächer. Die Relevanz von Erziehungswissenschaft und allgemeiner Didaktik für den Sachunterricht hervorhebend betont Klafki, dass Fach- und Bereichsdidaktiken nicht schlicht „aus sich selbst heraus, schon gar nicht allein aus ihrem Verhältnis zu ihren jeweiligen sogenannten Bezugswissenschaften begründet werden [können].“ (Klafki 2005: 1) Auch Scholz nimmt kritisch Bezug auf die gängige Orientierung von Fachunterricht, der sich primär als Ableitung aus der zugehörigen Wissenschaftsdisziplin versteht und hält dem entgegen: „Der Sachunterricht hat nicht nur eigenständige didaktische Grundsätze, er hat auch andere Gegenstände als der Fachunterricht in den weiterführenden Schulen. Der Fachunterricht eines Faches, wie Biologie, Physik, Geographie, Geschichte usw. vermittelt nämlich die Art und Weise, wie ein bestimmtes Fach Sachverhalte auffaßt; genauer gesagt: Wie dieses Fach seinen Gegenstand konstruiert. Der Fachunterricht führt ein in die Begriffe eines Faches. Von einem Sachverhalt ist für den Fachunterricht immer nur das relevant, was sich im Rahmen seiner Begriffe über den Sachverhalt aussagen läßt.“ (Scholz 2004: 5) Für den Sachunterricht hat hingegen die Beschäftigung mit den Fragen der Kinder eine besondere Relevanz. Die Berücksichtigung des kindlichen, der kindlichen Lebenswelt und der Erfahrungen von Kindern ist demnach von konzeptioneller Prominenz. Kindliche Erfahrungen sollen bezüglich ihrer subjektiven Bedeutung für Kinder bewertet werden, um bildungswirksam zu einem Verstehen, Zurechtfinden und Händeln der Lebenswelt zu befähigen. Es gilt erfahrungsorientiert ein Anknüpfen an die Interessen und an das Vorwissen der Kinder zu gewährleisten. Seinem integrativen Anspruch verpflichtet soll Sachunterricht dabei auch, jedoch nicht dem Selbstzweck halber, die Anschlussfähigkeit für spätere Fächer der weiterführenden Schulen schaffen.
Der Grundsatz, Kinder bei der bildungswirksamen Erschließung ihrer Lebenswelt und ihren Sachen zu unterstützen (vgl. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts 2002: 2ff.), lässt sich nicht ohne die Berücksichtigung der mannigfaltigen Präsenz von Dingen im Leben von Kindern, in der Gesellschaft und den Bezugswissenschaften des Sachunterrichts verfolgen. Die zum sachunterrichtlichen Klassiker avancierte wagenscheinsche Frage „Wie springt ein Ball?“ (vgl. Thiel 1987; Wagenschein et al. 1973) verdeutlicht dies exemplarisch und verweist dabei auf einen vermeintlich profanen Aspekt sachunterrichtsdidaktischer Konzeptionen: An den Eigenschaften von zu handhabendem Material knüpfen sich in handlungsleitender Weise Ideen und Praktiken von Lernen, Didaktik und Wissen an.30 Vielfältige originär haptische Unterrichtsmaterialien finden so notwendigerweise ihren Weg in den Sachunterricht. Die große Relevanz dieser Materialien für den Sachunterricht ist im verbundenen fachdidaktischen Diskurs unstrittig. Anhand der engen Verknüpfung von Sachunterricht und seinen facettenreichen Materialien entstanden verschieden Begriffsangebote und systematisierungen. Henning Unglaube wendet sich den verschiedenen „Arbeitsmitteln“ im Sachunterricht zu und postuliert deren enge Verbindung mit der Entstehung
|| 30 Über die aufgeworfenen Fragen und ihrer experimentellen Bearbeitung kann es beispielsweise um Bälle aus verschiedenen Materialien und eine gerußte Glasscheibe gehen, auf der die fallenden und (eventuell) springenden Bälle unterschiedliche Abdrücke hinterlassen.
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des Faches: „Der Begriff der Arbeitsmittel oder des Arbeitsmaterials gewinnt an Bedeutung Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Er steht im engen Zusammenhang mit der Kritik an der Heimatkunde und der Diskussion um den Sachunterricht als alternatives Konzept.“ (Unglaube 2015: 491) Die Abkehr von heimatkundlichen Inhalten führte dazu, dass die „Arbeitsmittel“ im Gefolge der Wissenschaftsorientierung über den Sachunterricht verstärkt Einzug in die Grundschule hielten: zum Beispiel sollten „konfektionierte Materialkästen“ den Lehrer(inne)n Sicherheit im neuen Fach bieten. Diese gerieten wegen ihren vorgegebenen Lernwegen jedoch bald in die Kritik und wichen „Alltagsgegenständen“ und „Werkzeugen“, die aus Baumärkten und Bastelläden ihren Weg in den Unterricht fanden (vgl. Unglaube 2015: 491ff.). In der Diskussion um jeweilige Lern- und Bildungspotenziale nimmt Unglaube die Unterscheidung zwischen „strukturierten“ sowie „unstrukturierten Arbeitsmitteln“ vor: Strukturierte Arbeitsmittel sind Materialpakete zu einem Themenbereich. Man findet sie v.a. im Bereich des naturwissenschaftlichen/technischen Lernens, wie z.B. zu den Themen Magnetismus, Stromkreis, Wetter, Thermometer oder Brücken. Diese Pakete sind von ihrem Materialangebot klar strukturiert, und sie sind für Arbeitsbeispiele im Lehrerhandbuch und für die enthaltenen Arbeitsblätter mit Experimentieraufgaben zusammengestellt. […] Das Arbeitsmaterial soll in der dafür vorgesehenen Versuchsanordnung von den Schülerinnen und Schülern benutzt werden. […] Geleitet durch das Material und die vorgegebene Versuchsanordnung, gelangen die Kinder zum gewünschten Ziel und der damit beabsichtigten Erweiterung ihrer Erfahrungen. (Unglaube 2015: 493)
Unstrukturierte (teils von den Kindern selbst mitgebrachte) Arbeitsmittel seien hingegen offen und ohne Handlungsanleitung, sie gehen von einer Aufgaben- oder Problemstellung aus, nehmen dabei Bezug zu kindlichen Vorerfahrungen und laden Kinder zum Denken und Handeln ein. Sie führten zu Versuchen und Irrtümern und letztlich (möglicherweise) zu Lösungen. Weiter wird proklamiert, dass sie – z. B. durch Gruppenarbeiten und beim Diskutieren von verschiedenen Lösungsvorschlägen – kindliche Kommunikationsfähigkeiten stärken. Die Komplexität und der hohe Anspruch von Lernsituationen mit unstrukturierten Materialien werden dabei betont (vgl. Unglaube 2015: 494f.). Unglaube klassifiziert letztlich verschiedene Arbeitsmittel nach ihren sachunterrichtlichen Zielen: Arbeitsmittel zur Modellbildung, zum Konstruieren, Experimentieren, Beobachten – Messen – Vergleichen und zur Informationsbeschaffung (vgl. Unglaube 2015: 494f.). Zu dieser Grenzziehung kann mit Blick auf konkrete „Arbeitsmittel“ und ihre Verwendung vermutet werden, dass sich die Übergänge fließend gestalten. Letztlich werden von Unglaube Unterscheidungen aus einer lerntheoretischen Perspektive der Unterrichtsgestaltung getroffen. Die den resultierenden Klassifikationen zugehörigen Materialien werden dabei didaktischwertend eingeordnet. Da ich die vorgestellten Experimentierkästen möglichst normativenthaltsam und nicht als in der Kritik stehende „strukturierte Arbeitsmittel“ – mit
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vorgegebenen und ggf. einschränkenden Lernwegen o. Ä. – beforschen werde, verzichte ich auf eine Nutzung des Begriffs der Arbeitsmittel. Die Ausführungen von Unglaube stellen jedoch trefflich heraus, dass Sachunterricht und Materialien (insbesondere die „konfektionierten“ Experimentierkästen) nicht nur eng, sondern genuin verknüpft sind: Die Koffer bzw. Kästen wurden mit der Entstehung des neuen Fachs Sachunterricht entwickelt und hielten mit ihm Einzug in die Schule. Eine weitere Klassifikationslogik von Materialien im Sachunterricht entfaltet Scholz. Er unterscheidet zwischen dem Umgang mit (1) Sachzusammenhängen und dem Umgang mit (2) „Materialien“ über diese Sachzusammenhänge (z. B. Texte, Bilder, Arbeitsblätter, aber auch Objekte). Während der Umgang mit ersteren die grundsätzliche didaktische Zielsetzung des Sachunterrichts sei, hätten letztere eine unterstützende Funktion – z. B. die komplexitätsreduzierte Abbildung von Sachzusammenhängen: „Hier geht es vor allem um Dinge, um Geräte oder einfache Abläufe. Diese Gegenstände können – im Unterschied zur Realität – Kindern die Möglichkeit bieten, selbst handelnd mit ihnen umzugehen.“ (Scholz 2004: 1) Didaktisch relevant sei dann die Frage, wie die Materialien die Sachen darstellen. Scholz wirft im Weiteren einen kritischen Blick auf verschiedene Materialien, deren Gestaltung und Einsatz er vielfach als schlecht bewertet (vgl. Scholz 2004: 4ff.). Teils befassten sich die Materialien mit „Banalitäten“, teils gelte es ihre Grundschultauglichkeit anzuzweifeln (vgl. Scholz 2004: 7). Kim Lange und Kay Spreckelsen wendet sich verschiedenen „Modellen“ im Sachunterricht zu. Sie heben hervor, dass diese – ähnlich wie die „Materialien“ bei Scholz – benötigt werden, um Aspekte der kindlichen Umwelt in den Klassenraum zu bringen: Es „wird deutlich, dass es sich bei der unterrichtlichen Verwendung von Modellen im Sachunterricht in aller Regel um vereinfachte Abbilder von Dingen oder Abläufen in der Alltagswelt handelt.“ (Lange/Spreckelsen 2015: 488) Ferner soll mit diesen Modellen Transparenz bezüglich entscheidender Charakteristika von Phänomenen erzeugt werden. Der Modellbegriff wird relativ offen konzipiert und schließt auch Materialien ein, die man – nach Unglaube – als „Arbeitsmittel“ zum Experimentieren klassifizieren könnte: „In dem elementaren physikalischen [hier als Modell begriffenen, J. L.] Versuch zum ‚Schwimmen, Schweben, Sinken‘ müssen die Grundlagen des archimedischen Prinzips gegeben und auch veranschaulichbar sein, in diesem Fall also der Zusammenhang zwischen dem Volumen des im Wasser befindlichen Körpers und dem Auftrieb, den er dort jeweils erfährt.“ (Lange/Spreckelsen 2015: 488) Ein sehr offener und breit anwendbarer Modellbegriff führt m. E. zu ähnlichen Problemen wie ein breiter Medienbegriff (siehe Kapitel 1.3). Es ist die Frage zu stellen, ob situationsabhängig nicht jedes Material zum (vermittelnden) Modell werden kann. Ich sehe die Relevanz des Begriffs vor allem in der spezifizierenden Komposition der „Modellvorstellungen“ (z. B. der vom Sonnenstrahl) und werde den Modellbegriff auf unterrichtliches Material bezogen meiden. Conrads betont grundlegend die große Bedeutung von (nicht nur gegenständlichen) Modellen für
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den (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Hiervon ausgehend – und mit Bezug zu Antje Leisner-Bodenthin – erhebt Conrads „Modellkompetenz“ zum Bildungsziel für den Sachunterricht, da Modellverständnis ein relevanter Teil des Wissenschaftsverständnisses sei (vgl. Conrads 2011: 1). Dieser Einschätzung ist aus sachunterrichtsdidaktischer Perspektive vor allem dann zuzustimmen, wenn die mit einer Bildungsorientierung einhergehende Fähigkeit zu Kritik geschult wird, indem die Möglichkeiten und Grenzen von Modelldarstellungen und -vorstellungen reflektiert werden.31 Trotz der enormen Präsenz von Materialien im Sachunterricht und seinen Bezugswissenschaften muss festgehalten werden: Die sachunterrichtsdidaktische Forschung interessiert sich wenig für Materialität. 32 Sie blendet erstaunlich konsequent aus, dass es oftmals eben originär haptische Materialien sind, die zwischen Kind, Welt und Wissenschaft stehen. Dass Materialien genau hier vermitteln, scheint vielfach als Gemeinplatz unterzugehen, wird gelegentlich didaktisch-normativ bewertet, fristet aber ein empirisches Schattendasein. Selbst wenn – genuin didaktisch – Materialien als schlichte Instrumente zur effektiven oder weniger effektiven Vermittlung von Wissen verstanden werden, herrscht diesbezüglich ein Mangel an empirischen Arbeiten. Henning Unglaube hält fest, dass es „bislang keine differenzierten Untersuchungen zu der Wirksamkeit von Arbeitsmitteln für das Lernen der Kinder im Sachunterricht“ gibt (Unglaube 2015: 491). Nur vereinzelte Studien wenden sich prüfend der Materialität im Sachunterricht zu, z. B. die quantitativ-evaluierend angelegte Arbeit „Lernen mit der Klasse(n)kiste ‚Schwimmen und Sinken‘ im Sachunterricht der Grundschule“ (Möller et al. 2008). Für die Experimentierkästen, die von der Arbeitsgruppe um Möller entwickelt wurden, waren die „science kits“ Vorbild, die zu Beginn der 80er Jahre in den USA entstanden (vgl. Möller et al. 2008: 6). Die Kästen sind damit klar naturwissenschaftlichen Inhalten verpflichtet: „Ziel dieser Maßnahmen ist die breitenwirksame Förderung der Implementation naturwissenschaftlicher Inhalte in den Sachunterricht der Grundschulen.“ (Möller et al. 2008: 9).33
|| 31 Für eine Kritik an der Maßstabsverkleinerung und fachwissenschaftlichen Abstraktion durch Modelle, mit denen Kindern das schulisch aufbereitet und portioniert wird, was sie aus ihrer Lebenswelt kennen, ist auf die Ausführungen von Wagenschein zu „verfremdenden Apparaturen“ sowie die eng verwandten Positionen zu „zu perfekten“ Modellen als „Einbahnstraßen“ zu verweisen (siehe Kapitel 1.1). Letztere würden den Blick auf die Welt überflüssig machen und Kinder dazu drängen, aus ihrer „Erfahrungswelt auszuwandern“, so die Ausführungen im Gespräch zwischen Horst Rumpf und Gerold Scholz zur Frage „wozu braucht es Materialien im Sachunterricht“ (Scholz/Rumpf 2003: 1ff.). 32 Ist mit „Materialien“ das Schulbuch gemeint, zeichnet sich ein anderes Bild: Forschungsarbeiten, die den Anspruch formulieren, die Qualität(en) von sachunterrichtlichen Büchern zu erheben, sind vergleichsweise zahlreich, vgl. z. B. Hölterhoff/Platzer (2011); Obermayer (2013). Entsprechende Arbeiten gehen häufig von normativen Gütekriterien aus, an denen das jeweilige Buch dann gemessen wird. 33 Die von Möller entwickelten und evaluierten Boxen sind direkte „Mitbewerberprodukte“, die in Konkurrenz zu den von mir beforschten Experimentierkoffern stehen. Es wird an dieser Stelle erneut
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In jüngster Zeit finden sich in sachunterrichtlichen Publikationen vereinzelte Bezüge und akzentuierte Fragestellungen, die den Blick auf die Dinge im Unterricht erweitern. So geht Schomaker der Frage „Zur Bedeutsamkeit von Dingen in Sachlernprozessen“ nach. Dabei thematisiert sie die Relevanz der Begegnung zwischen Individuum und materiellen Sachen vor dem Hintergrund des sachunterrichtlichen Bildungsanspruchs und bilanziert: „Eine in diesem Sinne angebahnte Begegnung mit Dingen im Kontext von Unterricht stellt demzufolge ein wesentliches Element der Sachunterrichtsdidaktik dar.“ (Schomaker 2013: 142) Kern des Artikels sind Ergebnisse einer phänomenografischen Studie, die das Sachlernen im Übergang vom Elementarzum Primarbereich erforscht (vgl. Kaiser/Schomaker 2010). Das Erkenntnisinteresse wird durch die Fragen spezifiziert, was Schüler(innen) an den Dingen des Unterrichts als bedeutsam und erklärend wahrnehmen (vgl. Schomaker 2013: 139). So werden beispielhaft die Bedeutungen bzw. beschreibenden Erklärungen einer „Leonardobrücke“ aufgezeigt (z. B. von der Rolle der Widerlager für die Stabilität bis zu Leonardo Da Vinci als personeller Garant für Funktionalität). Im Fokus steht die Erforschung des Kindes mit seinen gegenstandsspezifischen Lernvoraussetzungen und Erlebensweisen: individuell-subjektorientierte (wenn auch angesammelte und kategorisierte) Lernerperspektiven auf die Dinge werden systematisiert. Die Begegnung zwischen Kind und Ding wird demnach – ebenso wie die dabei stattfindende Bedeutungskonstitution – im Individuum verortet und als kognitive Begegnung konzipiert. Letztlich geht es dieser didaktischen Forschung um eine Erweiterung spezifisch-kindlicher Kompetenz im Umgang mit Dingen (vgl. Schomaker 2013: 149). Damit entfaltet die Studie ein Interesse an den Bedeutungen von Materialität, geht über eine messende Bewertung von instrumentell verstandenem Material hinaus, bleibt aber letztlich einer lehrenden Grundhaltung verpflichtet. Auch Nohl bezieht die „Perspektiven einer Pädagogik der Dinge“ (siehe Kapitel 1.1) auf den Sachunterricht. Unter Bezug auf erkenntnistheoretische, philosophische und wissen(schaft)ssoziologische Arbeiten geht es um die Frage nach einer bildungstheoretischen Orientierung bzw. einer erkenntnis- und lerntheoretischen Fundierung des Sachunterrichts – unter besonderer Berücksichtigung der materiellen Dinge der Welt. Nohl nutzt den konstruktivistischen Realismus als bedeutsame Perspektive auf das sachunterrichtliche (und pädagogische) Spannungsfeld zwischen kindlich-individuellen Zuschreibungen, Erfahrungen, Konstruktionen und den gesellschaftlich etablierten sozial- oder naturwissenschaftlichen Deutungen (vgl. Nohl 2013: 53). Die angeschlossenen lerntheoretischen Überlegungen betonen – mit Bezug zu Peirce und seine Überlegungen zur Genese des menschlichen Bewusstseins von Dingen – die Relevanz des Moments der Überraschung für das Lernen. Dieser
|| deutlich, dass Koffer bzw. Boxen prototypische Materialformate sind, die tradiert in Schulen und im Bildungsmarkt verankert sind.
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entlarve zuvor entstandene Zuschreibungen als nicht haltbar und führe zu deren Weiterentwicklungen (vgl. Nohl 2013: 54f.). Dabei sieht Nohl Schule und Sachunterricht als strukturierte Organisation des Lernens, in der sich „transformative Bildungsprozesse“ kaum vollziehen (vgl. Nohl 2013: 59ff.). Lernen wird dabei als Erwerb von Können im Umgang mit Dingen sowie von Wissen über Dinge im Rahmen gegebener Orientierungen verstanden (vgl. Nohl 2011: 95). Ungeachtet der ideellen Zielsetzung des Sachunterrichts, sich einer Bildungsorientierung zu verpflichten, steht es außer Frage, dass vielfach die Weitergabe von einzelnen Wissensbeständen und die Vermittlung von Kompetenzen bzw. Können notwendigerweise mit dem Sachunterricht angestrebt werden.34 Wissenschaftlich als gesichert angesehenes Wissen soll von Kindern erworben und Sachverhalte sollen erschlossen werden. Die konzeptionellen Verortungen des Sachunterrichts bewegt sich in einem Spektrum zwischen bildungswirksamer Weltbegegnung, wissenschaftlichen Sachen und lebensweltlicher Kindorientierung (vgl. z. B. Pech 2009: 4). Die Frage, ob und wie diese Orientierungen
|| 34 Anmerkung zum Wissensbegriff: Die Bemühungen, den Wissensbegriff zu definieren bzw. zu systematisieren, lassen sich bis weit in die antike Philosophie zurückverfolgen und sind eng mit der Frage nach der Wahrheit verknüpft. Verwiesen sei etwa auf Plantons „Theaitetos“. Der Soziologe Daniel Bell fasst seinen allgemeinen Wissensbegriff wie folgt: „Ich möchte hingegen „Wissen“ […] definieren als Sammlung in sich geordneter Aussagen über Fakten oder Ideen, die ein vernünftiges Urteil oder ein experimentelles Ergebnis zum Ausdruck bringen und anderen durch irgendein Kommunikationsmedium in systematischer Form übermittelt werden […]“ (Bell 1996: 180; H. i. O.). Die neuere Wissens- bzw. Wissenschaftssoziologie betont heute stärker die Relativierung des objektiv Faktischen, die Pluralität von Wirklichkeiten und die soziommaterielle Produktion von Wissen durch Akteure, vgl. Latour/Woolgar (1986); Knorr-Cetina (1981). „Wissen gehört nicht zu den klassischen pädagogischen Kategorien wie etwa Erziehung, Sozialisation, Lernen oder Bildung […].“ (Höhne 2009: 897; H. i. O.) Geht es innerhalb erziehungswissenschaftlicher Diskurse um Wissen, dann vielfach um pädagogisches Wissen bzw. Professionswissen, vgl. z. B. König (2012); Schulte et al. (2008); Shulman (1987). Wissensbestände als Zielsetzung für Schüler(innen), Zöglinge bzw. Adressat(inn)en zu definieren wird vielfach kritisch diskutiert: Eine Fokussierung auf Wissen wird häufig als Verengung eines breiter angelegten Bildungsziels verstanden. Dies vor allem dann, wenn curriculare Formulierungen darauf zielen, einen überprüfbaren Wissenskanon als Anhäufung des vermeintlich Faktischen zu definieren, welcher häufig als eine Standardisierung, Ökonomisierung und vermeintliche Messung von Bildung kritisiert wird. Damit einher geht die Kritik an PISA und anderen quantitativen Vergleichsstudien mit genuin wirtschaftlichem Einfluss. Das teils in der Kritik stehende schulisch vermittelte Wissen wird mit suggestiven Beistellungen versehen: Scheinwissen, zusammenhangloses Wissen, Halbwertzeit von Wissen, Bulimielernen von Klausurwissen, unflexibles, träges oder gar „verdunkelndes Wissen“, das sich – mit Wagenschein (vgl. Wagenschein 1997) – von exemplarischem Verstehen gravierend unterscheidet. Ähnliches gilt für „Kompetenzen“ und „Könnziele“: Ihr Verhältnis zur Bildung ist nicht unbelastet. Dennoch lässt sich kaum bestreiten, dass die Begriffe füreinander eine Relevanz besitzen: „Alles Wissen und Können hat zweifellos eine wichtige Funktion. Sie gleicht dem, was Technik für das Musizieren auf einem Musikinstrument ist. Notwendig, ja, und – testbar. Aber es ist nur die notwendige Bedingung für die eigentliche Kunst. Diese beginnt da, wo das Technische endet. So auch ‚Bildung‘.“ (Götte 2006: 29)
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zueinander finden können, verdeutlicht, dass Lern- und Bildungsprozesse im sachunterrichtlichen Diskurs bezogen auf grundschulrelevantes Wissen der Naturwissenschaften verhandelt werden. Bernd Thomas sieht die Bestimmung des Verhältnisses von Kind und Sache bzw. Wissenschaft als eine „ständige Entwicklungsaufgabe der Didaktik des Sachunterrichts“ (Thomas 2015: 241; H. i. O.). Die Sachunterrichtsdidaktik kann bisher auf eine lange und wechselhafte Geschichte des Austarierens zurückblicken, die unabgeschlossen ist. Angefangen bei der Abkehr von der Heimatkunde hin zur Wissenschaftsorientierung der 1970er-Jahre, über die Diskussion, ob naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen überhaupt einen Platz in der Grundschule haben können (vgl. Schietzel 1984), hin zu reformpädagogisch-kindzentrierten Ansätzen und zurück zu Konzeptionen wie der „Wissenschaftsnähe“ (Schorch 1998: 148ff.), bei der es letztlich wieder um das „Vermächtnis“ der 1970er-Jahre geht. Wie durch diese Verhandlungen Wissenschaftsbilder sowie Materialien für den Sachunterricht und seinen Bildungsauftrag relevant werden, lässt sich prototypisch anhand des (schulischen) Experiments aufzeigen.
1.4.1 Experimente als materielle Settings Entsprechend der erneut beachtlichen Bedeutung der naturwissenschaftlichen Perspektive des Sachunterrichts ist auch der Stellenwert des Experiments in der Grundschule wieder groß. Mit dem Experiment ist ein Setting benannt, das durch das Arrangieren, Variieren und Zusammenwirken von vielfältigen Materialien geprägt ist. Reagenzgläser, Magnete, Eisenspäne, Halterungsvorrichtungen, Messgeräte – die Liste der beteiligten Dinge, die assoziativ mit Experimenten verknüpft werden können, ist beinah beliebig erweiterbar. Nähert man sich dem Experiment begrifflich, so herrscht innerhalb fachdidaktischer Publikationen relativ große Einigkeit darüber, was ein Experiment ist und was nicht. Nach Möller ist „Erkunden“, „Explorieren“ und „Probieren“ abzugrenzen vom Experimentieren. Letzteres würde mithilfe zielgerichteter Planung stets auf die Beantwortung einer Frage oder auf die prozesshafte Erschließung eines Problems zielen (vgl. Möller 1987: 387). Auch Soostmeyer verweist auf die Rolle und Relevanz der leitenden Fragestellung für das Experiment (vgl. Soostmeyer 2002: 120ff.). Unglaube definiert: „Das Experiment ist eine wissenschaftliche Methode zur Überprüfung einer Annahme oder einer Fragestellung. Jedes Experiment benötigt deshalb zum Anfang eine Fragestellung oder Hypothese.“ (Unglaube 2015: 495) Die drei anderen von Möller aufgegriffenen Begriffe respektive Tätigkeiten seien dem Experimentieren vorgelagert und hierarchisch untergeordnet: Es bedarf ihrer Weiterentwicklung, um schließlich zum Experimentieren zu gelangen (vgl. Möller 1987: 348ff.). Bäuml-Rossnagl benennt als zentrale charakterisierende Kriterien der Durchführung von Experimenten die Planmäßigkeit, Abänderbarkeit, Wiederholbarkeit und Kontrollierbarkeit (vgl. Bäuml-Rossnagl 1979: 41). Vor dem Hintergrund einer ähnlich engen Begriffscharakterisierung (zielgerichtet, geplant, auf Frage oder
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Hypothese bezogen) hält Wodzinski fest, dass viele Formen des vermeintlichen Experimentierens im Sachunterricht streng genommen keine Experimente sind, da sich „richtige“ Experimente deutlich an wissenschaftlichen Methoden anlehnen müssten (vgl. Wodzinski 2006: 124). Wiebel spricht daher von „Laborieren“ (vgl. Wiebel 2000); in anderen Publikationen ist akzentverlagernd-relativierend von „experimentellem Arbeiten“ in der Grundschule die Rede. Auch zur Frage, welche Lernziele das Experiment aus didaktischer Perspektive bereithält, lässt sich ein deutlicher Konsens ausmachen. Bäuml-Rossnagl hebt hervor, dass Experimente eine kritisch-prüfende Sachauseinandersetzung auf Basis kritischer Urteilsfähigkeit fordern (vgl. Bäuml-Rossnagl 1979: 71). Neben der sachlichen Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Phänomenen selbst (vgl. Wodzinski 2006: 127f.) gehe es beim experimentellen Arbeiten in der Schule um das Methodenlernen (vgl. Wodzinski 2006: 125ff.). „Sie [Experimente] können einerseits als Mittel betrachtet werden, um Methoden (natur-) wissenschaftlichen Arbeitens kennen zu lernen und einzuüben. Sie können andererseits aber auch Elemente der inhaltlichen Auseinandersetzung mit technischen und naturwissenschaftlichen Sachverhalten sein und Verstehensprozesse initiieren und unterstützen.“ (Wodzinski 2006: 124) Dieses Ziel scheint in den 70er Jahren ebenso wie heute seine Gültigkeit im verbundenen fachdidaktischen Diskurs zu haben. So resümiert Thomas einzelne Bestrebungen der damaligen Wissenschaftsorientierung und hält fest: „In einem methodisch konsequent gestalteten Unterricht sollten die Kinder im Laufe der Grundschulzeit zur wissenschaftlichen Arbeitsweise des Experimentierens geführt werden, was über den Aufbau von 12 aufeinander gefügten intellektuellen Teilfertigkeiten (darunter z.B.: Beobachten, Klassifizieren, Messen, Schlussfolgern, Vermutungen formulieren und Daten interpretieren) erreicht werden sollte.“ (Thomas 2015: 238; H. i. O.) Damals wie heute gelte es, sich dem Experiment – als naturwissenschaftlichem Kern und Königsweg – mit den Kindern gemeinsam zu nähern.
1.4.2 „scientific literacy“ in kritischer Revision Der Begriff der „scientific literacy“ geht auf Cohen und Watson zurück (vgl. Cohen/Watson 1952) und gewann durch die von internationalen Vergleichsstudien wie PISA und TIMSS postulierten Defizite in den MINT-Fächern in jüngerer Vergangenheit an Popularität. Die Übersetzung als „naturwissenschaftliche Grund- oder Allgemeinbildung“ (Gräber 2002: 3) vermag darüber hinwegzutäuschen, dass mit „scientific literacy“ auch die Frage verhandelt wird, welchen Beitrag die Naturwissenschaften zu einer allgemeinen Bildung leisten können (vgl. Gräber 2002: 13). So wird neben der Vermittlung eines (natur-)wissenschaftlichen – zu Kompetenzen führenden – Wissenskanons und eines verantwortungsvollen Umgangs mit Technik, auch vielfach der Bezug zur zunehmend technisch geprägten Lebenswelt der
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Schüler(innen) betont (vgl. Yager/Roy 1993: 7ff.). „scientific literacy“ wird so von einigen Autoren mit allgemeiner „Lebenskompetenz“ verknüpft (vgl. Schaefer 2002: 85ff.) oder als Schulung des Denkens verstanden und mit Dewey's „scientific habits of the mind“ verbunden (vgl. Shamos 1995: 76ff.) „Hinter der Metapher der literacy verbirgt sich die Idee, naturwissenschaftliche Kenntnisse und Kompetenzen quasi in den Rang einer Kulturtechnik zu heben. Man geht davon aus, dass die „Kulturtechnik“ der scientific literacy – ähnlich wie Schreiben, Lesen und Rechnen – eine grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am Leben in einer Wissensgesellschaft darstellt.“ (Marquardt-Mau 2004: 67) Letztlich werden mit „scientific literacy“ die Methoden und Wege der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion bzw. die Entdeckungsweisen von Wissen als relevante Bildungsziele angesehen (vgl. z. B. Oelkers 1997). Das Plädoyer lautet, die Vermittlung von Inhalten und Faktenwissen zu beschränken, um sich den spezifischen Verfahrensweisen und Prozessen der Naturwissenschaften zuzuwenden (vgl. Shamos 1995). Es ist der Verweis auf die Möglichkeit, auf disziplinäre Praktiken bezogene Kompetenzen zu vermitteln bzw. zu erwerben: „Wie in den Naturwissenschaften Erkenntnisse gewonnen werden, wie sich Modelle, Hypothesen und Evidenzen zueinander verhalten, ist für Lernende vermutlich spannender als die Fakten selbst.“ (Gräber 2002: 21) Die Frage nach den naturwissenschaftlichen Methoden der Erarbeitung von Wissen führt zurück zum (unterrichtlichen) Experiment, da mit ihm vielfach der schulische Anspruch erhoben wird, an das Wie der Naturwissenschaften heranzuführen: „Über Experimentieren kann […] implizit ein Verständnis dafür angebahnt werden, wie Naturwissenschaften arbeiten und zu Ergebnissen kommen.“ (Wodzinski 2006: 126) Dem Anliegen, sich an das Wie naturwissenschaftlichen – insbesondere experimentellen – Arbeitens anzunähern, messe auch ich eine große Bedeutung für den Sachunterricht und seinen Bildungsauftrag bei. Doch welche Antworten können hier gefunden werden? Shamos bilanziert, es gelte, im Sinn der „Scientific Literacy“ die „kumulative Natur der Naturwissenschaften“ (Shamos 2002: 68; Herv. J. L.) zu vermitteln und Bäuml-Rossnagl fasst zusammen, was für die mit Experimenten verbundenen Arbeitsweisen der Naturwissenschaften leitend sowie für die abgeleitete Zielsetzung des Unterrichts relevant sei: „Rationalität, Objektivität, epistemisches Verhalten, Kritikfähigkeit und Vertrauen auf wissenschaftliche Verfahren sowie die Wertschätzung eines intersubjektiv überprüfbaren Wissens bilden die Schwerpunkte dieses Zielsetzungskomplexes.“ (Bäuml-Rossnagl 1979: 71) In den zitierten Formulierungen spiegelt sich bereits ein sehr bestimmtes – und populäres – Wissenschaftsverständnis als Lernziel. Eine differenzierte Annäherung an die Verfahrensweisen der Naturwissenschaften kommt jedoch nicht ohne einen Bezug zur Wissenschaftsforschung aus. Wissenssoziologe Amann befasst sich in der Reihe „Probleme und Perspektiven des Sachunterrichts“ explizit mit der Frage nach dem Wie wissenschaftlichen Wissens bzw. dessen Produktion. Wissenschaftliche Arbeitsweisen rücken damit selbst in den Fokus von wissenschaftlicher Theorie und Empirie. Amann schreibt unter der Prämisse, dass Lehrer(innen) des Sachunterrichts wissen sollten,
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wie Wissensprozesse der Wissenschaften zeitgemäß verstanden werden (vgl. Amann 2008: 19f.). Dabei skizziert er die Entwicklung der Wissenschaftsforschung und die damit verbundene Problematisierung der Vorstellung von der einen interpretationsunabhängigen Wirklichkeit, die Stück für Stück erkennbar wird, indem die Wissenschaften stringent und linear Wissen über sie anhäufen bzw. bereitstellen (vgl. Amann 2008: 21ff.) Gegenüber diesen idealisierten Vorstellungen lässt sich mit Bezug auf Thomas Kuhn35 bilanzieren: „Mit den wissenschaftlichen Theorien ändern sich die wissenschaftlichen Beschreibungen und mit den Beschreibungen das, was wir als die von ihr beschriebene Wirklichkeit erkennen können.“ (Amann 2008: 27) Das Verständnis einer Pluralität von Wirklichkeiten und Wissenschaften führt zu einer Beforschung der Entstehung von wissenschaftlichen Tatsachen36 im Forschungsalltag selbst, in diesem Prozess des Schaffens von Wissen wird die soziale Konstitution von Erkenntnissen sichtbar (vgl. Latour/Woolgar 1986; Knorr-Cetina 1981). Es „wird nachvollziehbar, dass es sich um hoch artifizielle kulturelle Praktiken handelt, die zudem stabile disziplinäre Varianten hervorgebracht haben.“ (Amann 2008: 31) Diese, der neueren Wissenschaftssoziologie zugewandten, Ausführungen zu den Naturwissenschaften, sind an dieser Stelle mehr als ein Exkurs für meine Arbeit: Über die angeführten „Laborstudien“ (siehe Kapitel 1.1) geraten unweigerlich die am Prozess partizipierenden Materialien in den Blick, ohne die eine Konstruktion und Testung von Wissen vielfach nicht möglich ist. Die angeschlossenen Arbeiten erweitern den Blick auf Dinge (vgl. z. B. Kalthoff 2014a), verhandeln sie z. B. in Auseinandersetzung mit Latour als materielle Akteure (vgl. Latour 2000: 227f.), die an unserem gesellschaftlichen Leben und insbesondere an Wissensprozessen partizipieren. Den zentralen Dingen des wissenschaftlichen Schaffens, ihren Bedeutungen und Rollen für die Wissensproduktion und Gesellschaft, wird dabei neue empirische Aufmerksamkeit zuteil.
|| 35 Thomas Kuhn erarbeitete wissenschaftshistorische Analysen der Naturwissenschaften. Er fokussierte historische Umbrüche, Entdeckungen und Weggabelungen der Naturwissenschaften. Diese Wechsel beschrieb Kuhn als Revolutionen und Paradigmenwechsel. Unter Bezug auf verschiedene Paradigmen stellte er ihre Inkommensurablität heraus. Folgt einer wissenschaftlichen Revolution ein neues Paradigma, so verliert altes Wissen seine Gültigkeit. Ferner setzt das neue – als gültig anerkannte – Paradigma als Regelwerk klare Grenzen, innerhalb derer ein „Puzzeln“ der Forscher(innen) vollzogen wird. Damit einher geht nicht nur die Kritik an der Vorstellung einer kumulativen Anhäufung von Wissen, also einer sich linear der Wirklichkeit annähernden Wissenschaft. Kuhn wendet sich auch gegen die überhöhende Betrachtung von wissenschaftlichen Methoden, objektiver Entscheidungen sowie die Bedeutung einer der Wissenschaft vermeintlich immanenten Logik und Norm. Er betont den Einfluss der Subjekte und ihrer Gruppierungen, die wissenschaftliche Ergebnisse oft nicht rein rational erzeugen (vgl. Kuhn 1962). Insbesondere mit letztgenanntem Aspekt ging eine Auseinandersetzung zwischen Kuhn und Popper einher, der für eine normative Orientierung den Ausschluss von Nichtrationalem und Subjektivem aus der Wissenschaft postuliert – vgl. die Beiträge beider in „Kritik und Erkenntnisfortschritt“ (Lakatos/Musgrave 1974). 36 Ludwik Fleck titelte schon 1935 mit seinem später wiederentdeckten und großen Einfluss entfaltenden Werk: „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ (Fleck 1935).
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Die Erkenntnispotenziale und -wege der „social studies of science“, können für Schule und Unterricht sehr gewinnbringende Impulse bieten – vgl. die Konzeption der „social studies of teaching and education“ (vgl. Kalthoff 2011). Insbesondere der Sachunterricht kann seine Reflexivität durch entsprechende Fokussierungen steigern. Die internalistische Vorstellung, dass die Entstehung von (naturwissenschaftlichem) Wissen, die Perspektivwechsel und Entwicklungen von Wissenschaften schlicht aus einer immanenten fachlich-organisatorischen Norm und dem Vertrauen auf Verfahren – also aus einer Binnenlogik – erwachsen, lässt sich nicht halten. Die verbundene Einsicht der neueren Wissenschaftsforschung ist, dass die Wissenschaften nicht als von den Subjekten separiert verstanden werden können, die Wissenschaft alltäglich machen. Eben diese Einsichten finden u. a. ihren ebenso innovativen wie beeindruckenden Aufgriff in Teilen der Physikdidaktik: An der Universität Oldenburg widmeten sich Falk Rieß und Kollege(inne)n der reproduzierenden Durchführung bzw. der (materiellen) Rekonstruktion wegweisender Experimente der Physikgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts.37 Die Arbeiten, die das Ziel einer geschichtlich-kritische Aufbereitung verfolgen, entstanden unter explizitem Bezug auf Wissenschaftsforscher wie Fleck, Latour, Woolgar, Collins u. a. (vgl. Rieß 1997: 333f.). Rieß hält fest, dass unterschiedliche Wissenschaftstheoretiker wie Didaktiker sich darin überbieten, die große Wichtigkeit des Experiments hervorzuheben. In einem krassen Gegensatz dazu stehe jedoch die geringe Bedeutung, welche Experimenten in der Forschung zugestanden wird, die nicht die erwarteten Ergebnisse lieferten (vgl. Rieß/Schulz 1994: 194f.).38 Hinzu kommt, dass dem Reproduzieren von allge-
|| 37 Auch für die Ausgestaltung von „scientific literacy“ wird neben dem „Wesen“ der Naturwissenschaften ihre Geschichte als unterrichtsrelevant konzipiert vgl. Bybee (1997); Bybee et al. (1991). 38 Es ist demnach schon jetzt die (auch unterrichtliche) Frage legitim, wie sich die – für das Experiment als charakteristisch angeführte – Planbarkeit, die vorab gesetzte Fragerichtung und die verbundene selbst auferlegte Kanalisierung von Erkenntnis auf das Wissenschaffen auswirkt. Rheinberger zeigt auf, dass es beim naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn über das Experiment weniger um Kontrolle, als vielmehr um Zufälligkeiten und Improvisation geht. Experimentieren wird damit zu einer kaum planbaren Suche nach neuem Wissen (vgl. Rheinberger 2001). Dass determinierte Planung eine entscheidende Erfolgsbedingung für das Arbeiten im Labor ist, kann auch vor dem Hintergrund des anekdotischen Narrativs großer Laborentdeckungen hinterfragt werden: Wilhelm Conrad Röntgen experimentierte 1895 mit Gasentladungsröhren, einer Art frühen Neonröhre. Dann habe er gesehen, dass ein – rein zufällig in der Nähe liegendes – beschichtetes Papier parallel mit dem Entladungsprozess der Röhre zu leuchten begann. So sei eine Strahlung erkennbar geworden, die bisher unbekannt war und als X- oder Röntgenstrahlung in die Geschichte einging. Auch bei der Entdeckung der Radioaktivität habe es sich zeitnah ähnlich verhalten: Antoine-Henri Becquerel soll – rein zufällig – einen uranhaltigen Stein auf eine Fotoplatte in seiner Schreibtischschublade gelegt haben und entdeckte später, dass sich die – von Lichtstrahlen abgeschirmte – Platte dennoch schwarz gefärbt hatte. Der Stein musste demnach strahlen. Alexander Fleming habe – vor der Abreise in seinen Urlaub – eine Petrischale mit Streptokokkenkulturen zu schließen vergessen. Nach seiner Rückkehr
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mein anerkannten Experimenten – so führt auch Herbold aus – in der Praxis der Forschung ebenfalls keine große Relevanz beigemessen wird, es erscheint als uninteressant und wird in der Regel nicht vollzogen (vgl. Herbold 2000: 108f.). Vor diesem Hintergrund wird postuliert: „Das didaktische Normalverhalten mit seinem naiven Induktionismus (Problemstellung aus dem Alltag, Reduktion auf eine naturwissenschaftliche Fragestellung, Planung und Durchführung eines Experiments, Auswertung nach vorgegebenen arithmetischen oder graphischen Verfahren, Formulierung des Naturgesetzes) täuschen die Lernenden über die Rolle des Experiments.“ (Rieß/Schulz 1994: 195) Es gilt, die Bedeutung vom Experiment und die mit ihm möglichen – auch didaktischen – Einsichten in ein neues Licht zu rücken. Physiker(innen) betreiben mit dem Experiment fraglos ebenso tradiert wie erfolgreich Physik. Wie dieser Erfolg prozesshaft über Experimente konstruiert wird, ist dabei eine relevante Frage, die es nicht normativ-ideologisch sondern empirisch zu beantworten gilt.39 Zudem wohnt ihr – in Bezug auf die Vermittlung von Wissenschaftsverständnissen bzw. der „scientific literacy“ – ein großes Bildungspotenzial inne. „Es muss analysiert werden, wie sehr die "inneren Strukturen" und Arbeitsweisen in der Naturwissenschaft die jeweils akzeptierten Aussagen quasi schon (zumindest innerhalb einer gewissen Bandbreite) vorherbestimmen.“ (Rieß 1997: 333f.) Neben diesem Blick auf die inneren Strukturen und Arbeitsweisen müssen die äußeren Einschlüsse beachtet werden: Naturwissenschaftliche Forschung und ihre Ergebnisse sind in ihrer sozialen Bedingtheit zum einen determinierend orientiert an technischen, ökonomischen und militärischen Verwendungsinteressen (vgl. Rieß 1997: 334). Zum anderen zeigt die Forschungsarbeit zur sozialen Bedingtheit der Naturwissenschaften bzw. ihrer Ergebnisse, dass „physikalische Aussagen und Entdeckungen stets auf dem Hintergrund komplexer philosophisch bzw. kulturgeschichtlich begründeter Weltbilder entstanden sind und entstehen.“ (Rieß 1997: 334) Von diesen Aspekten ausgehend, attestiert Rieß kritisch: „In den geglätteten und idealisierten (Selbst-)Darstellungen, wie man sie in populären Medien vorfindet, gehen diese Aspekte in der Regel verloren; oft bleibt nur ein naiver Fortschrittsglaube.“ (Rieß 1997: 334) Analog zu dieser
|| habe er festgestellt, dass ein Schimmelpilz die Bakterien zu weiten Teilen abgetötet hatte. Diese Geschichte gilt als ebenso grundlegende wie zufällige Entdeckung der Entwicklung von Antibiotika. Alle genannten Forscher erhielten den Nobelpreis. Selbstredend schlossen sich an ihre glücklichen Entdeckungen weitere (historische) Experimente und Publikationen an – eben solchen wendet sich Falk Rieß zu. 39 Das definitorische Aufstellen von einem Soll der Wissenschaften bzw. einer Normierung ihres Gelingens beschäftigte z. B. Robert K. Merton. In seinem Beitrag „science and technology in a democratic order“ geht es um die Frage, was Wissenschaft seines Erachtens ist bzw. wie sie sein soll (vgl. Merton 1942). Für ihre Organisation und Rahmung formuliert Merton vier freiheitlich-demokratische Bedingungen, die zugleich als verpflichtendes Muss gelesen werden können: (1) freie Zugänglichkeit, (2) Bewertung von der Person gelöst, (3) kein Eigennutz als Motiv, (4) Offenheit für Kritik als „organisierter Skeptizismus“ (vgl. Merton 1973: 270ff.).
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Kritik wird bezugnehmend auf den naturwissenschaftlichen Unterricht eine bildungshinderliche Grundhaltung beschrieben: „Zu dieser Unkenntnis und Unbedarftheit [von Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n, J. L.] in wissenschaftstheoretischen Fragen tritt ein bemerkenswerter Mangel an Kritikfähigkeit den Naturwissenschaften gegenüber und an Verständnis für ihre soziale und politische Rolle im gesellschaftlichen Kontext.“ (Rieß 1997: 340) In den Publikationen von Rieß finden sich wichtige Ausführungen zur Verwobenheit von Naturwissenschaften und Gesellschaft. Die Verwicklung von Politik, Geschichte, Umwelt und Physik, sowie ihre gegenseitigen Auswirkungen in gegenwärtiger wie historischer Dimension, sind ihm ein besonderes Anliegen (vgl. Rieß 1997: 340ff.). Dieser Blick ist vor allem für den vernetzenden Bildungsanspruch des Sachunterrichts unmittelbar relevant. Mit dem perspektivübergreifenden Bildungsideal wird der Anspruch erhoben, den Kindern ihre Lebenswelt samt der einhergehenden technischen, ökonomischen, historischen und sozialen Bedingtheit besser verstehbar zu machen (siehe Kapitel 1.4). Eine so motivierte Betrachtung der Naturwissenschaften kommt in den didaktischen Diskursen jedoch häufig zu kurz.40 Zu eben diesem vernetzten Bildungsanspruch kann insbesondere die Physik und Physikdidaktik ihren Beitrag leisten, wenn sie – wie Rieß es formuliert – „Verstehen“ über das Anhäufen von (Spezial-)Wissen stellt, damit den historisch-genetischen Ansatz hermeneutisch neu akzentuiert, naturwissenschaftliche Bildung interdisziplinär rahmt und einen Schritt in Richtung Allgemeinbildung geht. Rieß hält fest, dass allein das Anwenden von naturwissenschaftlichen Gesetzen und Theorien für einen Bildungsanspruch nicht ausreicht (vgl. Rieß/Schulz 1994: 185f.). Er verweist auf Martin Wagenschein, auf den Verstehensbegriff der Geisteswissenschaften, auf die Pädagogik und die Kunst. Dem Nachvollzug historischer Experimente, dem Einfühlen in fremde Gedanken und dem Umgang mit dem experimentellen Materialambiente wird für das Anbahnen von Verständnis eine besondere Bedeutung zugemessen (vgl. Rieß/Schulz 1994: 186). Dieses Verständnis der Praxis des Experiments könne zu einer engeren Verknüpfung von Wissenschafts- und Sozial- bzw. Kulturgeschichte führen (vgl. Rieß 1997: 344). Es wird so ermöglicht, die „subjektiven Faktoren“ des Erkenntnisprozesses in den Blick zu nehmen.41 „Das Experiment in der Physik ist das Einfalltor für individuelle und soziale Einflüsse wie für die natürlichen, handwerklichen und technischen Bestimmungsfaktoren der Erkenntnis. Der Replikationsprozeß eröffnet dem Wissenschaftsforscher die Möglichkeit, die Schmuddelecke
|| 40 Vor diesem Hintergrund muss die Frage gestattet sein, ob das „naiv-konservative Weltbild“ der volkstümlichen Heimatkunde heute nicht vielfach einem naiv-konservativen (Natur-)Wissenschaftsbild (dem der 1930er- und 1940er-Jahre) gewichen ist, das sich zu einer prominenten Didaktikdoktrin für den Sachunterricht verstetigt hat. Ein Einbeziehen moderner Wissenschaftstheorie und -forschung findet im sachunterrichtsdidaktischen Fachdiskurs zu selten statt, vgl. aber Kosler (2016, 2017). 41 Rieß geht damit deutlich über eine rein externalistische Betrachtung hinaus, die sich primär für die Wirkung von Gesellschaft und Politik auf wissenschaftlichen Wandel interessiert.
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der Wissenschaftsgeschichte kennenzulernen und zu verfolgen, wie daraus das geordnete Gebäude der Lehrbuchphysik hervorgebracht wird.“ (Rieß 1998: 168f.) Dabei geht es nicht darum, retrospektiv-normativ eine schlechte Praxis des Experimentierens aufzudecken, sie nachzuweisen und die verbundenen heroisch-großen Namen der Disziplin abzuwerten.42 Hingegen geht es um das bessere Verstehen wie Physik (erfolgreich) betrieben wird und welche Rolle das Experiment hier spielt. Mit der Praxis des Nachbauens und -machens historischer – teils sehr aufwändiger – Experimente gelingt das Generieren von neuem Wissen über das physikalische Experimentieren an sich. Dabei werden z. B. Erfolgsbedingungen aufgedeckt, über die sich die historischen Quellen und Dokumentationen ausschweigen (vgl. Rieß 1998: 163). Mit den Schilderungen und Entdeckungen des reproduzierenden Experimentierens – streng orientiert an Überlieferungen, alten Publikationen und historischen Dokumentationen – tritt Frappierendes hervor. Es werden z. B. „erstaunliche“ Widersprüche zwischen Textangaben und den verbundenen Abbildungen aus unterschiedlichen Quellen ersichtlich (z. B. was Maßstäbe betrifft) (vgl. Rieß 1997: 346). Es wird entdeckt, dass die Durchführung und die zugehörige Publikation keinesfalls in einem dokumentarischen Sinn kongruent sind. „Experimente planen und machen, sie dokumentieren und sie dann präsentieren sind recht unterschiedliche Dinge. Die verschiedenen, zeitlich aufeinander folgenden Quellen (z.B. Labornotizen, Labortagebücher, Publikationen usw.) sind in den seltensten Fällen deckungsgleich, oft nicht einmal recht kompatibel miteinander.“ (Rieß 1998: 168) Zeichnungen und Bilder von verwendeten Objekten stimmen in keiner Quelle überein mit dem Gerät, das „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ Verwendung bei einer Messung fand. Aus einem großen Datenkorpus finden nur die Daten selektiv ihren Weg in die Publikation, die am besten zu der „vorgeschlagenen Gesetzmäßigkeit“ passen. Es wird erkennbar, dass die zeitliche Reihenfolge der durchgeführten Experimente – vielleicht aus Gründen der Systematisierung – im Nachhinein geändert wurde. Das Experiment tritt dabei zugunsten einer linearen Erkenntnislogik und begrifflichen Systematik immer weiter in den Hintergrund einer Verschriftlichung (vgl. Rieß 1997: 352).43 „Die Publikation ist der erste Schritt zur Kanonisierung eines Experiments, und was wirklich im Labor geschah wird vergessen und verdrängt zugunsten einer naturwissenschaftlich korrekten, linearen Erkenntnislogik, die die Vitalität des Experimentierens einer begrifflichen Systematik unterordnet.“ (Rieß 1998: 168; H. i. O.) Dieses Ergebnis
|| 42 Dass das retrospektive Ausgehen von einer Wissenschaft der großen Männer, die mit ihrem Genius, für sich denkend, den nächsten großen Schritt einer kumulativen Wissensaddition vornehmen, eine unhaltbare Verklärung ist, haben wissenschaftshistorische Arbeiten ohnehin eindrücklich herausgestellt. Verwiesen sei auf die Kritik an der „whig history“ und an Bernard le Bovier de Fontenelle, auf die Arbeiten von Arthur Lovejoy und Thomas Kuhn – für einen Überblick vgl. z. B. Brandstetter (2012). 43 Vergleiche auch Kuhns Kritik am Wissenschaftsbild der wissenschaftlichen Lehrbücher, als vermeintlich gültiges Abbild davon, wie Wissenschaft ist (vgl. Kuhn 1976: 15ff.).
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konnte durch einen empirischen Blick auf empirische Arbeitsweisen generiert werden, indem letztere nicht als gesetzt-bekannt sondern als untersuchenswert und fragwürdig betrachtet wurden. Gilt es – wie vielfach gefordert –, die Struktur der Naturwissenschaften vor unverbundenen Einzelkenntnissen zu lehren (vgl. Rieß 1997: 339) bzw. Kinder ernstlich im Sinn der „scientific literacy“ an die Funktions- bzw. Arbeitsweisen der Naturwissenschaften heranzuführen, darf die Komplexität selbiger nicht unterschätzt werden. Soll es im Sachunterricht, wie Bäuml-Rossnagl ausführt, um eine „kritisch-prüfende Sachauseinandersetzung“ durch Experimente (vgl. BäumlRossnagl 1979: 71) bzw. um eine kritische Reflexion, wie sie auch die „scientific literacy“ einfordert, gehen, so erscheint es schwerlich vereinbar, mit dem Unterricht beim unkritisch-suggestiven Kredenzen eines Bildes von Wissenschaft zu verweilen, das unter Ausblendung aktueller wissenschaftsgeschichtlicher und -soziologischer Forschung an normativen Idealvorstellungen festhält. Zwischen populär-normativen und empirischen Verständnissen des naturwissenschaftlichen Experiments herrscht ein Spannungsverhältnis, das für didaktische Konzepte relevant werden kann. So verweisen Höttecke und Rieß (2015) auf die Ergebnisse der jüngeren Wissenschaftsforschung zum Experiment und kontrastieren sie mit dem Experiment in schulischen Settings und didaktischen Diskursen. Die Autoren suchen dabei nach einem authentischen Experimentbegriff für die Schule, der der Verflechtung aus Fragen, Interessen, Perspektiven, Wissensbeständen, Theorien, Fähigkeiten, Körpern und Materialien im kulturellen und sozialen Kontext gerecht wird. Sie postulieren, dass der Physikunterricht derzeit z. B. unsicherer Evidenz (widersprüchlicher Messergebnisse u. a.) meidet und die Unterrichtspraxis das Experimentieren stark vorstrukturiert bzw. determiniert wird (vgl. Höttecke/Rieß 2015: 136). „So gehen potenzielle Chancen des Lernens über die Natur der Naturwissenschaften verloren.“ (Höttecke/Rieß 2015: 130) Um authentische Lerngelegenheiten zu ermöglichen, müsste der Prozesshaftigkeit und Materialität von Forschungsprozessen mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden, es gelte, den ständigen Bezug von theoretischen Ideen, experimentellen Handlungen, Instrumenten und ihren Konstruktionen, Daten und ihren Analysen aufeinander beim Lernen zu ermöglichen. Mit dem empirischen Blick auf die Hervorbringung von Wissen in den Naturwissenschaften ergibt sich für den Unterricht eine Herausforderung: Eine dogmatischverkürzte Heranführung an Normvorstellungen zu den Naturwissenschaften und ihren Experimenten kann unkritischen Szientismus fördern und Schüler(innen) täuschen.44 Es erscheint fragwürdig, eine so betriebene Heranführung vor dem Hintergrund einer „scientific literacy“ zu begründen. Die den Bildungsanspruch
|| 44 Beispielsweise verweist Krumbacher auf den aktuell erneut großen Einfluss, welchen die Bezugswissenschaften Chemie und Physik auf den Sachunterricht haben; er attestiert eine mangelnde (kritische) Reflexion: „Das birgt die Gefahr, sogenannte ‚szientistische‘ (also ‚wissenschaftsgläubige‘) Sichtweisen zu fördern.“ (Krumbacher 2009: 1) Dass Szientismus eine Gefahr für „scientific literacy“,
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torpedierende Gefahr kann darin gesehen werden, dass die vermeintliche Antwort zum Wie der Naturwissenschaften vorschnell, perspektivisch-verengt und simplifiziert gegeben, also ideologisch-präfiguriert an die Kinder herangetragen und dabei aktuellem empirischen Wissen zur Praxis der Naturwissenschaften nicht gerecht wird. Verfolgt man konsequent das Anliegen, Schüler(innen) ernstlich an die Arbeitsweisen und Funktionsweisen innerhalb der Naturwissenschaften heranzuführen, birgt dies für Lehrer(innen) ggf. die anspruchsvolle Aufgabe, wissensrelativistische Haltungen sowie die empirische Unterdeterminiertheit und soziale Konstruktion von wissenschaftlichen Tatsachen zu reflektieren. Ob und wie dies wirklich zum Ziel der (Grund-)Schule werden kann, muss im sachunterrichtsdidaktischen Diskurs stärker verhandelt werden. Die Arbeiten von Rieß und Höttecke geben grundlegende Hinweise, wie solche Lerngelegenheiten authentisch gestaltet werden könnten. Das von ihnen für die Schule hervorgehobene Verständnis von Experimenten als subjekt- und materialbestimmte Praxis, birgt dabei einen orientierungsstiftenden Bildungswert, der eng verknüpft ist mit den gesellschaftlichen und historischen Einbindungen der Naturwissenschaften. „Der Bildungswert eines solchen Experiment-Verständnisses [kaum planbar, produktiver Schwebezustand, praktisch-manuelle Verrichtung beim Umgang mit Materialität u. a., J. L.] besteht nicht nur in der Vermittlung eines authentischen Bildes der Naturwissenschaft, sondern auch darin, dass er zum Verständnis des Verhältnisses von Natur, Mensch und Gesellschaft beiträgt, und wie in deren Schnittpunkt Wissen und Erkenntnis produziert wird.“ (Höttecke/Rieß 2015: 136) Eingeräumt wird dabei jedoch, dass empirisches Wissen zu den Möglichkeiten von schulischem Lernen über authentisches Experimentieren noch weitgehend aussteht (vgl. Höttecke/Rieß 2015: 137). Empirische und konzeptionelle Arbeiten sind m. E. insbesondere vor dem Hintergrund zu intensivieren, dass eine solche vielperspektivische Behandlung von Experimenten insbesondere für den Sachunterricht und seinen perspektivisch-vernetzenden Bildungsanspruch einen potenziell großen Wert und Reiz bietet. Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft, der mein empirisches Interesse gilt, arbeiten der Unterrichtspraxis vor und zu. Über verschiedenen Entwicklungsentscheidungen geht ein – zumindest impliziter – Bezug auf unterschiedliche Bildungsideale und Experimentverständnisse einher. An dieser Stelle kann eine grundlegende Weichenstellung vermutet werden, die in der Bildungswirtschaft und somit außerhalb von Schule liegt. Mit Verweis auf die postulierten außerschulischen Akteurinnen und Akteure der schulischen Praxis (siehe Kapitel 1.2.3) gehe ich davon aus, dass sich eine Praxis der (intendierten) Präfiguration von schulischen Experimenten innerhalb der Bildungswirtschaft etabliert hat. Ein facettenreicher Experimentbegriff, der die
|| kritische Bildung und somit letztlich für die zentrale Zielsetzung sowie das Selbstverständnis des Sachunterrichts ist, kann kaum bestritten werden: Szientismus gründet in einem dogmatisch beschnittenen Bild von Wissenschaft.
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Erkenntnisse der neueren Wissenschaftsforschung berücksichtigt, kann den analytischen Blick auf diese Praxis schärfen. „According to a current understanding, a scientific experiment is, instead, an act of intervention, where questions, interests, public and private perspectives, background knowledge and skills, an experimenter’s body, instruments, rooms and spaces, material and theoretical entities, and procedures interact to develop science within a cultural and societal context“ (Heering/Höttecke 2014: 1480) Es ist zu vermuten, dass die Entwickler(innen) von Experimentierkästen mit unterschiedlichen Fragen, Interessen, Perspektiven, Wissensbeständen, Theorien, Materialien usw. agieren. Die Bildungswirtschaft steht dabei vor der Aufgabe (teils historisch berühmte) Experimente (re-)produzierbar zu machen. Da diese zumeist als zu arrangierende Materialsammlungen in Koffern bzw. Kästen an die Schulen verkauft werden, gilt ferner, dass die Entwickler(innen) der Industrie den späteren – durch Lehrer(innen) oder Schüler(innen) betriebenen – materiellen Aufbau und die Durchführung des Experiments planen müssen. Die Arbeiten von Rieß können dabei helfen, analytische Prallelen und Kontrast auszumachen: So, wie die Physiker(innen), deren Experimente Rieß reproduzierte, nicht bei dieser Reproduktion zugegen sein konnten, sind auch die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft durch Zeit und Raum von der späteren Unterrichtssituation entfernt, für die sie produzieren. Es geht den Akteurinnen und Akteuren der Bildungswirtschaft um die konzeptionelle Einschulung von Experimenten, die situativ – vermutlich über sprachliche Aushandlungen sowie manuelle Umgangsweisen – hervorgebracht und stabilisiert werden.
2 Ethnografie: Vorgehen in Feld und Text Das formulierte Forschungsinteresse an der Verfertigung von unterrichtlichem Material durch außerschulische Akteurinnen und Akteure der schulischen Praxis orientiert sich an der neueren Wissenschaftsforschung (vgl. z. B. Knorr-Cetina 1981; Latour/Woolgar 1986; Lynch 1985), den „social studies of teaching and education“ (Kalthoff 2011) bzw. einer kulturanalytischen und akteursfokussierten Schulforschung (vgl. z. B. Kalthoff 1997; Breidenstein/Kelle 1998; Wiesemann 2000) sowie einer sozialkonstruktivistischen Technikgeneseforschung (vgl. z. B. Bijker et al. 1987; Weyer et al. 1997; Rip/Schot 2002): In dieser Traditionslinie interessieren mich die in alltäglichen Situationen verorteten und beobachtbaren Praktiken. Für dieses empirische Anliegen, die Entwicklungspraktiken der Akteurinnen und Akteure der Bildungswirtschaft zu fokussieren, ist ein ethnografischer Zugang prädestiniert. Ein solcher ist besonders geeignet, um Institutionen und Organisationen mit ihren situativ hergestellten Besonderheiten, Ordnungen, Regelungen und Arbeitsweisen zu verstehen (vgl. auch Kelle 2011: 229). Es gilt demnach – unter Verzicht auf Standardisierungen und Quantifizierungen –, teilnehmend im Forschungsfeld zu beobachten und diese Beobachtungen in ethnografische Beschreibungen zu überführen sowie sie zu systematisieren. Für diese Systematisierung und Verbindung stütze ich mich zudem auf ausgewählte Aspekte der Grounded Theory. Dabei verstehe ich die Grounded Theory nicht als forschungspraktisches Kochrezept, das Schrittfolgen und Verfahrensweisen vorschreibt, an die man sich mit sklavischer Rigidität zu halten hat. Vielmehr sehe ich den freien Umgang als Teil der zur Grounded Theory gehörenden Kernkonzeption. Mit den Worten von Strauss: In der Sozialforschung sprechen „etliche strukturelle Bedingungen gegen eine strikte Systematisierung von methodologischen Regeln [...]“ (Strauss 2004: 436). Die vermeintlichen Vorgaben der Grounded Theory seien demnach eher als „Leitlinien“ oder „Faustregeln“ zu lesen, denen Strauss explizit den Ratschlag zur individualisierenden Modifikation und experimentellen Anpassung an das je eigene Projekt beistellt (vgl. Strauss 2004: 437). Somit muss die Frage – auch in einem ethnografischen Sinn – stets sein: Was passt wie zu meinem Feld bzw. welche Verfahrenselemente ermöglichen eine größtmögliche Nutzbarmachung meiner Daten? Neben dem grundsätzlichen Postulat der Verwobenheit von Theorie und Empirie (vgl. Strauss 1994: 70), war das Zirkulieren von Schreibtisch- und Feldphasen ein für meine Arbeit bedeutendes Element der Grounded Theory. Diese Forschungsstrategie kam den in punktuellen Meetings organisierten Arbeitsweisen meines Feldes entgegen. Die Strategie baut darauf, dass durch erste Analysen relevant erscheinende Fragen und Phänomene entdeckt werden, die dann wiederum spezifischere und fokussiertere Beobachtungen ermöglichen. Die Suche nach Vergleichen, Varianten und Kontrasten hat dabei für das „theoretical sampling“ eine große Relevanz (vgl. Strauss/Corbin 1996: 150) und wurde auch von mir betrieben, ohne dass aus jedem
60 | Ethnografie: Vorgehen in Feld und Text
Feldaufenthalt ein Bündel an (Zwischen-)Hypothesen abgeleitet wurde. Die von der Grounded Theory vorgeschlagenen Codierverfahren waren sehr hilfreich, um die Daten aufzubrechen und zu gruppieren. Das vorgeschlagene „Codierparadigma“ (vgl. Strauss/Corbin 1996: 78ff.) verwendete ich jedoch nicht als Heuristik, um Fragen nach Kausalitäten oder Ursachen an mein empirisches Material zu tragen. Auch ohne derlei Schablonen kann sich m. E. trefflich der Frage genähert werden, worum es – den Akteur(inn)en – eigentlich in den Daten geht. Eben diese Frage ist es letztlich, auf die die Grounded Theory zielt (vgl. Strauss 1994: 66), und die von mir im Sinn des geertzschen „what the hell is going on here?“ verstanden wird. Auch wenn die Grounded Theory einen retrospektiven Blick auf die Daten zu konzeptionalisieren (nicht zu standardisieren) versucht, und ihr somit ein rekonstruktives Moment innewohnt, ist es nicht mein Anliegen, rekonstruktiv hinter die Fassade der aus dem Feld mitgebrachten „Originaldaten“ zu schauen.1 Es geht mir z. B. nicht darum, einen objektiv-hermeneutischen oder psychoanalytisch motivierten Blick hinter die Daten zu werfen, um einen dort verborgen liegenden Sinn herauszukristallisieren oder eine neue Bedeutungsebene zu entschlüsseln. Es geht demnach auch nicht um mikroskopisch-sezierende Intensivanalysen weniger (gesprochener) Sätze. Auch wenn meine Daten teils – durch die Gegebenheiten des Feldes und seiner Meetingsituationen – stark sprachlich strukturiert sind und die wörtliche Rede unter Vernachlässigung der Orthografie und zugunsten der lautlichen Nachformung getätigter Aussagen transkribiert wurde, geht hiermit nicht eine konversationsanalytische oder streng ethnomethodologische Verortung einher. Vielmehr soll den Leser(inne)n dadurch eine dichte Partizipation an der Situation ermöglicht werden.
|| 1 Wenn ich den Begriff „Daten“ verwende, so tue ich dies nicht in einem naturalistischen Sinn, mit dem Daten als etwas verstanden werden, das man im Feld schlicht auf- bzw. erheben muss, um es dann konserviert an den Schreibtisch zu tragen. Vielmehr verstehe ich Daten in einem geertzschen Sinn als das Resultat vielfältiger Konstruktionsprozesse.
Ethnografie: Vorgehen in Feld und Text | 61
Tab. 1: Skription (eigene Darstellung).
Textkennzeichnung
Bedeutung
„“
gesprochene Äußerungen, wörtliche Rede
(.)
kurzes Stocken im Redefluss
(3)
längere Pause in Sekunden
GROSSSCHREIBUNG
energische Betonung, laut
Unterstrichen
eindringliche Aussprache, mit Gewicht in der Stimme
[Ergänzungen]
von mir vorgenommene Einschübe zum Verstehen der Zusammenhänge
[…]
Auslassungen
[xxx]
Unverständliches, Gemurmel
:u:nd
leichte Dehnung
gezogen
sehr langsame Aussprache ganzer Wörter
Wörtliche Rede ist nur ein Mittel der Kommunikation innerhalb der von mir beobachteten Situationen.2 „Wir beobachten, was Menschen sagen und tun, und wie sie es sagen und tun.“ (Wiesemann 2011: 168) In meinem Datenmaterial hängen die getätigten Aussagen der Akteurinnen und Akteure nicht feintranskribiert im luftleeren Raum. Sie sind untrennbar verknüpft mit und bedingt durch außersprachliche Geschehnisse, die durch meine notierten Wahrnehmungen und Deutungen zu Bildern des situativen Kontextes wurden. Ich wende mich damit gegen die Idee der Möglichkeit einer Trennung von Datenerhebung und Datenanalyse in der Ethnografie: Da Beobachtungen und Beschreibungen einer Situation immer auch schon Versuche des Sinnverstehens durch das beobachtende Subjekt sind, ist in einem ethnografischen Sinn von einer (auch personellen) Trennung zwischen Datenerhebung und -analyse abzusehen (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 17). (Feld-)Forschung und Analyse verstehe ich somit als untrennbar zusammengehörende Praxis und, angelehnt an den empirischen Konstruktivismus (vgl. Knorr-Cetina 1989), als von mir zu erbringende Herstellungsleistung. Diese Konstruktion vollziehe und reflektiere ich auf zwei Ebenen:
|| 2 Zudem gibt es in meinen Daten nicht nur eine Form von wörtlicher Rede. Wenn beispielsweise die Akteurinnen und Akteure schulisches Nutzerverhalten antizipieren wollen, kommt es häufig vor, dass die Entwickler(innen) – einem Theaterspiel gleichend – in die Rollen von fingierten Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n schlüpfen, um ihnen so eine Stimme im Entwicklungsprozess zu geben. Es findet sich in diesem Sinne wörtliche Rede innerhalb der wörtlichen Rede, die ich mit verschiedenen Binnenanführungszeichen kenntlich mache.
62 | Ethnografie: Vorgehen in Feld und Text
(1) Als Forscher partizipiere ich selbst als teilnehmend beobachtendes Subjekt im Feld, bin als solches das Instrument der Datengewinnung (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 25f.) und mir darüber bewusst, dass jede „‚Beobachtung‘ von Verhalten [...] vor aller Interpretation bereits in der Wahrnehmung des Verhaltens durch den Beobachter geprägt [ist]“ (Beck/Scholz 2000: 150). Notwendigerweise ist man selbst der Konstrukteur seiner Daten. Dabei gilt es die Subjektivität für die Datenerhebung nutzbar zu machen, sie also nicht auszuschließen, sondern zum Einsatz zu bringen, um das soziale Geschehen auch jenseits der gesprochen Worte selbstreflektiert und schreibend zur Sprache zu bringen. Der Ethnograf bringt dabei etwas (Wahrgenommenes) zur Sprache, das vorher nicht sprachlich war, er fokussiert die „Schweigsamkeit des Sozialen“ und leistet somit mehr als ein schlichtes – technisch-positivistisch verstandenes – Aufzeichnen von Flüchtigem (vgl. Hirschauer 2001: 429f.). Das detaillierte, hochgradig selektive und subjektive Beschreiben ist in diesem Sinn ein Qualitätsmerkmal gelungener Beschreibung. Erst durch meine Zuschreibungen von Bedeutung mache ich als Forscher die Situationen an der ich partizipiert habe zu verstehbaren ethnografischen Daten (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 31). Erst durch die so gefütterte „dichte Beschreibung“ (vgl. Ryle 1971; Geertz 1983) wird verstehbar, ob es sich – um das berühmte Beispiel zu bemühen – bei einem beobachteten Lidschlag um ein biologisches Zucken oder kulturelles Zeichen handelt. Sachlich für sich betrachtet sind die Bewegungsvorgänge gleich (vgl. Ryle 1971). Die dichten Beschreibungen sind als Konstruktionen aus dem Feld somit bereits als analytische Teilergebnisse zu lesen. Letztendlich geht es darum, durch ein „Zusammenkomponieren“ von Protokollnotizen, Sinneseindrücken und situativen Assoziationen Erfahrungsqualität zu simulieren (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 34). (2) In einem zweiten Schritt der Konstruktion werde ich wiederum die dichten Beschreibungen zu einem empirischen Datenmosaik arrangieren, mit dem schriftsprachlich ein Gesamtbild gezeichnet wird, das die Geschehnisse und Praktiken im Feld arrangierend in den Blick nimmt. Mit diesem Vorgehen erfährt das Postulat der Zusammengehörigkeit von Daten und Analyse eine weitere Stärkung. Ein einzelnes Fragment in diesem Datenmosaik kann – als kategorisierter Splitter einer aufgebrochenen dichten Beschreibung – unter Umständen nicht mehr sein als ein kurzer Wortwechsel zwischen zwei Akteur(inn)en sowie meine beschriebenen Empfindungen und einhergehenden Einordnungen als Feldforscher. Gerahmt wird ein solches Fragment von angeschlossenen Abstraktionen und Überleitungen zu einem nächsten Fragment, das ähnlich kategorisiert wurde wie das vorangegangene, somit inhaltlich verwandt ist, sich z. B. auf ein gleiches Phänomen oder Handlungsproblem der Akteurinnen und Akteure bezieht. Dies bedeutet jedoch auch, dass die zwei Fragmente möglicherweise aus Feldnotizen hervorgingen, die zeitlich weit auseinanderliegen. Somit stellt das Plädoyer für eine fragmentarisch-analytische Verschriftlichung auch den prominenten Status der Situation als Analyse- und Darstellungseinheit infrage. Ich wende mich von dem
Ethnografie: Vorgehen in Feld und Text | 63
Anspruch ab, vermeintlich vollständige Situationen – mit klarem Anfang und Ende – abbilden zu können. Diese Abwendung orientiert sich am Feld, da die Entwicklung als sozialer Prozess über eine konkrete Situation hinausgeht.3 Die wechselseitige Bezugnahme der Akteurinnen und Akteure aufeinander war oft sprunghaft. Während beispielsweise drei Personen thematisch in einer Diskussion weiterschritten, verblieb eine weitere Person gedanklich bei dem zuvor behandelten Thema und erbat – nach der sinnierenden Pause – Minuten später eine Rückkehr zu dem vermeintlich bereits abgeschlossenen Punkt. Eine scheinbar beendete Situation, die mit einer Entscheidung vermeintlich schloss, kann wenig später – im Licht neuer Aspekte, nach dem Einschub anderer Themen – erneut auf den Tisch bzw. zur Sprache kommen. Sie wird neu diskutiert, anders bewertet und ggf. revidiert. Es gab vielfach nicht die abgeschlossene Entscheidungssituation, vielmehr gab es viele Bedingungen, die den Prozess der Entscheidungsfindung immer wieder neu beeinflussten und aktualisierten. Teils waren Akteurinnen und Akteure nur temporär involviert, brachten sich kurz ein und verabschiedeten sich schnell wieder aus der Situation. Das Präsentieren von vermeintlich vollständigen bzw. chronologisch abgeschlossenen Situationen erscheint den Praktiken im Feld häufig unangemessen. Die Frage, für wen eine Situation wann vollständig oder gar beendet ist, scheint nur schwer zu beantworten zu sein. In jedem Fall ist sie mit einer analytischen Setzung verbunden. Sich diesen Feldgegebenheiten anzupassen erachte ich jedoch nicht als Manko, sondern als analytische Chance. Ähnlich kehrt Mohn dem Anspruch den Rücken, Situationsdokumente in unberührter Authentizität zu zeigen. Sie plädiert kameraethnografisch dafür, am Schneidetisch forschende Blicke und interpretative Rahmen ins Spiel zu bringen aus denen explorierende Montagen hervorgehen: „Zerlegen wird zu einer Erfahrung, die zu Bewusstheitsfragmenten führt, denn Schnitte im Material sind ohne ein Reflektieren interpretativer Relevanzen kaum möglich.“ (Mohn 2008: 69) Indem die Situation nicht als etwas aufgefasst wird, das nach festen Regeln in ihrer Länge bestimmt, vermessen und als feste Einheit aus dem Material freigelegt werden muss, kann durch das Zerschneiden und Arrangieren eine neue Ebene der Analyse und Konstruktion ethnografischer Forschung entstehen: Die vermeintlichen Splitter der Situationen
|| 3 Hirschauer folgend (Podiumsdiskussion der 5. Fuldaer Feldarbeitstage vom 27.06.2015) kann abgegrenzt werden, um was es verschiedenen Ansätzen der qualitativen Sozialforschung im Kern geht: Biografieforschung stellt das Subjekt in den Fokus, die Diskursanalyse fokussiert Kommunikationsströme, der Interaktionsanalyse geht es – bezugnehmend auf Goffmann – um Situationen und ihre Menschen. Im Zentrum einer Ethnografie steht hingegen der Feldbegriff. Seine sozialen Anlässe, Lokalitäten und Kontexte reichen über die konkrete soziale Situation hinaus. Fraglos kann Ethnografie mit Flanken betrieben werden, die – insbesondere zu Interaktionsanalyse – offen sind. Situationen, Subjekte oder Dokumente können als plurale Sinnquellen für die Ethnografie verstanden werden, die jedoch für sich stehend nicht deren Kern bilden.
64 | Ethnografie: Vorgehen in Feld und Text
lassen sich zu einem Gesamtmosaik im Kontext eines Kapitels arrangieren, das eine analytische Gesamtaussage und narrative Dramaturgie hat. Die Fragmente in Kombination und Kontrast, verbunden durch abgesetzte Textabschnitte der Rahmung und Abstraktion, sind nicht Ausdruck einer Trennung von Datum und Analyse. Vielmehr ist das Arrangieren der Materialfragmente selbst Analysearbeit. Nicht nur die typografisch abgehobenen Situationsauszüge aus dem Feld sind für sich genommen analytische Einheiten, auch ihre Kombination und Abfolge (die keine chronologische ist) ist eine analytische Repräsentation, mit der (m)ein Gesamtnarrativ entsteht. Dieses Mosaik erhebt also nicht den Anspruch, die eine im Feld aufgenommene und mitgebrachte Wirklichkeit intersubjektiv als Istzustand abzubilden. Ein solch fragwürdiger Anspruch auf die eine soziale Wirklichkeit könnte der Perspektivenvielflat im Feld ohnehin nicht gerecht werden und würde verkennen, dass eben diese Vielfalt für die Zusammenarbeit der Akteurinnen und Akteure bzw. für ihre aus der Zusammenarbeit entstehenden Produkte konstitutiv ist. Vielmehr bildet mein Datenmosaik (nicht als Abbild, sondern als zeichnerische Konstruktion) analytische Perspektiven, die verschiedene Entdeckungen und zugehörige Verständnisweisen der Praxis anbieten. Mit dem Vorgehen der verknüpfenden Anordnung der aus Situationen gewonnenen empirischen Mosaiksteine geht es also nicht um ein Belegen, sondern um ein Legen, im Sinn eines aufzeigenden Erzeugens. Es geht um die Vermittlung einer Lesart des empirischen Materials, die ich – basierend auf meiner Teilnahme am Prozess – favorisierend anbiete und sie damit in die schriftliche Form einer gegliederten Monographie bringe. Eine solche ist durch Linearität charakterisiert, braucht einen roten Faden und ist nicht durch eine netzartige oder zirkulierende Struktur geprägt. Ich verorte mich somit bei Griesecke, die mit Bezug auf Wittgenstein betont, dass ethnografisch-analytische Beschreibungen – die durch (Um-)Gruppierungen zu einer „übersichtliche Darstellung“ gebracht werden – immer nur eine Ordnung und nicht die Ordnung anbieten können (vgl. Griesecke 2001: 62). Auch mir geht es um ein „Zusammenhänge sehen“ (Wittgenstein 2001: 814) bzw. um ein arrangierendes Zeigen dieser Zusammenhänge als neue Verständnisweisen zum Feld. Zum Verstehen und Umverstehen gilt es, nach Praxen der Befremdung zu suchen (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 17) und eine systematische sowie wiederkehrende Herstellung von Fragwürdigkeit bzw. Offenheit vorzunehmen (vgl. auch Beck/Scholz 1995: 17; Zinnecker 1995: 21). „Wenn das Überraschende, Unerwartete einmal ausbleibt – also alles ist so, wie man es erwartet hat – so würde dies nur anzeigen, dass es der teilnehmenden Beobachtung misslungen ist, sich in ihren Vorannahmen verunsichern zu lassen.“ (Breidenstein et al. 2013: 39) Zum irritierenden Umverstehen, einem abweichenden Verstehen bzw. dem Erzeugen einer Perspektivendifferenz empfand ich den Rückgriff auf Metaphern als ein erkenntnisproduktives Mittel der Analyse. In diesem Sinn kommt es zu regelmäßigen metaphorischen Befremdungen aber auch zu
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analytisch-kontrastiven Vergleichen, die sich an das ausgewählte empirische Material anschließen und z. B. auf andere Felder Bezug nehmen. Mit der reflexiven Wendung und methodologischen Nutzbarmachung der Subjektivität der Forscher(innen) geht einher, dass auch die eigene Rolle und Präsenz im Feld nicht als Störfaktor zu begreifen ist, der die vermeintlich natürlichen Daten verfälscht. Vielmehr ist die eigene und sichtbare Gegenwärtigkeit im Feld genuiner Bestandteil einer ethnografischen Kulturanalyse, denn für diese ist die Idee grundlegend, dass Kultur erst im Kulturkontakt entsteht: „Vor dem Kontakt weiß sie nicht, dass sie eine Kultur ist. Erst der Kontakt zwingt sie, aus der Erfahrung des Fremden […] auf ein Eigenes zu schließen.“ (Baecker 2000: 16) Die Interaktionen, Kontakte und gegenseitigen Adressierungen zwischen Feldforscher(inne)n und den Akteur(inn)en im Feld bergen ein großes und zu reflektierendes Erkenntnispotenzial über die Praktiken und Funktionsweisen des Feldes (vgl. Wiesemann 2010; Breidenstein et al. 2013: 37). Während meines Ankommens bei den Akteur(inn)en und meiner Aufenthalte im Feld wurden mir verschiedene Spezialbehandlungen zuteil. Diese waren für die Akteurinnen und Akteure eine Praxis des Umgangs mit meiner Person. Auch wenn meine Rolle teils nah an der eines Praktikanten war, wurde ich doch sprachlich als „wissenschaftlicher Begleiter“ und „Doktorand“ adressiert, der sich für die Entstehung und Entwicklung des Experimentierkoffers interessiert. Vor diesem Hintergrund wurde häufig versucht, einen besonderen Service für meine Person und mein Erkenntnisinteresse zu leisten: die Akteurinnen und Akteure fühlten sich durch meine Anwesenheit aufgefordert, ihre Arbeit zu reflektieren und mir Selbstrekonstruktionen ihrer Tätigkeit zu liefern. Mit diesen erbrachten sie – explizit für meine Person – Beschreibungen, Einordnungen, Resümees und Bewertungen ihrer Praxis. Damit nahmen die Akteurinnen und Akteure Gewichtungen vor und fügten an, was mich bestimmt besonders und was mich gewiss eher weniger interessieren würde. Wie sich im Laufe der Forschung zeigen sollte, waren diese Selbstrekonstruktionen der Akteurinnen und Akteure auch Werkzeuge um gegenüber neuen Kolleg(inn)en bestimmte Vorgehensweisen einzuführen oder zu verteidigen. Sie waren somit nicht nur bzw. nur vordergründig an mich adressiert und entpuppten sich somit als eine Praxis der Produktentwicklung und Aushandlung selbst. Daher sind sie in doppelter Hinsicht relevant und werden entsprechend aufgegriffen: Die entfalteten Selbstrekonstruktionen der Akteurinnen und Akteure fließen (als solche erkennbar) mit in das Datenmosaik ein. Selbstrekonstruktionen verschiedener Akteurinnen und Akteure sollen dabei auch miteinander kontrastiert werden und meine Prozessanalysen flankieren. Nicht um Stringenzlosigkeiten, Fehlurteile oder ein Verstricken in Widersprüche zu entblößen, die sich vermeintlich an der einen unterstellten Wirklichkeit anlegen und messen lassen, auch sollen nicht von meiner analytischen Perspektive ausgehend die jeweiligen Selbstrekonstruktionen als zutreffend oder unzutreffend, wahr oder falsch kritisiert werden, vielmehr erscheint eine solche Kontrastierung der Verständnisse vor dem Hintergrund der angestrebten Zeichnung der vielfältigen, pro-
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zesshaft ineinandergreifenden Perspektiven unabdingbar. Kontrastreiche Reflexionen liegen somit im empirischen Interesse der Arbeit, es geht um ein exploratives Aufdecken, aber nicht im Sinn eines normativen Entlarvens. Bei der handwerklichen Datengenerierung ging ich so vor, dass ich im Feld durchgängig digitale Audioaufnahmen speicherte, deren einzelne Zeitpunkte sich über einen Smartpen und seine Software den handschriftlichen Feldnotizen zuordnen ließen. Während der Wortlaut, die Betonung einzelner Sprechakte und verschiedene Geräusche so Eingang in eine Audiodatei fanden, hielt ich zu diesen akustischen Geschehnissen schriftlich das fest, was ich zu ihren jeweiligen Zeitpunkten empfand, interpretierte und sah. Auf diese Weise konnten z. B. auch skizzenhafte Zeichnungen verschiedener Experimentaufbauten komfortabel dem zugeordnet werden, was beim jeweiligen Experiment an sprachlichen Aushandlungen zu hören war. Zurück am Schreibtisch wurden die Audiodateien mehrfach gehört, zunächst mit der Software „f4“ transkribiert und in „MAXQDA“ offen codiert. Entdeckungs- und erkenntnisprädestinierte Stellen wurde unter Hinzuziehung der handschriftlichen Notizen – die sich mit der Smartpen-Software „Livescribe Desktop“ zudem gut digitalisieren und archivieren ließen – verdichtet. Auch im Feld gemachte Fotos und kurze Videos von Experimentverläufen u. Ä. dienten der Anreicherung der Beschreibungen. Da die Akteurinnen und Akteure im Feld ihre Arbeit in Meetings organisierten, konnte in einem wiederkehrenden Wechsel aus Feld- und zurückgezogenen Schreibtischphasen zirkulierend eine weitere Verdichtung analytischer Konzepte und neuer Beschreibungen realisiert werden.4 Zudem profitierten die herausgearbeiteten Konzepte und Interpretationen von dem kritischen Austausch in den Siegener ethnografischen Analysewerkstätten für Doktorand(inn)en (insbesondere in den Semestern von SoSe 2012 bis SoSe 2015). Während zu Beginn der Analysearbeit noch abgegrenzte Situationen bzw. einzelne Verhandlungsverläufe der Akteurinnen und Akteure am runden Tisch die Analyseeinheiten bildeten, mit deren Separierung das empirische Material eine erste Strukturierung erfuhr, galt es mit den späteren Arbeitsschritten des axialen und selektiven Codierens Verbindungen bzw. Ordnungen herzustellen. Die Daten wurden weiter aufgebrochen. Eine zusammenhängende Situation, in der meist verschiedene Aspekte von z. B. einem Experiment verhandelt wurden, ließ sich in kleinteilige Sinneinheiten aufteilen, aus denen später verbindend das Datenmosaik der Kapitel 3 bis 5 entstand.
|| 4 Hilfreiche Erfahrungen und Anmerkungen zum Handwerk des Schreibens fand ich bei Lofland/Lofland (1999) sowie bei Emerson et al. (1995).
3 Feldvorstellung: Kooperationen, Expertisen, Dinge Mit diesem Kapitel beginnt die Darstellung der empirischen Analysen. Die Wahl des favorisierten Unterrichtsmaterials für die Forschung hat mit Kapitel 1.3 eine Plausibilisierung erfahren, der empirische Fokus fand damit eine erste Spezifizierung: Beobachtet werden soll die Entwicklung eines schulischen Experimentierkoffers. Aus den verschiedenen Herstellerfirmen von naturwissenschaftlichen (für den Sachunterricht konzipierten) Experimentierkästen wurde ein großer deutscher Entwickler von Bildungswaren mit langanhaltendem Erfolg am Markt ausgewählt. Seine Produkte sind seit Jahrzehnten in Grundschulen zu finden – und dies in einer enormen Quantität. Inzwischen sind die Koffer auch als Exportgut über den deutschsprachigen Raum hinaus verbreitet, sie verkaufen sich international. Die zugehörigen Hefte (Kopiervorlagen und Lehrerhandreichungen) werden dementsprechend in verschiedene Sprachen übersetzt.
