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German Pages 192 [193] Year 2011
Schätze der Menschheit: Zerstört. Geraubt. Verschollen.
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SCHÄTZE DER MENSCHHEIT:
ZERSTÖRT. GERAUBT. VERSCHOLLEN. DIRK HUSEMANN
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart, unter Verwendung einer Abbildung von picture-alliance/Godong (Fuß der Kolossalstatue Konstantins des Großen. Die spärlichen Reste des monumentalen Werkes sind im Innenhof der Kapitolinischen Museen in Rom ausgestellt.) Lektorat: Carsten Drecoll, Freiburg Layout und Satz: Satz & mehr, Besigheim Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe (Saale) Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de ISBN: 978-3-8062-2393-4 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: E-Book (PDF): 978-3-8062-2553-2
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VOR WOR T: KEIN X MAR K IE R T DEN OR T
Vorwort: Kein X markiert den Ort
Revolution in Ägypten: Proteste gegen das Regime treiben Anfang 2011 Tausende von Menschen auf die Straßen. Während bei Massendemonstrationen in Kairo Geschichte geschrieben wird, geht die Vergangenheit Ägyptens verloren. Plünderer nutzen das Chaos der Unruhen aus und dringen in das Ägyptische Museum ein, die größte Sammlung ägyptischer Altertümer weltweit. In den Hallen des Hauses lagern 120 000 Artefakte – Schätze, die die Ägyptologie in zweihundert Jahren Forschung zusammengetragen hat, darunter die goldene Totenmaske Tutanchamuns und die Mumien der Pharaonen. Die Plünderer wüten in der Sammlung, zerschlagen Vitrinen, reißen aus den Schaukästen, was wertvoll erscheint. Beherzte Bürger bemerken die Schandtat und vertreiben die Diebe, aber sie kommen zu spät. Am 12. Februar meldet Zahi Hawass, Minister für Altertumsgüter, dass acht Schätze verschwunden seien, darunter zwei vergoldete Holzstatuen aus dem Grab Tutanchamuns, eine Kalksteinstatuette des Echnaton und die Statuette eines Schreibers aus Amarna. Im Laufe der kommenden Monate tauchen drei Objekte wieder auf. Der Rest bleibt verloren. Das Schicksal der ägyptischen Schätze ist kein Einzelfall. Während des Irakkriegs stahlen Plünderer 2003 aus dem Irakischen Nationalmuseum Bagdads etwa 170 000 Kulturgüter. Museumsdirektorin Nabhal Amin machte das US-Militär für die Plünderung
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verantwortlich, da die Truppen sich zwar angeblich um die Sicherung des irakischen Ölministeriums gekümmert haben sollen, aber das Museum unbewacht ließen. Oft ist es Krieg, der Gelegenheit für Diebe schafft, etwa im Fall des Bernsteinzimmers, das im Zweiten Weltkrieg aus dem Katharinenpalast in Zarskoje Selo nahe Sankt Petersburg verschwand und nach dem bis heute gefahndet wird. In anderen Fällen schaffen Diebe sich die Gelegenheiten selbst, so der Goldschmied Niels Heidenreich, der in die Königliche Kunstkammer Kopenhagens einstieg, dort zwei Goldhörner aus der dänischen Frühgeschichte stahl, sie einschmolz und Modeschmuck daraus anfertigte. Zwar lebte Heidenreich vor etwa 200 Jahren. Sein Geist aber schwebt noch heute über Kulturgütern, deren Materialwert höher geschätzt wird als ihre Bedeutung für die Geschichte. Auch Schätzen aus Papier, Holz und Stein droht die Vernichtung. Sind es nicht Räuber, die Altertümer zerstören, nagt der Zahn der Zeit an Vergänglichem, langsam und beständig wie an den Musikinstrumenten der Antike, oder plötzliche Erdbeben, Vulkanausbrüche und Sturmfluten lassen ganze Städte verschwinden – so wie das angeblich versunkene Vineta an der Ostseeküste, das unter Archäologen als Atlantis des Nordens gilt. Die größte Gefahr für die Schätze der Vergangenheit aber ist das Vergessen. Das Wissen der Antike gilt heute zu 80 Prozent als verloren; die Kulte der Germanen kennen Historiker nur in Bruchstücken; die Kniffe der Wikinger bei Navigation und Schiffsbau sind ein Rätsel; die Bibliotheken der Maya verbrannten auf den Scheiterhaufen christlicher Missionare. Geblieben sind Fetzen, Splitter und Scherben. Mit diesen Resten einstiger Größe versuchen Forscher zusammenzustückeln, was verloren gegangen ist: Archäologen fahren in nachgebauten Wikingerschiffen nach Amerika, Linguisten knacken den Code der Mayahieroglyphen, Musiker zupfen antike Leiern und suchen nach dem Geheimnis griechischer Töne. Trotz eindrucksvoller Erkenntnisse lässt das Ergebnis meistens nur schmerzlich erahnen, wie immens der vollständige Schatz einst gewesen sein muss.
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Die Suche nach den untergegangenen Kulturgütern bringt Verschollenes nicht zurück, aber sie hält die Erinnerung an die verlorenen Schätze der Menschheit wach. Anhaltspunkte und Rückschlüsse genügen, um der Fantasie und Vorstellungskraft die Tür zu öffnen – zwar nur einen Spaltbreit, doch weit genug, um hindurchspähen zu können.
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Inhalt Verlorene Pracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Goldhörner von Gallehus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das Bernsteinzimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Bronzekunst der Griechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vergessenes Wissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Archäologie der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Kompass der Wikinger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geheimnis um Gräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verschollene Mumien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Domgräber Kölns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das Grab Alexanders des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Versunkene Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Die Ostseestadt Vineta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Raubgrabung in Keltenstädten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Verschwundene Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die Bücher der Maya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Das Wissen der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Shakespeares Cardenio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Gestürzte Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Irminsul der Germanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Menora der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Quellen und Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Dank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
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Schätze müssen nicht immer aus Gold und Edelsteinen sein. Sind sie es, ist die Gefahr besonders groß, dass sie gestohlen werden. Selbst der einfältigste Dieb erkennt den Wert eines historischen Prunkstücks, solange das Material wertvoll ist: Aus den uralten Goldhörnern von Gallehus goss ein Gauner modische Ohrringe; das Bernsteinzimmer aus dem Zarenpalast wurde so gründlich demontiert und versteckt, dass zwei Staatsapparate vergeblich danach suchten; der Koloss von Rhodos endete wegen seiner wertvollen Bronze in einem Schmelzofen.
Die Goldhörner von Gallehus Sie gelten als größter Goldschatz der dänischen Frühgeschichte: Die Goldhörner von Gallehus sind etwa 1600 Jahre alt, Prunkstücke der Schmiedekunst und stehen als Symbol für die lange, eigenständige Landesgeschichte Dänemarks. Aber weder die Bedeutung als Nationalheiligtümer noch die Altehrwürdigkeit der Hörner täuschten über den materiellen Wert der Artefakte hinweg. Vom puren Gold geblendet, vergriffen sich Langfinger bereits vier Mal an den beiden Preziosen – mit verheerenden Folgen.
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Die Repliken der Goldhörner von Gallehus, wie sie das Dänische Nationalmuseum Kopenhagen heute zeigt.
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Als das erste Goldhorn entdeckt wurde, tobte in Europa der Dreißigjährige Krieg. Es mag den chaotischen Verhältnissen des Jahres 1639 zuzuschreiben sein, dass zunächst nur eines der beiden Hörner beim Ort Gallehus in Jütland, nahe der heutigen deutsch-dänischen Grenze, auftauchte. Erst 1734, Europa war bereits vom Rokoko verzückt, kam das zweite, kürzere Horn zum Vorschein – nur wenige Meter vom Fundort des ersten Artefaktes entfernt. Es gilt als wahrscheinlich, dass beide Exemplare zur Zeit ihrer Entstehung zusammengehörten. Die Goldhörner kamen aus der Eisenzeit. Vermutlich fertigte ein Goldschmied sie um 400 n. Chr. an. Zu dieser Zeit herrschte in den südlicheren Ländern Europas bereits die Spätantike, das Römische Reich stand kurz vor dem Kollaps. Der Einfall der Hunnen hatte Mittel- und Teile Nordeuropas 375 n. Chr. ins Chaos gestürzt und die Völkerwanderung ausgelöst. Die Welt der frühen Dänen wandelte sich. Wahrscheinlich spiegeln die Goldhörner das damalige Gedankengut wider. Beide Exemplare sind im Abstand von etwa 100 Jahren gefunden worden. Dennoch ist ihre Verwandtschaft sofort sichtbar. Zwar sind die Hörner mit 67 Zentimetern und 52 Zentimetern unterschiedlich lang und auch ihr Gewicht ist mit 3,6 beziehungsweise 2,7 Kilogramm verschieden. Aber sie wurden auf dieselbe Art hergestellt. Zur Zeit ihrer Entdeckung hatten beide Goldhörner noch eine doppelte Schale. Die innere Schicht war aus einer Gold-SilberLegierung getrieben. Außen liefen Ringe aus reinem Gold um die Hörner, die mit Bildern geschmückt waren. Das längere Artefakt war bei seiner Entdeckung vollständig erhalten, während das kleinere in der Mitte zerbrochen war. Dennoch ließen sich die Bildprogramme nach der Restauration vollständig erkennen. Krieger mit Schilden stehen neben Speer- und Sichelträgern, die Hörner oder gehörnte Masken tragen. Bogenschützen jagen Wild, ein dreiköpfiger Mann präsentiert eine Art Keule. Eine Hinrichtung durch Ausweiden ist mit grausigen Details wiedergegeben. Reiter galoppieren, Kentauren tauchen auf, zweiköpfige Wölfe, Schlangen, Fische und Ziegenböcke reihen sich aneinander. Das
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Brakteaten waren dem römischen Geld nachempfundene Schmuckmedaillons. Das hier abgebildete Medaillon stammt aus Fünen, Dänemark.