3.1 Erster Feldkontakt: ein neues Projekt Für den Feldkontakt zum vorgestellten Entwickler wurde auf postalischem Weg eine Kooperationsanfrage verschickt. Der Brief hatte einen professoralen Kopf und Absender (Doktormutter), als Mitarbeiter und Ansprechpartner wurde ich – samt Kontaktdaten – angeführt. Das Forschungsinteresse an der Entstehung unterrichtlicher Materialien wurde ebenso beschrieben wie das geplante methodische Vorgehen der prozessbegleitenden Beobachtungen im Betrieb. Die Rolle des Forschers wurde explizit mit der eines Praktikanten verglichen, der seinen „fremden Blick“ auf die Entwicklungspraxis werfen sowie eine wissenschaftliche Dokumentation und Analyse des Prozesses verfassen wird, die auch für den Verlag von Interesse sein dürfte. Ferner wurde in Aussicht gestellt, dass mit angeschlossenen Forschungen auch die Verwendung der Produkte im Unterricht untersucht werden könnte, damit Wissen zu der Frage generiert werden kann, ob bzw. wie entwickelte Ideen zur Nutzungsweise der Koffer in die Praxis des Unterrichts Einzug halten. Der Verweis auf eine Rückkopplung zwischen Entwicklung und Gebrauch sollte als Türöffner dienen. Diese postalische Kooperationsanfrage war auf den 17.11.2010 datiert. Am 19.11.2010 erhielt ich gegen 12:15 Uhr einen Anruf von Herrn Schmidt, dem Geschäftsführer der GmbH. Herr Schmidt nahm Bezug auf das Anschreiben und signalisierte, dass er einer entsprechenden Kooperation grundsätzlich offen und interessiert gegenüberstehe. Allerdings informierte er sich einleitend und rückfragend über unsere Motive: Es sei in den mit Schulen und Unterricht befassten Wissenschaften eine verbreitete Praxis, dass man sich etwas (z. B. Medium, Methode, didaktische Ausrichtung) vornehme und es
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kritisierend zerlege, um dann etwas Neues (und Eigenes) „dazu“ zu machen. Ich versicherte, dass es in keiner Weise unser Interesse sei, selbst vermeintlich bessere Materialien aus der Universität heraus zu entwickeln. Es sei auch nicht das Ziel unserer Forschung, bewertend die Güte, Qualität oder Effektivität der Materialien zu evaluieren. Es gehe uns um das analytische (und normativenthaltsame) Beobachten von Entwicklungspraktiken durch Expert(inn)en der Bildungswirtschaft. Herr Schmidt entgegnete, dass man auf dieser Grundlage weiterreden könne. Er skizzierte einige relevante Eckdaten: Die Firma entwickele und produziere seit Jahrzehnten Unterrichtsmaterial, dies mit einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung für den Sachunterricht und für die naturwissenschaftlichen Fächer der Sekundarstufe. Diese Entwicklungsarbeit werde in Kooperation mit externen Autor(inn)en – z. B. Lehrer(inne)n – durchgeführt. Primär werden Materialien für das Lernen an Stationen entwickelt. Viele dieser Informationen waren mir in ähnlicher Form schon bekannt, ich entgegnete, dass der Betrieb damit für eine Kooperation prädestiniert sei. Wir kamen überein, dass ein persönliches Treffen der nächste Schritt sei und sich hierfür die kommende „didacta“ in Stuttgart anbiete. Auf der Messe könne man die Details zur geplanten Forschung besprechen und Herr Schmidt führte an, dass auch der Didaktiker mit dem die Entwicklungen durchgeführt werden, bei diesem Treffen anwesend sein sollte. Dies wurde von mir ausdrücklich begrüßt. Für das Abstimmen dieses Termins wechselten wir zum Ende des Novembers einige E-Mails. Letztlich wurde der 24.02.2011 für das Treffen vereinbart. Aufgrund der Bedeutung, die dem ersten Feldkontakt beizumessen ist, wird diese erste Begegnung im Folgenden verhältnismäßig ausführlich und chronologisch entfaltet. Neben einer vorstellenden Verortung der Akteurinnen und Akteure dient sie als Ausblick auf das Kommende: In der dichten Beschreibung des Treffens treten viele material- bzw. produktbezogene Ideen, Merkmale und Zuschreibungen hervor. Einige dieser bereits hier anklingenden Aspekte werden über die kommenden Kapitel hinweg durch Systematisierungen und Verdichtungen der Analyse zugänglich gemacht. Das Werben auf der Messe Zusammen mit meiner Doktormutter und einer studentischen Hilfskraft gehe ich durch eine gut besuchte Halle der didacta 2011. Bis zu unserem Treffen mit der Geschäftsführung und einem der Didaktiker haben wir noch etwas Zeit. Dennoch befinden wir uns bereits in der für dieses Meeting richtigen Halle und sehen den Stand mit seinen Bannern, Farben, Logos und Experimentierkoffern aus der Ferne. Wir nähern uns weiter und gehen schließlich, interessiert schlendernd – wie man es als Messebesucher tut –, direkt am Stand entlang. Dieser teilt sich in einen Bereich für die Sekundarstufe und einen für die Grundschule. Letzteren steuern wir an und halten inne. Mit diesem Ankommen – dem Stehenbleiben und Verweilen vor den Exponaten – lösen wir uns aus der Masse der vorbeiziehenden Hallenbesucher und werden zu Standbesuchern. Wir betrachten einen der dort ausgestellten Experimentierkästen zu naturwissenschaftlichen Themen, mit all seinen kleinen Dingen, Materialproben und Vorrichtungen. Der Koffer steht auf einem thekenartigen Tisch, der die Standfläche – über die Strecke einiger Meter – von der viel
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begangenen Hallenstraße abgrenzt. Wir verharren nur wenige Sekunden, bis wir von der anderen Seite der niedrigen Ausstellungstheke angesprochen werden. Ein älterer Herr im Sakko bietet uns seine informierende Hilfe an. Meine Doktormutter entgegnet kurz, dass ihr die Kästen aus der eigenen Grundschulpraxis bekannt seien – und damit auch die darin befindlichen Materialien, die somit ja schon recht alt seien. Der Herr fährt unbeirrt fort und erklärt, dass uns mit seiner Person der Entwickler dieser Experimentierbox gegenübersteht. Diesem Hinweis werden biografische Daten nachgereicht, die für die Qualität der Produkte sprechen sollen: Er sei lange Jahre Lehrer an einer Grundschule gewesen, komme also aus der unterrichtlichen Praxis und aus dieser heraus habe er die Boxen entwickelt. Wie sich die Praxis wiederum mit dem Kasten gestalten lässt, führt er im Folgenden aus: Die Kinder einer Klasse sollen sich in Zweiergruppen zusammenfinden, für jede dieser Gruppen seien Sets in der Box vorhanden (z. B. Ansammlungen von Stoffen, Objekten, Messgeräte, die jeweils zu einem Experiment respektive Versuchsaufbau gehören), zu jedem Set gehören zudem Arbeitsblätter, die Anweisungen enthalten. Wenn alles bereitliegt können die Zweiergruppen starten und alles laufe an. Ein Selbstläufer. Simpel. Der Herr wirbt deutlich für dieses Konzept und der Tenor scheint mir zu sein: Die Koffer bieten den Lehrer(inne)n eine Arbeitserleichterung. Die ganze Klasse sei mit diesem Koffer und den Aufgaben eine Weile (wie später ausgeführt wird etwa 12 Schulstunden) beschäftigt. Die ganze Zeit über spricht er primär mit der Professorin, die von der Hilfskraft und mir eher unauffällig flankiert wird. Mir scheint es so, als habe er sie zur Zielgruppe „Grundschullehrerin“ sortiert. Vielleicht passen die studentische Hilfskraft und ich in die Kategorie „Referendar(in) im Schlepptau“. Wir alle hören dem Entwickler höflich zu, fragen dann aber nicht weiter nach, bedanken uns und entfernen uns langsam wieder. Wir biegen um die Ecke des Standes und verschwinden in der Masse der Hallenbesucher. („didacta“, Nachmittag des 24.02.2011, in Stuttgart am Messestand der GmbH)
Der hier dargestellte Gebrauch des Koffers (der synonym auch als Box oder Kasten bezeichnet wird) wird als vorgeplante Funktionsweise geschildert. Mit dem Schildern des Funktionsprinzips geht die Präfiguration einer späteren Unterrichtssituation einher. In Kapitel 4 wird u. a. dieser „Stationsbetrieb“ analytisch weiter fokussiert und samt den einhergehenden Determinationen für Unterricht sowie Entwicklung systematisiert – dies insbesondere in den Kapiteln 4.1 und 4.2. Ich habe nach dieser Begegnung einige Bedenken, wie wir dem Verlag den Wert plausibel machen können, den unsere Forschung für die Entwicklungsarbeit bietet. Unsere primäre Argumentationslinie für das Werben um Kooperation und Zugang war: Wir beobachten die Entwicklung im Verlag und den Gebrauch in der Schule. Auf dieser Basis bieten wir dem Verlag eine Rückkopplung mit der schulischen Praxis. Da der Herr am Stand aber den Anspruch erhebt, die Produkte direkt aus dieser/seiner Praxiserfahrung zu entwickeln, könnten die Entscheidungsträger der Ansicht sein, dass eine solche Rückkopplung schon gegeben ist. Der entwickelnde Didaktiker seinerseits könnte sich in einer Kontroll- oder Konkurrenzsituation wähnen und unserem Vorhaben skeptisch gegenübertreten. Während ich diese Bedenken der kleinen Gruppe unterbreite, entfernen wir uns zunächst weiter vom Stand, gehen dann eine ausgedehnte Runde und gelangen wieder zu der für die Sekundarstufe sortierten Ecke des Standes. Dort stellen wir uns einer Mitarbeiterin vor und fragen nach dem Geschäftsführer, mit dem wir um 14:00 Uhr verabredet sind. Ich betrachte einen der Experimentierkoffer und bekomme am Rande mit, wie die Mitarbeiterin – wohl wissend worum es geht – den Mann herbeiholt, der uns vor einigen Minuten den Grundschulkasten mit der zugehörigen Unterrichtspraxis erläuternd vorgestellt
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hat. Auch dieser weiß worum es geht, er ist – wie zu vermuten war – der teilnehmende Didaktiker, dessen Beiwohnen angekündigt war. Man begrüßt sich (erneut) und ich empfinde die Atmosphäre dabei als verhalten und etwas angespannt. Fühlt sich der Entwickler von unserem ersten Kontakt vielleicht mutwillig im Unklaren gelassen oder gar getäuscht? Die laufende Begrüßung ist nun ausführlich und beinhaltet neben der namentlichen Vorstellung aller Personen auch die Nennung unser aller Berufsbezeichnungen respektive Positionen. Der Entwickler – Herr Hansmann – muss nun, wie mir scheint, die Kategorie wechseln: Die eben adressierte Frau ist nicht als Grundschullehrerin und potenzielle Kundin hier, die nach Material für ihren Unterricht sucht. Sie ist Professorin für „Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Grund- und Vorschulpädagogik“, vielleicht gar eine solche, die mit kritischem Blick – aus der Universität heraus – über die didaktischen Produkte auf dem Markt und in der Praxis wacht. Hätte uns Herr Hansmann anderes erzählt, wenn er uns von Beginn an in die Kategorie „Universität“ hätte sortieren können? Hätte er uns anders adressiert, wären wir nicht inkognito aufgetreten? Wir werden von der Frau in einen mit Aufstellerwänden abgegrenzten Bereich des Standes geführt. Die Tür schließt sich hinter uns und wir nehmen an einem Tisch Platz. Nun verstärkt sich mein Verdacht, dass sich Herr Hansmann etwas über unsere erste Begegnung ärgert, in jedem Fall versucht er seine Ausführungen rückblickend zu erklären – vielleicht sogar zu rechtfertigen: Hat er sich bisher für die Perspektive von Lehrer(inne)n in Bezug auf ihre tägliche und harte Unterrichtspraxis stark gemacht und als Ausgangspunkt seiner Reden genutzt, bringt er nun weitere Perspektiven ein. Er beginnt damit, dass sich das (vermeintlich) alte Material zwar über viele Jahre nicht verändert habe, wohl aber haben sich die damit verbundenen Methoden und die dahinterstehende Didaktik gewandelt: Das, was man mit dem Material tut, sei auf dem aktuellen Stand und entsprechend gut. Er betont die wichtige Rolle des (kommunikativen) Lernens an Stationen mit der verbundenen Partnerarbeit, er führt an, dass es sich hier nicht um einen aufgelockerten Frontalunterricht handele, und verweist auf seine lange Praxiserfahrung im Sachunterricht, auf die vielen curricularen Wendungen (Sputnikschock ...), die er selbst miterlebt habe. Damit unterstreicht er seine Expertise, mit der er aktiv und seit Jahrzehnten an der Entwicklung der Experimentierkästen in zentraler Weise mitwirke. Nach diesen Ausführungen betont er erneut die Funktionalität und Pragmatik für den Unterricht. Dabei wirbt er um Verständnis dafür, wie erschöpft man als Lehrer(in) nach der vierten Stunde sein kann, wenn die Kinder laut und „schlecht gelaunt“ waren. Wie man dann auf dem Zahnfleisch gehen kann und wie schön es dann sei, die Zweiergruppen „machen zu lassen“, während man sich – erst einmal von Handlungszwängen entlastet – gezielt einzelnen Gruppen zuwenden kann. Die Boxen würden Lehrer(inne)n ermöglichen „wieder Pädagogen zu sein“. („didacta“, Nachmittag des 24.02.2011, in Stuttgart am Messestand der GmbH)
Mit diesen Ausführungen von Herrn Hansmann werden bestimmte Vorstellungen zum Material kommuniziert. Zum einen die konzeptionelle Vorstellung einer enormen Bedeutungsflexibilität: Das originär-haptische Material sei zwar über viele Jahre unverändert, dennoch sei es im Sinn aktueller didaktischer Konzepte zu gebrauchen. Die alten Dinge werden also modern eingesetzt, so die Aussage. Zum anderen wird die Maxime formuliert, dass das Material – als Selbstläufer im Unterricht – den Lehrer(inne)n ermögliche, sich auf ihr pädagogisches Geschäft zu konzentrieren. Diese und verbundene, für den späteren Entwicklungsprozess relevante Vorstellungen und Maximen finden sich analytisch in Kapitel 4.3 aufgegriffen.
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Inzwischen hat sich auch der Geschäftsführer Herr Schmidt zu uns gesellt und nach einer erneuten kleinen Vorstellungsrunde erhalten wir das Wort und damit die Gelegenheit unser Vorhaben werbend zu skizzieren: Es geht uns grundlegend um einen Blick auf Praktiken, für diesen ist ein Aufsuchen und Begleiten der entsprechenden Praxis unabdingbar. Im Rahmen des geplanten Projekts interessieren wir uns sowohl für die Praxis des Lernens in der Schule (Wie gehen Kinder mit dem Material um?), als auch für die Praxis des Entwicklungsprozesses (Wie werden die Materialien gemacht?). Alle Anwesenden hören aufmerksam zu, Herr Hansmann und auch Herr Schmidt wirken auf mich jedoch etwas skeptisch. Herr Hansmann verweist auf die schriftlichen Lehrerhandreichungen, die den Boxen beiliegen, und die die unterrichtliche Praxis – bzw. den Gebrauch der Dinge – genau beschreiben respektive wiederspiegeln würden. Zudem seien darin die Erfahrungen mit dem Material, dem Unterricht und den kreativen Eigenleistungen der Schüler(innen) bereits trefflich aufgenommen und berücksichtigt. Bei diesen Ausführungen klingt er wieder wie in seinem Werbemodus, in dem er sich auch befand, als wir ihn das erste Mal sahen. Herr Schmidt erklärt ergänzend, dass sie ihre Produkte intern „validieren“. Während sich meine pessimistischen Überlegungen zu bestätigen scheinen, mache ich mir ein paar Notizen in der Situation, womit ich allerdings keine größere Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Wir machen uns im Weiteren für unser Erkenntnisinteresse im Sinn eines „Verstehenwollens“ stark. Damit rücken wir etwas ab von der selbstbewussten „Wir-bieten-ihnen-Position“ und nähern uns einem „Wir würden gerne von und bei Ihnen lernen“: Es geht uns um ein Begleiten und ein Nachvollziehen der Entstehung mit all den zugehörigen Prozessen, Faktoren und Aspekten. Tenor ist: „Das, was Sie können und machen, wollen wir verstehen, da es wichtig ist.“ Die Arbeit der Ökonomie wird damit als relevant für Gesellschaft, Bildung, Kinder aber auch als wichtig für den wissenschaftlichen Diskurs charakterisiert. Letztlich – vielleicht auch eher als Nebenprodukt – könne eine solche Forscherperspektive auf den Prozess natürlich auch einen Gewinn für das Unternehmen bieten – im weiteren Sinn als ein supervisorischer Blick, ein Blick von außen, der eine neue Perspektive bietet. Mit dieser Skizzierung scheinen wir nun auf deutlich mehr Verständnis zu stoßen. Herr Hansmann führt zustimmend an, dass der Staat nun mal die Aufgabe der Entwicklung von didaktischen Materialen an die Lehrmittelhersteller, die Industrie, abgegeben hat. Der Markt solle es regeln. Da dies Fakt sei, sei es eine wertvolle Aufgabe, die einhergehenden Prozesse aufzeigen zu wollen. Er scheint auf einen ausstehenden gesellschaftlichen Diskurs zu diesem Thema anzuspielen. Herr Schmidt und Herr Hansmann suchen zwar noch nach kleinen Punkten, die sie zu bedenken geben, letztlich wirkt dies aber nicht mehr ernstlich skeptisch. Beide verweisen nun primär auf zu beachtende Detailfragen, die sich nur unter der grundlegenden Prämisse ergeben, dass eine Kooperation begonnen wird. („didacta“, Nachmittag des 24.02.2011, in Stuttgart am Messestand der GmbH)
Das Kippen der Stimmung zugunsten der anvisierten Forschung wurde durch eine Verschiebung der eigenen Positionierung im Feld begünstigt: Die tendenziell skeptische Grundhaltung gegenüber dem Forschungsprojekt konnte nicht allein (und nach meinem Empfinden auch nicht primär) durch das Angebot aufgelöst werden, dass die Forschung einen Nutzen für das Unternehmen hat. Vielmehr war die Wertschätzung und Relevanzeinschätzung entscheidend, die wir – als Repräsentanten von Universität und Wissenschaft – der Arbeit innerhalb der Bildungswirtschaft entgegenbringen. „Rather than studying people, ethnography means learning from people.“ (Spradley 1980: 3) Das Zitat kann hier nicht nur als altes erkenntnistheoretisches Postulat gelesen werden, sondern auch als (ein) Schlüssel für den Feldzugang. Der – im weitesten Sinn supervisorische – Gewinn, den die Forschung und ihr fremder Blick für den
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Verlag in Aussicht stellt, geriet damit bzw. im weiteren Projektverlauf nicht in Vergessenheit. Er wurde als ein Punkt innerhalb einer gegenseitigen Absichtserklärung verbrieft und fand gelegentlich seinen Aufgriff. In der Art, wie mich die Akteurinnen und Akteure im Feld adressierten (Ansprachen, Erklärungen, Auslassungen usw.) wurde jedoch schnell merkbar, dass die Rolle, die sie mir zuschrieben, nicht die eines Unternehmensberaters o. Ä. war. Vielmehr glich sie der eines Praktikanten und damit der Rolle, die wir selbst in dem ersten Anschreiben gesetzt hatten. Ging es darum, meine Rolle explizit und erklärend zu Versprachlichen (etwa dann, wenn ich anderen Mitarbeiter(inne)n im Betrieb vorgestellt wurde), wurde jedoch stets darauf verwiesen, dass ich die „wissenschaftliche Begleitung“ oder der „Beobachter“ sei. Auch wenn noch kein expliziter Zuschlag kommuniziert wurde, scheint die Kooperation zum Ende des ersten Treffens nicht mehr grundsätzlich infrage zu stehen. Prinzipiell scheint sie möglich und gewollt. Die beiden Herren informieren uns bereits über Charakteristika ihrer Arbeit und machen dabei deutlich, dass die uns interessierende Entwicklungstätigkeit nicht jederzeit zugänglich sei: Sie führen an, dass nicht an jedem Tag mit der Entwicklung einer Box begonnen wird und bestehende Boxen auch nicht täglich weiterentwickelt werden. Der Gesamtprozess der Entwicklung einer solchen Box sei eine sporadische Arbeit, die sich vom Beginn bis zum Ende etwa über zwölf Monate erstrecke. Nach einer kurzen Pause des nachdenklichen Schweigens wendet Herr Hansmann den Blick zu Herrn Schmidt und schaut diesen etwas geheimnisvoll an. Hansmann deutet bedächtig an, dass ja gerade „etwas“ bevorstehen würde, sich gerade etwas anbahnen würde, etwas in – oder kurz vor – der Mache sei. Herr Schmidt scheint zu wissen, was gemeint ist, wiegt den Kopf, stimmt zu und uns wird mitgeteilt, dass wir einen sehr günstigen Zeitpunkt erwischt hätten: Sie lassen durchblicken, dass eine neue Box geplant ist und der Beginn der Entwicklung bevorsteht. („didacta“, Nachmittag des 24.02.2011, in Stuttgart am Messestand der GmbH)
Da nur relativ selten ein neuer Entwicklungsprozess begonnen wird, ist es ein großer Glücksfall, dass die beabsichtigte Forschung in zeitlicher Nähe zu einer geplanten Neuentwicklung liegt: Nur etwa alle vier bis fünf Jahre entsteht eine neue Box innerhalb der Produktreihe. Da bestehende Boxen überarbeitet werden, sich die Hefte ändern oder eher lockere Materialsammlungen1 entstanden sind, ist die Zeitspanne der Entwicklungspause etwas zu relativieren. Deutlich wird jedoch eine erste von Herrn Schmidt und Herrn Hansmann geschilderte Charakterisierung ihrer Arbeit: Der Prozess der Entwicklung hat Projektcharakter, er ist temporär. So weit so gut, beide Herren scheinen uns und der Forschung gegenüber tendenziell positiv gesonnen zu sein. Herr Hansmann verweist jedoch erneut darauf, dass wir derzeit eine „Rechnung ohne den Wirt machen“. Daraufhin nickt Herr Schmidt bestärkend: Die Autoren des neuen Projekts und die Führung des Mutterhauses könnten noch ihr Okay verweigern. Zudem wollen Herr
|| 1 Diese Produkte werden nicht als vollwertige Boxen gewertet. Als vollwertig wird eine Box gezählt, wenn sie sich durch das Konglomerat aus Box, zugehörigem Lehrerheft und Stationsheft komplettierend auszeichnet. Die Hefte müssen zudem in der aktuellen Reihe respektive Auflage erschienen sein, die auf die unterrichtliche Herstellung des spezifischen „Stationsbetriebs“ abzielt.
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Schmidt und Herr Hansmann noch einmal „drüber schlafen“. Ab dem 11. März seien sie wieder erreichbar und wollen bis dahin geklärt haben, was die anderen Beteiligten dazu sagen. Ein weiteres Gespräch soll auf dieser Grundlage geführt werden. Das Treffen läuft auf sein Ende zu, man verabschiedet sich freundlich und geht auseinander. („didacta“, Nachmittag des 24.02.2011, in Stuttgart am Messestand der GmbH)
Die nächsten Schritte und der Projektverlauf Im Anschluss an das Treffen auf der didacta 2011 wurden einige E-Mails gewechselt, mit denen sich die positive und kooperative Grundhaltung verstärkte. Auch kam es zu einer weiteren terminlichen Annäherung zwischen der von uns geplanten Forschungs- und der vom Verlag geplanten Entwicklungsarbeit, die die ohnehin schon große Passung weiter in den Bereich zeitlicher Kongruenz führte. Eine begleitende Partizipation meiner Person am Entwicklungsprozess wurde ab einem gewissen Punkt als gesetzt betrachtet. Ich wurde in die Vorbereitungen des sich anbahnenden Projekts einbezogen und erhielt entsprechende Informationen (postalisch, per E-Mail und per Telefon). Auf diese Weise wurde ich mit ersten Details zum Vorhaben der Entwickler(innen) vertraut gemacht. In diesem Kontext erhielt ich am 23.03.2011 einen ersten schriftlichen Zeit- und Arbeitsplan. Diese Darstellung bot einen Überblick über den Ablauf der Entwicklung einer Experimentierbox so wie ihn die Entwickler(innen) im Vorhinein planerisch explizieren. Sie stellt somit die als idealtypisch angesehene Schrittfolge aus Sicht der Entwickler(innen) dar. Dieser Zeit- und Phasenplan wird im Folgenden durch eine wörtliche Abschrift des Dokuments dargestellt.
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Zeitraster für die Entwicklung einer Box zum Thema NN September/Oktober 1. Auswahl der Lernziele/Inhalte aus der Synopse aller Bundesländer Oktober/November 2. Auswahl der Experimente und Medien/ggf. Produktion von Nullmustern Dezember/Januar 3. Erstellung der Rohfassung der Stationskarten und Lehrerbegleitmaterialien Februar/März 4. Erprobung des Medienverbundes in ausgewählten Klassen April/Mai 5. Erstellung einer Endfassung auf der Basis der Erkenntnisse aus der Erprobung, ggf. partieller neuer Test (etwa von Materialvarianten, wie sie sich aus Nr. 4 ergeben haben) Juni, Juli, August 6. Übergang in die Produktion (Abschrift von Felddokument vom 23.03.2011)
Die hier für ein Jahr kalkulierte Entwicklungsarbeit sollte sich in der Praxis nicht realisieren lassen: Letztlich zog sich die Entwicklung über eine Zeitspanne von zwei Jahren, dies v. a. auch deshalb, weil die Entwicklung einen zweiten Anlauf brauchte um zu einem serienfertigen Produkt zu gelangen. Die Kooperation mit den Autorinnen, die im ersten Zyklus der Entwicklung mitwirkten, scheiterte aufgrund von Diskrepanzen. Diese Differenzen finden mit den folgenden Kapiteln ihren analytischen Aufgriff. In einem ersten Schritt (siehe Kapitel 3.2) werden Diskrepanzen der kommunikativen Kooperation und gegenseitigen Adressierung expliziert, es geht hier u. a. um Fragen der Kompetenzzuschreibung und Entscheidungshoheit. Das Scheitern des ersten Anlaufs führte letztlich dazu, dass neue Kooperationspartner für das Projekt gesucht und gewonnen wurden (siehe Kapitel 3.3). Dieser Reboot bedeutete für den Verlag eine kostspielige und unerfreuliche Mehrarbeit respektive Verzögerung. Für meine Forschung war der Neustart jedoch ein Glücksfall: Zum einen konnte ich über das Scheitern, das Nicht-Funktionieren und die Krise der Entwicklung Einsichten generieren, zum anderen stand mir der vergleichende Kontrast eines angeschlossenen, zweiten Entwicklungszyklus zur Verfügung. Die Entwicklungsarbeit, die sich somit in Zyklus A und B unterscheiden lässt, fand hauptsächlich in über die Jahre verteilten Meetings statt. Die folgende Darstellung legt den zeitlichen und inhaltlichen Verlauf dar. Im Anschluss werden die Beteiligten namentlich und mit ihrer formalen Funktion im jeweiligen Entwicklungszyklus vorgestellt, ihre detailliert verortende Einführung erfolgt im Verlaufe von Kapitel 3.
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Entwicklungszyklus A 1. Meeting A 24.10.2011
Lehrplananalysen, Auswahl von Themenblöcken
2. Meeting A Versuche auswählen 03.02.2012 und machen
Entwicklungszyklus B 1. Meeting B 05.03.2013
2. Meeting B Versuche machen 19.04.2013 und ändern (interner Präerprobung)
Heft und Kopiervorlagen verfassen („E-Mail-Pingpong“) August, September 2012
Erprobung in Schulen, halbstandardisierte Lehrergespräche
3. Meeting A Konflikt um Erprobung 26.09.2012 und Kompetenzen Ergebnisanalyse, Modifikationen Abbruch
Versuche auswählen und machen (Stationenbasar)
Heft und Kopiervorlagen verfassen („E-Mail-Pingpong“) Juli, September 2013
Erprobung in Schulen, halbstandardisierte Lehrergespräche
3. Meeting B Auswertung, 02.09.2013 Versuche/Stationen modifizieren 4. Meeting 24.10.2013
Weitere Änderungen und Anpassungen
12.11.2013
Post-Erprobung Finales Kopierheft erstellen (Druck im Juli, August 2014)
didacta 2015 Werbende Präsentation der Box
Herr Hansmann
Pensionierter Grundschullehrer und Herausgeber Frau Dr. Rabe Chemikerin, angestellt in außerschulischer Bildungseinrichtung und Autorin Frau Dr. Schleier Chemikerin, angestellt in außerschulischer Bildungseinrichtung und Autorin Herr Schmidt Geschäftsführer des Verlags
Pensionierter Grundschullehrer und Herausgeber (später Rollenwechsel zum Autor) Frau Prof. Dr. Kran Sachunterrichtsdidaktikerin und Autorin Herr Prof. Dr. Peine Physikdidaktiker und Autor Geschäftsführer des Herr Schmidt Verlags Herr Hansmann
Abb. 1: Prozesszyklen der Entwicklung in ihrer Chronologie und der analytischen Retrospektive (eigene Darstellung).
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Neben den Meetings aus Zyklus A und B die die entscheidenden Verortungen der Entwicklungsarbeit waren, nahm ich an den Erprobungen in ausgewählten Schulklassen sowie bei der Durchführung und Auswertung verschiedener Lehrerinterviews teil. Zudem wurde ich in die Fernkommunikation eingebunden, die die Meetings verband (Telefonkonferenzen, Cc-Mails). Bei dieser Form der kommunikativen Zusammenarbeit aus der Ferne ist vor allem das „Pingpong-Spiel“ hervorzuheben (Bezeichnung von Herrn Hansmann). Dieses „Pingpong“ bezieht sich auf das kooperative Verfassen der Hefte und das damit verbundene hin- und hersenden von editierten Textdokumenten nach dem ersten „Aufschlag“. Auch die hiermit einhergehenden E-Mails bzw. Dokumentenversionen ließ man mir zukommen. Ich besuchte die „didacta“ in den Jahren 2012, 2013, 2015 und verbrachte somit Tage am Messestand. Ferner sammelte ich vielfältige Felddokumente (z. B. weitere Zeit- und Arbeitspläne, Manuskripte der den Koffern zugehörigen Hefte, Werbebroschüren, Kataloge). Erste Schritte im Betrieb Um das Feld samt der darin stattfindenden Arbeit weiter vorzustellen, geht es mit den folgenden Ausführungen um meine ersten Schritte im Betrieb, um mein erstes Aufsuchen des Verlagsgebäudes: dem Ort der Arbeit und meinem Ankommen „im Haus“. Vom Flur aus gehe ich zunächst in einen Besprechungsraum im Erdgeschoss, der mir gezeigt sowie geöffnet wird, und in dem das heutige Meeting stattfinden wird. Hier halte ich mich eine Zeitlang auf und lege meine Sachen ab, bevor ich mich nun mit Herrn Schmidt in seinem Büro treffen soll. Über Flur und Treppenhaus gelange ich zu einer gläsernen Tür auf der 1. Etage. Neben der Tür befindet sich ein Taster für eine elektronische Klingel, mit der den Mitarbeiter(inne)n signalisiert wird, dass jemand ihren Bürotrakt betreten möchte. Ich betätige die Klingel und gucke wartend durch die Glastür. Hinter ihr erstreckt sich ein recht langgezogener, gerader Flur. Dass die Tür stets verriegelt ist und nach dem Öffnen zügig (ohne menschliches Zutun) wieder in diesen Zustand zurückfällt, materialisiert, dass dies ein prinzipiell verschlossenes, unzugängliches Feld ist, zu dem nicht jeder Zugang hat. In der Ferne des Flurs sehe ich Herrn Schmidt, der dabei ist, sich in meine Richtung zu bewegen. Eine junge Frau, die aus einer der mir nahgelegenen Bürotüren tritt, kommt ihm zuvor und macht mir die Tür auf. Ich bedanke mich nickend und Herr Schmidt erreicht uns. Er stellt mir die junge Frau namentlich und als „unsere Auszubildende“ vor. Auch ich werde namentlich vorgestellt: „Herr Lange schreibt eine Arbeit, wie Lehrmittel gemacht werden.“ erklärt Herr Schmidt und die Auszubildende lächelt ein „Ach so“. Herr Schmidt führt mich nun über den Flur und wir schauen in einigen der anliegenden Büros vorbei. Er stellt mich den verschiedenen Mitarbeitern vor, die von ihren Schreibtischen, Monitoren und Unterlagen aufblicken, während wir in die Zimmer gucken oder sie betreten. Ab und an schüttele ich Hände und verweise im Smalltalk auf vergangene E-Mail-Korrespondenzen. Ich werde stets freundlich zur Kenntnis genommen, die Nachfragen halten sich jedoch in Grenzen. Die Begrüßungen und Vorstellungen passieren eher im Vorbeigehen während wir weiter das Büro von Herrn Schmidt ansteuern. In Herrn Schmidts Büro angekommen bietet er mir einen Platz an. Wir nutzen nicht den ovalen Besprechungstisch, sondern setzen uns an Herrn Schmidts Schreibtisch – einander gegenüber. „Haben Sie Fragen?“, fragt er mich eröffnend. Daraufhin möchte ich von ihm wissen, ob ich gleich die versammelte Runde fragen dürfe, ob ich das Aufnahmegerät laufen lassen darf. Damit
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hat Herr Schmidt kein Problem. Ich nicke erfreut. Herr Schmidt greift sich einen aktuellen Produktkatalog seines Hauses und blättert zu einem darin aufgeführten Experimentierkoffer. Zu seinem Thema gelte es, über die folgenden Monate eine Neuentwicklung auf den Markt zu bringen. Die im Katalog aufgeführte Box sei „… etwas … dünn“ sagt Herr Schmidt zögerlich. Dies sei ein Grund für den Austausch. Ein weiterer typischer Grund für Überarbeitungen oder Neuentwicklungen – der auch in dieses Projekt „hineinspielen“ würde – sei z. B. die Berücksichtigung neuer Lehrpläne. Ich nicke erneut. (Verlagsgebäude, vor dem Meeting 1A, 24.10.2011 gegen 09:30 Uhr)
Eine Neuentwicklung zu einem bestehenden Thema scheint nötig, da der alte Koffer den aktuellen Ansprüchen nicht mehr zu genügen scheint. Schon mit den Ausführungen auf der „didacta“ 2011 wurde deutlich, dass sich der Verlag nicht in einem kontinuierlichen Produktentwicklungsprozess befindet. Die Entwicklungsarbeit kann ferner nur ein kleiner Teil der Arbeit „des Hauses“ sein. Mit dem ökonomischen Gemeinplatz, dass einmal entwickelte Produkte möglichst lange in Serie produziert und erfolgreich verkauft werden sollten, wird bereits deutlich, was die weiteren Tätigkeitsfelder innerhalb der Bildungswirtschaft sind, die es zu differenzieren gilt: (1) Entwicklung, (2) Produktion und (3) Vertrieb. Passend hierzu ist der „Übergang in die Produktion“ der die Entwicklungsarbeit abschließende Schritt im angeführten Zeitund Arbeitsplan des Verlags. Die drei Arbeitsbereiche sind fraglos teilweise aufeinander bezogen und bedingen sich. Sie sind jedoch auch gegenseitig voneinander abgegrenzt. Bei meinem ersten Feldaufenthalt im Verlagsunternehmen – das der Geschäftsführer wahlweise als „Manufaktur“ oder „Industriebetrieb“ bezeichnet – spiegelte sich die Trennung der Tätigkeitsfelder für mich auffällig im Betriebsgebäude selbst. Es gibt den Besprechungsraum, in dem die Meetings und somit ein Großteil der Entwicklungsarbeiten stattfinden. Dieser relativ kleine Raum grenzt an einen großen Produktions- und Lagerbereich mit Werkstätten und einem eigenen Druckereiraum. Als dritten Bereich gibt es den Bürotrakt auf der ersten Etage, in dem kaufmännisch und buchhalterisch gearbeitet wird. Die Zugänge zu den jeweiligen Bereichen im Haus werden durch ins Schloss fallende Türen reglementiert. Bei der Spiegelung der drei Arbeitsbereiche in den Räumlichkeiten des Feldes fällt zudem auf, dass auch hier die Entwicklung einen verhältnismäßig geringen „Raum“ einnimmt (äquivalent zur vergleichsweise geringen zeitlichen Ausdehnung der Entwicklungsarbeit über die Betriebsjahrzehnte hinweg). Auch personell wird eine Diskrepanz deutlich: Während in den Bereichen Produktion und Vertrieb feste Arbeitsplätze (auch im Sinn von personifiziert-stationär) eingerichtet sind, befindet sich im Besprechungsraum der Entwicklung nur ein (herrenlos-leerer) runder Tisch als Arbeitsplatz. Während es sich bei der Produktion und dem Vertrieb um einen „Nine-to-five-Job“ handelt, der von relativ vielen, hier hauptberuflich tätigen Personen (um die 30 Angestellte) als tägliche Berufspraxis ausgeübt wird, ist die Entwicklung als Projektarbeit zu kennzeichnen. Neuentwicklungen sind – so lässt sich bilanzieren – vereinzelte Projekte, die eher unregelmäßig als Inseln auftauchen und keine „Everyday-
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Practice“ sind. 2 Beteiligt sind verschiedene, meist nicht fest angestellte, Personen mit unterschiedlichen beruflich-biografischen Hintergründen und Rollen. Diesen Akteur(inn)en der Produktentwicklung, ihren Kooperationen und Aushandlungen widmet sich Kapitel 3.2. Ihre Charakterisierung erfolgt unter Nutzung eines kleinen Exkurses, in dem einleitend auf die Zielgruppen und Produkte ihrer Arbeit eingegangen wird.
3.2 Akteurinnen und Akteure, Selbstbilder, Problemstellungen Als Akteure aufgetreten sind bisher der entwickelnde Didaktiker Herr Hansmann (pensionierter Grundschullehrer) sowie der Geschäftsführer mit kaufmännischem Hintergrund, Herr Schmidt. Mit dem bereits beschriebenen ersten Feldkontakt auf der „didacta“ zeigen sich bereits verschiedene Fremdbilder von (Grund-)Schule, von (Grundschul-)Lehrer(inne)n und ihrem (Grundschul-)Unterricht. Die Hervorhebung schulstufenspezifischer Besonderheiten spiegelt sich auch in der räumlichen und materiellen (An-)Ordnung des Messestands: Dieser war unterteilt in einen Bereich für die Sekundarstufe und einen für die Grundschule. Man entschied sich somit gegen eine thematische Sortierung der ausgestellten Produkte, die sich an den naturwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen orientierten könnte (z. B. Physik, Chemie, Biologie), oder eine Sortierung nach didaktischem Verwendungszweck (z. B. Präsentationsmaterialien für Lehrer(innen) vs. Experimentiermaterialien für Schüler(innen)). Die Besonderheit der Grundschule wird demnach als bedeutsam konzipiert: Lerndinge der Grundschule sind eigenständig (auch am Messestand), sie unterscheiden sich von Lerndingen der Sekundarstufe. Zu dieser Eigenständigkeit passt die Expertise des Entwicklers: Die Biografie von Herrn Hansmann ist mit der Praxis der deutschen
|| 2 Demnach war meine Feldforschung – mit der die Entwicklung in das Zentrum gerückt wird – nicht durch eine geblockt-dauerhafte Präsenz im Betrieb geprägt: Ich konnte nie über Wochen täglich im Feld sein. Die zur Entwicklung gehörende Arbeitsweise organisiert das Feld hauptsächlich in geballten Meetings, an denen ich als Beobachter teilnahm. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Ethnografie weniger als die tägliche Präsenz im Feld, sondern vielmehr als die an das Feld angepasste Präsenz: „Für ein solches Vorgehen, das seine Methoden den Gegebenheiten des Feldes unterordnet, hat sich der Begriff der Ethnographie durchgesetzt.“ (Krüger 2006: 96) Die über inselhafte Meetings organisierte und realisierte Arbeit ist für die Entwicklungspraxis innerhalb der Bildungswirtschaft nicht ungewöhnlich. Macgilchrist, die sich ethnografisch der Bildungsmedienproduktion in einem Schulbuchverlag zuwandte, hält z. B. zur charakteristischen Arbeitsweise ihres Feldes und der angepassten Forschungspraxis ihrer Arbeit fest: „Diese Begleitung beinhaltete vor allem die teilnehmende Beobachtung bei regelmäßigen Autorentagungen, auf denen Konzepte diskutiert, Manuskripte für Schulbücher, CD-Roms, Lehrerhandbücher und weitere Lehr- und Lernmaterialien in Erst-, Zweit- und Drittfassung besprochen und Zukunftspläne für weitere Materialien gemacht wurden.“ (Macgilchrist 2011: 251)
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Grundschule über Jahrzehnte hinweg eng verknüpft. Ebenfalls eng verknüpft mit dieser Praxis ist sein argumentatives Werben für die Boxen und ihr Konzept, dem wir auf der „didacta“ beiwohnten. Es ist geprägt durch die genaue Kenntnis des schulischen Lehrer(innen-)Alltags und die Empathie für selbigen. Der Geschäftsführer – Herr Schmidt – hat hingegen einen kaufmännischen Berufshintergrund und hat nie in der Schule gearbeitet. Mit der folgenden Beschreibung (von meinem ersten Aufenthalt im Betrieb) wird jedoch bereits deutlich, dass auch er über handlungsleitende Bilder von (Grundschul-)Praxis und Lehrer(inne)n verfügt, diese kommuniziert und situativ nutzt. Grundschuldinge und -klientel: dingliches Neutrum und sächliches Geschlecht? Ich sitze mit Herr Schmidt an seinem Schreibtisch und er berichtet weiter von der Komplexität der Entwicklungsarbeit. Es gelte, viel zu beachten: Beispielsweise dürfe man nicht vergessen – muss sich vielmehr genau bewusst sein –, dass man es mit einem ganz eigenen Zielgruppenklientel zu tun habe. Für die Grundschule würde die Besonderheit gelten, dass 90 % bis 95 % aller Lehrkräfte Frauen sind … und „Frauen“, Herr Schmidt wählt seine Worte nun bedächtig, fängt den Satz neu an: Frauen hätten ‚schon‘ andere Herangehensweisen als Männer an bestimmte ‚Sachen‘. Ich gucke interessiert und kommentiere nicht. Herr Schmidt will daraufhin konkretisieren: Zusätzlich zu dem Grundschulkatalog zieht er nun den Katalog für die Sekundarstufe vergleichend heran und blättert darin. Er scheint keine konkrete Seite zu suchen, sondern lediglich eine Seite, die gut verdeutlicht, was er meint. Er stoppt bei der Darstellung von einem metallischen Ding, dass ich spontan als „schienenbasiertes Schiebemessgerät mit optischer Linse“ charakterisieren würde. In der aktuellen Gesprächssituation dient das Gerät Herrn Schmidt als Beispiel, er benutzt es, um seine Ausführungen zu verdeutlichen. Er ordnet das Ding zunächst ein und bezeichnet es als ein „recht wichtiges Produkt“ im Sortiment. Er legt mir die Katalogseite mit der Abbildung vor und ihre Sterilität fällt unweigerlich auf: Sie zeigt übersichtlich das nüchtern-glänzende Gerät, das Ding steht auf einem weißen Untergrund, der nahtlos in den grauen Hintergrund übergeht. Alle relevanten Teile sind zu sehen – sonst nichts. Dieser Katalog sei mit seinen Produkten (für die Sekundarstufe) „sachlicher“, führt Herr Schmidt an und zeigt mir daraufhin die werbende Katalogabbildung eines ebenfalls „recht wichtigen Produkts“ im Grundschulbereich: Die Abbildung zeigt zwei putzige Kinder (Mädchen und Junge), die hinter einer freundlich leuchtenden Gardine in einem unterrichtlichen Setting begeistertstaunend, belustig und sichtlich erfreut einen (aus verschiedenen Dingen) aufgebauten Versuch betrachten. Auf den ersten Blick könnte es dabei um naturwissenschaftliche Prinzipien wie „Schwimmen und Sinken“ gehen. Auf dem Schultisch liegen noch andere bunte Sachen wie weiche Knete, Papier und Stifte. Letztlich ist nicht nur ein materielles Produkt abgebildet, sondern eine soziale Situation, in der Kinder eine sichtbar emotionale Beziehung zu vermittelnden Dingen eingehen. Herr Schmidt guckt mich an und ich nicke verstehend. Weiter führt er aus, dass dies dann z. B. auch der Grund sei, warum der raumordnende Kunststoff – der als schablonenhafte Füllung den einzelnen Dingen in den Grundschulkoffern ihren Platz vorgibt –, in einer hellen und freundlich-leuchtenden Farbe gehalten ist. Für die Koffer der Sekundarstufe ist der Kunststoff hingegen tief dunkelgrau. (Im Büro von Herrn Schmidt, vor dem Meeting 1A, 24.10.2011 gegen 09:40 Uhr)
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Das Erscheinungsbild der Materialien wird in eine Beziehung zu ihrer Nachfrage am Markt gesetzt. Materielle Eigenschaften, Anordnungen und Präsentationen, die von dem Geschäftsführer als „sachlich“ charakterisiert werden, werden oppositionell zu einer grundschulkonformen – und somit zielgruppengerechten bzw. verkaufsförderlichen – Haptik und Ästhetik konzipiert. Die Argumentation geht vom biologischen Geschlecht der an Grundschulen überrepräsentierten Lehrerinnen aus und postuliert eigene „Herangehensweisen“. Mit einer entsprechenden Anpassung sowie Darbietung von Formen, Farben, Materialien und Rahmungen versucht die Bildungswirtschaft eine Orientierung an den zugrunde gelegten Vorlieben ihrer Kundinnen zu realisieren. Der femininen Aufladung des Grundschulraums soll Rechnung getragen werden, indem Dinge, die – so lässt es sich interpretieren – mit einem sächlichen Geschlecht eben nicht geschlechtlich neutral sind, in bestimmter Weise feminisiert werden. Das sächliche Ding wird im naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe verortet und als Gegenbeispiel zum feminisierten Grundschulding angeführt, damit erscheint das sächliche Ding maskulin. Die unterschiedlichen Produkte werden mit dem Ziel entwickelt, sich in einem feminin oder maskulin dominierten Raum anstandslos einzufügen – in den Sachunterricht der Grundschule oder den naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe. Dieses adressieren der anvisierten Kund(inn)en führt zu der Frage, ob die Bildungswirtschaft hier nicht eine Orientierung an etwas vollzieht, das sie in der Praxis selbst mit hervorbringt: Die als solche bestimmte feminine Aufladung weiter Teile des Grundschulraums findet eine industrielle (Re-)Produktion und materielle Festigung. Mit der Betrachtung eines aus der „Lehrmittelindustrie“ stammenden – und somit speziell gestalteten – Multimeters der schulischen Sekundarstufe attestiert Röhl: Die Skala legt einen messenden Zugang zur Welt nahe und gibt einen genau bestimmbaren numerischen Wert an. Bereits in der Lehrmittelindustrie wird so eine Form des Unterrichthaltens vorweggenommen, in der eine bestimmte Sicht auf die Dinge ermöglicht werden soll. Weder Farbe oder Größe noch Rück- oder Unterseite des Demonstrationsmessgeräts sind von Interesse, sondern einzig und allein die Messung eines Wertes. (Röhl 2015: 173f.)
Das Nüchterne der physikalischen Welt und die Reduzierung auf das Fachliche – verstanden als das Wesentliche – wird auch mit dem hier von mir beschriebenen ersten Werbefoto aus dem Katalog (Linsen-Messschiene) deutlich. Aspekte wie Farbgebung und Beistellungen werden hier zugunsten einer Fokussierung auf das „Sachliche“ ausgeklammert. Wie deutlich wurde, werden diese Relevanzsetzungen jedoch nicht als allgemeine Merkmale von schulischem bzw. unterrichtlichem Material gefasst. Die als „sachlich“ charakterisierten Eigenschaften werden der (von Röhl beforschten) Sekundarstufe zugeordnet und von der Grundschule klar abgegrenzt, indem sie als Kontrastfall zu speziellem Material für Lehrerinnen eingeführt und erkennbar gemacht werden. Letztlich spiegeln sich sowohl im Arrangieren von Werbefotos bestimmter Produkte, als auch im Design der Produkte selbst, bestimmte Fremdbilder
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von Geschlecht und Unterricht. Auffällig erscheint hierbei, dass die Produkte der Sekundarstufe – und damit die Produkte, die weiter nach naturwissenschaftlichen Einzelfächern (z. B. Physik, Chemie) separiert werden – als „sachlicher“ beschrieben werden, als die Produkte für den Sachunterricht. Es erscheint demnach frappierend, dass Sachlichkeit zunächst explizit als problematisches Attribut für das Beliefern des Sachunterrichts konzipiert wird. Zwei Konzepte der Entwickler(innen) geraten in eine konkurrierende und wechselseitige Beziehung: Ein (1) „Mehr“ an Sachlichkeit ginge einher mit einer schlechteren Zielgruppenorientierung an der Grundschule, an denen (2) eine feminine Materialität gewünscht sei. Doch auch wenn sich die Zielgruppe der Kundinnen an der charakterisierten „Sachlichkeit“ tendenziell stört, ist davon auszugehen, dass das „Sachliche“ an den Materialien für den (naturwissenschaftlich orientierten) Sachunterricht nicht gänzlich ausgespart werden darf. Es muss – dosiert und ggf. kaschiert – vorhanden bleiben. Auch wenn die Entwickler(innen) es so nicht explizieren, sind sie mit einer Gratwanderung konfrontiert, über die die Orientierung am Absatzmarkt der (Grund-)Schulen gelingen soll. Das Verhältnis zwischen offener Sachlichkeit (die die Materialien als naturwissenschaftliche Lern- und Experimentierdinge kenntlich macht) und femininer Materialaufladung (die durch die Abbildung ästhetischer und sozialer Kontexte zum Kauf und Gebrauch in Grundschulen einladen soll) muss austariert werden. Die Frage nach sachlicher und femininer Materialität verlangt danach, eine Verortung innerhalb eines Spektrums der Materialgestaltung zu beziehen. Wie gelingen nun derartige Gratwanderungen der Entwickler(innen) zwischen naturwissenschaftlicher Sachlichkeit, Grundschultauglichkeit und tragendenden Verkaufszahlen? Die bisher kennengelernten Akteurinnen und Akteure formulierten mehrfach die Erklärung, dass die Zusammensetzung des Teams für den Erfolg bzw. das Funktionieren des Produkts zentral ist. Auf die Frage, wie eine solche Gratwanderung zu einem guten Produkt führt, würden die Entwickler(innen) anführen, dass u. a. die Entwicklergruppe in bestimmter Weise expertisenheterogen sein muss. Herr Hansmann nimmt mich zur Seite und führt reflektierend an: „Also ich denke, bei Ihnen [der Forschung] kommt so langsam Folgendes raus: Also das is n Dreieck, ne? Sie brauchen, um solche Dinger zu machen, einen, der das produzieren kann: Schmidt [sagt er knapp, lakonisch, klar]. Wir brauchen einen, der weiß, (2) was die Sache wissenschaftlich richtig abdeckt. Und sie brauchen einen Grundschulpraktiker.“ (Meeting 2B, 2. Dokumentenseite § 360, 00:55:55)
Die als idealtypisch konzipierte Verteilung der Kompetenzen, Bereiche und Rollen wird hier sprachlich expliziert. Herr Schmidt, der als Geschäftsführer auch dem Entwicklungsprozess beiwohnt, hat nach dieser Aussage die Aufgabe, die Produzierbarkeit des Koffers im Auge zu behalten. Jenseits der Besonderheiten, die die Grundschule bzw. die Fokussierung auf die Grundschulklientel und -praktiken an Anforderungen an die Entwicklung stellt (Herr Hansmanns Aufgabengebiet), ist den
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Entwickler(inne)n die fachwissenschaftliche Expertise (bezogen auf „die Sache“ respektive Sachlichkeit) wichtig. Diese soll ihre Berücksichtigung und Repräsentation über entsprechend qualifizierte (Ko.-)Autor(inn)en finden. Für das erfolgreiche „Machen“ der „Dinger“ bedarf es einer Drei-Parteien-Beziehung bzw. -Aufteilung, so die selbstrekonstruktive Aussage.3 Das bisher kennengelernte Team (bestehend aus Herrn Schmidt und Herrn Hansmann) ist demnach noch nicht vollständig. Dies klang auch schon beim ersten Treffen auf der „didacta“ an: Es sind noch Autoren angedacht, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit in Erscheinung getreten sind. Erst sie komplettieren das Team, das Herr Hansmann als Kompetenzdreieck beschreibt. Produzent(in) Verleger(in)
(Grund-)Schulpraktiker(in) (Ko-)Autor(in) oder Herausgeber(in)
(Natur-)Wissenschaftler(in) (Ko-)Autor(in) oder Herausgeber(in)
Abb. 2: Arbeitsteiliges Kompetenzdreieck als Selbstrekonstruktion (eigene Darstellung).
Diese (personelle) Aufteilung von Zuständigkeiten gemäß verschiedener Qualifikationen wirkt zunächst plausibel und ökonomisch. Es wird hier (im Kleinen) eine Kooperationsform beschrieben, die ein grundlegendes Prinzip unseres kulturell-zivilisatorischen und ökonomischen Systems darstellt: die Arbeitsteilung. Mit den weiteren Analysen von Ausführungen und Praktiken der Akteurinnen und Akteure, gerät die proklamierte Arbeitsteilung in den Blick. Bei den Autorinnen, die für das neue Projekt unter Vertrag genommen wurden, handelt sich um zwei promovierte Naturwissenschaftlerin (Chemikerinnen), Frau Rabe und Frau Schleier, die für eine außerschulische Bildungseinrichtung arbeiten. Über diese werden neben der Erwachsenenbildung (Lehrerschulungen) verschiedene || 3 Schon früh während der Feldforschung wurde deutlich, dass eine solch klare Aufteilung (Produktion, Grundschulpraxis, Naturwissenschaften) in der Entwicklungspraxis an Grenzen stößt und seine Idealtypik verliert, die in (selbst-)erklärenden Gesprächen noch so eindeutig und einleuchtend erscheint. Als ich Herrn Hansmann etwa zu der femininen Aufladung der Materialen befragte, indem ich die Berichte von Herrn Schmidt zur freundlich-hellen Färbung des Kunststoffs rezipierte, entgegnete er, dass ihm derlei Entwicklungs- und Designbegründungen zur grundschulbezogenen Zielgruppenorientierung nicht bekannt wären.
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Experimentierkurse für Kinder angeboten, in denen Fragen aus Natur, Technik und Umwelt nachgegangen wird. Bei dem ersten Entwicklermeeting anwesend ist nur eine der beiden Autorinnen: Frau Dr. Schleier. Als Forscher, der sich für den Prozess der Entwicklung interessiert, wurde ich ihr an diesem Tag (24.10.2011) persönlich vorgestellt. Die grundsätzliche Zustimmung zu meiner Anwesenheit dürfte vorab eingeholt worden sein: Frau Schleier wusste schon von mir und meinem Vorhaben. Zur weiteren Einordnung der Autorinnen und der kooperativen Arbeit folgt eine dichte Beschreibung, die nach dem ersten Meeting entstand. Kompetenzverteilungen und bereichsüberschreitende Kompetenzschau Als ich an der Bushaltestelle – in der Nähe des Verlagsgebäudes – ankomme, sehe ich Frau Dr. Schleier, die sich zuvor etwas eher als ich verabschiedet hat. Ich nicke ihr lächelnd zu, stelle mich zu ihr, beginne einen Smalltalk und betone, wie spannend ich es heute fand und wie dankbar ich bin, dass ich dabei sein durfte sowie weiterhin dabei sein darf. Wir unterhalten uns etwas über Universitätszeit und Studium. Frau Schleier erzählt mir, dass sie aus den Naturwissenschaften komme, Chemie studiert und dort auch promiviert habe. Den Grundschulbezug habe sie erst durch die eigenen Kinder und deren Grundschulzeit bekommen. Dabei habe sie einen „Bedarf“ ausgemacht – ein Defizit, wie es klingt. Sie habe sich dann gedacht „da müsse man was machen, etwas ändern, verbessern“. Wir stehen mittlerweile in einem gut genutzten aber nicht übervollen Bus und ich frage sie, wie sie an die Autorenschaft im aktuellen Projekt gekommen sei. Sie berichtet mir, dass zu der Verlagssparte gute Kontakte bestanden haben, im Zuge dessen lobt sie die Arbeit und die Koffer des Verlags als „sehr gut“. Sie freue sich, dass sie jetzt daran mitwirken kann. Man hätte über Messen wie die „didacta“ den Kontakt gepflegt. Zudem wären die Boxen so verbreitete, dass sie in ihren Lehrerfortbildungen oft mit ihnen konfrontiert sei und damit arbeiten könne. Da Herr Hansmann ja dabei sei, sich zurückzuziehen, müssen nun Nachfolger gefunden werden, meint sie weiter. Sie betont noch einmal die Qualität der Arbeit und dass diese Boxen für Herrn Hansmann natürlich etwas Besonderes seien. Dann stockt sie kurz und guckt mich leicht abwägend an, meint dann (wohl im bilanzierenden Rückblick auf das heutige Meeting), dass Herr Hansmann das ja schon sehr, sehr lange mache und er ganz klare Vorstellungen davon habe, wie es ablaufen sollte. Verständnisvoll sagt sie, dass das Loslassen bzw. Übergeben da natürlich nicht leicht sei. Die Probleme eines Generationenwechsels. Ich nicke. (Nach dem Meeting 1A, 24.10.2011 gegen 19:30 Uhr)
Der (freundlich vorgetragene) Hinweis auf die ersten Probleme der Kooperation zielt auf die Verteilung von Verantwortlichkeiten, Entscheidungskompetenzen bzw. Rollen. Frau Dr. Schleier sieht sich als Nachfolgerin von Herrn Hansmann, der seinerseits sehr genaue Vorstellungen vom Ablauf habe, die anscheinend nicht immer deckungsgleich mit den ihren sind. Es zeichnet sich bereits hier ab, dass das als Ideal angeführte Dreieck der Arbeitsteilung auf Probleme in der Praxis trifft. Es gibt Unstimmigkeiten bei den Beteiligten: Eine Einarbeitung durch Vorgänger(innen) ist schlicht etwas anderes als eine Kooperation mit Kolleg(inn)en, die ergänzend andere Kompetenzbereiche und Expertisen haben. Die Frage nach Selbstverortungen und Rollenbildern wird virulent. Herr Hansmann hatte in den letzten Jahrzehnten oft die
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Rolle des Autors oder Herausgebers inne. Er hat die neun zuvor entwickelten Boxen der Reihe maßgeblich geprägt und ist fraglos entscheidend für den Erfolg der Produkte mitverantwortlich. Bei der Entwicklung dieser neuen, zehnten Box ist er offiziell Herausgeber. Im Laufe der ersten Meetings beschreibt er seine Rolle immer wieder explizit für die anwesenden Autorinnen. Herr Hansmann führt erklärend aus: „Und jetzt kommt also das Entscheidende zwischen Ihnen [die Autorinnen, hier vertreten durch Frau Dr. Rabe] und mir ...“ Frau Rabe lässt ein „Mh mh.“ hören und Hansmann präzisiert: „Ähm, oder zwischen Frau Schleier, Ihnen und mir – wie auch immer …“ Es folgt erneut ein „Mh mh. (1)“ während Hansmann hörbar Luft holt, bevor er anführt: „Ähm ich muss mich ja Fragen, was soll ich hier eigentlich (.) als Herausgeber, und ich selber habe in dieser Funktion ja schon manches gemacht und bin selber aber auch in der Situation gewesen, dass ein anderer der Herausgeber war. Zum Beispiel für (.) mein Buch zum Thema Sachunterricht. (1) Also ich sage Ihnen jetzt mal, wie das so am günstigsten läuft, und ich begründe es Ihnen auch ... [„Mh mh.“ von Frau Rabe] warum es so am günstigsten läuft. Also (.) Si:e entwickeln in einem Zeitraum, über den wir jetzt sprechen, nach und nach die Versuchsbeschreibung – das heißt die Texte für die Kinder.“ Frau Rabe stimmt zu und Herr Hansmann schildert weiter: „Und immer, wenn Sie ein Stück weit gekommen sind, und meinen, das lohnt sich schon zu versenden – aber bitte nicht bis zum Schluss warten und den ganzen Stapel senden [lacht] – mailen Sie die mir schon mal und wir spielen damit Pingpong.“ Von der Autorin hört man wieder ihr „Mh mh.“ und Hansmann prognostiziert: „Also in der Regel wirds dann so sein, dass Sie über ... äh [Sie] da so ne Zeile finden: ‚Beifall‘ [klatscht in die Hände und lacht]. So. Aber es kann ja durchaus auch sein – vier Augen sehen mehr, oder sechs Augen sehen mehr, als vier – ähm, dass m- mir n-n- dazu ne Idee kommt. Insbesondere is meine Aufgabe als Herausgeber, darauf zu achten, dass wir am Ende keine Pleite erleben. Die Pleite is nämlich immer die: Wenn Sie mit dem Manuskript am Manuskriptabgabetag bei [dem Schwesterverlag] erscheinen, die blättern so durch und sagen ‚Wir können Ihnen schon jetzt sagen: Is zu VIEL. Machen Se sich mal Gedanken, was gekürzt werden könnte.‘ So und dann haben Sie zwei Tage lang (.) zwei Tage später den Anruf: ‚Sie haben das Format nicht eingehalten. Wir haben die und die Vorgaben hinsichtlich der Textlängen und so weiter – wir kriegen das nich hin.‘ (1) So. Das kann man von vornherein vermeiden.“ Frau Rabe signalisiert, dass das bekannt und in Ordnung ist („Jaja, klar.“), Hansmann fährt fort: „Zum Beispiel. Dann kann man auch von vornherein, äh, drauf achten, dass wir in dem Stil der Reihe bleiben, also wie die Kinder angesprochen werden, was die gewohnt sind. Also, und so ... Also, um solche Kleinigkeiten geht’s. Es geht nicht um Kontrolle meinerseits, es geht (1) um Ko(.)operation im Sinne von freund(.)licher Zuwendung. Und, ähm, ja. So. (1) und da stell ich mir vor, dass wir in knapp vier Wochen (.) im Februar pingpongspielend alle circa dreißig Versuchstexte haben könnten.“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, § 37–51, 00:03:29–00:06:03)
Mit dieser Beschreibung von Tätigkeitsfeldern innerhalb der Kooperation zeigt sich, dass auch Herr Hansmann von seinem idealtypischen Kompetenzdreieck ein stückweit abrückt bzw. er das Dreieck in der Praxis mit weiteren Tätigkeitsbereichen ausdifferenziert: Als verlagserfahrener Autor berät Herr Hansmann auch in tendenziell redaktionellen Fragen. Er konzipiert das „E-Mail-Pingpong-Spiel“ als eine Art Prälektorat. Neben verschiedenen eher formalen Kriterien sind mit den Aufgaben dieses Prä- oder Quasilektors auch inhaltliche Hilfen bzw. Vorgaben verbunden. Spätestens mit dem Punkt der gewohnten (produktreihenstringenten) Adressierung von Kindern
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klingt dies an. Hiermit kommt Herr Hansmann auf seine (dreieckskonforme) Kernkompetenz zurück: Er positioniert sich als Experte für Kinder und Wünsche der Lehrer(inne)n bzw. als Kenner der Schulpraxis im Allgemeinen. Das Verflochtensein von redaktionellen Vorgaben, der Reihenstringenz der Produktserie sowie dem Expertenwissen um Schulkinder, Lehrer(innen) und Unterrichtspraxis wird mit den folgenden Ausführungen von Herrn Hansmann weiter aufgezeigt. Herr Hansmann charakterisiert erklärend verschiedene Merkmale der Produktreihe: „Jetzt komm ich auf Punkt zwei: ‚Schriftliche Materialien‘ (.) und das ist also zunächst reichlich shocking, also wir wollen den […]-Verlag ja dazu bringen, in dieser Reihe – das heißt nach diesem Design – ein Heft zu machen, und ich habe darum gebeten, dass ihnen zwei [Hefte] vorgelegt werden, Frau Schleier, und ihnen auch [deutet in meine Richtung].“ Es braucht einen kleinen Moment der raschelnden Suche in den Unterlagen, bis jeder das Beispielheft aus der Reihe vor sich hat. Hansmann verliest den thematischen Titel und fährt dann erklärend fort: „Wenn Sie es hinten irgendwo aufschlagen könnten, nicht vorne ... [er guckt auf das Geblätter von Frau Schleier] Ja, da sind Sie so auf der richtigen Seite, möglichst weit hinten aufschlagen, da (.) das reicht auch [in einem Ton, der klarmacht: Es kommt nicht auf eine bestimmte Seite an.]. Also das ist vom Textvolumen her unsere Vorstellung, äh, wir haben ein Ideal und das Ideal ist: Wir orientieren uns am Abschluss des Leselehrgangs, das heißt also an der zweiten Klasse. Also ein normal begabter ... ganz guter Schüler, muss nun nich der Überflieger sein –, der muss diese Texte lesen und verstehen können. so. Ähm, wenn Sie also auf vielen Seiten finden Se unten kopfstehend ein Lösungsversteck [dies spricht er wieder in meine Richtung und deutet auf die Lösungssätze]. Dieses Lösungsversteck, ähm – ja, ich denke, das kann also auch in ihre Forschung rein [diesen Einschubsatz betont er leicht abgehoben, mit einer anderen Stimmlage] – ist ein Service für die Lehrerin. Die Lehrerinnnen haben darum gebeten, dass wir Lösungsvorschläge machen, die wollen nämlich kontrollieren können, was bei rauskommt –, ohne den Versuch selber überhaupt machen zu müssen [den Nachsatz spricht er mit leiser, etwas gebückter Flüsterstimme]. so. Die Kinder gehen mit diesen Lösungsvorschlägen rü-hr-end korrekt um. Das hat was mit der Altersstufe zu tun, also, wer Lorenz Kohlberg gelesen hat – ‚Entwicklung des moralischen Urteils‘, oder sonst was – der weiß, dass Kinder sich also im Grundschulalter fast sklavisch an so Verabredungen halten (.) und wenn Se mit denen verabreden: ‚Das lest ihr nicht. sondern ihr macht den Versuch und so‘... dann lesen sie’s nicht. Wenn Se mit denen verabreden: ‚Das falten wir nach hinten. Ihr macht den Versuch, dann diskutiert ihr, was ihr gesehen habt, und dann dreht ihr das Blatt um‘ – dann machen sie’s auch so. Wenn sie das abschneiden und irgendwo eine Sammlung von Lösungsverstecken machen und sagen also: ‚Ihr macht nen Versuch mhmh, dann redet ihr drüber, was ihr gesehen habt, dann schreibt ihr euch die Lösung auf und dann geht ihr dahin und dann nehmt ihr den Zettel raus und vergleicht‘: Funktioniert auch, es funktioniert wunderbar – diese Lösungsvorschläge sind ein Merkmal [der Reihe] geworden und Sie müssten sie bitte auch (.) mitliefern [an Frau Schleier gewendet]. So. Das, ähm, letz... das letzte Heft ist in der Reihe bisher: […] und wenn sie das anschauen ... Frau Schleier, das wäre also das Design ...“ Erneut kommt etwas Geblätter auf, diesmal in dem zweiten Heft. Frau Schleier betrachtet die exemplarischen Seiten, die einen Eindruck und Orientierung vermitteln sollen. Sie führt dann kritisch klingend ihre Einschätzung an: „Hmm... wobei das relativ viel Text hat jetzt. Zumindest ...“ Mit einem Tonfall, der gleichermaßen bestimmt-zustimmend wie relativierend klingt, wendet Hansmann ein: „... zum Teil, ja ...“ (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, § 321–325, 01:25:35–01:28:34)
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Herr Hansmann bringt sein Wissen bzw. seine erfahrungsbasierten Bilder zu Kindern und zur Schulpraxis ein. Er verbindet dies mit der einzuhaltenden Reihenstringenz der Produktserie, indem er auf die gegenseitige Bedingung von Produkt und Praxis verweist: Wie auch schon beim ersten Treffen auf der „didacta“ unterstreicht er, dass die Produkte nicht nur auf Grundlage seiner langjährigen Schulerfahrung entwickelt wurden, sondern dass die Produkte auch durch direkte Rückmeldungen aus der Praxis geformt wurden. Im Beispiel erfolgt eine Präzisierung der Kundenorientierung durch die Aufnahme des Wunsches von Lehrer(inne)n, „Lösungsverstecke“ zu den Versuchen zu integrieren. Diese Lösungen seien inzwischen zu einem Kennzeichen der Reihe und somit zu einem Punkt geworden, der in jedem Fall beachtet werden muss. Mit seiner Erfahrung im Umgang mit Kindern – und einem passenden Literaturbezug, der diese Erfahrungen wiederum generalisierend von seiner Person löst – macht er zudem deutlich, dass diese Lösungsverstecke von den Kindern nicht missbraucht werden. Er antizipiert so eine mögliche Kritik und entkräftet sie präventiv: Es müsse nur der schulisch-legale Umgang mit den Lösungsverstecken besprochen werden. Für vielfältige Umgangsweisen mit diesen Lösungsverstecken liefert Herr Hansmann direkt einen Strauß an funktionalen Praxisbeispielen, dies indem er in die Rolle eines fiktiven Lehrers schlüpft und mit dessen Stimme zugehörige fiktive Kinder anspricht. Hansmann nimmt damit seinen Platz in dem angeführten Kompetenzdreieck des „Dingemachens“ ein. Mit der kritisch klingenden Stimme von Frau Schleier, die das Textvolumen der Seite als (für Kinder) recht umfangreich einschätzt, klingt in diesem ersten Meeting das schon bekannte Problem in der Zusammenarbeit an: die mit dem (vermeintlichen) Generationenwechsels verbundene Frage, wem welche Rollen und Expertisen im Prozess der Entwicklung zugedacht und zugesprochen werden. Während des 3. Meetings (bei dem über weite Teile eine konflikthafte Stimmung herrscht) kommt es diesbezüglich zu einer Aussprache, mit der die empfundenen Unstimmigkeiten thematisiert werden. Dem Meeting vorangegangen ist zum einen der Versuch des schon beschriebenen „E-Mail-Pingpong-Spiels“, über das die Autorinnen gemeinsam mit Herrn Hansmann die Kopiervorlagen zu den Experimenten kindund verlagsgerecht zu verfassen versuchten. Diese gemeinsame Verfertigung gestaltete sich als schwierig und wurde von beiden Seiten als unbefriedigend eingeschätzt. Zum anderen ging dem Meeting die Erprobung der Experimente und Kopiervorlagen an ausgewählten Schulen voraus, wodurch die Praxistauglichkeit getestet werden sollte. Diese Erprobung kann als ergebnisheterogen beschrieben werden. Frau Schleier leitet (bemüht ruhig, letztlich aber latent energisch) ein und spricht zu Herrn Schmidt: „Also, der Punkt für mich is de:r, dass (.) ... SIE sagen jetzt schon wieder, wir haben das naturwissenschaftliche Knowhow, Herr Hansmann hat das pädagogisch-didaktische Knowhow.“ Herr Schmidt stimmt dem zu und sagt: „Aus der Schule, ja.“ Schleier fährt fort „Ja. WI:R haben- seit zehn JAHRen arbeiten wir mit Kindern ... in g- exakt diesem Altersbereich, ... wir arbeiten IN SCHULEN, ... wir- wir sehen... wir wissen z- ... wir HABen (.) kein NULL pädagogisch-didaktisches Knowhow, nur wenn wir sagen, wir möchtens gerne so machen, wird gesagt: ‚Nein, das funktioNIERt so in der Schule nicht.‘ und: oh Wunder, die Erprobungsschulen in […]
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[die von Herrn Hansmann ausgesucht und ausgewertet wurden] bestätigen das, dass es so nicht in der Schule funktioniert. Und DAS is der- d- die Kausalkette, die einem irgendwo aufstößt, dass das plötzlich so ... dass dem eben so is. Es wird halt gesagt dass- äh dass ähm ... es wird uns das fachliche Knowhow naturwissenschaftlicher Art zugesprochen, aber nicht das pädagogische-didaktische Knowhow. Das liegt äähhm in- in diesem Projekt offensichtlich nicht bei uns. Dass WIR ABER mit EXTREM VI:ELEN VERSCHI:EDENEN Lehrkräften (.) arbeiten und mit exTREM vielen verschiedenen Kindern in VERSCHIEDENSTEN Schulformen. Also wirklich von- von ähm ganz normalen Grundschulen bis Brennpunktschulen bis FÖRderschulen (.) ähmm da- das- äh DIEser- DIESES WISsen oder dieses KnowHOW (.) wird uns abgesprochen. Das EINzige pädagogische KnowHOW liegt bei Herr Hansmann, und was in den Schulen, die Herr Hansmann besucht, nicht funktioniert, ist nicht in Ordnung.“ (Meeting 3A, 1. Dokumentenseite, § 956–970, 01:27:15–01:28:42)
Während die Frage nach Kompetenzbereichen und Expertisen in den vorangegangenen Meetings recht distinguiert und subtil kommunizierte wurde, wird nun verhältnismäßig konfrontativ darauf eingegangen: Die Autorinnen versuchen hier durch eine direkte Aussprache ihre Rolle als Naturwissenschaftlerinnen zu überwinden. Über diese Aussprache soll die sie bisher adressierende Ansprache („Chemikerinnen“) korrigiert werden. Sie wollen damit aus ihrer zugewiesenen Ecke des Kompetenzdreiecks ausbrechen. Bei dieser Aussprache proklamieren sie ihre Kompetenz in einem Bereich, der Pädagogik, Didaktik, Wissen um unterrichtliche Praxis sowie Erfahrungen mit den Besonderheiten von Kindern umfasst. Damit sehen sie sich als fachlich deckungsgleichen Ersatz zum Grundschulexperten Hansmann und nicht als dessen arbeitsteilige Ergänzung. Es geht ihnen um ein Ablösen, um das Vollziehen des von ihnen gesehenen Generationenwechsels. Wie sich wertfrei feststellen lässt, neigen alle Entwickler(innen) in der Praxis dazu, flexibel auch abseits ihrer formalen Qualifikation universalistisch zu agieren: Neben dem aufgezeigten Umstand, dass sich die promovierten Chemikerinnen (aufgrund ihrer langjährigen Bildungsarbeit) als Expertinnen für die pädagogisch-didaktische Praxis verstehen, wurde schon darauf verwiesen, dass sich der langjährige Grundschulpraktiker (als altgedienter Autor) auch als Experte für die Verlagsarbeit sieht und sich dementsprechend als Quasilektor positioniert, der über Textumfang oder Reihenstringenz wacht. Es lässt sich empirisch zeigen, dass alle Beteiligte in der Praxis als Entwickler(innen) auftreten und als solche den Koffer allumfassend gestalten bzw. dies versuchen. Die folgenden Auszüge verdeutlichen weiter die Infragestellung einer vermeintlich leichten und eindeutigen Kompetenzverteilung in der Praxis und zeigen zudem, dass auch ohne eine solche Trennung der Expertisen sehr produktiv gearbeitet werden kann. Frau Schleier geht auf Inhalte bzw. Schlagwörter aus der Lehrplananalyse ein: „Genau, dann haben wir ähm hier ganz klar das Thema ‚Reflexion‘. (3) Was interessant war, war, dass es in einem Bundesland stand sogar da ‚Reflexionsgesetz‘. Ähm, das Ganze also schon sehr in die Mathematik hineingehend ... ähm aber auch, was mir auch aufgefallen ist, das Thema – und da sind wir wieder näher bei den Kindern – ‚Reflektoren‘ stand auch irgendwo da.“ Schmidt und Hansmann machen ein bekräftigendes „Mh.“, Schleier fährt fort: „Und da sind wir wieder bei
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dem ...“ Herr Hansmann ergänzt: „dann beim Fahrrad und so.“ Hier stimmt Frau Schleier nun zu: das wollte sie sagen („Fahrrad, genau.“) und Herr Hansmann wertet mit „Wichtig.“ Frau Schleier schließt sich dieser Wertung an und konnotiert sie persönlich: „Das hat mir dann natürlich gleich viel besser gefallen als Reflexionsgesetz.“ Herr Schmidt lacht ein hell klingendes „Mhmhmh“ und Frau Schleier scheint sich dadurch in einem gewissen Rechtfertigungsdruck zu sehen: „Ja! Weil ähm ...“ noch bevor sie dies ausführen kann, stimmt Schmidt ein und macht damit klar, dass er ganz an ihrer Seite steht: „Ja, Reflexionsgesetz ist auf der Stufe eigentlich Kokolores, ne?“ Schleier stimmt zu: „Jaja, jaja, aber gut ich mein man muss natürlich auch sehen, es geht in Berlin/Brandenburg bis sechste Klasse, ne? Mit der Grundschule.“ Schmidt gibt prompt ein „Nee, nee, nee.“ von sich. „Nicht?“ fragt Frau Schleier leise und Hansmann springt ein: „Der Rahmenplan gilt nur bis Klasse vier.“ (Meeting 1A, 2. Dokumentenseite, § 127–145, 02:18:17–02:19:10)
Über die den Entwickler(inne)n vorliegende Synopse der unterschiedlichen deutschen Lehrpläne gilt es, eine Orientierung für das Produkt zu finden. Alle Inhalte können nicht berücksichtigt werden und es muss begründet selektiert werden. Frau Schleier stellt heraus, dass ihr die thematische Nähe zum Kind bzw. ein Bezug zum Kind wichtiger sei als ein Bezug zur weiterführenden Mathematik und zu naturwissenschaftlichen Gesetzen. Hiermit demonstriert sie Einigkeit mit Herrn Hansmann, der ebenfalls deutlich macht, dass ihm der Bezug zum Kind wichtig ist (hergestellt z. B. über das Fahrrad). Es fällt auf, dass in der Situation niemand als expliziter Anwalt der Naturwissenschaften fungieren mag: Niemand ergreift Partei für das spezifische „Reflexionsgesetz“, das in einem curricularen Rahmenplan auftaucht und dem allgemein-schlichteren Thema der „Reflexion“ gegenübersteht. Herr Schmidt, der als Verleger eigentlich ausschließlich über die (ökonomische) Produzierbarkeit wachen soll (so die Norm des Kompetenzdreiecks), macht situativ seine Expertise deutlich, indem er die Angemessenheit bestimmter Lehrplaninhalte in bestimmten Schulstufen bewertet. Hiermit positioniert auch er sich didaktisch und verlässt die ihm zugedachte Ecke im Kompetenzdreieck. Dies wird von den anderen Beteiligten weder zurückgewiesen noch kritisiert. Ferner zeigt Herr Schmidt seine genauen Kenntnisse über die Gültigkeiten von bundesdeutschen Lehrplänen: Auch wenn sich die Grundschule in Berlin/Brandenburg über sechs Jahrgangstufen erstreckt, so haben die ersten vier doch einen eigenen Rahmenplan. An vielen weiteren Stellen zeigte sich, dass Herr Schmidt – in konsenshaft gewinnbringender Weise – im Prozess der Koffergenese eine Rolle einnimmt, die er eigentlich (in interviewähnlichen Situationen und Gesprächen) von sich wies: Auch Herr Schmidt ist entwickelnder Didaktiker. Er bringt Materialien und ihre späteren (antizipierten) Gebrauchsweisen planerisch zusammen. Dies führt ihn zu Einschätzungen, die sich auf Kinder bzw. Grundschulpraxis beziehen und vielfach von den anderen Entwickler(inne)n berücksichtigt werden. Herr Schmidt merkt an: „Ja, wobei, diese Taschenlampe is ABSOLUT nicht grundschulgeeignet, hier (1).“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, § 1260, 01:19:49)
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Auch in dem zweiten Entwicklungszyklus mit den neuen Autor(inn)en, konnte vielfach und flexibel die bereichsüberschreitende – und als solche gewinnbringende – Einbringung von Expertise beobachtet werden, die eigentlich jenseits der formalen Qualifikation der jeweiligen Person lag. Die Didaktikerin und neue Autorin Frau Kran führt aus: „Genau das (.) ähm, denk ich, ham wir ja auch schon mal besprochen [dass es Lösungsverstecke bzw. -sätze geben muss]. Also, ich- wwir fanden diese Idee eigentlich ganz schön und ähm dann hat äh Herr Schmidt noch die Idee gehabt, dass man das [die Lösungen] in Spiegelschrift schreiben könnte ...“ Der neue Koautor Herr Peine schmunzelt anerkennend. Kran betont noch einmal, dass sie das schön findet und Hansmann bilanziert: „Das war ne sehr gute Idee, ja.“ Von Herrn Peine hört man ein bejahendes „Mhmh“, Kran sagt noch einmal „Ja (2).“ und Herr Schmidt dann selbst auch: „Ja.“ Mit dieser Idee lässt sich selbst aus dem Lösungssatz noch eine themenkonforme und passende Aufgabe machen, die zum Nachdenken oder Verinnerlichen anregen soll. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 670–680, 00:30:26–00:30:43)
Mit derlei methodisch-didaktischen Impulsen nimmt Herr Schmidt in beiden Entwicklungszyklen Einfluss auf das Produkt. Neben verschiedenen Ideen bzw. Einschätzungen auf grundschulpraktischer Ebene lässt Herr Schmidt auch immer wieder erkennen, dass er naturwissenschaftlich interessiert und dementsprechend gebildet ist. Sein Einbringen von naturwissenschaftlicher Expertise zeigte sich über beide Entwicklungszyklen hinweg. Herr Schmidt deutet auf die Kunststoffbrillen auf dem Tisch und fragt: „Ist das eigentlich n Polfilter? (2) In diesen Brillen?“ Herr Peine bestätigt dies („Jaha.“) und Herr Schmidt fragt erneut etwas ungläubig: „Ja? Aber nicht so richtig. Nur so n, so n, so n halbgares, ne?“ Peine reagiert mit einem „Nö.“ das Herr Schmidt als Frage wiederholt: „Nö?“. Wieder antwortet Herr Peine: „Ist ganz richtig, ja.“ Schmidt erklärt nun seine Skepsis: „Ja, ich hab nämlich mal versucht, die gegeneinander zu drehen. (.) Also Vollabschattung gibt's nicht, ne?“ Dabei deutet er an, was er probiert hat: durch ein Drehen zweier aus Polarisationsfiltern bestehender „3-D-Kino-Brillengläser“ voreinander, sollte sich eigentlich ein deutlicher Effekt der Abdunkelung ergeben. Dieser wird dadurch erzeugt, dass einer der Filter (ab einem gewissen Winkel) exakt die Polarisationsrichtung blockiert, die der andere Filter durchlässt: irgendwann sollte man nicht mehr hindurchschauen können. Dieser Effekt stellt sich bei den hier vorliegenden Filtern aber nicht ein. Frau Kran entgegnet zustimmend: „Ne, das stimmt.“ und auch Herr Peine macht ein „Mhja“, mit dem zugestanden wird, dass da schon etwas dran ist – er scheint aber nicht vollends zuzustimmen. Schmidt resümiert – sich selbst recht gebend: „Ja, also so is so n halb. Irgendwie so nich so ganz richtig jetzt [der Polfilter], ne?“ Peine wendet ein, dass die Qualität der Filter „grausam schlecht“ sei: „Für diese Massenproduktion für die Kinos, die kosten ja auch nix.“ (Meeting 1B, 3. Dokumentenseite § 251–267, 01:56:56–01:57:31)
In diesem Beispiel zeigt Herr Schmidt sein naturwissenschaftliches Knowhow und diskutiert die Materialen der Box mit den anderen Entwickler(inne)n. Er scheut nicht davor zurück, auch gegen ihre Expertise zu argumentieren. Dabei erzielt er in diesem Beispiel eine differenziertere Einschätzung zum angebotenen Material und eine bedingte Zustimmung, die auf seinen kritischen Einwand folgt.
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Solange alle Akteurinnen und Akteure mit den eingebrachten Entwicklungsideen und Entscheidungen konform gehen, diese von allen mitgetragen werden und sie in den Augen aller Entwickler(innen) als Gewinn oder Notwendigkeit für das gemeinsame Projekt verbucht werden können, solange ist es in der Praxis irrelevant, wer mit einer „guten Idee“ einen Punkt einbringt. Es ist dabei egal, wer in welchem Kompetenzrevier wildert. Das gemeinsame und kompetenzüberschreitende Entwickeln ist eine oft produktive und wertgeschätzte Tätigkeit. Erst wenn sich die Ideale trennen, wenn sie konkurrieren, kommt es zu Kollisionen an den Grenzen der Kompetenzbereiche. Das Austragen dieser Differenzen führt zu Aussprachen, mit denen auf die eigene Expertise beharrend rekurriert wird. Der Entwicklungsprozess ist zwar sehr sprachlich geprägt, verbale Andeutungen, separiert stehende Explikationen, kompromisshafte Zusagen und vermeintlich korrigierende Klärungen sind für die Praxis der zukünftigen Entscheidungsfindung jedoch nur bedingt relevant. Die durch eine Aussprache angestrebte und erhoffte Richtigstellung kann also ausbleiben. Konfrontative Aussprachen wirken sich jedoch beobachtbar auf das soziale Gefüge der Interaktion aus und können zur Verfestigung protesthafter Gegenpositionen führen.
3.3 Neukonstellation und Projektneustart Die aus dem Ringen um Entscheidungskompetenzen entstehenden Dispute können sich gravierend auswachsen. Im beobachteten Prozess führten sie dazu, dass die Entwicklung mit den Autorinnen Frau Rabe und Frau Schleier abgebrochen wurde. Zu einem marktreifen Produkt kam es erst in der zweiten Entwicklungsschleife, mit der ein Wechsel der Autor(inn)en vollzogen wurde. Das endgültige Aus der Kooperation in Zyklus A zeichnete sich mit dem Ende des Jahres 2012 immer weiter ab. Nachdem sich an das Meeting 3A (26.09.2012) eine längere Kommunikationslosigkeit anschloss, obwohl eigentlich verabredet war, das Projekt gemeinsam zu einem Ende zu bringen, wurde mir bei meinem Messebesuch auf der „didacta“ (21.02.2013) mitgeteilt, dass die Zusammenarbeit gescheitert sei und juristische Schritte eingeleitet wurden. Wie ich erfuhr, wurde für den zweiten Projektzyklus eine Kooperation mit Didaktik-Professor(inn)en eingegangen: Frau Prof. Dr. Kran aus der Sachunterrichtsdidaktik und Herr Prof. Dr. Peine aus der Physikdidaktik wurden die neuen Autor(inn)en. Mit dieser Hinzuziehung ergab sich ein neues Teilfeld, mit dem eine Repositionierung meiner Rolle einherging. Ein Teil der Entwicklungsarbeit wurde (auch räumlich) in die Universität verlagert. Repositionierung der Rollen im Feld Es ist etwa 13:15 Uhr, als ich an der Universität ankomme und auf einem Flur Orientierung suche. Ich erinnere mich, dass ich in diesem Gebäudebereich schon einmal anlässlich einer Fachtagung war. Nach einer Weile habe ich die richtigen Räumlichkeiten (eine Lernwerkstatt) gefunden. Die
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Tür zum Raum ist geöffnet und ich blicke (aus einiger Distanz zum Türrahmen) hinein: Es befinden sich verschiedene Tischstationen im Raum, der von Regalen (voll mit allerlei Materialien) gerahmt ist. Auch auf den Tischen befinden sich unterschiedliche Dinge und Versuchsaufbauten, die ich aus der Ferne jedoch nicht im Detail erkennen kann. Zwischen den Stationen bewegen sich – emsig wirkend – zwei junge Menschen hin und her. Ich vermute, dass es studentische Hilfskräfte sind, die damit beschäftigt sind, die Dinge für die anstehende Präsentation zu arrangieren. Auch Frau Kran mache ich nun aus, ich erkenne sie, da ich mir das Foto ihrer Internetseite angeschaut habe. Kurz überlege ich, ob ich in den Raum treten soll, um dann etwas zu sagen wie „Schönen guten Tag, ich glaube hier bin ich richtig – wenn auch etwas früh.“ Letztlich entscheide ich mich aber dagegen und beschließe, noch etwas zu warten. (Vor dem Meeting 1B, 05.03.2013, gegen 13:15 Uhr)
Schon mit diesen ersten Zeilen zu den ersten Metern im Feld wird deutlich, dass mir der universitäre Kontext nicht unvertraut ist. Ich ordne bestimmte Akteurinnen und Akteure im Feld reflexhaft in Kategorien ein (studentische Hilfskräfte) und selbst die Räumlichkeiten dieser konkreten Universität sind mir bekannt. Insgesamt fühle ich mich heimischer als im Industriebetrieb bzw. den Verlagsgebäuden. Diese Nähe stellte jedoch auch ein Risiko für meinen Feldzugang dar. Während des Wartens betrachte ich die Plakate und Poster im Flur, die sich um naturwissenschaftliches Lernen von Kindern drehen. Nach einer Weile höre ich den Zuruf meines Namens, ich drehe mich um und blicke Herrn Schmidt entgegen, der den schmalen Flur entlangschreitet. Wir begrüßen uns und ich trete mit Herr Schmidt wieder näher an die offene Tür der Lernwerkstatt. Wir sprechen kurz über die neuen Autor(inn)en und den Rechtsstreit mit den alten Autorinnen. Wenig später tritt Frau Kran aus dem Raum und zu uns heran. Wir begrüßen uns und Herr Schmidt stellt mich – etwas scherzend – vor, er nennt meinem Nachnamen und ergänzt mit dem erklärenden Nachsatz „unser begleitender Beobachter, er wird uns jetzt gleich mal beobachten.“ Herr Schmidt und ich schmunzeln, Frau Kran lacht höflich und sagt „ah, okay.“. Bei einem ersten Schluck Kaffee fragt Herr Schmidt Frau Kran (etwas ernster als zur Begrüßung), ob ihr die Rolle von mir klar sei. „Ist mir klar“ sagt Frau Kran bestimmt und sicher – es klingt so, als bräuchte sie keine weiteren Erklärungen, was mich etwas verwundert. Herr Hansmann ist inzwischen auch da und gleich würde der zweite Autor noch zu dem Treffen stoßen, wir befinden uns also noch in einer Wartesituation. Frau Kran kommt nun doch auf mich zurück: „Können Sie vielleicht ganz kurz noch ein bisschen was erklären ...“, fragt sie und möchte wissen, worum es mir geht, was mein Wissensinteresse ist. „Ja gerne ...“ beginne ich und Frau Kran ergänzt, dass sie glaube, dass wir uns schon einmal gesehen hätten ... Ich entgegne, dass wir uns auf GDSU-Tagungen bestimmt schon gesehen haben, sie nickt und ich fange an: „Zunächst noch einmal besten Dank, dass ich hier sein kann. Mein Name ist Jochen Lange, Mitarbeiter in Siegen und als Doktorand gucke ich, wie diese Materialien – Lehr- und Lernmittel – entstehen. Wie verschiedene Professionen und Expertisen einfließen und dann nachher ein Produkt entsteht, das in den Grundschulen verwendet wird und mit dem dann Kinder lernen …“ Es gibt ein zustimmendes „mhmh“ während ich fortfahre: „Dieser Entstehungsprozess ist halt der Gegenstand, ich bin dabei als teilnehmender Beobachter und beobachte wie das Machen von Lehrmitteln funktioniert.“ Erneut ein „Mhh“. Frau Kran hat aufmerksam zugehört und stellt nun die erste Nachfrage: „Schauen sie nur dieses an, oder auch andere Lehr-Lernmittel, wie die entstehen?“ Kritisch mitzuschwingen scheint hier, dass – im quantitativen Vokabular gesprochen – ein n=1 nicht ausreicht um allgemeingültige Aussagen zu treffen. Ich antworte, dass erst einmal nur dieses Projekt und Lehrmittel angedacht sei. Man müsse natürlich gucken, wie weit das alles – nach
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analytischer Kodierung – für so eine Arbeit trägt, ich aber zuversichtlich sei, dass da viele spannende Sachen drinstecken und es dem Anspruch angemessen sei. Frau Kran fragt „Jah?“, und Herr Schmidt schaltet sich ein: Es sei ja auch die Frage, wieweit sich ein Hersteller auf die Finger gucken lassen möchte. Ich nicke: „Ja Ja, deswegen auch noch mal besten Dank, dass ich hier sein darf.“ Herr Hansmann übernimmt den Einwand von Herrn Schmidt und ergänzt: „Wie weit sich die Autoren da auf die Finger gucken lassen möchten.“ Damit spielt er den Ball zu den neuen Autor(inn)en, die natürlich auch die Gelegenheit haben sollen, sich zu meinem „auf die Finger gucken“ zu positionieren. Herr Schmidt führt – zur weiteren Erklärung – an, dass der Verlag ja einen Produktentwicklungsprozess habe, es würde gelten: „Wir validieren zwar die Produkte ... aber den Prozess haben wir in der Form noch nicht validiert. Das ist für uns auch eine Gelegenheit, da mal genauer draufzugucken.“ Damit hebt Herr Schmidt den Nutzen meiner Anwesenheit aus Sicht des Verlags hervor. Frau Kran sagt – in meinen Ohren etwas einsilbig klingend – „Ja“. Schmidt erklärt weiter: Die Außenperspektive könne Hinweise auf Stellen liefern, an denen man Nacharbeiten könne oder sollte, meine Anwesenheit sei also interessanter „als wenn man das hausintern regelt ... oder von jemandem, der mit dem Thema eh schon zu tun hat.“ Weiter führt er aus: „Also ich finde, das war eine gute Gelegenheit.“ Frau Kran äußert ein zustimmendes: „Mhmh“, der Blick von außen sei fraglos eine gute Sache. Ich nicke und stimme in den Kanon ein: „das kann auch was Supervisorisches haben ...“ Frau Kran stellt nun die nächste Frage an mich – noch eine Spur kritischer als bei ihrer ersten Nachfrage: „Aber haben Sie ... was haben Sie für Theorien dahinter? Das würde mich ja echt mal interessieren.“ Ich überlege, womit ich da anfangen und was ich überhaupt sagen soll – bzw. was für Theorien, welcher Theoriebegriff und welche Forschungsparadigmen bei Frau Kran „dahinter“ sind. Welche Theorien stehen „hinter“ der Forschung? „Es geht natürlich zunächst auch ein Stück darum, wie Bedeutung in die Dinge einfließt“, entscheide ich mich schließlich und führe weiter aus: „Bruno Latour, der ja Techniksoziologe ist, hat ja gesagt, ‚die Dinge selbst haben Aufforderungen und Intentionen die in die Dinge eingeflossen sind‘ diese würden dann später – in der Klasse – wieder ausgelesen. Die Dinge haben Skripte aber auch Widerstände, die man händeln muss. Die Idee ist nun zu gucken, wie man versucht, so etwas zu produzieren, wie man versucht, die Dinge aufzuladen… mit Bedeutung. Welche Intentionen...“ Frau Kran spricht ein „mhmh okay“. Ich nicke und Frau Kran sagt, dass sie dann ja schon mal gespannt sei. Danach lacht sie freundlich. (Beginn des Meeting 1B, 05.03.2013, gegen 14:00 Uhr)
Sowohl die Art, wie ich mich selbst gegenüber Frau Kran vorstelle und verorte, als auch die Art, wie ich von Frau Kran adressiert werde, ist stark durch die Funktionsweisen unserer Scientific Community geprägt: Ich stelle ein konzipiertes Forschungsprojekt vor und Frau Kran stellt dazu kritische Fragen. Auch wenn hier – während wir warten und Kaffee trinken – nicht ins Detail gegangen wird, ähnelt die Situation in ihren Grundzügen der eines Tagungsvortrags mit angeschlossener kritischer Diskussion. Herr Schmidt sprang mir in dieser Begründungsphase etwas zur Seite, indem er aus seiner Sicht den legitimierenden Wert meiner Anwesenheit ausformulierte („Prozessvalidierung“). Für Frau Kran bin ich jedoch kein Prozessvalidierer, die Ebene ist – wenn auch hierarchisch nicht gleich – letztlich kollegial: Grundsätzlich sind wir im selben Geschäft tätig. Hier und im weiteren Verlauf des Prozesses nahm ich gelegentlich etwas Skepsis und leichtes Misstrauen bezüglich der Frage wahr, was für eine wissenschaftliche Arbeit ich zum Entwicklungsprozess verfasse. Diese Bedenken begründeten sich wohl auch darin, dass Frau Kran – wie mit ihren Nachfragen im Ansatz deutlich wurde – einen anderen empirischen Arbeitsschwerpunkt hat, sie
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demnach methodologisch recht weit von meiner Arbeitsweise entfernt ist. Nichtsdestoweniger steht außer Frage, dass meine Arbeit in die gleiche Scientific Community eingespeist werden wird, in der auch Frau Kran genuin verortet ist: die Sachunterrichtsdidaktik, die sich mit Fragen der Bildung an Grundschulen befasst. Letztlich wurde ich jedoch im Weiteren bereitwillig in den neuen Prozess integriert. Mit dem Tätigwerden einer Sachunterrichtsdidaktikerin im Entwicklungsprozess verlagerte sich auch die Akzentuierung der Herausforderung meiner Beobachtungen und Analysen: von einem primären Fremdverstehen der mir unvertrauten Industrie- bzw. Verlagspraxis hin zu einem befremdenden Blick auf sachunterrichtsdidaktisch motivierte Plädoyers meiner universitären Kollegin. Es galt normativ enthaltsam zu beschreiben, wie sachunterrichtliche Prinzipien (z. B. die Orientierung an kindlichen Erfahrungen) in die Entwicklung eingebracht und so letztlich hergestellt werden. Auch wenn schon in Zyklus A bestimmte Bilder von Unterricht und Kindern vertreten worden sind, war der Bezug zum Sachunterricht in Zyklus B expliziter.4 Neben meiner Repositionierung im Feld waren selbstredend alle Mitglieder des Teams damit konfrontiert, sich in ein Verhältnis zu den jeweils neuen Personen zu setzen. Es gilt, sich erneut der Frage nach den Rollenbildern und personellen Zuständigkeiten der Entwickler(innen) zuzuwenden. Wir blicken uns in der Lernwerkstatt um: Es sind viele Experimente aufgebaut und Herr Hansmann meint, dass das so doch gut aussieht – nicht so, wie beim letzten Meeting (3A), meint er, bei dem Herr Schmidt immer losgehen musste, um Materialien zu besorgen und sich Versuche auszudenken, das sei nicht seine Aufgabe. Gut sei zudem, dass alle Versuche hier gleichzeitig aufgebaut sind: „dann weiß man gleich, ob das in eine Box geht oder nicht“, sagt er zu mir. Herr Hansmann blickt sich im Raum um und sagt lobend: „So habe ich mir das vorgestellt.“ Frau Kran äußert ein erfreutes „Jaha?“ Herr Hansmann erklärt – in meinen Ohren wortspielerisch – „dass wir hier zur Sache kommen, gleich.“ (Offener Beginn des Meetings 1b, 05.03.2013, gegen 14:00 Uhr)
Herr Hansmann ordnet das vorgefundene materielle Setting der Situation wertend ein und nimmt hiermit implizit Bezug auf die Norm seines Kompetenzdreiecks, mit dem er die Idealverteilung der Expertise in beiden Entwicklungsprozessen selbstreflexiv beschreibt: Man bräuchte einen Produzenten, einen Grundschulpraktiker und einen Naturwissenschaftler. Vor dem Hintergrund, dass es die Aufgabe der Autor(inn)en sei, einen ersten Aufschlag zu liefern, findet das schon Vorhandensein der – in einer diskussionsfähigen Version fertigen, aufgebauten und somit angebotenen – Versuchsanordnungen seine Würdigung. Diese bereitgestellte Grundlage würde ferner in Aussicht stellen, dass die Rolle von Herrn Schmidt hier nun endlich wieder richtig ausgefüllt werden kann: Während Herr Schmidt im ersten Projektanlauf aufgrund der
|| 4 Während z. B. der sachunterrichtsdidaktisch prominente Autor Martin Wagenschein den Autorinnen aus Zyklus A nicht bekannt war, wurde in Zyklus B explizit auf den curricularen Perspektivrahmen Sachunterricht verwiesen (vgl. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts 2013).
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in Teilen fehlenden Lieferungen der Autorinnen auch jenseits seiner Zuständigkeit und Expertise hätte aktiv werden müssen („Losgehen, um Materialien zu besorgen und sich Versuche ausdenken“), könne er sich hier und heute wieder auf seinen eigentlichen Kompetenzbereich konzentrieren und über die Produzierbarkeit der Versuche wachen. Dass Herr Schmidt auch in der Praxis von Zyklus B als Akteur die pädagogisch-didaktische Gestalt der Box flexibel mitentwickelte, wurde in Kapitel 3.2 bereits analytisch herausgestellt. Diese Rollenflexibilität wurde von den übrigen Entwickler(inne)n (inklusive Herrn Hansmann) innerhalb der prozesshaften Entwicklungspraxis nie negativ aufgegriffen. Dies unterstreicht den Kontrast zwischen den (rollenkonformen) Aufgaben der Akteurinnen und Akteure innerhalb ihrer sprachlich-retrospektiven Selbstrekonstruktion und der beobachteten Entwicklungspraxis. Mit Blick auf die weiteren Mitglieder im Entwicklerteam und das Rollendreieck (siehe Abb. 2) schien nur in meinen Augen ein didaktisches respektive schulbezogenes Ungleichgewicht zu herrschen. Mein Blick auf die Akteurinnen und Akteure und ihre Expertise war dabei zunächst der folgende: Herr Hansmann, Frau Kran und auch Herr Peine können als Didaktiker(innen) gesehen werden, deren Spezialgebiet das (naturwissenschaftliche) Lernen von Schüler(inne)n ist. Trotz unterschiedlicher Akzentuierungen (Grundschulpraxis, Sachunterrichtsdidaktik, Physikdidaktik) ist ihr Arbeitsschwerpunkt auf schulische Bildungsprozesse bezogen. Diese formellen Ausweisungen (die sich z. B. in Denominationen spiegeln) schienen mir nicht zum arbeitsteiligen Kompetenzdreieck zu passen, das Herr Hansmann seinerseits musterhaft eingelöst sah. Im Laufe des Entwicklungsprozesses sollte sich zeigen, dass auch in der Interaktion von Zyklus B wieder ein variierendes Vornehmen und Annehmen von relevanten Rollenzuschreibungen ausgehandelt wurde. Dabei waren die Adressierungen, mit denen sich die Entwickler(innen) ansprachen, teils sehr nah am Kompetenzdreieck. Beispielsweise wurde Herr Peine vielfach als Vertreter der Physik und Naturwissenschaft adressiert, Frau Kran wurde die Rolle der Grundschuldidaktikerin zugesprochen und Herr Hansmann selbst trat – rollenkonform als Herausgeber – ein Stück hinter die Expertise der Autor(inn)en zurück: Herr Hansmann bezieht sich wertend auf ein Experiment und spiegelt Frau Kran und Herrn Peine einleitend seine und ihre Expertise dazu: „Also ich, i- äh ich als Erwachsener (.), insbesondere Sie als Physiker und Sie als Grundschuldidaktikerin, wissen: […].“ Hansmann erklärt weiter, ohne dass eine der adressierten Personen einen Einwand formuliert. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 591, 00:26:56)
Herr Hansmann positioniert sich selbst – denkbar expertisenneutral – als „Erwachsener“, während er Frau Kran und Herrn Peine separiert auf die Punkte im Dreieck setzt, die sich auf die naturwissenschaftliche „Sache“ und die Grundschule beziehen. Derartige Adressierungen sind jedoch keine Konstanten, die starr über die Situationen des Prozesses hinweg gehalten werden. Zudem liegen sie auf der sprachlichen Ebene (Ansprachen) und sind von den wechselnden Rollen in der Praxis und dem Einbringen konkreter Entwicklungsideen zu unterscheiden.
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Fazit: Teambildung zwischen Homogenisierung und Abgrenzung Mit den bisherigen Ausführungen wurden die Verhältnisse und Rollen der an der Entwicklung teilnehmenden Personen analytisch beschrieben. Dabei wurde meine Position im Feld und die Sichtweisen der wechselnden Entwickler(innen) auf meine Teilnahme aufgezeigt: Herr Schmidt sah mich als einen beobachtenden Begleiter, dem er – wie einem Praktikant – Einblick gewährt, von dem er sich aber auch eine eventuell gewinnbringend neue Perspektive auf die Arbeit in seinem Betrieb erhofft. Für Herrn Hansmann war ich ein Novize, dem er als eine Art Mentor zur Seite stand, bemüht, mir den „richtigen“ Einblick zu gewähren. Frau Schleier und Frau Rabe nahmen meine Präsenz höflich, aber letztlich wenig interessiert zur Kenntnis, wohingegen mir die neuen und universitären Autor(inn)en (insbesondere Frau Kran) anfänglich mit Skepsis, letztlich jedoch sehr kollegial begegneten. Herausfordernder als die Positionierung meiner Person gestalteten sich die Positionierungen und Rollenzuschreibungen, die die Entwickler(innen) untereinander erbringen mussten. Diese Positionierungen innerhalb der Projektgruppe sind in Kapitel 3 analytisch beschrieben. Mit diesen Analysen wurde auch eine erste Fokussierung der Funktionsweisen der Entwicklungsarbeit vorgenommen. In einem ersten Schritt wurden hierfür Selbstrekonstruktionen der Entwickler(innen) skizziert: Wie beschreiben die Entwickler(innen) ihre Teamarbeit als funktional? Daran anschließend wurden die in der Praxis beobachtbaren Probleme und Mechanismen analysiert, mit denen die Entwickler(innen) operierten. Zusammenfassen lässt sich: Während es auf einer sprachlich-reflexiven Ebene vielfach darum geht, eine arbeitsteilige Trennung der Expertisen herauszustellen und verbundene Entscheidungskompetenzen zuzuweisen bzw. für sich einzufordern, ist die Praxis kaum durch die Realisierung einer solchen Abgrenzung zu kennzeichnen. Es wurde aufgezeigt, wie das formal heterogen qualifizierte Team zu einer annähernden Homogenisierung ihrer Expertisen in der Entwicklungspraxis neigt: Auch der Verleger bringt sich pädagogisch-didaktisch sowie naturwissenschaftlich ein, auch der Grundschulexperte agiert als Lektor usw. Eine dauerhaft personell-fixierte Aufteilung der Kompetenzbereiche in Produktion, Grundschulpraxis und Naturwissenschaften wurde – ungeachtet verschiedener Aussprachen – kaum hergestellt. In der Praxis spielen die Bildungszertifikate oder die sprachlichen Adressierungen bzw. Qualifikationszuschreibungen, mit denen einer Person begegnet wird, kaum eine Rolle für das jeweilige Einbringen von Entwicklungsideen. Sie geben keinen Hinweis darauf, wie eine jeweilige Produktidee von den anderen Entwickler(inne)n aufgegriffen und bewertet werden wird. Auch wenn somit nicht primär über den Weg einer additiv-ergänzenden Zusammenführung von getrennt-exklusiven Expertisen die Genese des neuen Produkts bestritten wurde, muss dies der Entwicklungsarbeit nicht zum Nachteil gereichen. Der analysierte Prozess kompetenzübergreifender Ideenentwicklung lässt sich als sehr flexibel und produktiv beschreiben. Neben Potenzialen für die – so formbar und offen gestaltete – Entwicklung, können aus dieser Praxis aber auch Probleme erwachsen. Dies vor allem
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dann, wenn es zu divergenten Einschätzungen bzw. konkurrierenden Ideen kommt. Bei abweichenden Bewertungen der Ideen werden die jeweiligen Entscheidungsbefugnisse sehr offensiv und sprachlich verhandelt. Es besteht dann das Risiko, dass versucht wird, Entscheidungshoheiten und Kompetenzen konflikthaft einzunehmen bzw. sie den jeweils anderen Entwickler(inne)n abzuerkennen, dies wiederum unter expliziter Berufung auf die eigene Expertise in Form einer Positionierung und Selbstzuschreibung. Dieses Sich-Berufen kann mit Bezug auf formale (z. B. Chemikerin, Grundschullehrer) oder informelle Qualifikationen (z. B. langjährige Zusammenarbeit mit dem Verlag, Erfahrungen mit Kinderkursen) vollzogen werden. Ob diese Qualifikationen anerkannt werden, und somit im Prozess zur wirksamen Einbringung von Expertise führen können, ist dabei keine Frage einer gelungenen oder misslungenen Aussprache. Es ist eine Frage, die die anderen beteiligten Entwickler(innen) letztlich mit ihrer angeschlossenen Entwicklungspraxis beantworten. Hier schließt sich der Kreis aus flexibler Entwicklungspraxis, auftretenden Unstimmigkeiten und resultierenden Aussprachen. Das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdpositionierungen sowie Ablehnungs- und Annahmeprozessen gelang in Zyklus B besser als im ersten Anlauf der Entwicklung. Damit soll nicht gesagt sein, dass die sprachlichen Zuschreibungen richtiger waren oder in der Praxis die besseren Entscheidungen getroffen wurden: Es ist keineswegs das Anliegen meiner Arbeit, diese Rollenzuschreibungen oder gar das entstehende Produkt zu bewerten. Die Frage, wann Entwickler(innen) „Physiker“ oder „Didaktiker“ sind, verstehe ich als eine Frage des Feldes und seiner Akteurinnen und Akteure. Sie geht über die additive Berücksichtigung formaler Hinweise (Studienabschlüsse, thematisch verorteten Abschlussarbeiten, Denominationen u. a.) hinaus, führt zu Gewichtungen und Selektionen. Expertise, die im Entwicklungsprozess herausgestellt wird, auf die sich bezogen wird und mit der gearbeitet wird, ist somit Gegenstand situativer Aushandlung und Zuschreibung der interagierenden Subjekte im Feld. Es geht um die gegenseitig konstruierende Hervorbringung von Expertentum und die verbundenen Entscheidungsrechte, die die Akteurinnen und Akteure einander zugestehen. Anders formuliert: Die nutzbare Bildung einer Person als Entwickler(in) ist Gegenstand von Einigungsprozessen, die gelingen müssen. Die zu erbringende Leistung ist dabei, die Selbst- und Fremdbilder der Subjekte in einen für alle akzeptablen und produktiv entscheidungsgenerierenden Einklang zu bringen. Dieser gegenseitige Konstitutionsprozess wird über die soziale Praxis der Entwicklung realisiert und lässt sich nur unzureichend auf der Ebene rationaler Aussprachen oder über ausformulierte Kompromisse vollziehen. Herrscht Uneinigkeit bezüglich der vertretenen und verteilten Expertise, ist dies eine Gefahr für den Entwicklungsprozess und sein harmonisches Funktionieren.
4 Unterrichtliche Produkte: das Format des Koffers Im Laufe der Entwicklung wurde mehrfach auf „bestimmte Prinzipien“ verwiesen, die für den Experimentierkoffer gelten und hinter denen man als Autor(in) stehen müsse. Insbesondere Herr Schmidt und Herr Hansmann brachten diese Hinweise ein. Vor diesem Hintergrund gilt es nicht nur, die Expertise der jeweiligen als autorisiert konzipierten Kolleg(inn)en zu beachten (siehe Kapitel 3), sondern auch die Vorgaben, Rahmungen und Zwänge des Materials. Die hierauf bezogenen Analysen werden in Kapitel 4 dargestellt.
4.1 Stringenz der Reihe Bei dem in der Entwicklung befindlichen Koffer handelt es sich um ein neues Glied in einer Produktreihe. Mit dieser Serie an Produkten ist – wie mehrfach betonte wurde – das Beachten einer Reihenstringenz verpflichtend. Mit dem Pochen auf die Stringenz der Reihe forderten Herr Hansmann und Herr Schmidt verschiedene Änderungen an den Entwürfen der Autor(inn)en ein, dies letztlich in beiden Projektdurchläufen. In den Augen der Autorinnen aus Zyklus A wurde die Reihenstringenz als etwas Unflexibles angesehen. Für sie war die Reihenstringenz ferner das Erbe von Herr Hansmann und eng verbunden mit seinen klaren „Vorstellungen wie es ablaufen sollte“. Diese Vorgaben wollten oder konnten Frau Schleier und Frau Rabe nicht in allen Dimensionen übernehmen. Die Stimmung ist angespannt. Frau Schleier führt kritisch an, man müsse bei der Entwicklung und Erprobungsauswertung auch zugestehen, „dass es [sehr ironisch im Tonfall] vieLEI:CHT auch noch a:ndere FO:rmen der Herangehensweise gibt, so wie das da gemacht wurde, die NICHT exAKt ähm soo dem entspricht, was man (.) sich mal gedacht hat.“ Während dieser Ausführungen äußert Herr Schmidt einige Male ein diplomatisch klingendes „MhMh“. (Meeting 3A, 1. Dokumentenseite, § 978–980, 01:29:05–01:29:16)
Die Reihenstringenz der Serie und die ihr verpflichteten Herangehensweisen werden als kanalisierendes Dogma kritisiert, das man sich einmal ausgedacht habe und das nun bindend sei. Reihenstringenz wird hierbei als Vehikel für Kritik und Änderungswünsche verstanden, mit denen andere Entwickler(innen) ihre Ideen und Vorstellungen bis ins Detail zu legitimeren versuchen. Dem gegenüber stand das Verständnis von Reihenstringenz als produktidentitätsstiftende Grundlage, mit der Verpflichtungen bzw. Verantwortlichkeiten gegenüber Verlag und Kunden einhergehen. Herr Hansmann fragt mich – vielleicht ernstlich, aber wie mir scheint eher in einem spielerischprüfenden Lehrerstil – was denn nun meine Analyse sei, bezüglich des Scheiterns der Kooperation. Nach einigen Versuchen meinerseits, die Frage zu beantworten (beruflicher Background der Autorinnen, heterogene Erprobungsergebnisse, gespannte Stimmung), die von Herrn Hansmann nicht klar zurückgewiesen werden, aber auch nicht die Erklärung zu sein scheinen, die er
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von mir hören möchte, sagt er erwartungsvoll: „Da gab es aber noch was.“ Ich entgegne, dass es auch Probleme mit der „Reihenstringenz“ gab, viele Sachen wollten die beiden Autorinnen anders machen als es bisher gemacht wurde. Ich erinnere Herrn Hansmann daran, wie er dann stets darauf verwiesen hat, dass die Lehrer ein bestimmtes Produkt mit einer bestimmten Linie gewöhnt seien und dass es da nicht ganz so viel Raum für Abwandlungen gebe. Vielleicht hätten sich die Autorinnen mehr Möglichkeiten zur „Selbstverwirklichung“ gewünscht. Herr Hansmann wiegt etwas den Kopf und sagt, „richtig ist, dass das ein Punkt der Auseinandersetzung war.“ Der Vertrag – so erinnert er weiter – lautete, dass die beiden Frauen ein weiteres Heft schreiben sollten. Vorangegangene Hefte seien schon da „und dann hören wir mit der Reihe sowieso auf. Also die verkauft sich zurzeit wie toll! In Russland zum Beispiel.“ Es seien auch Kontakte nach Brasilien vorhanden, da werde die ganze „Crew“ (Herr Hansmann deutete dabei auf den Messestand) in ein paar Wochen hinfliegen. „Das heißt also, die Sache ist fertig“ sagt er lakonisch, klopft dabei auf den Tisch. „Und trotzdem hätten die was Neues machen können, aber nicht mit dieser [letzten] Box.“ Ich mache ein Zustimmendes „Mhh“. („didacta“ 2013 in Köln, 21.02.2013 am frühen Vormittag)
Es zeichnet sich der Balanceakt zwischen dem Bestehenden und dem Neuen ab: die Fertigung von etwas Fertigem. Die Frage, was die Reihe und die in ihr befindlichen Produkte in verbindender Weise auszeichnet, vermag viel über das didaktische Material und seine Intentionen zu verraten. Einige Aspekte wurden hierzu bereits skizziert: Zunächst ist grundlegend, dass ein Koffer in der Reihe über die zwei Begleithefte verfügt. Koffer und Hefte bilden gemeinsam – so die Entwickler(innen) – ein „Medienbündel“. Bezüglich der Gestaltung der Hefte klangen in dem bisherigen empirischen Material bereits einige „Essentials“ (Wortwahl von Hansmann) als Ideal an: Das Heft mit den Kopiervorlagen müsse z. B. Anleitungen für das Vorgehen und Lösungsverstecke enthalten, die den Schulkindern eine Selbstkontrolle ermöglichen sollen. Die Texte in diesen Heften müssen ferner in „gewohnter Weise formuliert“ werden – für Lehrer(innen) und vor allem für Kinder. Die Texte dürfen z. B. eine gewisse Länge nicht überschreiten. Die Anleitungen zum Vorgehen sollen letztlich eine spezielle und mit jeder Box wiederkehrende Form von Unterricht zum „Laufen“ bringen (siehe Erklärungen von Hansmann im Erstkontakt auf der „didacta“ 2011, Kapitel 3.1). Es soll also eine bestimmte Art von vorgeplantem und vorkonzipiertem Unterricht mit dem Material machbar sein, den die Entwickler(innen) als „Stationsbetrieb“ kennzeichnen.1 Im Sinne der Reihe gilt es, dass alles, was für den Unterricht nötig ist, auch geliefert werden soll. Ein All-in wird angestrebt und mit ihm die Vollständigkeit eines in sich geschlossenen Koffer- bzw. Unterrichtssystems, das als fertiges Produkt ohne Ergänzungen von außen auskommt. Herr Hansmann erklärt weiter die zu beachtenden Rahmenbedingungen: „Also Herr Schmidt hat das vorhin schon mal gesagt, aber das muss hier noch mal festgeklopft werden: Alles, was Frau Dr. Schleier und Company sich nun vorstellen und zusammentragen, muss in diese Plastikbox passen und dann auch noch ein Schaumstoff, sodass jedes Teil einzeln drin liegt – und jetzt
|| 1 Mit diesem „Stationsbetrieb“ befasst sich ausführlich das Kapitel 4.2.
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kommt das Entscheidende: [holt Luft] wir haben in den vier Jahrzehnten uns damit einen Ruf gemacht, dass in dieser Box das GESAMTE Material enthalten ist, dass die Kinder bei diesem Projekt – das etwa 12 Schulstunden umfasst, also, so legen wir es an, ne? – benötigen.“ (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, ab § 295, 01:11:17)
Es wird die sprachlich ungewohnt anmutende Frage beantwortet, wie viele Stunden in einen Koffer passen: Das notwendige Material für 12 vollständige Unterrichtsstunden (ca. 25 Experimente) sollen Lehrer(innen) praktisch dabeihaben – und dies nicht lose geschüttet, sondern durch raumordnenden Kunststoff im Koffer platziert. Das Material zeichnet sich durch eine enorme Übersichtlichkeit und Handlichkeit aus, so das verkaufsförderliche Argument. Ein Koffer, der wie kaum ein anderes Ding für Mobilität steht, soll diesem Symbolwert auch hier gerecht werden. Es geht um nichts weniger als eine unterrichtliche Mobilisierung, die einen schnellen Umzug in verschiedene Klassenräume ermöglicht. Diese Räume sollen so flexibel genutzt werden und entsprechend variabel bleiben: ein stationärer, thematisch-materiell dauerhaft gebundener Labor- bzw. Physikraum, der an Grundschulen ohnehin nicht vorhanden ist, wird so obsolet. In diesem Sinne ist die Mobilisierung und räumliche Flexibilisierung von naturwissenschaftlichem Unterricht eine besondere Art der Kundenadressierung an Grundschulen. Erklärend führt Herr Hansmann einige Merkmale des Unterrichts mit dem Koffer aus: „mit der Box hat nicht nur die Lehrerin das komplette Material am Griff, ne.. die kann also die Box aus dem Lehrerzimmer [macht das Greifen und einarmige Tragen der Box gestisch nach] und in ner andern [Hand] noch die Mappe [auch diese deutet er an] ... und noch ne [xxx] [Hansmann ist nun mimisch mit einigen fingierten Dingen beladen] und so kann die in den Klassenraum gehen und so [deutlich wird, dass das mit zwei Armen bequem zu machen ist] kann sie auch wieder zurück gehen. Gegenbeispiel: die […]-Boxen von […]-Verlag [benennt die Boxen eines direkt konkurrierenden Mitbewerbers mit gleicher Zielgruppe und Ausrichtung], da müssen Sie den Hausmeister kommen lassen mit der Sackkarre, damit der Ihnen das in die Klasse fährt ...“ (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, § 301, ab 01:15:18)
Es liegt auf der Hand, dass diese räumliche Komprimierung und Mobilisierung von Unterricht eine Herausforderung für die Entwickler(innen) ist: Sie haben das arg limitierende Volumen des Kofferraums zu beachten. Ein Kriterium für die Auswahl von Dingen ist demnach bereits ihre räumliche Ausdehnung. Es gilt, das vorhandene, standardisierte und arg begrenzte Volumen des Koffers ökonomisch zu nutzen: Viel stofflicher Inhalt (im curricularen wie haptischen Sinne) auf geringem Raum ist, wie hier proklamiert wurde, ein Markenzeichen und Marktvorteil gegenüber der Konkurrenz. Um sich den Besonderheiten und exemplarischen Charakteristika der Reihe weiter zu nähern, soll in Kapitel 4.2 auch der Vergleich mit anderen Produktreihen der Mitbewerber gesucht werden. Es geht dabei um ein analytisch-kontrastives Verstehen dieser unterrichtlichen Produktionen, die aus der Bildungswirtschaft hervorgehen. Letztlich steht hierbei eine ökonomische Form von Didaktik im Fokus der Analyse.
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4.2 Ökonomie der Didaktik So wie bestimmte technische Geräte nicht ohne Gebrauchsanleitungen den Weg in den Einzelhandel finden, so werden auch die Experimentiermaterialien zum naturwissenschaftlich-technischen Lernen gemeinsam mit speziellen Lehrerhandreichungen und Kopiervorlagen entwickelt. Die Begleitmaterialien aus Papier nehmen sich z. B. der Frage nach dem intendierten Gebrauch der originär haptischen Materialien an und finden sich – in ähnlicher Form – bei vielen Anbietern innerhalb der Bildungswirtschaft. Ich bin am Messestand eines Mitbewerbers, der mit „meinem“ Verlag konkurriert. Auch hier werden Boxen ausgestellt, die ich mir von einem der Mitarbeiter zeigen lasse. Die Boxen sind ebenfalls speziell für die Grundschule entwickelt, mit ihnen sollen Kinder Naturwissenschaft und Technik lernen – so der formulierte Anspruch. Der Mitarbeiter hat Unterlagen aufgeschlagen, die zu den haptischen Materialien gehören und mit ihnen erworben werden. Er erklärt mir das Prinzip: „Da haben wir den Zeitrahmen [für die jeweiligen Versuche] noch mal bestimmt und dann wird noch mal kurz beschrieben, wie das im Unterricht funktionieren könnte … und dann kriegen die Damen – in der Regel sind es Damen … ne paar Herren sind auch dabei – eine Unterrichtsgestaltungsorientierung von der ersten bis zur letzten Minute, sodass sie das tatsächlich anleitungsmäßig so komplett gestalten können, wie das hier jetzt beispielsweise steht …“ Ich bin von dieser Aussage, insbesondere dem letzten Teil, fasziniert und notiere hastig im genauen Wortlaut die Formulierung, während der Verlagsmitarbeiter kurz pausiert und dann noch einmal betont, dass der Unterricht so abgehalten werden kann, ohne dass das Zeitvolumen überschritten wird, das die Lehrkräfte zur Verfügung haben. Nach einer weiteren kurzen Pause resümiert er: „Das heißt, sie [die Lehrerinnen] kriegen ne Anleitung von der ersten bis zur letzten Minute, die beinhaltet dann auch, mit welchen Materialien man arbeitet bzw. man mit den Kindern arbeitet, aus welchen Boxen die geholt werden – die Boxen zeige ich Ihnen jetzt gleich noch – und welche Arbeitsblätter man braucht für die Kinder …“ („didacta“ 2012 in Hannover, 15.02.2012)
Die „Unterrichtsgestaltungsorientierung“ wird von dem Mitarbeiter letztlich als minutiöse Vorgabe und Unterrichtstaktung beschrieben, mit der sich der Unterricht „anleitungsmäßig so komplett gestalten“ lässt. Für den hier beispielhaft angeführten Hersteller gilt ebenso wie für den intensiv beforschten Konkurrenten: Mit dem jeweiligen Produkt (dem „Medienbündel“, also den Experimentiermaterialien, bestehend aus originär haptischen und originär schriftlichen Materialien) soll nichts weniger als ein eigens konzipierter Unterricht geliefert werden. Auffällig ist, dass mit dieser werbenden Beschreibung von dem, was geboten wird, erneut darauf rekurriert wird, dass in Grundschulen „in der Regel […] Damen“ unterrichten. Die Rolle des biologischen Geschlechts der Lehrkraft wurde für die Entwicklung schon einmal thematisiert: Erinnert sei an die Ausführungen von Herrn Schmidt, bei meinem ersten Aufenthalt im Verlagsgebäude (siehe Kapitel 3.2). Auch von Herrn Schmidt wurde herausgestellt, dass es beim Arrangieren und Verkaufen von Materialien für die Grundschule um mehr gehen muss als um das Anbieten eines einzelnen schulischen Artefakts. Dies
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wird weiter deutlich, wenn man erneut die werbenden Katalogabbildungen im Kontrast betrachtet, die Herr Schmidt in der Situation hinzuzog. Für die Sekundarstufe findet sich „nur“ ein Ding, ein für sich stehendes Messgerät als Produkt im Katalog abgebildet. Die „Sache“ steht im Zentrum des Fotos, alles andere wird vom Verlag ausgeklammert. Für Physiklehrer(innen) der Sekundarstufe – bei denen es sich im Gegensatz zu den Grundschullehrer(inne)n oft nicht um „Damen“ handelt – scheint alles jenseits der nüchternen Betrachtung des Messgeräts irrelevant. Das die Funktionsweise materialisierende und zur Anschauung bringende Produkt scheint für den als prototypisch angesehenen Physiklehrer als ein Werkzeug für seinen Unterricht konzipiert zu werden. Ein solches Werkzeug bietet der Katalog zur Bestellung an. Auf den Produktfotos für den Grundschulbereich steht hingegen anderes im Zentrum. Gezeigt wird sozialer Austausch unter Kindern, Interaktion mit Materialien, Teamarbeit, schriftliche Dokumentation, Staunen im klar erkennbaren Klassenraum – letztlich: Unterricht. Der Grundschulkatalog bietet keineswegs nur ein bestimmtes und unterrichtsadditives Werkzeugding zum Kauf an, vielmehr wird suggeriert, dass der funktionierende Unterricht selbst geliefert wird. Hierzu passen die Ausführungen des Mitarbeiters zu dem Konkurrenzprodukt, mit dem sich der Unterricht „anleitungsmäßig so komplett gestalten“ lasse. Diesen Unterricht konzeptionell auszuarbeiten, ihn – kommerziell erfolgreich – materiell abzustimmen, ihn an die Gegebenheiten von Schule sowie die Erfahrungen mit Lehrer(inne)n und Schüler(inne)n anzupassen, ist eine der Entwicklungsleistungen der Bildungswirtschaft. Auf dem Markt der Bildungswirtschaft konkurrieren sehr ähnliche, im Detail jedoch verschiedene Unterrichts- und verknüpfte Materialkonzepte um die Gunst der Kunden. Diese Konzeptreihen sind in Teilen – und notwendigerweise – Ergebnis ökonomischen Kalküls. Mit den folgenden empirischen Materialbeispielen nähere ich mich der Frage, wie sich ökonomische und didaktische Entscheidungen bedingen. Über diese Verknüpfung von Wirtschaftlichkeit und Didaktik geraten verschiedenen Dimensionen bzw. Ebenen der Ökonomie von Unterricht in den analytischen Blick. Ich bin am „heimischen“ Messestand und unterhalte mich mit Herrn Hansmann über die ausstellenden „Mitbewerber“. Wir schauen uns eine Doppelseite in einem Katalog an, den ich bei einem ersten Gang durch die Hallen mitgenommen habe (von einem Konkurrenten). Herr Hansmann gibt mir daraufhin einen „Forschungsauftrag“ zu den dort zu sehenden Experimentierboxen – da Hansmann das korrekte Ergebnis dieser „Forschung“ natürlich schon weiß, ich aber selbst aktiv werden soll, er es mir also nicht einfach sagt, muss ich kurz über die Parallelen zwischen den in den Entwicklermeetings adressierten Schulkindern und meiner Person schmunzeln. Er stellt mir die Frage: „Was kosten die Boxen und was kostet es, wenn zwei Kinder gleichzeitig einen Versuch machen sollen?“ Mit dem zweiten Teil der Frage deutet er einen Knackpunkt an. Auf dem Weg zu dem Stand der Konkurrenz überlege ich, ob sich damit die Kosten verdoppeln könnten bzw. ob mit „gleichzeitig“ nun „zusammen“ oder „parallel“ gemeint ist. Die Frage von Herrn Hansmann hat zumindest die klare Intention, den Finger in eine Wunde zu legen: Er will mich auf einen kritischen Punkt bei der Konkurrenz aufmerksam machen. Ich gehe also erneut zum anderen Stand, betrachte ihn zunächst aus einiger Entfernung. Den Herrn vom letzten Mal, mit dem ich ein längeres Gespräch geführt habe, sehe ich nicht mehr. Ich steuere
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einen anderen Herrn an – Anzug, um die 40 Jahre alt – und sage ihm, dass ich mir gerne einmal die „Grundschulkollektion“ anschauen möchte. Der Verkäufer bittet mich freundlich zu dem entsprechenden Tisch und zeigt mir die einzelnen Boxen. Sie sind deutlich kleiner als die großen Koffer der Konkurrenz. Über dem Tisch hängt ein Plakat, das acht oder neun Kinder mit einem Versuch aus der Box zeigt. Es sieht auf dem Bild so aus, als sei der gleiche Versuch für (fast) jedes Kind eigens aufgebaut. Herr Hansmann hatte genau dieses Bild zuvor im Katalog gesehen und daraufhin seine Frage formuliert. Der Standmitarbeiter erklärt routiniert, dass einzelne (und identische) Boxen bestimmten Kindern zugeordnet werden, die sich dann für diese verantwortlich zeichnen müssen. Ich unterbreche den Herrn und frage, ob ich es richtig sehe, dass ich dann für 25 Kinder einer Klasse ein und dieselbe Box auch entsprechend mehrfach kaufen muss. Er bestätigt das – verweist aber mit Blick auf das Plakat darauf, dass hier nicht so recht visualisiert wird, wie das eigentliche Unterrichtskonzept gedacht ist: Es sollen nämlich immer zwei Kinder den jeweiligen Versuch in einer Kleingruppe zusammen machen. Auf dem Bild sieht es in der Tat so aus, als würden viele Kinder den Versuch alleine machen. Nur im hinteren Bildbereich sieht man Kinder, die gemeinsam auf den aufgebauten Versuch blicken, und ich frage mich, ob es für die Werbefotografie absichtlich so „gestellt“ wurde. Mit Blick auf die Frage von Herrn Hansmann kalkuliere ich: Anzahl der Schüler(innen) einer Klasse (mit 24 lässt sich gut rechnen) dividiert durch 2 und multipliziert mit dem Kaufpreis einer Box ergibt grob 2000 Euro. Dies wirkt in der Tat relativ teuer, verglichen mit den ca. 350 bis 550 Euro, die der von mir begleitete Koffer kosten soll und dessen Inhalt eine ganze Klasse für etwa 12 Schulstunden „bedient“. Der Standmitarbeiter scheint meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet zu haben und berichtet postwendend von potenziellen Sponsoren, die erfahrungsgemäß gerne Schulen bei derlei Anschaffungen unter die Arme greifen. („didacta“ 2012 in Hannover, 2. Besuch beim Mitbewerber, 15.02.2012)
Es ist davon auszugehen, dass die Frage nach den anfallenden Anschaffungskosten für Schulen äußerst relevant ist. Es muss mit begrenzten Finanzmitteln gehaushaltet werden. Die Frage, ob ein bestimmtes Material und der damit verbundene Unterricht seinen Weg in die Klassen findet, ist auch eine monetäre Frage: Im 4. Meeting des zweiten Entwicklungszyklus geht es – im Rahmen der Materialoptimierungen – gerade um eine neue Glaslinse, die auf der Wunsch- respektive Ideenliste steht. Diese soll den Effekt bei einem Versuch verdeutlichen und somit verbessern. Herr Schmidt begrüßt die Idee des Einsetzens dieser Linse prinzipiell, stellt sie aber unter einen Finanzierungsvorbehalt, er müsse das erst prüfen. Herr Hansmann greift in den Gesprächsablauf ein und wendet sich an mich: „Hier muss mit Pfennigen, mit Cents, gerechnet werden.“ Man merkt, dass ihm dieser Punkt sehr wichtig ist und er es für sehr relevant erachtet, dass ich ihn notiere bzw. aufnehme. Herr Schmidt präzisiert, dass die Linse selbst nicht das Problem sei, die Arbeitszeit sei das Problem: Bohren, Einkleben … das würde relativ viel Geld kosten. Herr Hansmann nickt das ab, fährt aber mit seiner Argumentationslinie fort: „So (.) und dann sind wir immer noch auf dem Centoder Ein-Euro-Niveau.“ Herr Schmidt gibt an dieser Stelle eine etwas nachdenklich betonte Zustimmung von sich („mh, jaha“), aus vollem Herzen scheint er dies nicht unterstreichen zu wollen. Herr Hansmann führt weiter aus, dass die Schulen sich die Boxen zum Teil nicht kaufen könnten, weil sie sagen, „die Kosten 400 Euro und drüber, dann muss ich einen Finanzausschuss einsetzen, ich habe fürs ganze Jahr nur 1000 Euro für den Bereich Sachunterricht, also kann ich mir diese Box nicht leisten.“ Das sei „die Klemme für uns“. (Meeting 4B, 1. Dokumentenseite, § 351–369, 00:17:35–00:18:55)
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Legt man die hier dargestellte Finanzlage von Schulen zugrunde, ist es aus ökonomischer Sicht mehr als ratsam, ein Produkt zu entwickeln, das weit weniger als 1000 Euro kostet. Nur so bestünde überhaupt die Chance, dass es sich zumindest die Schulen aus eigener Kraft leisten könnten, die ihr knappes Jahresbudget noch nicht stark strapaziert hätten. Um im finanziellen Rahmen zu bleiben, gilt es, sowohl ein strenges Kostenlimit für einzelne Dinge einzuhalten, als auch die Verwendungsweise des Produkts und damit die didaktische Organisation des Unterrichts im Blick zu behalten. Hiermit gehen verschieden Setzungen einher, wie der Unterricht sein soll bzw. wie der Unterricht mit dem Material zu machen ist: Der Mitarbeiter am Stand des Mitbewerbers mit den kleinen Einzelboxen machte mich beispielsweise explizit darauf aufmerksam, dass sich durch die vorgenommene unterrichtsorganisatorische Setzung, dass immer zwei Kinder zusammen an einer Box arbeiten sollen, die Kosten für die Schulen halbieren. Diese Entscheidung lässt sich selbstredend auch didaktisch begründen, bei meinem ersten Besuch am Stand geschah dies wie folgt: Der Mitarbeiter am Messestand des Mitbewerbers erklärt: „Bei uns arbeiten die [Schüler(innen)] zu zweit“, das sei „im Grunde genommen ideal“, denn bei drei Kindern sei einer „schon wieder unterbeschäftigt“ und „bei vieren macht sicher einer Blödsinn.“ Nach einer kurzen Pause fährt er fort: „Also wenn die zu zweit sind, ist es gut, denn die müssen sich dann auch austauschen, wollen wir ja auch: dass die kommunizieren.“ („didacta“ 2012 in Hannover, 1. Besuch beim Mitbewerber, 15.02.2012)
Die unterrichtsorganisatorische Setzung, dass jeweils drei oder vier Kinder einen Versuch zusammen durchführen sollen, dürfte sich – wieder ökonomisch gesehen – auf das ideale Ausbalancieren der Kaufkosten auswirken: Die per Definition nötige Stückzahl pro Klasse würde sich weiter senken, was für geringere Absatzzahlen sorgen dürfte. Neben der Gruppengröße (und eng mit dieser verknüpft) ist die angenommene Klassengröße als zu definierende Rahmenbedingung ein relevanter Faktor für die wirtschaftliche Kalkulation. Es handelt sich hier um eine weitere Setzung zur Art des geplanten Unterrichts, die für das zielgerichtete und ökonomische Arbeiten der Entwickler(innen) notwendig ist. Hansmann: „Wir gehen davon aus: 30 Kinder sind da, die Arbeiten immer zu zweit und zwölf Stunden lang mindestens und das muss in diese Box passen […].“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite § 295, ab 01:11:01)
Für den von Herrn Hansmann auf der „didacta“ angeregten „Forschungsauftrag“, der auf einen Ökonomievergleich zielte, sind diese Setzungen, mit denen gerechnet wird, sehr relevant: Geht man davon aus, dass Klassen aus 30 Kindern bestehen und jeweils die ganze Klasse mit Versuchen bedient werden muss, ist es sehr ökonomisch, einen großen Koffer zu produzieren. Sind die Lerngruppen (deutlich) kleiner, kann es ökonomischer sein, auf kleinere Kästen zu setzen – wie es der Mitbewerber macht –, die zwar eventuell mehrfach angeschafft werden müssen, als Einzelstücke aber billiger sind als der große Koffer. Weniger ökonomisch sind die kleinen Boxen also dann,
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wenn die angenommene Klasse groß ist bzw. mit ihnen die gesamte Klasse zur gleichen Zeit lernen soll. Hierfür benötigt man einen Klassensatz der kleinen und identischen Boxen. Denn für diesen Fall gilt per Setzung des Herstellers: „Alle Kinder machen zur gleichen Zeit die identischen Versuche.“ Die aktuellen Boxen der von mir beforschten Firma folgen diesem Leitsatz der Konkurrenz nicht. Herr Hansmann: „Es is nur ne Frage der Ökonomie. (1) Diese Boxen haben ein bestimmtes Preislevel und wenn ich mich jetzt frage, (.) ‚wie viele Versuche biete ich an ...?‘ (2) Die Boxen sind deswegen so ökonomisch, weil jedes- jede- zwei Kinder zum selben Zeitpunkt etwas anderes machen als die anderen. Das heißt, ich brauch nichts 15-mal [für eine parallele Mehrfachdurchführung eines Experiments].“ (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite, § 205, ab 00:11:07)
Verschieden organisierte Unterrichtsformen wirken sich auf die jeweils notwendige materielle Bestückung aus, sie erscheinen somit unterschiedlich ökonomisch: Mit der auf Schüler(innen) bezogenen Frage „Wer macht was wann?“, kann eine ökonomische Optimierung vollzogen werden. Etwa durch das (nicht undidaktische) Postulat: „Jede Gruppe macht zur gleichen Zeit einen anderen Versuch.“ Es wird deutlich, wie groß die Nähe und gegenseitige Bedingung von Didaktik und Ökonomie hier ist. Je nach Begründungsrichtung und Argumentationsweise kann entweder geltend gemacht werden, dass eine didaktische Organisationsentscheidung bestimmte Kosten generiert, oder dass eine Produktionsentscheidung eine bestimmte didaktische Organisation des Lernens nach sich zieht. Aus didaktischer Perspektive könnte ein Vorteil bei der gleichschrittigeren Arbeit mit den Einzelboxen der Mitbewerber („alle Schüler(innen) machen zur selben Zeit das Gleiche“) darin gesehen werden, dass versucht werden kann, das Lernen gerichteter zu planen: Die Versuche können mit ihrer Reihenfolge inhaltlich aufeinander aufbauen. Dies erlaubt das unterrichtsorganisatorische (und ökonomische) Prinzip „jede Gruppe macht zur gleichen Zeit einen anderen Versuch“ nicht. Herr Hansmann erläutert Frau Kran grundsätzliche Merkmale des „Stationsbetriebs“ des geplanten Unterrichts. Er merkt an: „Es gibt keine Hie(r)archies(.)ierung [der Stationen] ...“ Frau Kran stimmt mit einem knappen „Genau.“ zu, mit dem sie – im Das-ist-klar-Stil – signalisiert, dass das für sie bekannt und in Ordnung ist. „... und es gibt keine Reihenfolge“, fährt Herr Hansmann fort. Frau Kran entgegnet „Richtig.“, bevor Herr Hansmann weiter auf den Kern seiner Ausführungen zusteuert: „Also, (.) wir dürfen nicht sagen: ‚Liebe Lehrerin, (.) ehe du anfängst, MUSST du das gemacht haben.‘“ Das „das“ ist ein beliebiger Platzhalter für irgendetwas Inhaltliches und Frau Kran entgegnet sehr entschieden „Nein. Nein, nein, das nicht.“ während Herr Peine ein bestätigendes und verstehendes „Mh mh.“ macht. Hansmann spricht weiter: „Und wir dürfen auch nicht sagen: ‚Liebe Kinder, (.) ehe ihr hier anfangt, müsst ihr …‘“ Frau Kran übernimmt den Satz und führt ihn parallel zu Ende: „ ‚... müsst ihr das.‘ Nein, nein! Nein, nein! Das ist vollkommen ... unabhängig voneinander.“ Auch Herr Schmidt stimmt nun in die Konsensbekundungen ein: „Mhmh, das geht nich. Mhm.“ Mit einem „Is okay.“ schließt Herr Hansmann diesen Aspekt letztlich ab: Das wäre dann damit klargestellt. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 833–844, 00:37:40–00:38:04)
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Die Entwickler(innen) haben hier schnell einen Konsens kommuniziert: Die verschiedenen Versuche müssen voneinander unabhängig sein, sie müssen ferner selbstständig sein und ohne ein Herleiten auskommen. Da die autonomen Versuche zeitlich parallel durchgeführt werden sollen, schließt sich hier zwangsläufig die unterrichtsorganisatorische Frage an, wie die einzelnen Kindergruppen dann zu ihren jeweils nächsten Versuchen kommen. Da es keine Reihenfolge geben darf, kann es auch keinen Einstiegsversuch geben, der zum zweiten Versuch überleitet o. Ä. Der eingebrachte Begriff der „Reihenfolge“ lässt einen der Entwickler (Herr Peine) im Folgenden zunächst intuitiv an einen zirkulierenden Stationsbetrieb denken. Herr Peine führt an: „Eine Zeitlang war das ja mal modern, wirklich diese äh Reihenfolge zu haben.“ Frau Kran bestätigt dies: „Ja, das geht nich.“ Herr Peine sagt noch bevor die vier Worte gesprochen sind: „Hat sich nie so richtig durchgesetzt.“ Kran und Hansmann reagieren fast zeitgleich, indem sie beide betonen, dass das nicht funktioniert. Schmidt stimmt zu („Mhmh.“) und Kran begründet: „..weil wa- da müssen ja einige Kinder warten.“ Herr Peine nimmt diesen Kritikpunkt auf und konkretisiert: „Ja, die brauchen dann wieder länger, die kommen nich klar, (1) und dann kommen die [anderen Kinder] schon von hinten …“ Herr Schmidt bestätigt zwischendurch mit einem wissenden „Mhmh … Ja.“ und auch von Herrn Hansmann hört man nun ein abwinkendes „Ja, ja“, gefolgt von weiteren Charakterisierungen dieser nicht gangbaren Unterrichtspraxis: „Und dann fängt die Lehrerin an zu klingeln und aufs Klingeln hin muss man die Stationen (.) muss man die Stationen wechseln. Das is nich gemeint [mit dem Prinzip der Reihe].“ Herr Hansmann resümiert: „Der ganze Charme is hin.“ Schmidt, Kran und Peine stimmen zu. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 846–866, 00:38:04–00:38:24)
Ein zirkulierender Stationsbetrieb wird hier von allen Beteiligten aufgegriffen und ablehnend charakterisiert. Dies, obwohl ein derartiger Lernzirkel durchaus verschiedene Kriterien des ökonomischen Einsatzes von Unterrichtsmaterialien erfüllt: viele autonome Stationen, die im Wechsel besucht werden und zu einem moderaten Preis die gesamte Klasse bedienen. Der Zirkelbetrieb setze aber auf eine utopische zeitliche Kongruenz der einzelnen Versuche, so die Entwickler(innen). Auch wenn Determinationen der benötigten Unterrichtszeit in den bisherigen empirischen Materialbeispielen schon mehrfach eine Rolle spielten, stoßen sie hier scheinbar an die Grenze des Mach- bzw. Planbaren. Die konzeptuelle Lösung des „Stationsbetriebs“ besteht für die Entwickler(innen) letztlich in der Setzung, dass die Kinder aus den Versuchen frei wählen können (müssen): Herr Hansmann formuliert gewichtig betont und an Frau Kran gerichtet: „Das ist ne wesentliche Verständigung zwischen Ihnen und m:ir insofern, als dass ich das Signal aussenden möchte: ähm (1) es geht darum, (.) Stationsbetrieb zu haben und das heißt, dass jedes Kind zu jeder Zeit (.) sich mit seinem Partner das aussuchen kann, was es möchte.“ Zustimmend und wissend entgegnet Frau Kran: „Richtig.“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 831–832, 00:37:21–00:37:49)
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Um den Betrieb der Stationen selbstständig und ohne Stockungen am Laufen zu halten, wird den Kindern das Recht eingeräumt, sich freiwillig, nach eigenen Interessenlagen, die Versuche aus dem Koffer auszusuchen und durchzuführen. Nicht nur die Versuche sind autonom, auch die Schulkinder sind es in der Wahl der Versuche. Diese Entwicklungsentscheidung hat überraschenderweise nicht nur Folgen für die Organisation und den Ablauf des geplanten Unterrichts, sie wirkt sich auch auf das materielle Arrangement sowie auf die Bedingungen, Möglichkeiten und Ziele der Versuchsanordnungen aus: Herr Hansmann führt aus: „Also ich bring nochmal meinen Aspekt der (1) Versuche ein und zwar noch an einem anderen Beispiel (1). Mh, (.) also (.) Lernen an Stationen […] (1) Ähm, hat ja nun mal, so vom Ablauf her (2) das Charakteristikum, ‚die Kinder entscheiden sich für ein Thema, weil sie es machen WOLLEN‘, (.) so. Und dann wolln sie es machen (2) dann müssen se damit auch eine Zeitlang beschäftigt sein und es muss auch was bei rauskommen. Es sollte also kein Versuch dabei sein, der erfordert, dass man (.) zwei Minuten lang irgendwas einrichtet und dann bis zum nächsten Tag warten muss. Oder, wo man sagt, ‚Das funktioniert nicht so gut‘. Also die Sonnenuhr haben wir ja schon ein paarmal gehabt. Die Sonnenuhr is […] richtig lästig.“ Frau Schleier äußert ein schnelles „Mh mh.“ das recht neutral klingt und am ehesten signalisiert, dass sie aufmerksam ist, Hansmann fährt fort: „Weil sie schwer zu erklären ist – sie setzt Fertigkeiten voraus, die nicht unbedingt da sind und so weiter. So, und dann gehen die Kinder damit aufn Hof und dann funktioniert es nicht. So, weil gerade Sonne nicht da oder weil irgend ..., so. Also solche (.) Dinge würd ich auch vermeiden. Ich würde auch vermeiden, ähm, solche Versuche, von denen wir von vornherein wissen, dass sie länger dauern, als die übliche Bearbeitungszeit. Also, sich für eine Station entscheiden (1), den Text dazu lesen und die Materialien holen, das sind so irgendwo zwischen fünf und zehn Minuten; Versuch durchführen: mmh, zehn Minuten dann. Dann was dokumentieren, so. Also, so das is so dieser Zeitraster und da gibt es natürlich auch eine Reihe von (.) ähm Forderungen von Rahmenplänen, wo man gleich sagt ‚Das funktioniert nicht‘.“ Frau Schleier macht erneut ihr „Mh mh.“ (Meeting 1A, 3. Dokumentenseite, ab § 31, 00:05:55)
Mit diesen Ausführungen werden verschiedene Parameter der Versuche deutlich: Die Versuche müssen Kinder ansprechen, Kinder müssen die Versuche machen und erwählen wollen, die Versuche dürfen nicht zu viele Fertigkeiten vorrausetzen, müssen sicher und prompt funktionieren, müssen die Kinder eine Zeitlang (aber auch nicht zu lange) beschäftigen und am Ende muss dabei etwas Interessant-Erklärendes „rauskommen“. Unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen lassen sich die Versuche als – voneinander unabhängige und für sich stehende – Lernclips beschreiben. Mit der für Kapitel 4.2 leitenden Frage nach der Verknüpfung von ökomischen und didaktischen Entscheidungen, ist nun eine neue Ebene erreicht. Ökonomische Überlegungen tangierten bisher die Organisationsformen von Unterricht bzw. die den Unterricht bedingenden Kontexte. Damit wurden didaktische Fragen nach Gruppenarbeiten, gleichschrittigem Vorgehen, aufeinander aufbauenden Themen, Versuchsvielfalt bzw. nach der Anzahl ausgestalteter Unterrichtsstunden usw. aufgeworfen
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und mit ihren ökonomischen Folgen verbunden. Hierbei ging es vielfach um das Limitieren von Kosten und die damit verbundene Vergrößerung des Kundenkreises. Als Kunden adressiert wurden Schulen bzw. dessen Lehrer(innen), die in Fachkonferenzen über Anschaffungen entscheiden. Mit der Analyse der Einzelversuche selbst – verstanden als Lernclips – innerhalb der Unterrichtsorganisation geht eine Verschiebung einher: Es geht nun um marktförmige Unterrichtspraxis. Das Angebot des Koffers wird für das Zusammentreffen mit der (angenommenen) Nachfrage der Unterrichtspraxis konzipiert, in der Schüler(innen) ähnlich wie Kund(innen)en zu den einzelnen Experimenten greifen sollen. Auch wenn sich auf diese Weise z. B. keine Preise bilden, werden die Parallelen zwischen einem Markt und so konzipierter Unterrichtspraxis sichtbar. Der „Stationsbetrieb“ erhält eine prinzipiell wirtschaftliche Konnotation. Die folgenden Materialauszüge verdeutlichen diese Analyse.2
Wettbewerbsaufsicht Herr Hansmann problematisiert einen vorgeschlagenen Versuch hinsichtlich der Passung zum Stationsbetrieb: „Okay (.) die Zeiten [des starren Lernens von Begriffen in den 1960er- und 1970er-Jahren] sind überwunden und ähm es gilt ja auch, (1) ähnlich attraktive Arrangements zu finden, damit die Kinder WIRKlich (.) – das is ja unser Wunsch – aus allen [thematischen] Bereichen mindestens eins [ein Experiment] gemacht haben (.) und dass sie sich nachher nicht das ..., also wenn man das [konzipierte] Experimentieren an Stationen lupenrein betreibt, dann können die Kinder sich ja immer frei auswählen, was sie wollen, (1) und da kann es durchaus sein, dass ein Kind also einen bestimmten Versuch mehrfach macht und andere gar nicht. So. Und ähm da is so ein Begriffs- [Begriffslernen] ... na, das hat sich schnell rumgesprochen.“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, ab § 2320, 02:24:27)
Aus dem Anspruch, dass die Kinder selbstständig und frei die Experimente aus dem Angebot des Koffers auswählen erwächst die Notwendigkeit, dass alle Experimente (die „Arrangements“) ähnlich attraktiv für Kinder sein müssen. Ist ein Experiment – ein Lernclip – deutlich attraktiver als alle anderen, verfügt er über ein Attraktivitätsmonopol, das auf Kosten seiner materiellen Mitbewerber im Koffer geht. Ein Experiment, das z. B. nur und direkt auf das Vermitteln trockener Begriffe zielt, bei dem also nicht mehr „rauskommt“, würde wenig Schulkinder zugreifen lassen. Dies, zumal sich ein solcher Attraktivitätsmangel schnell unter den Kindern im Unterricht (den so verstandenen Kunden am Markt) herumsprechen würde, was für das Experiment dann rufschädigend wäre und dazu führe, dass es nicht bestehen könne. Entweder muss ein solches Experiment in optimierender Weise aufbereitet werden oder es muss gestrichen werden, schafft es also nicht in den Koffer – und damit im doppelten
|| 2 Dabei wird selbstredend nicht darauf abgezielt, die Existenz von Unterschieden zwischen ökonomischen Märkten und Unterricht zu nivellieren. Vielmehr geht es um entdeckte Prallelen und eine analytisch-metaphorische Befremdungsstrategie (siehe Kapitel 2).
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Sinne – nicht auf den Markt. Ein Experiment, das als zu langweilig erscheint, ist damit ebenso problematisch wie ein Highlightexperiment, zu dem sich Warteschlangen bilden und zu dem Streitigkeiten entstehen könnten. Somit treten die Entwickler(innen) als Hüter eines fairen Wettbewerbs auf, die voraussehend über einen später prinzipiell als frei konzipierten Markt wachen. Dass die Kinder bestimmte Experimente auch mehrfach durchführen dürfen, ist eine Art Garantie für die inhärente Funktionalität des konstruierten Marktes: Lehrer(innen) können diese Regulierungslosigkeit explizit erlauben und werden sehen, so das Versprechen, dass ein guter Koffer so ausbalanciert ist, dass die Kinder nicht nur bestimmte Experiment, immer und immer wieder durchführen, während andere auf der Strecke, und damit stets im Koffer bleiben.
Didaktisches Marketing Jenseits der haptischen Materialien spielen die Stationsblätter respektive Kopiervorlagen eine zentrale Rolle für den Unterrichtsbetrieb, und damit für das Adressieren der Schulkinder. Der „Stationsbetrieb“ funktioniert dabei wie folgt: Anhand der außerhalb des Koffers ausliegenden Stationsblätter erfolgt die Wahl eines bestimmten Experiments. Mit dem erwählten Stationsblatt – das unter anderem eine Auflistung aller für das Experiment notwendigen Dinge beinhaltet – gehen die Kinder dann zum zentral im Raum stehenden Koffer, suchen das Material zusammen und gehen zurück zu ihrem Tisch, an dem das Experiment aufgebaut und durchgeführt wird. Die Stationsblätter bilden weniger eine Inhaltsangabe des Koffers als vielmehr Seiten eines Prospekts. Sie haben damit auch eine werbende Diktion: Sie müssen ansprechend etwas in Aussicht stellen und dürfen nicht abschrecken. Herr Hansmann nimmt Stellung zu einem vorgeschlagenen Experiment, in dem es darum gehen soll, ein Spiegelbild zu spiegeln: „Ähm. Noch, noch, noch, noch etwas anderes (3) [Räuspern], Herr Schmidt, mhh, in, in also auch, zur Information (1). Es gibt ja also so, so ein bestimmten Stil dieser Hefte (1), wo die Überschriften so klingen wie hier ...“ Herr Hansmann liest die von Frau Kran vorgeschlagene Stationsüberschrift vor, die es erst noch in ein solches Heft schaffen muss: „Seltsame Vermehrung“ und Frau Kran gibt vorher und nachher ein zustimmendes „Mhm.“ von sich. Bevor Herr Hansmann einen wertenden Bezug zu dieser Überschrift herstellt, schildert er – seine kommenden Ausführungen rahmend – das Verhalten von Kindern im „Stationsbetrieb“ des Unterrichts: „Also die (2) um mal da anzufangen, wie die Kinder vorgehen. Die Kinder gehen ja herum und gucken eigentlich mehr, suchen sich ne Station aus. Die gucken eigentlich, ähm, mehr, wir legen ja nur die Blätter aus.“ Erneut ein „Mhm“ von seiner Gesprächspartnerin, nachdem er fortfährt: „Die Materialien sind ja in der Box. Das ist unser Prinzip, ne? Jo (1) ähm, also die gucken auf den Text (2) und orientieren sich natürlich an den Bildern (1), orientieren sich auch nach dem Eindruck: ‚Hier muss ich viel lesen oder nicht,‘ oder ‚viel schreiben oder nicht‘. Da ham se dann schon (1) so ne gewisse Abwehrhaltung (1). Und sie orientieren sich an den Überschriften.“ Kurze Pause und ein „Mhm“, dann: „So, und diese Überschriften sind nun Gegenstand der didaktischen Auseinandersetzung (1). Wenn Sie [Frau Kran] in Ihren vier Wänden hier akzeptieren, und uns das heute auch als Modell hinlegen, scheinen Sie da keine
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Probleme damit zu haben: ‚Seltsame Vermehrung‘. (2) Ähm (2) Da könnte man ja eine didaktische Diskussion vom, äh, Zaune brechen und könnte sagen, also (3): Das ist auf der einen Seite ja schon verraten, was bei rauskommt so n bisschen ...“ Frau Kran macht ein nachdenklich gedehntes „Mhhh“ und Herr Hansmann fährt fort: „Das ist auf der anderen Seite so ne kleine Anthropomorphisierung schon, und so weiter. Ich entnehme dem, dass Sie solche Überschriften verwenden, dass Sie auch da keine Berührungsängste haben.“ Frau Kran gibt ein sehr bestätigendes „Nein“ von sich und Herr Hansmann schließt weitere Erklärungen an: „Also meine Erfahrung ist, dass, äh, Problem bei den, ähm, beim Lernen an Stationen ist doch, dass Sie als Lehrer irgendwann die Kinder in einen Kreis bringen müssen und über ihre Eindrücke reden lassen. (1) Und wenn die dann eine Überschrift haben, die sie nicht zitieren können, dann haben Sie ganz schlechte Karten. Also wenn Lena und Max, ähm, ähm, hier mit [statt] der ‚seltsame Vermehrung‘, ähm, eine Überschrift haben, ähm [wie], ‚wir legen …‘, oder: ‚was passiert, wenn, wenn man also zwei Spiegel [xxx]‘“ Diese Satzanfänge bzw. Fragen betont Herr Hansmann sehr artifiziell, er bringt sie als komplizierte und daher nicht funktionale Alternativüberschriften zu dem pointierten „seltsame Vermehrung“ rhetorisch in Stellung. Herr Peine nickt und signalisiert daraufhin, dass er genau weiß, was gemeint ist, und worauf Herr Hansmann hinauswill. Hansmann greift die Zustimmung auf: „Dann (1) wissen Sie schon, also: ‚Wir haben das Ding da gemacht mit den beiden Spiegeln‘ sagen die [Kinder] dann. Und dann weiß es keiner [was gemeint ist und gemacht wurde].“ Damit schließt Hansmann das Negativszenario ab, Frau Kran bestätigt mit „Mhm“ und Hansmann bilanziert: „Wenn die [Kinder] sagen: ‚Wir haben die ‚seltsame Vermehrung‘ gemacht‘ (1), ja, dann kriegen zwar manche von den hinten sitzenden Didaktikern mit ihren Studenten ne Gänsehaut (2), aber andererseits wissen die Kinder genau, wovon die Rede ist […].“ Herr Hansmann bilanziert: „Das mit der ‚seltsamen Vermehrung‘, also diese Kurzüberschrift, merken Sie sich [allgemeine Zustimmung]. Also das wäre der Stil.“ Frau Kran stimmt zu: „Ok, schön. Also da können wir gerne mit arbeiten. Das is, das is völlig in Ordnung. (3)“ (Entwicklermeeting 1B, 3. Dokumentenseite, ab § 29, 01:46:27)
Mit den Ausführungen wird ein Konzept von didaktisch korrekten Überschriften ersichtlich, das die Entwickler(innen) haben bzw. das sie den Kritikern ihres Materials zuschreiben. An diesem gemessen würde die beispielhafte Überschrift der „seltsamen Vermehrung“ didaktische Defizite aufweisen. Die didaktische Correctness gerät – aus Sicht der Entwickler(innen) – in Opposition zu ökonomischer Correctness. Diese besagt etwa, dass die verschiedenen Lernclips mit pointierten Slogans versehen und beworben werden müssen. Durch die Überschriften müssen diese Slogans – als eingängige Wahlsprüche – die Kinder bei der Entscheidungsfindung ansprechen. Es muss sich dabei um Eyecatcher handeln, die dem „Gucken“ der Kinder Rechnung tragen, während sie nach dem nächsten Versuch Ausschau halten. Werbewirksame Überschriften dürfen demnach nicht aus langen, zu differenzierten und abschreckenden Erklärungen oder Instruktionen bestehen. Als griffige Verschriftlichungen sollen sie Kindern und ihren Sprachhandlungen entgegenkommen. Durch das Lust machende in Aussicht stellen einer spannenden „Sache“ – die dann auch geliefert werden muss – ist es die Funktion der Slogans, die Lernclip-Experimente an das Kind zu bringen. Neben der Aufgabe, die einzelnen Kinder bei der Wahl der nächsten Station zu umwerben, erfüllen die Slogans in einem weiteren Kontext eine ähnliche Funktion:
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Es ist Teil des Unterrichtskonzepts, dass zum Ende einer jeden Stunde einige Experimente im Sitzkreis für alle Kinder vorgestellt werden – dies von den Mitschüler(inne)n, die die jeweiligen Experimente zuvor in ihrer Zweiergruppe durchführten. Für diese Präsentationen im Kreis hat der Slogan die Aufgabe, von vornherein für ein aufmerksames Publikum zu sorgen und zu ermöglichen, dass dieses das Experiment später über den zugehörigen Slogan identifizieren kann. Dies ist nötig, da die Präsentationen im Sitzkreis weniger eine frontal-belehrendende als eine werbende Funktion haben. Die Lernclips werben durch die aktive Vorführung vor passivem Publikum für das Experiment: Bei den zuschauenden Kindern wird die Lust geweckt, dieses Experiment später auch zu machen, später selbst Hand an die Dinge anzulegen. Somit stehen die werbenden Vorführungen im Dienst des Anspruchs der Entwickler(innen), die Selbsttätigkeit der Kinder zu fördern. Herr Hansmann wertet: „Also die Aufgabe mit dem Weltraum da (1) de- (.) die wird v:iele motivieren. Es spricht sich ja auch herum. Sie dürfen nicht vergessen – Tschuldigung, dass ich da nun also wirklich Eulen nach Athen trage – (2), dieser […] Unterricht ist so strukturiert, dass die Kinder (1) einen TEIL der Zeit in Partnerarbeit verbringen mit den Versuchen, dann aber von der Lehrerin – DAS ist ihre Aufgabe – zusammengeführt werden in einen Kreis und dann werden Versuche vorgemacht. (1) Und (1) […] das Erstaunliche ist, wenn der Herr Lange [dabei deutet er auf mich und macht mich damit zu einem Kind einer typischen Situation] mit seinem Nachbarkind einen Versuch vorgemacht hat, dann sagen wir beide [dabei zeigt er auf sich und Frau Rabe, die der fiktiven Szenerie meiner Versuchspräsentation ebenfalls als kindliche Beobachter beiwohnen] nicht: ‚Wissen wir nu, machen wir nicht mehr.‘, sondern, wenn der weg ist: ‚Das machen wir, wollen wir auch sehen.‘“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, ab § 3179, 03:10:00)
Diese Ausführungen, die Herr Hansmann Erwachsenen oft erklärend unterbreitet, basieren auf seiner Erfahrung mit Kindern im Stationsbetrieb und bauen auf eine starke Diskrepanz zwischen ‚Sehen beim Zuschauen‘ und ‚Sehen beim Machen‘. Eine verdeutlichende Parallelisierung kann m. E. mit der – auch für Erwachsene deutlich nachvollziehbaren – Diskrepanz zwischen „Sehen“ und „Haben“ hergestellt werden: So wie das Sehen eines Werbeclips die Konsumgelüste des „Habens“ zu wecken vermag, weckt das werbende Präsentieren der Lernclips im Kreis die Lust auf das „Machen“ – sofern das Experiment attraktiv aufbereitet und pointiert betitelt ist. Das Prinzip des Slogans ist hierbei nicht nur für die Überschriften relevant. Es wirkt mitunter leitend auf die gesamte Gestaltung der Kopiervorlage: Herr Hansmann verweist auf einen Punkt: „... äh ich […] wills da an der Stelle nochmal sagen: Die Kinder WÄHlen (.) die Blätter natürlich zum Teil wegen der Abbildungen aus. Äh die orientieren sich an den Bildern – machen wir auch so. So. (1) Es müssen also Abbildungen [da] sein, auch hier, wo wir eigentlich sagen [lacht dabei], wir bräuchten [da] keine.“ (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite, ab § 1498, 01:03:53)
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Mit diesem Beispiel wird auf die positive Wirkung von Abbildungen und Zeichnungen für den Erfolg einzelner Experimente auf dem Markt des unterrichtlichen Stationsbetriebs verwiesen. Die Kopiervorlagen fungieren als Makler zwischen den Kindern und den originär haptischen Experimentierdingen. Vor dem Hintergrund, dass die Kinder aufgrund ihres „Guckens“ (nicht primär Lesens) die nächste Station wählen, sind die Abbildungen auf den Blättern als Eyecatcher sehr relevant. Dies sind sie auch dann noch, wenn sie aus einer Instruktions- oder Vermittlungsperspektive eigentlich unnötig wären. Demgegenüber ist das Suggerieren von viel Textarbeit zu vermeiden, es wirke schädlich auf den Markterfolg der Experimente innerhalb der Klasse. Bezüglich der notwendigen Kürzungen werden nun – auf Basis der Erprobungen in Schulen – Vorschläge für Streichungen und Umstrukturierungen gemacht. Einen entsprechenden Vorschlag führte Herr Hansmann zuvor ins Feld, Frau Kran reagiert auf diesen: „Sie tendieren also dafür, diese Seite komplett zu streichen?“ Das klingt leicht irritiert, so, als ob sie diese Einschätzung nicht unbedingt naheliegend findet. Herr Hansmann führt diplomatisch an: „Ich, ich schlage vor, sie zu streichen.“ Frau Kran gibt daraufhin ein knappes „Ja“ von sich, das betont unberührt klingt. Hansmann erklärt: „Es gab folgende Stimmen dazu [aus der Erprobung] also es wurde entdeckt, dass es doppelt ist, und zweitens sei eh die ‚Station zwei‘ zwar funktional und die Lehrer haben sie ja auch begrüßt, aber ehm die Kinder seien zurückgeschreckt vor den drei Seiten und dem vielen Text.“ Versöhnlicher klingend führt Frau Kran an: „Ach so verstehe“ und Herr Schmidt macht ein „Mhm“ während Hansmann bilanziert: „also mein Vorschlag, den auf Seite 18, den gesamten informativen Teil wegfallen zu lassen. Dann rutscht die Versuchsanleitung diese rutscht dann darüber und dann kommt die Information hinten drauf und dann sind wir fertig.“ Schmidt und Kran äußern bestätigend ein „Mhm“. (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite, ab § 313, 00:50:44)
Die als evaluiert angeführten Ansprüche der Kinder treffen sich hier mit den Vorgaben der Verlagsredaktion: Kürzungen des Textvolumens seien gewünscht. Pointierte Slogans bringen den Verlag näher heran an das determinierte Zeichenlimit und auch Lehrer(innen) könnten sich über eine ökonomische Begrenzung des Kopierbedarfs freuen, der ihre Seitenkontingente respektive den Tonerstand schont.
Verkauf von Papier und Dingen Mit dem folgenden Beispiel wird die Ebene der klasseninternen Vermarktung von Papieren und Dingen – also der „Markt“ des Unterrichtsgeschehens – zunächst wieder verlassen. Es folgt eine erneute Fokussierung der monetären Verkaufslogiken für den Markt, den die Entwickler(innen) selbst auch als solchen bezeichnen. Die verbundenen empirischen Materialbeispiele werden dann auf das klasseninterne Marktgeschehen rückbezogen. Dabei werden Wechselwirkungen der beiden Marktebenen aufgezeigt und es wird deutlich, wie konzeptimmanente Entwicklungsideale untereinander in ein Spannungsverhältnis geraten können.
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Herr Hansmann erklärt Frau Rabe eine weitere Bedingung der Entwicklung: „So. (1) Die Box kann ohne dieses Heft [die Kopiervorlagen zu den Experimenten] ÜBERhaupt nicht sein (1) ABER, das Heft muss auch ohne die Box sein, (1) denn […] [namentliche Nennung des Schwesterhauses, das als „Papierverlag“ die Hefte druckt] hat (.) Ziele, die wir nie erreichen werden. (2) […] [der Papierverlag] ähm hat folgende Auflage … Sie sitzen gut und werden nicht hinten rüberfallen, wenn Sie jetzt denken, das schaffen wir nicht – […] [der Papierverlag] WÜNSCHT die Startauflage – das sind dreitausend Stück, zwei- bis dreitausend Stück [der Hefte], je nachdem (2) – im ersten Jahr zu verkaufen. Also 2013 zu verkaufeEN, (.) um im ersten Jahr die Entstehungskosten wieder ein z u s p i e l e n. Und dann jährlich mindestens fü- ... Mindestabsatz fünfhundert Stück, (1) damit (1) das sich wirklich rechnet, ja?“ Frau Rabe macht ein „Mh.“, Hansmann fährt fort: „Völlig unrealistisch i- im Zusammenhang m- in diesem Medienverbund [die Boxen, so ist es zu verstehen, werden sich nicht in solchen Stückzahlen verkaufen], aber das sind nun mal die harten Geschäftsbedingungen und der Herr Lange, der ja nun hier eine wissenschaftliche Arbeit verfasst, wird sich mit dieser Frage irgendwann beschäftigen müssen: ‚Wie ist das eigentlich, (1) wenn man als Staat (.) der Wirtschaft die Entwicklung von Medien [für den Unterricht] überlässt?‘ So. Jedenfalls (1) ähm (1) ist das ... warum ist das unrealistisch? Weil ähm von […] [dem Papierverlag] ähm (.) dabei übersehen wird, dass diese Hefte [mit den Kopiervorlagen] ja nur Spaß machen, wenn man dazu die Box hat. (1) Und äh, es gibt verdammt vvviele Fans, die die Hefte einfach so kaufen. Also ich habs ähm bei auf der ‚didacta‘ schon erlebt, dass da eben Lehrerinnen oder auch Studenten kamen ‚JA, wir haben ja alle ihre Hefte‘. Ähm, aber und natürlich auch bestimmte Einrichtungen kaufen die immer, aber (1) ähm um ehrlich zu sein, ähm (.) also das Heft alleine (1) macht denn doch, wenn mans so realisieren will [ohne die Box], verdammt viel Arbeit, (2) also, wenn man es eins zu eins realisieren will, wenn man selber die Medien [die Dinge des Koffers] beschaffen möchte (2) oder muss. So. Und das heißt also: Es müssen in dem Heft genug Dinge drin sein und also auch im Lehrertext so ein bisschen anklingen. (.) Äh: ‚Das kannste also auch‘ – wie es so schön heißt – ‚mit Alltagsmaterialien machen‘. Diese furchtbaren Alltagsmaterialien.“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, ab § 350, 00:25:02)
Zu dieser Entwicklungsmaxime ein beispielhaft lenkender Eingriff von dem Herausgeber Hansmann, mit dem er wertenden Bezug zu Vorschlägen der Autor(inn)en nimmt: Hansmann lobt die Idee, einen großen und spiegelnden Löffel in die Box aufzunehmen. Weiter führt er aus: „Umgekehrt in dem Heft, was Sie bei […] [dem Papierverlag] dann herausbringen, (1) m- muss derjenige, der das Heft kauft sagen, ‚Naja, vielleicht find ich ja so ein Löffel zu Hause ... [xxx] [den] kann ich mir ja dann polieren, nh kleinen, (4) vielleicht reicht der ja auch‘“ Frau Kran bestätigt und informiert: „Jo. (.) Das geht ja auch. (.)“ Hansmann fährt fort: „Und jeder der es nun kennt weiß, dass die Boxen mehr Charme haben.“ (Meeting 1B, 1. Dokumentseite, § 926, 00:39:31)
Bisher ist deutlich geworden: Viele Versuche des Koffers müssen eine materielle Nähe zu Dingen des Alltags aufweisen. Sie müssen sich also mit Dingen realisieren lassen, die sich durch eine gute Verfügbarkeit auszeichnen. Der „Charme“ der Boxen soll dadurch sichergestellt werden, dass die Dinge in der Box für den jeweiligen Versuch funktional optimiert und unmittelbar einsatzbereit sind. Der beiliegende Spiegellöffel ist z. B. ausreichend groß und muss nicht erst poliert werden. Zudem liege der
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„Charme“ der Boxen darin, dass die mitgelieferten Dinge, die sich prinzipiell durch eigene Haushaltsdinge ersetzen lassen, in der Box qualitativ hochwertiger sein sollen. Vielfach handelt es sich dabei um spezielle Eigenproduktionen des Herstellers. Diese Dinge sind oft multifunktional und erhalten innerhalb verschiedener Versuche und Koffer unterschiedliche Aufgaben und Bedeutungen. Die einfache Verfügbarkeit von Dingen ist demnach in doppelter Hinsicht für die Entwickler(innen) ein relevantes Kriterium: Für die Kund(innen)en der Hefte müssen bestimmte Dinge durch Alltagsmaterialien selbst reproduzierbar sein, für den Verlag müssen viele materielle Funktionsträger der Versuche durch schon im Sortiment vorhandene Dinge abbildbar sein: flexibel einsetzbare Dinge etwa, für die man bereits teure Spritzgussformen hat, und die sich somit gut reproduzieren lassen. Herr Hansmann: „Denn es is ein äh Merkmal all unserer Experimentierboxen, (.) dass zwar auf der einen Seite das Material ähm sich ähnelt, also immer aus dem gleichen Hause kommt, dass aber jede Box ganz spezielle äh Geräte, Materialien enthält, die man anderswo nicht bekommt. Also, das Problem für den, der Boxen produziert und anbietet, ist ja immer, dass nicht jemand kommt und sagt: ‚Eigentlich brauch ich die [neue Box] nich, da brauch ich nur mal in den alten Boxen zu kramen oder dann kann ich es mir ja (1) zusammenstellen.‘ oder so, sondern er muss schon sagen: ‚Na sonst sind da Teile drin ...‘.“ Von Herrn Peine hört man während der Ausführungen ein verstehendes „Mh“. Auch Frau Kran stimmt nun amüsiert-verstehend zu. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, ab § 409, 00:21:29)
Die schnelle Verfügbarkeit von Materialien wird mit diesen Ausführungen als zweischneidig beschrieben: Eine zu große Nähe zu Alltagsgegenständen und eine Überrepräsentation von routiniert verwendeten Dingen bringt ökonomische Probleme mit sich. Wenn sich der neue Koffer bzw. seine Experimente durch einen Griff in die alten – an der Schule schon vorhandenen Koffer – und unter ergänzender Hinzuziehung einiger (modifizierter) Alltagsgegenstände vollständig nachstellen lässt, schwindet der Kaufgrund. Der neue Koffer wird dann nicht mehr gebraucht, nur das neue Heft mit den Kopiervorlagen (Versuchsbeschreibungen, Lösungen u. a.) wird sich auf dem Markt behaupten. Mit den „ganz speziellen“ Geräten bzw. Dingen in jedem neuen Koffer soll demnach ein Kaufgrund sichergestellt werden. Beispiele für diese speziellen – gewollt schlecht verfügbaren Dinge – können zum Beispiel eigens von der Firma gefertigte Periskope oder grundschultaugliche Mikroskope sein: Herr Hansmann kämpft für seine favorisierte und ausgestaltete Station. Um sie zu verteidigen, hebt er die Relevanz des hiermit verbundenen Dings für den Koffer und seinen Verkauf hervor: „So, das wäre für mich eine ganz entscheidende Frage, ehe wir ins Detail gehen. Wenn wir es nicht wollen [das Erklärungsmodell der Lichtstrahlen und das zugehörige Ding in Form eines Periskops], dann is diese drei Seite weg. Das [dann] ist für [die Firma] das Alleinstellungsmerkmal dieser Box weg, denn das is das einzige Objekt in der Box, was sie woanders nicht kriegen.“ (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite, ab § 200, 00:27:01)
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Das ökomische Argument des materiellen Alleinstellungsmerkmals wird hier für die Verteidigung einer didaktisch favorisierten Modellvorstellung (Strahlenmodell von Licht) genutzt, die Herr Hansmann gerne im Koffer hätte bzw. vermitteln möchte.3 Bilanzieren lässt sich: Die hier von den Entwickler(inne)n explizierte Thematik besteht darin, dass ein „Mehr“ an leicht verfügbaren Dingen (die aus dem Alltag oder der routinierten Produktion stammen) zwar einen Zuwachs an Papierverkäufen verspricht, sich jedoch negativ auf die Verkaufszahlen der Koffer selbst auswirken dürfte. Ein Mehr an exotischen Dingen – die neu in die Reihe eingeführt werden und schwerer zu beschaffen oder gar selbst zu machen sind – bedeutet zwar, dass die Boxen für den Unterricht notweniger werden, sich ihre Absatzzahlen aber weniger stark von den Absatzzahlen der Hefte unterscheiden werden. Von den Heften will bzw. muss der Verlag mehrere Tausend verkaufen. Von den Boxen sollen einige hundert im Jahr ihren Weg in die Schulen finden. Es gilt, einen Mittelweg aus Papier- und Boxenverkäufen zu finden, um sich gut am Markt zu halten. Der Mittelweg besteht darin, dass ein Großteil der Versuche mit leicht verfügbaren und bekannten Dingen realisiert wird, einige Versuche aber auf sehr spezielle und neue Dinge bauen, die in anderen Boxen und in Grundschulen generell kaum vorhanden sind, die aber klar auf Kinder zugeschnitten sind. Nun erscheint eben diese kompromisshafte Zusammenstellung vor dem Hintergrund des Anspruchs misslich, eine ausbalancierte Box zu entwickeln, in der alle Versuche für Kinder ähnlich attraktiv sein sollen. Nur wenn keine Attraktivitätsmonopole herrschen, würde der Stationsbetrieb so laufen, dass Kinder nicht immer nur zu den gleichen wenigen Versuchen greifen. Mit diesem Verweis auf die zweite Ebene ökonomischer Überlegungen, auf der der Unterricht selbst (implizit) von den Entwickler(inne)n als marktähnliches Geschehen gedacht wird, lässt sich der Mittelweg zu Papier- und Boxenverkäufen analytisch inquirieren: Die Versuche mit den besonderen, alleinstehenden und neuen Highlightdingen (z. B. Mikroskope) laufen Gefahr, die Versuche in den Schatten zu stellen, die auf altbekannte und profane Alltagsdinge setzen (z. B. Löffel). Hier finden die beiden Ebenen ökonomischer Überlegungen (Unterrichtspraxis und Marktlogik vs. Unterrichtspraxis als Marklogik) zusammen, tangieren und bedingen sich in beschriebener Weise.
Fazit: ökonomische Durchdringung In Kapitel 4.2 wurde aufgezeigte, wie sich ökonomische Mechanismen von Angebot und Nachfrage – die für die Bildungswirtschaft existentiell sind – analytisch an unerwarteter Stelle wiederfinden: in der Modellierung von unterrichtlicher Praxis. Sie finden somit ihren Weg in den vorgeplanten Unterricht selbst und werden für den Lernbetrieb als bedeutend konzipiert. Die Boxen bieten ein Angebot von verschiede-
|| 3 Detailliert wird auf die verbundenen Auseinandersetzungen in Kapitel 5.4 eingegangen.
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nen Versuchen (viele in der Erprobungsfassung, weniger in der finalen Box). Die Kinder können frei wählen, was sie machen möchten, wann sie es machen möchten und sogar wie oft sie einen bestimmten Versuch wiederholen möchten. Die Versuche stehen somit in einer Konkurrenz zueinander, extrem unbeliebte Versuche werden herausselektiert und finden nicht ihren Weg in die Verkaufsfassung. Die Versuche, die in der finalen Box enthalten sind, müssen wiederum – so die implizite Logik, auf der ein entsprechender Unterricht fußt – alle ähnlich attraktiv sein: Beim Werben um die Gunst der Kinder dürfen keine zu starken Ungleichgewichte aufkommen, besteht ein starkes Attraktivitätsmonopol, geht dies auf Kosten der weniger beliebten Experimente, die dann zu Boxenhütern werden. Es erscheint jedoch fraglich, in wie weit ein völliges Gleichgewicht herstellbar ist. Letztlich werden nicht mehr nur Schulen bzw. Lehrer(innen) als Kunden adressiert,4 auch der Unterricht selbst wird nach einer ökonomischen Logik konzipiert, die die Schüler(innen) dabei (implizit) als Kund(inn)en versteht, für die ein didaktisches Marketing betrieben wird. Wenn Unterricht unter den Bedingungen ökonomischen Wirtschaftens in der Industrie entwickelt wird, scheint dies somit nicht nur auf seine Produktionsbedingungen und -orte zu wirken, sondern auch Unterrichtskonzeptionen zu bedingen. Die „Ökonomisierung von Bildung“ ist zum normativen Kampfbegriff geworden, unter dem Kritiker(innen), teils fraglos berechtigte, teils ideologische – dabei meist jedoch negative – Atteste ausstellen. Sucht man die von mir analysierte Ökonomisierung von Unterricht wertend einzuordnen (was nicht das Anliegen meiner Arbeit ist), so könnte demgegenüber auch festgehalten werden, dass sie dazu führt, eine stärkere Orientierung an den (angenommenen) Bedürfnissen, Besonderheiten und Wünschen der Schulkinder herbeizuführen. Werden diese damit doch als Abnehmer der zu entwickelnden und zu erprobenden Experimente gesehen, die für das Funktionieren und den kommerziellen Erfolg der Produkte nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Auch muss ein motivierender Lernclip-Versuch nicht als Infotainment gebrandmarkt werden, und für einen guten Slogan gilt, dass es Zeit braucht, sich kurzzufassen.
4.3 Aufgaben des Materials Was sich teils in den bisherigen Ausführungen spiegelte, soll nun direkt in den Blick genommen werden: das konzeptionelle Bild und Verständnis der Dinge, das, was dem Material an Vorstellungen und spezifischen Rollen bzw. an unterrichtlichen Aufgaben in bestimmter Weise zugedacht wird. Diese Zuschreibungen sind nicht losgelöst von den Bildern des Faches Sachunterricht und den Bildern von Lehrer(inne)n
|| 4 Eine Adressierung, die z. B. mit preislich optimierten Produkten, Angeboten zur Lehrplanabdeckung oder Arbeitserleichterungen vorgenommen wird.