Bildprogramm scheint einem üppigen Sagenschatz entnommen zu sein. In der Forschung gilt heute die Theorie als anerkannt, dass die Goldhörner eine Mischung aus nordisch-germanischen Fabelwesen und römisch-spätantiken Figuren zeigen. So sind vor allem die Zentauren und Kreaturen mit Tierköpfen typisch für die Kunst des Mittelmeerraums jener Zeit. Über weite Teile Europas verbreitet ist in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends das Motiv des Vogels, der an einem Fisch pickt. Vermutlich gehört dieses Bild in einen christlichen Zusammenhang. Auf den ersten Blick erscheint das Auftreten mediterraner Elemente so weit im Norden Europas seltsam. Tatsächlich aber nahmen die Menschen der nordischen Eisenzeit Einflüsse der römischen und griechischen Antike auf. Das belegen andere Artefakte
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jener Zeit, zum Beispiel Brakteaten. Diese Goldanhänger trugen reiche Germanen zur Schau, meist wohl als Halsschmuck an einer Kette. Es sind viele Brakteaten erhalten. Sie erinnern in ihrer Größe, Form und in ihrem Dekor an römische Münzen mit Kaiserporträts. Wie so oft beim antiken Zahlungsmittel ist auch in der Mitte des Brakteaten ein menschlicher Kopf im Profil erkennbar. Ihn umläuft eine Inschrift, die jedoch nicht lateinisch ist, sondern aus Runen besteht. In einigen Fällen ist die Schrift zu einer Zierlinie stilisiert – die Goldschmiede ahmten offenbar nur das optische Erscheinen der Münzen nach, verzichteten aber auf eine exakte Wiedergabe der Buchstaben. Aus Geld wurde Schmuck. Auf ähnliche Weise mögen die antiken Figuren auf die Goldhörner von Gallehus gelangt sein. Welchem Zweck Bilder und Hörner dienten, bleibt jedoch rätselhaft. Der dänische Altertumsforscher Ole Worm untersuchte 1641 als Erster das lange Horn und war sich sicher, dass er eine Trompete aus der Zeit des mythischen Königs Frode Fredegods in Händen hielt und dass die Bilder den eisenzeitlichen Dänen als Darstellungen tugendhaften Verhaltens dienen sollten. Heute gilt die Meinung Ole Worms als überholt. Die Hörner, so die gängige Interpretation, waren wahrscheinlich Trinkhörner. Andererseits scheint das mythologische Bildprogramm nicht zu einem Alltagsgegenstand zu passen. Waren die Goldhörner Kultobjekte? „Dafür gibt es keinen Beweis“, schreibt Olfert Voss vom Dänischen Nationalmuseum Kopenhagen in „Oldtidens Ansigt“, „und vielleicht ist es sogar ein Irrtum, hier einen Widerspruch zu vermuten: Religion und Alltag, Glaube und profane Angelegenheiten mögen auf eine Weise miteinander verwoben gewesen sein, die wir uns heute nicht mehr vorstellen können.“
Vom Nil an die Nordsee Im Fall der Goldhörner von Gallehus steckt die Archäologie in einem Dilemma: Ihr Fund ist ein Glücksfall, sie versprechen, Geschichten über das Leben in der dänischen Eisenzeit zu erzählen,
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aber niemand versteht mehr ihre Sprache. Ein Schlüssel zum Geschichtenschatz mag jedoch auf dem langen Horn zu finden sein. Dort steht, gut sichtbar in großen Runenlettern, ein einziger entzifferbarer Satz: „ek hlewagastiz holtingaz horna tawido“. Kennern altnordischer Sprachen bereitete die Übersetzung keine Probleme. Eine geläufige Übersetzung lautet: „Ich, Leugast, Holtes Sohn, machte das Horn“. Wer könnte Leugast gewesen sein, wer sein Vater Holte? Mehrere Generationen dänischer Historiker versuchten, den Namen Leben einzuhauchen und entwarfen Szenarien vom Alltag in der Eisenzeit: jenen Moment in der verrauchten Schmiede, als der stolze Vater zusieht, wie sein Sprössling die Inschrift in das Horn stanzt. Geschichtsschreibung dieser Art war im 18. und 19. Jahrhundert üblich, heute gehen Historiker anders mit jenem Satz auf den Goldhörnern um. Kaum jemand interessiert sich noch für die Identität von Leugast und Holte. Stattdessen erscheint ein einzelnes Verb bedeutsamer: „tawido“. Das Runenwort teilt die altnordische Wissenschaft in zwei Lager. Den einen bedeutet es „machen“, den anderen „ausbessern“. Bereits 1899 kritisierte der dänische Linguist Vilhelm Thomsen die Lesart von „tawido“ als „machen“. Thomsens Theorie, die bis heute Anhänger findet, stellt die verzwickte Vokabel neben ähnliche Worte etwa aus dem Gotischen, die auch „färben“ bedeuten können. Der Sprachforscher kam zu dem Schluss, dass man zwar nicht genau feststellen kann, was Leugast nun mit dem Horn angestellt habe, aber hergestellt habe er es mit Sicherheit nicht. Thomsen ging noch einen Schritt weiter und stellte fest, dass „die Art und Weise, auf die die Inschrift ausgeführt worden ist, in gutem Einklang mit der vorgetragenen Auffassung steht und klar den Eindruck macht, später hinzugefügt zu sein, von einer anderen Hand als der, die das Horn ausgeführt habe, und zwar in einem breiteren, klobigeren Stil als die Figuren und Ornamente des Horns“. 1984 ging der Linguist Erik Rooth noch einmal dem Verdacht nach, dass Runeninschrift und Bildprogramm nicht von derselben Hand angefertigt worden sein könnten. Auch Rooth fand den Unterschied,
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der bereits Thomsen aufgefallen war: „Ich mache weiter darauf aufmerksam, dass der Runenritzer im Gegensatz zum Meister der Ornamente den Raum ungenau berechnet hat: ‚tawido‘ wird zusammengedrängt mit schmalen Linien geschrieben.“ In diesen Beobachtungen könnte der Schlüssel zum Verständnis der Goldhörner liegen. Als der Historiker Willy Hartner die Hörner in den 1960erJahren drehte und wendete, versuchte er, den entscheidenden Hinweis zu erkennen, der seinen Vorgängern bislang verborgen geblieben war. Beim Anblick der Bilder auf den Goldhörnern fühlte sich Hartner an ein Phänomen erinnert, das in dieser Form nie zuvor in Nordeuropa aufgetaucht war. Bekannt war es aus Ägypten: von der Bilderschrift der Hieroglyphen. Am Nil war bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. die berühmte Hieroglyphenschrift entstanden, die zu den ältesten Schriftsystemen der Welt zählt. Die Texte bestehen aus Bildern, Ornamenten und Linien. In der frühen Version stand jedes Bild für das, was es darstellte (Ideogramm). Später konnte das Abgebildete auch für einen anderen Begriff stehen, dessen Wort aus denselben Konsonanten bestand (die Ägypter schrieben keine Vokale). War es möglich, dass die Hieroglyphen vom Nil an die Nordsee gelangt waren? Akribisch verglich Willy Hartner die Symbole auf den dänischen Hörnern mit Schriftzeichen aus Nordafrika. Überdies legte der Forscher die dänischen Zeichen neben orientalische Schriften und fand auch hier überraschend viele Übereinstimmungen: die seitliche Perspektive der Figuren, Schlangen und Schlangenlinien als Trennzeichen, Sterne und Ornamente als Mittel der Betonung. Dennoch wollte Hartner von einer reinen Bilderschrift nichts wissen. Für ihn waren die Figuren auf den Goldhörnern keine Ideogramme, sondern in Bilder verwandelte Buchstaben. Diese Theorie stieß bei Kollegen aus der Wissenschaft zwar auf Interesse, rief aber auch Skepsis hervor. Hartner blieb hartnäckig und versuchte, die mutmaßliche Schrift auf den Goldhörnern zu entziffern. Um den Code zu knacken, stilisierte der Forscher jede Figur, bis sie Ähnlichkeit mit einer der Runen der ältesten germanischen
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Schrift, dem sogenannten Futhark, aufwiesen. Zur Überraschung Hartners funktionierte dieses System. Jedes Bild ließ sich in eine Rune überführen, sogar die Leserichtung von links nach rechts hatte der Schmied der Goldhörner konsequent durchgehalten. Allmählich entstand unter den Augen des Historikers ein Buchstabensystem, aus dem sich Wörter bilden ließen. Nach wochenlangem Verwandeln von hockenden Gestalten und Schwerter schwingenden Berserkern in Buchstaben schälte sich ein Schatz von fünf Wörtern heraus: „luba“ für „Giftkunde“, „Heilmittel“, „Zaubertrank“; „horns ens“ für „dieses Horn“; „helpa“ für „ich gebe“; „hjoho“ für „Hausstand“, „Sippe“. Hartner fasste zusammen: „Die vorstehenden Bemerkungen dürften genügen, um die Übersetzung der Inschrift: ‚Der Zaubertrank dieses Horns möge helfen der Gemeinschaft/Sippe‘ als im Wesentlichen gesichert erscheinen zu lassen.“ Wenn Willy Hartner die Zeichen richtig gedeutet hatte, waren die Goldhörner von Gallehus tatsächlich Trinkhörner mit kultischem Charakter. Hartner ging noch einen Schritt weiter und verband den Anlass zur Herstellung der Hörner mit der Sonnenfinsternis vom 16. April 413. Die Interpretation fand so viele Anhänger wie Gegner. Für die Theorie, in die Goldhörner sei eine Geheimschrift getrieben worden, spricht die oben erwähnte Beobachtung, dass die deutlich erkennbare Runenschrift, die Leugast nennt, nachträglich auf das Horn aufgebracht worden ist: Für die Existenz von zwei Schriftsystemen, der Runen- und der Bilderschrift, auf demselben Gegenstand gibt es keinen erkennbaren Grund. Leugast besserte das Horn demnach tatsächlich nur aus und verewigte sich mit eindeutigen Runenzeichen auf dem Werkstück – möglicherweise konnte schon dieser frühe Restaurator die eigentliche Schrift im Gold nicht mehr lesen. Eine letztgültige Aussage zu den Hörnern wird vermutlich nie zu treffen sein, denn schon Willy Hartner stand in den 1960erJahren vor dem Problem, mit ungenauen Kopien arbeiten zu müssen. Die Goldhörner von Gallehus waren schon lange verloren.