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sowie Schüler(inne)n zu verstehen, sie bedingen sich gegenseitig. Durch diese Bedingung werden die erfahrungsbasierten Vorstellungen von schulischer Praxis für die Entwicklung der Dinge relevant: Die unterrichtlichen Produkte sollen abgestimmt sein auf die konstatierten Besonderheiten der Grundschulpraktiker(innen) und ihrer schulischen Praxis. Dieses determinierende, die Entwicklung bedingende Netz aus (Fremd-)Bildern, Zuschreibungen und Begründungen wird in Kapitel 4.3 analysiert.
Ausgangsproblem: das Fach, sein Curriculum und seine Lehrer(innen) Blickt man in die Rahmenpläne, so müsse man sagen – führt Herr Hansmann das Kundengespräch mit der Lehrerin am Messestand weiter aus – dass 60 Prozent der Themen im Sachunterricht technisch-naturwissenschaftlich seien. „Die werden aber vernachlässigt,“ fällt ihm die Lehrerin bestimmt ins Wort, während er unbeirrt fortfährt: „40 % sind: was mal Heimatkunde war, was Sozialkunde ist und so weiter, 40 %.“ Er habe sich einmal die Mühe gemacht, alle Rahmenpläne der Bundesländer einseitig auszudrucken und dann Stapel zu bilden: „Habe einen Stapel technisch-naturwissenschaftliche Inhalte gemacht und einen Stapel Heimatkunde, …“ die Lehrerin ergänzt die Aufzählungen für den zweiten Stapel mit „Biologie …“, Herr Hansmann macht eine bestätigende Geste und sagt „und so weiter“, die Frau nickt verstehend. Ich bin verwundert und frage mich, ob Biologie nicht die Naturwissenschaft par excellence ist, es scheint aber unter den Beiden große Einigkeit zu herrschen, dass Biologie auf den Stapel mit „heimatkundlichen“ und sozialen Inhalten gehört. Herr Hansmann resümiert noch einmal das 6-zu-4 Verhältnis und meint dann: „So, wenn Sie in die Klassen gehen, dann haben Sie 90 % Biologie, 10 % Sozialkunde oder irgendwie so soziale Themen, bisschen Heimatkunde und um die 3 % dann … das ist die Realität.“ Mit dieser Darstellung der Marginalisierung technisch-naturwissenschaftlicher Inhalte in der Praxis scheint er der Lehrerin aus der Seele zu sprechen, sie entgegnet zustimmend: „Ja aber das fängt ja an der Uni an …“, 80 Kommilitonen hätten in ihrem Semester Sachunterricht studiert und nur sie und eine weitere Studentin hätten Physik vertieft. („didacta“ 2013 in Köln, vormittags am Messestand, 21.02.2013)
Mit diesen – von zwei Grundschulpraktiker(inne)n im Konsens hergestellten – Ausführungen wird ein Ausgangsproblem deutlich gemacht, mit dem der Sachunterricht in der Praxis zu kämpfen habe. Das Bild vom Sachunterricht ist dabei ein additives, das Fach wird als modular-separierte Ansammlung von Einzelfächern der weiterführenden Bildungseinrichtungen collagiert, die untereinander konkurrieren: Wird der (zeitliche) Anteil eines bestimmten Faches angehoben, geht dies auf Kosten der anderen Einzelfächer, die sich unter dem Dach des Sachunterrichts drängen. Ausgehend von diesem Verständnis wird ein Missverhältnis attestiert: Der curriculare, gesetzlich-bindende Anspruch fände sich nicht ausreichend (sondern geradezu negiert) in der schulischen Praxis wieder. Dies würde daran liegen, dass die Lehrer(innen) über kein entsprechendes Interessengebiet respektive Vertiefungsstudium verfügen – so die weiteren Ausführungen. Der Grund für diese Vernachlässigung sei demnach ein mental-motivationales Problem bzw. ein Problem der Qualifikation aufseiten der Lehrer(innen) an Grundschulen. Anders formuliert: Den Lehrer(inne)n fehle
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das modulare Wissen zu den Naturwissenschaften. Das so entworfene Bild von Lehrer(inne)n und Schulpraxis wurde auch immer wieder in die erforschte Entwicklungspraxis eingebracht. Hierzu eine Ausführung aus dem ersten Meeting des ersten Entwicklungszyklus: Herr Hansmann führt einige determinierende Parameter an, die es zu beachten gilt: „[…] gehen wir davon aus, die Lehrerinnen wissen zur Sache NICHTS. So. Zweitens, kam dann noch dazu: Wir ahnen auch, dass die Lehrerinnen Berührungsängste haben was dieses Thema angeht. Denn die Bildungsbiografien von Grundschullehrerinnen sind immer die gleichen: Die müssen das Abitur machen, also haben sie vorher einen Physikunterricht gehabt, in dem in der Regel nichts funktionierte, in dem alles also nur verbal passierte, in dem nur gerechnet wurde. Das heißt also, die kommen mit so einem ganz schlechten Gefühl da raus und können sich mit Erfolg brüsten: ‚Physik und Chemie habe ich nie verstanden.‘.“ (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, § 377, 01:39:40–01:40:27)
Geht man von dem einleitend-postuliertem Problem aus (zu kurz kommender naturwissenschaftlicher Unterricht infolge von Berührungsängsten und mangelnder Qualifikation), scheint eine naheliegende Lösungsmöglichkeit in Fortbildungen für Lehrer(innen) zu liegen. In diesem Sinne ließe sich fordern, Lehrer(innen) technischnaturwissenschaftlich nachzuqualifizieren. Dadurch aber, dass das Ausgangsproblem von den Entwickler(inne)n der Bildungswirtschaft adoptiert wird, wird ein anderer Lösungsansatz verfolgt. Die Bildungswirtschaft macht die Problemstellung zu ihrer Herausforderung und Marktlücke, indem sie für Lehrer(innen) didaktisches Material entwickelt. Mit den folgenden Ausführungen wird aufgezeigt, dass dieser Ansatz letztlich wenig mit der Idee einer Nachqualifikation gemein hat. Herr Hansmann hebt die Wieder- und Nachbestellbarkeit heraus, die es – als besonderes Servicemerkmal der Produktreihe – erlaubt, dass jedes verloren gegangene Einzelteil aus einem Koffer separiert und jederzeit neu erworben werden kann. Durch den Einräumplan und den ordnenden Kunststoff sei zudem leicht ein Überblick zu gewinnen, welche Komponenten fehlen. Hansmann fährt fort: „So ..., und ... um ... da noch eine wichtige Aussage reinzubringen, kann man das also vonseiten der Kritiker unseres Berufsstandes so sehen, dass man sagt ‚Das sind solche FAULEN SÄCKE [imitiertes Schimpfen] diese Lehrer‘ ja?, ‚also die müssen das so komplett haben und wenn dann was fehlt, dann wollen se nur nen Bestellzettel ausfüllen oder im Inter-‘ das können sie auch per Internet bestellen, ne? ‚und dann wird das wieder ergänzt.‘ (3) Wir können aber auch umgekehrt sagen: ‚Wenn ICH will – ich als Mitglied der Gesellschaft –, dass diese Unterrichtsinhalte bearbeitet werden, weil nämlich dieses Volk davon lebt, dass wir eine nennenswerte Industrie haben, ein kreatives Potenzial, Ingenieure und so weiter, wenn ich das will, dann muss ich die Geräte dahaben‘, es sagt ja auch keiner im OP ‚Mensch, da fehlt ja ne Zange ...‘.“ Herr Schmidt lacht zustimmt. Herr Hansmann fährt fort: „Sondern würd ich dann sagen: ‚Wenn ich operieren will, muss das halt da sein, fertig!‘" (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, § 527–529, 01:58:57–02:00:03)
Mit diesem Vergleich zur medizinischen Krankenhauspraxis verorten sich die Entwickler(innen) und ordnen ihr Lehrmaterial als Handwerkszeug ein („Chirurgie“ als Wortkomposition aus den altgriechischen Vokabeln für „Hand“ und „Werk, Arbeit“).
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Zange und Skalpell sind werkzeughafte Instrumente, mit denen der Chirurg gemeinsam die Operation durchführt. Die Parallele zu den klassischen Beispielen Latours scheint schnell gezogen: Nicht der Mensch schneidet das Brot, sondern ein Netzwerk aus Mensch und Brotmesser tut es, nicht der Mensch erschießt sein Gegenüber, sondern der Hybridakteur „Mensch-Schusswaffe“ tut es.5 Auch wenn die Wirkungen der besagten Tätigkeiten anders zu erzielen sind, so werden sie durch die Dinge – mit denen sich der Mensch vernetzt – doch enorm erleichtert (vgl. Latour 2000: 213ff.). Es kann davon ausgegangen werden, dass sich im Design der OP-Zange medizinisches Wissen spiegelt, dass sie sich unterscheidet von einer Zange, die im Baumarkt angeboten wird. Der Chirurg wird jedoch zumindest als medizinischer Mitwisser, wenn nicht gar als der Experte gesehen, der mit einer – materiell auf seine speziellen Anforderungen angepassten – Zange operiert. Diese geht ihm dabei erleichternd zur Hand. Die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft haben sich der Erstellung spezieller Produkte verschrieben, die präzise auf den Unterricht einer als prototypisch konzipierten Grundschullehrerin bezogen werden sollen. Bezogen auf die Selbstkonzeption ihrer Anforderung bzw. ihrer proklamierten Ausgangslage, ihrer Problemstellung und Zielgruppe ist jedoch eine Diskrepanz zum OP-Vergleich auffällig: Während das Absprechen von medizinischem Fachwissen und handwerklichem Können gegenüber einem Chirurg in unserer Gesellschaft schwer denkbar erscheint (und auch mit dem Vergleich von den Entwickler(inne)n nicht vollzogen wird), wird „der“ Sachunterrichtslehrerin das Wissen „zur Sache“ nicht zugeordnet.6 Demgegenüber werden andere Kompetenzen, Qualifikationen und Expertisen der Lehrer(innen) als Anknüpfungspunkte der Entwicklungsarbeit durchaus stark gemacht:
|| 5 Latour konzipiert die Dinge, die uns umgeben, als mit uns verknüpfte (Netzwerk-)Akteure, mit denen wir die – unsere Handlungen betreffende – Verantwortung teilen. Gehen zwei Agenten eine Verbindung ein, so kommt es in einem Übersetzungsprozess zu einem zusammengesetzten Agenten mit neuen Zielen. Unter Bezugnahme auf eine Kontroverse zwischen US-amerikanischer Schusswaffenlobby und Verfechtern eines restriktiveren Waffenrechts nimmt Latour verdeutlichend Bezug auf die Frage, ob es die Menschen oder die Waffen sind, die töten und resümiert: „Weder Menschen noch Waffen töten.“ (Latour 2000: 219). Neuer Akteur und (möglicher) Mörder ist die „Bürger-Waffe“ bzw. der „Waffen-Bürger“ – ein „Hybrid-Akteur“, dessen beiden Komponenten aufeinander wirken und so verschiedene neue Ziele (z. B. Mord) hervorbringen. Grundlegend ist letztlich, dass Handlungen und Ziele auch Objekten zugesprochen werden (vgl. Latour 2000: 218f.). „Handeln ist nicht das Vermögen von Menschen, sondern das Vermögen einer Verbindung von Aktanten […].“ (Latour 2000: 221) 6 Dass den Lehrer(inne)n das Wissen „zur Sache“ seitens der Entwickler(innen) nicht zugesprochen wird, ist als eine nüchterne Setzung für ihre Arbeit zu verstehen. Es wird nicht als emotional-moralisierender Vorwurf formuliert, auf die Belastungen, die der Alltag von Lehrer(inne)n mit sich brächte, wurde von den Entwickler(inne)n mit Verständnis und Empathie eingegangen. Meinerseits kann und möchte ich die Zuschreibungen von (fehlendem) Sachwissen nicht mit Kategorien wie „zutreffend“ oder „unzutreffend“ bewerten.
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Herr Hansmann führt aus, was von Lehrer(inne)n erwartet und nicht erwartet werden kann: „Jetzt kommt eine hohe Anforderung, wir müssen uns da auf irgendwas einigen, Frau Schleier, und ihre Beobachtungen, was die Grundschullehrerschaft angeht, sind alle zutreffend, teile ich nach zwölf Jahren Seminarleiterdasein auch [dies zielt im Kern auf die thematisieren defizitären Fachkenntnisse]. Ähm, aber irgendwas müssen wir nun vorrausetzen, also: Wir gehen davon aus, dass die Lehrerin Grundschulunterricht organisieren kann. Das heißt also, sie ist in der Lage, so einen Stationsbetrieb geordnet durchzuführen, das ist das Mindeste. Wir gehen auch davon aus, dass sie mit Kindern reden kann, den Kindern das Wort geben kann, wenn die also um den Begriff ringen. Wir gehen davon aus, dass sie Kinder im Rahmen der Stationsarbeit zusammenführen kann – in Gesprächskreisen und in Workshops –, und da die einzelnen Erkenntnisse verflechten kann. Wir gehen auch davon aus, dass sie Schwerpunkte setzen kann …, wovon wir nicht ausgehen […], dass sie von der Sache auch nur eine blasse Ahnung haben. so.“ (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, § 355, ab 01:36:00)
Während der Chirurg als jemand angesehen wird, der sein medizinisches Fachwissen sowie seine handwerklichen Fähigkeiten qualifiziert einbringt und für letztere nur materielle Helfer braucht, verfügen die als prototypisch konzipierten Lehrer(innen) nur über das notwendige handwerkliche Können für den Unterricht (mit Kindern reden, moderieren, das Geschehen ordnen usw.). Die Analogie zwischen dem Handwerkszeug aus dem Operationssaal und den Materialien für den Sachunterricht scheint weit hinter dem Anspruch der Entwickler(innen) zurückzubleiben, der auf Grundlage ihrer Prämissen zu Lehrer(inne)n und Unterricht resultiert. Es geht letztlich eben nicht darum, nur Handwerkszeug für den Unterricht zu liefern (also Dinge, mit denen den Lehrer(inne)n ihr Unterricht leichter von der Hand geht). Vielmehr laufen die Ausführungen und Interventionen von Herr Hansmann erneut auf das Ideal eines arbeitsteiligen Vorgehens hinaus.7 Das Material übernimmt die Unterrichtsarbeit „zur Sache“, es soll zuständig sein für die fachlich-naturwissenschaftliche Seite des Unterrichts. Die Lehrer(innen) sind hingegen zuständig für das soziale Managen der Klassen, für das handwerkliche Koordinieren der Kinder im Unterricht. Vor diesem Hintergrund kann auch die Aussage von Herr Hansmannn auf der „didacta“ 2011 verstanden werden: Die Boxen ermöglichten Lehrer(inne)n „wieder Pädagogen zu sein“ (siehe Kapitel 3.1). Hierzu anbei erneut ein werbendes Gespräch von der Bildungsmesse, in dem Herr Hansmann die Funktionsweise des Koffers erklärt: „Was ist nun ihre Rolle als Lehrerin?“ fragt sich Herr Hansmann rhetorisch selbst und reicht die Antwort nach: „Während die 25 bis 28 Kinder da zu zweit experimentieren, werden Sie denen beim Lesen helfen und jenem vielleicht, der das mit der Schraube nicht hinkriegt … und so wei-
|| 7 „Arbeitsteilung“ und die zugehörige Trennung von Expertisen war schon einmal Gegenstand der Analyse: Selbstrekonstruktiv kennzeichnete Herr Hansmann die ideale Entwicklungspraxis einer Box als arbeitsteiligen Prozess. Wenn Grundschulpraktiker(innen), Naturwissenschaftler(innen) und Produzent(inn)en kooperieren und dabei ihr jeweiliges Wissen in das entstehende Produkt einfließen lassen, so würde dies zu einem erfolgreichen Ergebnis führen (siehe Kapitel 3.2).
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ter.“ Während man so zwischen den Stationen pendelt, könnte man sich eine Gruppe aussuchen, der man sagt, dass sie ihren tollen Versuch – am Ende der Stunde – doch mal der ganzen Klasse vorstellen können. Dann könne man mit allen darüber sprechen „Und ich habe die Kontrolle, was alles Mal dran gewesen ist.“ („didacta“ 2013 in Köln, vormittags am Messestand, 21.02.2013)
Andersherum gefragt (Was ist die Rolle des Materials?), lässt sich antworten, dass das Material den Lehrer(inne)n bestimmte Aufgaben, Kompetenzbereiche bzw. Anstrengungen abnehmen soll. Bei dieser arbeitsteiligen Umorganisation von Unterricht geht es um ein Outsourcen von Teil- und Handlungskompetenzen in das Material. Die Boxen sollen die Lehrer(innen) von der Notwendigkeit umfangreicher fachlich-naturwissenschaftlicher Weiterbildungen entlasten. Herr Hansmann meint weiter zu der Kundin am Messestand, dass man als Lehrer(in) auch nicht dauernd zu Kursen und Fortbildungen rennen könne. Außenstehende könnten sich nicht vorstellen, inwieweit „auch“ der Grundschullehrerberuf zeitlich und kräftemäßig seinen Tribut fordere. Lehrer(innen) hätten ja auch ein Privatleben, daher setze er nicht auf Lehrerfortbildungen. Nach der Referendarzeit müsse es eben auch so laufen. Er klopft auf die Box und sagt: „Ich setze darauf, dass die Lehrer damit den Unterricht sofort beginnen können.“ („didacta“ 2013 in Köln, vormittags am Messestand, 21.02.2013)
Der Unterricht soll (im wörtlichen Sinn) „out of the box“ laufen, diese – in der EDV gebräuchliche – Redewendung lässt sich mit „von der Stange“ ins Deutsche übersetzen, büßt dabei aber einen großen Teil ihrer positiven und wertschätzenden Konnotation ein. Mit ihr wird gewürdigt, dass etwas serienfertig und ohne eigene Anpassungen des „users“ funktioniert. Ein Out-of-the-Box-Feature steht für eine gelungene Entwicklungsarbeit. Der Nutzer muss nicht mehr selbst über das (IT-)Wissen verfügen, um ein gewünschtes Feature oder eine Funktion zum Laufen zu bringen. Es läuft von selbst und ist ohne sein Zutun vorkonfiguriert. Herr Hansmann schildert den geplanten Stationsbetrieb mit dem Medienbündel: „Das heißt, man bespricht mit den Kindern den Ablauf und dann ist es so wie ein Waschbecken aus dem man den Stöpsel zieht: Das [der Unterricht im Stationsbetrieb] läuft von alleine.“ (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, § 331, 01:29:50)
Die umgangssprachliche Bedeutung von „out of the box“, bringt zudem eine materielle Dimension ein. Diese ist trefflich auf die Unterrichtsboxen zu beziehen: Etwas sei als „out of the box“ zu bezeichnen, wenn es „betriebsfertig“ ist, „ohne dass noch zusätzliche Komponenten ein- oder angebaut werden müssen“ (Bibliographisches Institut). Die benötigten materialen Komponenten, die im Koffer komplettiert vorhanden sind bzw. bequem nachbestellt werden können, sollen letztlich in zentraler und bestimmter Weise am Unterricht partizipieren. Sie sollen ihn über weite Strecken am Laufen halten. Mit diesem Anspruch werden hohe Anforderungen an die Materialien gestellt. Auch wenn die Lehrer(innen) (als Pädagog(inn)en und Manager(innen) des
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Sozialen) sowie die Schüler(innen) (als aktive Experimentator(inn)en) für die Hervorbringung des Unterrichts noch nötig sind (der Unterricht selbst also nicht „in the box“ laufen kann), wird die Aufgabe des Materials für den Unterricht als sehr aktiv konzipiert: Letztlich sollen die Materialien qualifizierte Arbeit im Unterricht übernehmen, die klassischerweise Lehrer(inne)n zugedacht werden könnten. Die Entwickler(innen) führen hingegen den Anspruch an, dass die Materialien in gewisser Weise selbst zu Lehrer(inne)n werden: Herr Hansmann bilanziert die Herausforderung: „Man kann sagen, (.) beim Experimentieren an Stationen (.) versteckt sich der Lehrer in den Materialien.“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, § 3193, 03:11:53)
Den Lehrer(inne)n werden mit dem Medienverbund gleichsam materielle Kolleg(inn)en zur Seite gestellt, sachliche Lehrer(innen), die die naturwissenschaftliche Seite des Sachunterrichts übernehmen sollen, während die menschlichen Lehrer(innen) für eine geordnete und pädagogisch-moderierte Interaktion zuständig sind. Die menschlichen Lehrer(innen) sollen das Material eben nicht als Werkzeug für ihren Unterricht nutzen, sondern bilden für den vorgeplanten Unterricht des Materials die sozial-organisatorische Grundlage. Es soll zu einem arbeitsteiligen Teamteaching zwischen den sachlichen und menschlichen Lehrer(inne)n kommen. Wie wird nun versucht, Lehrer(innen) in Materialien zu „verstecken“, um darüber das Sachwissen der Naturwissenschaftler(innen), die Ideen der Entwicklung und die intendierte Nutzung in die räumlich und zeitlich entfernte Unterrichtssituation zu vermitteln? Zunächst ist hierzu auf den Ansatz des „Medienbündels“ zu verweisen: Dieses wird aus Papiermaterial gebildet, das sich mit Text und Abbildungen auf die haptischen Dinge und die damit intendierten Versuche bezieht. Zum einen gibt es Anleitungen für Kinder, zum anderen Anleitungen für die Lehrer(innen). Die Entwickler(innen) messen diesen instruktiven und informativen Heften eine große Bedeutung bei. „Die Kinder müssen auch ohne, dass die Lehrerin (.) an diesem Tag (.) für sie Zeit hat (1) den Versuch, den sie gemacht haben, richtig einordnen können. So. Und das geht nun mal [lacht] bei dem Medium, für das wir uns entschieden haben, nur über Text. (1)“ bilanziert Hansmann. (Meeting 3A, 1. Dokumentenseite, § 202, 00:20:05)
Die schriftlichen Materialien sind fraglos ein vermittelnder Link zwischen den haptischen Dingen, den Lehrer(inne)n und den Schüler(inne)n im Unterricht. Sie sollen dazu beitragen, dass das Material seinen angedachten Aufgaben und Rollen entspricht. Texte sind aber nur eine Möglichkeit von mehreren, wenn es seitens der Entwickler(innen) gilt, sich im Material zu verstecken.
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Die Sprache des Materials. Bedeutungsgenese durch didaktische Dingcollagen Neben der schriftlichen Sprache sind nahezu alle Stationsblätter (die Kopiervorlagen für die Kinder) mit Zeichnungen versehen, die die Dinge, ihren intendierten Gebrauch, ihre Anwendungskontexte bzw. den Versuch abbilden. Diese Zeichnungen haben neben ihrer Funktion als werbender Makler (Kinder würden weniger oft zu textlastigen und bildlosen Stationsblättern greifen – siehe Kapitel 4.2) eine erklärende Aufgabe. Sie scheinen vielfach (wenn auch nicht bei jedem Versuch) für einen funktionierenden Stationsbetrieb als unabdingbar zu gelten und geben „anschauliche“ Instruktionen, wie das Material – das die Kinder als Ansammlung von Einzelteilen aus dem Koffer an ihren Tisch tragen – zu arrangieren ist, damit ein bestimmtes Phänomen erzeugt wird und Wissen „zur Sache“ abgeleitet werden kann. Zeichnungen bilden damit ab, wie die Einzelteile „sinnvoll“ ineinandergreifen müssen, um ein neues Ganzes herzustellen. Bezogen auf dieses arrangierte neue Ganze möchte ich von Collagen sprechen. Durch diese jeweiligen didaktischen Dingcollagen – die sich auf dem Papier abgebildet finden und die in der konkreten Unterrichtssituation materiell zu (re)konstruieren sind – sollen die einzelnen und verbauten Dinge eine spezifische Bedeutung gewinnen. Sehr alltägliche, allgemeine, profane, scheinbar undidaktische bzw. unwissenschaftliche Haushalts- und Bürodinge können durch ihre Kombination und die vorgeplante Weise ihres Arrangierens eine sehr spezielle und didaktische Bedeutung erhalten: Plötzlich demonstrieren die Teile – nicht länger zusammenhanglos – gemeinsam Naturphänomene und Arbeitsweisen. Durch ein determiniertes Zusammenwirken der Einzelteile sollen diese Bedeutungen situativ reproduzierbar und abrufbar werden. Einfache Bürogegenstände (Büroklammer, Lineal, Tesafilm) werden z. B. mit einem Magneten und einer speziellen Halterungsvorrichtung in Verbindung gebracht: Der rechteckige Magnet wird auf das Lineal gelegt und an dem mit Tesafilm auf dem Tisch fixierten Halterungsarm wird die Büroklammer eingehängt. Hält man nun – wie mit der Zeichnung suggeriert wird – die Paarung aus Lineal und Magnet in die Nähe der Büroklammer, so erhebt sich diese aus ihrer senkrechten Haltung. Ihr Winkel ändert sich mit der Position des Magneten auf dem Lineal, also mit dem Variieren der Distanz. Zum Vorschein tritt ein kanalisiertes Naturphänomen, die Kraft des Magneten bzw. das begrenzte magnetische Feld sowie die naturwissenschaftliche Arbeitsweise des Messens. Dabei greifen die Dinge harmonisch abgestimmt ineinander: Ohne die Skalierung an der Linealschneide zu verdecken, schließt der Magnet bündig mit der nummerierten und glatten Fläche des Lineals, macht sie zur Auflagefläche und offeriert – im Zusammenspiel – geradezu sein Verschieben sowie ein Ablesen der numerischen Werte, die durch das Verschieben zum Vorschein kommen. Die Dinge stützen sich gegenseitig: Sie ruhen in ihrer physikalischen Statik aufeinander, halten sich zusammen und bilden dabei gemeinsam eine bedeutsame Einheit. Jedes Ding zieht seine Bedeutung aus einem anderen Ding der Collage. In einer ökonomischen Collage ist kein Ding überflüssig oder funktionslos. Mit der sorgfältigen Abstimmung der Alltagsdinge aufeinander wird versucht, eine praxissichere Aufbau-, Gebrauchs- und Funktionsweise zu garantieren. Neben
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den textlichen Skriptionen birgt das aufeinander abgestimmte Material somit selbst bestimmte Hinweise und Anweisungen, wie es zu arrangieren ist (durch die nicht zufällige Passung der Körper zueinander, also durch Maße, Formen, tragfähige Gewichte, die Beschaffenheit von Oberflächen usw.). Beim Zusammenstellen der Einzelteile ist darauf zu achten, dass das spätere Arrangieren leicht von der Hand geht. So wie die schriftlichen Sätze der Kopiervorlagen unmissverständlich, in gewohnter Weise, mit sehr bedachter Wortwahl, so knapp wie möglich und in kindgerechter Sprache verfasst werden sollen (siehe Kapitel 3.2 und 4.2), so ist auch beim Zusammenstellen der einzelnen Dinge eine Klarheit des Arrangierens zu beachten. Auch wenn dieser Aspekt weniger von den Entwickler(inne)n versprachlicht und betont wird, kann er als ein „Den-Lehrer-im-Material-Verstecken“ interpretiert werden, mit dem ein bestimmter und materiell-passender Gebrauch angewiesen wird. Das Risiko einer von der Nutzungsintention abweichenden Zusammenfügung der Dinge im Klassenraum soll somit minimiert werden, auch ohne dass die Lehrer(innen) Zeit haben, gleichzeitig an jeder Station nach dem Rechten zu schauen. Es wäre auch denkbar, die oben zu beschriebene Collage (bzw. ihre Bedeutung und Nutzungsintension) in einem Stück anzubieten. Ein solch einzelnes „Magnetismus-Messgerät zu Demonstrationszwecken“ erscheint enorm praxissicherer, da es im Unterricht nicht zusammengestellt, sondern nur aufgestellt werden müsste. Man könnte vermuten, dass Schulkinder kaum etwas „falsch“ zusammenfügen und arrangieren könnten, da es kaum Interpretationsspielraum bezüglich der Nutzung gibt. Das die Collage ersetzende Einzelding könnte zudem – und im Gegensatz zu den alltäglichen Einzelteilen der Collage – ein größeres Maß an Professionalität und „Charme“ (siehe Kapitel 4.2) suggerieren: Anstelle eines Streifens Tesafilm könnte ein Saugnapf zum Fixieren genutzt werden, der Magnet könnte auf einer Messschiene montiert werden, deren Unterbau zudem fest auf dem Sockel fußt und somit eine freihändig-schwebende Messung obsolet macht, dies würde die Messergebnisse vergleichbarer und reproduzierbarer erscheinen lassen. Anstelle einer Büroklammer könnte ein metallischer Körper in Pfeilform zum Einsatz kommen, der per Scharniergelenk am Arm der Vorrichtung befestigt ist. Ein in dieser Weise produziertes Spezialding wäre jedoch wenig ökonomisch. Es wäre immens teuer in der Fertigung, würde viel Kofferraum in unflexibler Weise belegen und würde die Entwickler(innen) dauerhaft an exakt diesen Versuch binden. Auch daher setzt man auf die modularen Collagen, wenngleich sich ganz ohne eigene Spezialfertigungen der Koffer nicht konzipieren lässt. Zum einen braucht es sie, um „handfeste“ Kaufgründe zu schaffen (eine nur aus Alltagsdingen bestehende Collage lässt sich zu leicht von Lehrer(inne)n selbst zusammenstellen und nachstellen – siehe Kapitel 4.2). Zum anderen gibt es für bestimmte Aufgaben innerhalb einer materiellen Bedeutungscollage kaum geeignete Alltagsgegenstände. Ein einfacher Bürogegenstand, der qualifiziert wäre, das beschriebene Sockel-Arm-Aufhängungsgerät als Kern der Collage zu ersetzen, ist schlicht schwer denkbar. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen stoßen wir auf
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ein Spannungsverhältnis zweier Optionspole, innerhalb dessen sich die Entwickler(innen) positionieren müssen. Mit abnehmender Zahl komplex-fertiger Spezialdinge im Koffer steigt die Dominanz alltäglicher Moduleinzelteile zur Collagenbildung. Bis zu einem gewissen Punkt ist dies ökonomisch. Die Entwickler(innen) müssen sich dann jedoch bemühen, das „richtige“ und vorgeplante Arrangieren dieser Einzelteile praxissicher in den Unterricht zu vermitteln.
Analytische Abstraktion: Bausatz, Satzbau und Materialsätze Auf der einen Seite muss das didaktische Material flexibel und ökonomisch anwendbar gehalten werden, auf der anderen Seite soll eine bestimmte Bedeutung in praxissicherer Weise determiniert werden und aus den Dingen wieder hervortreten. Bezogen auf die von den Entwickler(inne)n explizierte und selbstrekonstruktiv-postulierte Dominanz der textlichen Skriptionen – also die Relevanz der schriftlichen Sprache auf den Kopiervorlagen und ihrer klaren Formulierung mit sorgfältiger Wortwahl –, kann eine analytische Analogie ausgemacht werden, die auf der Sprachphilosophie Wittgensteins fußt, und mit der von mir ein analytisch-befremdendes Umverstehen angestrebt wird. Wittgenstein fragt nach Bedeutung bzw. nach Bedeutungsgenese und setzt bei der Sprache an, bei Wörtern und Sätzen. Versteht man ein materielles Einzelteil (z. B. eine Büroklammer) analog zu einem Wort, so wäre die didaktische Dingcollage ein Satz, mit dem etwas Bestimmtes ausgedrückt werden soll. In diesem Sinne spreche ich von Materialsätzen. Mit dem Koffer soll eine Ansammlung von materiellen Merksätzen geliefert werden. Das collagierende Handeln der Entwickler(innen) kann als ein Schreiben interpretiert werden, bei dem es gilt, den jeweiligen Bausatz (die Menge der losen Einzelteile) nach einem klaren materiellen Satzbau zu arrangieren. Das beschriebene, harmonisch-passgenaue Ineinandergreifen der Einzelteile (der Wörter) in der Collage, kann vor dem Hintergrund einer so verstandenen Satzbaumetapher als eine Grammatik der Dinge beschrieben werden: Nicht jedes Ding lässt sich sinnvoll und „passend“ hinter jedes andere Ding setzen, ihre Platzierung ist aufeinander bezogen. Manchmal muss ein Ding dekliniert werden, indem seine Form anpassend verändert wird. Die entstandenen Materialsätze der Entwickler(innen) finden ihre mediale Fixierung in zeichnerischen Bildern und Abbildungen der Collagen auf den Kopiervorlagen. Die Bildlichkeit von Sprache ist ferner ein zentrales Grundmotiv, das sich durch Wittgensteins Gesamtwerk zieht: von (1) der Sprache als exaktes Abbild der Welt hin zur (2) Unmöglichkeit des Abbildens der Welt durch die Tätigkeit des Sprechens bzw. dem Bild des Sprachspiels. Dieses wittgensteinsche Spektrum (Früh- vs. Spätwerk) bietet auf einer analytischen Ebene unterschiedliche
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Anknüpfungspunkte, mit denen das dingliche Schreiben innerhalb der Bildungswirtschaft verstanden werden kann.8 (1) Mit den Materialsätzen als vorgeplante Collagen, die durch die Zeichnungen dargestellt werden, soll etwas zur demonstrativen und möglichst exakten Abbildung gebracht werden: etwas aus der harten Welt der Naturwissenschaften (das Lehrer(innen) nicht allein zeigen und für Kinder einordnen könnten), ein ausgewählter Sachverhalt, dem eine sachunterrichtliche Relevanz zugesprochen wird, ein Phänomen als Ausschnitt von Welt und Wirklichkeit. Bezogen auf den Koffer und seine Experimente soll dieses Abbilden naturwissenschaftlicher Sachverhalte seine Realisierung über das bildlich angeleitete Zusammensetzen von Dingen finden. Wittgensteins Frühwerk zeichnet sich durch ein hierfür verlockend-passendes terminologisches Instrumentarium aus: So versteht Wittgenstein im „Tractatus logico-philosophicus“ ein „Ding“ als etwas Einfaches, Atomares, das nicht zusammengesetzt ist. Erst durch die Zusammensetzung und Verbindung von Dingen würden „Sachverhalte“ entstehen, die – wenn sie beständig sind – zu „Tatsachen“ werden und in ihrer Gesamtheit die „Welt“ bilden. Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten fasst der frühe Wittgenstein letztlich als „Wirklichkeit“, die wiederum durch den Satz seine Abbildung finden soll. So wie ein Satz eine Verbindung von Worten sei, sei ein Sachverhalt eine Verbindung von Dingen. Die Bedeutung eines Wortes sei letztlich sein Gegenstand. Auch wenn relativierend geltend gemacht wird, dass die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten (vgl. Wittgenstein 1971: 89)9, so können sich diese Überle-
|| 8 Auch Werner Rammert (2009) verwendet den Begriff der Grammatik im Kontext der Entwicklung von (materieller) Technik. Mit umformulierendem Bezug auf John L. Austin titelt Rammert: „How to do Words with things“. Es geht ihm um die Fokussierung von eigenständig-technischem Wissen und um das verbundene Machen von Technik das unter pragmatistischer Perspektive betrachtet wird. Dabei kommt es zu einer Parallelisierung zwischen Stufen der Entwicklung von Sprache und der Entwicklung von Technik, bzw. zwischen sprachlichen und technischen Handlungen. So wie sich erst – örtlich und zeitlich gebundenen – Gesten zu einem abstrahierten Zeichensystem mit Nutzungsregeln (der Sprache) entwickeln, entwickelt sich auch ein universalisiert-technologisches System heraus, „das aus den Regelwerken erfolgreicher technischer Funktionslösungen besteht und die technischen Regeln gänzlich dekontextualisiert in sich vereinigt.“ (Rammert 2009: 7) Wie bei Sprechakten würde durch die Technikakte ein Universum von technischen Ausdrucksformen entstehen, „eine Sprache mit eigenen grammatischen Regeln, einer eigenen Semantik der Funktionalitäten und einer eigenen Syntaktik funktionierender technischer Kombinationen.“ (Rammert 2009: 6) Auch hier wird – mit Verweis auf Wittgenstein – die Relevanz hervorgehoben, nicht nur die Regelhaftigkeit, sondern auch die Praktiken der situativen Handlung in den analytischen Blick zu nehmen: „So wie jeder situativ gesprochene Satz sich nicht nur aus den Regeln der Grammatik ableiten lässt, so bleibt auch jeder technische Konstruktionsakt bei allen Rückgriffen auf vorhandene Regelwerke eine mehr oder weniger zweckmäßige Äußerung unter spezifischen Kontextbedingungen.“ (Rammert 2009: 7f.) 9 TLP § 5.6
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gungen im Tractatus einer gewissen Nähe zum naiven Realismus nicht verwehren, von dem sich Wittgenstein in seinem Spätwerk entfernt. Dies auch unter dem Einfluss seiner erfahrungsreichen Arbeit als Lehrer bzw. den verbundenen Beobachtungen von Schulkindern, ihrem Lernen und ihren Sprachhandlungen. (2) In seinem Spätwerk der „Philosophischen Untersuchungen“ konstatiert Wittgenstein, dass es der (regelhaft-sprachliche) Gebrauch ist, der Bedeutung entstehen lässt. Ein Wort hat daher nicht an sich (s)eine feststehende und bestimmte Bedeutung, die einem Ding zugeordnet ist. Es zieht seine Bedeutung aus seinem jeweiligen Gebrauch: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 2001: 771)10. Wie angeführt, scheint mir – zur Berücksichtigung der semantischen Dimension der Dinge – die Analogie zum einzelnen Wort das jeweilige Einzelteil zu sein. Vor dem Hintergrund, dass auch vermeintlich profane und simple Einzelteile in den Collagen wechselnde Bedeutungen erhalten (z. B. die Büroklammer, die nicht mehr Papier verbindet, sondern Magnetismus anzeigt), kann angeführt werden, dass der einzelne Gegenstand keine feststehende Bedeutung hat. Innerhalb der als Materialsätze interpretierten Collagen beziehen sich die Dinge aufeinander und ziehen daraus einen Teil ihrer Bedeutung. Das zusammenstellende Collagieren der Dinge ist dabei eine erste und formkonstruierende Gebrauchsweise, mit der die metaphorischen Materialsätze gebildet werden. Die Entwickler(innen) versuchen mit den zusammengesetzten Collagen bzw. mit ihren Fixierungen auf Papier als zeichnerische Abbildungen, nur sekundär bestimmte Sachverhalte abzubilden. Vielmehr geht es zunächst um die Vermittlung eines bestimmten Zusammenwirkens der Dinge, die als basale Gebrauchsweise gesehen werden kann. Über diese soll ihre zugehörige Bedeutung determiniert werden. Interpretiert man die Zeichnungen respektive Abbildungen auf den Kopiervorlagen als ein dokumentarisches Produkt der (von mir untersuchten) Tätigkeit des dinglichen Schreibens, so können die zeichnerischen Abbildungen der Experimente als Versuche gesehen werden, eine vorgeplante Handlung per Fixierung zu mobilisieren. Über die didaktisch-instruktiven Abbildungen zusammengesetzter Dinge (die unter Beachtung einer regelhaften Grammatik der Dinge zu arrangieren sind) soll die Praxis eines Zusammenwirkens translokal vermittelt werden. Sie soll von der Entwicklungs- in die Unterrichtssituation wandern und hier Bedeutung injizieren. Dieses dingliche Scheiben (das Satzbilden – die Entwicklungsarbeit des Collagierens bzw. die zeichnerischen Abbildungen der Collagen) ist von dem intendieren Rezipieren (dem reproduzierend-aufbauenden Arrangieren der Dinge in der Klasse) zu unterscheiden, bei
|| 10 PU § 43
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dem es sich später um die Lerntätigkeit der Schüler(innen) als komplexe Gebrauchspraxis selbst handelt. Fraglich ist dabei, inwieweit ein fixierter Satz in lebendige Gebrauchspraxis überzugehen vermag, ohne dass seine Bedeutung (für den Interpreten) situativ variiert.11 Ein Kredo wie „erst im Satz hat das Wort Sinn“ (bzw. „erst in der Collage haben die Einzelteile Sinn“) ist deutlich zu unterscheiden von Wittgensteins bekanntem Postulat „nur im Gebrauch hat der Satz Sinn“ (Wittgenstein 1977: 3)12.
Ausblick auf den Klassenraum Mit weiterführenden Schulforschungen im Klassenraum ist die empirische Frage zu verfolgen, inwiefern es gelingt, fertige und vermeintlich praxissichere „Materialsätze“ (im hier entfalteten analytischen wie auch im umgangssprachlichen Sinne) translokal aus der Entwicklungs- in die beabsichtigte Gebrauchssituation zu überführen. Damit einher geht die Frage, wie der jeweilige situative und kulturell geprägte Kontext die Gebrauchs- und Handlungspraxis vor Ort bedingt. Analyseergebnisse der beobachteten Produkttestungen im Klassenzimmer weisen beispielsweise in die Richtung, dass die Ökonomie der Collagen (kein Ding ist für ihr Funktionieren überflüssig, jedes Ding notwendig) auch den Schüler(inne)n als (grammatikalisches) Handlungswissen im Gebrauch verfügbar ist und mit einer schulischen Materialordnung verbunden wird. Die passgenaue Ökonomie des Materials wird zum unterrichtlichen Merkmal von Schulmaterial erhoben, was dazu führen kann, dass die Schüler(innen) beim Arrangieren der Dinge primär nach der „richtigen“ schulischen Verwendungsweise forschen und dabei das dahinterliegende Phänomen der Naturwissenschaften nur sekundär streifen. Diese kindliche Forschung nach der unterrichtlichen Aufgabe und schulischen Bedeutung scheint der Forschung nach dem Phänomen nicht nur übergeordnet, sie kann letzterer auch im Wege stehen. Dies z. B. dann, wenn aus einer schulischen Funktionslogik heraus Ableitungen entwickelt und Schlüsse gezogen werden, die nicht zur naturwissenschaftlichen Intention respektive dem naturwissenschaftlichen Modell passen (vgl. Wiesemann/Lange 2014). Weitere Studien, die nach den Bedeutungszusammenhängen von Artefakten in den
|| 11 Wie geschildert mag es zunächst als verlockende Vorstellung erscheinen, anstelle einer Versuchscollage ein einzelnes Spezialding anzubieten, das vermeintlich nur und exakte (s)einen Sachverhalt als Gebrauchspraxis zulässt. Ein solch komplexes Spezialding müsste nicht mehr zusammengesetzt werden und könnte für sich stehen. Die Idee einer möglichst praxissicheren Gestaltung – also das Ideal, die Dinge jeglicher Interpretationsnotwendigkeit durch das situativ handelnde Subjekt zu entheben –, führt zu der Vorstellung eines unmissverständlichen Abbildens existierender Sachverhalte. Verwiesen sei z. B. auf „Protokoll-“ respektive „Basissätze“ bei Popper (vgl. Popper 1935: 53ff.). Auch Wittgenstein stellte mit seinem Tractatus Überlegungen zu „Elementarsätzen“ (§ 4.2) und der verbundenen Idee an, eine exakte Abbildung der Wirklichkeit mit Sätzen zu erzielen. 12 ÜG § 10
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Händen von Schulkindern fragen, stellen am empirischen Material und mit analytischem Rückgriff auf Wittgenstein die Relevanz der situativen Gebrauchspraxis für die flexible Sinnzuschreibung einer Sache heraus, sei es eine Jogamatte (vgl. Mohn/Wiesemann 2007) oder ein interaktives Whiteboard (vgl. Wiesemann/Lange 2015).13
Materialien als Funktionäre des Unterrichts Neben der sprachlichen Analyseanalogie, mit der materielle Einzelteile als Wörter in Materialsätzen bzw. Bedeutungscollagen verstanden werden können und mit der der semantischen Dimension der Dinge Rechnung getragen wird, soll im Folgenden eine weitere Art des Verstehens angeboten werden, die die Rolle der Dinge in einer anderen Weise (um-)versteht. Jede Perspektive auf das empirische bzw. didaktische Material hat eigene Potenziale und Grenzen. Mit dem sprachlichen Verstehen von haptischen Dingen und der zugehörigen Wortmetapher droht die physische Präsenz und die Körperlichkeit der Dinge ein Stück aus dem Blickfeld zu geraten. Da jedoch eben mit den Eigenschaften der Leiblichkeit von Dingen relevante Aspekte, Bedingungen, Limitierungen und Entscheidungen der Entwicklungsarbeit verknüpft sind (z. B. das Beachten des Kofferraums), zielt die folgende Perspektive auf eine analytische Anthropomorphisierung bzw. auf eine körperliche Personifikation der Dinge. Mit derlei Allegorien geht es mir nicht um eine programmatische Überwindung von tradiert-dichotomen Grenzen (Natur vs. Kultur, Ding vs. Mensch), wie sie Latour (1995) vorantrieb. Vielmehr geht es mir um eine empirisch-analytische Technik der metaphorischen Befremdung, mit der kontrastive Verständnisvergleiche erzeugt werden. Wie in Kapitel 4.2 herausgestellt, ist es ein Kennzeichen der Produktreihe, dass sich „teilweise“ immer gleiche Dinge in verschiedenen Koffern (zu verschiedenen Themen und Zwecken) wiederfinden. Bei diesen Dingen, die quer durch die Serie der Koffer immer wieder auftauchen, handelt es sich oft um altgediente Dinge, die programmatisch wiederverwendet werden. Diese sind zum einen (teure) Eigenproduktionen und zum anderen bewährt nützliche Produkte von Zulieferern bzw. Lieferanten, || 13 Die Idee, Wittgensteins späte Arbeiten als praktizistische und analytische Linse für die Gebrauchsweisen und Bedeutungen der alltäglichen Dinge zu nutzen, ist dabei keine neue: So entwickelte Hörning – ausgehend von der Frage nach der Macht der Dinge – mit starkem Bezug auf Wittgenstein eine kulturtheoretische Perspektive der Techniksoziologie, die die Materialität des Alltags in den Fokus rückt (vgl. Hörning 1999). Dabei interessiert Kultur als Praxis, die Hervorbringung von Bedeutung über Umgangsweisen (vgl. Hörning 2004). Hörning wendet sich damit gegen radikal technikdeterministische Sichtweisen und ein allzu schnelles Zugestehen von einem Handlungspotenzial der Dinge (vgl. Hörning 2001). Mit diesen praxisbezogenen Theoretisierungen verknüpft ist eine Forschungsarbeit, die in den 1990er-Jahren entstand. Diese befasst sich mit den Prozessen und dem Wie der Konstruktion von Sinn respektive sozialer Wirklichkeit über Arbeits- und Kommunikationsprozesse am Computer, die innerhalb verschiedener Betriebe des Maschinenbaus (Industriedesignabteilungen) mit „videogestützten Beobachtungen“ in den Blick genommen wurden – vgl. Dollhausen/Hörning (1996); Hörning/Dollhausen (1997).
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die sich gut wiederbeschaffen lassen. Der Rückgriff auf sie ist bis zu einem gewissen Grad sehr ökonomisch, rentabel und sicher. Es erscheint weniger optimal, zu viele Dinge in nur jeweils einem Koffer der Reihe zu beheimaten, da sich diese nur dann wieder gewinnbringend monetär aus dem Lagerbestand lösen lassen, wenn der passende Koffer vom Kunden bestellt wird. Übernimmt ein Ding in zwei Koffern einen bestimmten Zweck, verdoppelt sich hingegen bereits die Chance, das lagernde Einzelteil bei einer Bestellung veräußern zu können. Hier liegt demnach eine Möglichkeit, ökonomische Risiken zu senken und Flexibilität zu erhöhen. Es geht um die Frage, was für ein Ding zur Lichtbrechung seinen Platz in der Box finden soll (Glaskristall, langes oder kurzes Prisma u. a.). Als die Entscheidung vorerst getroffen ist, resümiert Herr Schmidt zufrieden: „Und meine Leute sind bestimmt begeistert, wenn wir das lange [Prisma] nehmen, weil das haben wir bisher nur in der Kindergartenbox […].“ (Meeting 1B, 3. Dokumentenseite, § 168, 01:52:52)
Der modulare Collagencharakter tritt auch hier mit seinen Vorteilen für den Verlag hervor. Neben der an die Sprachphilosophie angelehnten Analyse des Einzelteils als Wort, lässt sich die Rolle der Dinge, die als Einzelteile bzw. Komponenten vielfach nicht auf einen Koffer und eine didaktische Bedeutungscollage festgelegt sind, auch als die eines Funktionärs beschreiben (im Sinne von „verrichten“, „Beauftragte" oder auch: Mandatsträger, die wichtige Positionen in einem Funktions- und Strukturzusammenhang innehaben). In einem solchen Funktionärssinn sind verschiedene Einzelteile für Experimente und den Unterricht relevant. Beim Entwerfen und Collagieren der Experimente wird immer wieder versucht, den schon vorhandenen Funktionärsdingen der Produktreihe auch Posten im aktuellen Projekt zuzuschanzen. Es gilt, sie – sofern nicht unvertretbar – auch hier unterzubringen. In diesem Sinne kann analytisch von materiellen Schützlingen gesprochen werden, zugehörige Diskussionen der Entwicklungsmeetings lassen sich als hausinterne Bewerbungsgespräche der Dinge verstehen, bei denen die Dinge menschliche Fürsprecher haben. Es kommt zu Verhandlungen der Ideensammlungen zum Themenblock „Spiegel“ bzw. „Spiegelphänomene“ (Schlagworte aus der Lehrplananalyse). Herr Schmidt führt an, dass man mit beweglichen Spiegeln arbeiten könnte. Von den anderen am Tisch wird das – mit der spezifizierenden Unterscheidung zwischen ebenen und gebogenen Spiegeln – aufgegriffen. Dieses Thema will materiell realisiert werden, Frau Schleier überlegt hierzu laut: „Gibts das so- ... äh es gibt SpiegelFOLIE. ... aber es gibt auch …“ Herr Schmidt übernimmt: „Ähmm, ja, ich weiß jetzt nicht genau die Nummer, sonst könnt ich mal kurz ... Warten Sie mal, ich frag den mal – wir haben sowas da. (5)“ Hiermit macht er deutlich, dass ein passendes Material schon vorhanden ist, er es schon im Hinterkopf hat und es auch im Haus lagert. Er braucht nur die Nummer des Teils, um es im Lager zu finden. Schmidt steht auf, geht etwas durch den Raum und greift zum Telefon, während Frau Schleier weiter laut über die mögliche Spiegelfolie nachdenkt: „Weil dieser, diese Spiegelfolie an solch- als solches, die wird relativ leicht stumpf. Also die ... wenn die ein paar Mal ...“ Hansmann scheint um diesen Materialnachteil zu wissen („Mh.“). Auch Schmidt stimmt dem prinzipiell zu und scheint die Gültigkeit dieser Kritik auch für das Teil anerkennen zu müssen, das er an dieser Stelle ins Spiel bringen will: „Jaja, es gibt, gibt so also die sind natürlich 'n
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bisschen kratzempfindlich, dafür sind se aber unzerbrechlich, ne?“ Diese Ausführungen klingen etwas wie eine Verteidigung: Ein unbestreitbares Manko wird mit einem klaren Vorteil aufgewogen. Schleier gesteht dieses zu („Ja.“) und Hansmann unterstreicht die Relevanz von diesem Punkt („Müssten se auch sein.“). Derweil hat Schmidt gewählt und die angerufene Person (ein Kollege im Haus) hat abgenommen: „Ja, Schmidt [hier]. (2) Danke. (10) Ja, Schmidt. Herr [xxx], die- der Spiegel aus [nennt den Titel der existierenden Box], diese 15 * 15 großen – haben Sie die Nummer zufälligerweise parat? (10) Danke. (4)“ Schmidt legt auf, hat die Produkt- oder Lagernummer bekommen, die er braucht, um das Teil zu finden, er sagt zu den Anwesenden freudig: „Hol mal son Ding. Das is nämlich ganz nett (3)“ Dann verlässt er den Raum. Frau Schleier und Herr Hansmann debattieren während seiner Abwesenheit kurz über die Möglichkeit, hier Themen zusammenzulegen („Spiegelsymmetrie“ und „Spiegelschrift“ würden gut zusammenpassen). Es dauert nicht lange bis Herr Schmidt zurück kommt, er hat die schon beschriebenen 15 * 15 cm Plexi-Spiegel dabei, die deutlich fester erscheinen als Folie, sich aber dennoch biegen lassen, selbsttätig-elastisch in ihre Ausgangsform zurückkehren und nicht brechen sollen. „Kennen Sie DIE?“ fragt Herr Schmidt – wieder sehr freudig klingend. Die Begeisterung erfasst Frau Schleier: „AHHH, um GOTTESwillen. Ja, SUUUPER.“ Schmidt klingt dennoch weiter werbend, noch hat der Spiegel nicht den Job in der entstehenden Box: „Haha. [lacht] Jaha, da kann man schon schön mit rumspielen. Der is auch relativ groß.“ Schleier stimmt zu: „Ja, der is groß, das is groß ... (3)“ Herr Hansmann bringt noch eine kritische Nachfrage ein: „Ähm, wie kriegt man da dann die Daumenabdrücke runter?“ Diesen Einwand, der wohl auch auf die kindliche Nutzungsweise zielt, kann Herr Schmidt beiseite wischen: „[Kann man] einfach abwischen. (2)“ Herr Hansmann wirkt überzeugt und resümiert: „Gut. (1) Da ham wir doch schon was.“ (Meeting 1A, 3. Dokumentenseite, § 447–488, 00:29:56–00:32:36)
Aus Sicht des Verlags erfolgt in dieser exemplarischen Situation eine unausgesprochene Art der Produktoptimierung. Herrn Schmidt gelingt mit dem Unterbringen eines altgedienten Funktionärs eine neue hausinterne Besetzung. Herr Schmidt kennt das Sortiment, die Produktpalette und das Lager seines Hauses fraglos sehr genau. Er hat es im Hinterkopf, wenn es gilt, verschiedene Posten im neuen Koffer zu besetzten. Materialien, die es in den fertigen Koffer schaffen, müssen bestimmte Kriterien erfüllen (Wiederbeschaffbarkeit bzw. Reproduzierbarkeit, Sicherheit, Stabilität, Kostenlimit u. a.). Einzelteile, die man – aus einem alten Projekt – schon ins Inventar aufgenommen hat, sind also auch schon in dieser Hinsicht geprüft. Ferner haben diese sich in der Praxis bewährt oder haben sich hier zumindest nicht negativ bemerkbar gemacht, haben keine Verletzungen bei Kindern verschuldet oder sind in großem Maße ausgefallen. Sie sind vertrauenswürdig. Ein Funktionärsding kann in verschiedenen Koffern gleiche oder sehr ähnliche Teilfunktionen übernehmen (langes Prisma, Wasserschale). Die jeweiligen Funktionen und Posten können aber auch wechseln. Funktionäre sind daher für unterschiedliche Aufgaben qualifiziert – wenn auch wahrscheinlich teils nicht so optimal, wie es ein neues und hochspezialisiertes Ding wäre, das nur für einen Zweck produziert und eingesetzt bzw. extern neu eingekauft wird. Herr Schmidt weist erklärend auf etwas hin, das sich auf zwei verschiedene (glossarhafte) Aufstellungen der jeweiligen Einzelteile eines Koffers bezieht, die sich auf den ersten und letzten Seiten des Lehreranleitungshefts finden. Eine Aufstellung ist als eine Art Überblick und Inhalts-
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angabe des Koffers gedacht, die andere Liste ist explizit für das Nachbestellen der Teile vorgesehen: „Da gibts jetzt noch folgende ... (1) ähm (1) das wird Ihnen vielleicht auffallen, wenn Sie über die Anleitung ma drüber- genauer drübergucken. Die Bezeichnungen [der Einzelteile], die hier stehen [vorne in der Lehreranleitung], ziehen sich durch das ganze Heft und normalerweise auch durch das Stationsheft [Kopiervorlagen für die Kinder] (1). Gibt aber (1) unter Umständen hier hinten [zweite Aufstellung hinten im Heft, zum Nachbestellen] unter derselben Nummer eine (.) minimal abweichende oder eine abweichende Bezeichnung, weil (.) das (1) TEIL, was da verwendet wird, ursprünglich einen völlig anderen Zweck hatte.“ Schleier macht ein verstehendes „Mhmh.“: Hinter einer (Bestell-)Nummer können sich unterschiedliche Bezeichnungen der Dinge verbergen. Schmidt wiederholt und konkretisiert: „Da gibt’s manchmal Abweichungen, ja? Dann steht [holt tief Luft, sucht ein Beispiel] hier zwar … ‚Büroklammern‘ nicht gerade, weil ‚Büroklammer‘ is ‚Büroklammer‘, aber ...“ Herr Hansmann bringt ein passendes Beispiel: „‚Die Schallbox‘. (1) Die Schallbox nehmen wir als ... ähm in- in anderen Zusammenhängen als einen ...“ Schmidt übernimmt wieder nahtlos: „… auch als Reagenzglasständer.“, während Hansmann fast zeitgleich endet: „... Reagenzglasständer.“ Schmidt fasst abschließend zusammen: „Jaha und dann kommt eben mal vor, dass (1) einnn äh irgend ein ‚Dreikant‘ [da] steht oder öh ... wird irgendwas wird für irgendwas anderes verwendet und wenn man jetzt in der Anleitung das so nennen würde, wie (.) die- wie die Vorbezeichnung ist, dann würden die Anwender sagen: ‚Was ist denn jetzt hier los?‘ (4) Also das (.) soll sich hier dann am Ende am Nutzen orientieren.“ (Meeting 1A, 3. Dokumentenseite, § 1085–1091, 01:05:13–01:06:15)
Ein und dasselbe Ding kommt also in verschiedenen Funktionszusammenhängen bzw. auf unterschiedlichen Stellen und Posten zum Einsatz. Es erhält demensprechend eine je passende Stellen- respektive Berufsbezeichnung. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass bestimmte Dinge ihren Alltagsnamen behalten dürfen, obwohl auch sie in verschiedenster Weise und flexibel zweckentfremdet werden, ihr jeweiliger Nutzen für das Experiment also variiert – z. B. die günstige und als unmissverständlich eingestufte Büroklammer, die jedoch sowohl als ausschlagende „Nadel“ innerhalb der Collage zur Messung von Magnetismus als auch bei Versuchen zum Thema „Schwimmen“ zum Einsatz kommt. Mit anderen Dingen wird hingegen ein Labelwechsel vollzogen, also eine umetikettierende Änderung ihrer Bezeichnung, Beschriftung oder Benennung. Diesen Wechsel lohnt es, analytisch weiter in den Blick zu nehmen. Mit eben dieser Analyse werden im Anschluss die beiden vorgestellten perspektivischen Befremdungen der Dinge (Anthropomorphisierung vs. Versprachlichung) aufeinander bezogen.
Diversifikation. Leiblichkeit creatio ex nihilo? Mit den unterschiedlichen Bezeichnungen der Funktionäre bzw. dem Labelwechsel der Dinge erfolgt eine weitreichende Trennung zwischen einem Ding und seinem bezeichnenden Begriff. Diese Unterscheidung führt zurück zur analytischen Wortmetapher, zur Semantik und Sprachphilosophie: Das eindeutige Zusammenhängen zwischen Begriff, Symbol und realem Ding – dessen Relation in Ogdens und Richards
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Werk „The Meaning of Meaning“ als Semiotisches Dreieck beschrieben wird (vgl. Ogden/Richards 1923: 11) – erfährt hier mehr als nur eine plastische Auflösung.14 Mit dem Labelwechsel (bzw. der intendierten Gebrauchspraxis) wird nicht bloß ein Begriff von einem Ding gelöst: Es entsteht vielmehr ein neues Ding. In gewisser Weise vergrößert sich damit auch der Lagerbestand der Firma, denn man hat sowohl einen „Reagenzglasständer“ als auch zeitgleich eine „Schallbox“ im Sortiment abrufbar. Diese Vergrößerung des Lagerbestands ist fraglos eine Konstruktion, aber deswegen ist sie nicht unwahr. Auch wenn sich beide Produkte einen gemeinsamen und lagernden Körper teilen, zu einem bestimmten Zeitpunkt also nur ein Exemplar der „Schallbox“ oder ein Exemplar des „Reagenzglasständers“ ausgeliefert bzw. zum Einsatz gebracht werden kann, haben wir es hier doch mit mehr als einem irrelevanten Gemeinplatz zutun. Als Konstruktion handelt es sich um einen nicht zu vernachlässigenden wirtschaftlichen Faktor der Entwicklung, der die Firma vor konkrete Fragen der Lagerlogistik und Kundenkommunikation stellt: Dürfen oder sollen unterschiedliche Produkte (die aber körpergleich sind) auch individuelle Bestellbezeichnungen und Nummern haben? Hiermit erreichen wir eine neue Ebene des Einsatzes von Funktionären: Während einige Funktionäre lediglich mit jeweils sehr ähnlichen Aufgaben in verschiedenen Koffern zum Einsatz kommen (z. B. Prisma, Wasserbecken) oder sie sich zwar auf verschiedene Posten und Berufe einlassen, dabei aber stets sie selbst bleiben (z. B. die Büroklammer), gibt es andere Funktionäre, die gänzlich ihre Identität wechseln (Schallbox oder Reagenzglasständer?). Während bei Funktionären mit singulärer Identität in verschiedenen Experimentierkoffern „nur“ eine Flexibilisierung von (monetären) Transaktionen erzeugt wird, entsteht mit den wechselnd multiplen Funktionalitäten der körperlichen Funktionäre eine Diversifikation. Mit dieser Diversifikation wird ein neues Produkt geschaffen, das Sortiment wird ausgeweitet.
Flexible Medienbündel: „Hardware“, „Software“ und didaktische Updates Vor dem Hintergrund der Maximen und Zwänge einer ökonomischen Didaktik (siehe Kapitel 4.2), ist es im geschäftlichen Interesse des Verlags, einmal entwickelte Boxen möglichste lange auf dem Markt zu verkaufen. In der Folge stellt sich das Problem, dass die Schullandschaft mit ihren jeweiligen Ausrichtungen und Orientierungen von
|| 14 Dass die klare und fixe Zugehörigkeit nicht mehr gegeben ist, mag als Risiko für Missverständnisse interpretiert werden: „So entstehen leicht die fundamentalsten Verwechselungen (deren die ganze Philosophie voll ist).“ (Wittgenstein 1971: 27) Ausgehend von dieser Annahme machte sich der frühe Wittgenstein dazu auf, die Philosophie per exakter Sprache „aufräumen“ zu wollen. Bezeichnend für diese Ideen seines Frühwerks ist der im Vorwort des „Tractatus logico-philosophicus“ (Wittgenstein 1971) zu findende Satz: „Was sich überhaupt sagen lässt, das kann man klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Mit seinem Spätwerk räumt Wittgenstein hingegen ein, dass es eben erst die unüberwindbare Ungenauigkeit von Wörtern sei, die uns ihre sinnvolle Verwendung ermöglicht.
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verschiedenen Schwankungen bedingt und von Reformen umgeformt wird: Didaktische und erziehungswissenschaftliche Konzepte vollziehen paradigmatische Wendungen, die Lehrer(aus)bildung ändert sich, die Landes- und Bundespolitik wechselt die Farbe, internationale Ereignisse führen zu medialen und bildungspolitischen Reaktionen (Sputnik-Schock, Bildungskatastrophe, PISA-Schock u. a.). Ferner ändern sich die bindenden Lehrpläne (Plural!) und Bildungsideale, die mit Erich Weniger als Ergebnis eines Kampfes verschiedener Gesellschaftsmächte verstanden werden können, die an Einfluss gewinnen oder verlieren (Kirche, Staat, Gewerkschaft, Wirtschaft, Politik, Pädagogik usw.) (vgl. Weniger 1990: 21f.). Kurzum: Der Absatzmarkt Schule scheint in ständiger und kaum kalkulierbarer Bewegung zu sein. Diese Bewegungen können für den Verlag zu einer ökonomischen Bedrohung werden, da ein ständiges Austauschen und Neuausrichten von Materialien Kosten generiert. Die unterrichtlichen Produkte dürfen nicht in kurzen Intervallen vom Markt genommen und durch neu zu platzierende Produkte ersetzt werden, erst sollten sich bestimmte Auflagen verkaufen. Ich schaue Herrn Hansmann an und er fährt damit fort, dass der Verlag alle Schwankungen in der Pädagogik, alle didaktischen Varianten und alle Neuauflagen von Rahmenplänen über 42 Jahre hinweg „überlebt“ habe „… ich sage Ihnen noch mal: die Box [Titelnennung] habe ich 1970 so wie sie da ist erfunden.“ Das betont er mit Nachdruck und deutet dabei in die Richtung der Regale und ausgestellten Boxen am Messestand. („didacta“ 2013 in Köln, 21.02.2013)
Mit diesen Ausführungen unterstreicht Herr Hansmann den Erfolg der Produkte. Dabei verweist er auf etwas Zentrales, dass die Rolle der Dinge betrifft: Er führt an, dass sich die Box – die haptischen Dinge des Medienbündels im Koffer – seit den 1970erJahren nicht geändert hätten. Die Zusammenstellung der Einzelteile sei also beständig geblieben. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass sich seit 1970 nichts am Medienbündel geändert hat. Hansmann leitet damit ein, dass sich das (vermeintlich) alte Material zwar über viele Jahre nicht verändert habe, wohl aber haben sich die damit verbundenen Methoden und die dahinter stehende Didaktik gewandelt: Das, was man mit dem Material tue, sei auf dem aktuellen Stand der Zeit und entsprechend gut. („didacta“ 2011 in Stuttgart am Messestand, 24.02.2011)
Es wird hier unterschieden zwischen dem beständigen Ist-Zustand des haptischen Materials und seinem Gebrauch. Auch der Gebrauch wird dabei als Entwicklungsergebnis gesehen und letztlich als Produkt konzipiert sowie verkauft. Um dies verständlich zu machen, nutzt Herr Hansmann metaphorisch Begriffe der Informationstechnologie, die von mir als In-Vivo-Codes genutzt werden und in ihrer Analogie und Systematik weiter entfaltet werden. Es geht um Hard- und Software.
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Herr Peine führt an, dass die Boxen seines Erachtens auch gut geeignet sind für neue Schulfächer, die zurzeit jenseits des Sachunterrichts entstehen. Da gebe es „Na:Wi“ oder „NWT“, BadenWürttemberg habe auch etwas Eigenes: „... da passiert ja auch gerade ganz viel, ne?“ resümiert Peine diese aktuellen Veränderungen in der bundesdeutschen Bildungslandschaft. Herr Schmidt stimmt entschieden zu („Ja, mhmh.“) und Herr Hansmann greift diesen Punkt auf, um einige Erklärungen anzudocken: „Das beweist doch die Tatsache, dass wir die [Boxen] seit 1970 haben. Also, 42 Jahre aufm Markt.“ Kran nickt und gibt ein „Ja“ von sich, Hansmann holt tief Luft und fährt fort: „Die Hardware als solche äh (.) ist genau das, was man braucht, um den Unterricht zu machen. Und we- es is immer nur die Frage, welche Didaktik man drauf [x].“ Herr Peine macht ein verstehend-zustimmendes „Jajajaaaah, genau.“, mit dem signalisiert wird, dass er den springenden Punkt hier sieht, und auch ich vervollständige den Satz gedanklich: Es ginge um die Frage, welche Didaktik man „drauflaufen“ lässt, „draufspielt“, „draufnutzt“. Hansmann spezifiziert nun selbst: „Und jetzt also zurück zu kommen: Was hier heute [Entwicklungsmeeting] passiert, is ja Zweierlei. Also einmal bestücken Sie die Box (1), die Herr Schmidt dann produziert …“ Schmidt äußert ein zustimmendes „Mhmh.“ und Hansmann ergänzt: „DAS ist dann die Hardware auf lange Zeit.“ Auch Frau Kran stimmt nun verstehend zu („Richtig.“), während Hansmann den Anspruch weiter ausführt: „Und (.) die [Hardware] muss zukunftsfähig sein.“ Schmidt gibt erneut recht („Mhmh.“) und Hansmann endet mit dem zweiten Punkt: „Und dann muss man zweitens sehen: Was die Stationskarten [Kopiervorlagen, Hefte] angehen, das ist die (1) Software, die verMUTlich (.) in den nächsten fünf Jahren kippt, (.) ne?“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 317–332, 00:16:28–00:17:10)
Neben den bereits angeführten Zuschreibungen und Analysen, mit denen das Material als enorm aktiv und flexibel für den Unterricht behandelt wird, tritt ein weiteres Aufgaben- und Rollenbild zum Materials hervor. Es wird – unter Nutzung von Metaphern – das Reaktionspotenzial des Materials ausdifferenziert: Die mit Einzelteilen gefüllten Boxen seien wie ein Computer, dessen Hardwarekomponenten unverändert ein Ensemble, einen Aufbau, ein Setup bilden, auf dem aber verschiedene Programme in verschiedensten Versionen laufen können. Als Software werden hier die den Koffern beiliegenden Hefte bezeichnet. Diese Software gilt es, in wiederkehrenden Zyklen umzuschreiben, da die Leitmaximen in Schulen regelmäßig „kippen“. Herr Hansmann meint zu mir gewandt: „… und – das habe ich Ihnen auch schon mal gesagt, es gibt in der Pädagogik/Didaktik alle 15 Jahren einen Wandel in den Modellen und auf dem Markt … und das Modell hier – [das] Lernen an Stationen […] – haben wir 2000 auf den Markt gebracht. 1999 habe ich das [erste] Heft […] umgeschrieben, auf diese Didaktik, – das Material bleibt immer dasselbe.“ Der letzte Wandel liegt nun also 13 Jahre zurück, resümiert er weiter und sagt, dass langsam etwas Neues „mit den Sachen“ gemacht werden müsse, „dabei bleibt die Hardware die Hardware“. („didacta“ 2013 in Köln, 21.02.2013)
Die explizierte Selbstrekonstruktion ist hier demnach die, dass den Zyklen der didaktischen Neuheiten und schulischen Reformen begegnet werden kann, ohne dass sich die Dinge selbst verändern. Das, was man mit dem Material bzw. der Hardware macht, sei hingegen entscheidend, konstitutiv und flexibel. Es könne nicht nur verhältnismäßig leicht ein Softwareupdate eingespielt werden, z. B. durch eine Neuauflage eines der Hefte, mit dem einige Fehler getilgt werden. Es könne auch ein gänzlich
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neues Programm bzw. ein neues Betriebssystem geschrieben werden, dies etwa vor dem Hintergrund eines neuen didaktischen Paradigmas. Mit dem bekannten „Stationsbetrieb“ (siehe Kapitel 4.1) ist das derzeitige Betriebssystem beschrieben. Dieses wurde vor etwa 15 Jahren geschrieben und war durch die didaktische Maxime motiviert, dass eigenaktives Experimentieren von Schüler(inne)n in Kleingruppen anzustreben sei. Mit diesem didaktischen Programm (den neuen Lehreranleitungsheften und Kopiervorlagen) mussten jedoch auch die schon vorhandenen, sich nicht ändernden Einzelteile (der alten Koffer) berücksichtigt werden. Um die Einzelteile als funktionale Komponenten am Leben zu erhalten, müssen sie alle von der neuen Software angesteuert und verwendet werden. Gelingt dies, kann die Hardwarebox als über den nächsten 15 Jahreszyklus gerettet betrachtet werden, so die Argumentation. Wie beim Programmieren in der IT-Welt müssen die Eigenarten und Determinationen der Hardware beachtet werden, nur so kann das Programm lauffähig sein und optimiert werden. Da es sich bei den hier analysierten Koffern um Serienprodukte handelt, gilt: Kennt man den Inhalt eines Koffers zum Thema, so kennt man den Inhalt aller seiner Klone. Der Koffer ist ein System, das sich leicht öffnen lässt, die Spezifikationen bzw. Auflistungen seiner inhaltlichen Komponenten sind bekannt. Dieser Gemeinplatz birgt eine Analogie zur IT-Welt: Nach Wheeler sind offene Systeme „[…] Hard- und Software-Implementierungen, die der Sammlung von Standards entsprechen, die den freien und leichten Zugang zu Lösungen verschiedener Hersteller erlauben.“ (Wheeler 1993: 4) Bei „Lösungen“ kann es sich z. B. um selbst entwickelte Programme handeln – um kompatible Software von Fremdanbietern. Offene Systeme führen zu einer Pluralität von (Software-)Anbietern und einer divergenten Nutzung der (Hardware-)Systeme. Dies gilt auch für die unterrichtlichen Materialsysteme wie den Experimentierkoffer: Herr Hansmann möchte nun – nachdem wir eine ganze Weile Kundengespräche am Messestand geführt haben – einmal systematisch die „Mitbewerber“ und ihre Angebote zum Thema unter die Lupe nehme. Wir besuchen verschiedene Verlagsstände, an denen die Arbeitshefte für den Sachunterricht eine im wahrsten Sinn des Wortes randständige Position einnehmen. In einem der Hefte finden wir vorgeplante Versuche und Anleitungen. Neben Beschreibungen finden sich dort bunte Zeichnungen, welche allerlei Dinge zeigen: Alltagsdinge, die für den jeweiligen Versuch nötig sind. Herr Hansmann fügt kritisch an, dass man das ganze Zeug als Lehrer(in) ja selbst besorgen muss: „Versuchen Sie mal so eine Batterie zu bekommen!“ Das sei heute nicht mehr so leicht, sagt er, und bezieht sich damit auf eine – wirklich recht altmodisch wirkende – Flachbatterie mit langen und biegsamen Metallpolen an der Oberseite. Er blättert weiter und bei der Betrachtung der anderen Zeichnungen respektive abgebildeten Dinge fällt ihm etwas auf: „Das ist unsere Box“, sagt er lakonisch und tatsächlich wirkt es so, als ob viele der gezeichneten Dinge, also Komponenten, mit denen experimentiert werden soll, aus „seinen“ Koffern stammen. Der Inhalt dieser Koffer scheint hier zumindest deutliche Inspirationsquelle und materielle Orientierung gewesen zu sein. Während wir das Heft weiter durchblättern, erklärt Herr Hansmann, dass auch der Verlag, bei dem ich nun forsche, früher den Ansatz gehabt hätte, dass die Boxen nur als Brücke fungieren sollten: als Brücke, um „Papier zu verkaufen“. („didacta“ 2013 in Köln, auf Tour über die Messe, 21.02.2013)
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Andere Anbieter von metaphorischer Software, die keine eigene Hardware entwickeln, nutzen hier Teile der Hardware des Mitbewerbers, die ohnehin weit an Schulen verbreitet ist. Wenn, wie angeführt, die Boxen ursprünglich nur zu dem Zweck produziert wurden, das zugehörige Papier verkaufen zu können, drängen sich Vergleiche zu anderen Wirtschaftszweigen bzw. Entwicklungen auf: z. B. zu Druckerherstellern, die ihre Drucker extrem günstig abgeben und ihre Gewinne durch den Verkauf von „originaler“ Tinte erwirtschaften, oder zu Firmen, die Spielekonsolen produzieren und diese Hardware anfänglich mit Verlust verkaufen, mit zunehmender Zeit aber von Lizenzgebühren profitieren, die Drittanbieter von Spielesoftware entrichten müssen, wenn sie auf der Plattform des Herstellers veröffentlichen wollen. Derartige Lizenzmodelle sind für den von mir beforschten Verlag fraglos schwer zu implementieren, da es sich bei der Hardware in weiten Teilen um vermeintliche Alltagsdinge handelt, deren Nutzung und Collagierung flexibel gehandhabt werden darf. Zudem besitzt niemand Rechte an den hier relevanten Naturphänomenen. Wie Herr Hansmann anführt, sei die Brücke für Papierverkäufe jedoch nur anfänglich die Strategie des Unternehmens gewesen. Auch wenn diese Art von schulischer Hardware in kleineren Auflagen als die Software aus Papier verkauft wird, heißt dies nicht, dass damit keine Gewinne möglich sind. Dass weitere (Fremd-)Anbieter ihre Software für den Hardwarekoffer veröffentlichen, muss zudem nicht negativ gesehen werden: Auf dem IT-Markt gibt es immer wieder „system seller“, dies sind Programme von Entwicklern, die der Hardware (von zumeist anderen Entwicklern) zum Siegeszug verhelfen oder zumindest ihre Absatzzahlen enorm steigern. Zudem kann es aus Entwicklersicht Vorteile haben, wenn Hard- und Software aus einem – dem eigenen – Haus kommen, denn Hard- und Software sind nicht losgelöst voneinander zu verstehen, sie bedingen sich gegenseitig und müssen folglich aufeinander abgestimmt werden. Entwickelt man sowohl die Hardware als auch die zugehörige Software, ist dieser Prozess der Abstimmung besser zu koordinieren und zeitnah sowie flexibel zu realisieren. Der Arbeitsplan wird vorgestellt, er soll die einzelnen Schritte der Entwicklung aufzeigen, die nun vor den Beteiligten liegen. Hansmann: „Und ... (.) und also abschließend: Die letzte Position ist ‚ständige Revision‘. Es kommt immer wieder vor, dass eine bestehende Box (.) verändert wird. (1) Und zwar immer aufgrund irgendwelcher Zwänge. Zum Beispiel (1) ähm haben wir in der Box […] ein Maximum-/Minimum-Thermometer immer gehabt, das war aber quecksilbergefüllt.“ Schleier gibt schon jetzt ein verstehendes „Mhmh.“ von sich, Herr Hansmann weiter: „Und nun darf man neuerdings an Schulen kein Quecksilber mehr liefern (1) also ist jetzt ein Digitalthermometer [in der Box]. Jetzt fängt dann aber leider der Spielkarteneffekt an, ne? Der Dominoeffekt.“ Damit scheint gemeint, dass eine Änderung an einer Stelle an anderer Stelle große Folgen nach sich zieht (Entfernen einer Karte im Kartenhaus oder eine Kettenreaktion). Auch Herr Schmidt stimmt wissend zu („Genau.“) und Hansmann führt weiter aus: „Wenn Sie, wenn Sie DA ein anderes Thermometer reinlegen wollen, müssen Sie in der Regel auch den Schaumstoff ändern.“ Gemeint ist die aus Schaumstoff bestehende Negativform, die jedem Ding im Koffer seinen Ruheplatz zuweist. Schmidt ergänzt die Liste der notwendig werdenden Änderungen: „Und die Anleitung.“ Hansmann nimmt dies zustimmend auf: „Und die Lehreranleitung. Und dann muss das Mutterhaus ... Das Heft bei der nächsten Auflage ändern. (1)“ Schmidt stimmt
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parallel zu, während Hansmann fortfährt: „Und um das Heft zu ändern, muss man wiederum ein[en] GRAFIKER einsetzen. Also es ist furchtbar. (1) Aber sowas passiert eben.“ Schmidt und Schleier stimmen zu („Mhmh.“ und „Ja.“) Hansmann führt weiter aus: „Und ähm es kommt natürlich auch mal vor, dass ein Produkt ähm (.) insofern verbessert wird, als dass man dann besseres Material [findet] und so. Das heißt also ... [räuspert], da gibt es noch ne ständige Revision – da passiert am Ende noch was.“ Schmidt nickt. (Meeting 1A, 3. Dokumentenseite, § 1038–1053, 01:00:54–01:02:06)
Durch die Notwendigkeit von Änderungen an der Hardware – und nachgezogene Änderungen, die sich dadurch aufseiten der Software ergeben, – wird das Postulat relativiert, dass sich die Hardware niemals ändert. Auch hier werden von Zeit zu Zeit Änderungen nötig – bei einigen Boxen im stärkeren Maße, bei anderen Boxen in einem weniger starken Maße. Auch wenn durch Softwareupdates und -optimierungen die Lebensdauer von standardisierter Hardware enorm verlängert werden kann (in der IT-Welt genau wie im hier gebrauchten übertragenen Sinn), wird irgendwann doch ein aufrüstendes Upgrade der Hardware notwendig werden. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil das Vorstellen von neuer Hardware auf dem Markt und den Messen ein „Hingucker“ ist und stagnierende Verkaufszahlen wiederbeleben soll. Schmidt leitet das Entwicklermeeting ein: „Ja, und wir beschäftigen uns (.) damit, unser Programm (1) zu vervollständigen und zu aktualisieren. Wir ham ... und ähm der Grund, dass wir an das […]-Thema ran wollten is, dass wi:r von dieser Box im Inland nur noch sehr wenig verkaufen, weil se didaktisch eben auf dem Stand der siebziger Jahre is (1) und (.) wir sie aber sehr, sehr stark exportieren. U:nd ähm (3) wir denken uns, dass einerseits für di:e- für eine neue- für ein neues Stationsheft ein gewisser Bedarf besteht, andererseits natürlich dann auch ne aktualisierte Experem- Experimentierbox auch im Inland wieder mehr Aufmerksamkeit finden wird und unsere ausländischen Kunden sind natürlich auch immer an aktuellen Materialien interessiert.“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 150, 00:06:00–00:06:55)
Wie von Herrn Schmidt bei meinem ersten Aufenthalt im Betriebsgebäude herausgestellt, gibt es zum Thema des neuen Koffers bereits einen Koffer aus den 1970er-Jahren, den er vorsichtig als „etwas dünn“ bezeichnete. Diese Box sollte nicht weiterentwickelt, sondern ersetzt werden. Mit der so angesprochenen Aktualisierung des Programms bzw. Sortiments und der verbundenen Neuentwicklung einer Box zu einem alten Themengebiet wird ersichtlich, dass auch ohne dringlichsten Austauschbedarf (Quecksilber raus aus Schulen) Änderungen am Hardwaresetting notwendig werden können. Ferner relativiert sich damit die Aussage weiter, dass die Flexibilität der Hardware schier grenzenlos ist und sie stets nur ein Update der Software braucht, um mit dem aktuellen Stand der Didaktik zu laufen. Mit voranschreitender Zeit bzw. wechselnden pädagogisch-didaktischen Modellen und sinkenden Absatzzahlen, kann demnach auch eine Modifikation der Hardware zur Notwendigkeit werden. Die Möglichkeiten der Softwareupdates stoßen an Grenzen. Dass sich die Hardware niemals ändert, ist eher als Entwicklungsideal zu verstehen, das im Alltag wahrschein-
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lich nie ganz erreicht werden kann. Dennoch gilt, dass bestimmte Einzelteile der Koffer extrem langlebig sind.15 Durch die Maxime der Entwicklung, dass schon vorhandene Teile mehrfach eingesetzt werden sollen, ergab sich letztlich, dass die beiden neu entstanden Koffer (aus Zyklus A und B) auf den ersten Blick teils recht ähnlich waren. Dies, obwohl man beim ersten Treffen mit den neuen Entwickler(inne)n (Zyklus B) deutlich machte, dass man nicht „abschreiben“ wolle und daher eine Weiterentwicklung oder eine Übernahme der Vorarbeiten nicht möglich sei. Zu einem solchen „Abschreiben“ ist es demnach auch nicht gekommen. Dennoch fallen auf den ersten Blick relevante Dinge ins Auge, die in beiden Koffern vorhanden sind. Auch in der alten Box aus den 1970er-Jahren (zum gleichen Thema) finden sich bereits sehr viele dieser altgedienten Funktionäre wieder, die es – als Grundstock – auch in beide oder eine der neuen Boxen geschafft haben: Viele Einzelteile vererben sich. Dies fällt insbesondere dann auf, wenn die Koffer aufgeklappt nebeneinanderliegen, die Dinge also noch nicht didaktische Versuchscollagen gebildet haben. Die vorgeplanten Versuchscollagen selbst unterscheiden sich letztlich deutlicher als ihre Einzelteile. Das Einsetzen von neuer Hardware ist eher ein Aufrüsten, ein modulares Austauschen und ein Anpassen an die Software. Mit diesem partiellen Wechsel wird versucht, die durch das materielle Setting bedingte Limitierung des Gebrauchs zeitgemäß zu verringern, ohne dass auf bewährt flexible und ökonomisch einsetzbare Komponenten verzichtet wird. Folgt man meinen Analysen, scheint der jahrzehntelange Erfolg der Produkte am Markt eng mit dem Prinzip der Collagenbildung verknüpft. Mit diesen lassen sich ökonomische und didaktische Bedingungen zusammenführend berücksichtigen (siehe Kapitel 4.2).
Analytische Abstraktion: sprachliche Skripte und Skriptsprache Mit den folgenden Ausführungen wird eine theoretisch-abstrahierende Rückbindung der Collagenanalyse vor dem ökonomischen Hintergrund der Bildungswirtschaft angestrebt. Hierzu wird die (metaphorische) Unterscheidung zwischen Hard- und Software rückbezogen auf Überlegungen zur Inskription und Auslesung der Bedeutung von Artefakten. Latour interessiert sich letztlich für die Stabilisierung unserer soziotechnischen Welt, den (materiellen) Kitt oder die „Masse“, mit der die gesellschaftlichen HybridAkteure zusammengehalten werden. Für diese Stabilisierung sind soziotechnische „Skripte“ bzw. „Programme“ (vgl. Latour 2006: 373) relevante. Aktanten haben derlei eigene „Programme“, die durch ihre Möglichkeiten und Intentionen (verstanden als absichtsvolle Schrittfolgen) gebildet werden. Damit wird z. B. ein Abstimmen und An-
|| 15 Ferner ist es fraglos so, dass bestimmte Boxen besser altern als andere und bestimmte Hardware für weitreichende Updates der Software kompatibler ist als andere.