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Ein goldener Magnet für Diebe Die Prunkstücke des dänischen Nationalbewusstseins lagen seit dem 18. Jahrhundert in der Königlichen Kunstkammer in Kopenhagen. Dort funkelten sie in restauriertem Zustand und lockten Besucher an, die sich an der Deutung der Bilder versuchten und vom Glanz des Goldes verzaubern ließen. Einer, den der Anblick des Edelmetalls nicht mehr losließ, war der Goldschmied Niels Heidenreich. Seine Liebe zum Gold war monetärer Natur. In seiner Werkstatt an der Ecke der Larsbjørnsstræde und Studiestræde in Kopenhagen hatte Heidenreich als Falschmünzer gearbeitet, war aufgeflogen und im Gefängnis gelandet. Nach seiner Entlassung 1797 versuchte er, seinen Beruf wieder auf ehrliche Weise auszuüben, doch die Geschäfte gingen schlecht. Eines Tages sah der von der Not Gebeutelte die Goldhörner von Gallehus im Kopenhagener Museum und hatte eine Idee. Der Goldschmied interessierte sich nur wenig für die uralten Figuren auf den Hörnern. Heidenreich sah das Gold und einen Weg, es in die Finger zu bekommen. Neben seiner Tätigkeit als Goldschmied arbeitete der Kopenhagener auch als Uhrmacher – eine in diesem Fall unglückselige Verbindung beider Handwerke. Mit Feinwerkzeugen und Geschick bewaffnet, stieg Heidenreich in der Nacht zum 5. Mai 1802 in das Museum ein, nahm die Hörner von der Wand und stahl sich davon. Daheim angekommen, mag der Dieb noch für einen Augenblick die grandiose Goldschmiedearbeit auf den Hörnern bewundert haben, die ein Kollege 1400 Jahre zuvor mit Hingabe in das Metall getrieben hatte. Dann brach Niels Heidenreich die Hörner entzwei. Er trennte die innere GoldSilber-Schicht von den Ringen aus Gold, schmolz das Metall und fertigte daraus Münzen und ein Dutzend Ohrringe im Stil der damaligen Mode. Der Schmuck ging weg wie warme Semmeln. Schon nach wenigen Tagen hing das Gold der eisenzeitlichen Hörner unerkannt an den Ohren dänischer Damen. Doch auch dort blieb es nicht lange. Der dänische Staat brauchte dringend Ressourcen für den
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Der Goldschmied Niels Heidenreich stahl 1802 die Goldhörner von Gallehus und goss aus ihrem Gold die Ohrringe. Sie sind heute im Dänischen Nationalmuseum Kopenhagen zu sehen.
Handel mit Indien und ordnete an, dass jeder Bürger einen Teil seines Schmucks in der staatlichen Münze abzuliefern hatte. Erneut landete das Gold der Gallehuser Hörner im Schmelzofen, dieses Mal sogar per Gesetz, und verwandelte sich in indische Geldstücke. Das Geld ging im Handel mit Indien unter, vier Ohrringe aber konnten an den staatlichen Essen vorbeigeschmuggelt werden. Heute ist der Schmuck, der einmal der Schlüssel zur dänischen Vergangenheit gewesen ist, im Nationalmuseum Kopenhagens zu sehen. Das Glück des Diebes währte ein Jahr. Als der Leiter des Museums den Raub der Goldhörner am Tag nach der Tat entdeckte, ließ er in der Presse eine Belohnung von 1000 Reichstalern für das Ergreifen des Diebes und das Wiederbeschaffen der Beute ausschreiben. Beim Lesen der Zeitung muss Andreas Holm aufmerksam geworden sein. Holm war Großmeister der Kopenhagener Gilde der Goldschmiede, und Niels Heidenreich war ihm als
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schwarzes Schaf des Handwerks bekannt. Erst wenige Tage zuvor hatte sich Heidenreich mit Holm getroffen und ihm eine Handvoll Pagodas, indische Münzen, zum Kauf angeboten. Holm hatte die Fälschungen sofort erkannt, auch die minderwertige Qualität der Münzen, eine Gold-Messing-Legierung, war dem Obergoldschmied nicht verborgen geblieben. Als Holm den anderen Goldschmieden von der Begegnung erzählte, vereinbarten die Handwerker, Niels Heidenreich zu beschatten. Eines Abends beobachteten die Verfolger, wie der dubiose Kollege zum Stadtgraben schlich und darin Gegenstände versenkte, die die Schmiedeprofis sofort als Münzstempel erkannten. Der Kopenhagener Polizei genügten diese Indizien für eine Verhaftung. Am 27. April 1803 wurde Niels Heidenreich festgenommen, er gestand den Diebstahl drei Tage später und verbrachte die folgenden 37 Jahre im Gefängnis. Vier Jahre nach seiner Entlassung starb Niels Heidenreich 1844 in Kopenhagen.
Ganz legale Raubkopien Im Kopenhagener Museum herrschte Verzweiflung. Als Heidenreich die Vernichtung der Goldhörner von Gallehus gestanden hatte, glaubten die Kuratoren die Artefakte verloren. Doch dann erinnerte sich die Museumsleitung einer Möglichkeit, die Hörner wiederbeschaffen zu können – als Kopien. Einige Jahre zuvor waren von den Originalen zwei Abdrücke angefertigt worden, von denen einer an Kardinal Stefano Borgia in Rom, der andere an den Archäologen Karl August Böttiger in Dresden gesandt worden war. In Kopenhagen keimte die Hoffnung auf, mithilfe der Formen die Hörner nahezu im Originalzustand wiederherstellen zu können. Aber das Schicksal machte den Dänen erneut einen Strich durch die Rechnung. Aus Rom kam die niederschmetternde Nachricht, die Gussformen seien nie beim Kardinal angekommen. Wie sich herausstellte, hatte das Schiff mit der wertvollen Ladung Schiffbruch erlitten und war vor der Küste Korsikas gesunken. Nun setzten die Dänen
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alle Hoffnung auf Böttiger. Doch auch der Dresdener konnte nicht helfen. Im Institut des Professors waren die Gussformen der Goldhörner weggeworfen worden, weil man sie für wertlos gehalten hatte. In Kopenhagen witterten die verzweifelten Kuratoren noch eine letzte Chance, die Hörner wiederherzustellen. Ole Worm, jener erste Historiker, der die Goldhörner untersucht und beschrieben hatte, hatte 1634 Zeichnungen der Artefakte angefertigt und diese in Kupfer stechen lassen. Die Bilder gaben die Hörner nicht etwa wie eine Fotografie wieder, sondern stellten sie so dar, als wäre die goldene Hülle aufgerollt worden. Damit ließ sich das gesamte Bildprogramm auf einen Blick erfassen. Drei dieser Zeichnungen konnten im Museum aufgetrieben werden. Erneut trat 1860 die Kopenhagener Goldschmiedegilde auf den Plan und fertigte Kopien der Hörner nach der Vorlage von Ole Worms Stichen. Ein zweites Paar Kopien wurde 1980 hergestellt, da zwischenzeitlich neue Erkenntnisse über die ursprüngliche Form der Artefakte gewonnen werden konnten. Seither sind diese Stücke im Nationalmuseum Kopenhagen ausgestellt – neben den Ohrringen des Niels Heidenreich, aus deren Gold einst die originalen Hörner geschmiedet waren. Auf den ersten Blick wirkten die Kopien wie Abdrücke der Originale. Viele Details aber gingen bei den Umzeichnungen verloren oder wurden verändert. So zeigen die Nachgüsse von 1860 zwar die korrekte Windung der Hörner, haben aber die falsche Größe. Hingegen sind die Versionen von 1980 näher an der Größe der Originale, aber weichen bei der Windung ab. Jede Untersuchung der Zeichnungen Ole Worms bringt neue Interpretationen hervor. Unsicherheit herrscht auch bezüglich des Bildprogramms. Schon Ole Worm fand Fehler bei der Übertragung. In einem Brief an den Kupferstecher Peter Winstrup, der die Zeichnungen auf Platten übertrug, stellte Worm fest, dass die „Blumen“ im oberen Reifen zu „Kreuzen“ geworden waren: „Mit solchen haben sie nichts zu tun; nur dass die kleinen Blattansätze sich kreuzförmig
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schneiden.“ Auch der Historiker Jørgen Sorterup, ein Zeitgenosse Worms, rümpfte die Nase, als er die Kupferstiche sah, und mahnte, man solle „nicht die Figur vergessen, die einer dunklen Sonne ähnelt und die auch auf dem Kupferstich im Museo Regio von Sl. D. Holigero Jacobaeo beobachtet worden, aber vom Kupferstecher nicht an ihrer rechten Stelle angebracht und auch nicht so abgebildet worden ist, wie sie es hätte sein sollen.“ Überdies tadelte Sorterup, dass alle Kupferstiche die Ringe als an der falschen Stelle geteilt darstellten und dadurch die richtige Reihenfolge der Bilder zerstört worden sei. Andere Bearbeiter stießen in dasselbe Horn. Wer die Originale kannte und sie mit den Kopien verglich, stellte fest, dass hier ein Kleeblatt fehlte oder dort ein Ball zu viel gezeichnet worden war. Für die Deutung der Bilder als Zeichen oder gar Schrift waren diese Fehler fatal. Jeder Versuch, die Wahrheit über die Bildsprache der Goldhörner zu erfahren, blieb in den Ungenauigkeiten der Kopien kleben.