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passen des eigenen Verhaltens an die skripthaften Vorgaben des Artefakts notwendig. Verschiedene intentionale Handlungsprogramme können sich zudem wechselseitig bedingen: Zum Beispiel will der Mensch zunächst nur verletzen, dann – mit der Pistole in der Hand – will er töten, damit habe das Ding (die Pistole) mit seinem Skript einen Aufforderungscharakter. Handlungsprogramme können aber auch gegenläufig sein und sich behindern (vgl. Latour 1996: 57). Deutlich wird der Netzwerkgedanke und das gegenseitige Einwirken: „Die Festlegung eines Aktanten auf ein Skript, eine Rolle bzw. eine Verhaltensweise (Inskription) kann bestimmte Voraussetzungen für das Verhalten anderer Aktanten erzeugen (Präskription) und umgekehrt.“ (SchulzSchaeffer 2011: 192) Da diese Modelle in der neueren Wissenschafts- und Techniksoziologie bzw. der Innovationsforschung wurzeln, sind die Fragen nach dem Schaffen von Wissen und der Gestaltung von Technik eng mit ihnen verbunden. Insbesondere das soziale Handeln, die Praktiken und Methoden der wissensschaffenden bzw. technikgestaltenden Akteurinnen und Akteure geraten in den Blick. Grundlegend ist beispielsweise, dass die Gestalter(innen) von Technik ihre zukunftsbezogenen Ideen während des Prozesses der Entwicklung aushandeln und letztlich in den Artefakten manifestieren (vgl. Akrich 1995: 168): Designers […] define actors with specific tastes, competences, motives, aspirations, political prejudices, and the rest, and they assume that morality, technology, science, and economy will evolve in particular ways. A large part of the work of innovators is that of ‚inscribing‘ this vision of (or prediction about) the world in the technical content of the new object. I will call the end product of this work ‚script‘ or ‚scenario‘. (Akrich 1992: 208)
Es geht demnach um den Versuch des Einschreibens der (Nutzungs-)Visionen in die Artefakte selbst. Ähnliche Ausführungen stellen Hage und Hollingsworth an, die die Entwicklung neuer technischer Artefakte als das Ergebnis eines „idea innovation networks“ sehen. Ein solches Netzwerk des Austauschs und der Abstimmung werde von verschiedenen Akteur(inn)en aus verschiedenen Arenen gebildet, z. B. der Marktforschung und Entwicklungsabteilung (vgl. Hage/Hollingsworth 2000). Auch van Lente und Rip stellen heraus, dass es zu Beginn einer Entwicklungsphase zunächst darum gehe, ein Bild der Zukunft zu entwerfen. Dieses diene der Koordination der weiteren Entwicklungsarbeit und werden im Laufe dieser kontrovers verhandelt. Verbunden ist die empirische Zuwendung zu diesen Entwicklungs- und Aushandlungspraktiken und die hier verortete Entdeckung von rhetorischen Schließungsprozessen. Mit diesen setzen sich bestimmte Ideen und assoziierte Technik durch (vgl. Lente/Rip 1998). Hierbei muss es sich nicht – und ebenso wenig wie bei den anderen diskutierten, konkurrierenden und unterlegenen Varianten – um die objektiv „besten“ oder „rationalsten“ Lösungen für die Zukunft handeln. Eine absolut beste Lösung lässt sich meist in der vielperspektivischen Entwicklungsarbeit mit ihren zahlreichen Beteiligten nicht bestimmen: „There is not just one possible way, or one best way, of designing an artefact.“ (Pinch/Bijker 1984: 421) Nach der geschlossenen Entstehung folgen vielfach die Phasen einer
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Stabilisierung der Prototypen und einer Durchsetzung dieser zum dominanten Design (vgl. Weyer et al. 1997: 133). Es lässt sich bilanzieren: Für die von der Technikgeneseforschung untersuchten Entwicklungsprozesse gilt, dass zunächst visionäre Ideen oder Vorhersagen entworfen und verhandelt werden, die es dann zu schließen und zu stabilisieren gilt. Skripte – bzw. intentionale Bedeutungen oder Verhaltensweisen – müssen letztlich materiell in den Artefakten selbst verankert werden. Folgt man dieser Analyse, so erscheinen einmal produzierte, geschlossene, etablierte und „gescriptete“ Artefakte als verhältnismäßig stark festgelegt, dies zumindest in dem Sinne, dass bestimmte Ideen des zukünftigen Gebrauchs in sie eingeflossen bzw. materiell mit ihnen übersetzt wurden (vgl. Latour 2000: 226ff.; Linde 1982: 19ff.; Joerges 1996: 124ff.). Das Skript selbst ist Teil des Materials und als solches fest. Wenn es geändert werden soll, so muss das Ding – und mit ihm die Produktion – geändert werden. Entwickler(innen) müssen ihren geteilten Visionen, ihren Ideen von Gestaltungen der Zukunft und ihrer Marktforschung vertrauen, sie müssen darauf setzen, dass ihre Neuentwicklungen das sind, was die adressierten Kundenkreise in nächster Zeit brauchen oder wollen. Auch wenn die Kunden zum Zeitpunkt der Entwicklung vielleicht noch gar nicht wissen, dass sie eine andere Produktart begehren werden – z. B. ein riesiges Mobiltelefon, das über keine Tasten verfügt, aber einen hochauflösenden Bildschirm hat, der sich durch Gesten bedienen lässt. Der ökonomische Konkurrenzkampf ist damit geprägt durch unterschiedliche Narrative der Zukunft und dem Glauben an diese. So geht z. B. Schumpeter davon aus, dass Unternehmer(innen) aus den täglich stattfindenden Erfindungen diejenigen auswählen, die als ertragreiche Neuerungen („Neukombinationen“) eingeschätzt und mit Geschäftsideen verknüpft werden können (vgl. Schumpeter 1964: 117). Mit der Realisierung und Etablierung einer Neuerung gehen mannigfaltige Hemmnisse und ökonomische Risiken einher (vgl. Kline/Rosenberg 1986: 294). Ob der freie Markt die neue Technik ausreichend honorieren wird, ist meist mehr als fraglich.16 Versteht man Schulen als Kunden bzw. den staatlichen Bildungssektor als
|| 16 Die Unsicherheiten darüber, ob ein radikal neuartiges Produkt ausreichend Käufer findet, sind so groß, dass neoklassische Modelle der Ökonomie für die Erklärung von Innovationsentstehung kaum plausibel erscheinen – vgl. Arrow (1962); Nelson/Winter (1977). Die simplifizierende Annahme, Innovationen würden nur aus einer Reihe rationaler Betriebsentscheidungen, dem Streben nach Profitmaximierung und entsprechenden Marktreaktionen erwachen, erscheint wenig tragfähig. Neoschumpeterianische Ansätze betonen ein Evolutionsmodell, mit dem technischer Wandel durch Variation des schon Vorhandenen erklärt wird. Neuerungen entstehen dann weniger intendiert-rational als vielmehr zufälliger, durch problemzentriertes Probieren oder auch durch fehlerhaftes Kopieren der Konkurrenz. Letztlich werden jedoch die Märkte auch hier als selektierende Instanzen zwischen den entwickelnden Firmen gesehen. (Für eine Übersicht verschiedener Ansätze zur Erklärung technischen Wandels vgl. Rammert (2008)). Obwohl vor diesem Hintergrund neoklassische Ökonomiemodelle für die Erklärung von Innovationen nicht ausreichen, ist es ein Gemeinplatz, dass in einer wachstumsorientierten Wirtschaft die entwickelnden Firmen vielfach auf die Markteinführung von Neuerungen angewiesen sind. Auch wenn „der Markt“ nicht als rational-objektiv oder als natürliche
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Markt, eröffnet sich ein in vielen Facetten kontrastreicher und erkenntnisproduktiver Vergleich. Dieser spezielle Markt der Bildungswirtschaft ist stark determiniert. Foray und Raffo sehen die (Lehrmittel-)Wirtschaft als potenzielle Lösung für ein unterstelltes Innovationsdefizit der Schulen, sie halten jedoch relativierend fest: But the education sector has built severe barriers to entry making entrepreneurial activities in the sector sound not very attractive: the reward structure in this sector does not favour the competitive entry of new firms and radical innovators willing to take risks and be creative with the prospect of huge private return on R&D [Research and Development, J. L.] and other innovation activities. (Foray/Raffo 2014: 1714)
Die Spezifik dieses Marktes sehen die Autoren als Hindernis und führen z. B. an, dass der Bildungsmarkt in vielen Ländern durch ein Oligopol weniger und sehr großer Anbieter von „Bildungsressourcen“ dominiert sei. Es gebe zudem langsame Vertriebszyklen, an denen zu viele Menschen „in charge“ und auf verschiedenen Ebenen beteiligt wären (staatliche Stellen, Bezirke, Schulen). Kommt ein neues und innovatives Tool in Sicht, würde es meist erst in kleinen Pilotprogrammen getestet, womit keine ausreichend großen Verkaufszahlen zu erreichen wären. Oft beständen – seitens der Behörden – Berührungsängste gegenüber der Wirtschaft. Kritisierend angeführt wird zudem, dass Stiftungen, Wohltätigkeitsorganisationen, aber auch Firmen den Bildungseinrichtungen allzu oft eben die Produkte schenkten, die man eigentlich an sie verkaufen sollte. Aufgrund dieser Barrieren seien die zu erwartenden Finanzrückläufe so klein und träge, dass kein Risikokapitalanleger interessiert wäre in schulische Innovationen bzw. zugehörige Start-Up-Firmen zu investieren (vgl. Foray/Raffo 2014: 1714). Kontrastierend zu diesen Einschätzungen beziehe ich mich auf Grundlage meiner Forschung zu den Akteurinnen und Akteuren der Bildungswirtschaft auf die Spezifik des Schulmarkts. Wie empirisch aufgezeigt wurde, bedenken und diskutieren die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft in ihren Prozessen der Produktschließung vielfältige Handlungsroutinen von Lehrer(inne)n und rahmende Bedingungen der Institution Schule. Bei den Entwickler(inne)n handelt es sich eben nicht im zitieren Sinne um Innovatoren und potenzielle Taktgeber der schulischen Zukunft. Zwar antizipieren sie in ihren Entwicklungsmeetings zukünftige unterrichtliche Situationen und bieten für diese konkrete Produkte samt zugehörigen Gebrauchsweisen an, jedoch folgen diese Entwicklungen der gegenwärtigen Marschrichtung von wissenschaftlicher Fachdidaktik und staatlicher Schullandschaft, sind angepasst an das, was sich derzeit in Schulen findet. Es geht um ein möglichst reibungs-
|| Umwelt der Unternehmen verstanden werden kann, es sich vielmehr um eine gesellschaftlich formbare Konstruktion handelt, hält Braun-Thürmann fest: „Eine Soziologie der Innovation sollte nicht den Fehler der Technikgeneseforschung wiederholen und den Markt zugunsten von kulturellen Einflüssen, Leitbildern und Machtkonstellationen außer Acht lassen.“ (Braun-Thürmann 2005: 28)
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loses Einfügen in das bestehende System, um ein ökonomisches Anpassen der eigenen Produkte an die zyklischen Änderungen in eben diesem. Die beforschte Industrie passt sich und ihre Produkte an die Schule an, nicht umgekehrt. Mit diesem Attest – das die Leistungen der Bildungswirtschaft keinesfalls schmälern, wohl aber verorten soll – ergibt sich eine verlagerte Herausforderung der Entwickler(innen) von Unterrichtsmaterial: Es handelt sich hier um eine Industrie, deren Innovationen nicht darin liegen, radikal-revolutionäre Neuentwicklungen hervorzubringen, mit denen die Weichen für die Zukunft auf ihrem Markt gestellt werden. Die Zukunft von Schule und Unterricht wird an anderer Stelle erdacht, erforscht, beeinflusst und entschieden. Das Ringen um sie ist dabei ein stetiger, auch lobbyistischer und bürokratischer Prozess innerhalb eines staatlich-demokratischen Systems, in dem verschiedenste Akteurinnen und Akteure, Ideen, Interessen und Geschehnisse wirken.17 Trotz vieler bürokratischer Bedingungen ist Schule letztlich regelmäßiger von Neuerungen betroffen als es gemeinhin scheint. Die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft können sich weder dauerhaft auf ein Bild der Zukunft festlegen, da diese in ständiger Bewegung ist, noch ist es ihr Anspruch oder ihr Geschäftsmodell, diese Zukunft selbst zu gestalten. Sie können keine visionären Neuerungen auf den Weg bringen, die z. B. inkompatibel oder inkommensurabel zu den gesetzlichen Vorgaben sind. Sie lassen sich ein auf einen Absatzmarkt, der sich im ständigen, unberechenbaren Wandel befindet, der ihrer aktiven Einflussnahme weitestgehend entzogenen ist und der sich nicht durch eine besondere Finanzstärke auszeichnet. Mit der Charakterisierung dieses Absatzmarkts, die – wenn auch anders akzentuiert – den Beschreibungen der Spezifik vom „education sector“ bei Foray und Raffo (2014) ähnelt, kann die Frage gestellt werden, ob die Anpassung der Ökonomie an den vermeintlich wirtschaftsfeindlichen Sektor ein Problem ist. Sollte nicht vielmehr der Bildungssektor nach wirtschaftlichen Organisationsprinzipien ausgerichtet werden? Würde sich der von Foray und Raffo versprochene Innovationsgewinn für Schulen dann über die zuliefernde Industrie einstellen? Hierfür erscheint zunächst eine Antwort auf die Frage notwendig, was Innovationen für die Schule sind. Eben diese Frage wird bei Foray und Raffo nicht || 17 Das Tauziehen um den nächsten Lehrplan scheint dauerhaft und unvorhersehbar. Pädagogische und didaktische Paradigmen wandeln sich mit der Zeit (Führung vs. Freiheit, heterogene vs. homogene Lerngruppen), treffen auf die Interessen von Bürgerinitiativen (prominentes Beispiel ist fraglos die bürgerliche Initiative „Wir wollen lernen“, mit der 2010 die Hamburger Schulreform zu einem längeren gemeinsamen Lernen weitestgehend gestoppt wurde), Verbände stützen oder kritisieren bestehende Schulsysteme und ihre Gliederungen (Deutscher Philologenverband vs. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft). Reformen der Schullandschaft stehen immer in einem historisch-politischen Kontext, der vielfach eine globale Dimension hat (Einheitsschule und Kommunismusverdacht im Kalten Krieg, Sputnikshock und Wissenschaftsorientierung). Wenn „die Wirtschaft“ in diesen Prozessen der Einflussnahmen eine Rolle spielt, dann oftmals, indem bestimmte Anforderungen an die Schullausbildung spezifiziert werden, durch die Schüler(innen) für ihre spätere Erwerbsarbeit passend (vor-)qualifiziert werden sollen (von der Rolle der Industrialisierung für den Bildungsausbau bis hin zu aktuellen Debatten um eine Ökonomisierung von Bildung im OECD- und PISA-Kontext).
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intensiv diskutiert oder gar beantwortet.18 Skizziert wird vage der in Aussicht stehende Innovationsgewinn für die Schulen durch die Wirtschaft: „The process of relocation of the specialised knowledge regarding tool production outside the factory or company that produces the final good allows companies to produce generic and multipurpose machines and tools that replace the specialised tools developed within specific firms. Functional specialisation creates a feasibility space for the generalisation and standardisation of the technologies and tools of production.“ (Foray/Raffo 2014: 1708) Dieses wirtschaftswissenschaftliche Phänomen einer Entwicklung von flexibel multifunktionalen Werkzeugen und Maschinen auf Grundlage einer Verlagerung von Wissen aus Produktionsfirmen hin zu räumlich getrennten Zulieferfirmen soll auf den Bildungssektor angewendet werden, wenn dieser nur zukünftig hinreichend wirtschaftsfreundlich und barrierefrei für die Bildungswirtschaft geöffnet wird, so die Autoren (vgl. Foray/Raffo 2014: 1714). Meine Analysen zur Arbeit der Bildungswirtschaft und den Herausforderungen durch die Spezifik ihres Absatzmarkts zeigen hingegen, dass und wie die Entwickler(innen) gegenwärtig darauf zielen, die Flexibilisierung ihrer Produkte innovativ zu optimieren. Die Wandelbarkeit der Bedeutung und Einsetzbarkeit der Dinge ist von entscheidender Relevanz für den finanziellen Erfolg der Entwickler(innen), eben auch, weil der Bildungssektor als Markt so ist, wie er derzeit ist. Mit originär haptischen Materialien – verstanden als schulische Hardware –, die sich in verhältnismäßig kleinen Auflagen verkauft, kann nur Geld verdient werden, wenn sich diese (einmal entwickelten und arg kostenlimitierten) Materialien über eine lange Zeit verkauft. Daher können es sich die Entwickler(innen) nicht leisten, viele teure und separiert stehende Spezialdinge zu fertigen, in denen ein ganz bestimmtes Skript seine Materialisierung findet. Das Risiko ist zu groß, dass dieses Skript mit der nächsten Bildungsreform obsolet wird. Das zitierte „inscribing“ (Akrich 1992: 208) von Visionen in ein Objekt bzw. die „Festlegung eines Aktanten auf ein Skript“ (Schulz-Schaeffer 2011: 192) gilt es, möglichst revidierbar und flexibel zu gestalten. Dies erklärt den überwiegend modularen Charakter der Unterrichtsmaterialien, bei dem viele Alltagsdinge mit wenigen – möglichst multifunktionalen – Eigenproduktionen Collagen bilden. Das hierbei angestrebte harmonisch-passgenaue Ineinandergreifen der Einzelteile analysiere ich als eine Grammatik der Dinge. Je nach Satzbau eröffnen sich durch den Collagencharakter der Materialien verschiedene Möglichkeiten, Intentionen und absichtsvolle Schrittfolgen. Da man es sich nicht leisten kann, das Skript mit dem einzelnen Spezialding verschmolzen zu produzieren, kommt es zu einem Outsourcen der Skripte: Sie werden metaphorisch als Software
|| 18 Aufgrund der Komplexität dieser Frage halten die Autoren fest: „This is why it is perhaps better to leave the definition of innovation somewhat open. We propose therefore to take the expression of ‚innovation deficit‘ in the sense of a general phenomenon of stagnation in the ways educational services are delivered at any level (primary, secondary, etc.) [...].“ (Foray/Raffo 2014: 1709)
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konzipiert. Die Analogie zur IT-Welt ist belastbarer als es zunächst scheint: Insbesondere in den Anfangsjahren der Computertechnik, etwa seit den 1940er-Jahren, war eine klare Trennung von Hard- und Software, Daten, Datenträgern und Datenverarbeitern oft nur begrenzt möglich. Beispiele für diese Symbiosen gehen auf die Programmierung durch Lochkarten oder Verdrahtungen zurück (wie beim geheimdienstlichen Dechiffriercomputer „Colossi“ oder auch den Arcade-Spielautomaten der 1970er-Jahre, bei denen mit und durch die Hardware ein bestimmtes Spielprogramm schaltungstechnisch festverdrahtet war). Die Entwickler(innen) der Computertechnik sahen sich im Laufe der Zeit damit konfrontiert, dass Softwarelösungen große Flexibilität ermöglichten, während mit gebundenen Hardwarelösungen zwar eine spezielle Aufgabe sehr schnell und optimiert bearbeitet werden konnte, sie allerdings sehr statisch waren. Die Trennung von Soft- und Hardware hat sich heute weitestgehend durchgesetzt, was einer – gewiss auch ökonomisch bedingten – Entscheidung für Flexibilität und gegen Spezialisierung gleichkommt. Eben diese Flexibilität sucht die Bildungswirtschaft durch eine Trennung von (modular kombinierbaren) Einzelteilen und den zugehörig-schriftlichen Skriptionen auf Papier. Mit Blick auf Letztere kann von einer „Skriptsprache“ gesprochen werden. Auch dieser Begriff hat seine Entsprechung in der IT-Welt und bezeichnet dort eine überschaubare Programmiersprache, in der kleine Programme für alltägliche Aufgaben geschrieben werden. Diese Softwareskripte (auch Makros genannt) sind Helfer, die beispielsweise innerhalb eines größeren Programms (Office-Umgebung, Betriebssystem o. a.) ein determiniertes Bündel an aufeinanderfolgenden Befehlen und Deklarationen ausführen. Sie entlasten daher die Nutzer(innen), die bestimmte Arbeitsschritte und Anweisungen nun nicht manuell und einzeln vornehmen müssen, sondern automatisiert durchführen lassen können, indem sie einfach das Skript aufrufen. Mit Blick auf die Unterrichtsmaterialien ist die Analogie zum Skript letztlich die jeweilige Kopiervorlage, die zu einem bestimmten Versuch bzw. einer didaktischen Dingcollage gehört. Diese Zugehörigkeit ist dabei leicht lösbar, die Skripte sind austauschbare Peripherie (keine Einschreibungen sondern Zuschreibungen der Entwickler(innen)), mit denen die didaktischen Collagen programmiert werden sollen. Das Skript übernimmt dabei konkrete Aufgaben der Instruktion und Anleitung, die sonst (für jeden Versuch) von den Lehrer(inne)n geleistet werden müssten. Es entlastet somit, da nur das Skript zum Einsatz gebracht werden muss. Die globale Programm- und Laufumgebung – die auch das Regelsystem und die Optionen für die in ihr laufenden Skripte bereitstellt – ist das übergreifende Unterrichtsformat, der „Stationsbetrieb“. Dieser soll dann mit den Kopiervorlagen, den Dingen, den Kindern und ohne weiteres Zutun der Lehrer(innen) wie „von selbst laufen“.
5 Probieren und Aushandeln: das Kofferpacken In Kapitel 5 wird eine Brücke geschlagen: Es wird die Verbindung zwischen den Entwickler(inne)n (Kapitel 3) und ihren unterrichtlichen Produkten (Kapitel 4) gezogen. Dabei geht es – im doppelten Sinne – um die Bildung der Boxen. In den analytischen Blick genommen werden die Bildungsansprüche der Entwickler(innen) und ihre Tätigkeit beim zusammenstellenden Bilden des Koffers.
5.1 Kindorientierung als Begründungsfigur Bei der Bildung der Box wird von den Entwickler(inne)n vielfach auf die Begründungsfigur einer Orientierung am Kind zurückgegriffen. Dieses Rekurrieren auf bzw. dieses konzeptionelle Entwerfen von Kindorientierung durch die Entwickler(innen) wird vor dem didaktischen Bildungsanspruch ausgetragen, dass guter Sachunterricht die Interessen und lebensweltlichen Erfahrungen von Kindern berücksichtigen sollte.1 Auf Kind- und Lebensweltorientierung im Sinne und Diskurs sachunterrichtsdidaktischer Fachliteratur wird meinerseits in diesem Kapitel nicht weiter eingegangen. Vielmehr gilt es, sich von diesen Diskursen frei zu machen, um mit unverstelltem Blick und ohne Wertungen ein entdeckendes (Um-)Verstehen von Lebensweltorientierung innerhalb der Entwicklungspraxis zu ermöglichen. Wenn im Folgenden von Kind-, Erfahrungs- oder Lebensweltorientierung geschrieben wird, so geschieht dies in einem empirischen Sinne und mit dem Ziel, die Konzeption sowie den Gebrauch der Begriffe durch die Akteurinnen und Akteure zu analysieren. Es geht um die Frage, wie diese Prinzipien als entwicklungsleitend austariert werden. Die Entwickler(innen) berufen sich darauf, dass eine Orientierung am Kind eine wichtige Basis für die Gestaltung des Experimentierkoffers sein soll. Dadurch, dass mit dieser Box naturwissenschaftliches Lernen in die Schule gebracht werden soll, hat sie jedoch auch eine fachlich-physikalische Ausrichtung. Vor diesem Hintergrund kann die Frage gestellt werden, ob hiermit ein Spannungsfeld benannt ist, das die Entwickler(innen)
|| 1 Im sachunterrichtsdidaktischen Diskurs soll dabei insbesondere der Begriff der Lebenswelt Orientierung stiften. Lebenswelt „entspricht […] der Hoffnung, durch Abwendung von den Fachdisziplinen und ihren Lehrgängen und Vorgaben und durch Hinwendung zum Leben der Kinder selbst eine Ausgangsbasis für den Sachunterricht zu gewinnen.“ (Schreier 1999: 8) Kahlert fasst Lebenswelt als konstitutiv-deutende Begegnung von Mensch und Phänomen, bei der eine persönliche Welt und Sichtweise entsteht (vgl. Kahlert 2002). Eng verknüpft sind damit die alltäglichen und subjektiven Erfahrungen, die der Sachunterricht aufgreifen soll. Mit einer Orientierung an lebensweltlichen Erfahrungen, sollen diese bezüglich ihrer subjektiven Relevanz für Kinder bewertet werden, um – ausgehend von den Fragen der Kinder und nicht den Fragen einer Bezugswissenschaft (vgl. Scholz 2004: 11) – zu einem bildungswirksamen Verstehen und Handling der Lebenswelt zu gelangen.
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zu Kompromissen zwingt. Es folgt einleitend eine narrative Verortung einer der Autorinnen aus dem Entwicklungszyklus A. Frau Schleier und ich steigen aus dem Bus und in die U-Bahn, finden beide einen Sitzplatz und ich frage, welche der heute besprochenen Kriterien ihr denn besonders am Herzen liegen. Die Antwort kommt direkt, schnell und ohne Zögern, vielleicht meint sie, mich in diesem Punkt beliefern zu müssen oder die Gelegenheit für eine abgrenzende Selbstpositionierung nutzen zu können: Sie hätte zwar Verständnis für die wirtschaftlichen Überlegungen des Verlags und dafür, dass er sich refinanzieren müsse, ihr sei aber mit Priorität wichtig, ein naturwissenschaftliches Fundament für das zu legen, was noch kommen wird (Sekundarstufe, Universität). Ein Fundament, auf dem das spätere mathematische Gerüst aufgebaut werden könne. Sie berichtet mir von älteren Schüler(inne)n, mit denen sie in ihrer Bildungseinrichtung schon lange arbeiten würde, diese hätten die Experimente als Kinder immer gerne und oft gemacht – und nun hätten sie auch weniger Probleme mit der naturwissenschaftlichen Mathematik in der weiterführenden Schule. Somit seien ihr „das Kind“ bzw. „der Mensch“ und „das Wissen“ wichtig, resümiert sie, „wichtiger als die Restriktion des Materials“ oder die Finanzfragen und der Erfolg am Markt. (ÖPNV-Fahrt mit Frau Dr. Schleier nach dem Meeting 1A)
Diese Ausführungen könnten zunächst als eine naturwissenschaftliche Orientierung gedeutet werden, denen auf den ersten Blick eine gewisse Tautologie innezuwohnen scheint: Naturwissenschaften sind wichtig für Naturwissenschaften. Die Argumentation, dass es darum geht, eine Grundlage für das zu legen, was später im Bildungssystem kommt, zieht seine Bedeutung jedoch nicht nur selbstreferenziell aus der Existenz der naturwissenschaftlichen Schulfächer. Die Feststellung, dass es später mathematisch-naturwissenschaftliche Einzelfächer geben wird, wendet Frau Schleier zu einer speziellen Form der Kindorientierung: Grundlagen in den Naturwissenschaften sind im Sinne des Kindes. Sind sie vorhanden, wird das Kind dem Unterricht in der Sekundarstufe besser folgen können, fehlen sie, kann es zu Überforderungen kommen. Mit dieser Argumentation kann von Naturwissenschaften im Interesse des Kindes gesprochen werden. Dies muss noch nicht bedeuten, dass sich der daraus ergebende Sachunterricht an kindlichen Fragen orientiert. Dennoch kann – wie geschehen – darauf verwiesen werden, dass neben „dem Wissen“ auch „das Kind bzw. der Mensch“ wichtig sind.2 Herr Hansmann fährt in dem Kundengespräch auf der Messe damit fort, dass er anführt, die Verfasser der deutschen Rahmenpläne hätten schon Recht mit ihrer naturwissenschaftlich-technischen Schwerpunktsetzung für den Sachunterricht. Sie hätten sich sicher die Frage gestellt: „‚Wovon lebt dieses Land?‘ Es lebe davon, dass es Industrieprodukte exportiert.“ Es gebe in Deutschland weder nennenswerte Bodenschätze noch große Landwirtschaft und wir wären auch sicher „kein touristisches Mekka“. Also müsse man die Kinder rechtzeitig in ihrer Liebe zu und ihrem Interesse an diesen wichtigen Themen unterstützen. Herr Hansmann mahnt ruhig
|| 2 Mit dem Nachsatz „wichtiger als die Restriktion des Materials“ wird das vergangene Entwicklermeeting kritisch resümiert. Mit den Restriktionen des Materials ist die Reihenstringenz gemeint, die Vorgaben und kanalisierende Grenzen bzw. Bedingungen für die Entwicklung setzt (siehe Kapitel 4).
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aber bestimmt, dass – wenn nicht rechtzeitig damit begonnen wird, die Intentionen und Inhalte der Rahmenpläne umzusetzen –, „wir“ von „Generation zu Generation“ immer weiter zurückfallen werden. Bis dann am Ende auch das „Erdenken in Fernost“ stattfinden würde – und nicht mehr hier. Viele europäische Länder würden „da“ bereits arg hinterherhinken und daher steht „es“ (das Primat der naturwissenschaftlichen Themen im Sachunterricht) in den Rahmenplänen entsprechend verankert. („didacta“ 2013, am Messestand, 21.02.2013)
Die Intention und das Plädoyer von Herrn Hansmann scheint den Idealen von Frau Schleier letztlich sehr ähnlich: Auch Hansmann plädiert für einen konsequenten und frühzeitigen Kontakt zwischen Grundschulkindern und den naturwissenschaftlichen Themen im Sachunterricht. Seine Begründung verweist dabei nicht auf die Ansprüche, mit denen sich ehemalige Grundschulkinder in der Sekundarstufe konfrontiert sehen, sondern sie geht einen Schritt weiter: Es wird auf die Ansprüche eines gesellschaftlichen Kollektivs im globalisierten Wettbewerb verwiesen und auf die Notwendigkeit, ökonomische Innovationen hervorzubringen. Dabei liegt es sowohl im gesamtgesellschaftlichen Interesse, als auch im Interesse des individuellen Kindes, dass in der Grundschule die Liebe zu technisch-naturwissenschaftlichen Themen geweckt wird, so die Argumentation. Von beiden Entwickler(inne)n wird eine spezifische Form der Kindorientierung postuliert, indem – ausgehend von der Existenz naturwissenschaftlicher Schulfächer bzw. der Bedeutung der Naturwissenschaften für die ökonomische Entwicklung – herausgestellt wird, dass Naturwissenschaften für die Kinder bzw. ihre Zukunft bedeutsam sind. Auffällig ist, dass das eingangs vermutete Spannungsverhältnis (Kind- oder Wissenschaftsorientierung) von den Entwickler(inne)n so nicht als Problemstellung konzipiert wird. Mit den Plädoyers der Entwickler(innen) wird eine Orientierung am Kind nicht als Gegenpol zu einer Orientierung an der Physik in Stellung gebracht, es wird nicht von einem Spektrum zwischen zwei Endpunkten ausgegangen, vielmehr werden die Endpunkte argumentativ aufeinander gefaltet, sodass ein gemeinsamer Ausgangpunkt entsteht. Mit einer Orientierung an naturwissenschaftlichen Themen orientiere man sich auch am Kind. Diese Begründung einer fachlichen Orientierung als letztendlich am kindlichen Interesse orientierten Perspektive ist für ein konkretes Selektieren naturwissenschaftlicher Unterrichtsthemen und Aufgaben jedoch noch nicht zielführend. Vielmehr ist die bisherige Argumentation geeignet, um naturwissenschaftliche Themen von weniger relevanten (weil nicht naturwissenschaftlichen) Themen abzugrenzen: Angesichts der Breite naturwissenschaftlicher Themen, der Vielzahl naturwissenschaftlicher Schulfächer und der vielfältigen Ansprüche der Industrie kann geltend gemacht werden, dass jede im Ansatz naturwissenschaftliche Frage für die Zukunft (und damit auch für das gegenwärtige Kind und den Sachunterricht) wichtig sein kann. Während es mit dieser Argumentationskette bisher allgemein um Kindorientierung bzw. um antizipiert-kindliche Interessen ging, geht es in der Entwicklungspraxis prominent und spezifischer um ein Rekurrieren auf Erfahrungsorientierung.
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Erfahrungen und Erfahrungsbezug machen: die Suche nach Orientierung? Zu Beginn des Meetings, welches das erste Meeting an der Universität und ein Neustart der Entwicklung war, saßen Herr Schmidt, Herr Hansmann, Frau Prof. Dr. Kran und ich an einem Besprechungstisch. Frau Kran machte ihre Vorarbeiten transparent, indem sie mitteilte, was bisher gemacht wurde. Nachdem zum Thema „Optik“ schon viel mit Studierenden gearbeitet wurde, hätten sie (ihre Mitarbeiter und der Koautor Herr Prof. Dr. Peine) in der letzten Zeit geschaut, was für Erarbeitungen, Zusammenstellungen und Möglichkeiten vorhanden sind. Es ging dabei um die Frage: „Was haben wir alles?“. Das sei dann materiell aufgebaut und ausgebreitet worden. Dann hätte man geschaut, was man schon wirklich gut kenne, was gut funktioniere bzw. was man noch gerne besser umgesetzt hätte. Nach der Betrachtung „von der [dieser] Seite“, hätte man sich gefragt: „Wie geht es weiter: Wir brauchen auch ein Konzept“. Man brauche etwas das „den Rahmen bildet“, man könne nicht einfach wahllos irgendwelche Versuche zusammenstellen. Daraufhin habe man sich überlegt, dass es gut sei – auch vor dem Hintergrund der Ziele des Sachunterrichts –, dass man von der Lebenswelt der Kinder und der Erfahrungswelt der Kinder ausgehen sollte. Die Vorerfahrungen der Kinder seien aufzunehmen, „womit haben die denn eigentliche schon Erfahrungen gesammelt“. Man habe dann die Frage erörtert, „was ist realistisch an Erfahrungen schon vorhanden und was eher vielleicht auch noch nicht“. „Das“ sei dann nun hier und heute als Vorlage zur weiteren Bearbeitung und Diskussion gelandet. (Meeting 1B, die ersten Minuten) Frau Kran kommt zurück zu einem ihrer thematischen Punkte vom Anfang: „Mhhh, um nochmal eben was zu Ende zu bringen, was ich vorhin angefangen habe: Also diese Vorerfahrungsschiene, das is sozusagen die rechte äh die linke Seite, die da aufgemacht is. Da ham wir nur mal so ein paar Beispiele reingeschrieben.“ Schmidt macht ein bestätigendes „Mhmh.“ und blickt auf eine Tabelle, die auf das Whiteboard geschrieben wurde. Auf eben sie bezieht sich die Ortsangabe „linke Seite“: Die Tabelle hat drei Spalten, die erste (linke) ist beschrieben mit „Vorerfahrungen“, in ihr finden sich die Schlagworte „Licht und Schatten, spielerisch erweitern, Schattenfiguren“. Kran fährt mit der Vorstellung der nächsten (mittleren) Spalte fort: „Dann äh sollten wir weitergehen, auch, dass wir ‚NEUE Primärerfahrungen‘ anlegen.“ Schmidt stimmt erneut zu. In der zweiten Spalte („Neue Primärerfahrungen“) steht „Sehtest, optische Täuschungen“. Frau Kran erklärt: „Äh das kann natürlich in- im ersten [Schritt] auch schon bei manchen Kindern etwas sein [wie]; vielleicht haben die noch nie ein Kaleidoskop oder was in die- in der Hand gehabt. Kann auch da schon anfangen, aber (1) äh so diese neuen ähm Primärerfahrungen können vielleicht auch sowas sein wie optische Täuschung oder dass man eben auch mit seinem eigene Körper besser vertraut wird, das interessiert die Kinder auch immer SEHR: ‚Was kann ... wie weit kann ich sehen‘ und (.) äh ‚unter welchen Umständen kann ich ähm Dinge nich mehr sehen oder erkennen‘ oder diese bunten (1) ähm das, was man beim Augenarzt halt immer äh hat [Testdrucke für die Diagnose von Farbenblindheit]. Das könnte man da ja reingeben, um auch nochmal ein bisschen mehr an äh ... also verTIEF-en-de-re Primärerfahrungen ähm (1) reinzubringen.“ Schmidt bestätigte während der Ausführungen einige Male mit „Mhmh.“ und Kran kommt auf die letzte Spalte („Erweiterung fachbezogener Aspekte“) zu sprechen: „Dann äh ham wir da die (.) dritte Schiene. Und da ham wir gesagt, dass is die Erweiterung, das sind die fachbezogenen Aspekte, die gerade durch äh dieses Thema ‚Licht und Schatten‘ ja auch aufkommen und DIE auch anschlussfähig sein sollten (.) äh zum Physikunterricht, der dann ja später kommt.“ In der Spalte finden sich Schlagworte wie „Spiegelungen, Schatten, Linsen, Abbildungen, Farben, Licht, Licht & Wärme“. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 383–397, 00:19:40–00:20:55)
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Die beschriebene Tabelle proklamiert und spezifiziert Erfahrungsorientierung als leitendes didaktisches Prinzip, das den Rahmen für die konzeptionelle Entwicklung des Koffers bildet. Im Laufe des Meetings 1B und der folgenden Arbeitstreffen galt es, Experimentierstationen zu selektieren. Alle Stationen hätten nicht in den Kofferraum der Box gepasst, auch das Volumen der resultierenden Unterrichtszeit wäre zu groß gewesen. Daher war es unumgänglich, dass einige Stationen keinen Platz im Koffer bekommen. Beim Vorschlagen und Diskutieren verschiedener Materialien wurde regelmäßig darauf verwiesen, dass Kinder diese kennen (sollen). Für eine angestrebte Erfahrungsorientierung wurde dies als Pluspunkt und Fürsprache vorgetragen. Wurde ein neues Ding, das sich um einen Funktionärsplatz in der neuen Box bewarb (siehe Kapitel 4.3), vorgestellt, so wurden seine Kontakte zu Kindern wie besondere Qualifikationen und Eignungen hervorgehoben: Herr Hansmann hebt eine der Brillen auf, betrachtet sie und fragt, ob es sich dabei um „Polbrillen“ handelt. Herr Peine antwortet, fast etwas stolz klingend: „Mhmh, genau. (2) Und zwar die vom- die vom Kino, ne? Die kennt ja auch jedes Kind.“ Hansmann bestätigt mit einem zufriedenem „Mh mh.“ bevor Herr Peine weiter ausführt: „Die werden ja leider immer einfach weggeworfen hinterher, ne? Eigentlich kann man die gut mitnehmen (1) zum Experimentieren.“ (Meeting 1B, 2. Dokumentenseite, § 1201–1210, 01:29:51–01:30:09)
Auch wenn in Entwicklungszyklus B die Erfahrungs- und Lebensweltorientierung einen besonderen Grad der Explikation erreichte, war sie als Entwicklungsmaxime auch in Zyklus A präsent. Auch hier wurde sie vielfach – und oft als ein kindliches Kennen-Sollen – verhandelt: Das nachdenkliche Schweigen am Tisch scheint Herr Schmidt für Überlegungen zu der konkreten materiellen Ausgestaltung des Versuchs genutzt zu haben, er führt aus: „Das is vielleicht am besten, (1) wenn man irgendwas Rundes nimmt: ein Ball, irgend ne runde Scheibe. Weil, das kenne sie natürlich auch, wenn sie (.) igendwo spie:len, oder ...“ Schmidt spielt damit auf die Relevanz von Dingen an, die Kinder („sie“) aus ihrer Lebenswelt kennen und Frau Rabe stimmt mit einem „Mh mh“ zu – das jedoch etwas gleichgültig klingt. Schmidt fährt fort: „Des- die Pyramide is ja eher ungewöhnlich ...“ Frau Rabe wirft ein „Jaha“ ein, während von Herrn Schmidt fortgefahren wird: „Ja, also, da fährt man im Moment ja auch eher nicht hin.“ Diese – halb als Scherz gemeinte – Anspielung zielt auf die politisch instabilen Verhältnisse in Ägypten und die Nachwirkungen des „Arabischen Frühlings“, mit denen Unruhen, Ausschreitungen, Proteste und Revolten in Kairo einhergingen. Es macht aber auch erneut deutlich, was von ihm im Kern gemeint ist: Die Kinder sollen „die Dinge“ aus dem direkten Kontakt kennen. Ein Ball scheint für das Experiment zum Schattenwurf geeigneter als eine kleine Pyramide. (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, ab § 3127, 03:06:26)
Im Sinne dieses Kennen-Sollens lässt sich – wie von den Entwickler(inne)n oben getan – von „Primärerfahrungen“ sprechen: von unmittelbaren Begegnungen im Kontakt mit haptisch „echten“ Dingen. Die Dinge stehen beim Experimentieren aber nie für sich allein, sie sollen vielmehr durch ihren spezifischen Einsatz, durch ihre Eigenschaften oder Funktionsweisen und meist in Collagen zusammen mit anderen Dingen
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(siehe Kapitel 4.3) spezielle Phänomene oder Effekte vermitteln. Somit können die Dinge (z. B. das Prisma) als Vermittler für Phänomene (z. B. die Lichtbrechung) interpretiert werden. Es kommt somit eine weitere – und abstraktere – Erfahrungsebene hinzu. Beim nächsten Versuch geht es um Farb- und Beleuchtungseffekte. Hierbei kommen paddelbzw. kellenförmige Kunststoffteile zum Einsatz, die aus farbigem, halbtransparentem Plastik bestehen und die – leuchtet man mit einer Lampe hindurch – als Farbfilter fungieren. Die kleinen Kellen sind recht speziell-didaktische Dinge und dürften im Alltag eher nicht vorkommen. Das von ihnen eingefärbte Licht lässt sich auf alle möglichen anderen Dinge werfen – z. B. wie im aktuellen Versuch auf Puppenstuben und ihre kleinen Modellmöbel. Kran erklärt: „Wir ham das immer mal gesehen in irgendwelchen (1) Science-Zentren. Daa machen die ja ganze Wohnungen, gleiche, zwei gleiche Wohnungen und beleuchten die dann unterschiedlich oder auch eine Wohnung, wo dann auch (1) ganz viel Buntes drin ist und Menschen mit Kleidung irgendwie da drinsitzen. Und dann schaut man sich das halt unter verschiedener Beleuchtung an und dann hat man nen ganz anderen Eindruck. (1) Und das ist ja auch durchaus was, was man, ähm, jetzt vielleicht nicht unbedingt mit Möbeln, aber was [man] mit Kleidung oft hat. Ähm, dass man im Laden etwas, äh, Farbiges, sich kauft und kommt nach draußen und dann ist es Lila anstatt Blau, oder so, ja. Und, äh, die Effekte, das kennen Kinder ja auch schon.“ (Meeting 1B, 3. Dokumentenseite, § 444, 02:05:11–02:05:52)
Hier wird über ein Phänomen – das mit recht artifiziellen und modellhaften Dingen erzeugt wird – ein Erfahrungsbezug hergestellt und die Brücke zum Kind geschlagen. Resümieren lässt sich an dieser Stelle, dass zwei Ebenen der Erfahrungsorientierung unterschieden werden können: das Kennen von konkreten Dingen und/oder bestimmter Phänomene. Für die Entwickler(innen) bedeutet dies, dass sich nicht nur die Dinge dadurch legitimieren lassen, dass Kinder sie kennen, auch über die Phänomene, die durch Dinge erzeugt werden, lässt sich Erfahrung machen – also ein Kindbezug für das Produkt herleiten. Neben dem Ding- und/oder Phänomen-Kennen kann eine weitere Vermittlungsoption ausgemacht werden, die als wichtig deklariert wird, und über die Kinder neue Erfahrungen machen sollen. Mit dem folgenden Beispiel erreichen wir dabei eine dritte Ebene der Erfahrungen: Neben den Dingen, die im Unterricht als Vermittler für Phänomene fungieren sollen, können auch die Phänomene als Vermittler von (Un-)Bekanntem fungieren. Beim Thema „optischen Täuschungen, Effekt und Funktionsweisen des Auges“ gilt es nun, eine Art spiegelbasiertes Zoetrop-Karussell-Kino zu bewerten. Es ist ein sehr spezielles Einzelding, das etwas an ein Panoptikum erinnert: Es dürfte knapp 20 cm hoch sein, hat einen hölzernen Sockelfuß und eine runde umwandete Tellerfläche. An der Innenseite der Kreiswand ist eine Art Filmrolle mit vielen Bildern geklebt, in der Mitte von Gerät und Teller befindet sich eine zehneckige Säule, die mit zehn – den Bildern zugewandten – Spiegelrechtecken ummantelt ist. Herr Hansmann äußert sich dahingehend, dass er das Gerät – als Station – mit einem Fragezeichen versehen würde: Es würde viel Aufwand für einen „kurzen“ Effekt bedeuten. Das Gerät wird in Rotation versetzt und Herr Hansmann betrachtet die nun laufenden (Spiegel-)Bilder. „Also, funktioniert gut. (.)“ sagt er anerkennend und zufrieden. Frau Kran stimmt zu: „Funktioniert se:hr schön.“ und auch Herr Schmidt macht ein bestätigendes „Mhmh.“. Hansmann bezieht sich
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auf die kleine gedruckte Figur auf den laufenden Bildern (ein Schmied bei der Arbeit) und führt wertschätzend an: „Der macht au- auch obendrein was, was die Kinder gar nicht mehr kennen. Der schlägt immer mit einem Hammer auf einen Amboss.“ (Meeting 1B, 2. Dokumentenseite, § 844, 01:19:30)
Weder das exotische Spezialding, noch das von ihm produzierte Phänomen dürften – in dieser Spielart – vielen Kindern bekannt sein. Ein Daumenkino könnte eventuell als nächste bekannte Verwandtschaft angesehen werden. Diesbezüglich kann der Versuch also nicht gewürdigt werden. Es wird hingegen in einem wohlwollenden Duktus angeführt, dass das Gerät (mithilfe seines Phänomens bzw. seiner Technik) etwas zum Laufen bringt, „was die Kinder gar nicht mehr kennen“. Auch wenn diese Äußerung nicht als ernstlich gewichtiges Argument geltend gemacht wird, das die Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Station auszuräumen sucht, so ist die Anmerkung doch im Kern wertschätzend und dinglobend: Das historisch anmutende Gerät funktioniert gut und offeriert als eine Art „Zeitmaschine“ einen panoptischen Blick in die Vergangenheit, einen Blick auf die Arbeit verstrichener Epochen, auf früher alltäglichere Handwerkstätigkeiten, von denen sich die heutige Gesellschaft entfernt hat. Der legitimierend-vernetzende Griff zur historischen Perspektive des Sachunterrichts scheint nicht weit. In der Situation wird etwas als relevant konzipiert, weil Kinder es eben nicht (mehr) kennen würden. Dies passt zu der zweiten Spalte der tabellarischen Orientierungssuche, mit der die Notwendigkeit unterstrichen wurde, neben dem Aufgreifen von Vorerfahrungen eben auch neue Erfahrungen zu ermöglichen. Wie in den Erklärungen zur oben eingeführten Tabelle der Entwickler(innen) schon anklang, kann demnach nicht nur das relevant und orientierungsstiftend sein, was Kinder schon kennen, auch das, was sie (noch) nicht kennen kann als Selektionsbegründung fungieren. Eine neue relevante Primärerfahrung könnte z. B. darin bestehen, dass Kinder erstmals ein Kaleidoskop in die Hand nehmen, so die zugehörigen Ausführungen, mit denen das Kaleidoskop beispielhaft als den Kindern unbekanntes Ding legitimiert wird. Mit Blick auf die Beispiele des Schon-Kennens kann von einer Relevanzdualität oder einer bipolaren Argumentation gesprochen werden: Kinder kennen Kaleidoskope o. Ä. (nicht), deswegen sind sie konzeptionell brauchbar und ein Ansatzpunkt für das Lernen. Sowohl das Kennen als auch das Nicht-Kennen kann für ein Ding oder Phänomen sprechen. Im Sinne des Kennen-Sollens wurde z. B. auch die Relevanz der Lupe für den Koffer unterstrichen. Frau Kran plädiert dafür, dass eine Lupe „auf jeden Fall dabei sein“ muss und Herr Schmidt signalisiert seine Zustimmung. Kran führt weiter aus: „Ne? Das is ne Lupe. Und die kennen die Kinder ja auch.“ Auf dem Tisch liegen verschieden klassische Lupen und lose Glaslinsen. (Meeting 1B, 2. Dokumentenseite, § 777–783, 01:17:57–01:18:24)
Während das Kennen hier als Plädoyer für die Lupe genutzt wird, wird mit den folgenden Ausführungen eine Wendung vollzogen.
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Es geht bei der Auswertung und Umsetzung der Erprobungsergebnisse nun um die „Tendenz zur Ablehnung und Kritik“ an den Experimentierstationen. Die Station, die gerade Thema ist, hätte immer wieder nicht richtig funktioniert und die Kinder hätten „das nicht rausgefunden, was sie rausfinden sollten“. Es sei nicht klar, woran es liege. Herr Schmidt erkundigt sich danach, wie die benötigten Lupen in der Erprobung abgeschnitten hätten. Herr Hansmann hat die Ergebnisse: „Nein, also da hat sich keiner für begeistert. In der Interviewfrage war ja: ‚welche Stationen waren bei den Kindern besonders beliebt, besonders beliebt?‘ ...“ Herr Schmidt unterbricht: „Das ist sehr interessant, weil Kinder eigentlich mit den Lupen gerne rumspielen, ne?“ Hansmann nimmt das auf: „Hm bei der Lupe war die Ausnahme die, dass die Wassertropfenlupe immer ein Renner war. [Zustimmung am Tisch] Die haben sie gerne gemacht.“ Frau Kran sucht nach einer Erklärung für das Untergehen der klassischen gegenüber der exotischen Lupe: „Also vielleicht haben die Kinder ja auch schon relativ viel Erfahrungen mit Lupen, sodass ihnen das hier nicht mehr als besonders attraktiv erschien.“ Damit löst sie zustimmende Reaktionen aus, Schmidt meint: „Das kann sein.“ (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite § 156–166, 00:20:03–00:21:12)
Die Vorerfahrungen der Kinder, die es zu berücksichtigen gilt und die bisher mit dem Prädikat des „das kennen Kinder“ lobend ausgewiesen wurden, werden nun problematisiert. Als fürsprechendes Argument wird das Schon-Kennen negiert. Durch diese Argumentationsnegierung kann das Entwicklungskriterium des Schon-Kennens sein Vorzeichen wechseln. Aus dem positiven (anerkennend anzustrebenden) „das kenne die Kinder“ wird ein negatives (kritisierend vermeidendes) „das kennen die Kinder doch schon“. Dies führt die Entwickler(innen) zu der Erklärung, dass die Lupe für Kinder weniger attraktiv erscheinen könnte, eben weil sie sie schon kennen. Mit dieser scheinbaren Eröffnung von Begründungsflexibilität durch eine doppelte Argumentationsrichtung soll dem Entwicklungsprozess keineswegs eine generelle Beliebigkeit unterstellt werden. Der Balanceakt, das Bekannte und das Neue planerisch auszuhandeln, zu verbinden und in eine konzeptionelle Lernform zu bringen, scheint jedoch weniger leicht tabellarisch darstellbar, als es zunächst erscheint. Für das Vorplanen dieses Lernens gilt es, nach dem Verhältnis von kindlichen Erfahrungen, Wissensbeständen und Interessen zu fragen, da diese nicht einfach gleichgesetzt werden können. Der Verleger Schmidt nimmt Bezug auf die Beispiele der Tabelle und die Spalte der Vorerfahrungen: „Bei den Vorerfahrungen (.) würd ich vielleicht nochmal einwerfen: Ich kann mir gut vorstellen, dass auch wenn Kinder ein Kaleidoskop kennen, [sie] nich wissen, dass da ein Spiegel drin is.“ Kran bestätigt sehr entschieden („Mhmh. Stimmt.“) und Schmidt resümiert: „Sie sich nich darüber im Klaren sind, was da drin eigentlich passiert.“ Krans Gesichtsausdruck signalisiert großen Konsens, sie sieht den Punkt: „Das is wichtig, ja. Ja.“ Herr Hansmann bringt sich ein: „Das ist das, was Sie vermutlich damit meinten: Welche Erfahrungen, welche Fragen sind da?“ Kran sagt „Ja.“ und Schmidt macht ein zustimmendes „Mhmh“. Hansmann fährt fort: „Also, wir unterstellen immer, dass Kinder, (1) w:enn sie so ein Kaleidoskop haben und kennen, dass sie sich dann auch irgendwann mal gefragt haben: ‚Und wie passiert das?‘ und dann die Tendenz hatten, es auseinanderzunehmen.“ Frau Kran und Herr Peine stimmen zu. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite § 453–434, 00:22:19–00:22:51)
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Über die Ausführungen wird eine Trennung zwischen Vorerfahrungen und Vorwissen vorgenommen: Auch wenn schon Erfahrungen zu einem Ding oder Phänomen vorliegen (die Kinder es also schon kennen), bedeutet dies nicht, dass sich ihre darauf bezogenen Wissensbestände nicht noch erweitern lassen. Wenn Kinder ein Ding haben und kennen, also Erfahrungen mit diesem gesammelt haben, es aber zugleich noch etwas Unerklärliches bereithält, etwas das Fragen aufwirft, so sei das Interesse und die Motivation, sich mit dem scheinbar Bekannten zu befassen, groß. Dies soll in diesem Falle dazu führen, dass die Kinder letztlich zu Wissen gelangen, über das sie zuvor nicht verfügten. In der Situation wird die Funktionsweise des Kaleidoskops über Spiegel beispielhaft für ein solch erweitertes Wissen angeführt: Die Öffnung des Kaleidoskops soll zu einer neuen Einsicht führen, die bisher (bei der sinnestäuschenden Sicht durch das Kaleidoskop) verborgen blieb. Mit dem Öffnen bzw. dem dekonstruierenden Auseinandernehmen wird eine materielle Dimension hervorgehoben, die sich wie folgt interpretierend lässt: Es ist von Vorteil, wenn ein potenzielles Ding des Koffers einen (auflösbaren) Blackbox-Charakter hat. Dass sich im vermeintlich Bekannten noch Neues entdecken und erschließen lässt, gilt auch für die oben behandelten Lupen. Die Lupe kann prinzipiell Fragen aufwerfen, die auch manchen Erwachsenen zu irritieren vermögen: Warum vergrößern unterschiedliche Lupen unterschiedlich stark? Warum kippt das Bild in ihr ab einem gewissen Punkt? Warum ändert sich die Vergrößerung mit dem Abstand zwischen Auge, Linse und Gegenstand? Auch durch die Lupe lässt sich neues und schulförmig explizierbares Wissen vermitteln. Jedoch ist die Lupe keine Blackbox, sie ist augenscheinlich transparent und kann nicht dekonstruierend geöffnet werden, um einen Blick auf ihre Funktionsweise freizulegen. Ihre Durchschaubarkeit steht dem schulischen Lernen im Weg. Zu dem nun betrachteten Versuch gibt es allerlei Materialproben, durch die man unterschiedlich gut hindurchsehen kann. Bei den Proben handelt es sich um kleine Rechtecke aus Papier, Pappe, Holz und (Plexi-)Glas. Die Proben lassen sich an eine kleine Wäscheklammer übergeben, die es dem Experimentator abnimmt, die Probe selbst in die Höhe halten zu müssen. Die Wäscheklammer wiederum ist an einem blauen Kunststoffstab befestigt, der etwa 25 cm senkrecht in die Höhe ragt und in einem kleinen Brocken aus Knete steckt. Mit einer Taschenlampe lassen sich die Proben dann bequem anstrahlen, hinter sie kann eine weiße – etwa Din-A4 große – Leinwand gestellt werden, auf der sich der Schatten begutachten lässt. Herr Hansmann betrachtet den Aufbau und fragt, was es den Kindern bringen soll: „Das wissen die doch, dass (.) dass Materialien unterschiedlich durchsichtig sind, es durch sie unterschiedlich durchscheint.“ Kran verteidigt den Versuch und führt an: „Das hatten wir jetzt auch mal mit Kindern gemacht, und was die Kinder sehr fasziniert, ist, dass das tatsächlich so IST. Es ist erstaunlich, wie wenige Erfahrungen – bewusste Erfahrungen – in dem Bereich vorliegen“ Die Kinder, mit denen man diesen Versuch gemacht hätte, hätten nach kurzer Zeit angefangen, Proben übereinanderzulegen, die Schichtdicke zu vergrößern und zu fragen, bis „wann geht es noch durch?“ Kran führt weiter aus, dass das wie beim Schwimmen und Sinken sei: „Kinder wissen schon, dass Schiffe schwimmen und Dinge untergehen, aber darüber reflektieren und sich das mal bewusst zu machen, das ist gar nicht so ...“ Hansmann wendet ein, dass es nicht in tabellarische Notationen auf Arbeitsblättern „ausarten“ sollte, im Stil von schlichtem: „ist durchlässig, ist nicht durchlässig“. Er hätte nur Kinder erlebt, die davon gelangweilt waren und hält den Versuch daher für schwierig.
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Frau Kran wiederholt, dass nach ihren Erfahrungen die Kinder davon fasziniert waren. Kritischinteressiert fragt Herr Hansmann, was Frau Kran denn getan hätte, damit die Kinder „fasziniert dran waren“ und Frau Kran antwortet, die Kinder hätten weitgehend selbstständig damit experimentiert. Sie hätten eben Dinge übereinandergelegt und festgestellt: „Plötzlich gibt es einen Schatten, da wo vorher Licht noch ganz gut durchging bzw. gibt es einen hellen Schatten der plötzlich dunkler ist.“ Herr Peine stimmt dem zu und Frau Kran berichtet weiter davon, wie die Kinder ihre eigenen Fingerkuppen durchleuchtet hätten. Kran resümiert „und man müsse sagen, es sei tatsächlich ja nicht ganz offensichtlich. Auch die Studierenden hätten Fehlvermutungen angestellt ...“ Herr Peine hält die Fürsprache weiter: „Es ist auch anschlussfähig: die Röntgenstrahlung vom Zahnarzt mache das gleiche ...“ Kran stimmt entschieden zu („Ja!“) und Peine ergänzt: „Sie durchleuchtet mich ja plötzlich“. Schmidt kommentiert wissend: „Durch die Finger leuchten machen Kinder sowieso immer als Erstes.“ Währenddessen geht Kran durch den Raum und kommt mit Röntgenbildern zurück, die menschliche Gebisse, Zähne und Kiefer zeigen. Wir betrachten die Bilder und Frau Kran führt an, dass auch diese die Kinder enorm fasziniert hätten. Peine deutet auf den Versuch mit den Materialproben und resümiert: „Und das ist die Vorstufe.“ Kran nickt: „Das schließt natürlich schon einiges auf, von dem was die Kinder natürlich auch selbst erleben. Jedes Kind muss irgendwann ...“ Schmidt ergänzt: „zum Zahnarzt“. Frau Kran setzt abschließend noch einen drauf: „Und viele Kinder haben auch eigene Röntgenbilder.“ Argumentativ wird hierauf nicht weiter eingegangen, man schreitet zum nächsten Versuch. (Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 560–660, 02:32:18–02:36:54)
Diskutiert wird eine Ontologie des Kindes. Hansmann eröffnet die kritische Debatte mit dem Einwand, dass Kinder „schon Wissen, dass“ es sich mit dem Phänomen so verhält, wie es sich verhält: Unterschiedliche Materialien sind unterschiedlich lichtdurchlässig. Die verbundene Kritik ist, dass es den Kindern daher wenig bringe. Kran reagiert zunächst nicht mit einem expliziten Verweis auf Wissensbestände, sondern bleibt bei Erfahrungen: Es ginge darum, „bewusste“ Erfahrungen zu initiieren, da diese bei Kindern erstaunlich oft fehlen würden. Dass es „tatsächlich so ist“, sei für Kinder sehr faszinierend, so Frau Kran. Das bloße Wissen um etwas sei also nicht gleichzusetzen mit dem bewussten Erfahren und nicht immer ist das Wissen primäres Ziel der (grund-)schulischen Beschäftigung. Damit unterstreicht sie die Relevanz, sich mit dem Phänomen praktisch zu befassen, und rekurriert im Anschluss auf den zu erwartenden Forschungsverlauf als engagierte und reflexive Auseinandersetzung der Kinder mit dem Material (Schichtdicke erhöhen um Durchlässigkeit zu senken). Um die Unterscheidung zwischen Wissensbeständen und reflexiven Erfahrungen durch Beschäftigung weiter zu stärken, führt sie ein parallelisierendes Beispiel an: Kinder wüssten auch, dass Schiffe schwimmen und viele andere Dinge untergehen. Dieses bloße Wissen mache eine Beschäftigung mit dem Phänomen aber noch nicht obsolet. Bei diesem Punkt widerspricht Hansmann nicht grundsätzlich, er denkt ihn jedoch schulisch bzw. im Format des Koffers weiter und gibt zu bedenken, was aus seiner Sicht nicht die Beschäftigung und Zielsetzung „ausartend“ dominieren darf: ein einfaches Prüfen und tabellarisches Dokumentieren im Stil von „Material X ist lichtdurchlässig“. Zudem leitet er aus seinem anfangs vorgebrachtem Kritikpunkt (Was soll der Versuch den Kindern noch bringen?) einen weiteren skeptischen Ver-
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weis ab: Seiner Erfahrung nach würde der Versuch die Kinder langweilen, es sei mangelndes Interesse zu erwarten. Damit grenzt er sich von Krans Position ab, die ihrerseits von zu erwartender Faszination ausgeht. Hansmann stellt hierauf bezogen die Frage nach der aktiven Rolle von Frau Kran für diese beobachtete Faszination der Kinder. Diese Frage ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der Koffer – wie in Kapitel 4 dargestellt – ohne das aktive Eingreifen erfahrener und fachlich gebildeter Lehrer(innen) funktionieren muss. Frau Kran lässt sich jedoch nicht darauf ein, die Faszination der Kinder mit der Präsenz ihrer Person zu verknüpfen und entgegnet, dass die Kinder selbstständig in der beschriebenen Weise experimentiert hätten, der Versuch also unabhängig von Lehrer(inne)n ein Selbstläufer ist. Um dies weiter zu plausibilisieren, führt sie an, dass das Phänomen bzw. die Auseinandersetzung mit diesem nicht trivial seien, es vielmehr ein Überraschungs- und Entdeckungspotenzial biete: Auch Studierende hätten hier – wahrscheinlich im Rahmen eines Hypothesen aufstellenden und prüfenden Verfahrens – „Fehlvermutungen“ angestellt. Diese Fehlvermutungen dürften die Frage betreffen, welche konkreten Materialien lichtdurchlässig sind und welche nicht. Damit liegen sie nahe an dem Wissenszuwachs, den Hansmann als unzureichend einschätzt: Das Wissen um ein bestimmtes Material X und seine Eigenschaft („ist durchlässig, ist nicht durchlässig“). Diese Wissensbestände zu einzelnen Materialproben werden hinsichtlich ihrer Relevanz letztlich unterschiedlich eingeschätzt. Die generalisierende Erkenntnis in Form eines schulischen Lösungssatzes könnte sein: Verschiedene Materialien können unterschiedlich lichtdurchlässig sein. Da eben diese Generalisierung den Kindern jedoch bereits als Wissensbestand verfügbar ist, sieht Hansmann wenig Nutzen in der ausführlichen und herleitenden Beschäftigung mit den Materialproben. Dass Kinder und Studierende über dieses allgemeine Wissen bereits verfügen, stellt auch Frau Kran nicht in Abrede. Sie hält das Vorhandensein dieser Generalisierung jedoch für unproblematisch und möchte beim Untersuchen einzelner Materialien ansetzen. Ungeachtet der vorhandenen Generalisierung gelte es, über dieses Wissen zu reflektieren und es sich „bewusst zu machen“. Die aufmerksame Beleuchtung einzelner Materialproben scheint hierfür als wichtig angesehen zu werden. Um den Versuch zur Lichtdurchlässigkeit weiter zu verteidigen, nehmen Kran und Peine abschließend eine mehrschrittige Annäherung des Phänomens an das Kind vor. In dem als erwartbar skizzierten Szenario wird das Kind bzw. der kindliche Körper selbst zum Bestandteil der Versuchsanordnung gemacht: Über die Durchleuchtung des Daumens als äußere Extremität bis zur Röntgenaufnahme vom inneren Kopf bzw. Kiefer wird das Kind letztlich Teil des Phänomens. Auch diese Argumentation von Kran und Peine ist vor dem Hintergrund der Orientierung an kindlichen Vorerfahrungen zu verstehen, die Frau Kran mit ihrer Tabelle als rahmenbildend für die Entwicklung der Box postuliert hat. Durch die gesteigerte Nähe des Phänomens zum Kind wird das Schon-Kennen unterstrichen und zur konzeptionellen Legitimation des Versuchs genutzt. Es wird werbend die Anschlussfähigkeiten zum Kind, seinem Leben und der Physik aufgezeigt: Der Versuch
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sei eine „Vorstufe“ bzw. Grundsteinlegung für physikalische Techniken wie das Röntgen. Mit dem Röntgen ist nicht nur ein gleichnamiger Physiker in die Annalen seiner Disziplin eingegangen, es sei auch ein unmittelbarer Bezug zum Kind benannt, da das Kind selbst – also der eigene Körper – im Alltag regelmäßig durchleuchtet würde. Kinder wären demnach persönlich betroffen und oft auch selbst im Besitz der materialisierten Produkte dieser Prozedur: Sie kennen Röntgenbilder ihres Körpers nicht nur, sie haben sie auch, so die Annahme. All dies dient der Plausibilisierung der proklamierten Faszination und der motivierten Forschungstätigkeit, die von den Kindern zu erwarten sei, wenn sie die Phänomene bzw. Dinge schon kennen, sie sich also auf der Grundlage von Vorwissen und Vorerfahrungen mit einem Phänomen befassen können. Dass auf diese Ausführungen nicht weiter eingegangen wird, ist dahingehend zu interpretieren, dass sie nicht greifen, da auch Herr Hansmann – die Kontraposition vertretend – vom Schon-Kennen ausgehend argumentiert, dieses bei ihm jedoch ein negatives Vorzeichen hat: Der Versuch ist aus seiner Sicht uninteressant, eben weil das Phänomen so nah an der Erfahrung und dem Wissen der Kinder ist. Man ist sich letztlich einig, dass Kinder sowohl Vorerfahrungen als auch Vorwissen zu dem Phänomen haben. Uneinig ist man sich, wie dies zu bewerten ist und was es für den Versuch bedeutet. Spricht es für oder gegen den konkreten Versuch? Wird er Kinder langweilen oder faszinieren? Letztlich findet sich in der Situation kein Konsens. Die Frage, wie kindliche Vorerfahrungen und Wissensbestände in den Entwicklungsprozess eingebracht und eingeordnet werden, führt zu teils kontroversen Einschätzungen und Diskussionen. Eine konsenshafte Orientierung an den angenommenen Fragen und Interessen der Kinder ist jedoch für den Entwicklungsprozess wichtig, um gemeinsam einen Erfahrungsbezug herzustellen, der als motivierend und förderlich eingeschätzt wird. Ob ein solcher Erfahrungsbezug zu machen ist, ist vom Einigungsprozess unter den Entwickler(inne)n abhängig. Gelingen derartige Einigungsprozesse nicht, kann dies auf lange Sicht den Entwicklungsprozess gefährden und scheitern lassen (Zyklus A). Um auf kindliche Erfahrungen zu rekurrieren und diese zu bewerten, nutzen die Entwickler(innen) vor allem eigene Erfahrungen, die sie mit Kindern gemacht haben. Auf dieser Grundlage kann die Einschätzung, dass Kinder bestimmte Dinge und Phänomen schon kennen, je nach Versuch für oder auch gegen diesen sprechen. Vorhandene oder fehlende Vorerfahrungen und verbundene Wissensbestände sind also nicht per se als förderlich oder hinderlich zu bewerten. Angenommene bewusste und unbewusste Erfahrungen, Wissensbestände und Interessen der Kinder stehen in einem wechselnden Verhältnis zueinander. Dieses kann schwerlich mit einer Formel beschrieben werden, die Erfahrung oder Wissen mit einem fest zugeordneten Vorzeichen versieht und zur Prognose von Interesse dient. Das Vorzeichen – also die Bewertung – des Arguments „das kennen Kinder schon“ kann erfahrungsbedingt wechseln. Es wird neben den persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Material auch durch das jeweilige Phänomen selbst
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bedingt. Mit der Analyse des Einbringens von Relevanzgewichtungen zu Phänomenen und deren angeschlossenen Verortung in der Erfahrung von Kindern geraten weitere Entwicklungspraktiken in den Blick.
Von der Schönheit der Phänomene Der gerade diskutierte Versuch thematisiert Polarisation. Zwei 3-D-Brillen aus Kinos bilden die Polfilter, die sich voreinander halten und drehen lassen, um bestimmtes Licht hindurch zu lassen oder zu blockieren. Blickt man nun durch diese filternden „Doppelgläser“ der Brillen und dabei auf einen kleinen durchsichtigen Kunststoffbecher, erscheint dieser in psychedelischen Farben und Mustern, die optisch etwas an einen Ölfilm in Wasser erinnern. So werden mechanische Spannungen des Plastikkörpers sichtbar. Frau Kran erklärt den Ablauf des Versuchs: „Setz die mal auf, diese Brille. So und dann schauen Sie mal den Becher an, was sehen Sie da? Sehen Sie schon?“ Herr Schmidt – der angesprochen wurde – antwortet trocken, was er sieht („Becher.“), und Frau Kran fährt fort: „Nen Becher? Und ist der irgendwie farbig schon?“ Herr Schmidt weiß, worauf es hinauslaufen soll: „Na, ich seh jetzt, also Sie meinen Spannung.“ Frau Kran bestätigt, dass es hier um die Spannungslinien gehen soll und gibt noch einen Hinweis, wie diese deutlich zu erkennen sind: „Ja, und jetzt schauen Sie mal damit durch.“ Sie meint damit die weitere Polfilterbrille und Herr Schmidt führt wissend an: „Ja, dann sieht man es natürlich.“ Frau Kran macht ein zufriedenes „Ne?“ und macht sich daran, den Versuch in möglichen Varianten für den Koffer zu beschreiben: „Genau. Das ist nämlich der Effekt, äh, und das müsste man nicht unbedingt als Brillen haben, das könnte man auch als kleinen Kasten (1). Ja, das funktioniert ja sehr gut, wenn man ...“ Schmidt unterbricht mit einer kritisch-zweifelnden Frage: „Ja, die Frage ist (1), ist das Grundschule?“ Von Herrn Peine hört man ein kurzes Lachen („Heh“), das so viel bedeuten könnte wie „gute Frage“ oder „das ist eine andere Frage“. Frau Kran antwortet postwendend und bestimmt: „Das ist n Phänomen, ja.“ Herr Schmidt entgegnet seinerseits ein „Ja.“ und Frau Kran fährt fort: „Das muss man, das ist wirklich n Phänomen und (1) die Kinder ...“ Schmidt unterbricht bedächtig: „Ich glaube, damit würden wir die Lehrerin total, also wirklich total, überfordern.“ Frau Kran mag nicht zustimmen und erwidert zweifelndseufzend: „Ja, das iss (.) zu diskutieren.“ Herr Peine wirft ein: „Es [das Phänomen] ist einfach nur schön.“ und Herr Schmidt stimmt hier zu: „Ja, schön ist es, das is, das ist nicht die Frage.“ Mit den Worten „Dann möchte ich es auch gesehen haben, wenn es so schön ist.“ klingt sich Herr Hansmann ein, während Frau Kran bilanziert: „Das ist wirklich, wirklich schön und ...“. Herr Schmidt nimmt nun die Rolle des Erklärers ein und informiert: „Hier ist, Sie haben jetzt den, den Analysator auf der Nase.“ Peine bestätigt diese Erklärungen: „Genau. Richtig (.) polarisiert, also. Genau.“ Schmidt: „Da müssen wir so ein bisschen drehen, dann sehen Sie so die Farbränder. Und wenn se dann drücken, dann sehen se diese Spannungs- ähm.“ Dabei wird der kleine Becher etwas mit Daumen und Zeigefinger zusammengepresst. Hansmann meint anerkennend: „Also funktionieren tut es schon gut.“ Auch hier stimmt Schmidt zu („Mhm“) und Herr Peine erklärt in werbendem Tonfall, dass man nicht auf den Becher angewiesen ist, um das Phänomen zu erzeugen: „Sie können jegliche Haushaltsfolie nehmen, ne. Die so ein bisschen zusammenknittern.“ (Meeting 1B, 3. Dokumentenseite, § 278–304, 01:57:53–01:59:03)
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Die Kritik an der Nutzbarkeit des Phänomens ist sehr deutlich: Der Versuch bzw. das Phänomen sei grundsätzlich nicht für die Grundschule geeignet. Es gehe weit über sie, ihre Lehrpläne und zugehörigen Wissensbestände hinaus und überfordere Lehrer(innen) entsprechend. Dennoch geben Frau Kran und Herr Peine das Phänomen nicht auf. Ihre Fürsprache scheint von einer spezifischen Wahrnehmungsqualität getragen und insistiert auf der „Schönheit“ des Phänomens. Es scheint das Gefühl für eine wichtige Ästhetik der Naturwissenschaften zu sein, auf dessen Basis das Phänomen gegen Widerstände verteidigt wird. Die „harten“ Naturwissenschaften und ihre Didaktiken scheinen hier eine gewisse Nähe zur ästhetischen Bildung, zur Reformund Kunstpädagogik aufzuweisen: Insbesondere eine Nähe zu Ansätzen, die rationales Denken bzw. Wissen nicht kategorisch über sinnliche Wahrnehmung stellen, sondern ästhetische Erfahrungen vielmehr als Ausgangspunkt für reflexive Bildung begreifen. Noch deutlicher wird diese Parallele in der weiteren Diskussion und dem Klarstellen, was nicht das Lern- bzw. Bildungsziel bei der Beschäftigung mit Polfiltern sein kann: Bezogen auf das Phänomen der bunten Spannungslinien am Kunststoffbecher hält Frau Kran fest: „Also wir können es [für die Grundschule] nicht erklären. Das ist ganz klar. Das kann man nicht erklären.“ Damit kommt sie der Kritik am Versuch – an dem sie eigentlich festhalten mag – ein Stück entgegen. Schmidt stimmt dieser physikdidaktischen Aussage zu, sein „Ne“ lässt keinen Zweifel: Das könne man wahrlich nicht in der Grundschule erklären. Frau Kran gibt relativierend zu bedenken: „Was wir aber haben, ist, dass die Kinder natürlich solche Brillen zu Hauf zu Hause liegen haben.“ Auch hier stimmt Schmidt zu: „Ja, das stimmt.“ Kran argumentiert weiter: „Und damit auch umgehen. Und insofern, äh, ist es eigentlich so was wie, ähm, lebens (1) weltliches Erfahrungs (1) -feld, was wir aufnehmen.“ (Meeting 1B, 3. Dokumentenseite § 321–325, 01:59:40–02:00:01)
Ausgehend von dem Konsens, dass das Phänomen in der Grundschule jenseits des Erklärbaren liegt, es nicht aufgeklärt werden kann und es demnach nicht zu einem echten naturwissenschaftlichen Wissenszuwachs führen kann, stellt sich die Frage, was nun aber für die Beschäftigung mit dem Phänomen spricht. Seine „Schönheit“ und die Funktionalität des Versuchs wurde zuvor kommuniziert und von den Kritikern anerkannt – jedoch auch als unzureichende Legitimation zurückgewiesen. Eines der Kontraargumente war, dass man Lehrer(innen) überfordere. Mit der nun eingebrachten Unerklärlichkeit erfolgt demnach auch eine Entlastung der Lehrkräfte und damit ein Eingehen auf die Kritiker: Wenn sich das Phänomen in der Grundschule nicht erklären lässt, braucht man es auch nicht versuchen. Zudem wird eine Begründungslinie vor die „Schönheit“ gezogen, die auch zuvor schon anklang, als Herr Peine auf die profane Haushaltsfolie verwies: Schon mit dieser Folie ging es um einen Bezug zur Lebenswelt der Kinder. Ferner wird nun auch für die Brillen selbst eine Nähe zum Kind postuliert und erneut (wie zuvor bei den Röntgenbildern) vom persönlichen Besitz der Kinder ausgegangen. Das Schon-Kennen der Dinge wird zu einem Proargument der Fürsprecher, mit dem das Phänomen verteidigt wird.
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Der Versuch wird von Hansmann und Schmidt weiter abgelehnt: Auch wenn man Rahmenpläne hier und da ruhig überschreiten dürfe, sei man mit diesem Versuch doch arg weit von der Grundschule weg – meinen sie. Kran gesteht zu: „Polarisation ist natürlich [in der Grundschule] kein Thema.“ Hansmann resümiert: „Ähm (1). Zum Glück sind ja genügend Versuche da, um zu sagen nachher, ‚das ist die Prioritätenliste‘. (1) Ähm, hier [bei dem Versuch zur Polarisation] wäre ich irgendwo am Ende der Prioritätenliste – auch wenn es schön ist.“ Von Herrn Schmidt hört man ein zustimmendes „Mhm“ während Frau Kran eine andere Platzierung auf der Prioritätenlist expliziert: „Dazwischen.“, sagt sie und meint das Mittelfeld. Herr Schmidt setzt einige Mal nachdenklich an („Ja, also eigentlich ...“), klingt zweifelnd, gesteht aber noch einmal zu, dass der Effekt bzw. das Phänomen gut funktioniert: „Wobei, hier kann man das natürlich super sehen.“ Damit scheint er Frau Kran aus der Seele zu sprechen: „Ja, das ist total schön.“ Schmidt klingt jedoch direkt kritisch-relativierend: „Aber ... im Endeffekt ...“, während Frau Kran vorschlägt: „Also vielleicht kann man (.) ich denk noch mal, ich denk noch mal drüber nach, ob wir das nicht vielleicht in diesen Bereich, ähm, der ‚Primärerfahrung‘ (1) hineingeben könnten. (2) In ne einfache (1) ner einfachen Art, ne? Das, das wär, das wär schon möglich.“ Die beiden Kritiker verweisen noch einmal kurz auf ihre Bedenken bezüglich der Erklärung, bevor man den Versuch erst einmal aufschiebt. (Meeting 1B, 3. Dokumentenseite, § 329–351, 02:00:33–02:01:48)
Während die Dinge (Brillen) als für Kinder bekannt vorausgesetzt werden, scheint das Phänomen in den Bereich bzw. die Spalte „neue Primärerfahrungen“ gruppiert zu werden. Die Erfahrung des Phänomens – das durch die bekannten Brillen sichtbar wird – könnte als das angestrebte Neue begriffen werden, das über ein fachliches Anschlusspotenzial verfügt. Als wenig später erneut das Thema „Polarisation“ diskutiert wird, wird jedoch das Phänomen selbst als „Vorerfahrung“ konzipiert: Herr Peine führt an, dass durchsichtiges Plastik unter den richtigen Bedingungen bereits dann bunt erscheint, wenn es vor einen leuchtenden LCD-Monitor gehalten wird. Daher würde gelten: „Und diese, diese Farbprägung sehen Kinder ja auch ständig.“ Kran stimmt zu und führt weiter aus: „Naja, du siehst ja schon, wenn du ne Sonnenbrille auf hast. Ne polarisierende Sonnenbrille, ähh, und aus einem Flugzeug schauend n, ähm ...“ Herr Peine nickt: „Es sind immer die Farben, ja ja.“ während Frau Kran berichtet: „Ja, wir ham ganz wunderschöne Fotos [mit diesem Phänomen] schon gemacht.“ Herr Peine stimmt zu und bietet beispielhaft die didaktische Frage an, ob diese Farben echt (also wirklich in der Welt vorhanden) sind. Kran sagt „Genau“ und fährt fort: „Das ist unglaublich, was das für ein Effekt ist. Und das kennen die Kinder schon, das glaub ich auch, also.“ (Meeting 1B, 3. Dokumentenseite, § 395–408, 02:03:20–02:03:47)
Hier wird erneut deutlich, dass die drei Spalten der Erfahrungstabelle (Vorerfahrungen, neue Primärerfahrungen, Fachbezug) sich nicht als klar trennbarer Dreischritt in der Entwicklungspraxis wiederfinden. Sie sind nicht unbedingt aufbauend verknüpft oder voneinander abgrenzbar: Sowohl die notwendigen Dinge (polarisierende Brillen, LCD-Monitore) als auch das Phänomen werden als bekannt konzipiert, ein erklärender Fachbezug wird ausgeschlossen. Die Bereiche der Tabelle gehen vielmehr flexibel ineinander über und bieten Angebote zur situativen Verortung konkreter Versuche. Mit den diskutierten Versuchen scheint es vor allem um das kontrollierte Erzeugen – also das Reproduzieren – von Phänomenen zu gehen, die es
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bewusst wahrzunehmen gilt. Auch vor dem Hintergrund der proklamierten Schönheit der Phänomene kann die Frage gestellt werden, ob mit der so zur Anwendung gebrachten Orientierung an kindlicher Erfahrung letztlich nicht vielmehr eine Orientierung an Phänomenen vollzogen wird. Der Bezug zu angenommenen kindlichen Erfahrungen ist das Ergebnis eines vielfältigen Konstruktionsprozesses, bei dem es – ausgehend von eigenen Erfahrungen und Relevanzbeimessungen – um eine argumentative Plausibilisierung geht. Mit dem Bezug zu kindlicher Vorerfahrung und Lebenswelt kann dabei argumentativ eine Verteidigung bestimmter Phänomene betrieben werden. Dies etwa dann, wenn kritisch angeführt wird, dass das zum Phänomen gehörende Thema curricular nicht in der Grundschule verortet ist. Mit dem Kapitel 5.1 ging es um die vielfältigen Bemühungen, Kind- und Erfahrungsorientierung als Begründungsfigur mit unterschiedlichen Facetten auf favorisierte Entwicklungsentscheidungen anzuwenden. Mit diesen Analysen rücken die Kriterien und Maximen der Entwicklung ins Interesse der Arbeit, die hinter der Begründungsfigur Kindorientierung liegen. Es erscheint lohnenswert, sich anderen Aspekten der Auswahl und Entwicklungskanalisierung zuzuwenden, die weniger prominent versprachlicht bzw. zum Konzept ernannt werden und die sich vielmehr in der Praxis als beobachtbar sowie relevant zeigen. Eng mit der aufgezeigten Schönheit der Phänomene verbunden ist ein solches Selektionskriterium, das schon mehrfach anklang und dem eine bedeutsame Rolle im Prozess der Entwicklung zukommt: Die unter schulischen Bedingungen produzierbare Effektstärke eines Phänomens.
5.2 Phänomenale Effektstärke Die Effektstärke bezieht sich auf die wahrnehmbare Deutlichkeit und Reproduzierbarkeit eines Phänomens. Von ihr ist die schulische Realisierbarkeit und Funktionalität der Versuche direkt betroffen. Ist die Effektstärke eines Phänomens nicht ausreichend stark, gilt der Versuch als problematisch. Die so verstandene Funktionalität unter schulischen Bedingungen ist für die Entwickler(innen) ein zu beachtendes Muss, das schon bei der Lehrplananalyse bedacht wird. Während des Vergleichs verschiedener Reader bzw. Kopien, die ausgewählte Synopsen und Zusammenstellungen aus den unterschiedlichen Lehrpläne zum Thema beinhalteten und sowohl von Hansmann/Schmidt als auch von Rabe/Schleier unabhängig voneinander zusammengetragen wurden, werden die verschiedenen identifizierten Themenblöcke auf Flipchart-Bögen geschrieben. Auf diese Weise entstehen sieben zur Gänze beschriebene Bögen und es gilt nun zu selektieren. Herr Schmidt macht einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen: „Vielleicht sollten wir das so machen, dass wir die wichtigsten Dingen an- (1) anstreichen oder das, was wir als nicht praktikabel erweisen einfach mal ...“ Schleier vervollständigt: „Ausstreichen.“ (Meeting 1A, 1. Dokumentenseite, § 100, 00:13:40)
Phänomenale Effektstärke | 161
Es geht um das Verfahren des Ausschließens von Lehrplan- bzw. Kofferinhalten. Noch bevor es an das Ausprobieren, Hantieren und Bilden von Dingcollagen geht, ist in dieser frühen Phase der Entwicklung die angenommene Realisierbarkeit zentral für das Fortbestehen einzelner Themen. Häufig wird von den Einschätzungen zum späteren Realisieren bestimmter Phänomene ausgehend argumentiert. Die Themen sollen „praktikabel“ sein und später ein funktionierendes Experimentieren zulassen. Hansmann fährt ohne lange Pause fort: „So, wie isn das äh, Frau Doktor Schleier, mir den farbigen Schatten? Kriegen wir das hin? Is das überhaupt machbar?“. Mit „farbige Schatten“ wird ein Punkt auf dem aktuellen Flipchart-Blatt angesprochen. Frau Schleier gibt ein angestrengt klingendes „Achhh“ von sich, gefolgt von einer kurzen Pause und der dazu passenden Antwort: „Ich würde das nicht machen.“ Hansmann fragt lakonisch „Streichen?“ und als Reaktion antwortet Herr Schmidt: „Man, man kriegt das hin, aber es isss ähmm ...“ Frau Schleier übernimmt: „Das is ... gehört zu denen, wo man sagt ‚hhhhhhha‘ [seufzend] ...“ Schmidt wirft ein „Jah.“ ein und Schleier fährt fort: „Da muss man wirklich die Bedingungen genau haben, damit das auch wirklich klappt.“ Schmidt übernimmt erneut: „Ja, mh, ja. Das is, is auch ... ähm aufwändig.“ Bereits zum Ende des Satzes schreitet Hansmann mit einem „So!“ ein, das ein ‚gut, weiter geht’s‘ kommunizieren soll. Der Punkt ist damit gestrichen. (Meeting 1A, 3. Dokumentenseite, § 167–177, 00:16:36–00:16:58)
Ausgehend von unsicheren oder schlecht zu kontrollierenden Bedingungen wird das Erzeugen von farbigen Schatten als schwer realisierbar abgewiesen. Derartige Bedenken führen (auch angesichts des großen Fundus der Lehrpläne, aus dem geschöpft wird) schnell zu einer Bereitschaft des Streichens. Das Einschätzen der naturwissenschaftlichen Machbarkeit verschiedener Phänomene scheint stark von Erfahrung, Intuition und Ideen bedingt. Im Beispiel ist auffällig, dass ein Konsens der Ablehnung hergestellt wird, ohne dass ein fachliches Argument benannt werden muss. Nicht nur in der Phase der Analyse von Lehrplänen war die Effektstärke vielfach ein Kernthema. Mit dem Entwerfen, Ausprobieren und Modifizieren der Versuche wendete man sich von einer angenommenen Effektstäke ab und dem hantierenden Erzeugen von situierten Effekten zu. Auch bei den Auswertungen der Erprobungen war die Effektstärke stets ein gewichtiger Punkt. Auf diese Funktionalität der Versuche können verschiedenste Materialmerkmale wirken, auch solche, bei denen man auf den ersten Blick keine funktionstragenden Eigenschaften vermuten mag. Es trat z. B. das Problem auf, dass unterschiedliche Farbgebungen nicht nur für die ästhetische Erscheinung von Dingen, sondern auch für ihr Funktionieren innerhalb einer bestimmten Versuchscollage relevant sind. Beispielhaft zu nennen sind etwa Wasserschalen, mit denen Spiegelungseffekte angestrebt wurden: Eine gelbe Schale ist hier weniger geeignet als eine schwarze. Auch bei vielen anderen Versuchscollagen können Eigenschaften einzelner Dinge variiert und Komponenten zwecks funktionaler Optimierung getauscht oder modifiziert werden. Aus der Relevanz der phänomenalen Effektstärke (dem deutlichen Hervortreten von dem, was man zeigen will) leitet sich die Bedeutung ab, die dieser Art der Feinjustierung zuteilwird.
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Optimierung von Effekten über Materialeigenschaften Es geht um die Besprechung des internen Prätests, der von den Entwickler(inne)n selbst durchgeführt wurde. Herr Peine berichtet, dass ihn der Versuch mit dem Prisma nicht überzeugt habe: „Ehm einmal is das Prisma ja schön, aber wenn man durchschaut, sieht man nich wirklich viele Farben. Auch wenn man mit dem Prisma auf das Papier schaut, sieht man eigentlich viele Effekte und Spiegelzeug und irgendwas, aber keine Farben.“ Nur unter bestimmten Bedingungen, wenn man das Prisma richtig vor das Gesicht halte, könnte man bestimmte Farben sehen „aber eigentlich auch nicht wirklich Farben, sondern nur eigentlich diese Gelbtöne.“ Schmidt macht ein nachdenklich zustimmendes „Mhm“ und Peine resümiert: „Und das finde ich jetzt für Kinder nich überzeugend. Erstens werden die wahrscheinlich alles Mögliche sehen, aber eben nich diese Farben, weil der weil das Phänomen so schwach ausfällt.“ Herr Hansmann fragt: „Woran liegt es? Is das Prisma nicht geeignet?“ Frau Kran kommt auf die Rolle der Kanten zu sprechen und Herr Peine stellt die Regel auf: „Ja, je größer das Prisma wird, desto besser, also wir habn bei uns drüben so ein ganz großes.“ Frau Kran stimmt zu („Da sieht man das besser.“). Peine gibt zu bedenken: „Bei kleinen hat man immer Probleme, aber son großes können wa gar nicht reinpacken, wir können ...“ Schmidt stimmt zu: „Ja wahrscheinlich würde das erstmal zu viel Platz [im Koffer] wegnehmen, möglichweise kann man ja nochmal über irgend son Glas, son gläsernen äh Kristall nachdenken“ Peine nickt und entgegnet bestimmt: „Ja, da sind die Farbphänomene immer viel deutlicher, son Multigeschliffenes gibt es ja auch schon ganz ganz billig oder ne Kugel vielleicht sogar ...“ Schmidt macht ein zustimmendes „Mhm“ und Peine führt noch einmal den Grund für die erwartbare Steigerung der Effektstärke an: „Der hat ja diese geschliffenen Flächen. Da sieht man ja immer Farben ...“ Hansmann nimmt resümierend Bezug auf die derzeitige Ausstattung der Station mit dem Prisma: „Also überzeugt nich und zwar vom Material her nich?“ Peine und Schmidt stimmen dem Fazit zu: Das Prisma überzeugt nicht. (Meeting 2B, 3. Dokumentenseite, § 226–243, 02:06:34–02:08:19)
Das Prisma als Lichtbrecher soll durch ein Ding getauscht werden, mit dem sich Licht leichter bzw. reproduktionssicherer brechen lässt. Für ähnliche – auf die Effektstärke zielende – Materialoptimierungen ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Mit den folgenden Ausführungen soll eine Art der Material- bzw. Collagenmodifikation analytisch aufgezeigt werden, mit der mehr als nur die Darstellungsoptimierung einer phänomenalen Effektstärke angestrebt wird.
Frisieren von Effekten durch Materialeigenschaften Mit der folgenden Station wird ein Kreisel besprochen, auf dem eine Newton-Farbscheibe angebracht ist. Sie ähnelt einem bunten Tortendiagramm und ihre farbigen Stücke verschwinden für den Betrachter mit dem Einsetzen der schnellen Drehbewegung. Die bunten Farben wandeln sich mit der Rotation in ein cremiges Grau. Mit dem Kreisel soll veranschaulicht werden, dass weißes Licht aus einem bunten Spektrum an Farben besteht. Hansmann meint: „[Ich] will dann da aber noch eins oben draufsetzen, also wenn (1) der Farbkreisel schon professionell gefertigt vorgegeben ist, dann sollte man vielleicht auch noch einen Schritt weitergehen und sollte fragen, ob es eine Möglichkeit gibt – technisch –, die äh sich aus dieser Box erstellen lässt, bei der also das Licht so gelenkt wird, aus einer Taschenlampe zum Beispiel, dass es wirklich nicht nur grau aussieht, sondern schon in Richtung Weiß geht.“ Damit moniert Herr Hansmann, dass das
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cremige Grau noch kein befriedigender Effekt ist: Die Farbscheibe sollte weiß werden. Der Verleger Schmidt lässt ein „Mhh, mhh, mhh“ von sich hören, das zweifelnd-skeptisch klingt. Er begründet: „Ich glaub das ist sogar physikalisch schwierig, weil ähm ...“ Hansmann klingt überspitzt euphorisch und wendet die Aussage („schwierig“) positiv: „... eine Herausforderung!“. Schmidt sagt ernst „Ja“, fährt dann jedoch fort: „aber dann müssten sie Reinstfarben haben, das ist, ich glaub das funktioniert nicht, also ich kenn [bei diesem Versuch] nur hell- maximal hellgrau.“ Herr Peine stimmt mit einem Beispiel zu: „Da haben selbst die Beamer immer Schwierigkeiten [Schmidt dazwischen: „ja, ja, eben“], die können ja immer Schwarz ganz schlecht darstellen, aber auch richtiges Weiß ist immer schwierig.“ Schmidt führt weiter aus: „Mhh, ja das ist tatsächlich ein physikalisches Problem. Die Theorie sagt das Licht, das Mischlicht, ist weiß, aber sie haben hier ja nur so nen halbes Mischlicht weil es ist ja auf jeden Fall reflektiert.“ Peine stimmt zu: „Ja klar, sie nehmen nur das Raumlicht und, genau.“ (Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 55–64, 02:08:12–02:09:18)
Wie hier der Verleger im Konsens mit dem Physikdidaktiker herausstellt, stößt die Collage aus Farbscheibe und Kreisel an Grenzen. Das Phänomen lässt sich in der Praxis des Versuchs nicht deutlich erzeugen. Es wird eher nachgestellt und modelliert: Der Farbkreisel ist als Modell zu sehen und soll für die farbliche Zusammensetzung von (vermeintlich) weißem Licht sensibilisieren. Der Kreisel zeigt andere physikalische Effekte, in seiner Drehbewegung etwa den gyroskopischen Effekt. Ferner klammern die von den Entwickler(inne)n angeführten physikalischen Argumentationen zum Mischlicht die Trägheit des menschlichen Auges und Gehirn aus, die einen entscheidenden Anteil am Effekt des Farbkreisels hat. Der Farbkreisel könnte auch zur Station „optische Täuschungen“ und ihrem theoretischen Hintergrund passen. Letztlich lässt der erzeugbare Effekt (verschwindende Farben) über seine Dingcollage, die als haptische Skizze einer physikalischen „Theorie“ angedacht ist, eine sichtbare Kluft zu dieser offen. Peine meint mit Blick auf die Farbscheibe auf dem Kreisel: „Man kann glaub ich auch ein ganz bisschen mogeln mit kleinen weißen Streifen dazwischen, ne.“ Dann würde die rotierende Scheibe weiß bzw. weißer erscheinen. Mit dem „Dazwischen“ meint er die Farbgrenzen der an Tortenstücke erinnernden Flächen. Diese sind derzeit lückenlos und könnten mit kleinen weißen Abständen („Streifen“) auseinandergerückt werden. (Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 84, 02:10:21)
Durch das „Mogeln“ soll etwas korrigierend besser zur Geltung gebracht werden. Diese Tätigkeit findet durch die Kodierung des Frisierens eine analytische Bezeichnung. Frisieren (im Sinn von Herrichten) stellt eine besondere Variante der Optimierung dar. Eine klassische Optimierung von Material besteht z. B. darin, ein Prisma durch einen multigeschliffenen „Fengshuikristall“ zu ersetzen, mit dem die Wahrscheinlichkeit, Zuverlässigkeit bzw. Funktionalität erhöht wird, einfallendes Licht anschaulich aufzubrechen. Handelt es sich beim Optimieren um eine Problembehebung, so ist das Frisieren näher an einem Workaround. Es handelt sich um einen Umweg, mit dem das eigentlich problematische Symptom umschifft wird. Das im Zentrum stehende Problem ist, dass der Farbkreisel nur bedingt das Phänomen der
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farbigen Zusammensetzung von weißen Lichtstrahlen hervorruft und effektiv (also über einen deutlichen Effekt) erfahrbar macht. Mit Blick auf den Versuch und das zugehörige Ergebnis (angestrebter Lösungssatz: Weißes Licht besteht aus bunten Farben.) hält Herr Schmidt fest, dass man mit dem Versuch kein richtiges Mischlicht habe: „Die Theorie sagt das Licht, das Mischlicht, ist weiß, aber sie haben hier ja nur so nen halbes Mischlicht weil es ist ja auf jeden Fall reflektiert.“ An diese Feststellung lassen sich weiterführende Fragen anschließen, die von den Entwickler(inne)n in der Situation nicht expliziert werden, die sich aber – gerade deshalb – für ein analytischbefremdendes (Um-)Verstehen eignen: Kann die Lichtfarbe gleichgesetzt werden mit der Körperfarbe des Farbkreisels? Wenn man kein „echtes“ Mischlicht hat, kommt es dann „wirklich“ zu einem Addieren von Farben? Ist der Effekt also der gleiche wie bei sich überschneidenden Lichtkegeln bzw. einer Lichtbündelung?3 Verneint man diese Fragen, kann angeführt werden, dass der Farbkreisel für die Aussage „weißes Licht besteht aus verschiedenen Farben“ nur eine Veranschaulichung ist, die auf den gyroskopischen Effekt und die Trägheit menschlicher Augen baut. Der Kreisel ist ein kognitiver Impuls: eine gedankliche Stütze, eine Vorstellungshilfe. Noch radikaler formuliert könnte angeführt werden, dass mit dem Kreisel und den angedachten „kleinen weißen Streifen“ ein Effekt erzeugt werden soll, der gar nicht der Lern-Effekt selbst ist, sondern er nur symbolisch für diesen steht und beim Erreichen der bestimmten Einsicht (dem Merksatz) helfen soll.4 Während die Spaltung von Licht mit einem Prisma deutlich „gemacht“ werden kann, gestaltet sich die Zusammensetzung der Ausgangsfarben zu weißem Mischlicht deutlich schwieriger, sie bedarf dieses Tricks bzw. dieses Workarounds. Dieser macht sich die Ähnlichkeit zweier Effekte zunutze: Ein schulisch gut zu (re-)produzierender Effekt (rotierende Objektfarben) wird als Doppelgänger, als Stuntdouble, für einen hier kaum sauber machbaren Effekt eingeschleust (farbiges Licht setzt sich in weiße Lichtstrahlen zusammen). Für dieses Doppelgängerspiel muss der erstgenannte Effekt frisiert, zurechtgemacht und hergerichtet werden, damit er als Double durchgeht. Neben der Idee, weiße Streifen auf der Farbscheibe einzubauen, wird eine weitere Variante des Frisierens diskutiert: Herr Peine überlegt zum Umgang mit dem Farbkreisel, dessen Effekt noch nicht überzeugt: „So eine ganz grellweiße Lichtquelle drüber [halten], ne?“ Man diskutiert am Tisch, was für Lampen sich hierfür eignen könnten. Schmidt meint kritisch zu einer vorgeschlagenen Lampe: „Das ist ne LED, das ist also das …“ Kran: „Ah, okay.“ und Hansmann fragt „Das funktioniert gar nicht?“ Schmidt entgegnet „Das funktioniert vermutlich nicht.“ Man nimmt sich eine Lampe aus der
|| 3 Natürlich könnte auch grundlegend angeführt werden, dass Farben keine Eigenschaften der physikalischen Welt sind, sondern eine vom Gehirn konstruierte Sinnesempfindung. 4 Mit „Lern-Effekt“ ist hier der Phänomenaspekt gemeint, den man – ohne hinreichenden Erfolg – auf dem Tisch materiell zu erzeugen versuchte. Er soll sich zu seinem (als fest zugehörig verstandenen) physikalischen Wissen versprachlichen und so als kognitiver Lernertrag verbalisieren bzw. prüfen lassen.
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vorhandenen Sammlung und richtet ihr Licht auf den Kreisel. „Es wird schon heller.“, meint Herr Peine, die anderen stimmen zu: Die rotierende Farbscheibe wirkt heller, weißer, farbloser. (Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 55–78, 02:08:12–02:09:49)
Das Frisieren scheint letztlich zu funktionieren, die Ähnlichkeit zwischen dem schulischen Demonstrations- und dem physikalischen Lerneffekt nimmt augenscheinlich zu. Nach der Produkterprobung wird jedoch die Einschätzung infrage gestellt, dass sich mit der Leuchtkraft der Lampe der Effekt auf der Farbscheibe an das gewünschte Ideal annähert. Die Erprobungsergebnisse resümierend meint Herr Peine: „Der Kreisel funktioniert schlecht, wenn man ihn jetzt dreht, dann sieht man wirklich nur son Dunkelgrau.“ Schmidt bestätigt dies („Ja, grau-grün“) und Peine ergänzt: „So wie die Wand. Das überzeugt eben auch nicht.“ Herr Schmidt fragt: „Sie habn mit der großen Taschenlampe da drauf geleuchtet?“ Peine führt aus: „Ja mhm die große Taschenlampe, finde ich, hat hier natürlich jetzt aus Kindersicht einen zweiten Nachteil, wie Sie sagten: Die ist eigentlich schon zu hell, weil wenn ich mit der großen Taschenlampe auf die bunten Farben, die ja schwach sind, leuchte, dann hab ich einen weißen Fleck. Dann is es (.) dann is es sowieso weiß. Dann kann man auch sagen: ‚Wenn ich [mit] ner Taschenlampe bunte Sachen beleuchte, werden sie weiß.‘“ Kran und Schmidt stimmen verstehend zu. Diese Einsicht, diese Beobachtung bzw. dieser abgeleitete Merksatz wäre ein Problem. Peine fasst zusammen: „Ok, dann kommen wir auf ein völlig falsches Schema.“ (Meeting 2B, 3. Dokumentenseite, § 244–252, 02:08:21–02:09:00)
Während der Effekt des Farbkreisels für sich genommen nicht genügend Ähnlichkeit mit dem angestrebten Lern-Effekt (bunte Farben im weißen Licht) hat und zum Erzeugen dieser Ähnlichkeit frisiert – also hergerichtet – werden muss, ist er nun (mit der großen Taschenlampe) überfrisiert – so die Einschätzung. Die starke Taschenlampe scheint aus kurzer Distanz die Farben der Umwelt wie ein optischer Staubsauger zu absorbieren. Die Gefahr, die gesehen wird, liegt darin, dass die Kinder über diese Beobachtung „völlig falsche“ Schlüsse ableiten. Auffällig ist, dass nicht die Frage diskutiert wird, ob nicht auch die intendierten Ableitungen, die von erklärend-theoretischen Merksätzen zur Lichtzusammensetzung gerahmt werden und zu betont richtigem Physikwissen führen sollen, von der Beobachtung des Farbkreisels aus betrachtet „falsche“ Schlüsse sind: Nicht buntes Licht wird durch Überlagerung zu weißem Licht, sondern eine bunte Pappscheibe erscheint durch die schnelle Drehung gräulich. Auch wenn mit den Lösungssätzen nicht behauptet wird, dass sich der Kreisel durch Drehung in weißes Licht verwandelt o. Ä., steht der Kreisel doch – wie beschrieben – eher symbolisch-modellhaft für die physikalische Aussage zur Lichtfarbe und Farbaddition. Als Effekt wird diese vom Kreisel und seinen rotierenden Objektfarben weniger vorgeführt als vielmehr imitiert. Theoretisch erscheinen beide Effekte eher verwandt als identisch. Hiermit soll nicht die Entwicklungsarbeit oder die Wahl des Versuchs kritisiert werden, es soll vielmehr herausgestellt werden, dass für die zielführende Entwicklung von den Akteurinnen und Akteuren im Konsens ein klarer Referenzpunkt hergestellt wird, von dem aus in Richtig und Falsch geteilt werden
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kann. „Fehlvorstellungen“ werden so in einem konstituierenden Sinne gemacht. Die Lampe tut innerhalb der Versuchscollage genau das, was sie tun sollte: Sie unterstützt das Imitieren des angestrebten Lern-Effekts durch den Demonstrationseffekt – jedoch macht sie es zu gut, zu intensiv. Ihr Effekt ist zu stark, es kommt beim Imitieren zu einem Overacting, das dramatisch über das Ziel hinausgeht. Mit dieser Übertreibung würde der intendierte Lernertrag gefährdet, da zu weitreichenden Generalisierungen eingeladen würde, die als nicht richtig klassifiziert werden. Eine weniger starke Variante des Frisierens wird von den Entwickler(inne)n im Folgenden beschrieben und favorisiert: Frau Kran erklärt zur neuen gedruckten Scheibe für den Kreisel: „Und was eigentlich diese Farbscheibe betrifft. Ehm, die ist einfach nicht ganz so stark von den Farben, also das is etwas blasser gehalten, und dann kommt auch also nich son komplett son strahlendes Weiß da hin, aber“. Herr Peine würdigt die Verbesserung im Effekt: „Ja, aber viel heller auch“ und auch Herr Schmidt lobt, während Herr Hansmann anführt: „Und man braucht halt auch keine Taschenlampe dafür“. Kran bestätigt das („Nein, dafür braucht man keine“), Schmidt sagt zufrieden: „Na, das is doch besser“. (Meeting 2B, 3. Dokumentenseite § 264–270, 02:09:46–02:10:07)
In dieser neuen Variante werden die gedruckten Farben auf dem Kreisel ausgebleicht. Man vergrößert also absichtlich weiter die Differenz zwischen der Kraft der Druckfarben und der Leuchtkraft von echten Farblichtern. Dies geschieht mit dem Ziel, sich der gewünschten Farbwahrnehmung und damit der angestrebten Ähnlichkeit zwischen dem Demonstrations- und dem Lern-Effekt in den Augen der Kinder anzunähern. Mit der Maßnahme, die Druckfarben ausdünnend zu schwächen, scheint vorerst eine Lösung gefunden, die den Demonstrationseffekt ausreichend herrichtet, ohne ihn dabei zu stark zu frisieren. Mit den Ausführungen wurden zwei Aspekte der Modifikation didaktischer Dingcollagen vorgestellt: Erstens die durch Optimierung angestrebte Sicherstellung einer ausreichend großen Effektstärke. Zweitens das durch Frisieren angestrebte Erzeugen von passgenauen Effektähnlichkeiten. Mit der ersten Modifikationsvariante soll ein Effekt in seiner Wahrnehmbarkeit verdeutlicht werden. Mit der zweiten Variante wird ein schwerlich in die Schule zu bringender Effekt, zu dem ein Merksatz formuliert wird, durch einen erzeugbaren Demonstrationseffekt gedoubelt. Beide Effekte ähneln sich hinsichtlich ihrer Wahrnehmbarkeit und können theoretisch mehr oder weniger eng verwandt sein. Um die Ähnlichkeit zu vergrößern, muss der Demonstrationseffekt dem Lern-Effekt angeglichen werden. Beide Formen der Collagenmodifikation deuten auf die Relevanz der Beobachtungsableitungen der Kinder. Diese Beobachtungsableitungen gilt es, durch gut sichtbare und herausgestellte Effekte zu ermöglichen – aber auch zu lenken. Das, was gesehen wird, muss arrangiert werden, und zwar so, dass die Schlüsse der Kinder zu den angedachten Wissensbeständen (z. B. Theorien, Modelle, Vorstellungen als Lernziele) passen. Anders formuliert: Die Entdeckungen der Kinder müssen im vorgeplanten Sinne funktionieren.
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Funktional Wissen entdecken und um Entdeckungen wissen Mit dem aktuellen Versuch ließe sich das Thema „Lichtstrahlen“ aufgreifen, erklärt Frau Kran. Es geht darum, dass ein abgeschatteter Spiegel angewinkelt hinter einem schmalen Sichtschutzaufsteller steht, dessen Fläche über Schlitze verfügt. Mit einer Taschenlampe soll auf den Spiegel geleuchtet werden, über den das Licht dann – sofern der Winkel stimmt – durch die Schlitze des Aufstellers zurückgeworfen wird. Zur Abschattung wurde ein Schuhkarton aufgestellt. Letztlich geht es darum, dass das Licht einen Weg zurück aus dem Karton finden soll: Rein- und Rausleiten ist die Aufgabe, der sich nun Herr Schmidt probierend annimmt. Frau Kran führt kritisch an: „Ja, das kann man jetzt ganz schlecht sehen. Dafür braucht man eigentlich wirklich ... WIRKlich nen dunklen Raum.“ Schmidt bestätigt diese Einschätzung („Jah.“) und Frau Kran nimmt erklärend Bezug auf den Schuhkarton: „Wir ham uns jetzt bemüht nen dunklen Raum (.) so ein bisschen herzustellen ... und dann kann man dann ... eben hier sehen: Da geht’s rein, da geht’s raus.“ Schmidt schiebt alles etwas zurecht, murmelt dabei etwas und sagt letztlich: „Da sieht man ihn [den Lichtstrahl] da, ne?“ Das Resultat ist nicht überragend deutlich, da ist man sich einig. Man muss eine ganze Weile probieren und Winkel variieren. Frau Kran führt an, dass die etwas spielzeughaft aussehende Lampe „auch nicht der Hit“ sei. Schmidt meint, sie wäre okay – wirklich stark tritt der Effekt jedoch immer noch nicht hervor. Herr Hansmann meint letztlich: „Ich würde (.) alle Versuche vermeiden, (.) äh bei denen man voraussetzen muss, dass die Kinder (.) schon wissen MÜSSEN, was sie sehen sollen, um es zu finden.“ Schmidt bestätigt diese Einschätzung („Ja Ja“). (Meeting 1B, 2. Dokumentenseite, § 1336–1383, 01:33:24–01:40:20)
Dem Versuch wird mit Skepsis begegnet – sein Vorstellungsgespräch für den Platz in der Box verläuft nicht gut, da seine Effektstärke als zu gering angesehen wird. Herr Hansmann nimmt mit seinem abschließenden Einwand nicht nur Bezug auf kindliche Beobachtungen, sondern auch auf das verbundene Wissen. Es wird eingeräumt, dass bei bestimmten Versuchen bzw. deren Effektstärken schon das Wissen um das vorhanden sein muss, was entdeckt werden soll. Kinder „sollen“ etwas Bestimmtes „sehen“ und „finden“, um das sie danach wissen sollen. Dieses Wissen soll bei den Kindern nicht als Grundlage für die Beobachtung vorausgesetzt werden, da sie noch nicht darüber verfügen (sollen). Frau Rabe, Herr Schmidt und Herr Hansmann arbeiten an einer Station, mit dem ein Regenbogen erzeugt werden soll. Hierzu greifen sie auf Wasserbecken, Wasserzerstäuber, Spiegel, allerlei Lampen und vieles mehr zurück. Das Problem liegt darin, dass die Effektstärke – also die Deutlichkeit und die Präsenz des Regenbogens – nur unter offenem Himmel, unter der weitestgehend unbedeckten Sonne, als ausreichend „angesehen“ wird. Der Versuch soll aber – dem Produktformat verpflichtet – im Klassenraum funktionieren. Allerlei Varianten des Versuchs im Besprechungsraum führen zu keinem befriedigenden Ergebnis. Bestenfalls konnte ein flimmernder Hauch von Regenbogenfarben, kleinflächig, tropfengleich und blass erzeugt werden. Herr Schmidt betrachtet den aktuellen „Versuch“ der Erzeugung und resümiert: „Nee, also ich seh hier auch nix. Also. (2)“ Hansmann sieht das ähnlich und fügt an: „UND wir müssen immer einkalkulieren: Wir WISSEN, was wir sehen sollen – die Kinder sollen ‘s entDECKEN.“ Frau Rabe stimmt zu: „Klar.“ bevor Herr Hansmann präzisiert: „Es muss sich ihnen aufdrängen.“ Schmidt nickt: „Mhmh, genau. (3)“ Mit dieser Kritik wendet man sich vorerst vom Regenbogenmachen ab und einem anderen Versuch und Thema zu. (Meeting 2A, 1 Dokumentenseite, § 1546–1550, 01:39:30–01:39:35)
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Während es schülerseitig um ein Finden gehen soll, ist die Aufgabe der Entwickler(innen) ein Verstecken. Die Entwickler(innen) wissen schon um naturwissenschaftliches Wissen und können es somit in der Regel leicht auch über noch nicht optimierte Versuchscollagen und bei entsprechend geringen Effektstärken im Phänomen wiederentdecken. Wenn jedoch selbst die Entwickler(innen) das Phänomen nicht finden, lässt es sich schwerlich aufgreifen und für Kinder verstecken. Denn die Kinder verfügen vielfach noch nicht über den so verstandenen Vorteil des Schon-Wissens. Ihre Suche kann daher schnell scheitern und von der vorgeplanten Richtung abweichen. Dies muss beim Verstecken bedacht werden. Das Versteckte muss auch sicher gefunden werden. Die zu arrangierenden Versuchscollagen – etwa eine zur Hälfte mit Wasser gefüllte Wanne, in der ein Spiegel verschränkt liegt – sollen in einem Maße funktional sein, dass sich das hervortretende Phänomen samt zugehöriger Ableitungen den Kindern letztlich „aufdrängt“. Es gilt, den schulischen Prozess der zukünftigen Beobachtung in der zeitlich und räumlich entfernten Entwicklungssituation zu determinieren. So konzipiertes „Entdecken“ im Schulkontext klammert möglichst jegliche Zufallskomponente aus, der Versuchsaufbau muss sicher funktionieren.5 Es geht erneut um das Erzeugen eines Regenbogens bzw. regenbogenartiger Farbeffekte und erneut ist das Ergebnis nicht befriedigend. Man hat zwei (etwa Din-A4-große) Sichtschutzaufsteller so nebeneinander auf dem Tisch stehen, dass ein kleiner Spalt zwischen ihnen frei ist. Hinter diesem Spalt (der mit einer Taschenlampe angeleuchtet wird) steht ein Prisma. Durch das kanalisierte Licht sollen Regenbogenfarben auf der Tischfläche hinter dem Versuchsaufbau erzeugt werden. Diese zeigen sich jedoch nicht und man ersetzt das Prisma durch einen mit etwas Wasser gefüllten, durchsichtigen Becher. Nach kurzem Schweigen und genauer Beobachtung deutet Frau Rabe auf einen Punkt hinter der Versuchsanordnung: „Hier unten“, sagt sie, und meint damit, den schwachen Effekt zu lokalisieren. Hansmann antwortet wenig überzeugt: „Naja, bloß das ist natürlich ... wir sehen das da hinein, wir finden das. Für die Kinder muss es Knall da sein. Wir gehen ja umgekehrt ran: Wir versuchen das zu erzeugen.“ Schmidt stimmt diesen kritischen Worten mehrfach zu und ergänzt dann: „Und wir sehen jetzt hier den Farbsaum von der Taschenlampe, (1) würde ich mal sagen.“ Frau Rabe macht ein etwas erschöpft klingendes: „Ja. Hahhh“, was so viel bedeuten könnte wie ‚Da haben sie wahrscheinlich Recht.‘ Schmidt wiederholt und präzisiert: „Also das is hier ... was wir hier sehen an Farbsaum, das is die Taschenlampe. Das hat nix mit dem- mit dem Becher zu tun.“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, § 1165–1175, 01:13:30–01:13:55)
Die prinzipielle Funktionalität der Versuchscollage wird von Frau Rabe proklamiert und von Herrn Schmidt zurückgewiesen, indem er – im Einklang mit Herrn Hansmann – ein Hineinsehen der Funktionsweise attestiert: Der Aufbau der Collage sei
|| 5 Dies betrifft auch die mit der Phänomenentdeckung verbundene Lernableitung. Sie soll nicht dem Zufall bzw. dem bloßen kindlichen Folgern oder den Lehrer(inne)n überlassen werden: Schriftsprachliche „Lösungsverstecke“ sind daher ein fester Bestandteil der Reihe – und auch sie sind in einer solchen Weise (auf dem Papier der Kopiervorlage) versteckt, dass sie mit Sicherheit gefunden werden.
Phänomenale Effektstärke | 169
nicht funktional, sondern überflüssig, der vermeintlich erzielte Effekt hat seinen Ursprung einzig in der Komponente der Taschenlampe. Demonstrations- und Lern-Effekt klaffen auseinander, das, was man sieht, sei also nicht das, was man zeigen und erklären will.6 Der entscheidende Punkt ist, dass das beobachtete Phänomen in der Entwicklungssituation nicht die Grundlage für naturwissenschaftliche Ableitungen ist, vielmehr sind vorhandene physikalische Wissensbestände, Erklärungen und Theorien die Basis für das, was interpretierend Gesehen wird. Durch die Erwartungen der Entwickler(innen) – die in ihrem Vorwissen gründen – werden vorgeprägte Sichtweisen an die Collage herangetragen. Dadurch kann es zu einem vorschnellen Finden kommen. Das Vorhaben als Expert(inn)en, als „schon Wissende“, einen Effekt zu „erzeugen“, wird von Herrn Hansmann vom schulisch funktionssicheren Entdecken des Effekts durch die Kinder abgegrenzt. Auch wenn die Kinder die Collage des Versuchs selbst zusammenfügen, werden sie nicht als Erzeuger gesehen: „Wir gehen ja umgekehrt ran: Wir versuchen, das zu erzeugen.“ Diese „Umkehrung“ bezieht sich auf die Schrittfolge Beobachtung, Ableitung und erklärendes Wissen: Kinder denken noch vom beobachteten Phänomen aus, während die Basis der Deutung bei den Entwickler(inne)n ihr physikalisches Vorwissen ist.7 Eine Ablösung von Phänomen und Erklärung fand schon mit dem analysierten Versuch zum Farbkreisel bzw. den „Farben des Lichts“ einen materialisierten Niederschlag: Das, was gesehen wird, passt nicht gänzlich zur Erklärung, es besteht eine Lücke – dennoch lassen sich anschauliche Verbindungen herrichten. Dabei wird von den Entwickler(inne)n von einer bestehenden Theorie bzw. von einer Erklärung ausgehend gedacht und konzipiert. Ausgehend von dieser Erklärung lässt sich das sichtbare Phänomen an diese vorhandene Erklärung anpassen. Die Praxis der Entwicklung ist letztlich die Kunst, dass das entdeckt wird, was zur Erklärung vorgesehen ist – ohne dass man es schlicht durch Lehrer(innen) präsentieren lässt. Die Kinder sollen etwas Tun, selbst tätig werden und im schulisch abgesicherten Sinne entdecken. Kapitel 5.3 befasst sich mit der zugedachten Rolle der Kinder bzw. ihrer Aufgaben. Es geht um das durch die Entwicklung hervortretende Konzept von schulischer Forschung. Hiermit verbunden geht es um den Anspruch der kindlichen Selbsttätigkeit und die daraus resultierenden Verknüpfungen sowie Komplikationen mit anderen Maximen der Produktreihe, die die Entwickler(innen) in einen Einklang bringen müssen.
|| 6 Im Gegensatz zum zuvor analysierten Farbkreisel wird die Kluft zwischen Demonstrations- und Lern-Effekt hier nun problematisiert statt genutzt. 7 Inwieweit das Anbahnen dieser Umkehrung als eine Heranführung an die Physik zu sehen ist, kann mit Bezug zu Kuhns Arbeiten zu naturwissenschaftlichen Paradigmen diskutiert werden. Amann hält hierzu resümierend fest: „Mit den wissenschaftlichen Theorien ändern sich die wissenschaftlichen Beschreibungen und mit den Beschreibungen das, was wir als die von ihr beschriebene Wirklichkeit erkennen können.“ (Amann 2008: 27)
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5.3 Eigenaktives Forschen Neben den phänomenalen Effekten, die es funktions- und interpretationssicher in die Schulklasse zu liefern gilt, ist die selbsttätige Auseinandersetzung der Schüler(innen) mit dem Material ein relevantes Merkmal der unterrichtlichen Produkte (siehe Kapitel 4.2). Man schreitet mit der Diskussion verschiedener Stationen und Versuche voran. Es geht nun um optische Täuschungen und Herr Peine regt an, dass man zum Thema „Anamorphosen, Zerr- und Spiegelbilder“ auch gut Aufgaben zum Selberzeichnen für die Kinder stellen kann. Auf dem Tisch liegen verschieden Papierseiten, auf denen allerlei Sinnestäuschungen abgedruckt sind: etwa augenscheinlich zueinander angewinkelte Linien, die bei genauer Untersuchung aber doch parallel verlaufen, oder Linien, die unterschiedlich lang wirken, es aber nicht sind. Zudem gibt es einige eschereske Zeichnungen geometrischer Körper, die mit Perspektiven und unmöglichen Formverläufen spielen. Herr Hansmann greift den Hinweis von Herrn Peine nun auf: „Wir sind jetzt also bei einem (.) ganz entscheidenden Punkt (1) Ähm wenn man (.) dieses Angebot im Rahmen von SCHUle macht, – nich, also ich vertrete hier ja sozusagenermaßen den Schulalltag – dann äh muss man immer dafür sorgen, dass die Kinder sich nicht nur über den Effekt freuen, – das haben Sie ja eben auch schon angedeutet – sondern, dass sie nun irgendetwas damit TUN.“ Kran stimmt mit „Mh mh.“ zu und auch Herr Peine signalisiert Zustimmung, Hansmann fährt lobend fort: „Sie [die Kinder] müssen etwas machen. Und dies is ne äh kindertypische Aufgabe, dass man sagt, ‚zeichne das mal so‘.“ Dabei deutet Hansmann auf eines der trügerischen Blätter auf dem Tisch, das eine eher schlichte Zeichnung zeigt. Alle machen zustimmende Gesten. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 1436–1448, 00:54:46–00:55:58)
Über das Nachzeichnen vorgegebener (hierfür gut geeigneter) Täuschungen sollen die Kinder durch die selbsttätige Beschäftigung erfahren, dass es sich mit den Längen oder Winkeln der trügerischen Linien anders verhält als auf den ersten Blick gedacht. Es gilt, „kindertypische Aufgaben“ dieser Art zu entwickeln und mit diesen die Phänomene zu flankieren. Das so angestrebte Nachvollziehen wird von den Entwickler(inne)n häufig als „Forschung“ etikettiert: Hansmann führt an, dass man – sofern man ein passendes Kaleidoskop produzieren könnte – gut einen zugehörigen Forschungsauftrag, also eine Aufgabe für die Kinder entwerfen könnte: „Forschungsauftrag: ‚kindlicher Forscher, rauskriegen wie es funktioniert‘.“ Damit adressiert er die im Raum nicht vorhandenen Schüler(innen), spricht sie als kindliche Forscher an und fährt an sie gewandt fort: „‚Erst- erst beschreiben, worin der Witz besteht‘ – was Spaß macht – ‚und dann auseinandernehmen‘. (1) ‚Und dann wieder zusammensetzen‘ – mehrfach.“ (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite ab § 2418, 02:30:47) Es werden mögliche Aufgaben sowie Anreize zur Arbeit mit mehreren Spiegeln bzw. dem Periskop diskutiert. Die Kinder sollen mit den Spiegeln unter anderem um die Ecken gucken. Gut denkbar wären in diesem Zusammenhang auch die Aufgaben, wie „wer sieht die meisten [gespiegelten] Gummibärchen?“, führt Frau Rabe an. Weiter meint sie, dass es im Rahmen einer Station den „Forschungsauftrag zum Austesten“ geben kann, der mit Spiegeln darauf zielt, „diedie Funktionsweise des Periskops entdecken [zu] lassen.“ Hansmann stimmt zu. (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, § 2607, 02:28:44)
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In schulischem Wortsinne verstanden, könnte diese Art der Forschung auch als Auftragsforschung beschrieben werden. Sie führt mit Aufgaben und Arbeitsaufträgen zu einem festgelegten Ziel. Das angestrebte Aktivieren der Schüler(innen) hat somit konzept- bzw. formatbedingte Grenzen und kann nicht völlig frei sein: Das, was die Kinder tun, kann kein gänzlich freies und exploratives Experimentieren sein, da die Entdeckung, das Phänomen, das im Hintergrund stehende theoretische Modell oder das zum Effekt gehörende Funktionsprinzip bereits feststeht. Es geht schülerseitig eher um ein nachmachendes Entdecken, während die Entwickler(innen) dieses Nachentdecken arrangieren, vorplanen und absichern müssen. Das „Forschen“ ist somit als instruiertes Probieren zu charakterisieren. Beim Entwerfen der hiermit einhergehenden Aufgaben favorisieren einzelne Entwickler(innen) teils unterschiedlich weite Öffnungen. Ist kein Konsens herzustellen, kann dies zu Problemen führen. Mir gegenüber versprachlichten die Beteiligten aus Entwicklungszyklus A mehrfach, dass sie hier den Hauptgrund für das Scheitern der Kooperation sehen. Die Autorinnen aus Entwicklungszyklus A wandten sich an den Verleger Herrn Schmidt und verwiesen auf unüberwindbare Differenzen zwischen ihrem didaktischen Ansatz und dem Ansatz von Herausgeber Hansmann. Die Autorinnen (Frauen Dr. Schleier und Frau Dr. Rabe) proklamieren dabei für ihren Ansatz, dass Kopiervorlagen und Interventionen dazu dienen, Kinder im minimalst nötigen Maße auf dem Weg der selbstständigen Erschließung der Welt zu unterstützen. Mit dieser – aus ihrer Perspektive erbrachten – Einschätzung wollten die Autorinnen eine Abgrenzung zum Ansatz von Herrn Hansmann vollziehen, dessen Material sie als zu instruktionslastig kritisierten. Diese Ausrichtung des Materials nehme Kindern Chancen, da die Arbeitsblätter das Was und das Wie zu explizit vorschreiben würden. Das Vorgehen der Kinder solle also nicht zu stark vorgeben werden. In der Praxis der Entwicklung entfaltete sich diese Maxime häufig über eine Stilistik der Aufgabenformulierung: Werden die Aufträge in Form subtiler Andeutungen und Fragen formuliert oder werden sie als kleinschrittige To-do-Punkte dargeboten? Doch auch für die Autorinnen aus dem ersten Zyklus gilt: Das, was sie zum Entdecken anbieten, ist in seiner präfigurierten Form vorab gesetzt. Die Kinder sollen zwar möglichst eigenaktiv auf etwas kommen, dieses Etwas steht jedoch schon fest und ist eine Setzung der Entwickler(innen). Trotz dieser Gemeinsamkeit fordern die Autorinnen Rabe und Schleier letztlich eine Entweder-oder-Entscheidung, die sie an den Verleger Herrn Schmidt herantragen: ihr Ansatz oder der Ansatz von Herrn Hansmann. Dabei machen die Autorinnen deutlich, dass eine Entscheidung für ihren Ansatz sich auch gegen die Stringenz der von Herrn Hansmann maßgeblich mitgeprägten Produktreihe wenden würde. Diese Reihenstringenz formuliert die als notwendig gesetzten Formatierungen und „Essentials“ der Produktfamilie (siehe Kapitel 4). Nach dem verbundenen Eklat und dem Glätten der hervorgerufenen Wogen kam es zum erneuten Versuch, einer Kooperation und damit zum Versuch den Koffer als gemeinsames Produkt fertigzustellen. Wie beschrieben scheiterte auch dieser Versuch und mit ihm der Entwicklungszyklus A. Herr Hansmann resümierte mir gegenüber auf der „didacta“ 2013 den endgültigen Abbruch:
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Der neue didaktische Ansatz von Rabe und Schleier wäre nämlich mit der alten Didaktik – „mit der meinen“ – nicht zu vereinbaren, rezipiert Herr Hansmann die geäußerte Diskrepanz. Diplomatisch-relativierend fügt er hinzu, dass man das ja auch so sehen dürfe. Damit will er unterstreichen, dass er den Autorinnen den eigentlichen Inhalt der Stellungnahme nicht zum Vorwurf macht. Allerding müssen diese „jungen Frauen“ dann auch hinter sich und diesen Ausführungen stehen. „Jeder soll da seine Sache machen, wunderbar. So.“ Nachdem das geklärt ist, kündigt Herr Hansmann an: „Aber damit ist belegt, wo das Problem steckt: Die haben dann den Schwenk um 180 Grad gemacht und haben mir dann irgendwann im Juni geschrieben, sie möchten mit mir [wieder] zusammenarbeiten.“ Die dann folgende Zusammenarbeit wäre aber inhaltlich unglücklich und wenig produktiv verlaufen: „Und das ist die Lehre für Sie und Ihre Beobachtung ... wenn jemand in einer Reihe bestimmte Aufgaben übernimmt, dann muss er sich der Reihe beugen.“, fasst Herr Hansmann zusammen und problematisiert noch einmal den (anscheinend halbherzigen) Sinneswandel der Autorinnen: Wenn man sich als Autor in einer Reihe dieser Reihe nicht „beugen“ wolle, dann soll man es bleiben lassen. („didacta“ in Köln, Vormittag des 21.02.2013)
Zu Beginn von Entwicklungszyklus B verwies Hansmann gegenüber den neuen Autor(inn)en mehrfach darauf, dass ein zu radikales Bild von Kindern als „kleine Forscher“ nicht in die Reihe passe. Auf der anderen Seite dürfte jedoch eine gewisse Eigenaktivität der Kinder nicht vernachlässigt werden. Mit diesem expliziten Ansprechen schien er das Anliegen zu verfolgen, von vornherein Missverständnisse und divergente Ansprüche zwischen den neuen Autor(inn)en und sich aufdecken zu wollen, um zu verhindern, dass sich erneut über Monate hinweg Differenzen aufstauen, die letztlich zum Aus der kooperativen Entwicklung führen könnten. Herr Hansmann – und auch Herr Schmidt – wollten somit vom (neuen) Beginn an eine Aussprache realisieren und klarstellen, dass explizite Instruktionen bzw. erklärende Anleitungen ein notwendiger Bestandteil der Reihe sind. Hansmann erklärt, was von der neuen und letzten Box der Reihe erwartet wird: „Es geht also noch nicht- NOCH nicht darum – das muss kommen, denn es sind nun also 15 Jahre um und nach 15 Jahren wandelt sich alles immer in den Schulen (.) ähm aber – HIER geht es noch nicht darum, den neuen Schritt zu tun und eine neue Didaktik anzubieten.“ Schmidt stimmt zu und Hansmann fährt fort: „Es geht WOHL darum, die Erfahrungen aus den bisherigen neun Boxen im Hinterkopf zu haben und die Sache zu optiMIERen, ne?“ Auch Frau Kran und Herr Peine stimmen zu („Mh.“), während Hansmann resümiert: „Aber die wirkliche Revolution, die soll erst stattfinden, wenn die Reihe vollständig is.“ Damit macht er deutlich, dass die Stringenz der Reihe eine bindende Determinierung der Entwicklung sein muss. Frau Kran scheint genau zu wissen, worum es geht und worauf unter anderem erneut angespielt wird: „Also, und da ham wir ja schon (.) auch drüber gesprochen und so, dass man dann [nach Abschluss der Reihe] so vielleicht so ein bisschen, ja forscherisch ein bisschen offener da ran geht und so weiter.“ Schmidt stimmt zu und signalisiert somit, dass das für die Zukunft denkbar ist („Mhmh.“) während Kran Bezug auf das aktuelle, heute vor ihnen liegende Projekt nimmt: „Aber wir ham jetzt auch uns ähm bemüht (1) DIEsen Gedanken weiterzuverfolgen mit dem Lernen an Stationen, dass man wirklich Stationen- EINzelne Stationen hat, an denen man dann Erfahrungen sammeln kann und dann irgendwelche Dinge tun kann.“ Schmidt stimmt erneut zu. (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 179–197, 00:09:12–00:10:06)
Eigenaktives Forschen | 173
Die Entwickler(innen) verständigen sich sprachlich darüber, dass beim forscherischen Umgang Abstriche zu machen sind. Dabei wird sowohl in den tendenziell rechtfertigenden Ausführungen von Hansmann und seinen Anspielungen darauf, dass die Zeit der Reihe abläuft, als auch in den Plänen von Frau Kran zur Zukunft einer überarbeiteten oder neuen Reihe, deutlich, dass offeneres Forschen eigentlich erstrebenswert sei. In Abgrenzung zum zukünftig angedachten offen forscherischen Umgang führt Frau Kran an, dass es mit dem aktuellen Projekt noch darum geht „einzelne Stationen“ zu konzipieren, an denen „Erfahrungen gesammelt“ und „irgendwelche Dinge getan“ werden. Diese vom offenen Forschen abgegrenzte Tätigkeit im Sinne der Konzeption des Koffers ist jedoch keineswegs beliebig. Die angestrebte Tätigkeit („Dinge tun“) orientiert sich teils sehr stark an einem bestimmten Ideal von Forschung, in dem sich ein Bild von Wissenschaft und naturwissenschaftlicher Labortätigkeit spiegelt. Mit dieser Norm geht es Frau Kran auch im aktuellen Projekt der „alten“ Reihe um (Heranführung an) Forschung. Bei der Auswertung der Produkterprobung werden die Versuche separiert besprochen. Man gelangt zu einem Versuch zum Thema „Schatten“ bzw. „Schattenwurf“, bei dem eine Kugel (die auf einem Sockel und vor einer Leinwand steht) mit einer Taschenlampe angeleuchtet werden soll. Frau Kran macht eine Anmerkung zur Änderung der schriftlichen Instruktionen und man merkt, dass ihr dieser Punkt wichtig ist: „Ehm genau und aber da gab’s auch noch diese Problem, dass hier eh zwei Variablen auf einmal verändert wurden, das hatte ich irgendwann mal schon mal angemerkt. Ich weiß nich mehr, eh wo oder warum das jetzt nich mit eingeflossen is, aber: Man darf nicht die Lampe – den Abstand der Lampe – und den Abstand des Balls gleichzeitig verändern und entweder Schrittweise nacheinander äh oder: immer nur eine Variable verändern.“ Die Änderung wird aufgenommen. (Meeting 3B, 2. Dokumentenseite, ab § 451, 01:35:32)
In diesen eingeforderten Änderungen an der Station spiegelt sich ein Regelwerk experimenteller Forschung. Durch das Deutlichmachen, wie richtige Forschung funktioniert, werden die hierbei zu beachtenden Prinzipien von experimenteller Forschungstätigkeit als wichtig ausgewiesen: Sie sollen – mit expliziten Hinweisen – den Kindern vermittelt werden. Die Forschungsprinzipien selbst können als weitere Lernziele jenseits der zu Phänomenen gehörenden Lösungssätze angesehen werden. Es soll so um das Vorplanen und Anbahnen von Forschung gehen, die von den Kindern aktiv begriffen werden soll. Passend hierzu wird in der Werbung des Verlags eine Heranführung an die Naturwissenschaften und ihre Erkenntnisprozesse proklamiert, die das Material leisten soll.
Risiko Eigenaktivität Da die Autorinnen aus Entwicklungszyklus B ein deutlich reglementiertes Vorgehen als notwendig konzipieren, ist die Nähe zu den haltgebenden didaktischen Ansätzen des Herausgebers Hansmann verhältnismäßig groß.
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Das Ding, was gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, ist ein großer polierter Löffel. Hansmann spielt erneut auf möglicherweise divergente didaktische Sichtweisen an: „Dann gibt es jetzt ja ähm (.) so didaktisch äh Scheidewege, wo man sagen kann: ‚Naja, das seh ich so, das seh ich so.‘ (.) Also, ICH seh es so: Angenommen dieser Löffel wä:re eine eigene Station ...“ Kran signalisiert ihre Aufmerksamkeit („Mh mh.“) und Hansmann fährt fort: „... und er würde (.) die Kinder nicht nur faszinieren, sondern es würde bei rauskommen: Das sind so Spiegelchen, die man kippen kann, oder irgendwie so.“ Damit nimmt er Bezug auf eine abstrakte Analogie, die als möglicher Lernertrag rauskommen könnte – es geht um kippende bzw. sich drehende Spiegelbilder und die Wölbung des Löffels. Hansmann: „Also sie [die Kinder] würden verstehen, wie es is.“ Kran und Peine stimmen zu, Hansmann kommt zum eigentlichen Punkt: „Und jetzt MÖCHte ich gerne, dass jedes Kind auch darauf kommen kann, das mans [für den Effekt] so dicht vors Auge hält. ICH würde ne kleine Anregung geben auf der Karte.“ Kran und Peine stimmen deutlich zu („Ja.“, „Mh mh.“, „Genau“) und formulieren schon einmal den Stil dieser Anregung grob vor, Kran: „‚Mach doch mal so ...‘.“ Die Zustimmung ist spürbar und Hansmann versichert sich noch einmal: „Sind wir uns da einig, dass man das machen kann?“ Kran entgegnet: „Ja, auf jeden Fall.“ Hansmann bilanziert zufrieden: „GUT. Sehr gut.“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite § 961–982, 00:40:20–00:40:57)
Damit die Schüler(innen) das sehen, was sie sehen sollen – und zu den damit verbundenen sowie determinierten Einsichten gelangen –, wird auf Instruktionen gesetzt. Ähnlich wie mit den Materialoptimierungen (z. B. ein Prisma gegen einen multigeschliffenen Kristall tauschen, siehe Kapitel 5.2) oder der Grammatik der Dinge (der sinnvoll passgenauen Abstimmung einzelner Dinge einer Versuchscollage aufeinander, siehe Kapitel 4.3) kann mit den Instruktionen versucht werden, den Weg der Forschung, den phänomenalen Effekt und den Ertrag abzusichern. Eine andere Möglichkeit der Sicherung liegt darin, den Kindern bestimmte Tätigkeiten und Aktionen abzunehmen. Diese werden dann von der – somit an Komplexität gewinnenden – materiellen Versuchscollage selbst übernommen. Es geht erneut um den Farbkreisel, der nicht befriedigend funktioniert. Der Effekt (durch Rotation verschwindende Farben) ist nicht deutlich genug. Es liegt nun an Frau Rabe, Änderungsvorschläge zu machen: „Das, was am besten funktioniert, wo ich den Effekt am allerbesten sehe, (.) is (.) wenn ich – wir nehm für den Fall die 4,5 Volt Flachbatterie, (.) zwei Kabel, Krokodilklemme in- is so ein kleiner äh Modellbau-Flugzeugmotor dran ...“ Schmidt versteht, was geplant ist, und scheint offen für die Idee: „Mhmh. (1) Ach so, Sie lassen das dann (.) rotieren. Alles klar, mh.“ Rabe präzisiert: „Und lassen es am Stromkreis rotieren. (1)“ Hansmann erkennt an: „Auch ne- auch ne Möglichkeit.“ Schmidt klingt nun noch zustimmender: „Mh mh, kann man machen. (2) Kein Problem.“ Und Frau Rabe fasst zusammen: „Also DA is es im Prinzip ... is der Effekt am allerbesten, weil ich ne hochgenaue g- Rotationsgeschwindigkeit habe.“ (Meeting 2A, 1 Dokumentenseite § 1812–1817, 01:56:52–01:57:23)
Da mit dem Kreisel – in den Händen der Kinder – keine „hochgenaue Rotationsgeschwindigkeit“ zu erzielen ist, diese für eine phänomenale Effektstärke jedoch wichtig sei, wird die Farbscheibe an einen Motor übergeben. Für Kinder bleibt das instruierte
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Zusammenstellen der Collage (Motor, Scheibe, Kabel, Batterie) als eigenaktive Tätigkeit. Die Ausführung der Drehung wird den Kindern genommen. Von dem so skizzierten Versuch wandte man sich letztlich jedoch wieder ab: Man geht einzelne Versuche durch. Herr Schmidt führt zum motorisierten Farbkreisel an: „Gut. Also, dieser Versuch, den würd ich aus (.) mehreren Gründen gerne rausschmeißen. Also, wenn wir ihn richtig umsetzen wollen, wird das sehr teuer.“ Frau Rabe fragt: „Wegen dem Motor und dem ...“ Schmidt stimmt zu: „Ja, weil wir müssten ... ein Motor auf Steckelementen machen und das isss ...“ Frau Rabe und Schleier stimmen im Sei-es-drum-Stil zu („Jaja, is okay“). (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite, § 635–643, 00:28:55–00:29:07)
Als Alternative setzt man auf einen Pustekreisel, der sich von den Kindern aus Papier fertigen lässt. Er muss ausgeschnitten, gefaltet und – wie der ursprünglich angedachte motorisierte Kreisel – selbsttätig bemalt werden. Im Gegensatz zum batteriebetriebenen Kreisel gilt es, ihn selbsttätig ans Laufen zu bringen, indem man gegen ihn pustet. Genau wie der batteriebetriebene Kreisel wurde auch der Pustekreisel in der schulischen Praxis erprobt. Man sichtet weiter die Erprobungsergebnisse zu den Versuchen, Schmidt führt an: „Und der Pustekreisel de:r- der funktioniert ja auch gut, oder?“ Hansmann widerspricht bestimmt: „Nein, der funktioniert ja eben nich. Also, wenn die Puste- ...“ Schmidt unterbricht irritiert mit: „Wieso?“ und Hansmann erklärt: „Der Pustekreisel muss genauer beschrieben werden. Also, ich hab mich immer gefragt, warum kriegt meine Frau das nich hin, (.) warum kriege ich das hin? Warum kriegt es ein Nachbarskind hin und nicht das Kind von unseren Freunden? Warum wird in einer Klasse gesagt, es funktioniert überhaupt nicht; die laufen vom Tisch runter und in ner andern hats funktioniert. (1) Das is ne Frage natürlich, von wo man bläst und wie man das macht (1) und da muss- muss man ganz klar [xxx] ...“ Schmidt übernimmt den Satz und benennt damit den Überarbeitungsbedarf: „Ganz präzisieren. Genau präzisieren.“ Hansmann formuliert die fehlenden Anweisungen skizzenhaft vor: „... von oben so und so pusten.“ Schleier und Rabe weisen darauf hin, dass die genaue Beschreibung des richtigen Pustens nicht so einfach sei: Nachdem kurz Uneinigkeit über die korrekte Pusterichtung herrscht („Nee ganz von oben kanns halt auch nich sein ...“), betonen Frau Rabe und Schleier, dass man es eben situativ ausprobieren muss. Frau Rabe begründet dies: „Also ich sag mal, das is einfach ne Sache ... di:e genaue Pusterichtung hängt von dem Winkel ab, wie ich die Dinger [Segel] hochklapp. Und der is variabel ... und der muss auch variabel bleiben.“ Schmidt stimmt zu („Mhmh ja.“) und Hansmann führt insistierend an: „Jah, ja also, man (.) es muss- es muss (.) damit es nicht zu Frustrationen führt, muss das gezeigt werden, wie man da sich rantastet oder irgendwas.“ (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite § 514–547, 00:25:45–00:26:54)
In der Situation wird die notwendige Eigenaktivität der Kinder verhandelt, deren Erfolg – ohne genaue Instruktionen – derzeit noch dem Zufall überlassen scheint.8 Für
|| 8 Mit den Tätigkeiten der Schüler(innen) – dem Ausschneiden, Ausmalen, Falten und Pusten – wird letztlich die Bühne für eine Effektaufführung bereitet. Das Ausprobieren, wann der Kreisel gut läuft, hat dabei nichts mit dem Thema „Lichtzusammensetzung“ zu tun. Die Frage „wann bzw. wie dreht sich ein Kreisel durch Luftbewegung“ mag zwar auch eine physikalische Frage sein, steht hier aber
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die Entwicklungspraxis lässt sich letztlich bilanzieren, dass Aspekte wie Probieren, Variabilität und Freiheit in einem problematischen Verhältnis zur sicheren Funktionalität der Phänomene, zum Weg der Forschung und den Lerneffekten stehen. Anders formuliert: Eigenaktivität selbst stellt ein Risiko für das Funktionieren der Versuche dar. Bis zu einem gewissen Maße kann dem möglichen Scheitern präventiv begegnet werden, indem die Versuche und ihre vorgeplanten Schritte nachvollziehbar erklärt werden. Durch diese instruktiven Erklärungen und demonstrative Versuchscollagen löst sich Eigenaktivität letztlich jedoch auf. Für die Entwickler(innen) gilt es, die Balance zu halten, da sowohl Eigenaktivität als auch die Funktionalität der Phänomene notwendige „Essentials“ der Reihe sind. Das vertretbare Maß an Eigenaktivität auf Kosten der Funktionalität muss situativ auszuhandeln. In der folgenden Auseinandersetzung wird die Notwendigkeit gesehen, den Kindern eine Aktivität im Dienste der Funktionalität abzunehmen: Die Kreisel-Farbscheibe wird besprochen, Herr Hansmann fragt: „Und die Kinder sollen sie selber ausmalen?“ Kran reagiert entschieden: „Nein (1) nicht selber ausmalen, weil das ist genau der Punkt, bei den Farben muss es schon passen von den Farben her, es müssen die richtigen Farben [sein], sonst hat man den Effekt gar nicht und dann dauert dieses Ausmalen ziemlich lang und dann sind sie natürlich nicht gleichmäßig ausgemalt, die Flächen, und so weiter und so weiter. Also wenn wir die Scheibe haben, ich würde dafür (1) ich würde für sie plädieren, dann wirklich eine fertige dazu [beizulegen].“ Schmidt, der während Krans Ausführungen schon zustimmte („Mhh.“), wirft ein, dass man diese fertigen Scheibe habe, also über die Rechte verfügt, sie kommerziell nachzudrucken. Peine nickt und bilanziert: „Drucken und das die wirklich gut funktionieren.“ Hansmann stellt eine Frage: „Und wie (.) was erklären wir dann?“ (Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 38–53, 02:07:04–02:08:08)
Hier – in Entwicklungszyklus B – wird das eigenaktive Bemalen der Farbscheibe problematisiert, das in Entwicklungszyklus A noch in den Händen der Kinder lag. Das richtige farbliche Präparieren der Scheibe wird als Tätigkeit beschrieben, die sehr genau ausgeführt bzw. erklärt werden müsste. Herr Hansmanns Frage nach dem Was und Wie der Erklärungen kann in zwei Richtungen interpretiert werden: (1) als kritisch-irritierte Anmerkung, dass den Kindern somit keine nennenswert eigenaktiven Handlungen für die Auftragsforschung bleiben und keine instruierenden Schrittfolgen durch die Entwickler(innen) formuliert werden müssen – die Station somit beirrend aktionsleer bleibt und weniger effekterzeugend als effektpräsentierend daherkommt. Diese Frage wird vor dem Hintergrund der Ausführungen dieses Kapitels verstehbar.
|| in keiner inhaltlichen Verbindung zu dem angestrebten Lernertrag. Dennoch bedarf es Erklärungen und Instruktionen, die sich eben dieser Frage annehmen, da der eigentliche Lernertrag über den Umweg des Kreiselns veranschaulicht werden soll.
Was kommt wobei raus? | 177
(2) als interessierte Frage nach dem Lerneffekt, also nach dem, was durch den Versuch gelernt und mit einem Lösungssatz festgehalten werden soll. Diese Erklärung betrifft dann nicht das determinierte Vorgehen, sondern den determinierten Lernertrag. Somit ginge es nicht um das How-to der Phänomenerzeugung, sondern um das Wissen, mit dem das Phänomen erklärt wird. Es gilt, die schon mehrfach angeklungene Frage zu klären: Was kommt dabei raus? Die so verstandene Frage nach den jeweiligen Lerneffekten der Versuche bzw. die Frage nach den Bildungszielen bei der Auseinandersetzung mit den Phänomenen steht im Zentrum von Kapitel 5.4. Dabei geht es vor allem um die Analyse, wie diese Ziele diskursiv festgelegt werden, wie man zu ihnen gelangt.
5.4 Was kommt wobei raus? Im Sinne der Notwendigkeit einer expliziten Erklärung des jeweiligen Phänomens, geht es um die Versprachlichung der Beobachtungen und ihre Überführung in Lösungssätze. Hiermit ist ein „Essential“ der Reihe benannt, auf das insbesondere Herr Hansmann immer wieder insistiert. Hansmann erklärt: „Ähm (.) ic:h darf auch also n:och auf ein Merkmal dieser Stationsblätter hinweisen, das uns sicherlich ähm Mühe machen wird. (.) Di:e Lehrerinnen haben sehr bald, nachdem das erste Stationsheft erschienen ist […], sich Lösungs(.)verstecke gewünscht. Also.. Lö-sun-GEN, weil sie sicher sein wollten, was da rauskommt – sie selber wolltens wissen.“ Er lacht kurz und freundlich, während Herr Peine und Frau Kran Verständnis signalisieren. Hansmann weiter: „und [sie] wollten auch damit so ein Stückchen die Erklärung haben. Und wir sind ähm – das ist ein Charakteristikum dieser Reihe – ähm also in neunzig Prozent haben wir am Fuße der Seite, kopfstehend, kleingedruckt und die Kinder mh verwenden das in der Regel ÜBERhaupt nicht und wenn se es verwenden, entsprechend der Spielregel. Aber wir haben immer ein Lösungsversteck, das heißt also, es muss – und wenn man sich die Versuche anguckt, muss man auch immer gleich fragen, ‚Was könnte denn da drin stehen?‘, ‚Was sollen denn die [Kinder] hier gesehen oder eingesehen haben, wohin führt das?‘.“ Kran stimmt mehrfach zu. (Meeting 1B, 1 Dokumentenseite § 657–669, 00:29:23–00:30:25)
Mit den Ausführungen wird von Herrn Hansmann eine Versicherung durch Narration gesucht: Wie zuvor, bei der Frage nach instruktiven Erklärungen als Kurzanleitungen der Experimente, sollen mit diesem Ansprechen von vornherein konflikthafte Probleme vermieden werden, mit denen man in Entwicklungszyklus A zu kämpfen hatte. Also verweist Hansmann darauf, dass es klarzustellen gilt, was die Lösung des jeweiligen Experiments ist. Erneut wird dabei das „(Ein-)Sehen sollen“ deutlich, also das Sehen und Finden von etwas, das vorab determiniert wurde. Es geht um die Frage, was der Output bzw. was die inhaltliche Erklärung ist. Ferner deutet Hansmann damit seine schulische Expertise und sein Verständnis von schulischem Lernen an. Letzteres wird als Anspruch an das Material formuliert und eng mit den Wünschen von Lehrer(inne)n sowie schulischem Wissen verknüpft.
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Herr Hansmann führt aus: „Die Lehrerinnen wollen, (.) dass die Kinder hinterher mehr wissen als vorher, nicht nur, dass se schöne Versuche gemacht haben. Die Kinder sind ja fasziniert, egal äh ob die hinterher was gelernt haben oder nich.“ Herr Peine und Frau Kran stimmen zu („Mhmh“) während Hansmann fortfährt: „Einfach weil se mit den Händen mal dürfen, einfach weil se was ausprobieren dürfen, einfach weil es was anderes is als ein normaler Unterricht. So. Super! Die Lehrerinnen die gucken dann immer: ‚So und (.) WAS is nun neu? (.) Also dass man sich [in] so nem Löffel spiegelt, haste ja vorher auch gewusst.‘ So. ‚Was- was haste Neues ... was haste dazugelernt?‘.“ Kran stimmt erneut zu („Mh mh.“) und Hansmann resümiert: „So. Und wenn dann nur warme Luft kommt, dann sind die nicht zufrieden. Das heißt also, immer die Frage: ‚Was kommt unten raus?‘.“ Frau Kran macht ein zustimmend klingendes „Mh mh. Ja.“ ebenso wie Herr Schmidt („Mh.“). (Meeting 1B, 1 Dokumentenseite, § 370–380, 00:19:00–00:19:33)
Neben dem eigenaktiven Machen und Probieren, das in seiner motivierenden Bedeutung hervorgehoben wird, wird die Notwendigkeit des Neuen postuliert. Damit wird Lernen bzw. das Kontrollieren von Gelerntem aus Sicht der Lehrer(innen) gefasst. Der schulische Charakter wird hier durch das Mitdenken bzw. Vorwegnehmen schulischer Situationen deutlich, die als theatralisches Sprech- bzw. Praxisschauspiel fiktiver Lehrer(innen) in die Entwicklungssituation geholt werden (siehe wörtliche Rede innerhalb der wörtlichen Rede). Diese Aufführung des Schulischen soll an dieser Stelle dafür sensibilisieren, dass sich der durch den Versuch generierte Wissensoutput vom schon zuvor vorhandenen Wissen der Schüler(innen) unterscheiden muss: Das, was rauskommt, muss neu sein, damit es als Lernerfolg gilt.9 Bei der Auswertung der Erprobung geht es nun um die Einschätzungen durch die Lehrer(innen), die angaben, bei welchen Versuchen die Kinder viel gelernt hatten. Hansmann hat dies abgefragt und notiert, nun präsentiert er es. Herr Peine fragt latent kritisch, ob man sagen könne, wo diese Einschätzung herkommt. „Ja, ganz eindeutig“, entgegnet Hansmann sicher und erklärt: „Die kommt daher, dass ja eben in bestimmten Phasen dieses Unterrichtsbetriebes immer Gesprächskreise stattfinden, wo die Kinder ihre Versuche vorstellen und auswerten und ehm wenn dann also der Unterschied zwischen der Vermutung und dem Ergebnis groß is und wenn sie praktisch etwas gelernt haben – also, der Lehrer empfindet es so – was sie [die Kinder] vorher nicht wussten, (.) dann galt es als großer Erfolg.“ (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite, ab § 172, 00:21:54)
In diesem Lern-Sinne geht es um das Erzeugen von Überraschungen, um das Aufstellen von Vermutungen, deren Überprüfung und verblüfftes Verwerfen. In Nachbarschaft zu einem klassisch-psychologischen Lernbegriff, der retrospektiv nach VorherNachher-Unterschieden fragt, wird ein Ideal von Lernen konzeptualisiert. Es geht dabei um einen alten und einen neuen Wissensbestand. So, wie die Psychologie den Prozess des Lernens ausklammert, stand der Prozess der Beschäftigung mit den Versuchen nicht im Fokus der Erprobung bzw. einer evaluierenden Beobachtung. Die Er-
|| 9 Siehe auch die Ausführungen zum Schon-Kennen, Kapitel 5.1.
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probungsergebnisse wurden in erster Linie über Lehrer(innen)interviews und ihre rekonstruierende Sicht auf den durchgeführten Unterricht generiert. Ob der Lernprozess als erfolgreich bewertet wird, ist somit eine Frage an die Lehrer(innen), und das Urteil der Lehrer(innen) hängt wiederum davon ab – so Herr Hansmann –, was sie von den Kindern hören und präsentiert bekommen. Auch zu dem was die Lehrer(innen) hören bzw. lesen wollen, hat Herr Hansmann erfahrungsbedingte Vorstellungen und erklärt, wie es sich steuern lässt: Es geht nach wie vor um die Auswertung der Erprobung unter dem Schwerpunkt „Lernertrag“. Peine meint, dass eventuell beim Versuch zu Schattenfiguren und zum Schattentheater viel gelernt wurde, es sich aber in den – für die Auswertung relevanten – Gesprächen mit den Lehrer(inne)n nicht wiederspiegelt. Hansmann stimmt zu, wendet diese Zustimmung aber zu einer produktiven Kritik bzw. zum Postulieren von Überarbeitungsbedarf: „Dann müsste bei uns oder würde ein Satz reichen, ein Hinweis ehm ‚könnt ihr das in eine Regel bringen: wann der Hund groß erscheint und wann er klein erscheint ...‘ oder irgendwie so. Denn das wäre ja unser Inhalt und dann würden die Lehrer sagen: ‚Ja, die habn erkannt ...‘." Frau Kran stimmt zu. (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite § 183–184, 00:23:31–00:24:59)
Ohne am Lernprozess der Beschäftigung mit dem Material – über den man, wie Peine kritisch anmerkt, wenig sagen kann – eine Justierung vorzunehmen, wird skizziert, wie sich der Lernerfolg optimieren lässt. Deutlich wird, dass es nicht nur darum geht, dass der Lernertrag in den Köpfen der Kinder möglichst groß ist (also der neue Wissensbestand möglichst stark vom alten abweicht), es geht auch darum, dass der Lernertrag möglichst artikulierbar, dokumentierbar und überprüfbar ist. Es kann in diesem Verständnis festgehalten werden: Der letztendliche Lernerfolg ist dann groß, wenn er sich gut durch Lehrer(innen) attestieren lässt. Lernen muss sich in der Schule gut als Gelerntes äußern lassen können, als Beispiel und genuin schulische Äußerung wird die Formulierung einer Regel vorgeschlagen, die aus einer Beobachtung bzw. Erfahrung von den Schüler(inne)n abgeleitet werden soll. Eng mit diesem Verständnis von Lernen, Output und Schule verknüpft sind Antworten auf Warum-Fragen, die sich den Wann-ist-etwas-wie-Fragen anschließen. Prominent im aktuellen Versuch ist ein großer Löffel, in dem man sich spiegeln kann. Je nachdem, wie man ihn hält, sieht man sein Spiegelbild verdreht. Hansmann erklärt: „Da darf aber eine gute Box nich stehenbleiben, sondern ne gute Box müsste jetzt ne Möglichkeit haben für die Kinder, wie se rauskriegen können, warum man (.) auf dem Kopf steht und- oder WANN das passiert und warum es anders passiert.“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite § 598, 00:27:30–00:27:51)
Der Lernweg soll nicht verkürzt und vorzeitig enden, idealerweise führt er – so Herr Hansmann – zu kausalen Erklärungen der Beobachtungen. Das, was gesehen wurde, soll verstanden und verständlich beschrieben werden. Damit einher geht das Ideal der Weiterentwicklung von kindlichen Vorstellungen:
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Es geht erneut um den Versuch zu Spiegelungen im Löffel, also um einen gewölbten Spiegel und das Phänomen, dass das Spiegelbild eventuell auf dem Kopf steht. Hansmann führt an: „Die Kinder ... Ja, und jetzt sind wa wieder bei dem Ding: Die Kinder ähm erfahren, dass sich das Bild umdreht.“ Frau Kran entgegnet entschieden „Richtig.“, dies scheint ganz in ihrem Sinne zu sein. Hansmann weiter: „Und da bleiben wa aber nicht stehen, nich? Sondern wir versuchen jetzt, nh den Kindern den Weg zu bereiten, (.) eine (.) vorläufige Vorstellung davon zu entwickeln, warum sich das umdreht.“ Schmidt stimmt zu „Mhmh. Genau.“ und auch Frau Kran sagt zustimmend „Mh mh, ja“, überlegt dann einen kurzen Moment und ergänzt relativierend: „Das kommt natürlich später auch nochmal, äh ... nochmal vertieft, sozusagen auch ...“ Hansmann bejaht und Schmidt entgegnet: „Ma- macht ja nix. Mh.“, während Frau Kran überlegend fortfährt: „... über Linsen und so weiter [kommt das später], aber das is natürlich hier nochmal äh (.) mh ne Sache, da- bei- ... ich kann mir kaum vorstellen, weiß ich nich ...“ Herr Schmidt unterbricht Frau Kran, die etwas zweifelnd klang. Er führt an: „Das können die ... das is ja das Schöne daran, die Kinder können das ja an jeder Stelle zu Hause ...“ Kran übernimmt den Satz und beendet ihn zustimmen: „Nachprüfen! Oder auch den Eltern mal zeigen.“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite § 1003–1024, 00:41:23–00:41:58)
Mit dem Verweis darauf, dass das Thema später noch einmal vertieft „kommt“, klingt subtil an, dass die Notwendigkeit einer Erklärung bzw. einer „vorläufigen Vorstellung“ von Kran anders eingeschätzt wird als von Hansmann: Die Erklärung ist eigentlich in der Sekundarstufe zu verorten. Kran überlegt, was den Kindern in der späteren Schulsituation und den Versuchskollegen in der gegenwärtigen Entwicklungssituation als erklärende Antwort mitgegeben werden kann. Die Antwort fällt ihr nicht leicht. Bevor sie etwas ihr angemessen Erscheinendes kommunizieren kann – eine Antwort, die möglicherweise zu weiteren Diskussionen geführt hätte –, lenkt der Einwurf von Herrn Schmidt das Gespräch wieder in betont harmonische Bahnen. Dies geschieht mit dem Verweis auf die Nachprüfbarkeit: Sowohl Herr Schmidt als auch Frau Kran wirken angetan von dieser Möglichkeit. Das Gespräch gleitet vom Thema der Kausalerklärung ab, ohne dass klargestellt wurde, was die Warum-Erklärung ist oder wie man diese didaktisch an Kinder herantragen könnte. Sehr ähnliche Situationen ließen sich im Entwicklungszyklus A beobachten. Auch hier wurde durch Hansmann kritisch angemerkt, dass man nicht bei der bloßen Erfahrung bzw. Beobachtung stehenbleiben sollte. Für den Versuch soll ein Stab in ein durchsichtiges Wasserglas eingetaucht werden, es sieht dann so aus, als wäre er nicht gerade, sondern angewinkelt, und zwar an genau der Stelle, an der er in die Wasseroberfläche eintritt. Hansmann merkt kritisch an: „So. (1) Nun, die zweite- der zweite Punkt, und ich bleibe äh eben bei der Frage nach dem Lernertrag, der uns gestellt worden is. (3)“ Damit verweist er auf die Ergebnisse der Erprobung, die Defizite beim Lernertrag ergeben hätten. „Ähm (2) irgendwie müssen wir an den Stellen, wo es möglich is, (2) den Kindern auch die Sache erklÄRen. Also, (.) die- die müssen irgendwie dahinterkommen, ‚warum ist das so?‘ oder (2) weiß ich was. (6)“ Ein Moment der Stille schließt sich an die letzten Worte an, die schon fast etwas resigniert klingen. Dann setzt Frau Rabe an: „Also, (1) ... ähh (.) ich (2) finde es in diesem Fall: Das is ne Beobachtung vom Phänomen, und ich sag mal, wenn die Kinder das Phänomen beobachtet haben, ist das im Prinzip ein Ertrag. Und wenn ich jetzt anfange, ihnen zu
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erklären, weil die Wellenlänge in- äh das Licht ...“ Frau Schleier verbessert die ins Blaue gesprochene Erklärung ihrer Kollegin: „Die Wellengeschwindigkeit.“ Frau Rabe nimmt dies auf: „... die Geschwindigkeit des Lichtes in Luft und in Wasser eine unterschiedliche ist, und ich deshalb den Knick krieg, (1) find ich das sowohl für ...“ Schmidt macht ein verstehendes „Mhmh.“ und Frau Schleier gleichzeitig: „Da sind wa wieder bei der Sekundarstufe.“, während Rabe fortfährt: „für die Grundschullehrer, als auch für die Kinder einfach zu viel.“ Fast parallel beendet Herr Schmidt den Satz von Rabe ebenfalls mit: „Zu viel, mhmh.“ und auch Herr Hansmann murmelt etwas, das dahingehend gedeutet werden kann, dass dies natürlich nicht die Art von Erklärung ist, die ihm vorschwebt. Frau Schleier hält noch einmal fest: „Aber die Beobachtung muss da sein und äh ...“ Frau Rabe stimmt gleichzeitig zu: „DIE BEOBachtung und das is okay“ (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite § 407–427, 00:27:55–00:22:41)
Mit Verweis auf die Komplexität der Erklärungen, die in ihren naturwissenschaftlichen Facetten für die Grundschule als gänzlich ungeeignet dargestellt wird, wird angemerkt, dass die Beobachtung selbst einen Ertrag darstellt. Das Phänomen tritt damit an die Stelle seiner Erklärung. Der scheinbar geknickte Stab im Wasser wird von Frau Rabe und Frau Schleier als Lern-Effekt und Lernertrag angesehen, also als ein phänomenaler Effekt, der für sich genommen ein (grund-)schulisches Ergebnis darstellt. Das so verstandene Lernresultat unterscheidet sich von Hansmanns angestrebtem Lernideal der Warum-Erklärungen. In Hansmanns Sinne wird den Kindern nichts erklärt, zumindest nichts kognitiv Neues, dessen kausale Erklärung sich in angemessener Weise artikulieren und als schulisches Wissen ausweisen lässt.
Phänomen als Erklärung Im Sinne der Autorinnen liefert das für sich stehende Phänomen (Stab im Wasserglas) selbst eine Erklärung. Die analytische Kategorie Phänomen als Erklärung fand sich anschaulich in Situationen in Entwicklungszyklus A und B. Meist immer dann, wenn Herr Hansmann – auf seinem oben skizzierten Lernbegriff insistierend – nach kausalen Warum-Erklärungen für die Kinder fragte. Es geht bei dem aktuellen Versuch darum, mit einer Taschenlampe über einen Spiegel auf einen Reflektor zu leuchten. Der Reflektor, der sich in ähnlicher Form an Fahrradspeichen und Schultaschen findet, kann per Blu-Tack an eine Wand geklebt werden. Spiegel und Lampe werden gehalten. Hansmann fragt kritisch: „Die Frage is (.) ähm dabei, was- was soll rauskommen? Also, (1) ich: klebe diesen Reflektor irgendwo hin (2). So. Und jetzt weiß ich also, [xxx] Spiegel, jetzt müsst ichs irgendwie so halten und probier ich ein Weilchen rum, dann hab ich 's irgendwann. (1)“ Schmidt stimmt zu und Hansmann fährt fort: „Die Kinder wiederholen den Versuch, die drehen den [Spiegel] nochmal woanders hin. So. Was ist das Ergebnis? (4)“ Frau Rabe holt rhetorisch aus und verliert sich dabei etwas in Ausführungen, wie es zu dem Versuch gekommen ist und wie sich seine materielle Ausgestaltung geändert hat. Herr Hansmann insistiert erneut kritisch und will eine Antwort auf seine Frage: „Was kommt denn dabei raus?“ Frau Schleier antwortet mit einer Art Merksatz: „[Was] wir wollen, is ja, dass wir feststellen: ‚Das Licht wird vom Spiegel reflektiert in eine andere Richtung‘.“ Herr Schmidt macht ein „Mhmh.“ und Frau Schleier nimmt die erwartete Kritik an ihrer Antwort vorweg: „Und das is das ähh d- da ... Wir sind hier bei der Einführung – das ist de:r- der Mm- Punkt: ‚Was kann man mi- mit Licht alles
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machen?‘ Es kann absorbiert werden, es kann äh (.) ähh reflektiert werden, es kann gestreut werden, es äh kann aufgebrochen werden. Das sind im Prinzip die vier Sachen, (.) die- die gemacht werden. U:nd ähm (1) an DIEser Stelle is mehr (1) nicht (1) äh zu erwarten, weil, was die Kinder im ersten Schritt machen, is genau das, was Sie gerade gemacht haben: Sie leuchten DIrekt au- irgendwo hin. Und das ist genau der Punkt, dass sie halt geZI:ELT auf den Spiegel leuchten, damit sie mit dem SPIEgel das Licht dahinlenken und nich mit der Taschenlampe.“ Frau Rabe meint, dass man den Spiegel vielleicht in den Titel des Versuchs bringen sollte. Parallel dazu regt Herr Schmidt an, ob man mit dem Versuch nicht auf die Geradlinigkeit von Licht kommen könnte, was von allen Beteiligten skeptisch aufgenommen und letztlich zurückgewiesen wird („Schwierig“, „Schritt zu weit“). (Meeting 3A, 3. Dokumentenseite § 1232–1276, 02:03:02–02:05:11)
Mit den Ausführungen wird herausgestellt, wie das Phänomen selbst als Erklärung konzipiert wird. Nicht als eine kausale Das-ist-so-weil-Erklärung, sondern als eine nachprüfbare Beweisführung: eine beschreibende Es-ist-so-dass-Erklärung. Das separierte Phänomen soll somit für sich sprechen und Auskunft über die Natur geben. Was lässt sich mit Licht machen? Wie verhält es sich? Das von Hansmann angestrebte, auf Kausalitäten fokussierte Lernziel wird durch die Tätigkeit des Erzeugens eines Phänomens und seiner Beobachtung ersetzt: Licht umlenken, reprozierbarfunktional und nachprüfbar. Analog hierzu entfaltete sich in Entwicklungszyklus B eine nahezu identische Diskussion, bei der die Autorin Kran – ohne Kenntnis der Arbeit ihrer Vorgängerinnen – für sich die gleiche Position bezieht: Es geht um das Periskop – also ein Gerät mit dem man per Spiegel um die Ecke gucken kann – und um die Frage nach dem Lernertrag bzw. Lösungssatz. Kran resümiert: „Eh ich meine meiner Meinung nach würde es reichen, wenn wir sagen äh: ‚Licht ehm kann man auch um die Ecke lenkn‘. Das is doch schon was (.) als Versuch oder als Ergebnis ne sehr gute Erkenntnis, die auch völlig ausreichend ist.“ (Meeting 3B, 2. Dokumentenseite, § 317, 01:24:36–01:25:01)
Auch wenn es sich bei dem Lern- bzw. Lösungssatz um einen Es-ist-so-dass-Satz und keinen Es-ist-so-weil-Satz handelt, kann er doch als eine verkündende Erklärung verstanden werden. Es ist ein Lernsatz, der durch das Phänomen selbst abgebildet und gesehen werden soll. Das Erfahren steht hier vor einer kausalen Abstraktion. Zu dem Schattentheater hält Frau Rabe fest: „Da- aber ich muss da nicht äh den Lernertrag ... also ich sag mal, in dem Fall ähm, wenn ich den Kindern jetzt hier unten en Lernertrag über Schat- Strahlenwege oder sowas äh DA (.) is glaub ich das Erfahren wieder das- das gr- Schwere und äh das Schwerwiegendere.“ Der Hinweis auf „Strahlenwege“ als Lernertrag wird in einer Art und Weise im Satz platziert und gesprochen, mit der deutlich wird, dass dies keine ernsthaft gangbare Option für die Grundschule ist. (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite, § 1625–1635, 01:09:33–01:09:35)
Dass es aus der Sicht von Hansmann kein idealer Anspruch ist, unerklärte Phänomene nur zu erfahren und die Auflösung dieser Phänomene schuldig zu bleiben, wird
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auch mit der nächsten Diskussion deutlich. Mit dem Beharren auf dem von ihm favorisierten Lernideal positioniert er sich erneut als Vertreter der Schul- und Lehrerpraxis, die es für das Produkt zu berücksichtigen gelte. Bei dem nun debattierten Versuch geht es um die Frage, „wie sehe ich mich im Spiegel?“. Es gibt recht kleinschrittige Instruktionen: Das Kind soll sich einen Punkt auf die Wange kleben, in den Spiegel schauen, das Spiegelbild abmalen, die fertige Zeichnung vor die Brust halten und dann im Spiegel mit dem Gesicht vergleichen. Die Einsicht soll sein: Im Spiegel sieht man sich spiegelverkehrt. Hansmann bilanziert den Versuch kritisch und verweist dabei auf das, was die Produkterprobung aus seiner Sicht primär ergeben hat: „Das is das, was die Lehrerinnen so intuitiv den ‚geringen Lernertrag‘ nennen. Also: ‚Was is mir neu?‘ (.) Guck ... also diesen schicken Versuch mit dem spiegelverkehrten Abbilden, mit dem (.) Punktkleben, ne? (2) Ähm (1) und da ham die Lehrerinnen gesagt: [verstellt seine Stimme tiefer] ‚Ja das ham die Kinder gemacht, na UND?‘ (1) ‚Wissen wir nun.‘ So. (1) Gelernt haben sie [die Kinder] an der Stelle, wenn se denn den Text [die Anweisungen] gelesen haben, die Sache mit dem SPIEgelbildlichen, dass das eben andersrum is. (.) Abe:r (2) mehr is es dann auch nich. (3).“ Etwas verwundert, aber auch kritisch klingend, hält Frau Rabe dem entgegen: „J:ah aber dasss- das is doch auch schon nhh, ich sag mal, für die Kinder ne Erkenntnis.“ (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite, § 1258–1259, 00:52:50–00:53:31)
Die unterschiedlichen Ansprüche an das Produkt und somit an Lernen, Kinder und Sachunterricht stoßen hier aneinander. Während Hansmann sein Verständnis von Lernen mit der Box noch nicht eingelöst sieht, sind die Autoreninnen aus Zyklus A bereits zufriedener mit dem Produktstadium und dem Ertrag. Ihnen geht es vorrangig und vielfach um Erfahrungen, mit denen der Anspruch verbunden ist, Phänomene zu erzeugen und sie sich bewusst zu machen. Da sich Kinder nicht bei diesem Versuch das erste Mal im Spiegel sehen, ist davon auszugehen, dass sie bereits implizites Wissen über ihr Spiegelbild haben. Die angestrebte Erkenntnis ist für sie also nicht gänzlich neu und überraschend. Allenfalls ist – mit Blick auf Hansmanns Zugeständnis, dass ein gewisser Lernertrag zu erwarten ist – davon auszugehen, dass erste Schritte getätigt werden, mit denen das implizite Wissen der Kinder in schulisch explizierbares Wissen überführt wird: mit der Antwort auf die Frage und zu der Aufgabe, was den Kindern beim Vergleich der Bilder auffällt. Die Antwort auf eine Warum-Frage wird hiermit jedoch noch nicht tangiert. Identische Auseinandersetzungen gab es auch im Entwicklungszyklus B. Hansmann betrachtet den Aufbau der Station: Verschiedene rechteckige, flächige Materialproben sollen mit einer Taschenlampe an- bzw. durchleuchtet werden. Er fragt, was es den Kindern bringen würde: „Die wissen doch, dass Materialien unterschiedlich durchsichtig sind, es durch sie unterschiedlich durchscheint.“ Kran verteidigt den Versuch und führt an: „Das hatten wir jetzt auch mal mit Kindern gemacht, und was die Kinder sehr fasziniert, ist, dass das tatsächlich so IST. Es ist erstaunlich, wie wenige Erfahrungen – bewusste Erfahrungen – in dem Bereich vorliegen.“ Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 560–561, 02:32:18–02:32:48)
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Soll ein Phänomen für sich sprechen (Dass-das-tatsächlich-so-IST-Erklärung), verfehlt dies den Anspruch von Hansmann, ganz besonders dann, wenn es sich um ein Phänomen handelt, das aus der Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder stammt und ihnen somit bereits bekannt ist (siehe Kapitel 5.1). Kinder wissen, dass Glas lichtdurchlässig ist, dass das Spiegelbild spiegelverkehrt aussieht oder dass Schiffe schwimmen. Dadurch, dass diese Phänomene aus dem Alltag genommen und modelliert in den Unterricht gebracht werden, kann möglicherweise ein neues Reflektieren angebahnt werden. Im Verständnis von Hansmann sind die Phänomene damit aber noch nicht richtig und vollständig eingeschult. Wo liegt der schulische Nutzen, wenn Kinder Phänomene erzeugen und erfahren, die sie bereits kennen? Weniger scharf akzentuiert verläuft die Diskussion bei Phänomenen, die weniger alltäglich und eher unbekannt sind. Als Es-ist-so-dass-Erklärung hätten diese Phänomene zumindest Überraschungspotenzial. Kran leitet über zur nächsten Station, den optischen Täuschungen. Auf dem Tisch liegen verschiedene Blätter, meist im Din-A4-Format, auf denen unterschiedliche Gebilde gedruckt sind (z. B. sich scheinbar ineinander drehende Zahnräder in Bewegung). Kran erklärt: „Das is natürlich für Kinder (.) sehr faszinierend.“ Peine unterstreicht dies („Mhmh.) und Kran wendet, an Hansmann gerichtet, ein: „Was man da nicht ähm (1) hinbekommt ist, (.) dass man (.) dann das – was Sie sich ja auch f- äh immer wünschen –, am Ende sagen kann: ‚WARUM ist das eigentlich so?‘ (.) Da gibts ganz viele unterschiedliche äh Erklärungen dazu. Manche (.) ähhm funktionieren, weil die Augen (.) ähh das so und so hergeben, machen, funktionieren so, weil das GeHIRN das an- anders umsetzt, und andere wiederum sind irgendwie physikalischer äh Natur. (.) Mhh da muss man dann darüber nachdenken, was möchte man (.) denn eigentlich? Möchte man äh mh einfach nur die Erfahrungen sammeln lassen oder sich wundern darüber, DAS (.) AUgen getäuscht werden können oder sollen wir lieber auf (.) solche Dinge gehen, wie äh ‚blinder Fleck‘ oder so etwas, dass man da nochmal etwas über das eigene Auge (.) lernt.“ Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 1345–1352, 00:51:28–00:52:34)
Die Phänomene sollen erklären, dass sich menschliche Sinne täuschen lassen. Diese Faszination sinnlich zu erfahren, ist das, was die Station anbietet. Frau Kran ist bemüht, bereits beim ersten Vorstellen der Blätter eine Warum-Erklärung auszuschließen. Damit nimmt sie den schon erahnten kritischen Hinweis von Hansmann vorweg und begegnet ihm präventiv. Im Laufe der Entwicklungsarbeit forderte Hansmann jedoch eine solche Das-ist-so-weil-Erklärung zu optischen Täuschungen ein: Es geht um die Frage, ob die optischen Täuschungen in dem Heft mit den Lehreranleitungen aufgegriffen werden sollen. Peine meint, das sei nicht nötig und Hansmann wiederspricht dieser Einschätzung: „Ehm aber bereits dafür, weil die Kinder dann fragen, ‚Warum is das so?‘, möchte man dem Lehrer was sagen und ‚Warum bewegt sich das?‘, so, da muss man dem Lehrer auf jeden Fall was sagen.“ Herr Peine meint, dass man dazu inhaltlich aber nicht viel mehr sagen könne und Frau Kran führt zustimmend an: „Mhm, das is nen Phänomen.“ Peine ergänzt: „Also gehirnpsychologisch können wir das nich erklären.“ Frau Kran stimmt zu: „Nein, das können se nich erläutern.“ (Meeting 2B, 2. Dokumentenseite, § 21–30, 01:13:03–01:13:34)
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Es wird erneut klargestellt, dass es nicht um eine Warum-Erklärung gehen kann und Frau Kran begegnet dem geäußerten Wunsch nach dieser erneut mit dem Hinweis „das ist ein Phänomen“. Exakt diese Formulierung wurde bereits zuvor in gleichen Zusammenhängen und in beiden Entwicklungszyklen gebraucht: Verwiesen sei sowohl auf die Äußerung von Frau Rabe zum scheinbar angewinkelten Stab im Wasserglas als auch auf die durch Polfilter sichtbar werdenden Spannungslinien des Plastikbechers (siehe Kapitel 5.1). Mit diesem Hinweis – „das ist ein Phänomen“ – wird sprachlich eine Abtrennung von Phänomen und Warum-Erklärung deutlich. Durch die Abtrennung von Phänomen und physikalischer Kausalerklärung kann nun letztere gestrichen werden, ohne dass automatisch Ersteres entfällt. Damit können prinzipiell Phänomene in die Grundschule gelangen, deren naturwissenschaftlicher Hintergrund eigentlich nicht als sachunterrichtliches Thema angesehen werden kann, die die Autor(inn)en aber trotzdem als wichtig klassifizieren. Dadurch, dass das Phänomen und seine kausale Erklärung keine Wissenseinheit und auch kein didaktisches Gesamtpacket mehr bilden, kann der Wunsch nach einer Es-ist-so-weil-Erklärung zurückgewiesen werden: Die naturwissenschaftliche Erklärung eines Phänomens wird dann nicht als Thema für die Grundschule konzipiert, dass Phänomen selbst jedoch schon. Dabei wird das Phänomen trotzdem deutlich naturwissenschaftlich gerahmt, etwa durch instruierte reglementierte Forschungstätigkeit (z. B. „immer nur eine Variable je Versuchsdurchgang verändern“), durch das Betonen von reproduzierbarer Nachprüfbarkeit oder durch das materielle Setting und seine physikalischen Artefakte. Das von seiner Kausalerklärung abgelöste Phänomen wird für die Grundschule zu einem naturwissenschaftlichen Teaser. Frei übersetzt also zu einem werbenden Anreißer, einem Aufmerksamkeit erzeugenden Lockangebot, einer impressiven Vorschau oder einem kurzen Denkimpuls. Letztlich verweist ein solcher Teaser auf das, was noch ausführlich kommen wird, auf die Welt der Sekundarstufenoder Universitätsphysik, die derzeit nicht erklärt werden kann, auf die nur ein kurzer und faszinierender Blick geworfen werden kann. Aus Sicht der Autor(inn)en gilt: Wenn man das Phänomen zum Lernertrag erhebt, will oder kann man es nicht auflösen, wohl aber von seiner Warum-Erklärung ablösen und zu einer Es-ist-so-dass-Erklärung machen. Die folgenden Ausführungen gehen der attestierten Unerklärlichkeit nach.
Naturwissenschaftliche Correctness und Fehlvorstellungen Deutlich wurde Hansmanns Anspruch auf kindgerechte Kausalerklärung, die zu neuen „vorläufigen Vorstellungen“ bei den Schüler(inne)n führen sollen. Ebenfalls herausgestellt wurde, dass Hansmann in der Praxis der Entwicklung mit dieser Position auf mehr Widerstand bei den Autor(inn)en trifft, als zunächst vermutet werden konnte. Oft war in den Entwicklungsmeetings jedoch die Tendenz zu beobachten,
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dass man sich im Fluss der Gespräche schnell wieder von dem strittigen Punkt entfernte, ohne eine Lösung oder einen Kompromiss auszuhandeln. Mit zunehmender Entwicklungsdauer gewann die Debatte jedoch an Explikation. Hansmann bilanziert kritisch: „Wir haben keinen Versuch, wo es alleine um dieses Phänomen geht [Geradlinigkeit von Lichtstrahlen und die Frage: Warum entsteht ein Schatten?], das Herr Schmidt eben richtig aufgegabelt hat und das genau – ich bin richtig froh, dass das nun endlich hochkocht – ehm das genau is die Geschichte mit dem Erklären. Das is das, was die Lehrerinnen entweder nachschieben oder suchen, (.) wenn man das [Erklären] konsequent machen [noch einarbeiten] könnte [wäre das in seinem Sinne].“ (Meeting 3B, 2. Dokumentenseite, § 625, 01:47:43–01:48:08)
Es wird erklärt, dass Erklärungen bisher nicht konsequent genug produziert wurden. Die Differenzen in der Bewertung von kausalen Erklärungen – die sich bereits im Produkt manifestiert haben – werden somit angesprochen. Ferner wird auf der Grundlage der Erprobung darauf hingewiesen, dass Lehrer(innen) letztlich selbst kausale Erklärungen zu den Phänomenen zu geben versuchen. Mit diesem Argument wird darauf verweisen, dass sich Grundschulunterricht nicht erklärungsabstinent und unter Vermeidung von Wieso-weshalb-warum-Fragen gestalten lässt, ein Weglassen von diesen Erklärungen durch die Entwickler(innen) also nicht gleichbedeutend ist mit einem Verzicht auf sie in der späteren Schulpraxis: Frau Kran resümiert mit Blick auf die geforderten Erklärungen: „Wenn man diese scheinbaren Plausibilitäten ehm zulässt oder sogar anbietet, dann verursacht das ja nicht selten auch Fehlvorstellungen, die dann nachher nich äh ...“ Schmidt setzt an („Ehm“), aber Hansmann ist schneller: „Umgekehrt: Wenn wir nachher nichts anbieten, wird es noch grausamer.“ Kran gesteht dies zu: „Ja das ist genau, das ist uns ja jetzt auch klar(.)geworden, dass die Lehrerin und Lehrer versuchen, irgendeine Erklärung zu geben, die aber womöglich ganz falsch ist, weil sie auch selber ehm gar nicht beurteilen können. Denn so einfach is die Physik nun mal leider nicht.“ Darauf wird mit Zustimmung reagiert. Herr Schmidt betont, dass in dem Heft nichts Falsches stehen darf und reduzierte Erklärungen nicht zu Fehlvorstellungen führen sollen – im Zweifel solle man sie daher besser ganz weglassen. Auch Herr Hansmann gesteht zu, dass Warum-Erklärungen selbstredend nicht immer möglich bzw. angebracht sind. (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite § 213–225, 00:37:50–00:40:12)
Mit Hansmanns Argumentation, dass die Schule nach schulischen Erklärungen, Lösungssätzen, Warum-Fragen sowie einem Lernertrag aus Sicht der Lehrer(innen) verlangt und das damit verbundene schultypische Wissen in der Schule generiert werden wird – unabhängig davon, ob naturwissenschaftliche Expert(inn)en es als richtig bzw. richtig genug, falsch oder „ganz falsch“ deklarieren –, kann er einen Punkt in der Diskussion erzielen: Frau Kran signalisiert ein Einlenken und ggf. ein Verschieben der Richtig-genug-Grenze. Jedoch werden die von Hansmann eingeforderten „vorläufigen Vorstellungen“ immer noch problematisiert: Nicht selten verfestigten simplifizierende Erklärungen „Fehlvorstellungen“, die sich dann („nachher“) schwer
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beseitigen ließen. Bei den Autor(inn)en werden so die Bedenken deutlich, der Komplexität der Physik nicht zu genügen und Kinder auf eine falsche Wissensfährte zu locken. Die Bedenken, fehlerhaftes Wissen zu vermitteln bzw. zu veröffentlichen, waren auch bei dem Verleger Schmidt ausgeprägt.10 So wurden die Erklärungen, die es in die Erprobungsversion des Materials aus Entwicklungszyklus A geschafft haben, einem externen Gutachter (dem Physiker Herrn Dr. Franz) vorgelegt, damit dieser als weiterer Experte die „Verifizierung unserer Erprobungsfassung“ übernehmen konnte. Die Ergebnisse dieser Verifizierung wurden den Autorinnen Frau Schleier und Frau Rabe sowie mir mitgeteilt. Der Experte urteilte: „Einige der Erklärungen sind jedoch falsch“. In der Stellungnahme wurde recht ausführlich und deutlich Kritik geübt. Die Verwendung physikalischer Begriffe wäre teils falsch, teils unzulänglich ausdifferenziert, beschriebene Prinzipien, Bedingungen, Zusammenhänge, Suggestionen und Vergleiche wären ungenau oder inkorrekt. Das Schreiben war eine weitere Belastung für die Kooperation in Zyklus A. Wie in den Kapiteln 3.2 und 3.3 herausgestellt wurde, ist das konsenshafte zuschreiben von Expertise ein wichtiger Bestandteil der erfolgreichen Kooperation. Probleme treten dann auf, wenn die Zuschreibungen von Kompetenzbereichen – als Selbst- und Fremdwahrnehmung – nicht mehr kongruent liegen. Schmidt und Hansmann schrieben den Chemikerinnen Dr. Schleier und Dr. Rabe bisher die physikalische Expertise zu, die sich mit der Expertise von Dr. Franz relativierte. Die Maxime, dass etwas „weggelassen“ werden soll, wenn es sich „nicht korrekt“ erklären lässt, kann als ein ausgeprägtes Verlangen nach einer naturwissenschaftlichen Correctness verstanden werden: Die Physik als universitäre Disziplin (die – mit den Worten von Frau Kran – nun mal nicht so einfach sei) soll dabei als Referenzsystem, die Kategorien „richtig“ und „falsch“ bereitstellen. Was als noch richtig und schon falsch gilt, ist aber immer auch eine Sache der situativen Aushandlung. Auch das Weglassen von Aspekten, also das Reduzieren von Erklärungen, wird schnell verdächtigt, zu defizitären bzw. fehlerhaften Vorstellungen zu führen. Mit dem prominenten Rekurrieren auf „Fehlvorstellungen“ wird zudem deutlich, dass das zugrunde liegende Verständnis von Wissenschaft und Forschung nicht von einer grundsätzlichen Vorläufigkeit von Wissensbeständen ausgeht. Die beobachtete naturwissenschaftliche Correctness geht von den heute geltenden und als gesichert angenommenen Einsichten der Physik aus. Der heutige Konsens unter den universitären Wissenschaftler(inne)n ist die „richtige“ Physik. Diese „richtige“ Physik liefert für die Entwicklung zwar eine Orientierung (neben weiteren), sie in die Grundschule zu
|| 10 Dies ist möglicherweise auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Massenmedien in regelmäßigen Abständen über schlechte und fehlerhafte Schulbücher berichten, Stiftung Warentest Schulbücher benotet (vgl. z. B. Pohl 2009) und auch die fachdidaktische Scientific Community über die Qualität von Lehrmaterialen kritisch urteilt. Dass ein Sachverhalt in der Schule – und über ein kommerzielles Produkt – „falsch“ vermittelt wird, ist dabei selbstredend keine gute Werbung.