Erpressung mit Messing Selbst die Kopien der Goldhörner scheinen jene Faszination auszustrahlen, die Niels Heidenreich angesichts der Artefakte empfand und die ihn dazu verleitete, die Schätze zu stehlen und einzuschmelzen. 1993 drangen Diebe in das historische Gebäude des Moesgaard Museums bei Aarhus ein und stahlen einen Satz Kopien der Goldhörner. Heidenreichs Erben aber scheinen das Interesse an der Beute rasch verloren zu haben. Schon wenige Tage nach dem Einbruch wurden die Stücke in einem Straßengraben bei Hasselager, nicht weit vom Museum, entdeckt. Dass die Diebe sich der Beute auf diese Weise entledigt hatten, wunderte die Polizei nicht: Die Hörner waren aus vergoldetem Messing gefertigt und monetär wertlos. Die nächsten Langfinger brachten weniger Wissen mit auf den Beutezug. Im Herbst 2007 wurden vergoldete Messingkopien der Gallehuser Hörner im Museum von Jelling ausgestellt. In der Nacht lehnten Diebe eine Leiter an die Hausfassade, stiegen durch ein
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Fenster in die Ausstellungsräume ein und zerschmetterten mit einer Axt mehrere Vitrinen. Die Beute: eine Bärenfigur aus Bernstein, eine goldene Halskette und die Kopien der Hörner. Polizei und Museumsleitung waren fassungs- und ratlos. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, welche Absicht die Diebe verfolgten. Das Einschmelzen der Hörner kam nicht infrage, der Wert des Messings wäre den Aufwand nicht wert gewesen. Möglicherweise wollten die Täter die Hörner in dunklen Kanälen des Kunsthandels verschachern. Doch auch das erschien unwahrscheinlich. Michael Fornitz, Mitarbeiter des Kopenhagener Auktionshauses Bruun Rasmussen, glaubte nicht daran, dass die Diebe im Auftrag eines Sammlers unterwegs gewesen waren, und kommentierte den Diebstahl in der dänischen Presse: „Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass es solche Hypothesen nur in Detektivgeschichten gibt. Sammler sind stolz auf ihre teuren Anschaffungen und präsentieren sie lieber, als sie zu verstecken. Die Diebe haben keinerlei Verwendung für die Beute.“ Laut Polizei blieb einzig die Möglichkeit, dass die Diebe ein Lösegeld für die Hörner erpressen wollten. Doch bevor eine entsprechende Forderung gestellt wurde, waren die Täter gestellt. Ein Anwohner hatte in der Nacht des Einbruchs einen Volvo V40 beim Museum beobachtet. Wenige Tage später wurde der Wagen auf einem nahen Bauernhof gesichtet. Dort ertappte die Polizei zwei Männer und zwei Frauen mit der Beute. Die Hörner waren durch Sägespuren leicht beschädigt. Offenbar hatten die Diebe tatsächlich das vergoldete Messing für bare Münze genommen und versucht, die Kopien zu zerstören und einzuschmelzen. Heute hängen die Abbilder der einstigen Goldhörner von Gallehus wieder im Kopenhagener Nationalmuseum. Dass noch in der Gegenwart Diebe auf das vergoldete Messing hereinfallen, spricht für die handwerkliche Qualität der Nachbildungen, die einen Eindruck von der einstigen Pracht der Artefakte geben. Für die Wissenschaft sind die Hörner noch immer wertvoll, aber die Botschaft, die einst auf ihnen zu lesen war, ist seit Langem verloren.
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Das Bernsteinzimmer Gläserklingen im Katharinenpalast – der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der russische Staatspräsident Wladimir Putin schließen beim Sektempfang in Puschkin am 31. Mai 2003 eine Kluft zwischen den Staaten, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Diplomatie zwischen Ost und West entzweite. Das Bernsteinzimmer, Symbol für den Umgang mit Beutekunst, ist nach Russland zurückgekehrt, allerdings nur als Kopie. Das Original, gestohlen von den Nationalsozialisten, bleibt trotz jahrzehntelanger Schatzsuche in den Geheimstollen der Wehrmacht, den Gewölben abgebrannter Schlösser, in Privatarchiven oder Kunstsammlungen verschollen. Achtes Weltwunder, Glanzstück europäischer Handwerkskunst, Goldschatz in warmem Braun – die Einrichtung des Bernsteinzimmers brachte seine Besucher zum Staunen. Ausgedacht hatte sich das Meisterwerk der kunstsinnige Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, jener Regent, der sich 1701 unter dem Namen Friedrich I. zum ersten König von Preußen krönen ließ. Königlich sollte auch die Residenz Berlin ausgebaut werden. Immerhin herrschte der König zu Zeiten des Absolutismus, in denen unumschränkte Macht und verschwenderischer Prunk Grundlagen des Regierens waren. Ausgestattet mit einer prallen Staatskasse und der Befugnis, sie zu leeren, ließ Friedrich I. Bauten errichten, die – soweit erhalten – bis heute seinen Herrschaftsanspruch ausstrahlen, darunter das Zeughaus, das Stadtschloss und das Schloss Charlottenburg in der Spreestadt. Schloss Oranienburg etwas außerhalb wurde aufwendig erweitert. Friedrich legte den Grundstein für die noch heute bestehende Akademie der Künste, die seinerzeit der Zentralisierung der Kunst am Hof des Herrschers dienen sollte, und für die „Churfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften“, die heute als Akademie der Wissenschaften berühmt ist und der im Laufe von über dreihundert Jahren die russische Zarin Katharina II. und Denis Diderot sowie Wissenschaftler wie Max
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Planck und Albert Einstein angehörten. In diese Reihe nachhaltiger Urheberschaft fällt auch die Idee König Friedrichs, eine Ecke des Berliner Stadtschlosses verschönern zu lassen: mit einer Wandund Deckenvertäfelung von Kunstschnitzereien in Halbedelstein – dem Bernsteinzimmer. Die berühmtesten Bernsteindrechsler ihrer Zeit, Ernst Schacht, Gottfried Thurau und Gottfried Wolfram, kamen nach Berlin, um die Idee des Königs in die Tat umzusetzen. Die Arbeiten dauerten zehn Jahre. Nach der Einweihung verzückte das exquisite Kunstwerk jeden Besucher, nicht nur wegen des hohen Materialwertes, des kunstvollen Schnitts und der Erlesenheit der Formen, sondern durch den warmen Ton des Bernsteins, der je nach Lichteinfall hier dunkel, dort hell schimmerte und das gesamte Zimmer in ein unwirkliches goldenes Licht tauchte. Alle Wände des Saales waren mit einem Mosaik aus unregelmäßigen Stückchen polierten Bernsteins fast gleichmäßiger gelbbrauner Farbe verkleidet, die Wände durch im Reliefschnitt ausgeführte Rahmen aus Bernstein in Felder unterteilt. Das Kunstwerk verschlang 30 000 Reichstaler, ein Vermögen aus der sich permanent leerenden Staatskasse, das nach heutigen Verhältnissen etwa 128 Millionen Euro entspricht. Der Prunk Preußens hatte seinen Höhepunkt erreicht. 1713 war Schluss mit der Verschwendung. Der König war gestorben, sein Sohn und Nachfolger, Friedrich Wilhelm I., hatte mit Kunst und Repräsentation nur wenig im Sinn und setzte stattdessen auf ein starkes Heer als Mittel der Machtentfaltung. Zwar nutzte auch der neue Herrscher gern die Prunkbauten des Vaters, doch ergötzte er sich weniger an Ästhetischem als vielmehr an körperlichen Genüssen: Das Bernsteinzimmer wurde zum Rauchsalon für das Tabakskollegium des Königs erklärt. Ob es durch die Nikotinschwaden der schmauchenden Adeligen nachbräunte, ist nicht überliefert. Gewiss ist hingegen, dass das Zimmer dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm nicht am Herzen lag. Er verschacherte es an den russischen Zaren Peter I., den Großen. Der russische Regent kam 1716 zum Staatsbesuch nach Berlin, ließ sich die Prunkbauten der
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In den Dreißigerjahren entstand dieses einzige Farbfoto des originalen Bernsteinzimmers im Katharinenpalast in Puschkin (Zarskoje Selo).
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Stadt zeigen und muss insbesondere vom Bernsteinzimmer hellauf begeistert gewesen sein. Von einem Handel zwischen den Herrschern war der Schicklichkeit wegen keine Rede. Mit gönnerhafter Geste verschenkte Friedrich Wilhelm das Bernsteinzimmer an den Zaren, und ebenso gönnerhaft machte Peter der Große ein Gegengeschenk: 55 russische Soldaten, alle über zwei Meter groß, für die in roter Uniform steckende Leibgarde des Preußen, die legendären „Langen Kerls“. Viel wichtiger aber war dem Soldatenkönig, dass er den Zaren als Verbündeten im Krieg um Vorpommern gegen die Schweden gewinnen konnte. Mit dem Bernsteinzimmer warf der Preußenkönig ein Schwergewicht in die diplomatische Waagschale, das Peter der Große aufwiegen musste. Die Russen räumten das Stadtschloss aus. In Kisten verpackt transportierten sie das Bernsteinzimmer in Einzelteilen nach Sankt Petersburg, wo es 1717 ankam und im dortigen Winterpalast eingebaut wurde. Doch das Kunstwerk kam noch nicht zur Ruhe. Das Klima des nur selten beheizten Prachtbaus ließ den Bernstein stumpf werden. Unter der Aufsicht von 76 Gardesoldaten wurde das Zimmer erneut abmontiert, 1755 in die neue Sommerresidenz des Zaren nach Zarskoje Selo (heute Puschkin) verlegt und dort in einen Saal des Katharinenpalastes eingebaut. Doch dabei gab es ein Problem. Der dem Bernsteinzimmer zugedachte Saal war zu groß. Die Reliefs des Preußenschatzes wirkten in der riesigen Zarenhalle winzig. Zarin Elisabeth I. wusste Abhilfe zu schaffen. Sie beauftragte den Architekten Bartolomeo Rastrelli damit, die Lücken zwischen den Tafeln zu schließen. Der russische Baumeister italienischer Herkunft kannte den Palast wie kein Zweiter, er selbst hatte ihn erbaut. So passte Rastrelli das Bernsteinzimmer nicht nur in den Zarenpalast ein, er veränderte es dergestalt, dass es nun wirkte, als sei es schon immer für die russische Residenz erdacht worden: Zu den Barockschnitzereien fügte Rastrelli Elemente des Rokoko hinzu, darunter 24 venezianische Spiegel mit Bernsteinsockeln, vier Florentiner Mosaiken aus Edelsteinplättchen und einen Fußboden aus Intarsienparkett mit Perlmutteinlagen. Der
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ursprüngliche Eindruck des Zimmers ging damit bereits 1755 verloren. Die eigentliche Tragödie begann für den Kunstschatz aber erst knapp 200 Jahre später.