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transferieren und kindgerecht umzuformulieren, erscheint den Entwickler(inne)n jedoch vielfach weder möglich noch sinnvoll. Das Aufgreifen von elaboriert physikalischen Es-ist-so-weil-Erklärungen soll wegen der einhergehenden Simplifizierungsrespektive Fehlergefahr gemieden werden. Man möchte den Kindern Irrwege bzw. falsche Wissensbestände ersparen. Die Erfahrung von Phänomenen rückt damit in das Zentrum des Unterrichts. Um diese Erfahrung reproduzierbar zu machen, wird die Erzeugung des Phänomens mit instruktiven Erklärungen beschrieben. In dem so konzipierten Bild von Sachunterricht als Heranführung an physikalisches Lernen spiegeln sich Anfänge der Geschichte der Naturwissenschaften. Der so verstandene Sachunterricht findet seine Entsprechung in einer Epoche der Naturerkundung, die geprägt ist durch ein Rezeptwissen zur funktionssicheren Erzeugung bestimmter sowie kausal unerklärlicher Phänomene. In einem solchen Sinne erhält die „zauberhafte Physik“ eine alchemistische Konnotation. Durch den Einsatz von Phänomenen als Es-ist-so-dass-Erklärungen wird versucht, die Natur selbst sprechen zu lassen. Die Idee ist, dass mit dem Phänomen – erzeugt durch einen Versuch als Bitte an die Natur etwas zu demonstrieren – nur das gezeigt wird, was wirklich (und warum auch immer) in der Welt so ist wie es ist.11
Objektive Beobachtungen der natürlichen Phänomene? Es-ist-so-dass-Erklärungen sind eng am beobachteten Phänomen orientiert, mit ihnen soll das verbalisiert werden, was gesehen wurde. Doch ist somit eine unzureichende, weil fehlerhafte Erklärung ausgeschlossen? Gibt es auf die Frage, was mit dem jeweiligen Phänomen gezeigt und gesehen werden soll, nur eine objektive Antwort als naturgegebene Wahrheit? Diesen Fragen wird sich im Folgenden mit einem scheinbar profanen Phänomen und seiner beigestellten Es-ist-so-dass-Erklärung genähert. Frau Rabe blickt wieder in die Unterlagen und sagt: „Ähm das eine is, was ich noch drin hatte, äh ‚Schatten von Formen und Körpern‘.“ Herr Schmidt macht ein verstehendes und bestärkendes „Mh mh“, das er freundlich aber auch wissend betont: Das Thema scheint ihm bekannt. Frau Rabe fährt indes erklärend fort, was es mit dieser Überschrift auf sich hat: „dass ich im Prinzip, wenn ic:h ähm (1) aus Tonpapier oder aus irgendwas en Dreieck hab, dagegen leuchte, ich ne dreieckige Schattenform (.) krieg, wenn ich aber jetzt zum Beispiel ein Kegel oder ne Pyramide nehm und dagegen leuchte ... ich KANN nicht unterscheiden, ob ich ne flache Form hab oder ob ich ... ein Körper hab.“ Kurz vor – fast während – des Satzendes macht Schmidt erneut sein „Mh mh“ und schiebt dann noch ein freundlich betontes „genau“ nach, was aber auch etwas von
|| 11 Dies soll nicht als grundsätzliche Kritik an einer Erklärungsabstinenz verstanden werden. Phänomenologisch orientiert hält beispielsweise Murmann treffend fest: „Die spielerische Beschäftigung mit Schatten beim Schattentheater, Schattenfangen oder Ähnlichem ist außerdem geeignet, Erfahrungen mit Schatten zu vertiefen und jenseits von Erklärungsabsichten Regelhaftigkeiten zu entdecken.“ (Murmann 2004: 7)
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einem ‚Schon klar‘ hat. Frau Rabe zieht dennoch ein kurzes Fazit ihrer Ausführungen zum Phänomen: „Am Schatten“ kann man nicht ausreichend auf den Körper schließen, der ihn wirft. Auch Herr Hansmann macht nun ein lakonisches „Mh“ während Frau Rabe – bemüht, das Phänomen wirklich präzise, sprachlich scharf und korrekt zu beschreiben – anführt: „Mein Schatten is immer zweidimensional, egal, wo er herkommt (1).“ Schmidt stimmt erneut zu und Frau Rabe fährt damit fort, wie dieses Phänomen in eine Aufgabe umgewandelt werden kann: „Da kann man ja dann als – jetzt als Auftrag für die Kinder – jetzt so ..., wenn ich die unterschiedlichen Sachen hab, wenn ich sag: ‚Ich hab jetzt ein Dreieck und ich hab ne Pyramide. (2) Guckt euch mal den Schatten davon an (1) und schaut mal, ob ihr se unterscheiden könnt!‘“ Sie betont den letzten Teil ihrer Ausführungen sehr abschließend: Das war der Input von ihrer Seite. (Meeting 2A, 1. Dokumentenseite, § 3114–3125, 03:05:24–03:06:09)
Das Lernziel in Entwicklungszyklus A ist demnach die folgende Es-ist-so-dass-Beobachtung: Schatten sind immer zweidimensional, egal, ob sie von einer Pyramide oder einem Dreieck geworfen werden. Das Phänomen des Schattenwurfs wurde in Entwicklungszyklus B ebenfalls als Versuch eingeplant. Das Lernziel als Beobachtungsergebnis war jedoch ein diametral anderes: Frau Kran erklärt den Versuch: „Es geht nur darum, zu untersuchen, äh was ist eigentlich Schatten, ja? Der, der scheint ja immer hier flach am Boden zu liegen.“ Sie probiert während der Erklärungen etwas mit der Taschenlampe herum und beleuchtet ein Stück sechseckiges Papier. Dieses hält sie mit leichtem Abstand über den Tisch. Da es im Raum recht hell ist, ist der Schatten auf dem Tisch nicht sehr deutlich. „Jetzt kriegen wir das irgendwie nicht so richtig gut hin, dass man das sehen kann. Aber der [Schatten] scheint ja immer flach am Boden zu liegen. Und (1) wenn man dann mal schaut äh (2) wo ist denn der Schatten?, kann man sagen: Okay, der ist da, aber dann ist auch ähm, er ist da, flach, am Boden ...“ sagt sie und deutet auf die abgedunkelte Fläche auf dem Tisch „ ... aber er ist auch noch hier und da auch ...“, dabei deutet sie auf den Raum zwischen Papier und Tisch, hält man einen Gegenstand in diesen Raum, dunkelt er sich ebenfalls ab „… und wenn man das untersucht, dann stellt man fest, der hat nämlich ne dreidimensionale Form dieser Schatten.“ Schmidt macht ein „Mhh.“ und Kran fährt erklärend fort: „Also das ist ein Vollkörper sozusagen, wenn man den äh dann so richtig betrachtet. Und das ist etwas Neues, was die Kinder auch immer sehr äh erstaunlich finden. Nicht nur die Kinder, auch die Studierenden finden das ganz erstaunlich, dass der Schatten nicht etwas Flaches ist, was auf dem Boden liegt.“ Peine ergänzt mit dem Begriff: „ein Schattenraum“. (Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 220–237, 02:17:10–02:18:21)
Der Schatten kann somit als Fläche oder Körper angesehen und verstanden werden – wenn man so will, ist beides ein mögliches Lernziel, beides kann je nach Sichtweise richtig sein. Dies bedeutet jedoch auch, dass sich nicht einer der beiden Lösungssätze mit exklusivem Wahrheitsanspruch aus der Phänomenbeobachtung ableiten lässt: Der Lösungssatz „Schatten sind immer zweidimensional“ widerspricht schlicht dem Satz: „Schatten sind räumliche dreidimensionale Körper“. So wird deutlich, dass schon die Beobachtung eines scheinbar schlichten Phänomens weniger absolutistisch gesehen und beschrieben werden kann, als es zunächst erscheint. Auch vorsichtige Es-ist-so-dass-Erklärungen bergen Potenzial für plurale Sichtweisen. Sie sind
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keine unumstößlichen Wahrheiten, die uns die Natur zu einem Phänomen als Antwort diktiert. Die Vorstellung, dass ein Phänomen (s)eine Es-ist-so-dass-Erklärung monologisch abgibt und die Beobachter(innen) diese nur aufzunehmen brauchen, ist nicht zu halten. Auch eine naturwissenschaftliche Beobachtung ist nicht unabhängig von den Beobachter(inne)n und ihren Interpretationen oder Definitionen. So, wie die Beobachtung von sozialer Interaktion als eine Praxis der Sinnzuschreibung und Hervorbringung zu verstehen ist, so ist auch die Beobachtung von physikalischen Phänomenen mit konstruierenden Sinn- bzw. Lernzielzuschreibungen verknüpft. Was selbstredend nicht bedeuten soll, dass diese Beobachtungen nicht zu sehr tragfähigem und produktivem Wissen führen können. Es soll jedoch für die Problematisierung der Frage sensibilisiert werden, wie etwas vermeintlich in Wirklichkeit ist. Ist der Schatten in Wirklichkeit 2-D oder 3-D? Setzt der Farbkreisel in Wirklichkeit bunte Farben zu weißem Licht zusammen? Dass oft keine eindeutigen Es-ist-so-dass-Antworten gegeben werden können, ist keine exklusive Besonderheit des naturwissenschaftlichen Sachunterrichts. Auch Fragen und Prinzipien der Quantenphysik sind nicht absolutistisch oder gar abschließend richtig zu beantworten: Ist ein Lichtquant in Wirklichkeit Welle oder Teilchen? Es herrscht oftmals mindestens ein Antwortdualismus, der von der Scientific Community akzeptiert und mit dem gearbeitet wird. Das Herstellen von Konsens durch geteilte Sinnzuschreibungen – was soll unter welchen Bedingungen gesehen werden? – ist auch unter den Entwickler(inne)n der Box eine zentrale Praxis. Da es nicht so ist, dass sich durch die Beobachtung eines bestimmten Phänomens nur ein zugehöriges Bild der Wirklichkeit als Lernziel ableiten lässt, gilt es zu diskutieren, was „rauskommen“ soll.
Lernzielzuschreibungen: Was soll gesehen werden? Schon an einem scheinbar schlichten Phänomen wie dem Schatten lässt sich mehr sehen und deutlich machen, als es zunächst scheint. Das Phänomen des Schattenwurfs bietet somit mehr als nur ein Lernziel, das als solches gesetzt werden kann. Das Machen von Lernzielen kann so als Einigung verstanden werden, in deren Zuge gefragt wird, was mit dem jeweiligen Phänomen gesehen und gezeigt werden soll. Es geht um das Ziel der Beschäftigung und die Frage nach dem Output. Dabei ließ sich immer wieder beobachten, dass Entwickler(innen) das vermeintliche Ziel des jeweiligen Versuchs benannten und damit Widerspruch bei anderen Beteiligten hervorgerufen wurde. Besprochen wird ein Versuch, bei dem eine aufliegende Taschenlampe in einen aufgestellten Deckel einer kleinen Kunststoffbox leuchtet, der an seiner Hinterseite ein kleines Loch hat. Durch dieses nimmt das Licht der Lampe seinen Weg und wird auf eine Milchglasscheibe geworfen, die in einigem Abstand davorsteht. Auf der Scheibe findet sich der kleine Lichtpunkt wieder. Hansmann fasst das Ziel dieser materiellen Aufstellung zusammen: „Sodass dabei rauskommt: ‚Also, der Lichtstrahl als solcher ist (.) nicht s i c h t bar (2), wir bemerken ihn erst, wenn er (.) auf eine äh auf eine Sache trifft und reflektiert wird.‘ Oder (1).“ Schmidt stimmt zu („Mhmh.“)
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und fügt an: „Ja, wenn er irgendwo auftrifft.“ Auch Hansmann schließt selbst noch einmal an sein „oder“ an: „‚Wenn er irgendwo auftrifft.‘ Punkt.“ Schmidt stimmt erneut zu und Frau Rabe leitet ein mit „Gut.“, das aber eher wie ein ‚Okay, das ist also ihr Lernziel‘ klingt. Hansmann unterstreicht noch einmal, dass das seine Wunschvorstellung ist: „Das wäre wunderbar.“ Frau Rabe knüpft an: „Gut, wobei da jetzt einfach DAS eigentlich nicht das- die Hauptsache ist, die dahinter SCH:Teckte, (.) weil die Sache is ja auch ähhm den Versuch danach, wie der- wie der Schatten entsteht: Es geht ja dArum, (1) ähm, dass Licht gerade geht, und wenn sich was dem Licht in den Weg stellt, (1) kann es nicht weiterfallen. Und hinter dem, was sich dem Licht in den Weg gestellt hat, kommt kein Licht mehr an. Das heißt, dahinter hab ich Schatten.“ Schmidt bestätigt währenddessen zweimal mit („Mhmh.“). Frau Rabe führt weiter aus, warum so nun ein Schatten entsteht: „So. Des- des heißt also auch, das Licht geht geradeaus, es kann sich nicht um den Baum rumschlängeln und kommt dann wieder aufm Boden an.“ (Meeting 3A, 3. Dokumentenseite § 68–84, 01:17:07–01:18:05)
Mit dem Versuch können demnach mindestens zwei Einsichten gewonnen werden: Die Nichtsichtbarkeit des Lichtstrahls und seine Geradlinigkeit sowie Blockierbarkeit als Überleitung zum Schattenwurf. Anders formuliert: Durch das Auftreffen von Licht auf Gegenstände können wir Licht und Schatten sehen. Es ist eine Frage der didaktischen Akzentuierung, was nun in den Vordergrund gerückt und zum Lernziel für die Materialcollage erhoben wird. Zu Beginn von Entwicklungszyklus B formuliert Hansmann die Idee, eine bestimmte materielle Collage und ihr Phänomen mit einem kindlichen Lernziel zu verknüpfen. Das Lernpotenzial schätzt Hansmann hierbei als groß und wichtig ein, da (bei richtiger Durchführung) etwas wirklich Neues für Kinder herauskommen könnte: Hansmann führt an, dass es gut denkbar wäre, für die Box ein multifunktionales Rohr zu entwickeln, in das Spiegel eingesetzt werden. Mit diesem Rohr und seinen Löchern könnte man dann z. B. um die Ecke gucken und die Frage stellen, ‚Warum ich jemanden (nicht) sehen kann, der hinter einer Ecke steht‘. Hansmann hält fest: „Kinder haben doch vom Sehen äh folgende Hypothese: ‚Sehen is etwas Aktives‘, das is so, als ob ich etwas nehme [deutet mit der Hand eine greifende Geste an]. Sie müssen lernen, dass das Sehen darin besteht: Der sendet Licht aus und die trifft auf- und das trifft auf mein Auge und zwar geradlinig. Dass der Licht aussendet [der hinter der Ecke steht], hat damit zu tun, dass das Licht da reinkommt [in das Periskop und das Auge]. Das heißt, das [Licht] geht so [durch das Rohr]. Das is ja nun in manchen ... So, könnte man mit so einem Rohr machen. Also, ich gucke Sie an – seitlich kann ich nicht rausgucken, in das Rohr setz ich jetz ein Spiegel, jetzt seh ich ihn: warUM seh ich ihn?“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 457–465, 00:22:56–00:23:51)
Die Frage, welche Lernziele in dem Versuch gesehen und favorisiert werden, hängt auch von den Erfahrungen ab, die die Entwickler(innen) mit Kindern haben. Die eigenen Bilder zu kindlichen Vorstellungen sind bedeutend: Das, was man als eigenes
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Wissen über das Wissen der Kinder ausweist. Ausgehend vom Postulieren einer kindlichen (Fehl-)Vorstellung zum Sehen als Ist-Zustand,12 wird eine Materialcollage und ein Lernweg skizziert, mit dem dieses fehlerhafte Bild vom Sehen korrigiert bzw. erneuert werden soll. In dieser offenen und noch unverbindlichen Gesprächssituation wurde der entworfene Plan interessiert und positiv aufgenommen. Ein entsprechendes Periskop wurde im Laufe des Prozesses entwickelt. Das, was damit gezeigt und erklärt werden soll, wurde jedoch – noch weit nach Fertigstellung und Erprobung des Geräts – verhältnismäßig kontrovers diskutiert. Es geht um das Periskop und die mit dem Gerät verbundenen Erkenntnis und Erklärung. Hansmann insistiert: „Ja, also diese wesentliche Erkenntnis – ich bleibe dabei – is: ‚Licht geht immer nur geradeaus‘.“ Schmidt präzisiert zustimmend: „Mhm genau wenn nich nen Spiegel im Weg steht.“ Herr Peine möchte nicht recht zustimmen, nimmt Bezug auf die angeführte Erkenntnis und verortet sie an anderer Stelle, sieht sie also nicht primär als Lernertrag vom Periskop: „Das habn wir doch beim Thema ‚Schatten‘. Das kommt aufs Gleiche raus. Das ganze Thema ‚Schatten‘ bewegt sich doch nur um diese Fragestellung.“ Schmidt nickt nachdenklich und Peine liefert das zusammenfassende Schlagwort: „Schattengrenzen“. Hansmann merkt bestimmt und kritisch an: „Aber da erklären wir es auch nicht.“ Damit meint er das Warum der Schattenentstehung, die darauf zurückgeführt werden kann, dass der Lichtweg geradlinig ist und keine Kurven um Objekte nimmt. Schmidt regt an: „Vielleicht sollten wir es [Geradlinigkeit] aber besser da [bei den Schattenversuchen] erklären, weil da haben wir nur geradeaus laufendes Licht.“ Bei der aktuellen Station – dem Periskop – spielen hingegen Spiegel eine wichtige Rolle, die das Licht umlenken. Es folgt eine kurze und nachdenkliche Pause von einigen Sekunden. Peine nimmt Bezug zu weiteren Versuchen zum Thema „Spiegelungen“ und führt an: „Also sieht man also bei den Spiegeln geht es doch wirklich nur um (.) um Reflektion“, während Kran ihren Satz fast parallel beendet: „Ja also da geht es um um Reflektion und nicht um (2)“, Kran lässt den Satz unabgeschlossen und Hansmann widerspricht: „Also bei den Spiegeln ehm zeign [XXX] ja ganz andere (1) [da] geht es nich um Umlenken in dem Sinne, machen wir da nich deutlich.“ Schmidt macht einen Vorschlag: „Ja gut, aber in dem Kapitel gehts ja um Spiegel. Also hm (.) tz dann würde ich mal Folgendes vorschlagen, wir klammern den [aktuellen Versuch] mal ganz kurz aus und gucken uns die anderen Dinge hier an und bei ‚Schatten‘ springen wa vielleicht einfach nochmal dahin zurück, weil“, Frau Kran stimmt zu („Gute Idee“) und Schmidt fährt fort: „Wenn wa nämlich Spiegel, wenn wa sehen, wie da umgegangen wird, möglichherweise is es tatsachlich so, dass wir uns auf die Funktion des Spiegels oder der Spiegel im Periskop beschränken sollten. Und nich, also praktisch nich alles können wa in dem Versuch komplett erklären. Ich weiß nich, ob das eh didaktisch zulässig is.“ Kran und Peine stimmen zu, „auf jeden Fall“ sei das didaktisch zulässig, meint Peine. Kran bleibt jetzt doch noch beim Thema und differenziert
|| 12 Die hier als kindlich charakterisierte Vorstellung vom Sehen hat durchaus eine wissenschaftshistorische Entsprechung: Schon im alten Griechenland wurde die Vorstellung vom aktiven Sehen durch Strahlen diskutiert, die das Auge verlassen, so wie Schall den Mund verlässt. Platon, Archytas und Euklid vertraten diese Ansicht gegenüber anderen Zeitgenossen. In der späteren Geschichte finden sich wiederkehrend Personen, die sich von dieser Vorstellung abwenden: Um 1000 n. Chr. proklamierte Ibn Al Haitham, dass es die Dinge sind, die das Licht zu uns senden, es ausstrahlen oder fremdes Licht zurückwerfen. 1270 wendet sich Witelo gegen die vorherrschende Vorstellung von den sendenden Augen und im 17. Jahrhundert tut Christoph Scheiner selbiges.
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weiter aus: „Mhm, es geht es geht um Reflektion und hm eigentlich mhm weniger um Lichtwege oder auch weniger um das Sehen an sich, so dass wenn ehm im Kapitel ‚Spiegelungen‘ beschäftigen wir uns ja nur mit der gerichteten äh (1) Reflektion insofern, würde ich das (.) ich würd es weglassen da.“ Damit plädiert sie dafür, auf die Hervorhebung des Strahlenmodells (Licht verläuft geradeaus) beim Spiegelperiskop zu verzichten, auch um das Sehen selbst ginge es hier eigentlich weniger. Peine greift auf, worum es beim Thema „Spiegelungen“ seiner Ansicht nach geht: „Und und ‚Abbildung‘, ne? Denn eigentlich geht’s beim Spiegeln ja nur um die Abbildung der Objekte“, Schmidt stimmt zu und Peine fährt fort: „Also bei den Würfeln sozusagen, dass man mal so Vertauschungen hat und hier sozusagen da so Objekte abbilden kann, die man sonst nicht abbilden könnte, nur um die Ecke. Aber das Strahlenkonzept ist ne ganz andere.“ Schmidt drängt auf eine Entscheidung zum Vorgehen: „Wollen wa das [Aufschieben der Diskussion] so machen?“ Hansmann stimmt zu („Von mir aus“) und man schreitet zum nächsten Versuch. (Meeting 3B, 2. Dokumentenseite, § 353–375, 01:28:10–01:30:51)
Herr Hansmann möchte – seinem Lernziel und der attestierten kindlichen Vorstellung zum Sehen entsprechend – auf das Strahlenmodell des Lichts hinaus. Ausgehend von diesem hat er das Periskop ursprünglich eingebracht. Das Strahlenmodell von Licht baut auf die Vorstellung einer geradlinigen Ausbreitung von Lichtstrahlen, die von der Lichtquelle ausgehen, auf Objekte treffen, von diesen in das Auge des Betrachters wandern und so Sehen ermöglichen. Dieses naturwissenschaftliche Modell ist eine Vorstellungshilfe, mit der sich einige Eigenschaften von Licht (geometrisch) erklären lassen. Neben der Tatsache, dass man normalerweise nicht um die Ecke gucken kann, lässt sich somit auch erklären, dass der Schatten von Objekten ihre Form am Boden abbildet. Diesen Punkt betont Herr Peine mit dem Verweis, dass man das Strahlenmodell doch bereits mit der Entstehung von Schatten behandelt hätte. Hansmann merkt kritisch an, dass es auch dort nicht erklärt wird. Damit ist gemeint, dass das Modell zwar als implizite Grundlage für das Phänomen des Schattenwurfs angesehen werde kann, man es aber nicht explizit und mit einer WarumErklärung zum Thema macht bzw. zur Sprache und in einen Lösungssatz bringt. In der angeschlossenen Diskussion wird überlegt, ob das Periskop für das Strahlenmodell überhaupt die geeignete Materialcollage ist: Lässt sich die Geradlinigkeit von Licht gut mit einem Gerät veranschaulichen, dass Licht um die Ecke lenkt? Geht es ohnehin nicht vielmehr um Spiegelung, Reflexion und Abbildung – also weniger um Lichtwege oder die Funktionsweise des Sehens? Deutlich wird dabei der Aushandlungscharakter von dem, was mit dem Versuch gesehen und gezeigt werden soll. Ferner treten die Widerstände hervor, auf die Hansmann in der Diskussion trifft: Die Autor(inn)en wollen das Strahlenmodell an dieser Stelle nicht bemühen. Mit diesem Vorstellungsmodell von Licht ist das Bild verbunden, dass Licht (als Strahl) geradeaus läuft, dass der singuläre Strahl also eine Richtung hat und er – im Fall des Umlenkens – von Punkt A über B nach C gelangt. Die zu dem Denkmodell des gerichteten Strahls passende visuelle Modellierung scheint ein Pfeil zu sein. Dieser könnte den Lichtstrahl samt Weg – Ursprung, Richtung, Ziel – darstellen. Mit der Diskussion einer solchen skizzenhaften Darstellung wurde die das Strahlenmodell betreffenden Zurückhaltung seitens der Autor(inn)en aus Entwicklungszyklus B weiter deutlich.
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Modelle modellieren: von Linien und Pfeilen Es wird die Frage verhandelt, ob das Periskop in der Box bleibt oder gestrichen werden soll. Hansmann hält ein Plädoyer: „So, wenn wir jetzt uns dafür entscheiden würden, dass wir dieses Strahlenmodell benutzen, dann würde dieses Periskop drinbleiben. Es bedürfte – das wäre eine leichte Sache – es bedürfte ein paar Fotos. Es bedürfte ehm einer klareren Aufgabenstellung und der Arbeitsbogen dazu müsste eben auch ganz eindeutig sein und müsste auch [auf] diese Strahlen, also wo die Kinder also immer nur Pfeile malen sollen. So, aber indem die Kinder nur Pfeile malen sollen, müssen wir uns einigen, was wollen wir denn für Pfeile?“ Hansmann scheint zu spüren, dass dies nun ein kontroverser Punkt werden könnte, er fährt fort: „Wollen wir also ne Andeutung, dass das Licht auf des=den Gegenstand trifft und dass der dann mit einem Pfeil in das Auge des Kindes geht – wie es eigentlich richtig wäre (.) oder wollen wir ein solches Modell nicht. So, das wäre für mich eine ganz entscheidende Frage, ehe wir eh ins Detail gehen. (2) Wenn war es nich wollen, dann is diese drei Seite weg. Das [dann] ist für [den Verlag] das Alleinstellungsmerkmal dieser Box weg, denn das is das einzige Objekt in der Box, was se woanders nicht kriegen.“ Nun ist Frau Kran am Zug, die um eine klare Antwort gebeten wurde: „Mhm also vielleicht müssen wir gar nicht eh gar nicht mit Pfeilen arbeiten, weil Pfeile äh dieses habn das Problem, dass sie natürlich immer eine Richtung angeben. Und man kann natürlich nicht sagen: Jetz eh das Licht, was jetzt zum Beispiel auf den Bäumen da draußen eh gelangt, [sie deutet zum Fenster] käme jetzt irgendwie gerichtet genau da und dann eh ins Auge weil ... das wird ja gestreut, das is ja überall, das ist ja nur ein Modell, äh mit dem wir arbeiten, wenn wir von solchen Strahlen sprechen.“ (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite, § 200–204, 00:29:19–00:31:31)
Hansmann macht deutlich, dass ihm Klarheit in diesem Punkt und der damit verbundenen Entscheidung wichtig ist: Strahlenmodell mit Periskop – ja oder nein? Mit dieser Frage wäre auch die Entscheidung verbunden, ob der Box ihr Alleinstellungsmerkmal erhalten bliebe (siehe Kapitel 4.2). Auch damit macht Hansmann deutlich, welche Entscheidung er favorisiert: das Festhalten am Strahlenmodell und Periskop, abgebildet mit Pfeilen, die veranschaulichen, wie das Licht gerichtet und gerade vom Objekt in das Auge fällt („wie es eigentlich richtig wäre“). Damit wird das Sehen als etwas Passives erklärt und modellhaft abgebildet. Der Weg zur von ihm favorisierten Korrektur der kindlichen Vorstellung vom Sehen wäre frei. Die Bedenken von Frau Kran sind jedoch deutlich. Sie verweist darauf, dass diese Vorstellung eben nicht richtig sei und unterstreicht die Modellhaftigkeit der Erklärung. Sie deutet aus dem Fenster auf einen Baum, in die Welt hinaus und hält fest, dass Licht dort gestreut würde. Es ist demnach überall im Raum und kommt nicht gerichtet, zielgenau als ein einzelner Strahl ins Auge. Auch wenn die angestrebte Erklärung der Passivität des Sehens der angenommenen kindlichen Fehlvorstellung überlegen ist, scheinen aufseiten der
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Autor(inn)en die Bedenken zu überwiegen, mit dem Korrigieren einer Fehlvorstellung eine andere und eventuell gravierendere Fehlvorstellung anzubahnen.13 Insbesondere die Pfeile werden kritisiert, da diese das „Problem“ hätten, dass sie immer eine Richtung angeben. Herr Hansmann stellt noch einmal explizit die Frage nach dem Strahlenmodell und Kran antwortet: „Also ich kann mir das so vorstellen, nur wie äh ich das vorhin schon sagte, dass man eh eben nicht mit Pfeilen arbeitet, sondern wirklich nur mit Linien und dann immer vom Weg des Lichtes spricht, weil das is nicht verkehrt […].“ (Meeting 3B, 1. Dokumentenseite, § 231–233 (00:41:19–00:41:41)
Der Kompromiss ist gefunden und wird angenommen, eine Modellierung und Symbolisierung physikalischer Wissensbestände: Linien, aber keine Pfeile. Da erstere keine Richtung angeben, wären sie nicht falsch. Es wird zu einer selbstmodellierten Darstellungsvariante des Strahlenmodells gegriffen, die ohne gerichtete Lichtbewegungen einzelner Strahlen auskommen soll. Das Spannungsverhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Correctness und den notwendigen Erklärungen (neues Wissen, schulische Regeln, Warum-Aussagen, Veranschaulichungen) scheint aufgelöst. Die gemeinsam gewählte Darstellung gerät im Folgenden jedoch in ein Spannungsverhältnis zu anderen Maximen der Entwicklung bzw. der Reihenstringenz.
Eigenaktivität als Risiko für die richtige Erklärung Herr Hansmann äußert sich zum Periskop: „Also wenn, dann müsste man hier mit den Strahlen kommen und der Tatsache, dass das Licht nicht um die Ecke geht ohne dass man eine andere reflektierende Fläche einsetzt.“ Schmidt stellt Überlegungen zum zugehörigen Arbeitsblatt an: „Kann man das an einem, kann man das zeichnerisch an einem, sagn wir mal ...“ Frau Kran wirft fragend ein: „Ah müssen die Kinder das zwingend selbst machen? Könnte man nicht ne Zeichnung hinzufügen?“ Mit ihrem Ton wird deutlich, dass sie für eine solche Vorgabe plädiert. Hansmann meint: „Also mir fällt hierzu nur ein, also dieses in einem Klassenraum zu fotografieren [Periskopaufbau und -gebrauch] und hieraus eine professionelle und professionellen Arbeitsbogen zu machen.“ Auf diesem Arbeitsbogen, auf dem ein Periskop vorgegeben wird, soll es um das Einzeichnen der Lichtstrahlen gehen. Erneut meldet sich Kran zu Wort: „Warum braucht man denn einen Arbeitsbogen? Eigentlich is es doch so ...“ Hansmann antwortet: „Weil die, weil es sonst hundert Stunden dauert, bis die Kinder diese=diesen Kasten [das Periskop] gezeichnet
|| 13 Im Sinn der Naturwissenschaftlichen Correctness könnte zudem angeführt werden, dass der Lichtweg nicht immer linear ist, Licht sich vielmehr durch Gravitation ablenken bzw. knicken lässt. Haferkorn bilanziert: Mit dem Modell des Lichtstrahls kommen wir „zur rein geometrischen Behandlung des Lichtweges. Einem einzelnen Lichtstrahl kann jedoch keine physikalische Realität zukommen. Allein die Tatsache, daß Licht eine Energieform darstellt, schließt die Konzentration längs irgendwelcher Strecken aus. Das Strahlenmodell kann deshalb über das reale Wesen des Lichtes nichts aussagen und hat nur eng begrenzte Gültigkeit.“ (Haferkorn 2003: 11)
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haben und ...“ Kran unterbricht bestimmt: „Nein, nein, die solln Garnichts zeichnen.“ Hansmann wiederholt fragend: „Nicht zeichnen?“ und Frau Kran erklärt: „Nein Garnichts, ich würde da jetzt einfach ne Erklärung reingeben und zwar mittels einer Zeichnung.“ Erneut wendet Hansmann die Aussage in eine Frage: „Mittels einer Zeichnung?“ Frau Kran erklärt: „Genau, sodass sie sich anschauen können: ‚Das is der Weg des Lichts im Periskop‘. Die müssen das doch nich unbedingt selbst zeichnen.“ Hansmann: „Also das heißt, sie würden das vorgeben.“ Kran deutet auf die Seite bzw. den derzeitigen Arbeitsbogen und sagt: „Ja, das würde ich. Das würde wahrscheinlich sogar hier noch hinpassen“ (Meeting 3B, 2. Dokumentenseite, § 273–287, 01:21:28–01:22:55)
Das als Kompromiss ausgemachte Strahlenmodell ohne Pfeile soll hier seine Anwendung auf einem Arbeitsblatt finden. Die von Hansmann verfolgte Idee ist, dass sich die Kinder mit dem Periskop, seinen einsetzbaren Spiegeln und den daraus resultierenden Möglichkeiten (um die Ecke gucken) beschäftigen. Die Lösung zur Frage „Warum sehe ich (um die Ecke)?“ soll dann eine zeichnerische Lösung sein: Der Lichtweg soll als Linie in eine Grafik vom Periskop durch die Kinder eingezeichnet werden. Das vom Gegenstand kommende Licht wird in das menschliche Auge umgelenkt. Dies ruft deutlichen Widerstand bei Frau Kran hervor: Die Kinder sollen nichts selbst zeichnen, vielmehr soll das von Hansmann skizzierte und angestrebte Endprodukt (Abbildung vom Periskop inklusive Lichtweglinien) vorgegeben – also schon durch den Verlag abgedruckt – werden. Kran möchte somit eine modellhafte Abbildung des Phänomens liefern, die als Erklärung für sich stehen soll. Die Diskussion wird in der oben beschriebenen Situation nicht zu einem Ende geführt. Einige Zeit später wird der Punkt erneut aufgegriffen: Hansmann hebt erneut das Lernziel des Periskops hervor: „hier geht [es] also wirklich darum klar zu machen: Es [das Licht] geht nur immer gerade und nicht um die Ecke, und wenn ich um die Ecke habn will, muss ich nen Spiegel dazu nehmen. So ehm mit ner Zeichnung, wo man also den Strahlverlauf sieht, ist die Sache klar.“ Schmidt räumt ein: „Na gut, diese Zeichnung kann man ja machen, Herr Hansmann. Das ist ja nicht die Frage. Wenn man jetzt hier auf das Blatt ne Zeichnung macht, von diesem Periskopmodell kann man ja sogar irgendwo andeuten, wo die Schlitze [für die Spiegel] sind ...“ Frau Kran stimmt zu und führt an: „Das gibt es ja auch in so Experimentierbüchern und so weiter, dass sie es so [aufgeschnitten] darstellen.“ Schmidt sagt „Ja“ und Kran endet mit der Feststellung: „Und dann müssen die das nicht selber zeichnen können die Kinder.“ Hansmann fragt gewichtig betont und kritisch: „Worin liegt dann die Aufgabe? Liegt dann die Aufgabe darin für die Kinder, das nachzuvollziehen?“ Frau Kran macht ein bestimmt klingendes „Mhm“, mit dem eindeutig Zustimmung im Sinn von „Ja, genau“ kommuniziert werden soll. Hansmann fragt weiter, worin die Aufgabe liegen soll „[darin, das] auszuprobieren?“ und Frau Kran macht erneut das bejahende „Mhm“. Schmidt wendet ein: „Doch den, den Weg da zu finden“ Hier wiederspricht nun Hansmann deutlich in einem Darin-liegt-die-Aufgabe-eben-genau-nicht-Sinne: „Ne wieso den habn wir doch dann vorgegebn. Den zeichnen wir [nach dem Vorschlag von Frau Kran].“ (Meeting 3B, 2. Dokumentenseite § 337–351, 01:26:52–01:27:53)
Was kommt wobei raus? | 197
Als Zwischenbilanz kann attestiert werden, dass der geplante Versuch als Unterrichtsstation der Box verschiedene Kriterien der Produktreihe erfüllt. – –
Das Phänomen und sein Effekt sind gesichert (siehe Kapitel 5.2), die Materialität des Periskops muss nicht mehr diskutiert werden: Es funktioniert. Eine Erklärung wird – als Kompromiss – geliefert: Zwar ohne Pfeile, aber mit Linien wird das Strahlenmodell aufgegriffen, da mit diesem Modell eine Antwort zur Warum-Frage des Sehens geliefert bzw. angebahnt werden soll.
Mit der hier aufgezeigten Diskussion wird aber auch deutlich, worin das noch existente Problem liegt: Mit dem Vorgeben einer fertigen Grafik, in der bereits der Lichtweg eingezeichnet ist, geht einher, dass keine schultypische Aufgabe mehr eingeplant ist, die es zu lösen gilt und mit deren Bearbeitung eine Ergebnisdokumentation der Kinder einhergeht. Es gibt keinen Arbeitsbogen, auf dem die Kinder selbsttätig etwas machen – also arbeiten – müssen. Das eigenaktive Tun der Kinder ist jedoch ein wichtiges „Essential“ der Reihe, das es zu beachten gilt (siehe Kapitel 5.3). Mit seinen skeptischen Nachfragen moniert Hansmann, dass den Kindern durch die fertige Modellabbildung des Phänomens die Entwicklung der Lösung abgenommen wird. Die so verstandene Forschung gerät ins Hintertreffen. Dass von Kran angestrebte „Nachvollziehen“ der Zeichnung auf Grundlage des „Ausprobierens“ bleibt hinter dem eigenen Finden und Dokumentieren der Lösungskonzeption zurück. Dass die Eigenaktivität der Kinder bewusst ausgespart wird, liegt nicht daran, dass man Kindern die Lösung nicht zutraut, die notwendigen Bedingungen für Eigenaktivität hier schwer zu produzieren wären oder Eigenaktivität – wie es früher schon der Fall war – ein Risiko für die Funktionalität des Versuchs darstellt. Der favorisierte Verzicht auf die Eigenaktivität lässt sich an dieser Stelle auf die Diskussion des Strahlenmodells zurückführen und auf den Kompromiss, das Modell mit Linien, aber nicht mit Pfeilen zum Einsatz zu bringen. Das Problem an den Pfeilen wäre, dass sie eine Richtung vorgeben, so Frau Kran. Linien wären daher besser, „nicht falsch“ und somit naturwissenschaftlich korrekter. Die einhergehende Betrachtung von Linien bezieht sich aber nur auf Produktlinien und nicht auf Prozesslinien. Mit anderen Worten: Wird eine Linie von Kindern situativ gezeichnet – und nicht vorab vom Verlag gedruckt – so hat sie zwangsläufig auch eine Richtung. Einen Punkt a, an dem der Stift angesetzt wird, einen Punkt b zu dem – mehr oder weniger – geradlinig gezogen wird und von dem es möglicherweise zu einem Punkt c weitergeht. Das gerichtete Vonhier-nach-da, das für die Vorstellung von Licht problematisch wäre, ist für die angedachte Aufgabe der Kinder alles andere als irrelevant. Auch ohne gezeichnete Spitze wird somit im Prozess der späteren Unterrichtssituation aus der Linie ein Pfeil – sofern man die Eigenaktivität zulässt, denn diese passt nicht zur „richtigen“ Vorstellung des Lichtwegs. Die Erklärung bzw. ihre naturwissenschaftliche Correctness gerät in ein Spannungsverhältnis zur Eigenaktivität der Kinder.
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5.5 Eckpunkte des Stationmachens In Kapitel 5 geriet das Fertigen von Experimentierstationen in den Fokus. Es wurden verschiedene Selektionskriterien und -praktiken aufgezeigt, über die die Experimente – als Inhalt des Koffers – von den Akteurinnen und Akteuren aus- bzw. eingeschlossen wurden. Ferner wurden Praktiken der Modifikation, Aushandlung und Anpassung einzelner Stationen analytisch aufgezeigt. Mit der nun angestrebten Retrospektive gilt es, das Machen von Experimentierstationen abschließend zu resümieren und über Abstraktionen auf eine neue analytische Ebene zu bringen. Bei der empirischen Analyse der Entwicklungspraxis einzelner Versuche kristallisieren sich drei Eckpunkte heraus. Sie kennzeichnen, worum es den Akteurinnen und Akteuren bei der Entwicklung von schulischen Experimentierstationen geht, und was es für das Arrangement der Versuchscollagen zu berücksichtigen gilt. Als Kategorien meiner Analyse gründen diese Eckpunkte in den Praktiken und Bemühungen der Entwickler(innen), sie wurzeln in dem, was diese machen und sagen. Sprachliche Handlungen sind in meinem Material von großer Bedeutung und mit dem sichtbaren Handling der Dinge eng verbunden. Im Unterschied zu beispielsweise ethnografischen Arbeiten der neueren Kindheitsforschung, sehe ich mich damit konfrontiert, dass die von mir beforschten Akteurinnen und Akteure Begriffe aus bildungswissenschaftlichen Fachdiskursen selbstverständlich verwenden, sie diese aber auch mit eigenem Sinn füllen und die Begriffe so erst durch ihre situative Nutzung in der Praxis leben. Hier führen sie oftmals ein anderes Leben als in fachdidaktischen bzw. bildungswissenschaftlichen Literaturdiskursen – ein empirisches Doppelleben. So gesehen handelt es sich bei den folgenden Eckpunkten um In-vivo-Codes bzw. Konzepte, die die Grounded Theory dem basalen Arbeitsschritt des „offenen Codierens“ zuordnet (vgl. Strauss 1994: 57f.). Zugleich sind die begrifflichen Kodierungen jedoch weit mehr als dies: Sie geben Auskunft zur geertzschen Frage „what the hell is going on here?“. Somit sind sie eher Kategorien bzw. Konzepte als Kodes der Grounded Theory. Es sind nicht nur schlichte Selbstaussagen der Akteurinnen und Akteure zu ihrer Praxis, es handelt sich um die Eckpunkte ihrer Praxis. Die mit den Eckpunkten assoziierten Praktiken ziehen sich folgenreich und wechselwirksam durch die Entwicklungsarbeit. Diskrepanzen, die sich an den Eckpunkten entfalten, können die gesamte kooperative Entwicklungsarbeit gefährden.14 Die Entwickler(innen) verhandeln und machen zwischen diesen Eckpunkten die Experimente des Koffers. Ich schildere diese Punkte so, wie sie in der Praxis der Entwicklung beobachtbar und von den Entwickler(inne)n mit Bedeutung versehen werden:
|| 14 Dies insbesondere dann, wenn sich über Aushandlungen kein Konsens über die jeweilige personelle Expertisenverteilung herstellen lässt (siehe Kapitel 3).
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1.
2.
3.
Phänomen (siehe Kapitel 5.2) Phänomene können in der Entwicklungspraxis als das gefasst werden, was die Dinge durch ihr Zusammenwirken zeigen sollen. Phänomene werden hervorgebracht durch die Aktivität der von den Entwickler(inne)n arrangierten Versuchscollagen sowie durch die Sinnzuschreibungen, Interpretationen und Aushandlungen der Entwickler(innen) beim (Hinein-)Sehen von Lernzielen. Ein Phänomen hat eine bestimmte Effektstärke, mit der die Entwickler(innen) das Funktionieren der Versuchscollage (bezogen auf das Lernziel) bewerten. Forschungstätigkeit (siehe Kapitel 5.3) Forschungstätigkeit bezieht sich auf die mehr oder weniger starke Eigenaktivität, die später von Schüler(inne)n erbracht werden muss. Es geht um die tätige Auseinandersetzung mit dem Material, die zu dem Phänomen und einer Lösung führen soll: Es gilt, die Dinge in ihren Wirkzusammenhang zu bringen und das entstehende Phänomen untersuchend zu betrachten. Diese Eigenaktivität wird naturwissenschaftlich-fachpropädeutisch gerahmt (z. B. mit der Vorgabe, dass nur eine Variable per Durchführung geändert werden darf). Erklärung (siehe Kapitel 5.4) Erklärungen beinhalten zum einen die transparente Darlegung der zielführenden Forschungs- und Kollagierungshandlungen, also die Instruktion zur vorgeplanten Tätigkeit, die die Schüler(innen) später umsetzen sollen. In diesem Sinne ist von instruktiven Vorgehenserklärung zu sprechen, die einen Großteil der Kopiervorlagen einer bestimmten Station füllen. Zum anderen beinhalten Erklärungen die Ableitung von determiniertem Wissen aus und zu dem erzeugten Phänomen. Diese fachlichen Erklärungen finden sich in den pointierten „Lösungsverstecken“, die die Lernziele formulieren und sie als „richtige“ Sinnzuschreibung darlegen.
Bevor das Verhältnis und die Verwicklungen der drei Punkte analytisch bilanziert werden, erfolgt ein gedankliches Planspiel, ein kurzes Gedankenexperiment, das sich von der Empirie abgrenzt. Indem diese hypothetischen Gedanken mit dem empirischen Material und seinen Analysen konfrontiert werden, soll ein Kontrast gesucht werden, der das Überraschende der empirischen Analysen hervorhebt. Die gedankenexperimentellen Annahmen beziehen sich zunächst auf die Unterrichtsaktivitäten, die mit dem Experimentieren verbunden sein könnten. Es wirkt naheliegend, dass die drei beschriebenen Eckpunkte der Entwicklung – als kooperierende Geschwisterbegriffe – gut zusammenpassen. Die mit ihnen verbundenen Lehr- und Lernaktivitäten scheinen musterhaft ineinanderzugreifen: Lernende erhalten Erklärungen zum Vorgehen bezüglich der Erzeugung und Untersuchung eines naturwissenschaftlichen Phänomens. Das daraufhin deutlich sichtbar werdende Phänomen bietet die Grundlage für Beobachtungen und Ableitungen, die in einer fachlichen Erklärung münden und zu einem Begründungsfundament führen sollen. Die letztlich vollzogenen Arbeitsschritte werden dabei dokumentiert und später dem Publikum
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(z. B. den Mitschüler(inne)n im abschließenden Sitzkreis) vorgeführt. In diesem Sinne könnten die Punkte weniger als Eckpunkte, sondern vielmehr als Stationspunkte und Teile einer zeitlich linearen Schrittfolge bzw. Ordnungslogik verstanden werden, die Schüler(innen) beim Experimentieren durchlaufen. Sucht man auf der Grundlage dieser den Unterricht betreffenden Überlegungen Rückschlüsse auf die Entwicklungspraxis von Experimentierstationen zu ziehen, könnte analog angenommen werden, dass der Weg der Entwicklung identisch ist, er jedoch rückwärts beschritten wird: Entwickler(innen) gehen von einem (curricular determinierten) Lernziel aus. Diesen zu Beginn festgelegten fachlichen Wissensbestand formulieren sie in ihres Erachtens kindgemäßer Weise und im schulischen Format einer auflösenden Erklärung. Im Anschluss wird ein Phänomen gewählt, das zur angestrebten Einsicht führt. Als Nächstes folgt die Entwicklung und Erprobung eines Versuchsaufbaus, mit dem das Phänomen hervorgebracht werden kann. Letztlich werden kindgerecht-erklärende Hinweise zu dem ausgewählten Material und seinem collagierenden Aufbau formuliert, mit denen die Schüler(innen) später ihre Auseinandersetzung beginnen werden. Soweit die hypothetisch gedanklichen Planspiele. Über die empirische Analyse der Entwicklungspraxis wird demgegenüber jedoch deutlich, dass Phänomen, Forschungstätigkeit und Erklärung für die Entwickler(innen) keinesfalls eine vorgegebene Schrittfolgenreihung abbilden. Empirisch ist es nicht so, dass die drei Punkte wie nacheinander zu erklimmende Stufen verstanden werden können, die in der Chronologie des Entwicklungsprozesses ihren festen und hierarchischen Platz haben. Ein Lernziel kann am Anfang der Überlegungen stehen, dies muss jedoch nicht sein: Die Lernziele bzw. fachlichen Erklärungen von einigen früh gesetzten – also für den Koffer zu Beginn ausgewählten – Phänomenen wurden z. B. noch bis zum Ende der Entwicklung flexibel diskutiert. Dies auch deshalb, weil unterschiedliche Entwickler(innen) Unterschiedliches mit einem bestimmten Phänomen zeigen wollten. Die auf Phänomene bezogene Frage „Was soll dabei rauskommen?“ wurde dabei teils kontrovers verhandelt, weil aus einem Phänomen nicht nur ein monologisches Lernziel als feste und exklusiv zugehörige Wahrheit abgeleitet werden kann. Es gilt im Konsens klarzustellen, was im Phänomen gesehen und mit ihm gezeigt werden soll. Dem beobachtbaren Phänomen muss von den Entwickler(inne)n ein gemeinsamer Sinn für den Unterricht zugeschrieben werden. Trotz dieser hervorgehobenen Verhandlungen kann analytisch nicht davon gesprochen werden, dass das Phänomen im Zentrum bzw. zwingend am Anfang der Entwicklungsauseinandersetzung steht. In meinen Analysen rückt das sachunterrichtsdidaktisch tradiert prominente Phänomen aus dem Mittelpunkt heraus. Es bildet zusammen mit den Erklärungen und den Forschungstätigkeiten die Außenlinien für Verhandlungen und die Fläche für Verortungen. Dabei ist es nicht so, dass die drei Punkte – als Maximen der Entwicklung und des späteren Unterrichts – durch ein besonders harmonisches Verhältnis zueinander charakterisiert werden können. Sie stehen vielmehr in einem Spannungsverhältnis:
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Wenn die notwendigen Aktivitäten und Schrittfolgen zur Erzeugung eines Phänomens stark instruktiv erklärt werden (Vorgehenserklärung), kann die Aktivität der Kinder kein frei entdeckendes Forschen sein. (Vorgehenserklärung vs. Forschungstätigkeit) Wenn die Beschäftigung mit dem Material zu frei ist, gelangen die Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu dem Phänomen, dass es zu zeigen gilt. Selbiges gilt, wenn von den Kindern beim Arrangieren der Collagen zu viel verlangt wird, so die Entwickler(innen). Eigenaktivität kann als bedrohlich für das Funktionieren der Phänomene verstanden werden. (Forschungstätigkeit vs. Phänomen) Wenn das Phänomen kausal erklärt wird (fachliche Erklärung), muss dies eventuell vereinfacht geschehen, was – wie die Entwickler(innen) befürchten – zu Fehlvorstellungen bei den Kindern führen kann. Die naturwissenschaftliche Correctness von Erklärungen hat große Priorität. Es ließ sich daher die Praxis beobachten, dass erfahrbare Phänomene anstelle ihrer kausalen Erklärungen als eigenständige Erträge konzipiert wurden. Das demonstrative Phänomen konkurriert mit seinen eigenen Erklärungen (Plural) um die dominante Rolle im Versuch. (Phänomen vs. fachliche Erklärung) Auch konnte gezeigt werden, dass die eingeplante Eigenaktivität der Kinder (die konzipierte Praxis der Bearbeitung, Feststellung und Dokumentation) unter Umständen eine Kluft zwischen die schulischen Lösungen und die zugrunde liegenden physikalischen Denk- bzw. Erklärungsmodelle reißt. Somit wird die Eigenaktivität zu einem Risiko für das Vermitteln korrekter Kausalerklärungen und es gilt, die Betätigung der Kinder zu vermeiden. Dies z. B. dann, wenn die Eigenaktivität der Kinder die zeichnerische Dokumentation eines einzelnen Lichtstrahls beinhaltet, indem mit einem Buntstift von Punkt A nach Punkt B eine Linie gezogen werden soll, diese Tätigkeit aber nicht zur physikalischen Vorstellung bzw. dem favorisierten Lernziel passt, das die Omnipräsenz von gestreutem Licht im Raum betont. Dies ist zudem ein Beispiel dafür, wie ein zwischen den Punkten Erklärung und Phänomen errungener Kompromiss vom dritten Punkt – der Forschungstätigkeit – gefährdet wird. (Forschungstätigkeit vs. fachliche Erklärung) Zudem ließ sich beobachten, dass Vorgehenserklärungen und fachliche Erklärungen sorgsam aufeinander abgestimmt sein müssen. Mit dem Titel oder den Instruktionen darf nicht schon gänzlich das verraten und mit den entsprechenden Begriffen versehen werden, auf das man erst mit dem Lösungsversteck hinaus möchte. Dennoch muss mit einem gewissen Wiedererkennungswert klargestellt werden, worum es in dem Versuch geht. Erst dadurch, dass Entwickler(innen) die Vorgehens- und Facherklärung als unharmonisch kritisieren, während andere Entwickler(innen) die Passung verteidigen, wird in den Diskussionen vielfach deutlich, dass dem Phänomen unterschiedliche Lernziele zugedacht wurden. Durch die Abstimmung der Erklärungen aufeinander ließen sich Lernziele justieren. (Vorgehenserklärung vs. fachliche Erklärung)
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Es zeigt sich, dass das Verhältnis der Begriffe schwer als eine sich selbst genuin fügende Passung oder Ergänzung verstanden werden kann. Phänomen, Forschung und Erklärung können sich gegenseitig stören. Sie konkurrieren und rivalisieren untereinander, da sie für unterschiedliche Ausgangspunkte und Ausrichtungen des Unterrichts stehen. Unterricht kann nach einer lehrenden Erklärungsorientierung, einer demonstrierenden Phänomenorientierung oder einer eigenaktiven Forschungsorientierung ausgerichtet werden. Das Herstellen einer (schulischen) Passung und das Gangbarmachen von Wissen ist ein komplexer Aushandlungsprozess unter den Entwickler(inne)n, die jeweils eigene Verortungen als Ideal anstreben. Ein beharrendes Zurückziehen auf eine dieser drei Extrempositionen konnte bei keinem der Entwickler(innen) beobachtet werden – es hätte auch keine Aussicht auf Erfolg und Konsens gehabt, da die drei Extrempunkte weit außerhalb der Reihenstringenz liegen, sie also nicht zu den Formatvorgaben des Produkts passen (siehe Kapitel 4). Die drei Extrempunkte sind zugleich als die End- bzw. Eckpunkte des Spektrums zu verstehen, zwischen denen verhandelt wird. Sie bilden die Fläche für Positionierungen: eine Trias der Orientierung. Innerhalb dieser strebten z. B. Frau Rabe und Frau Schleier oft – wenn auch nicht immer – nach einer verhältnismäßig freien Forschungstätigkeit, die weniger durch kleinschrittige Instruktionen geprägt ist. Dennoch ist auszumachen, dass auch Frau Rabe und Frau Schleier recht dezidiert wussten, zu welchen Erfahrungen und Phänomenen die Kinder gelangen sollen. Die Ziele und die so verstandenen Einsichten waren also auch hier gesetzt. Zudem ließ sich bei Frau Rabe und Frau Schleier die Tendenz beobachten, Kausalerklärungen als Ziel zu vermeiden. Diese Tendenz erreichte in Entwicklungszyklus B eine besondere Deutlichkeit: Frau Kran und Herr Peine wollten sich ungern auf Warum-Erklärungen der Phänomene festlegen. Instruktive Erklärungen bezüglich des Vorgehens zur Phänomenerzeugung wurden von ihnen hingegen meist bereitwillig formuliert. Dies unterschied Entwicklungszyklus A deutlich von Zyklus B und führte zu einem harmonischeren Gesamteindruck der Kooperation in Letzterem. Herr Hansmann seinerseits wollte – im Einklang mit Herr Schmidt – möglichst stets Vorgehensweisen und Phänomene genau erklären. Abbildung 3 verdeutlicht diese Verortungen der Entwickler(innen) im Sinne von jeweiligen Tendenzen. Angestrebt wird die symbolische Verbildlichung des Spektrums, mit der selbstredend nicht die Möglichkeit eines universal gültigen oder numerischen Abmessens von Positionen und Differenzen intendiert werden soll. Der Eckpunkt der Erklärung kann sich sowohl (als fachliche Erklärung) auf den benachbarten Eckpunkt des Phänomens beziehen, als auch (als Vorgehenserklärung) auf die Forschungstätigkeit.
Eckpunkte des Stationmachens | 203
(freie) Forschungstätigkeit Frau Rabe und Frau Schleier
Herr Hansmann und Herr Schmidt
Erklärung (sprachlich)
Frau Kran und Herr Peine
Phänomen (für sich stehend)
Abb. 3: Tendenzielle Verortungen der Entwickler(innen) auf der Triasfläche (eigene Darstellung).
Schulische Experimente zwischen konkurrierenden Konzepten arrangieren Die jeweiligen Eckpunkte verorten sich ganz bei der zugehörigen Ausrichtung und schließen dabei die jeweils anderen zwei Eckpunkte aus. Indem man sich von einem der Eckpunkte entfernt, nähert man sich anderen Eckpunkten an. Die Mitte im Dreieck ist wiederum der Punkt, der am weitesten von allen Eckpunkten entfernt liegt. Neben dem aufgezeigten Umstand, dass die drei Punkte das Potenzial haben, sich gegenseitig zu stören, gilt auf der Ebene der späteren Unterrichtsrealisierung, dass sie untereinander um die für sie eingeplante Zeit konkurrieren. Wird z. B. viel schriftsprachlich erklärt, muss lange gelesen werden, bevor es – mit der verbliebenen Zeit – um die Erzeugung und Untersuchung der Phänomene gehen kann. Wird einer der Punkte gänzlich vernachlässigt, ruft dies bei den anderen Entwickler(inne)n deutliche Kritik am jeweiligen Versuch hervor. Lässt sich beispielsweise das Phänomen nicht funktionssicher erzeugen, folgt zumeist eine grundlegende Problematisierung der jeweiligen Versuchscollage. Sind Kinder in den Versuch allzu passiv eingebunden, wird die kritische Frage gestellt, wie sich dies ändern lässt. Wird keine fachliche Erklärung gegeben, wird kritisch auf der schulischen Notwendigkeit insistiert. Durch die unterschiedlichen Favorisierungen der Entwickler(innen) kommt es zu Aushandlungen über die Verortungen, die zwischen den Eckpunkten final eingenommen werden können. Es gilt letztlich, den Verortungspunkt im Dreieck so zu verschieben, dass alle beteiligten Entwickler(innen) die Position teilen können. Mit den Analysen des situativen Vorschlagens, Diskutierens, Verschiebens, Annehmens oder Ablehnens der Verortungspunkte geht es mir nicht darum die Existenz eines universellen Optimums suchend zu proklamieren, das im Dreieck gefunden werden kann und mit dem schulisches Experimentieren musterhaft auf den Punkt gebracht ist. Ob und wo ein solcher Punkt als Kompromiss gefunden werden kann, scheint kaum allgemeingültig beantwortbar zu sein. Auch ist es nicht im Interesse der Arbeit, zu fragen, welcher
204 | Probieren und Aushandeln: das Kofferpacken
Punkt eine besonders lerneffiziente Verortung ist. Es geht um die Sensibilisierung dafür, dass die Eckpunkte tendenziell konkurrieren, sie aber dennoch alle innerhalb eines gemeinsamen Versuchs berücksichtigt werden sollen. Als Maximen der Entwicklung materialisieren sie sich in dem Produkt. Auch wenn meine Analysen der Aushandlungen zwischen freier Forschungstätigkeit, Phänomendemonstration und instruktiven sowie fachlichen Erklärungen zunächst in unmittelbarer Nähe zur Debatten um die Offenheit und Geschlossenheit von Unterricht zu liegen scheinen, so nehmen sie doch eine andere Perspektive ein.15 Mit dieser öffnet sich der Blick für Überraschendes: Zum Beispiel harmoniert auch das demonstrierende Zeigen von Phänomenen vielfach nicht mit dem (Vor-)Geben von fachlichen Erklärungen. (freie) Forschungstätigkeit
gelenkte Forschungsaktivität (Phänomen ist kaum zu erzeugen.)
Erklärung (sprachlich)
Phänomen zeigen und erklären (Kinder bleiben untätig.)
selbstständige Phänomen-Entdeckung (Es wird kaum etwas erklärend vorgegeben.)
Phänomen (für sich stehend)
Abb. 4: konkurrierende Punkte schulischer Experimente (eigene Darstellung).
Erfolgreich entwickeln Aussagen darüber, wann der Erfolg der später mit den Entwicklungen der Bildungswirtschaft befassten lernenden Schüler(innen) am größten ist, liegen nicht im Fokus meiner empirischen Arbeit. Versteht man unter „erfolgreicher Entwicklung“ jedoch das finale Einbringen von eigenen Positionen, also das Einbringen von Ideen und Favorisierungen, die es in die Produktion schaffen, sind empirische Aussagen möglich.
|| 15 Mit dieser Fokussierung unterscheidet sich meine Arbeit von Arbeiten, die sich mit der Evaluation von Unterrichtseinheiten bzw. dem Optimieren des Lernens befassen. Hierbei geraten didaktische Aspekte zum Verhältnis von Konstruktion und Instruktion in den Blick. Beispielsweise betonen Möller u. a. die Relevanz von strukturierenden Anleitungen für das Experimentieren (vgl. Möller et al. 2002). Murmann, Steffensky und Gebhard kritisieren hingegen, dass das Experimentieren häufig eher an ein „Nachkochen“ (Murmann et al. 2007: 81) erinnert, für das detaillierte Vorgaben umgesetzt werden müssen und mit dem vertieftes Verstehen und Interessensförderung schwer zu vereinbaren seien.
Eckpunkte des Stationmachens | 205
Herr Hansmann ist der dienstälteste Entwickler, seine Biografie ist eng mit der Produktreihe verbunden und seine Präsenz war in beiden Entwicklungszyklen sehr stark. Oftmals war seine Rolle strukturstiftend und entscheidend. Um seiner Position argumentatives Gewicht zu verleihen, verwies er mit seinen Einwänden z. B. auf die zu beachtende Stringenz der Reihe, auf die Erwartungen der Lehrerschaft an das Produktformat und die Funktionsweisen von Schule, auf die er als langjähriger Praktiker zurückblicken konnte. Eine typische Art und Weise mit der Herr Hansmann Auseinandersetzungen in der Entwicklung führte, war das vielfach beobachtete Praxisschauspiel. Es handelt sich hier um Sprachhandlungen narrativen Charakters, innerhalb derer Herr Hansmann seine Person verlässt und die Rollen fiktiver Schulakteurinnen und -akteure einnimmt. Er spricht Lehrer(innen) und Schüler(innen) mit leicht verstellten Stimmen, führt Dialoge, leitet damit dramaturgisch geschickt durch das Geschehen, antizipiert und entwirft so konkrete schulische Situationen der späteren Materialnutzung. Er holt die schulische Praxis und den unterrichtlichen Alltag in die Entwicklungssituationen. In dieser Hinsicht ergeben sich analytische Ähnlichkeiten zu der von Lente und Rip herausgearbeiteten Relevanz von (teils konkurrierenden) „Stories“ für die Entwicklungsarbeit, mit denen ein Bild der Zukunft entworfen wird (vgl. Lente/Rip 1998: 206ff.). Das von mir analysierte Praxisschauspiels ist jedoch punktueller: Es zieht sich nicht, wie bei Lente und Rip beschrieben, eine sich wandelnde Geschichte durch die Entwicklungschronik, vielmehr dienen einzelne und spezialisierte Stücke oder Aufführungen des Praxisschauspiel dazu, einen konkret bestimmten Punkt zu erzielen – also eine Entwicklungsentscheidung im eigenen Sinne zu beeinflussen.16 Zugleich wird der so verpackte und transportierte Entwicklungswunsch bzw. die verbundene Kritik von der eigenen Person und Rolle gelöst: Nicht Herr Hansmann trägt den Änderungswunsch vor, sondern die als solche gesprochenen Akteurinnen und Akteure der schulischen Praxis plausibilisieren ihn. Es handelt sich um eine Form der Objektivierung von kritischen Einwänden. Die Kritik wird vom Subjekt Hansmann durch ihn selbst gelöst. Eine weitere Form dieser Kritikobjektivierung wird auch mit dem Verweisen auf die Reihenstringenz vollzogen: Nicht die Person des Entwicklers verlangt eine Änderung, die Stringenz der Reihe verlangt danach. Dass die Reihe über viele Jahrzehnte von entwickelnden Personen und insbesondere durch Herrn Hansmann geprägt wurde, gerät dabei in den Hintergrund. Außerfrage steht, dass Entwickler(innen) mit zunehmender Tätigkeitsdauer im Geschäft der Bildungswirtschaft zunehmend mehr Einsichten und Erfahrungen gewinnen. Diese Einsichten und Erfahrungen lassen sich argumentativ und rhetorisch für die Unterstützung der eigenen Positionen, Einschätzungen und fachlichen Argumente nutzen, sie lassen sich in Aushandlungen wirkmächtig konsultieren. Das soll nicht bedeuten, dass die inhaltlichen Punkte der Argumente, auf
|| 16 Es geht weniger darum, eine neue Zukunft für Schulen zu entwerfen, als sich vielmehr mit dem Produkt an den erfahrungsbasierten Istzustand schulischer Praxis anzupassen (siehe Kapitel 1.2.2).
206 | Probieren und Aushandeln: das Kofferpacken
die dabei zurückgegriffen und verwiesen wird, unwichtig oder falsch sind. Durch ihre Akzentuierung, ihre Kombination, ihre gewichtete Gegenüberstellung, ihr Weglassen, ihre narrative Verknüpfung mit erlebter Praxis, durch das Verweisen auf Regeln oder ihre Ausnahmen verschmelzen die fachlichen Argumente mit der Form ihrer Darstellung. Fachliche Argumente können von entwickelnden Personen zudem argumentativ gewendet bzw. negiert werden. So kann beispielsweise lobend darauf verwiesen werden, dass ein bestimmter Versuch für Kinder sehr faszinierend ist oder es kann kritisch angemerkt werden, dass der Versuch für eine naturwissenschaftliche „Bonbon-Didaktik“ steht, die auf Effekthascherei setzt und wenig mit dem Leitbild einer nüchternen Wissenschaft und Naturbeobachtung gemein hat. Es kann kritisch darauf verwiesen werden, dass ein bestimmter Versuch Kinder motorisch überfordert, oder es kann anerkennend herausgehoben werden, dass mit diesem Versuch die Feinmotorik von Kindern nebenbei geschult wird. Somit sind es nicht bestimmte, in der Natur der Sache liegende Eigenschaften der Dinge, die situationsübergreifend und statisch für oder gegen ein bestimmtes Experiment sprechen. Die Auseinandersetzungen der Entwickler(innen) – die letztlich zu einem Endprodukt führen – sind in vielen Dimensionen auch Abarbeitungen an Personen, deren Erfahrungen und Biografien. Vielfach war gegen Hansmann und seine Positionen nicht anzukommen. Die Konstruktion der sozialen Ordnung ist dabei untrennbar mit der Konstruktion der technischen Ordnung der Box verbunden. Entwickler(innen) haben nur dann die Möglichkeit, langjährige Erfahrungen in der Bildungswirtschaft zu sammeln, wenn sich ihre Produkte über Jahre erfolgreich am Markt verkaufen. Vor diesem Hintergrund geht es nicht nur um erfolgreiches Entwickeln, auch muss erfolgreich geworben werden. Auf der „didacta“ begegnete ich immer wieder Entwickler(inne)n an Messeständen von Firmen, die in direkter Konkurrenz zu dem von mir beforschten Unternehmen standen. Bei der Begegnung mit diesen Vertreter(innen) der Produktentwicklung erlebte ich erstaunliche Parallelen zu Herrn Hansmann. So wie Herr Hansmann Verweise auf seine Biografie für die argumentative Entwicklungspraxis und das Werben auf der Messe nutzte, verwiesen auch die Konkurrent(inn)en auf ihre – ganz ähnlichen – Lebensläufe und die enge Verknüpfung dieser mit ihrem Unterrichtsmaterial. Es wurden oft gleiche Argumente und an verschiedenen Ständen wiederkehrende Formulierungen genutzt: z. B. aus der Praxis für die Praxis, schultypische Haptik und Ästhetik, Stabilität und Ordnung des Materials im Koffer, motorische und kommunikative Schulung der Kinder, Lehrerbild und -qualifikation, mitgelieferte Lehrerhandreichungen und Kopiervorlagen. Dabei waren nicht nur die Inhalte der Werbung identisch, auch ihre rhetorische Verpackung glich sich: Charismatische Erzähler(innen) verflochten lebendig Narration und Argument. Mit einer biografisch anekdotischen Geschichte wurde geschickt auf ein bestimmtes Argument gelenkt, dass als Punkt gesetzt und mit dem Produkt als Feature realisiert sei. Herr Hansmann kann – wie mir scheint und wie mit Forschungen in weiteren Firmen genauer zu untersuchen wäre – als typischer Vertreter und Profispieler dieser Entwicklungsliga gesehen werden.
6 Schluss: Made in Industry Das leitende Erkenntnisinteresse der Arbeit folgt der Frage nach dem Wie der Entwicklungspraktiken, mit denen Akteurinnen und Akteure der schulisch-peripheren Bildungswirtschaft unterrichtliche Materialien verfertigen. Unterrichtsmaterialien werden somit nicht als gegebene Einflussgröße des Lernens, sondern als Entwicklungen der Industrie verstanden und in ihrem Zustandekommen analysiert. In diesen analytischen Blick gerieten dabei die Ansprüche, Bestimmungen und Intentionen, die die Entwickler(innen) aushandeln und letztlich in ein materielles Produkt für den schulischen Unterricht zu überführen suchen. Mit der so fokussierten Forschung wurde eine Perspektive auf unterrichtliche Materialien eingenommen, die jenseits einer technikanthropologischen und technikdeterministischen Haltung die Materialien weder als neutrale Werkzeuge und dienende „Lehrmittel“, noch als wirkmächtiges und gegebenes Schicksal der Schule diskutiert. Die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft werden als außerschulische Akteurinnen und Akteure der schulischen Praxis beschreibbar, die über ihre Produkte in die schulische Praxis zu wirken versuchen. Das Tätigkeitsfeld der Entwickler(innen) wird als ein potenzieller (Teil-)Konstitutionsbereich von Unterricht gefasst, der – mit vielen Bezügen – neben Schule, Universität oder ministerialer Lehrplanentwicklung steht. Wie wird nun die in der Bildungswirtschaft verortete Praxis des Machens von Unterrichtsmaterial vollzogen? Ich beantwortete diese Frage zusammenfassend mit Rückbezügen zu den Kapitel 3 bis 5, von denen aus analytische Abstraktionen vorgenommen werden, die über den konkreten Experimentierkoffer hinausweisen und theoretisierende Bezüge ermöglichen. Es gilt, eine Einordnung der Analysen des empirischen Materials vorzunehmen und Anschlüsse zu thematisch angrenzenden Arbeiten zu realisieren, um Parallelen und Kontraste aufzuzeigen. Zunächst erfolgt die Fokussierung der interagierenden Arbeitsweisen und Verläufe der Entwicklungsprozesse (siehe Kapitel 6.1), angeschlossen werden die Zwänge der tradierten Produktformatierung sowie der situative Umgang mit selbigen behandelt (siehe Kapitel 6.2). Schließlich wird das verhandelnde Konstruieren konkreter Experimente bilanziert (siehe Kapitel 6.3).
6.1 Praktische Untrennbarkeiten Über die Systematisierung der Entwicklungsprozesse, seiner Verläufe und seiner Zyklen (siehe Kapitel 3) wird aufgezeigt, dass normativ-lineare Prozessmodelle, mit denen wirtschaftliche Entwicklungsarbeit als „Best Practice“ plan- bzw. beschreibbar zu machen versucht wird – wie z. B. mit dem „Stage-Gate-Model“ (vgl. Cooper 1990; Cooper/Kleinschmidt 1993) –, wenig empirische Entsprechungen in der ökonomischen Praxis haben. Die Prozess- und Ablaufbeobachtungen meiner Forschung
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schließen an die Studien zur Technikgenese an, die zeigen, dass der Prozess der Entwicklung kaum geradlinig machbar ist. Jenseits idealtypischer Beschreibungen ist die komplexe und vielfältig bedingte Entwicklungspraxis nicht gänzlich nach Plan zu realisieren: Abbrüche, Neubeginne und Überarbeitungen sind natürliche und produktive Bestandteile des Entwicklungsprozesses (vgl. Maidique/Zirger 1985; Rammert et al. 1998). Mit dem abgebildeten Prozessplan der Akteurinnen und Akteure fand ein Felddokument Eingang in meine Arbeit (siehe Kapitel 3.1). In Kontrast zu diesem anfänglichen Ablaufplan tritt meine Abbildung, die in der Retrospektive z. B. den nicht planbaren Abbruch der ersten Kooperation und den resultierenden Entwicklungszyklus B darstellt (siehe Abb. 1). Auch die planerische Prozesstrennung in abgegrenzte Phasen (im Sinne von „Stages“) wurde in der Entwicklungspraxis flexibel aufgebrochen. Tätigkeiten wie z. B. die „Auswahl der Lernziele“, die im Prozessplan der Entwickler(innen) fest dem ersten Meeting zugeordnet wurden, fanden sich in der Praxis nicht nur zu Beginn der Entwicklung: Bis zum Schluss wurde darüber diskutiert, was bei den – ggf. schon lange gesetzten – Experimenten „rauskommen“ soll, die Lernziele wurden teils spät im Prozess umgeformt und angepasst. Mögliche Entwürfe für die Kopiervorlagen, die zu den jeweiligen Experimenten gehören, wurden hingegen Teils schon zum Prozessbeginn mitgedacht, angesprochen und diskutiert. Im zweiten Entwicklungszyklus fällt ferner die Vielzahl von Erprobungen bzw. Testungen auf (firmeninterne Präerprobung, schulische Erprobung und Posterprobung). Auch anhand dieser Erprobungen wird Zirkularität deutlich: Die Entwicklungspraxis kann als Zyklus verstanden werden, in dem Versuchscollagen entworfen, erprobt, modifiziert und wieder erprobt werden. Die einzelnen Meetings unterscheiden sich dabei hinsichtlich ihrer Inhalte und Praktiken kaum. Aus den Erprobungen wird Änderungsbedarf abgeleitet und mit dem Umsetzen von Änderungen ergibt sich neuer Erprobungsbedarf. Der Entwicklungsverlauf lässt sich spiralförmig-kreisend beschreiben bzw. mit einem konisch zulaufenden Gewinde verbildlichen, das sich im Zeitverlauf auf ein ökonomisches Produkt zuspitzt. Die Kreise werden dabei zunehmend kürzer im Umfang, können jedoch prinzipiell endlos gezogen werden. Der Abschluss der Entwicklung wird durch eine wirtschaftlich notwendige Bestimmung gesetzt, dass das Produkt fertig genug ist. Das Definieren von Finalität ist eine Entscheidung, die auch durch Zeitpläne, Fristen und Termine bestimmt wird: Wenn ohnehin ein bestimmter Termin nicht zu halten ist (z. B. Frist der Druckerei oder die nächste „didacta“), ist auch die Bereitschaft groß, weiter zu optimieren. Zudem geriet mit Kapitel 3 die situierte Kooperation der Akteurinnen und Akteure in den Blick: So wie die Phasen der Entwicklung in der Praxis nicht klar voneinander zu trennen sind, so können auch verschiedene Arbeitsgebiete, Zuständigkeiten und Entscheidungshoheiten personell nicht deutlich voneinander abgegrenzt werden. Die von den Akteur(inn)en narrativ postulierte Arbeitsteilung (siehe Abb. 2) ist in der Praxis der Entwicklung kaum wiederzufinden. Es werden z. B. schulische Lernziele und methodisch-didaktische Vorgehensweisen interagierend am runden Tisch mit allen
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Beteiligten – unabhängig von berufsbiografischen Hintergründen – gemeinsam diskutiert und produktiv geformt. In den analytischen Blick geriet dabei die verfertigende Aushandlung von Expertise, bei der alle Beteiligten als Entwickler(innen) und ohne statische Expertisengrenzen agieren: Wer als Expertin oder Experte für einen bestimmten Bereich gilt, ist weniger eine Sache der formal-passgenauen Qualifikation zur aktuellen Frage, als vielmehr der konsenshaften Zuschreibung, Demonstration und Akzeptanz von Expertise. Es ist ein situativ-flüssiges An- und Aberkennen beobachtbar. Mit dieser Entwicklungspraxis können vielfach Ideen eingebracht werden, die alle Akteurinnen und Akteure produktiv aufgreifen. Werden jedoch Ideen eingebracht, die bei anderen Entwickler(inne)n auf Skepsis stoßen, führt dies teils dazu, dass den Urhebern der zweifelhaften Idee die zum Bereich gehörende Expertise aberkannt wird. Expertise ist somit eine Ressource im Aushandlungsprozess, die situativ hervorgebracht und kooperativ aufrechterhalten werden muss. Dies ist ein sensibler und wichtiger Teil der Arbeit. Beharrt die Gegenseite auf einer kontroversen Idee – und damit auch auf der zugehörigen bzw. eigenen Expertise – führt dies zu teils gravierenden Konflikten. An eben diesen Auseinandersetzungen scheiterte der erste Entwicklungszyklus: Abweichende Einschätzungen bezüglich der Gestaltung von Experimentierstationen führten zu einer Verhärtung der Fronten, mit der sowohl die situativ-wechselnde Zuschreibung und Annahme von Expertise, als auch der gesamte Entwicklungsprozess einfror. Auch die schulische Erprobung der Experimentierstationen konnte überraschenderweise nicht dazu beitragen, die konflikthaften Einschätzungen aufzulösen: In den (teils recht heterogenen) Ergebnissen, die die Produkttestung erbrachte, sahen sich beide Seiten in ihren jeweiligen Positionen bestärkt. Der Konflikt wurde sogar noch verschärft, da man z. B. annahm, dass die Gegenseite – zumindest indirekt – Einfluss auf bestimmte Ergebnisse genommen hat.
6.2 Nützliche Zwänge In Kapitel 4 werden die Erzeugnisse der Entwicklung als Produkte für den Unterricht analysiert, die in spezifischer Weise strukturiert sind: Sie unterliegen einem bestimmten Formatzwang. Somit ist auch die Entwicklungsarbeit nicht gänzlich frei, kann nicht in jede Richtung schreiten, muss sich vielfach an Vorgaben halten und wird kanalisiert durch Determinationen wie die Reihenstringenz. Mit der Betonung dieser Stringenz wird – insbesondere seitens Herrn Hansmann und Herrn Schmidt – darauf verwiesen, dass der sich aktuell in der Entwicklung befindende Koffer das Glied einer Produktreihe werden soll und er sich damit in ein tradiertes Profil fügen muss. Die Box ist somit reihenverpflichtet, sie erhält bzw. erbt einen Teil ihrer Gestalt von älteren Boxen. Der Weg der Entwicklung ist in Teilen von Entscheidungen bedingt, die in der Vergangenheit liegen. Vor diesem Hintergrund sind Aspekte des analytischen Konzepts der Pfadabhängigkeit anschlussfähig. Das Konzept, das von Paul Allan David
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und William Brian Arthur geprägt wurde, verweist darauf, dass die (frühe und oft zufällige) Entscheidungsgeschichte von Entwicklungen, Produkten und Innovationen für ihre erfolgreiche Verbreitung, ihren Siegeszug und ihre Gegenwärtigkeit bedeutsam ist (vgl. David 1985, 1986; Arthur 1989, 1990). Stabilisierte und sich ab einem gewissen Punkt selbst stabilisierende bzw. verriegelnde Techniken sowie ihrer eingeschlossenen Standards würden vielfach auch dann nicht ersetzt werden, wenn es optimalere und neuere Lösungen gäbe, die entgegen rein rationaler Kriterien ausgeschlossen werden. David (1985) behandelte hierzu das promiente Beispiel der QWERTY-Tastatur: Die spezielle – nicht alphabetische – Anordnung von Buchstabentasten sollte ursprünglich u. a. das mechanische Kollidieren der Lettern von Schreibmaschinen verhindern, die Anordnung prägt jedoch bis heute Computerkeyboards und virtuelle Tastaturen, obwohl sie als ergonomisch nicht optimal gilt. Als Gründe für ihr Überdauern werden z. B. Lern- bzw. Gewöhnungseffekte angeführt, die in Erfahrungen und Erwartungen der Nutzer gründen (vgl. David 1997: 2). Zu diesem Erklärungsansatz lassen sich fraglos empirische Anschlüsse aufzeigen: In der von mir erforschten Entwicklungspraxis wurde vielfach darauf verwiesen, dass die Lehrer(innen) und Schüler(innen) eine bestimmte Produktlinie erwarten, an die sie gewöhnt seien und von denen man daher nicht abweichen könne.1 „Der Pfadabhängigkeits-Ansatz überzeugt zunächst durch die vielen Beispiele, in denen aus historisch einmaligen Konstellationen neue Techniken hervorgehen, diese sich dann zu dominanten Designs entwickeln und der einmal eingeschlagene Weg zu einem fest ausgetretenen Pfad wird.“ (Rammert 2008: 310) Weiter wird jedoch darauf verwiesen, dass dem Ansatz u. a. vorgeworfen werden kann, die Macht und die Interessen der sozialen Akteurinnen und Akteure zu unterschätzen (vgl. Rammert 2008: 310). Auch Garud und Karnøe bemängeln an dem Konzept der Pfadabhängigkeit, dass eine „explicated theory of agency“ fehle (vgl. Garud/Karnøe 2001: 7). Wie Pfade kreiert werden bzw. wie von ihnen bewusst abgewichen wird, stehe zu selten im Fokus. Mit dieser Kritik verbunden ist die Abkehr von der Idee, dass der Zufall für die Entstehung und Etablierung von Neuem dominant ist (vgl. Garud/Karnøe 2001: 7). Vielmehr gilt es, die Strategien der Akteurinnen und Akteure nicht zu unterschätzen.
|| 1 Ein weiterer mit Pfadabhängigkeit und Selbststabilisierung verbundener Effekt ist der Koordinationseffekt (vgl. z. B. Arthur 1994: 11). Er besagt, dass es attraktiv ist, für ein stark verbreitetes Produkt angepasste und kompatible Subprodukte herzustellen. Die von mir beforschten Produkte sind stark an Schulen verbreitet. Dies wird auch durch den aufgezeigten Umstand deutlich, dass konkurrierende Dritt- bzw. Fremdanbieter eigene Hefte und Aufgaben direkt auf die Koffer beziehen: Sie nutzen die schulisch vorhandene Dinge für eigene Unterrichtsvorhaben. Vor diesem Hintergrund analysierte ich den Koffer als ein offenes System, das von verschiedenen Seiten bespielt werden kann. Indem sich die Anzahl der Aufgabenhefte (analytisch-metaphorisch als „Software“ verstanden) mehrt, die auf die Koffer mit ihren Dingen (die „Hardwareplattformen“) lauffähig abgestimmt sind, erhöht sich im Sinne der Pfadabhängigkeit die Stabilität der Koffer und ihrer Verkaufszahlen.
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Eben diese Strategien und Praktiken stehen im Fokus meiner Arbeit. So ist die Reihenstringenz der Produkte auch ein argumentatives Werkzeug in konkreten Diskussionen und Entwicklungssituationen. Das Wissen um die prägenden Merkmale der Reihe sowie die in der Vergangenheit realisierten Ausnahmen zu diesen Regeln sind z. B. zusätzliches Gewicht für die Argumente einzelner Entwickler(innen), das man – um die eigene favorisierte Position und Einschätzung zu halten – in die Waagschale werfen kann. Ausgehend von diesem Wissen kann entweder kritisch darauf verwiesen werden, dass ein Entwicklungsvorschlag als gravierender Verstoß zu werten ist, oder es kann lobend anerkannt werden, dass mit der Idee ein Problem flexibel gelöst wird und man ähnliche Ausnahmen auch schon in der Vergangenheit findig realisiert hat. Zumeist war es Herr Hansmann, der über dieses argumentationsbeschwerende Wissen verfügte und es nutzte. Zudem war es Herr Hansmann, der die Reihe in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich geprägt und zentrale Designentscheidungen (mit-)bestimmt hat: Die Reihenstringenz bezieht sich analytisch vielfach auf Pfade, die Herr Hansmann gewählt, als zielführend eingeschätzt und gangbar gemacht hat. Pfade sind zu favorisierten Entwicklungsentscheidungen von Personen zurückzuverfolgen; sie sind so von bestimmten Akteurinnen und Akteuren gemacht, wollen von diesen zumeist weiter beschritten werden und werden gegen Umleitungsversuche anderer Akteurinnen und Akteure verteidigt. Dabei ist das Spur- und Kurshalten leichter als das Umleiten: Zurückliegende Entscheidungen, die in persönlichen Erfahrungen und Präferenzen wurzeln, gewinnen scheinbar an Objektivität, wenn sie in der Vergangenheit bereits berücksichtigt bzw. in Material gegossen wurden. Je eingefahrener Pfade sind, desto stärker scheinen sie sich für eine Objektivierung von subjektiven Favorisierungen bzw. Kritiken zu eignen, mit der eine Trennung zwischen entwickelndem Subjekt und generalisierter Vorgabe als etablierter Sachzwang argumentativ vollzogen wird. Die neuen Autorinnen Frau Schleier und Frau Rabe aus dem gescheiterten Zyklus A konnten die Entwicklung nicht auf die Pfade bringen, die sie favorisierten. So trennten sich die Wege und man suchte neue Autor(inn)en. Die Besonderheiten des Absatzmarkts der Schule sehen die Entwickler Herr Hansmann und Herr Schmidt darin, dass sich die zu beachtenden unterrichtlichdidaktischen Paradigmen und Vorgaben zyklisch wandeln: Etwa alle 15 Jahre würde es zu gravierenden Umbrüchen und Neuausrichtungen kommen. Aus diesem 15-Jahre-Postulat der erfahrenen Entwickler lässt sich die Notwendigkeit ableiten, die unterrichtlichen Produkte flexibel und formbar zu halten, sodass sie – in Teilen – die zyklischen Schwankungen der Schulreformen überstehen können. Es wird postuliert, dass die als „Software“ verstandenen Hefte des Koffers (Aufgaben und Lehrerhandreichungen) mit jedem zyklischen Wechsel neu geschrieben werden müssen, während die Koffer als „Hardware“ stets gleichbleiben. Letztlich ist hierin eine Strategie zu sehen, soweit und so ökonomisch wie möglich die tradierten Pfade beizubehalten. Auch wenn eine neue „Software“ in der Regel eine neue Reihe eröffnet und somit teils neue Pfade gegangen werden müssen (z. B. die Organisation von Unterricht betref-
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fend), bleiben viele andere Pfade auch softwareseitig bestehen. Beispielsweise werden die Sprachakzentuierungen und die Formulierungen beibehalten, die als kindgerechtes Ansprechen der Schüler(innen) bewertet werden. Die Entwicklungsleitbilder, wie Schüler(innen) und Lehrer(innen) sind, was sie wissen und nicht wissen, was sie interessiert und was sie brauchen, sind personengebundenen und bleiben von den schulischen Schwankungen weitgehend unberührt. Auch wenn das Postulat der Entwickler(innen), dass sich die „Hardware“ niemals ändert, zu relativieren ist, bleiben viele Pfade der „Hardware“ beständig: beispielsweise die Maßgabe, dass die Dimensionen des Kofferraums limitierend feststehen, dass der raumordnende Kunststoff im inneren verpflichtend ist, dass alles, was gebraucht wird, im Koffer geliefert werden muss und nicht zuletzt, dass es die altgedienten (Funktionärs-)Dinge sind, die es in gewissen Maßen zu brauchen gilt (siehe Kapitel 4.3). Dadurch, dass diese materiellen Funktionäre, die ohnehin schon inventarisiert, erprobt, gut wiederbeschaffbar, in großen Zahlen ankaufbar und flexibel wieder veräußerbar sind, erneut einbezogen, adressiert und verwendet werden, erfolgt eine strategisch-ökonomische Optimierung. Das Festhalten an bestehenden und bekannten Pfaden ist so auch mit teils rational-wirtschaftlichen Entscheidungen verknüpft. Es gilt, das Bestehende beständig zu halten. Zudem konnte in Kapitel 4.2 aufgezeigt werden, wie eng und wechselwirksam die vorgeplante didaktische Verwendung (als Merkmal von Material und Reihe) mit ökonomischen Kalkulationen und Zwängen verbunden ist. Analytisch tritt eine spezifische Ökonomisierung der Bildung hervor. „Ökonomisierung möchte ich […] als eine nachhaltige Strukturveränderung sozialer Felder definieren, durch die […] ökonomische Elemente, Prinzipien, Regeln, Wissen und Diskurse systematisch auf außerökonomische Felder übertragen, in diese übersetzt oder von diesen spezifisch adaptiert und dynamisch an die feldeigene Logik angepasst oder auch widerständig transformiert werden.“ (Höhne 2015: 20; H. i. O.) Deutlich wird, dass Ökonomisierung nicht schlicht als lineare Logik der Übernahme beschrieben wird. Es geht um Veränderungen durch Hybridisierung, die als Überformung, Integration oder Amalgamierung neuer und alter Handlungslogiken zu verstehen sind (vgl. Höhne 2015: 20). Mit den in Kapitel 4.2 analysierten Entwicklungspraktiken und -maximen stieß ich auf ein ungewöhnliches Beispiel der Ökonomisierung von Bildung. Die klassischen Beispiele zur wirtschaftlichen Neuausrichtung des Bildungssystems beziehen sich z. B. normativ auf PISA und OECD-Bestrebungen, Rankings, Outputsteuerung, Finanzmittelzuweisungen, Schulautonomie, -profilbildung, -inspektionen und -wettbewerb oder Managerialisierung als Umgestaltung der Schulverwaltung. Die Prozesse der Ökonomisierung in meinem empirischen Material liegt auf einer anderen Ebene, sie betreffen die konzeptionelle Ausrichtung von Unterricht, der implizit von den Entwickler(inne)n der Bildungswirtschaft als eine Art „Markt“ entworfen wird: Im Unterrichtsgeschehen soll ein freier Wettbewerb der Experimente herrschen, indem
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Schüler(innen) ähnlich wie Kund(inn)en agieren und frei aus dem Koffer wählen sollen.2 Innerhalb der Entwicklungssituation wirken fingierte Schüler(innen) mit ihrer antizipierten Nachfrage und ihren angenommenen Bedürfnissen auf die Entstehung des Angebots. Die Entwickler(innen) generieren in ihren Meetings dieses unterrichtliche Angebot – z. B. mit Lern-Clips und werbenden Slogans –, wachen aber zugleich wie ein Kartellamt über den Wettbewerb des späteren Unterrichts, um Attraktivitätsmonopole unter den konkurrierenden Experimenten des Koffers zu verhindern. Dieses Entwerfen von Unterricht als eine Art Markt wurde unter starker Berücksichtigung von erfahrungsbasierten Bildern davon gestaltet, wie Lehrer(innen), Schüler(innen) und Schulgeschehnisse sind. So soll etwa der pointierte Slogan dazu beitragen, dass Experimente von Kindern sprachlich adressiert und eindeutig identifiziert werden können, auch wenn hiermit eventuell die fachliche Präzision leidet, die die als korrekt geltende Fachsprache bietet. Der werbende Slogan kann – wie von den Entwickler(inne)n angeführt – als weniger informativ und vielleicht auch als weniger „wahr“ kritisiert werden, ist aber gerade deshalb didaktisch von Interesse und anschlussfähig an klassische physikdidaktische Überlegungen zu Rolle und Zeit der Fachsprache (vgl. z. B. Wagenschein 1995: 13f.). Slogans sollen in diesem Sinne näher an der Sprache und dem Verstehen der Kinder liegen. Für weitere und vielfältige Anpassungen des Experimentierkoffers an (angenommene) schulische Handlungslogiken und Eigenheiten schulischer Akteurinnen und Akteure gibt Kapitel 4 mannigfaltige Beispiele. Die Zielsetzung der Entwicklung ist hierbei stets, dass das Produkt als Lernangebot unter den schulischen Bedingungen funktioniert. Ist dies sichergestellt, dürfen eigene Akzente gesetzt werden, die die Details der Ausgestaltung unterrichtlicher Praxis betreffen. Die mit dieser Ausgestaltung analytisch herausgestellte Marktförmigkeit ist dabei als Prozess der Ökonomisierung zu verstehen, der amalgamierend zwischen unterrichtlichen und wirtschaftlichen Handlungslogiken wirkt. Handlungslogiken der Industrie werden angepasst in die Schule exportiert, um hier den Unterricht mitzugestalten. Im Spagat zwischen Anpassung an und Gestaltung von Unterricht konzipieren die Entwickler(innen) ihr Produkt für Schulen. Die Gestaltung von marktähnlichem Unterricht ist bei den beforschten Akteurinnen und Akteuren wiederum eng mit ökonomischen Überlegungen zum Verkauf ihrer Materialien verbunden, die auf die Eigenheiten des „echten“ Marktes (z. B. Finanzkraft von Schulen) bezogen und diesbezüglich angepasst werden. Didaktische und ökonomische Zwänge wirken aufeinander und können füreinander nutzbar gemacht werden. So können z. B. mehr Experimente zu einem akzeptablen Kaufpreis angeboten werden, wenn nicht alle Kinder zur selben Zeit dasselbe Experiment durchführen, sondern in
|| 2 Da sich durch dieses Agieren z. B. keine Preise bilden, es keine Währung gibt, bestehen selbstredend Unterschiede zu „echten“ Märkten. Vor dem Hintergrund eben solcher Unterschiede und Parallelen verstehe ich Ökonomisierungsprozesse als Prozesse der Hybridisierung und Amalgamierung von klassisch ökonomischer und tradiert wirtschaftsferner Handlungslogik (vgl. Höhne 2015: 20).