Odyssee durchs Kriegsgebiet Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“, kam 1941 so überraschend, dass für die Rettung der russischen Kunstschätze nicht genügend Zeit blieb. Als die deutsche Wehrmacht auf das mittlerweile Leningrad genannte Sankt Petersburg vorrückte, war auch der ehemalige Zarenpalast in Gefahr, zerstört oder geplündert zu werden. Die Wände des Bernsteinzimmers abzumontieren, kam nicht mehr infrage, also begnügten sich die Kuratoren damit, das Zimmer mit Holzbrettern zu verschalen und mit Gips zu verkleiden, um Schaden durch Geschosse gering zu halten. Die Hoffnung, Palast und Bernsteinzimmer würden unbeschadet bleiben, erfüllte sich – fast. Die Wehrmacht marschierte in Zarskoje Selo ein. Zwar blieb der Sommerpalast von Beschuss weitgehend verschont, doch als die deutschen Soldaten das Gebäude stürmten, schlugen sie mit Gewehrkolben Stücke aus den kostbaren Wandvertäfelungen, um sie als Andenken mitzunehmen. Erst auf Befehl des Kunstschutz-Offiziers Ernst-Otto Graf zu Solms-Laubach begannen die Truppen damit, die Wandtafeln zu demontieren. In 22 Kisten von vier Metern Länge und zwei Metern Breite wurde das Kunstwerk auf Lastwagen verladen und nach Westen geschafft. Zwei Sachverständige überwachten den Abbau. In ihren Notizen hielten sie fest, dass die Arbeiten 36 Stunden dauerten. Damit enden die exakten Aufzeichnungen über das Schicksal des Bernsteinzimmers. Schon der Transport der Preziosen nach Westen ist der Beginn einer Kette von Merkwürdigkeiten. Wie geplant fuhr die Lkw-Kolonne Richtung Südwesten aus Leningrad heraus. Der Befehl von Generalfeldmarschall Georg von Küchler, damals Oberbefehlshaber im Raum Leningrad, hatte gelautet, das Zimmer nach Riga zu schaffen. Doch der Konvoi hielt
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nicht in der Hafenstadt, sondern fuhr weiter und stoppte erst in Königsberg. In der alten Hauptstadt Ostpreußens soll der Schatz entladen und im dortigen Schloss eingelagert worden sein. Von Küchler sagte 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg aus, die Wandvertäfelung dort gesehen zu haben: „Es wurde mir erzählt, das Zimmer sei im Königsberger Schloss aufgestellt worden. Ich ging hin und sah das Zimmer in einem Saal des Schlosses, zwar in etwas verkleinerter Form, wie mir schien, aber sonst tadellos erhalten aufgebaut.“ Noch eine Aussage des ehemaligen Wehrmachtsoffiziers ließ 1946 die Alliierten aufhorchen: „Das Bernsteinzimmer ist – wie das ganze Königsberger Schloss – durch den englischen Fliegerangriff im August 1944 zerstört worden.“ Dieser niederschmetternden Nachricht steht die Meldung von Alfred Rohde entgegen, dem Leiter der Kunstsammlung im Königsberger Schloss. Rohde berichtete am 2. September 1944, und damit kurz nach dem Brand von Königsberg, das Bernsteinzimmer sei „bis auf sechs Sockelplatten“ erhalten geblieben. Als aber die Rote Armee im April 1945 Königsberg eroberte, war der Bernstein nicht mehr aufzutreiben. Bis heute bleibt der Kunstschatz verschwunden.
Trophäenjagd mit Staatsauftrag Die Suche nach dem Bernsteinzimmer begann, kaum dass der Krieg vorüber war. Bereits im Mai 1945, wenige Tage nach der Kapitulation Deutschlands, setzte der Moskauer Kunstschutzoffizier und Geschichtsprofessor Alexander Brjussow Nachforschungen in Gang. Brjussows sogenannte Trophäenbrigade arbeitete emsig, aber geheim. Doch keine Recherche der Sowjets brachte den Bernstein wieder ans Tageslicht, und erst 1990 wurden die 40 Jahre lang unter Verschluss gehaltenen Tagebücher Brjussows der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Darin notierte der Historiker, dass marodierende Rotarmisten die Reste des Schlosses in Königsberg angezündet hätten, ohne zu wissen, dass das Bernsteinzimmer noch darin untergebracht gewesen war. Er selbst habe 1945
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im Schloss verkohlte Scharniere und verbrannte Formstuckatur sowie Reste von Wandfeldern entdeckt, die barocke Formen aufwiesen. Alexander Brjussow genügten diese Indizien. Seiner Meinung nach war das Bernsteinzimmer verbrannt. Aber dieses Untersuchungsergebnis mag eine politische Notwendigkeit gewesen sein. Das Bernsteinzimmer und der Katharinenpalast lagen der Sowjetführung keineswegs am Herzen. Für Stalin waren Prunk und Dekadenz Überbleibsel aus der Zarenzeit, das Bernsteinzimmer zwar geduldeter Kunstschatz, aber kein nationales Heiligtum. Davon zeugt eine Liste der bedeutendsten Kulturgüter der Stadt und des Umlandes, die die Leningrader Stadtverwaltung 1936 erstellte, mit Objekten, die im Kriegsfall unbedingt erhalten und evakuiert werden sollten. Das Bernsteinzimmer stand nicht darauf. 1938 wurde die Liste erweitert, und man unterteilte nun in die Kategorien „einzigartige Kunstwerke, Arbeiten von historisch-zeitgenössischem Wert und kunstgewerbliche Kostbarkeiten“. Keine der drei Kategorien erwähnt das Bernsteinzimmer. Waren die Sowjets froh, das Zeugnis alten Adels losgeworden zu sein? In diesem Fall ist auch der recht schnelle Abschluss der Untersuchungen Alexander Brjussows erklärbar. Doch mit dem Fazit, das Zimmer sei verbrannt, wollten sich andere nicht zufriedengeben. Zeitzeugen gab es viele. Die Witwe eines Königsberger Feuerwehrmanns behauptete, ihr Mann habe im Sommer 1944 den Transport des Bernsteinzimmers in die Ordensburg Lochstädt an der Bernsteinküste begleitet. Andere Königsberger gaben zu Protokoll, den Schatz in Kisten verpackt gesehen zu haben, mal im Keller des Schlosses, mal in einem Hochbunker beim botanischen Garten. Einer anderen Aussage zufolge soll das Bernsteinzimmer auf dem Passagierschiff „Pretoria“ im Januar 1945 nach Swinemünde gebracht worden sein, wieder andere wollten es auf der „Wilhelm Gustloff“ gewusst haben, jenem unglückseligen Passagierschiff, das am 30. Januar 1945 mit vermutlich über 9000 Flüchtlingen an Bord in der winterlichen Ostsee durch Torpedobeschuss versenkt wurde. Als polnische Taucher das Wrack der
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„Wilhelm Gustloff“ Anfang der 1970er-Jahre untersuchten, fanden sie keine Spur des Bernsteinzimmers. Der letzte Zeuge, Alfred Rohde, konnte nicht mehr befragt werden. Der Leiter der Königsberger Kunstsammlung war im Dezember 1945 an Typhus gestorben. Während die Russen bereits kurz nach dem Krieg die Akte Bernsteinzimmer geschlossen hatten, lief der Suchdienst im Staatsapparat der DDR auf vollen Touren. Auch der ostdeutsche Staat hatte einen Alexander Brjussow. Er hieß Paul Enke und gehörte zur Hauptabteilung 88 der Staatssicherheit (Stasi), Ermittlung und Beobachtung. Enke wurde zum Kunstfahnder ernannt, mit dem Sonderauftrag, das Bernsteinzimmer zu finden. Niemand zuvor war von der Idee, den Kunstschatz zu finden, so besessen wie der Magdeburger. Er durchstreifte die Republik, suchte in Schächten, Bunkern, Kellern und Seen, forderte Pioniere der Nationalen Volksarmee an, um Ruinen räumen zu lassen und brachte, als ihm nach Jahren erfolgloser Suche und Millionen investierter Ostmark die Geldmittel gekürzt wurden, sein Privatvermögen in das Projekt ein. Bei den Stasi-Kollegen verdiente er sich damit den Spitznamen „Genosse Bernsteinzimmer“. Auch Enke blieb erfolglos. Doch der Fahnder stieß auf eine heiße Spur. Sie führte in den Westen.
Die Schatzkammer des Erich Koch Als das Bernsteinzimmer im Zweiten Weltkrieg Königsberg erreichte, fiel es in die Hände Erich Kochs, des damaligen Gauleiters Ostpreußens mit Sitz in Königsberg, der durch seine Funktion als Reichskommissar der Ukraine als mächtigster Mann Osteuropas galt – eine Position, die der Elberfelder auszunutzen wusste. Bereits 1941 hatte Koch die Museen von Kiew und Charkow für seine eigenen Zwecke plündern und die Beute an geheimen Orten verstecken lassen. Als das Bernsteinzimmer Sankt Petersburg mit dem Ziel Riga verlassen hatte, mag es Koch gewesen sein, der den Kunstschatz nach Königsberg hatte umleiten lassen, dorthin, wo er die Kisten mit den Wandtafeln seiner Beutesammlung hinzufügen konnte. Aber aus Königsberg führt keine Spur des Schatzes heraus.
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Erst nach Jahren erfolgloser Suche stöberte Paul Enke im Mai 1976 die Spur Erich Kochs im Archiv der Kunstsammlung Weimar auf. Dort fand der Stasimann eine Akte aus dem Jahr 1947, in der der damalige Museumsleiter die Liste einer umfangreichen Kunstsammlung abgelegt hatte, die kurz vor Kriegsende im Weimarer Museum eingelagert worden war. Auf der Liste waren Ölgemälde und Wandteppiche verzeichnet – und über einhundert vergoldete Accessoires einer Inneneinrichtung: Schalen, Kannen, Kerzenleuchter, Zigarettenetuis. Als Eigentümer der Objekte war Erich Koch angegeben. Für Paul Enke stand fest: Koch hatte das Bernsteinzimmer von Königsberg nach Weimar bringen lassen, vermutlich wollte er es dort später abholen lassen. Wo aber war es jetzt? Enke und sein Team legten die Landkarten von 1945 nebeneinander und fanden heraus: Es war beinahe unmöglich gewesen, das Bernsteinzimmer gegen Kriegsende aus Weimar herauszuschaffen. Von Westen näherte sich die amerikanische Front, die im April 1945 kurz vor Weimar stand, im Osten und Norden stand bereits die Rote Armee. Nur ein schmaler Korridor nach Südosten, Richtung Westsachsen, war noch offen und für einen Transport solchen Umfangs geeignet. Damit schrumpfte das Fahndungsgebiet von „Genosse Bernsteinzimmer“ auf wenige Dutzend Quadratkilometer zusammen. Trotzdem blieb Enke erfolglos. Die Region südöstlich von Weimar ist unübersichtlich. Hier beginnen ausladende Waldgebiete, weiter im Südosten erhebt sich das Erzgebirge. Immer wieder forderte DDR-Fahnder Enke Arbeitstrupps an, um die hier zu Dutzenden existierenden ehemaligen Stollen und Schächte der Wehrmacht zu öffnen und zu durchkämmen. Tatsächlich fand das Einsatzkommando dabei eingelagerte Waffen, ans Ziel seiner Wünsche aber gelangte Paul Enke nie. Er starb im Dezember 1987. Als sich zwei Jahre später die Schlagbäume in Berlin öffneten und das Ende des ostdeutschen Staates absehbar wurde, war auch die Geschichte von Paul Enkes Sondereinsatzkommando vorbei. Die Mitarbeiter wurden 1990 entlassen. Zwei Staaten, die DDR und die Sowjetuni-
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on, waren trotz Investitionen in Millionenhöhe bei der Suche nach dem Bernsteinzimmer gescheitert. Für Enkes Gefolgschaft aber war die Jagd nach dem Schatz nicht vorbei. Selbst ernannte Erben des Stasioffiziers gingen auch in den 1990er-Jahren noch jedem Hinweis nach, den Enke in seinen Aufzeichnungen hinterlassen hatte, darunter die Schachtanlage „Schwalbe V“. Noch im Herbst 1944 hatte die SS damit begonnen, unter diesem Decknamen ein System von 17 Stollen in einen Berg in Thüringen nahe dem Kyffhäuser treiben zu lassen. Das ursprüngliche Ziel, in „Schwalbe V“ ein unterirdisches Benzinwerk einzurichten, wurde zwar nie erreicht, aber die geplanten Hallen von bis zu 30 Metern Höhe existieren bis in die Gegenwart. Allerdings ließen Wehrmachtsoffiziere die Stolleneingänge sprengen, kurz bevor die Rote Armee das Gelände erreichte. Was in den noch immer bestehenden Stollen eingelagert wurde, ist nirgendwo verzeichnet. Alle Versuche der ehemaligen Bernsteinfahnder, auf eigene Faust und mit Baggern und Sprengsätzen in die Stollen vorzudringen, schlugen fehl. Einziger Aufschluss wochenlanger Plackerei: Die Stollen sind noch immer vorhanden. Eine durch ein Bohrloch eingeführte Kamera lieferte verschwommene Bilder der Hohlräume, vom Bernsteinzimmer aber fehlte jede Spur. „Schwalbe V“ war nur der Anfang. Im Laufe der 1990er-Jahre drangen immer wieder Schatzsucher aus Deutschland, Holland und Belgien in unterirdische Anlagen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein. Im Jonastal bei Ohrdruf in Thüringen galt 1991 ein Bunkersystem mit 25 Stollen als Lager des Bernsteinzimmers. Dort sollte unter dem Tarnnamen „Olga“ das letzte Führerhauptquartier angelegt worden sein. Aber die Suche verlief ebenso ergebnislos wie die Untersuchung des Bunkersystems „Werner“ in Weimar und das Durchkämmen eines Schachts bei Aue in Westsachsen 1995. Zur bislang letzten spektakulären Schatzsuche rief im Februar 2008 Hans-Peter Haustein auf. Der Bürgermeister von Deutschneudorf hatte Hinweise einer Bodenuntersuchung dahin gehend gedeutet, dass in etwa 20 Metern Tiefe unter seiner Gemeinde meh-
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rere Tonnen Gold lagern müssten. Haustein beschwor das Bernsteinzimmer herauf, lud die internationale Presse ins Erzgebirge und ließ unter Blitzlichtgewitter eine Batterie von Baggern und Bohrern anrollen. Aber aus den Löchern im Gemeindeboden kamen keine Ergebnisse. Nur verbrannte Scharniere und Aktenvermerke über Beutekunst scheinen vom Bernsteinzimmer geblieben zu sein. Doch 1997 tauchten zwei Gegenstände im Kunsthandel auf, die nachweislich aus dem Kunstschatz stammen – ein Florentiner Mosaik und eine Kommode, beide identifizierbar auf Fotografien, die noch vor 1941 im Katharinenpalast bei Sankt Petersburg aufgenommen worden waren. Heute sind beide Objekte an ihrem angestammten Ort aufgestellt, umgeben von der Nachbildung des Bernsteinzimmers, das bereits unter der Sowjetregierung 1979 begonnen wurde und 2003 mit den beiden Originalstücken eingeweiht werden konnte.
Die Bronzekunst der Griechen Die Geschichte der Kunst schildert die Entwicklung des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen wie in einem Buch. Viele Kapitel sind erhalten: die Felsmalereien der Altsteinzeit, die Tempel Ägyptens, die Porträtkunst der Renaissance. Auf einigen Seiten aber klaffen Lücken. So gilt die Kunst der griechischen Bronzeplastik heute als verloren. Ihre Spuren sind jedoch rekonstruierbar. Zwar bringen sie die Meisterwerke des antiken Hellas nicht zurück, aber sie erinnern daran, welche Verluste die europäische Kultur erlitten hat. Zwei Boten vergangener Bronzekunst sind die Krieger von Riace, zwei Bronzefiguren der griechischen Klassik. Sie fand der Italiener Stefano Mariottini am 16. August 1972 in einem nassen Grab. Der Chemiker war keineswegs im Namen der Wissenschaft unterwegs, als er die Statuen entdeckte. Bei einem Urlaub in Monasterace, einem kleinen Ort in der süditalienischen Region Kalabrien, genoss der junge Mann ein Bad im Meer an der Ionischen
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Küste und tauchte in die klaren Fluten. An jenem Tag war das Meer ruhig, keine Schwebstoffe vernebelten den Blick. Als Mariottini etwa 100 Meter von der Küste entfernt war, entdeckte er in etwa zehn Metern Tiefe einen Arm, der aus dem Meeresboden ragte. Zunächst glaubte der Urlauber, eine Leiche gefunden zu haben. Doch dann erkannte der erstaunte Taucher, dass die Gliedmaßen zu einer Bronzestatue gehörten. Als Mariottini sich umsah, bemerkte er, dass etwas weiter entfernt auch ein Bein aus dem Meeresboden wuchs. Auch diese Extremität war aus Metall. Aufgeregt schwamm der Taucher zurück an Land und benachrichtigte die Behörden. Am folgenden Tag rückten Carabinieri und Archäologen an, um den Fund zu bergen. Taucher legten die Statuen frei und banden mit Luft gefüllte Ballons an die Körper aus Erz. Unter dem Applaus einer schaulustigen Menge schwebten die beiden Statuen an die Oberfläche. Die Presse feierte die Entdeckung als „einen der wichtigsten archäologischen Funde der vergangenen 100 Jahre“. Die Sensationsmeldung war kaum übertrieben. Das Ionische Meer hatte zwei Bronzestatuen ausgespuckt, die die griechische Bildhauerei der Antike auf ihrem Höhepunkt zeigten. Nach der Restauration der Plastiken standen zwei männliche Krieger vor den Archäologen, die wie stolze Boten aus einer vergangenen Zeit wirkten. Obwohl die beiden Bronzemänner unter dem Namen „Krieger von Riace“, nach dem nächstgrößeren Ort, bekannt wurden, erhielten sie von der Archäologie nur die lapidaren Namen „A“ und „B“. Tatsächlich unterscheiden sich die Dargestellten stark, obwohl sie in ähnlicher Pose aufrecht stehen. Die Krieger hielten beide einen Speer in der rechten Hand, der nicht erhalten ist – er mag aus Holz gewesen und vergangen sein. Spuren am Kopf verraten, dass „A“ mit einem Diadem gekrönt gewesen sein könnte und „B“ vermutlich ursprünglich einen Helm trug, da sein Haar vom Scheitel bis zur Stirn nicht modelliert ist. Am linken Arm haben die Statuen einst Schilde gehalten. Woher die Krieger kamen und warum sie auf dem Meeresboden lagen, ist ungeklärt. Einer Theorie zufolge sollen sie mit einem Schiff vor der Ionischen Küste versun-
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Die Bronzen von Riace wurden 1972 vor der apulischen Küste gefunden und gehören zu den hochwertigsten Bronzearbeiten, die aus der Antike erhalten sind. Beide Krieger waren mit einem Schild und wahrscheinlich einem Speer bewaffnet.
ken sein, andere glauben, sie könnten Opfergaben für Poseidon sein, die eine verzweifelte Besatzung in Seenot über Bord warf, um den Gott der Meere milde zu stimmen. Angesichts der Qualität der Meisterwerke, die auf den Meeresgrund sanken, könnte der Herr des Ozeans tatsächlich beruhigt worden sein. Die Krieger von Riace sind Schöpfungen der griechischen Klassik, eines Abschnitts der antiken Kunstgeschichte, in der Bildhauer begannen, den menschlichen Körper in Bewegung abzubilden. Zuvor waren Bilder des Menschen – ob als Wandbild oder als Rundplastik – stets statisch abgebildet, mit beiden Füßen parallel auf dem Boden und den Händen symmetrisch neben dem Körper. Diese Art Kunst beherrschten die Bildhauer und Maler aller Hochkulturen, von Babylon bis Ägypten. Dann entdeckten griechische Künstler eine Möglichkeit.