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Kleingruppen frei wählen dürfen, was als Nächstes gemacht wird. Durch diese und ähnliche Bedingungen hat sich fast unmerklich ergeben, dass in der Konzeption des Unterrichts selbst, die unter wirtschaftlichen Limitierungen des Verlags entstand, Ähnlichkeiten zu ökonomischen Mechanismen sichtbar wurden. Die Analyse zeigt eine Dimension auf, die die Debatte um die Ökonomisierung von Bildung zu erweitern versucht. Jenseits üblicher Ökonomisierungskritik kann bei der aufgezeigten Adressierung von Schüler(inne)n von einer spezifischen Kindorientierung gesprochen werden. In Kapitel 4.3 geraten die dem Material zugedachten Aufgaben, die Rollen der originär schriftlichen und originär haptischen Materialien im unterrichtlichen Kofferkonzept sowie die Wechselverhältnisse zu den Bildern vom Fach Sachunterricht mit seinen schulischen Akteurinnen und Akteuren in den Blick. Ausgehend von dem Anliegen, die curricular als verbrieft betrachtete Dominanz der naturwissenschaftlichtechnischen Inhalte im Sachunterricht mit kommerziellem Unterrichtsmaterial zu bedienen, gelangen die Entwickler(innen) zu der Frage, wie Lehrer(innen) und ihr Alltag sind. Über das erfahrungsbasierte Attest, dass Lehrer(innen) des Sachunterrichts Defizite in und Berührungsängste mit naturwissenschaftlichen Themen haben, zeichnet sich ab, dass die Zielsetzung, Lehrpläne und Schuleigenarten zu berücksichtigen, eine Herausforderung darstellt: Das Produkt muss den harten Naturwissenschaften sowie den Vorbehalten der Grundschullehrer(innen) gegenüber diesen Disziplinen Rechnung tragen. Hieraus leiten sich die mit dem Material verbundenen Ansprüche und Aufgaben ab. Um diese besser verorten zu können, soll zunächst ein Kontrast zu den Aufgaben und Rollen der Materialien in der Sekundarstufe gesucht werden. Röhl resümiert seine Beobachtungen und Analysen zur Planung und Durchführung von naturwissenschaftlichem Unterricht durch Lehrer(innen) der weiterführenden Schulen: „Die Dinge sind für die Lehrer dabei [bei der Überführung in experimentelle Arrangements, J. L.] didaktische Werkzeuge, die für Themen und Unterrichtsepisoden stehen, in denen sich ein fachlich relevanter Sachverhalt deutlich zeigen soll. In der Vorbereitung ist die Lehrperson zugleich Bastler als auch vorausplanende Instanz ‚ihres‘ Unterrichts. Die Schüler sind hingegen systematisch von der Vorbereitung ausgeschlossen.“ (Röhl 2015: 167) In dem von Röhl beobachteten Frontalunterricht agieren Lehrer(innen) mit den Dingen, während die Schüler(innen) dem schulischen Geschehen mit ihren schulisch geschärften Sinnen folgen. Zu dem von mir beforschtem (Koffer-)Konzept von Unterricht gehört es hingegen, dass Lehrer(innen) auf frontale Demonstrationen verzichten. Die Dinge gehen hier also kaum den Lehrer(inne)n zur Hand, sie haben vergleichsweise wenige Berührungspunkte. Schüler(innen) sind es, die mit den Dingen aktiv werden sollen. Werden die Dinge von ihnen im Sinne der intendierten und angewiesenen Weise arrangiert, treten die Naturphänomene hervor, die sich wiederum über das schriftliche Material, die Aufgaben und Lösungssätze, in schulisches Wissen überführen lassen sollen. Dies alles soll idealerweise gelingen, auch ohne dass Lehrer(innen) dabei Zeit für einzelne Schüler(innen) aufbringen müssen. Auch wenn die Dinge von den Entwickler(inne)n teils narrativ
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als Handwerkszeug bezeichnet werden und unterrichtliches Material dabei z. B. mit dem Werkzeug eines Chirurgen verglichen wird, geht es letztlich um mehr. Es lässt sich ein Entwicklungsprozess beobachten, über den sich die Materialien nicht nur einem Unterricht andienen sollen, sondern über den ein eigener Unterricht konzipiert wird, der nicht mehr der Unterricht der Lehrer(innen) ist. Es wird der Unterricht der Bildungswirtschaft, der innerhalb eines Kollektivs ihrer Akteurinnen und Akteure ausgehandelt sowie materialisiert wird. Röhl analysiert die Schulpraxis dahingehend, dass Dinge zunächst als passende Bestandteile eines geplanten Experiments durch die Lehrer(innen) ausgewählt werden müssen. Zuvor ruhen sie im Raum der schulischen Sammlung. Beim Auswählen aus dieser würden die Lehrer(innen) bereits antizipierend „ihren“ Unterricht vorwegnehmen (vgl. Röhl 2015: 166). In der Sammlung werden die Dinge auf einen Rollwagen verlegt und dort teils bereits arrangiert: „Mit den auf den Rollwagen angeordneten Dingen nehmen die Lehrkräfte eine Ordnung des Unterrichthaltens vorweg und versuchen, den Verlauf des Unterrichts vorab zu gestalten.“ (Röhl 2015: 168) Diese dem Unterricht vorgelagerte Planungstätigkeit und Vorwegnahme ähnelt sehr stark den Entwicklungstätigkeiten in der von mir beforschten Bildungswirtschaft. So wie z. B. die Lehrer(innen) in der Sammlung erste Versuchsdurchläufe unternehmen, um sicherzustellen, dass sich später im Unterricht das zeigt, was es zu sehen gilt, so investieren die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft viel Zeit in das probierende, abstimmende und modifizierende Durchführen der Experimente. Mit diesen und vielen weiteren Praktiken konnte gezeigt werden, dass und in welcher Weise Unterrichtsvorbereitungen in die Industrie ausgelagert sind – es wurde ein Outsourcen von Lehrer(innen)tätigkeit aufgezeigt. So wie der Rollwagen als Ding für Mobilität steht, so tut es – geradezu symbolisch – auch der Koffer. Während der Rollwagen auf ein Gebäude oder eine Etage beschränkt ist, er die Dinge und den auf sie bauenden Unterricht schulintern mobilisiert, kann der Koffer um die Welt geschickt werden. Er ist ein Exportgut, mit dem die von mir beforschten Entwickler(innen) ihr unterrichtliches Produkt in die Schulen verschiedener Kontinente bringen.3 Außerschulische Akteurinnen und Akteure der schulischen Praxis konzipieren innerhalb der Bildungswirtschaft einen über Materialien präfigurierten Unterricht, indem sie ihre Intentionen an das Material zu delegieren versuchen. Während bei den von Röhl analysierten Unterrichtsvorbereitungen die Schüler(innen) ausgeschlossen sind, erfolgt mit dem Auslagern von Unterrichtsvorbereitungen in die Industrie ein Ausschluss der Lehrer(innen).4 Das Material wird hierbei seitens der Entwickler(innen) als aktiv und unterrichtsgestaltend konzipiert: Wie bei einer Arbeitsteilung soll das Material die fachlich-naturwissenschaftliche Seite des Unterrichts übernehmen, während sich Lehrer(innen) auf die soziale und
|| 3 Die Koffer werden z. B. nach Brasilien und Russland verkauft. 4 Dies zumindest in einem gewissen Maße, da Lehrer(innen) den präfigurierten Unterricht selbstredend als Vorschlag oder Inspiration verstehen und anpassen können.
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organisatorische Seite beschränken. Die Analyse der angestrebten arbeitsteiligen Konzeption und Lieferung von fertigem Unterricht deutet auf ein Motiv, dass mit der Entstehung des Faches Sachunterricht genuin verknüpft ist. In Abkehr von einem „naiv-konservativen Weltbild“ der volkstümlichen Heimatkunde setzt der Sachunterricht auf eine Orientierung an den Wissenschaften. Für eben diesen neuen Unterricht fehlten jedoch anfänglich – zu Beginn der 1970er-Jahre – ausgebildete Lehrer(innen). Als Reaktion hielten „strukturierte Arbeitsmittel“ Einzug in das Fach, die den Lehrer(innen) Sicherheit bieten sollten. Unglaube verweist hierbei explizit auf „konfektionierte Materialkästen“ mit vorgegebenen Lernwegen (vgl. Unglaube 2015: 491ff.). Diese vorkonfektionierten Materialien gerieten schnell in die Kritik, in der sie teils noch heute stehen. Mit Blick auf verschiedene Materialien für den Sachunterricht hält z. B. Scholz – erst 1995, später 2004 neu veröffentlicht – fest: „Dies ist vielleicht das größte Problem, das Materialien hervorrufen: Sie versprechen einen Unterricht, der – abgesehen vom Vorbereiten des Materials – nicht mehr durch die Lehrerin inhaltlich und methodisch überlegt werden muß. Materialien treten als Ersatzlehrerin auf, wo sie allein die Lehrerin oder den Lehrer unterstützen können.“ (Scholz 2004: 12) Die analysierten Entwicklungspraktiken und formulierten Ansprüche aus der Bildungswirtschaft sind eindeutig: Es gilt – mit den Worten der Entwickler(innen) – Lehrer(innen) im Material „zu verstecken“. Mit dieser Feststellung möchte ich mich jedoch nicht wertend in die Reihen der Kritiker einfügen. Wenn das Problem der unzureichend qualifizierten bzw. interessierten Lehrer(innen) von den Entstehungstagen des Sachunterrichts bis in die Gegenwart als gewichtig angesehen wird, „konfektionierte Materialkästen“ aus der Bildungswirtschaft ökonomisch erfolgreiche Produkte sind und die althergebrachte Kritik an ihnen auf Aktualität statt Wirksamkeit verweisen muss, erscheint es lohnenswert, analytische Perspektiven jenseits dieser Kritik zu entfalten. Ich konnte viele Leitbilder der Entwicklung analytisch aufzeigen, mit denen z. B. die Zielgruppen konzipiert bzw. adressiert werden und mit denen die Lehrer(innen) im Material „versteckt“ werden sollen (siehe Kapitel 4.3). Die von Scholz explizit hervorgehobene „Vorbereitung des Materials“ erscheint untrennbar mit inhaltlich-methodischen Überlegungen zur Unterrichtsvorbereitung verbunden – und auch diese Materialvorbereitung liegt nicht mehr in der Hand der Lehrer(innen). Muss dies nun zu beklagen sein? Da die Entwickler(innen) vielfältige Bezüge zur schulischen Praxis haben, sie im Team arbeiten, das heterogen zusammengesetzt ist, könnte zunächst angeführt werden, dass das Outsourcen von Tätigkeiten, die klassischerweise Lehrer(innen) alleine in den Räumen ihrer begrenzten Sammlung durchführen, nicht zwangsläufig als Qualitätsverlust gelten muss. Wenn angeführt wird, dass Materialien keine Ersatzlehrer(innen) sein können, sondern immer nur Unterstützung bzw. Werkzeug für menschliche Lehrer(innen) sind, kann entgegnet werden, dass eine (radikale) Techniksoziologie gewillt ist, Dinge als handelnde Akteure zu begreifen und die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt aufzugeben (vgl. Latour 1995: 14). Damit geht die Einsicht einher, dass Materialien mehr sind als Diener des Unterrichts. Mit diesem Verweis sollen die Ausführungen von Scholz jedoch nicht
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vorschnell übergangen werden, es lohnt – von empirischen Analysen ausgehend – seine kritischen Postulate weiter aufzugreifen. Scholz argumentiert für die Notwendigkeit, nicht nur Lernarrangements zu öffnen, sondern auch die Materialien des Unterrichts offen zu halten. Mit „Offenheit“ wird eine Kategorie angeführt, die vielfach als positiver Gegenpol zu „strukturiertem“ bzw. „konfektioniertem“ Material genutzt wird. Grundsätzlich ist kein Material gegen einen lehrerzentrierten gleichschrittigen Umgang gefeit. Insofern sind das Material und der Umgang damit voneinander abhängig. Von den Materialien ist allerdings zu verlangen, daß sie einen kreativen Umgang mit ihnen auch ermöglichen. Und das heißt vor allem eine Unterrichtsorganisation ermöglichen, die nicht gleichschrittig und nicht lehrerzentriert ist, sondern verschiedenen Kindern oder Kindergruppen einen individuellen Umgang mit dem Material ermöglicht. (Scholz 2004: 12)
Liest man das Zitat als Plädoyer für die Entwicklung von potenziellem Kreativmaterial o. Ä., liegt die Frage nahe, ob und wie sich dieses von anderem Unterrichtsmaterial abgrenzen lässt und ob dies eine Frage bzw. Herausforderung der Entwicklung ist. Unter Bezug auf eine Wittgenstein rezipierende Praxistheorie erscheint es zweifelhaft, ob Material situationsübergreifend und in vorgegebener Weise seine Bedeutung aus sich selbst entfaltet. Es scheint vielmehr die situative (und kreative) Gebrauchsweise zu sein, die die Bedeutung der Dinge entstehen lässt und Sinn stiftet (vgl. Hörning/Dollhausen 1997; Mohn/Wiesemann 2007; Wiesemann/Lange 2015). Wie ich in meinen Analysen zeige, versuchen die Entwickler(innen) jedoch mit ihrem Material nichts weniger als Unterricht zu liefern, indem sie Gebrauchsweisen zu determinieren suchen. Die originär haptischen Dinge („Hardware“) werden dabei als sehr bedeutungsflexibel angesehen und sollen über die Hefte („Software“) gesteuert werden. Der Unterricht soll mit dem Produkt festgeschrieben programmatisch und out of the box laufen. Auch jenseits schriftsprachlicher Instruktionen der Druckerzeugnisse gibt das Material Hinweise auf seinen intendierten Gebrauch: Die einzelnen Dinge eines Experiments greifen dabei geradezu grammatikalisch ineinander und bilden ökonomisch bedeutungsgenerierende Collagen. Diese gestaltannehmenden und fertiggestellten Collagen legen die bestimmte Umgangsweise nahe, die zum gewünschten Phänomen führen soll. Die Intentionen der Entwickler(innen) treten mit jedem richtig arrangierten Einzelteil der Collage deutlicher hervor. Die ungruppierten Einzelteile des Koffers offerieren hingegen noch wenig, können daher aber auch kreativ und (ergebnis-)offen benutzt werden. Auch „konfektionierte Materialkästen“ aus der Industrie bieten somit Offenheit, da ihr Inhalt ökonomisch flexibel umstrukturierbar sein muss, weil mehr als nur ein Experiment mit den Dingen möglich sein muss. Universell materialordnende Kategorien wie „konfektioniert“ und „strukturiert“ verlieren damit im Licht empirischer Daten ihre Gegenbegriffe und Trennschärfe. Auch als „lehrerzentriert“ lässt sich der Unterricht schwerlich charakterisieren, der von den beforschten Akteurinnen und Akteuren der Bildungswirtschaft konzipiert wird. Dies zumindest dann nicht, wenn mit „Lehrer(inne)n“ die menschlichen Personen
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und nicht die von Scholz benannten (materiellen) Ersatzlehrer(innen) bzw. die im Material „versteckten Lehrer(innen)“ verstanden werden. Anhand dieser Einschränkungen wird weiter deutlich, dass bei der analytischen Fokussierung der Entwicklung von didaktisch aufgeladenem Unterrichtsmaterial vermeintlich klare Grenzen schnell verschwimmen. Auch Kategorien wie „individueller Umgang“ können ihre Nachbarschaft zu Kategorien wie „offener Umgang“ oder „unstrukturiertes Material“ schnell verlieren: Auf der einen Seite sind die Kinder in der von mir beforschten Unterrichtskonzeption sehr frei in der Wahl des angebotenen Materials bzw. Themas, arbeiten ohne Präsenz der Lehrer(innen) selbstständig und in ihrem Tempo. Auf der anderen Seite erhalten sie über das gewählte Material dezidierte Vorgaben, wie das Material zu arrangieren ist. Die angestrebten Lernergebnisse und Entdeckungen sind letztlich ebenso determiniert wie der vorgeplante Umgang mit den Dingen. Die Frage nach dem durch die Entwicklung angestrebten Lehrerdasein der Dinge ist letztlich an die anzuschließende Forschung im Klassenzimmer weiterzureichen. Im Zuge dessen kann auch der Frage nachgegangen werden, ob sich die Analysen der selbstverfestigten Orientierungen weiter verdichten lässt: Experimentierkoffer sind didaktische Klassiker, fast seit einem halben Jahrhundert mit Grundschulen verbunden, damit so alt wie der Sachunterricht selbst, und stark in der ganzen Republik verbreitet. Wenn mit diesen Koffern ein präfigurierter Unterricht in Schulen gebracht wird, der mit dem Anspruch entwickelt wird, sich stark an dem zu orientieren, was Lehrer(innen) und Schüler(innen) brauchen und gewöhnt sind, stellt sich die Frage, ob letztlich nicht eine Orientierung an etwas vollzogen wird, das man in der Praxis selbst mit hervorbringt bzw. -brachte. Somit wären Einwirkungen von Schule und Bildungswirtschaft aufeinander als zirkulierendes Gefüge zu beschreiben.
6.3 Konstruierte Naturwelt Wie Kapitel 5 aufzeigt, ist die zusammenstellende Bildung der Box – das inhaltliche „Kofferpacken“, das Entwerfen der Experimente – als ein Aushandlungsprozess zu verstehen, der primär zwischen den Eckpunkten Phänomendeutlichkeit, Forschungstätigkeit und fachlichen sowie instruktiven Erklärungen ausgetragen wird. Diese Maximen der Entwicklung greifen dabei nicht harmonisch ineinander, sondern sind teils durch deutliche Inkompatibilitäten und gegenseitige Störungen zu kennzeichnen. Dies macht die Herausforderungen und die Leistungen der Akteurinnen und Akteure sichtbar, da alle drei Eckpunkte der Entwicklung hinreichend (wenn auch unterschiedlich akzentuiert) berücksichtigt werden müssen. Zur Verbildlichung der unterschiedlichen Favorisierungen und Positionierungen der beteiligten Entwickler(innen) sowie zur Darstellung des konkurrierenden Charakters der Eckpunkte zeichnete ich ein flächiges Dreieck (siehe Abb. 3 und 4). Mit den einhergehenden Analysen wird gezeigt, wie Sachunterricht außerhalb von Universität und Schule in dem Konstitutionsbereich der Bildungswirtschaft verhandelt wird. Auch wenn es Bezüge,
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Querverbindungen und Referenzpunkte zwischen den Konstitutionsbereichen Schulpraxis, Universität und Bildungswirtschaft gibt, sind die von mir analysierten Formungen und Verhandlungen des Sachunterrichts letztlich spezifisch. Die Entwickler(innen) füllen die Trias Phänomendeutlichkeit, Forschungstätigkeit und Erklärung durch ihr wechselseitiges aufeinander bezogenes Tun mit eigener Bedeutung. Mit Blick auf das universitäre Studium des Sachunterrichts machen auch Pech, Rauterberg und Scholz verschiedenen „Eckpunkte“ aus. „Der wissenschaftliche Diskurs des Sachunterrichts bewegt sich im Kontext der diskursiven Zusammenhänge über Kind, Sache und Welt.“ (Pech et al. 2005) Aus dieser Dreiheit sollen sich die Gegenstände des Sachunterrichts konstituieren. Pech zeichnet das diese didaktische Trias visualisierende Dreieck spezifizierend mit den Punkten Bildung/Welt, Wissenschaft/Sache und Lebenswelt/Kind. Er hält fest: „Gegenwärtig lassen sich drei zentrale Begründungswege für die Auswahl von Inhalten für den Sachunterricht skizzieren, die in diesem Zusammenhang von Kind, Sache und Welt verortet sind. Dies sind Begründungen über den Bildungsbegriff, die Lebenswelt(en) von Kindern und wissenschaftliches Wissen bzw. Methoden.“ (Pech 2009: 4). Für ein Resümee meiner empirischen Arbeit und ihrer Systematisierung anhand theoretischer Perspektiven, sollen im Folgenden Bezüge zu den von Pech zusammengefassten sachunterrichtsdidaktischen Eckpunkten gesucht werden. Metaphorisch sollen sie als Linsen dienen, durch die auf das empirische Material geblickt wird und mit denen Kontraste geschärft herausgestellt werden können.
Lebenswelt(en) und Kinder In den konkreten Entwicklungssettings wird von allen Beteiligten immer wieder auf den pädagogischen Ansatz verwiesen, die Lebenswelt der Kinder zum Ausgangspunkt schulischer Lernprozesse zu machen. Als Argument wird diese Lebensweltorientierung vielfach in die Debatten um einzelne Experimente eingespeist. Letztlich hat dieses sprachliche Rekurrieren jedoch nicht das Potenzial, in kontroversen Entwicklungssituationen konsenshafte Entscheidungen zwischen dem Eingang und dem Ausschluss konkreter Experimente herbeizuführen. Lebenswelt- bzw. Kindorientierung ist kein trennscharfes Selektionskriterium der beforschten Praxis. Es scheint als Maßgabe nicht an Experimente angelegt werden zu können und bietet den Entwickler(innen) keine unabhängige Bewertungsinstanz von Experimenten. Dies gilt, obwohl das, was unter Lebenswelt in der beobachteten Praxis verhandelt wird, nicht von einem konstruktivistischen Verständnis von subjektiven Lebenswelten ausgeht, die prinzipiell so individuell sein können wie Kinder selbst. Es geht den Entwickler(innen) um die natürlich seiende Welt, die mit physikalischen Experimenten verstanden werden soll. Kinder werden als in der Welt der Physik lebend konzipiert, die in ihr (Singular) Erfahrungen sammeln. Aus den Lebenswelt(en) wird so die Naturwelt. Sicherlich kann davon ausgegangen werden, dass die natürliche Umwelt und die Gesetze der Naturwissenschaften für die subjektiven Lebenswelten von Kindern
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einen bedeutenden Bezug haben. Für die Selektion von thematischen Experimenten für den Koffer respektive den Sachunterricht ist damit jedoch wenig gewonnen: Ausgehend von den Naturgesetzen, die auf der ganzen Welt und darüber hinaus bis weit ins Weltall gelten, löst sich die Spezifik und Pluralität auf, die kindliche Lebenswelten innerhalb bestimmt-lokaler Lebensräume haben. Der Stein fällt in Afrika ebenso zu Boden wie in Europa, der Lichtweg einer Taschenlampe in Deutschland unterscheidet sich nicht von dem einer Lampe in Japan. Kinder allerorts auf dieser Erde sind mit diesen Phänomenen konfrontiert – dies mag den Exporterfolg der Koffer ins Ausland plausibilisieren. Es bedeutet jedoch auch, dass sich eine so verstandene physikalische oder chemische Perspektive mit dem universellen Gültigkeitsanspruch der Naturwissenschaften und ihrer Gesetze selbst von einer spezifisch kindbezogenen Lebensweltorientierung ausklammert: Betrachtet man die Welt als Puzzle aus Naturphänomenen und Effekten, erscheint es evident, dass alle Menschen die auf der Erde leben, diesen Phänomen begegnen, dies früher oder später („Vorerfahrungen“) und zur Not eben nicht von selbst sondern durch den Unterricht („neue Primärerfahrungen“). Sowohl die vorhandenen, als auch die noch fehlenden Erfahrungen mit bestimmten Naturphänomenen können als Argumente im Entwicklungsprozess herangezogen werden. Die Einschätzung, dass Kinder bestimmte Dinge oder Phänomen, schon kennen, kann je nach Versuch für oder auch gegen diesen bzw. seinen Eingang in den Koffer sprechen. Selbiges gilt für das Noch-nicht-Kennen. Lebensweltorientierung ist kein bedeutender Eckpunkt in der von mir beforschten Konzeptionspraxis von Sachunterricht. Sie war kein Kriterium, mit dem sich eine regelhafte Selektion hätte herbeiführen lassen. Vielmehr geht es in den analysierten Daten um die Einordnung einer spezifischen Lebenswelt- bzw. Kindorientierung durch die Akteurinnen und Akteure: Es gilt, sich gemeinsam über einen Erfahrungsbezug zu verständigen und diesen im Konsens zu bewerten. Das Kind gerät dabei nicht aus dem Blick, wird jedoch aus einer anderen Perspektive als der persönlich-lebensweltlichen betrachtet. Den Entwickler(inne)n dienen ihre Konstruktionen davon, wie Kinder als Schüler(innen) sind, was sie langweilt und interessiert, was ihre typischen Wissensbestände und Verhaltensweisen sind und wie schulische Vermittlung hier ansetzen kann, als Argument für oder gegen bestimmte Versuche. Diese Bilder des prototypischen Kindes entscheiden über das positive oder negative Vorzeichen des „schon Kennens“ bestimmter Naturphänomene. Bilanzieren lässt sich, dass die so verstandene Lebensweltorientierung der Akteurinnen und Akteure näher an dem liegt, was die universitäre Sachunterrichtsdidaktik unter Sach- bzw. Wissenschaftsorientierung fasst. Hierzu passt die Analyse, dass die Frage, ob Kinder ein Phänomen der physikalisch-universellen (Lebens-)Welt schon kennen oder erst neu kennenlernen sollten, weniger relevant ist als die Frage, was in welcher Weise mit diesem Phänomen fachlich erklärt und in (neues) schulisches Wissen für Kinder überführt werden kann. Schulische Erklärbarkeit und Erzeugbarkeit von Naturphänomenen tritt an die Stelle der Lebenswelt.
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Zwischen Wissenschafts- und Schulorientierung Der von mir herausgestellte Eckpunkt Erklärung zielt auf den schulischen Kontext und die Logik von Unterricht: Die fachliche Erklärung ist zumeist ein pointierter „Lösungssatz“ am Ende der Kopiervorlage. Dieser Satz muss zudem zu dem passen, was die Schüler(innen) zuvor gesehen haben. Es gilt, Phänomene über vorgeplante Gebrauchsweisen funktionssicher zu erzeugen bzw. erzeugen zu lassen und angeschlossen fachlich zu erklären. Röhl hält auf Grundlage seiner ethnografischen Unterrichtsforschung fest: „Einerseits geht es also darum, einen möglichst reibungslosen Ablauf zu sichern, andererseits steht aber auch die didaktische Sichtbarkeit eines Phänomens im Vordergrund: Ein Experiment muss vor einer Klasse sichtbar sein und sich mit dem schulisch zu vermittelnden ‚Stoff‘ decken.“ (Röhl 2015: 167) Röhl kommt zu dem Schluss, dass naturwissenschaftliches Wissen über den Schulunterricht seinen Weg aus dem Labor in die Mitte der Gesellschaft findet, der schulische Umgang mit diesem Wissen über Dinge vermittelt wird und letztlich zu einem verkürzten Modell wissenschaftlicher Erkenntnis führt. Ein Operieren mit der Offenheit und Unsicherheit von Experimenten suche der Schulunterricht entgegen der Laborpraxis sorgsam zu vermeiden. Aus Sicht der Lehrer(innen) gilt: „es darf sich nichts Überraschendes zeigen, sondern ausschließlich bereits Bekanntes.“ (Röhl 2015: 175) Für Schüler(innen) sollen die Dinge und Experimente hingegen zunächst bestimmte Fragen offen, und Unklarheiten bereithalten. Die Ergebnisse eines Experiments dürfen sich nicht auf den ersten Blick erschließen (vgl. Röhl 2015: 175). Im Kontext der Produktentwicklung von Unterrichtsmaterial konnte ich aufzeigen, dass das deutliche Funktionieren von Experimenten über eine dezidierte Vorbereitung und Erprobung gewährleistet werden soll und für die Entwickler(innen) hohe Priorität hat. Auch bei dieser Konzeption und Aufbereitung von Experimenten gilt es vielfach, die Schüler(innen) zu überraschen. Da es zum Verständnis von Lernen und schulischem Wissen gehört, dass sich Neues explizieren und aus dem Experiment ableiten lassen muss, geht es für die Entwickler(innen) im Sinne des Überraschens häufig um Praktiken des Versteckens, mit denen zugleich die sichere Auffindbarkeit gewährleistet werden muss.5 Mit dem Endprodukt gilt es, genau das deutlich aufzuführen, was vorab zur Begegnung bestimmt und vorgeplant wurde. In den in Kapitel 1.4 aufgegriffenen Kennzeichnungen des Experiments merken verschiedene Fachdidaktiker(innen) an, dass es in der Grundschule vielfach nicht zu „richtigen“ Experimenten kommt, da sich Grundschulexperimente nicht deutlich genug an den Wissenschaften und ihren Vorgehensweisen orientieren (vgl. z. B.
|| 5 Die Frage nach der materiellen Sichtbarkeit und Verborgenheit der gewünschten Einsichten ist didaktisch nicht neu, exemplarisch Horst Rumpf im Gespräch mit Gerold Scholz: „Die Lehrmaterialien, denen man das gewünschte Ergebnis schon ansieht, die sind natürlich steril. Es käme darauf an, ein Stück Wirklichkeit in die Klasse zu bringen, das noch trieft von Fremdheit und das doch provoziert, genaue, vorsichtige, zurückhaltende Beobachtungen anzustellen.“ (Scholz/Rumpf 2003: 3)
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Wodzinski 2006: 124). Gemeint ist hierbei, dass Experimente in der Grundschule eher als exploratives Probieren zu charakterisieren seien und es an präziser Zielgerichtetheit, Planung und Kontrolle mangele. Schul- und insbesondere Grundschulexperimente wären daher von universitären Experimenten abzugrenzen. Doch aus welchen Perspektiven kann das in seiner Präfiguration kennengelernte schulische Experiment hinsichtlich seiner Nähe zu „echten“ Naturwissenschaften überhaupt befragt werden? Legt man die in Kapitel 1.4 dargelegte Norm zugrunde, wie „richtige“ Experimente sein sollen und vermeintlich sind (z. B. wiederholbar, kontrollierbar, zielgerichtet geplant zur Beantwortung einer leitenden Frage), muss mit Blick auf die Arbeit der Bildungswirtschaft attestiert werden, dass diese normativen Aspekte zentrale Präfigurationskriterien sind: Die Experimente sind hochgradig kontrolliert, stark durchgeplant und für ihre Wiederholbarkeit verbürgt sich der Hersteller – der zumeist auch klare Fragen, Strukturen und Aufgaben an die Kinder weitergibt (z. B. mit dem Hinweis, dass nur eine Variable pro Durchlauf geändert werden darf). Wendet man sich von der gepflegten Norm, wie „richtige“ Experimente abzulaufen haben, ab und der neueren Wissenschaftsforschung zu, fällt die mangelnden Offenheit dieser funktional abgesicherten und präfigurierten Schulexperimente kontrastiv auf. Für den vorgeplanten Umgang mit Experimenten im Unterricht versuchen die Entwickler(innen) den Zufall möglichst betriebssicher auszuklammern. Daher könnte angemerkt werden, dass diese schulische Form des Experimentierens wenig mit Laborpraxis gemein hat, da in dieser – etwa mit Bezug auf Rheinberger (2001) – Planbarkeit und Kontrollierbarkeit deutlich hinter Zufälligkeit und Improvisation zurücktreten. Die Planbarkeit, die als Kriterium des fachdidaktischen Mainstreams das Experiment normativ-definitorisch kennzeichnet, wird mit dem empirischen Blick auf „richtige“ Experimente durch Unsicherheit ersetzt. Unsicherheit ist hier jedoch nicht gleichbedeutend mit anarchistischer und gänzlicher Ergebnisoffenheit. So analysiert Rieß, wie die Arbeitsweisen und Strukturen innerhalb der Naturwissenschaften die jeweils akzeptierten Aussagen vorherbestimmen (vgl. Rieß 1997: 333f.).6 Er stellt mit der Reproduktion historisch überlieferter Experimente heraus, dass die idealisiert-geglätteten Bilder, die die Lehrbuchphysik vom Experiment zeichnet, wenig mit der Praxis des Experimentierens gemein haben. Damit einher geht die Einsicht, dass Experimente, deren Ergebnisse glaubhaft erscheinen, in der Regel nicht geprüft werden (vgl. Herbold 2000: 108f.), während irritierende Befunde vielfach ignoriert werden (vgl. Rieß/Schulz 1994: 194f.). So zeigt beispielsweise Heering in einer wissenschaftshistorischen Analyse des Coulombschen Gesetzes, das als die Basis der Elektrostatik gilt, dass das für die Messung entwickelte Instrumentarium
|| 6 Zu verweisen ist vor diesem Hintergrund selbstredend auch auf die Arbeiten von Kuhn (1962), der die Praxis der „Normalwissenschaft“ als puzzelndes Rätsellösen innerhalb paradigmatischer Grenzen analysiert.
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(Torsionsdrehwaage) sowie die Datenanalyse der wenigen Messwerte bereits in gravierendem Maße durch die Annahme geprägt waren, dass das Gesetz gelten müsse (vgl. Heering 1995). Völlige Ergebnisoffenheit scheint somit nur bedingt charakteristisch für erfolgreiches Experimentieren: Eine (natur-)wissenschaftliche Behauptung zu beweisen oder auch nur zu prüfen, läuft in den meisten Fällen auf ein Experiment oder eher eine Serie von Experimenten hinaus. Dies widerspricht keineswegs der oben referierten These, daß wissenschaftliche Tatsachen, also auch empirische Befunde sozial produziert werden; so naiv die Forderung nach einem experimentellen Beweis sein mag, so raffiniert ist der Wissenschaftler bei der (zweifellos theoriegeleiteten) Interpretation der Ergebnisse seiner Experimente, bis sie zu dem passen, was er vermutet und erwartet. (Rieß/Schulz 1994: 199)
Auch die Entwickler(innnen) der Bildungswirtschaft gehen raffiniert bei ihren Experimentserien vor, die es variantenreich auszuprobieren und zu interpretieren gilt. Auch sie tun es theoriegeleitet, mit klaren Erwartungen, Vorwissensbeständen und Vermutungen im Kopf. Wie ich zeigen konnte, ist es vielfach nicht das beobachtete Phänomen, das die Grundlage für die naturwissenschaftlichen Ableitungen bildet, es sind vorhandene naturwissenschaftliche Theorien der Entwickler(innen), die die Grundlage für das bilden, was interpretierend Gesehen wird bzw. was für Kinder – die über dieses Wissen noch nicht verfügen – stark verdeutlicht sichtbar gemacht werden soll. Die Experimente werden so lange variiert und zu interpretiert, bis das Erwartete klar sichtbar wird. Die Charakterisierung von erfolgreichem Entwickeln ähnelt der grundlegenden Kennzeichnung von beobachteter Laborpraxis bei Latour und Woolgar: „a complex mixture of beliefs, habits, systematised knowledge, exemplary achievements, experimental practices, oral traditions, and craft skills.“ (Latour/Woolgar 1986: 54) Beispielsweise deutet der von Herrn Hansmann vielfach angeführte Verweis auf die Stringenz der Reihe zugleich auf die eigenen Gewohnheiten, Routinen, Überzeugungen und Erfahrungswerte aus der Produktentwicklung. Auch in der Bildungswirtschaft kommt es zu einem ausprobierenden und handwerklichen Gebastel. Das Arrangieren einer sich passgenau fügenden Experimentcollage – unter Verwendung limitiert vorhandener oder determinierter Materialien – ist dabei ein kreativ schöpfender Akt. Bei dem ausprobierenden Arrangieren von vorläufigen Collagen haben einzelne Entwickler(innen) ihre favorisierten Erklärungen zu dabei erzeugten Phänomenen als (Lern-)Ziele vor Augen. Da die Erklärungen verschiedener Entwickler(innen) jedoch untereinander nicht deckungsgleich sein müssen, kann es zu einem Diskurs und Widerstreit kommen, was mit der jeweiligen Experimentcollage letztlich vermittelt werden soll, welche Kausalerklärungen möglich und angebracht sind oder auf welche (ggf. zu modifizierenden) Modelle man sich beziehen sollte. Zudem ähneln sich in Physik und Bildungswirtschaft die den probierenden Experimentierserien angeschlossenen Schritte: So wie Physiker(innen) im Labor nach dem Experiment ihre interpretierten Ergebnisse geglättet, plausibilisiert und diskursivanschließbar publizieren (vgl. Rieß 1997: 352), so versuchen die Entwickler(innen)
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der Bildungswirtschaft im Endprodukt eine geglättete bzw. frisierte Form der Experimente inklusive zugehörig-passgenauer Interpretationen betriebsfertig, durchführbar und schriftlich dokumentiert in die Schulen zu bringen. Mit diesen Analysen sollen nicht die zweifelsfrei existenten Differenzen zwischen Praktiken des Experimentierens im Labor und der Bildungswirtschaft nivelliert werden.7 Es lassen sich jedoch Parallelen und Ähnlichkeiten analytisch herausstellen, die für die Komplexität der Praktiken der Bildungswirtschaft sprechen und zugleich darauf hindeuten, dass die Analysen der Wissenschaftsforschung für gesellschaftliche Bereiche jenseits von Laboren Relevanz besitzen.8
Exkurs: zur Plausibilisierung einer schulischen Wissenschaftsparallele Auch in der empirischen Analyse von Unterricht und seiner Materialität finden sich erste Hinweise auf eine Wissenschafts- respektive Laborparallele. Beispielsweise erforschen Martens, Asbrand und Spieß unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse in Anschluss an die Akteur-Netzwerk-Theorie als Assoziationen von Menschen und Dingen. Dabei stellen sie Parallelen zwischen Latours Analyse der „zirkulierenden Referenz“ (dem Generieren von wissenschaftlich-begrifflichem Wissen in interagierender Auseinandersetzung des Forschers mit materiellen Phänomenen sowie technischen Geräten im Labor) und dem schulischen Lernen heraus (vgl. Martens et al. 2015) „In der Rekonstruktion von Unterrichtsprozessen zeigt sich, dass auch die Aneignung und Vermittlung von Wissen im Unterricht als zirkulierende Referenz verstanden werden kann.“ (Asbrand et al. 2013: 182) Bezugnehmend auf die ethnografische Analyse von Wiesemann und Lange, die das Wie des experimentellen Arbeitens von Grundschulkindern fokussiert (vgl. Wiesemann/Lange 2014), schlagen Gebhard, Hummrich, Rabenstein und Reh vor, die beobachteten Handlungen vor dem Hintergrund praxeologischer Untersuchungen zur Produktion von Wissen in Laboren – z. B. mit Knorr-Cetinas Arbeiten – vergleichend zu verstehen (vgl. Gebhard et al. 2015: 5f.). Die schulischen Handlungen lassen sich so nicht „nur als die gekonnte Aufführung einer fachunterrichtlichen Praktik verstehen, sondern vielmehr auch als schulische Reproduktion von Praktiken der wissenschaftlichen Produktion von Wissen im Kontext etwa von Forschungseinrichtungen.“ (Gebhard et al. 2015: 6) Ich schlage vor, die Auseinandersetzung von Schüler(innen) mit Experimentiermaterialen – angelehnt an die Laborstudien Knorr-Cetinas (2002: 63ff.) – als Unterrichtsopportunismus zu verstehen: Vorgehensweisen des Experimentierens werden von den lokalen Gegebenheiten, dem vorhandenen Material und persönlichen Interessen bedingt. Das Postulat von Höttecke und Rieß, dass naturwissenschaftliche Forschungspublikationen keine
|| 7 Ein Unterschied ist z. B. darin zu sehen, dass die sichere Reproduzierbarkeit für die Bildungswirtschaft von enormer Bedeutung ist, da sich die Entwickler(innen) mit dieser für das Funktionieren ihrer Produkte verbürgen, während Rieß beim Reproduzieren historischer Experimente auf überraschende Hürden stieß, die ein Wiederholen der Experimente publizistisch erschwerten (vgl. Rieß 1998: 168). Auch gegenwärtig – so berichtete mir ein befreundeter Doktorand der Physik – gewährten Publikationen häufig und teils deutlich aus konkurrenzabwägenden Strategien heraus, nicht in dem Maße Transparenz, dass sich die beschriebenen Experimente problemlos reproduzieren ließen. 8 Titel wie „Umrisse einer Soziologie des Postsozialen“ (Knorr-Cetina 2007) machen deutlich, dass die Analysen, die aus den Laborstudien erwuchsen, zum Teil zu Theorien mit dem Anspruch auf allgemein gesellschaftliche Relevanz weiterentwickelt wurden. Bezeichnend sind auch die mit der Akteur-Netzwerk-Theorie verbundenen Postulate, mit denen Latour titelt: „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“ (Latour 2007) oder auch „Wir sind nie modern gewesen“ (Latour 1995).
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Abbilder dessen sind, wie in Laboren, Büros und Besprechungsräumen tatsächlich gearbeitet worden ist (vgl. Höttecke/Rieß 2015: 131), trifft in frappierender Weise auch für den Grundschulunterricht zu. Hier findet sich eine bei Schüler(inne)n beobachtbare Praxis des Frisierens von Experimenten, ihrer Dokumentationen für Lehrer(innen) und ihrer Veröffentlichungen für die Klassengemeinschaft, die von der vollzogenen Durchführung des Experiments deutlich abweicht (vgl. Wiesemann/Lange 2014). Das, was in der Unterrichtssituation beim Experimentieren gemacht wurde, wird unter implizitem Bezug auf ein didaktisches Soll, Lehrer(innen)erwartungen, unausgesprochene Regeln des Unterrichts und durch eine gelebte schulische Ordnung der Wissensdarbietung retrospektiv in Dokumentationen und Vorführungen ein- bzw. angepasst (vgl. Wiesemann/Lange 2014). So verweist auch Rieß darauf, dass das Planen, Machen, Dokumentieren und Präsentieren von Experimenten in der Physik recht unterschiedliche Dinge sind, die in den seltensten Fällen deckungsgleich und oft nicht einmal kompatibel miteinander sind (vgl. Rieß 1998: 168). Schüler(innen) tragen viel an das Experiment heran, greifen auf Schulerfahrungen zurück, sie interpretieren und deuten nicht mit zufälliger Willkür, sie deuten vor einer Folie unterrichtlicher Funktionsweisen. Aus dem Gesehenen wird das herausgefiltert, was sie für die erwünschte, anschlussfähige und prestigebringende schulisch richtige Antwort halten: Was soll gesehen werden und was wollen Lehrer(innen) hören? Für diese Frage zeigen Schüler(innen) ein geschultes Gespür, das Röhl als „disziplinäres Sehen und Hören“ in der Sekundastufe analysiert (vgl. Röhl 2013: 79ff.). Schüler(innen) sind Expert(inn)en für die Wahrnehmung und Interpretation von schulischen Experimenten und ihren Ergebnissen. Sie sehen in ihnen anderes als der Ethnograf (vgl. Wiesemann/Lange 2014). Auch auf dieser Ebene der institutionellen und fachlichen Sozialisation zeigt sich eine Parallele: „In physikalischen Laboratorien sind es trainierte Experten/innen, die beobachten, messen und etwas für faktisch erklären. Ein Hochenergiephysiker zeigt auf einen Fleck in einem Streudiagramm und entwickelt eine klare Vorstellung vom Gemessenen. Ganz anders ein Laie, wenn er das gleiche Diagramm betrachtet. Ein Physiker würde andererseits in einer Taucherglocke in 5000 m Meerestiefe anders als ein Meeresbiologe zahlreiche Lebensformen völlig übersehen.“ (Höttecke/Rieß 2015: 134) Mit dem Zitat wird die Relevanz des fachlichen – physikalischen oder biologischen – Wissens herausgestellt, das den Blick schärft und Wissenschaftler(innen) als Subjekte zu Expert(inn)en des Sehens und Deutens ihrer jeweiligen Empirie macht. Die Arbeiten von Knorr-Cetina (2002) zeigen auf, dass viele weitere Faktoren, die jenseits klassischer Wissenschaftsnormen und fachlicher Fähigkeiten liegen, den Prozess der empirischen Wissenserzeugung in den Naturwissenschaften bestimmen – z. B. karrieristische Überlegungen, Zugänglichkeiten von bestimmten Instrumenten oder die institutionell herrschenden Rahmenbedingungen. Es wird eine „indexikalische Logik“ postuliert (vgl. Knorr-Cetina 2002: 63ff.). Die Verwobenheit von fachlichem und institutionellem Wissen findet sich auch in der schulischen Praxis; Lösungssätze und reduziert modifizierte Erklärungen der Physik werden zu schulischen Wissensbeständen, die sich mit (situativ dominierenden) Wissensbeständen zu institutionell-rahmenden Funktionsweise von Schule bzw. schulischen Experimenten wechselwirksam verbinden. In der Bildungswirtschaft wird diese Verbindung in weiten Teilen angelegt, fachliches Wissen wird eingeschult und mit Wissen zur institutionellen Funktionsweise von Schule verknüpft. Trotz der kulturellen Besonderheiten von schulischem Wissen zeigt sich in der (Grund-)Schule ein m. E. ebenso bedeutender wie noch weitgehend unberücksichtigter Aspekt von Experimentierpraxis: das „Wissenschaft spielen“ im Unterricht hat möglicherweise mehr (und didaktisch eventuell ungewollte) Parallelen zu wissenschaftlichen Praktiken und Anforderungen als bisher vielfach angenommen wird.9
|| 9 Dieses „Spielen“ wird vielfach recht despektierlich konnotiert, beispielhaft: „Einen Physiker und einen Chemiker kann das Grundschulkind nur spielen (wie etwa auch einen ‚Doktor‘), und nur im Scherz kann man das Kind einen ‚kleinen Naturforscher‘ nennen.“ (Schietzel 1984: 122)
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Phänomene und Weltbegegnung Im Kontrast zu sachunterrichtsdidaktischen Begründungswegen für die Auswahl von Inhalten (vgl. Pech 2009: 4) ist auffällig, dass die Orientierung an Bildung und Welt bei den Entwickler(innen) eine anders akzentuierte Rolle spielt. Wenn es den beforschten Akteurinnen und Akteuren um die Auswahl und Anpassung von Experimenten – also die Zusammenstellung der Box – geht, haben Bezüge zu tradierten Bildungsbegriffen keine explizite Relevanz. Vielmehr verorten die Entwickler(innen) ihre Aufgabe im Bildungssystem darin, ein physikalisches Weltverstehen bzw. -sehen über Experimente anzustreben. Die Entwickler(innen) sind somit klar fachpropädeutisch orientiert. Letztlich kommt dem Phänomen eine wichtige Rolle bei der Präfiguration von Sachunterricht innerhalb der Bildungswirtschaft zu. Doch auch das vielfach prominent behandelte Phänomen steht dabei nicht im Zentrum der Entwicklung, auch das Phänomen ist nur ein relevanter Eckpunkt, der Bezüge zu seinen Nachbarpunkten hat, die es gleichsam zu beachten gilt: Aus der möglichst aktiven Begegnung, Beobachtung und Beschreibung von Phänomenen soll sich eine Erklärung ergeben bzw. induktiv ableiten lassen, die den Schüler(inne)n neue Auskunft über die physikalische Welt gibt. Die Begegnung zwischen dem Subjekt und der Welt, den Phänomenen bzw. Sachen ist Ausgangspunkt der Phänomenologie. Husserl prägte den Begriff in kritischer Auseinandersetzung mit den erstarkten Naturwissenschaften seiner Zeit und ihrem Anspruch, als Universalwissenschaften zu gelten (vgl. Husserl 1987a, 1913). Es ging Husserl um das Erscheinen von Phänomenen. Die unterschiedlich erkennenden Subjekte, in derer Bewusstsein die Wahrnehmungen entstehen, werden dabei hervorgehoben. Wenn Husserl zugleich den viel zitierten Ausspruch „zu den Sachen selbst“ postuliert (vgl. Husserl 1987b: 21), so meint dies u. a., dass für Erkenntnis zunächst eine Enthaltsamkeit notwendig ist, mit der tradierte Erkenntnisweisen abgelegt werden. Die Lehren, Traditionen, Hypothesen, Urteile, Wünsche und wissenschaftlichen Positionen zur „theoretischen Welt“, die als subjektiv eigene Brillen verstanden werden, gilt es abzusetzen um transzendental reduziert zum Wesen des Gegenstands selbst, zu seiner „Washeit“ vorzudringen. Das konkret Erfahrbare soll jenseits objektivistischer Konstruktionen und präfigurierter Erklärungen ins Auge gefasst werden. Es gilt, den Richtungsstrahl und die Intentionalität freizulegen, „von denen aus das Bewusstsein Wirklichkeiten und Welten aufbaut.“ (Raab et al. 2008: 13) Diesem Vorgehen wohnt ein stark reflexives Moment inne, das bis heute grundlegende Relevanz für empirische Analysen hat und mit dem die vermeintlich singuläre Wirklichkeit nicht vorschnell als objektiv Gegebenes festgeschrieben wird (vgl. Raab et al. 2008: 13).10 Mit Blick auf das prominente Verhältnis von Subjekt und (Lebens-)Welt bietet
|| 10 Vor dem Hintergrund der „Washeit“ der Gegenstände, der Bestrebungen, die Philosophie als exakte Wissenschaft zu bestimmen, der Suche nach Übereinstimmung in Beschreibungen unter-
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die Phänomenologie gewinnbringende Bezüge für die Sachunterrichtsdidaktik. Siller hält programmatisch fest: „Die Phänomene der Welt, seien sie natürlicher oder kulturell-technischer Art, sind nicht als mit sich identische vorgegeben, sind nicht einund dieselben. Erst im Blickwechsel vielfacher Perspektiven, aus denen die Dinge wahrgenommen werden, aus der Nähe, der Ferne, von der einen oder anderen Seite, wie sie erwartet, gebraucht, erinnert, phantasiert und beurteilt werden, zeigen sie ihren Kern.“ (Siller 2004: 2) Basierend auf Husserls Phänomenologie leitet sich eine sogenannten „phänomenografische“ Lernforschung ab (vgl. z. B. Marton/Booth 1997), die Erlebensweisen eines Phänomens als Schüler(innen)perspektiven zu erheben versucht. „Die Herausforderung im Forschungsprozess besteht […] darin, bei der Rekonstruktion von Schülerverständnissen vom eigenen fachlich geprägten [z. B. physikalischen, J. L.] Erfahrungshintergrund zunächst zu abstrahieren, d.h. ihn vorübergehend auszuklammern [mit Husserl eigentlich: einzuklammern, J. L.] und die Interpretation der Daten stattdessen vor dem Hintergrund erfahrbarer Zusammenhänge des Phänomens zu vollziehen.“ (Murmann 2004: 5) Weiter wird zu der phänomenografischen Rekonstruktion kindlicher Erlebensweisen das Anliegen formuliert, diese zu kategorisieren und ihre Bedeutung für den Unterricht zu erforschen (vgl. Murmann 2002, 2005). Dabei ist das zitierte Ausklammern des erwachsenen und fachwissenschaftlichen Erfahrungshintergrunds oft äußerst temporär bzw. anfänglich: Phänomenografisch werden die rekonstruierten Sichtweisen der Kinder gesammelt, verglichen, letztlich mit fachdisziplinären Wissensbeständen konfrontiert und hinsichtlich ihrer so gemessenen Komplexität und Korrektheit hierarchisiert. Denn Phänomenografie sieht sich final der Frage verpflichtet, wie der Unterricht die Sichtweisen der Schüler(innen) an z. B. physikalische Sichtweisen annähern kann, die als richtige Zielvorstellungen des Forschers gesehen und gesetzt werden. Der phänomenografische Charakter ist letztlich diagnostisch. Während es phänomenologisch darum geht, sich reduzierend von etabliert fachwissenschaftlichen Deutungen zu lösen, um „zu den Sachen selbst“ vorzustoßen (vgl. Husserl 1987b: 21), schreitet die Phänomenografie in gegensätzlicher Richtung von den Sachen selbst fort, hin zu fachwissenschaftlichen Erklärungen der Sachen. Vor dem Hintergrund fachdidaktischer und -propädeutischer Zielsetzungen ist dies fraglos legitim. Von allgemeindidaktischer und erziehungswissenschaftlicher Warte muss jedoch gefragt werden, ob
|| schiedlicher Subjekte, die vergleichend sagen „ja, so ist es“, um die „natürliche Lebenswelt“ zu erkennen, wird Husserl bisweilen – ähnlich wie der frühe Wittgenstein – als dem naiven Realismus oder Positivismus zugehörig gelesen, siehe z. B. „Husserl und der frühe Positivismus“ (Sommer 1985). Da mit Husserls Epoché jedoch auch ein Verzicht auf realistische Ansätze eingefordert wird, greift dies letztlich zu kurz. Wenn er darauf verweist, dass das Phänomen der Gegenstand ist, so wie es erscheint, kann mit Raab u. a. gefolgert werden: „Alles gesellschaftlich Objektivierte zeigt sich als das was es ist nur im subjektiven Zugang.“ (Raab et al. 2008: 14) Wirklichkeit ist demnach nicht als etwas Unabhängiges, sondern als etwas subjektiv Konstituiertes zu verstehen (vgl. Raab et al. 2008: 14).
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hiermit nicht phänomenologisches Bildungspotenzial verschenkt wird. In der Erziehungswissenschaft ist es insbesondere die pädagogische Anthropologie, die Bezüge zur Phänomenologie nutzt (vgl. z. B. Meyer-Drawe 1999). So wird beispielsweise gefordert, die Phänomene aus der Welt von Kindern nicht vorschnell mit wissenschaftlichen Perspektivierungen und Fachsprache(n) zu versehen. Stieve kritisiert, dass Dinge, die durch die Perspektiven der Erwachsenen noch nicht eindimensional zugerichtet und instrumentalisiert sind, in ihrer Offenheit und dem kindlichen Lernumgang zu wenig fokussiert würden: „Die Vieldeutigkeit der Dinge ermöglicht, dass im Lernen eine gleichermaßen bedingte wie freie Zuwendung stattfinden kann, dass Lernen schöpferisch ist und nicht nur rezeptiv.“ (Stieve 2008: 286) Bei diesen kommunikativen Begegnungen mit den Dingen spielen vielfach emotionale und ästhetische Erfahrungsqualitäten eine besondere Rolle. Auf die sinnliche Empfindung und auf das mit ihr verbundene Erkennen werden phänomenologische Analysen tradiert bezogen (vgl. z. B. Straus 1956; Lippitz 1980; Meyer-Drawe 1984). Meyer-Drawe kritisch: „Das Subjekt der Neuzeit begreift sich vor allem vom Denken her. Es sieht, riecht, schmeckt, hört oder fühlt das Ding nicht, es urteilt, daß das Ding so oder so ist.“ (Meyer-Drawe 1999: 330) In diesem Sinne verweist für den Sachunterricht auch Nießeler auf die Relevanz von am eigenen Leib gemachten Erfahrungen für das Verstehen von Phänomenen – etwa die hebende Kraft des Wassers. Den Begriff der „Kunde“ (Sachkunde) bezieht er dabei auf die von Phänomenolog(inn)en kritisierte Lebensweltvergessenheit moderner Wissenschaften: Nicht ein wiedergebendes Verkünden von Wissen sei das Ziel von Sachunterricht, sondern selbstständiges Erleben, Erfahren und Reflektieren von Welt (vgl. Nießeler 2007: 3). Dem sinnlichen Erfahren von Phänomenen wird auch von den Entwickler(inne)n der Bildungswirtschaft – insbesondere seitens Frau Kran und Herr Peine – eine hohe Relevanz beigemessen. Die ästhetische Dimension der Phänomenbegegnung wurde vielfach in Diskussionen eingebracht und von mir als Schönheit der Phänomene analysiert. Diese Schönheit wurde Seitens Frau Kran und Herrn Peine als eigenständiger Wert der Phänomenbegegnung gesehen und von naturwissenschaftlichen Kausalerklärungen abgegrenzt. Herr Hansmann und Herr Schmidt verwiesen hingegen vielfach kritisch auf die Funktionsweisen von Unterricht, die Erwartungen von Lehrer(inne)n, auf das schon vorhandene Wissen von Schüler(inne)n, auf die verbundene Notwendigkeit von neuen Wieso-weshalb-warum-Erklärungen und somit letztlich implizit auf die Spezifik schulischen Wissens. Dieses Wissen darf von der sinnlichen Erfahrung ausgehen, soll dann aber in artikulierbare und prüfbare (Fach-)Erklärungen münden („Lösungssätze“), so die Maßgabe. Eben diese kausalen Erklärungen und naturwissenschaftlichen Auflösungen suchten sowohl Frau Kran und Herr Peine (Entwicklungszyklus B), als auch Frau Schleier und Frau Rabe (Entwicklungszyklus A) vielfach zu meiden: Das Phänomen sollte für sich selbst stehen. Im Kontrast zu einem radikal phänomenologischen Motiv geschah dies jedoch nicht vor dem Hintergrund, dass ein universalistischer Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften abgelehnt wurde. Mit der Enthaltsamkeit bezüglich auflösender Es-ist-so- weil-Erklärungen und mit den für
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sich stehenden Phänomenen ging der Anspruch einher, dass das Phänomen selbst eine monologische Erklärung abgibt, eine Es-ist-so-dass-Erklärung, die ohne komplexe Facherklärungen auskommt. Über das Aufnehmen dieser Erklärungen durch die Schüler(innen) sollen diese einsehend die Erfahrung machen, „dass es tatsächlich so ist“, wie es ist. Passend zu der naturwissenschaftlichen Lebenswelt wird von einer monologisch aufnehmbaren Wirklichkeit ausgegangen. Erst mit der Zielsetzung, die Erklärung der einen Wirklichkeit zu liefern oder diese anzubahnen, plausibilisiert sich die tendenzielle Enthaltsamkeit weiter, mit der einige Entwickler(innen) naturwissenschaftlichen Kausalerklärungen begegnen: Wenn es nur die eine natürliche Wirklichkeit gibt, gibt es für diese auch nur eine komplex wirkliche Erklärung. Erklärungen die von der wirklichen Erklärung abweichen – weil sie in ihrer Reduktion, Modellhaftigkeit oder Akzentuierung verhandelnd geformt werden müssen – wären dann zwangsläufig defizitär. Leitend ist somit eine starke Orientierung an naturwissenschaftlicher Correctness, mit der einer Entstehung von „Fehlvorstellungen“ bei den Schüler(inne)n präventiv begegnet werden soll. „Fehlvorstellungen“ können überhaupt erst im Kontrast zu einer als korrekt geltenden Erklärungsfolie ausgemacht und minimiert werden. Sie können als von den aktuell dominierenden wissenschaftlichen Wissensbeständen abweichende Vorstellungen in den Köpfen der Kinder verstanden werden. Das Konzept der „Fehlvorstellungen“ zieht seine didaktische Legitimation aus der Annahme, dass Wissensbestände (sobald sie bei Kindern oder innerhalb der Wissenschaften vorhanden sind) verhältnismäßig fixiert und unbeweglich sind. Anstatt die verworrene Genese und Umformung von Wissensständen zu reflektieren, wird es als ökonomischer oder didaktisch besser angesehen, das aktuelle Wissen als Momentaufnahme plausibilisiert darzulegen. Für den historisch genetischen Ansatz des Sachunterrichts, der mit den Namen Wagenschein und insbesondere Köhnlein verbunden ist, spielt die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaften sowie die in sie eingebettete Entstehung von Wissensbeständen eine große Rolle. Relevant ist dabei die Frage: „Wie ist das, was wir heute kennen entstanden?“ (Köhnlein 2011b: 14) Das Gewordensein (bezogen auf die Geschichte) steht neben dem Werden von Wissen (bezogen auf die Lernenden) und soll für den Unterricht fruchtbar gemacht werden (vgl. Köhnlein 2011b: 14). Konzeptionell wird das Gewordensein vor allem genutzt, um naturwissenschaftliche Bildung von naturwissenschaftlichem Wissen abzugrenzen. „So bewirkt die an dieser Waage [Gravitationswaage, J. L.] gewonnene Information, dass alle Körper zueinander drängen, wohl Wissen, aber nicht Bildung. Ein Zeichen von naturwissenschaftlicher Bildung – an dieser Stelle – wäre es, zu verstehen, wie man auf den Bau dieser Waage kommen konnte [...].“ (Wagenschein 1997: 69) Somit versucht der Ansatz historisches und persönliches Werden von Wissen produktiv aufeinander zu beziehen. Er skizziert damit einen naturwissenschaftlichen Bildungsanspruch, der zweifelsfrei über die Zielsetzung hinausgeht, naturwissenschaftliche Wissensbestände mit dem Unterricht in den Köpfen der Schüler(innen) anzuhäufen. Die den Bildungsanspruch torpedierende Gefahr liegt darin,
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dass die Betrachtung des historischen Gewordenseins von inselhaften Erfolgssituationen retrospektiv das Bild einer Geschichte der kumulativen Anhäufung von Wissensbeständen durch die Naturwissenschaften in der Gesellschaft entstehen lässt. Es droht die Vorstellung einer Wissenschaft der großen Männer, die in der Vergangenheit unumstößliches Wissen erarbeitet haben, auf dem wir heute und dauerhaft stehen. Der Ansatz darf in seinen Intentionen nicht dahingehend missverstanden werden, dass sich mit dem historisch geschaffenen Wissen eine lineare Annäherung an die Wirklichkeit vollzogen hat. Ihre Vorläufigkeit wohnt Wissensbeständen genuin inne. Aus der Empirie – also der Erfahrung – gewonnene Vorstellungen sind keine abschließenden Antworten. Wissen wandelt sich mit der Geschichte bzw. der Biografie. Oft wird es dabei nicht kontinuierlich richtiger, sondern wird angezweifelt und verworfen, wird neu gefunden und kehrt wieder. Diese existenziellen Wechselprozesse brauchen fraglos Zeit, aber sie passieren. So hat Kuhn (1962) mit seiner Kritik an dem Glauben an eine kumulative Warheitsannäherung eindrücklich aufgezeigt, dass es nicht die eine faktische Falsifikation ist, die ein derzeit herrschendes durch ein neues Paradigma ersetzt. Der Ablöseprozess ist zäh und mit Widerständen behaftet. Physiker(innen) halten an althergebrachten Erklärungen und etablierten Vorstellungen fest, die sich nicht einfach durch eine plötzliche Widerlegung auflösen lassen. Die Parallele zur Schule wird umso deutlicher, wenn die Entwicklerin Frau Kran darauf verweist, dass sich einmal verfestigte „Fehlvorstellungen“ bei Schüler(inne)n oft schwer wieder auflösen ließen. Forscher(innen) und Schüler(innen) klammern: Sie geben ihre einmal gewonnenen Vorstellungen – die auch plausibel, einleuchtend und hinreichend brauchbar sein können, im Kontext neuer Erklärungen aktuell jedoch als fehlerhaft gelten – ungern auf. Ein kurzer demonstrativer Nachweis durch einen arrangierten Versuch vermag die vorhandenen Vorstellungen ggf. nicht unmittelbar zu tilgen. Ausgehend von diesem Befund möchten die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft den Schulkindern bestimmte Erkenntniswege ersparen, die als irrig gelten, sie möchten den Wissensweg gemäß ihrer Norm linear und kumulativ gestalten. Den von Herrn Hansmann und Herrn Schmidt vorgebrachten Wunsch, Kausalerklärungen zu liefern, teilen prinzipiell auch die anderen Entwickler(innen), jedoch halten sie die Grundschule hierfür vielfach für den noch falschen Ort, denn die Physik sei zu komplex. Für Frau Rabe, Frau Schleier, Frau Kran und Herrn Peine fungieren die Phänomene als Teaser der Physik und gewähren einen Blick auf das tatsächlich Seiende, das später – in Lehrbüchern der Sekundarstufe – noch richtig erklärt bzw. aufgelöst werden wird. Mit Wagenschein lässt sich problematisieren: „Ich habe die Überzeugung, dass unser Unterricht diesen Aberglauben, die Physik decke ein an sich Seiendes, die Wirklichkeit, auf, noch immer nährt. Vielleicht von der Meinung behindert, seine Auflösung sei erst durch die moderne Physik, also erst in der Prima oder auf der Universität möglich.“ (Wagenschein 2009: 40; H. i. O.) Nicht Wirklichkeit soll als Aberglaube diskreditiert werden, kritisch reflektiert werden soll hingegen das vermeintliche Aufdecken der einen Wirklichkeit, das ohne unsere Subjektivität auskommt. Können Phänomene, denen experimentell begegnet wird, als
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Es-ist-so-dass-Erklärungen des Tatsächlichen verstanden werden? Ist das Experiment die Frage an die Natur, die uns ihre eine Antwort klar offenbart? Mit Bezug auf die von Kuhn für die Geschichte der Physik aufgezeigten Paradigmenwechsel, die Inkommensurabilitäten verschiedener Paradigmen, den wiederkehrenden Gültigkeitsverlusten bis dato anerkannten Wissens, die hinfällige Vorstellung einer kumulativen Entwicklung wissenschaftlichen Wissens und der relativierten Bedeutung von rationaler Wissenschaftslogik hält Herbold fest: „Vor diesem Hintergrund wird die Annahme obsolet, die Natur antworte direkt auf die an sie gestellten Fragen. Fakten werden zu Interpretationsleistungen, die u.a. auch sozial bedingt sind [...]“. (Herbold 2000: 106) Es werden keine objektiven Antworten vorgefunden und aufgenommen. Diese (empirische) Feststellung soll nicht in das andere Extrem schlagend missverstanden werden. Forscher(innen) sind als Subjekte nicht von den Objekten der Welt gelöst, Wissen zur Welt lässt sich nicht von Objekten unabhängig, beliebig kognitiv konstruieren. In diesem Sinne verweist die neuere Wissenschaftsforschung auf die wichtige Partizipation der Materialität in Laboren (siehe Kapitel 1.4). Auch die Phänomenologie betont tradiert die nicht voneinander unabhängige Existenz von Mensch und Welt. So hält Meyer-Drawe ein Plädoyer für lebensweltliches Wissen und die verwobene Begegnung von Subjekt und Objekt, mit der Dinge nicht als uns gegenüberstehende Objekte unserer Erkenntnis, nicht als Herrscher über ihren Sinn oder schlichte Empfänger „unserer intellektuellen Erfindungen“ begriffen werden (vgl. Meyer-Drawe 1999: 331ff.). Bildungsrelevant sei eben die reflexive Verquickung von Mensch und Welt, unsere weltlichen Erfahrungen mit den Dingen, über die aber nicht naiv realistisch geurteilt werden darf: „Diese beiden Aspekte von Wirklichkeit, nämlich daß sie über sich schweigt, indem sie jeden eindeutigen Sinn verweigert, und daß es sie dennoch gibt, verschärft sich zu einem Problem, wenn man die Erfahrung der Dinge mit dem Anspruch auf Wahrheit verknüpft, so als läge der Mannigfaltigkeit unserer Wahrnehmungen eine Wirklichkeit zugrunde, die wir allerdings aufgrund unserer verschiedenen Perspektiven variieren.“ (Meyer-Drawe 1999: 329; H. i. O.) Die mit den sorgsam abgestimmten Experimentiercollagen hervortretenden Phänomene der Bildungswirtschaft sind hinsichtlich ihrer Funktionalität optimiert, sollen eine suggestive Klarheit bieten und dabei etwas präsentieren. Dennoch kann aufgezeigt werden, dass sich nicht ein singuläres Lernziel monologisch aus dem Experiment empfangen lässt. Während der Entwicklung herrschte vielfach Diskussions- und Abstimmungsbedarf, was es in dem Phänomen zu sehen und an ihm zu lernen gilt. Unterschiedliche Entwickler(innen) haben unterschiedliche Einsichten für ein Phänomen im Kopf, die zu divergenten Lern- bzw. Lösungssätzen werden können. Einzelne Entwickler(innen) wollen Arbeitsblätter, Überschriften, Lösungsverstecke u. a. nach dem ausrichten, was sie jeweils in dem Phänomen sehen. Das Gesehene erwächst weniger aus dem Phänomen als aus dem Vorwissen, aus dem, was die Entwickler(innen) „hineinsehen“. Auch Murmann führt phänomenologisch an, dass ein Phänomen erst durch unsere aspektheraushebende Wahrnehmung und Appräsentation zum Phänomen gemacht wird (vgl. Murmann 2004: 6). Bedeutungen werden auf
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der Grundlage von Vorerfahrungen zugeschrieben (vgl. Murmann 2002: 80). Muckenfuß (2001) verweist unter Verwendung des Begriffs phänomenologisch darauf, dass durch das Erleben von Phänomenen zwar die Neugier geweckt wird, es aber nicht als physikdidaktisches Patentrezept gelten könne. In kritischer Auseinandersetzung mit Wagenschein problematisiert Muckenfuß die Vorstellung, dass sich aus Phänomenwahrnehmungen ein bruchloser Weg zur wissenschaftlichen Denkweise der Physik ergibt. Vor dem Hintergrund vielfältiger Diskrepanzen zwischen Wahrnehmung und physikalischer Theorie bzw. „Ideenwelt“ gilt: „wir dürfen nicht erwarten, dass sich die naturwissenschaftlichen Ideen aus diesen Phänomenen herausschälen lassen wie die Frucht aus der Schale, oder dass z. B. die Physik sonst in irgendeiner Weise kontinuierlich aus diesen Phänomenen hervorgeht.“ (Muckenfuß 2001: 76) Vorstellungen, wie das Verstehen von Schatten als „Fehlen von Licht“, ergeben sich demnach nicht einfach aus der Wahrnehmung, sondern setzen als Erklärungen bereits physikalische „Ideen“, wie z. B. die geradlinige Ausbreitung von Licht, voraus (vgl. Muckenfuß 2001: 75). Auch wenn sich die Physik nicht aus den Naturphänomenen schält, konnten meine Untersuchungen der Bildungswirtschaft zeigen, dass und wie in einem Wechselspiel Phänomene und Erklärungen sorgsam aufeinander abgestimmt, aneinander angepasst und füreinander plausibilisiert sowie nutzbar gemacht werden. Im Sinne eines solchen analysierten Verbundkonstrukts kann sehr wohl von (schulisch-)naturwissenschaftlichen Phänomenen als Resultat der Bemühung um fachliche Stringenz und disziplinäre Aufbereitung gesprochen werden.11 Die Phänomene, die die Bildungswirtschaft verlassen, sind vorformatiert, sie werden präfigurierend konstruiert bzw. symbiotisiert. Die Bestimmung dessen, was im Phänomen steckt, was gesehen und verdeutlicht werden kann, war innerhalb der von mir beforschten Entwicklungsprozesse ein wichtiger Aushandlungsprozess, der vielfach in die (potenziell konflikthafte) Frage mündete, welchen Phänomenaspekt man herausstellend zum Lernziel erhebt und in welcher Weise man ihn spezifisch erklärt. Die didaktische Frage, was „rauskommen soll“, war nicht trivial. Die damit verbundenen aushandelnden Einordnungen waren nötig, da aus der zugrunde gelegten Logik und Funktionsweise von Unterricht das Erfordernis gesehen wurde, dass die Schüler(innen) zu einer bestimmten Einsicht gelangen sollen, die im Lösungsversteck angegeben, als Merksatz abgebildet und für die Lehrer(innen) transparent sowie prüfbar ist. Die Kinder sollen nicht irgendetwas in den Phänomenen finden, auch nicht Unterschiedliches, sondern das, was es zu finden gilt und was sich passgenau zu schulischem Wissen transformieren lässt. Ist eine Einigkeit unter den Entwickler(inne)n
|| 11 Demgegenüber suggeriert der Begriff „Naturphänomene“, dass diese nur als etwas Gegebenes präsentiert werden müssen, das uns unabhängig gegenübersteht. Diese Sicht greift jedoch zu kurz: Kapitel 1.1 zeigt auf, wie sich insbesondere Unterrichtsmaterialien historisch tradiert in einem Spektrum zwischen ideeller Natur als vermeintlich gegebene Orientierung und konstruierender Hervorbringung von eben dieser Natur bewegen. Eben hier schließen meine empirischen Analysen an.
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hergestellt, was es zu zeigen gilt, kann das Phänomen diesbezüglich und über sein zugehöriges Experiment weiter akzentuiert, bastelnd optimiert, frisiert und letztlich funktionssicher-gerichtet produziert werden. Somit ist die Antwort auf eine selbstgestellte und eigens angepasste Frage weniger von der Natur gegeben, als vielmehr in Interaktion mit ihr und den Subjekten samt ihren Wissensbeständen, Sichtweisen und Präferenzen konstruiert. Das Transformieren von Phänomenbegegnung in ein Lernziel ist kein interpretationsfreier Übersetzungsprozess oder gar eine exakte Ableitung. Am Ende eines Phänomens können diametrale Aussagen stehen, die sich als Lösungssätze zwar widersprechen, aber für sich genommen als richtig angesehen werden können: Als Beispiel sei auf das Phänomen des Schattenwurfs und die unterschiedlichen Lösungsätze aus Entwicklungszyklus A und B verwiesen, mit denen Schatten einmal als zweidimensionale Flächen (Zyklus A) und einmal als dreidimensionale Räume (Zyklus B) charakterisiert wurden. Die Formulierungen der Lösungssätze waren dabei sehr absolutistisch („Schatten sind …“). Lernerträge werden bestimmten Experimenten und ihren Phänomenen letztlich aushandelnd zugewiesen. Mit der Einigung darüber, was gesehen bzw. gezeigt werden soll, gehen auch Entscheidungen einher, welche naturwissenschaftlichen Modelle mit welchem Material und welchen Schüler(innen)praktiken passend dargestellt werden können. Teils kommt es dabei zu kompromisshaften Anpassungen der Modelldarstellungen (wie z. B. bei der Frage, ob ein Lichtstrahl für Grundschüler(innen) als Pfeil dargestellt werden darf). Teils kommt es über Praktiken wie die des Frisierens zur hergerichteten Hervorbringungen von einem Phänomen, das für ein anderes – schwer zu erzeugendes – Phänomen einspringen muss, zu dem man einen Lösungssatz formulieren möchte. Schulisch erzeugbare Phänomene sind also ggf. mit den Phänomenen, die im Lösungssatz behandelt werden, eher verwandt als identisch (siehe z. B. die Analysen zum Farbkreisel in Kapitel 5.2). Im Sinne einer Wissenschaftsorientierung sehen sich die Entwickler(innen) der Absicherung und Reproduktion eines naturwissenschaftlichen Selbstbilds verpflichtet, das das kontrollierte Experiment als Frage an die Natur versteht, mit dem eine objektive Antwort zu dem tatsächlich Seiendem empfangen werden kann. Analysierbar wurde jedoch ein Kontrast zwischen dem Anspruch ein tatsächlich Seiendes zu zeigen, und der dabei zu beobachtenden konstruierenden Hervorbringung dessen, was man zeigen will. Eben hier zeigt sich die Parallele zur empirisch erforschten Experimentierpraxis der Physik, die vielfach nur bedingt ergebnissoffen ist (vgl. Heering 1995) und mit retrospektiv geglätteten Darstellungen versehen wird (vgl. Rieß/Schulz 1994: 199). Es ist ungewollt und überraschend, dass aus einer Orientierung an einer Norm, wie Wissenschaft sei und gemacht werden soll, eine Praxis in der Bildungswirtschaft erwächst, die auffällige Kontraste zu dieser Norm bietet und dennoch bzw. gerade damit empirische Ähnlichkeit zu Naturwissenschaften in situ aufzuweisen scheint. Mit der analysierten Parallele zwischen den Praktiken innerhalb der Bildungswirtschaft und den Naturwissenschaften relativiert sich auch in Teilen die grundsätzliche Unterscheidung, dass die Bildungswirtschaft Wissen schlicht reproduziert, das als gesichert angesehen wird,
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während die Wissenschaft neues Wissen produziert, das dem zukünftigen Kanon und Lehrstoff ggf. hinzugefügt wird. Mit einfallsreichen Praktiken wie dem frisierenden Herrichten, innovativen Bastelarbeiten, dem Einbringen von schulischen Determinationen, dem modifizieren von Modellen, dem Verwerfen oder Anerkennen von Versuchsausgängen und aushandelnden Zuordnungen bzw. Zuweisungen von Lernzielen und Erklärungen ist die Praxis der Bildungswirtschaft wissensproduktiv. Sie bringt eigene Phänomen-Wissens-Verknüpfungen hervor und beantwortet Fragen für sich sowie die Schule. Dieses Wissen orientiert sich zwar deutlich an den Wissensbeständen und Normen der Physik, ist jedoch letztlich eigen- und schulförmig. Es umschifft bestimmte Wissensbestände und Aufschlüsse, da sie als zu komplex angesehen werden, reduziert Erklärungen sowie Modelle umformend und versucht dabei herrichtend Wiedersprüche zu meiden sowie Schlüssigkeit zu schaffen. Durch Aushandlungen, Zuordnungen, Schließungen und Setzungen kommt es so zur Verfertigung von eigenen Wissensbeständen, die im Endprodukt mit dem Anspruch auf Wahrheit verknüpft werden. Zuvor muss jedoch (oft kontrovers) diskutiert und letztlich für den Koffer gesetzt werden, welche Vorstellungen, Einordnungen und Erklärungen richtig, richtig genug, zumutbar, modellhaft, riskant oder falsch sind. Dabei werden auch die „Fehlvorstellungen“, die die Entwickler(innen) mit ihrem Produkt vermeiden respektive bekämpfen wollen, erst in der diskursiven Entwicklungspraxis konstituiert. Bei dieser Aushandlung geht es nicht nur um die Berücksichtigung von physikalischem Wissen, sondern auch um antizipiertes bzw. potenzielles Vorwissen von Schüler(inne)n, angenommene kindliche Denkweisen, prototypische Lehrer(innen) und ihr Vorgehen, unterrichtliche Abläufe, präferierte Erklärungswege, zukünftige Curricula der Sekundarstufe und vieles mehr. So, wie die Bildungswirtschaft keine exklusive Instanz der Wissensreproduktion ist, ist das Labor kein exklusiver Ort der Wissensproduktion. Vielmehr ist die aufgreifende Reproduktion von Wissen des aktuell vorherrschenden Paradigmas eine entscheidende Praxis des wissenschaftlichen Puzzelns (vgl. Kuhn 1962). Forscher(innen) bauen nutzend oder würdigend auf Wissen auf, tragen bestimmte Theorien, Methoden bzw. Traditionen an Phänomene heran und greifen auf tradierte Instrumente zurück (vgl. Latour/Woolgar 1986: 54). Die Reproduktion – aber auch die Zerstörung – von altem Wissen ist letztlich Teil der Wissenschaft. Die Produktion von Wissen geschieht weder im Labor noch in der Bildungswirtschaft in einem Wissensvakuum, sie vollzieht sich selbstredend kaum unter Berücksichtigung einer phänomenologischen Zurückhaltung und eidetischen Reduktion, mit der Vorannahmen ausgeschaltet werden (vgl. Husserl 1913). Aus Sicht der Physik lassen sich die schulischen Wissensbestände und Lösungssätze der Bildungswirtschaft auf ihren „Wahrheitsgehalt“ befragen, indem ihre Kongruenz zu dem gegenwärtig akzeptierten Fachwissen der Disziplin expliziert wird. Phänomenologisch lässt sich ein universalistischer Anspruch auf objektive Wahrheitsatteste problematisieren. Aus didaktischer Perspektive kann der Bildungswert zwischen harten Fakten und Wissensrelativismus diskutiert werden. So plädieren Vertreter des
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historisch-genetischen Ansatzes im Sachunterricht (vgl. Köhnlein 2011b; Wagenschein 1997) und Physikdidaktiker mit empirisch-historischen Arbeitsweisen (vgl. Rieß 1997; Höttecke/Rieß 2015: 136) dafür, einen naturwissenschaftlichen Unterricht nicht schlicht als informierende Weitergabe von derzeit gültigen Wissensbeständen zu konzipieren. Es gelte hingegen, Unterricht auf die Entwicklungen der Wissenschaften zu beziehen, die von interagierenden Akteurinnen und Akteuren gemacht wurden und werden. „Statt vieler unverbundener Einzelkenntnisse sollte die systematische Struktur der Wissenschaften gelehrt werden, verbunden mit den Merkmalen ihrer gesellschaftlichen Entstehungs-, Entwicklungs- und Anwendungsbedingungen.“ (Rieß 1997: 339) Damit geht es primär um die Frage nach dem Wie der Wissenschaften und ihrer Erkenntnisgewinne. Auch Konzepte wie die „scientific literacy“ begründen ihre Bedeutung im schulischen Bildungssystem – zumindest oberflächlich (siehe Kapitel 1.4) – mit dieser Frage. Auf empirisch-analytischer Grundlage ist davon auszugehen, dass sich die Vorstellung vom Experiment als Frage an die Natur, die ihrerseits subjektunabhängig antwortet, nicht halten lässt. In der Behandlung von naturwissenschaftlicher Praxis liegt vor allem dann ein relevanter Ansatzpunkt für Bildung, wenn die Anbahnung einer kritischen Reflexion bezüglich der Entstehung von Wissen gelingt. „Fehlvorstellungen“ müssen dann nicht gemieden werden, sondern können als plurale Vorstellungen zugelassen, aufgegriffen, reflektiert und verglichen werden. Dies würde der wissenschaftshistorischen Form- und Wandelbarkeit von Wissen ebenso Anschlüsse eröffnen wie dem phänomenologischen Anliegen, mit vielfältigen, fachwissenschaftlich unvoreingenommenen und subjektiven Sichtweisen zu arbeiten. Der Unterricht müsste sich dann nicht mehr auf einen beschnittenen Merksatz zuspitzen, der – aus einer definierten Warte – als einzig oder hinreichend korrekt gilt. In dem Sinnieren zum Für und Wider unterschiedlicher Deutungen liegt ein vernetzendes Bildungspotenzial. „Es ist uns, als müßten wir die Erscheinungen durchschauen: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern, wie man sagen könnte, auf die ‚M ö g l i c h k e i t e n‘ der Erscheinungen.“ (Wittgenstein 2001: 628; H. i. O.)12 Auf dem Weg zu einer schulpraktischen Möglichkeit, sich den Möglichkeiten der Erscheinungen zu nähern, kann die didaktische Frage gestellt werden, ob die Verhandlungen der erscheinenden Phänomene und die Diskussionen ihrer möglichen Sichtweisen aus den Meetings der Entwickler(innen) nicht auch im Unterricht mit Schüler(innen) vollzogen werden können. Denn hiermit sind Praktiken aufgezeigt, die für die Experimente konstitutiv, jedoch nicht für die schulische Beschäftigung vorgesehen sind. Mit der transparenten Einschulung dieser Praktiken könnte eine Integration der Schüler(innen) bezüglich der prominenten Entwicklungsfrage angestrebt werden, was „rauskommen“ soll bzw. zu welchen Einsichten (Plural) man gelangen kann. Mit Bezug auf Wittgenstein
|| 12 PU § 90
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kann es dann um ein „Zusammenhänge sehen“ (Wittgenstein 2001: 814)13 gehen und um ein gemeinsames Aufspüren von „Familienähnlichkeiten“, die sich übergreifen und kreuzen (vgl. Wittgenstein 2001: 787)14. Zudem ist über das Einräumen verschiedener Sichtweisen auf ein Phänomen ein Ausweg aus dem aufgezeigten Dilemma der Orientierung an einer natürlich seienden Lebenswelt aufgezeigt, die einen Kindbezug nur insofern zulässt, als dass Kinder physikalische Naturphänomene kennen oder nicht kennen. Diese skizzenhaften Unterrichtsanregungen sind für den fachdidaktischen Diskurs verfasst und nicht als Kritik an die Entwickler(innen) der Bildungswirtschaft gerichtet, die sich für das Funktionieren ihrer formatierten Produkte verbürgen und für ihren Verkauf verantwortlich zeichnen müssen. Hierzu geht es den Entwickler(inne)n letztlich darum, die Pluralität und Widerständigkeit der Materialien einzudämmen, um Vorhersagbarkeit und einen Lernertrag zu schaffen. Aus ökonomischer Sicht müssen die Produkte dabei auf einen breiten Konsens treffen: Das, was sie demonstrieren und vermitteln, muss bei möglichst vielen Menschen als richtig gelten. „Diese Vorstellung einer methodisch gesteuerten Wahrheitannäherung prägt vielfach das Alltagsverständnis der Naturwissenschaften, insbesondere in ihren experimentellen Bereichen.“ (Amann 2008: 30) Die Entwickler(innen) berücksichtigen gegenwärtige Funktionsweisen von Schule und beziehen sie auf ein gegenwärtig noch populäres Verständnis von Wissenschaft, das auch innerhalb der Fachdidaktik viele Fürsprecher findet. In den analytischen Blick geriet letztlich, wie die Akteurinnen und Akteure über Experimente Wissen suggestiv verfertigen, schulisch aufbereiten und Phänomenen zuordnen. Mit diesen Analysen suchte ich – im Sinne der „Social Studies of Teaching and Education“ (vgl. Kalthoff 2011) – die erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Diskurse um eine Perspektive zu bereichern, die über die Erkenntniswege und Ergebnisse der neueren Wissenschaftsforschung sowie der Technikgeneseforschung einen empirischen Beitrag zur Präfiguration von Unterricht leistet. Der Beitrag für den Sachunterricht ist darin zu sehen, dass neue Impulse für das Fach gesucht wurden, die nicht aus den Bezugsdidaktiken oder der Lernpsychologie stammen, sondern sich empirisch am Wie des experimentellen Arbeitens orientieren und damit aktuelle Zugänge zu den Naturwissenschaften berücksichtigen. Ich plädiere abschließend dafür, die Frage, in welchem Verhältnis schulische und (bezugs-)wissenschaftliche Experimente praktisch stehen bzw. didaktisch stehen sollen, verstärkt zu diskutieren. Durch diese Debatten ist zudem der Austausch zwischen Fachdidaktik und Bildungswirtschaft weiter auszubauen, der derzeit zu selten stattfindet und zu dessen Einbindung die vorliegende Arbeit einen Beitrag leistet.
|| 13 PU § 122 14 PU § 67
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Prozesszyklen der Entwicklung in ihrer Chronologie und der analytischen Retrospektive | 75 Abb. 2: Arbeitsteiliges Kompetenzdreieck als Selbstrekonstruktion | 82 Abb. 3: Tendenzielle Verortungen der Entwickler(innen) auf der Triasfläche | 203 Abb. 4: Konkurrierende Punkte schulischer Experimente | 204
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