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Einer von ihnen war der Bildhauer Polykleitos, der um 450 v. Chr. in seinem Atelier in Argos Skulpturen im Bronzeguss schuf. Polykleitos gehörte zur ersten Generation von Bildhauern, die Skulpturen von Menschen realitätsnah abbilden konnten. Der Argeier beherrschte die Kunst, einen Athleten zu schaffen mit einem Körper, der entspannt war und doch so aussah, als warte er nur darauf, sich zu bewegen. Bevor Polykleitos zu Hammer und Schlageisen griff, entwickelte er ein System von Linien, die er durch Schlüsselpunkte des Körpers zeichnete, durch die Schläfen, die Ellbogen, die Knie. Dann teilte der Grieche den Körper in Zonen, horizontal entlang der Körpermitte und vertikal vom Scheitelansatz nach unten. In dieses Raster stellte Polykleitos ein menschliches Modell und begann nun damit, dessen Glieder vorsichtig zu bewegen. Zunächst beugte er ein Knie, eine nur kleine Bewegung, doch für die Kunst des Abendlandes ein gewaltiger Schritt. Durch das Beugen des Knies verlagerte sich das Gewicht des Körpers von der Körpermitte auf ein Bein, während das andere nun entspannt zurückgenommen werden konnte. Damit verschob sich auch die Position der Hüfte, die sich leicht in Richtung des Standbeins verschob, gefolgt von den Schultern und dem Hals. Mit einem kleinen Eingriff hatte Polykleitos aus einem starren Bildnis das Vorbild für die Statue eines lebendig wirkenden Menschen geschaffen. Die Perfektion der Bronzegüsse von Riace erinnert an die Arbeiten des Polykleitos und verdeutlicht dank der Eigenschaften des Materials die Schönheit der griechischen Bildhauerkunst wie keine andere Skulptur der Antike. Erst der Bronzeguss erlaubte die Darstellung von Details, wie sie bei der Bildhauerei in Stein nicht möglich sind. Da die Bronzefiguren zudem innen hohl sind, war es mit dieser Technik auch möglich, statische Probleme zu lösen: Eine Bronzefigur ist verhältnismäßig leicht, ihre Beine tragen das Gewicht der gesamten Plastik auch dann, wenn es auf nur einen Punkt gelagert ist. So lassen sich mit Bronzegüssen grazile menschliche Figuren abbilden, die auf einer Zehenspitze stehen. Eine vergleichbare Skulptur aus Stein ist schwerer und benötigt eine Stütze, da sie andernfalls in einer solchen Pose zusammenbrechen
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würde. Viele Marmorstatuen der Antike sind aus diesem Grund mit Baumstämmen versehen, an die sich die Dargestellten anlehnen. Wer auch immer die Krieger von Riace schuf, goss das griechische Schönheitsideal in Bronze und bildete etwas ab, das menschlicher aussah, als es ein Mensch sein kann. An beiden Bronzen ist die Teilung des Körpers in einen oberen und unteren Teil übertrieben ausgebildet durch einen unnatürlichen Wulst von Muskeln entlang der Hüfte. Um zur Länge des Rumpfes zu passen, wurden die Beine verlängert. Ein tiefer Einschnitt läuft in der Mitte der Brust vertikal vom Nabel zum Hals, auch er soll die Teilung des Körpers in zwei Hälften sichtbar machen. Zu diesen Gegensätzen passt der Kontrast zwischen Anspannung und Gelassenheit: Während die Muskeln der Brust und des Bauches entspannt wirken, sind die Muskeln am Rücken angespannt – eine anatomische Unmöglichkeit. Trotz oder gerade wegen derartiger Merkwürdigkeiten in der Darstellung wirken die Krieger von Riace noch nach 2500 Jahren, als könnten sie augenblicklich zum Leben erwachen.
Die Erfindung des Menschen Derlei Meisterwerke Griechenlands waren mehr als nur Kunststücke. Sie schlossen die Kluft zwischen einer Kunst, die Göttern und Herrschern diente, und einer Kunst, die den Menschen in den Mittelpunkt rückte. Die früheste Malerei der Menschheitsgeschichte war auf den Wänden von Kulthöhlen entstanden und später auf den Darstellungen der Tempel in den frühen Hochkulturen weiterentwickelt worden. Fresken und Reliefs Ägyptens und Mesopotamiens zeigten zunächst religiös bestimmte Motive wie Totenschiffe, Götter oder rituelle Handlungen. Dann mischte sich Weltliches unter das Bildprogramm. Pharaonen wie Ramses II. ließen sich als Gottkönige in Kolossalstatuen verewigen, der mesopotamische König Naram-sin zeigte sich auf einem Relief von 2270 v. Chr. als Sieger über ein Heer von Feinden. Zwar fehlten in diesen Bildnissen die Figuren der Götter, doch die Botschaft war nicht minder
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kultisch: Der Herrscher war reich, stark und mächtig und damit unter allen Zeitgenossen einem Gott am ähnlichsten. Die übertriebene Größe der Könige in Bezug auf die Untertanen machten auch dem Unverständigsten klar, auf wen es in den Bildwerken ankam. Kunst hatte über den Glauben den Weg ins Politische gefunden. Erst die Griechen gingen den entscheidenden Schritt. Ab etwa 700 v. Chr. öffneten sie die Kunst dem Menschlichen. Dienten die ersten Rundplastiken nach wie vor dem Religiösen – sie waren Wächterstatuen auf Friedhöfen –, so entstand allmählich eine Kunst, die es zuvor nur in Ausnahmefällen gegeben hatte: die Darstellung des Menschen als Persönlichkeit. Die große Revolution in der griechischen Kunst, die Entdeckung der natürlichen Bewegung, ereignete sich zu einer Zeit, die als Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte angesehen werden muss. Nie zuvor betrieben Menschen Philosophie und Wissenschaft in einem derart hohen Maß, nie zuvor wagte der Mensch, die alten Überlieferungen und Götter infrage zu stellen. In der Kunst fanden diese Ideen eine Projektionsfläche. Die griechischen Bronzen wirkten so beeindruckend, dass sie andere Völker dazu inspirierten, die Technik der realitätsnahen Menschenabbildung zu übernehmen und eigene Werke zu schaffen. An der Westküste Italiens betrieben die Etrusker seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. intensiven Handel mit griechischen Kolonien und lernten dadurch auch die Bronzekunst ihrer Geschäftspartner kennen. Zu den Meisterleistungen etruskischer Kunst zählen noch heute die Chimäre von Arezzo und die Kapitolinische Wölfin. Auch die Kelten waren vermutlich von der griechischen Kultur beeinflusst, errichteten ihre Verteidigungsanlagen nach griechischem Vorbild und ließen in der Kunst die Ideen der Griechen auf ihre eigene Art lebendig werden, etwa auf großen Metallkesseln, die mit Gesichtern und mythologischen Szenen geschmückt waren. Waren die Ideale der Griechen noch durchdrungen von Ehrfurcht gegenüber der Natur des Menschen, transportierten die Römer die künstlerischen Disziplinen in einen programmatischen Zusammenhang. Zwar schufen auch sie meisterhafte Tempel,
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Wandmalereien und Statuen, doch schimmerten in allen Werken die griechischen Vorbilder durch. Es ist bezeichnend, dass sich die Eigenständigkeit der römischen Kunst besonders in der Architektur manifestiert. Das kultische Theater der Griechen überdehnten die Römer zum Amphitheater für Massenbelustigungen, ihre Triumphbögen dienten einzig der Repräsentation von Macht. Die Ursprünglichkeit der griechischen Kunst ging im Machtmoloch Rom verloren und war in Kopien griechischer Statuen nur noch als Abglanz zu sehen. Von den Originalen aus Hellas gibt es nur noch seltene Schaustücke wie die Riace-Bronzen oder ein Fragment des bronzenen Wagenlenkers aus Delphi. Wie gewaltig und ausgeprägt die griechische Bronzekunst einst war, ist für einige Fälle auch durch Berichte überliefert. Einer dreht sich um ein ganzes Weltwunder aus Bronze.
Großes Geheimnis um einen Koloss Der Koloss von Rhodos zählte in der Antike zu den sieben Weltwundern. Mit Recht: Die Bronzestatue soll über 30 Meter hoch und die höchste bis dahin fertiggestellte Metallfigur der Welt gewesen sein. Die Götter hatten ihre Hand im Spiel, als die Einwohner von Rhodos 304 v. Chr. gelobten, ihrem göttlichen Beschützer Helios ein monumentales Denkmal zu errichten. In jenem Jahr wurden die Rhodier in die Diadochenkriege verwickelt, einer Folge von Auseinandersetzungen, die nach dem Tod Alexanders des Großen um dessen Erbe – die gesamte griechische Welt sowie Teile Asiens – ausgebrochen war und sich bereits über Jahrzehnte hinzog. Vor den Toren der Stadt Rhodos stand ein Ungetüm, eine Belagerungsmaschine des Diadochen Demetrios I., der die Insel wegen ihrer strategisch interessanten Lage in seine Gewalt bringen wollte. Demetrios hatte bereits versucht, die Stadt von der Seeseite her einzunehmen, war aber an den kleinen und wendigen Schiffen der Rhodier gescheitert. Nun versuchte er sein Glück von Land her und hatte dazu einen 30 Meter hohen Turm anfertigen lassen. Auf die-
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sem „Helépolis“ („Städteeroberer“) genannten Eichenholzriesen waren Rammböcke und Katapulte aufgestellt. Auf dem oberen der neun Stockwerke konnte sich ein Heer von Bogenschützen verschanzen und Pfeile auf die Verteidiger der Stadt regnen lassen. Der griechische Historiker Diodor berichtet, dass 3400 Mann benötigt wurden, um die „Helépolis“ von der Stelle zu bewegen. Trotz des Rüstungsvorteils scheiterte Demetrios, als er die Belagerungsmaschine in einen getarnten Graben der Rhodier fahren ließ. Der Turm fiel, die Angreifer zogen ab, Rhodos war in Sicherheit. Nun galt es, Helios das versprochene Denkmal zu errichten. Für die Konstruktion des Monuments verpflichteten die Rhodier den Bildhauer Chares von Lindos, einen Schüler des Lysippos, der Hofbildhauer bei Alexander dem Großen gewesen war. Chares stand vor einem Problem: Die Griechen kannten die Kunst des Bronzegusses seit Jahrhunderten, aber nie zuvor hatte jemand versucht, eine Statue von 30 Metern Höhe zu errichten. Der Bildhauer musste nicht nur in ästhetischer Hinsicht hervorragend arbeiten, sondern überdies auch wie ein Ingenieur denken. Um die monumentale Aufgabe zu bewältigen, standen zwei Techniken zur Wahl. Die übliche, bei kleinen oder lebensgroßen Statuen angewandt, war die der verlorenen Form. Dabei modellierte der Bildhauer seine Skulptur grob aus Wachs und ummantelte den Rohling mit Lehm. Der Lehmhaut gab er das letztgültige Aussehen mit allen Feinheiten. Nach dem Trocknen der Lehmschicht wurde diese erhitzt. Das Brennen gab dem Ton Festigkeit und schmolz das Wachs im Innern, das ausfloss. In die so entstandene Hohlform goss der Bildhauer flüssige Bronze und drehte die Form dabei so, dass die Bronze in jeden Winkel der Figur hineinlief und dort eine dünne Schicht bildete. War das Metall erkaltet, musste die Lehmhülle zerschlagen werden, um das frischgebackene Kunstwerk ans Tageslicht zu bringen. Aber dieser Methode waren physikalische Grenzen gesetzt, sie ließ sich nur bis zu einer gewissen Größe in einer einzigen Form nutzen. Deshalb war es üblich, größere Skulpturen aus Einzelteilen anzufertigen und sie dann zusammenzuschweißen. Die Frage, welche Technik Chares von
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Lindos für den Koloss von Rhodos wählte, gehört zu den Geheimnissen der Kunstgeschichte. Ein einziger Bericht über den Koloss ist erhalten. Er stammt von dem Mechaniker Philon von Byzanz, der mit etwa 200 Jahren Abstand zu den Ereignissen auf Rhodos wirkte. In seiner Beschreibung der sieben antiken Weltwunder beschreibt der Ingenieur die Herangehensweise des Chares, die Historiker bis heute staunen lässt. Gemäß Philon von Byzanz fügte Chares den Koloss von Rhodos nicht aus Einzelteilen zusammen, sondern goss ihn in einer einzigen gigantischen Form. Dazu soll der Bildhauer zunächst ein mit Steinen ausgemauertes Eisengestell angefertigt haben, das als innerer Träger diente. Dann ummantelte Chares dieses Skelett mit großen Mengen Lehm. Philon schreibt: „Damit während der Arbeit die Einrichtung unerschüttert bewahrt wurde, schüttete er [Chares] um die schon vollendeten Teile des Kolosses unermessliche Erdmengen, verbarg so das schon mühsam Erarbeitete unter der Erde und bereitete den Guss auf den tragenden (Erd-) Ebenen vor.“ Leider sind die Angaben Philons spärlich. Historiker und Ingenieure haben sich im Laufe der Jahrhunderte die Köpfe zerbrochen, wie Chares es fertiggebracht haben könnte, den Koloss in einer einzigen Form zu gießen. Ähnlich wie beim Rätsel um den Bau der Pyramiden existieren auch für die Konstruktion des Monuments von Rhodos Dutzende Vorschläge dafür, welche Idee Chares von Lindos für seine kolossale Aufgabe nutzte oder auf welche Tradition der Bildhauerkunst er zurückgreifen konnte, die heute nicht mehr bekannt ist. Neuzeitliche Rekonstruktionen zeigen Bronzeöfen, die auf den gestuften Erdrampen aufgestellt worden sind, um das Erz an Ort und Stelle in die Form laufen lassen zu können. Konnte es Chares gelungen sein, die Bronzefigur in einem Guss herzustellen? An dieser Frage scheiden sich bis in die Gegenwart die Geister. Der deutsche Philologe und Griechenlandkenner Werner Ekschmitt winkte 1984 ab und schrieb in seinem Buch „Die Sieben Weltwunder“: „Dieser Erklärung stehen aber so viele tech-
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nische Schwierigkeiten entgegen, dass man sie für ganz unwahrscheinlich halten muss.“ Diese Aussage differenziert die Archäologin Ursula Vedder: „Hatte Philon überhaupt alle Schritte des Bronzegusses vor Augen? Wenn ja, wo stellt er sich die Schmelzöfen vor? Hat man seiner Meinung nach die Bearbeitung der Außenhaut, die nach dem Guss notwendig ist, Etage für Etage beim Abtragen des Berges vorgenommen? So gesehen klingt die Methode des Philon nach einem nachträglichen Erklärungsversuch der Technik einer ungewöhnlichen Figur in einer Zeit, in der man keine Kolossalbronzen mehr herstellen konnte. Die Betrachtung stößt hier an ein altes Dilemma der Altertumswissenschaften. Darf man eine so ausführliche Textquelle einfach als unglaubwürdig erachten, nur weil sie nicht zu unseren immer unvollständigen Befunden passt? Die archäologischen Befunde zur Bronzetechnik sprechen dafür, der eindeutige Beweis fehlt. Er könnte darin bestehen, dass die Gießgruben des Kolosses noch gefunden und identifiziert werden. Dies ist eine weitere Hoffnung für die Zukunft. Anderenfalls müsste der Abraum eines 35 Meter hohen Berges unbedingt Spuren hinterlassen haben und bei den Grabungen im Bereich der antiken Stadt auffallen.“ Bislang blieben die Hände der Archäologen leer. Die Spuren des Kolosses sind fast vollständig verschwunden. Die Statue selbst brach bei einem Erdbeben 225 v. Chr. entzwei. Berichte über das Ereignis und seine Folgen sind erhalten, doch sind sie erst Jahrhunderte nach dem Sturz des Riesen verfasst worden. Dazu zählen die Texte des römischen Schriftstellers Plinius des Älteren, der etwa 200 Jahre nach dem Beben notierte, dass dem Koloss durch die Erschütterung die Knie abgebrochen seien. Da die Statue über oder neben der Hafeneinfahrt der Inselstadt aufgeragt war, mögen manche Bronzeteile ins Meer gestürzt, andere neben den Hafengebäuden aufgeschlagen sein. Die Fußnote eines unbekannten Gelehrten in einem kritischen Kommentar zu einem Platon-Text erwähnt den Sturz des „Kolosses von Rhodos, der bei seinem Fall viele Häuser niederschlug“. Der ägyptische König Ptolemaios bot seine Hilfe an, um das Meisterwerk wieder aufzurichten, aber die
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Rhodier, die das Monument zuvor aus Gottesfürchtigkeit errichtet hatten, ließen es nun aus demselben Grund liegen. Plinius muss die Überreste noch gesehen haben. Mit großer Detailkenntnis schreibt er in seiner „Naturalis historia“, der „Naturgeschichte“: „Aber auch liegend erlangt er Aufsehen. Wenige umfassen seinen Daumen und die Finger sind größer als die meisten Statuen. In den abgebrochenen Gliedmaßen klaffen große Höhlungen, darin sind Steine von großer Masse zu sehen, durch deren Gewicht er [Chares] diesen [Koloss] in seiner Standfestigkeit stabilisiert hatte.“ Die Trümmer blieben noch lange dort. Angeblich soll der Großteil des ehemaligen Bronzekunstwerks noch neben der Hafeneinfahrt gelegen haben, als die Araber Rhodos eroberten. Das war 653 n. Chr. und damit knapp 900 Jahre nach des Riesen Sturz. Wie die arabischen Chroniken berichten, soll der Feldherr Múāwiya den Wert der Bronzemassen zu schätzen gewusst und die Fragmente an einen Kaufmann an der kleinasiatischen Küste veräußert haben. 900 Kamele sollen nötig gewesen sein, um die Bronze nach Edessa zu schaffen, wo sie schließlich eingeschmolzen wurde. Das Schicksal des Kolosses von Rhodos ist das Schicksal der griechischen Bildhauerei in Bronze: Sie war am Zenit angelangt und stieß an die Grenzen der Kunst und Physik. Die Plastiken waren schön, zerbrechlich und wertvoll – und damit der Zerstörung und dem Diebstahl preisgegeben. Mit dem Sturz des Kolosses von Rhodos begann auch für die griechische Bronzekunst der Niedergang. Aus der Epoche des Hellenismus sind kaum Bronzefiguren überliefert. Die folgenden Jahrhunderte gehörten Rom. Das Reich vom Tiber bemächtigte sich Griechenlands und seiner Kunst. Es ist bezeichnend, dass die römischen Künstler die griechischen Bronzeplastiken zu schätzen wussten und sie kopierten, aber dazu neben Bronze meist Marmor verwendeten. Der Stein war günstig, erlaubte aber weniger detaillierte Darstellungen. So sind die römischen Nachbildungen zwar ein Glücksfall für die Kunstgeschichte, erinnern aber doch auch schmerzlich an den Verlust der prachtvollen Originale. Ein berühmtes Beispiel ist der Diskuswerfer des Myron, ein Meisterwerk
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Der Koloss von Rhodos erhebt sich in einer Darstellung des 18. Jahrhunderts über die Hafeneinfahrt. Wie der monumentale Helios aber tatsächlich ausgesehen hat und wie er aufgestellt war, ist weitgehend unbekannt.
der Bronzekunst, das vermutlich im antiken Olympia oder Delphi als Weihegeschenk aufgestellt war. Die Plastik war in der römischen Antike so populär, dass Rom mit Marmorkopien des Diskuswerfers überschwemmt gewesen sein muss. Heute sind sechs dieser Stücke fragmentarisch erhalten. Keines erreicht die Schönheit einer griechischen Bronzefigur. Das wussten auch die Römer. Ihnen galten die wenigen erhaltenen originalen Bronzen aus Hellas als Luxuskunst, die die Haushalte der Patrizier zierte. Aber auch dort hielten die Kunstwerke der griechischen Klassik den Beben der Geschichte nicht stand und verschwanden bei den Eroberungen, Plünderungen und Katastrophen, von denen schließlich auch Rom nicht verschont blieb. Auch wenn ihre schönsten Exemplare verloren waren, fand die Kunst der Griechen bis in die Neuzeit Nachahmer. Eine noch existierende Erbin des Kolosses von Rhodos ist so berühmt und groß, wie es das Vorbild war: Die Freiheitsstatue von New York bewacht heute ebenfalls einen Hafen und trägt, wie ihr Vorbild, die Strahlenkrone des Sonnengottes.
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Wissen ist ein Schatz, der sich langsam häuft und schnell verschwindet. Kein Digitalrekorder zeichnete in der Vergangenheit die Ideen der Menschen auf. Selbst das Schreiben war nur einer elitären Klasse vorbehalten. Erkenntnis erhielt sich nur, wenn sie mündlich von einer Generation auf die nächste überliefert wurde. Entsprechend viel Wissen ist seit Menschengedenken untergegangen. Archäologen fahnden nach den Ursprüngen der Musik und finden den Geheimcode eines Andenvolkes; Seeleute suchen nach dem Kompass der Wikinger, der die Nordmänner bis nach Amerika führte, und stoßen auf einen merkwürdigen Sonnenstein.
Die Archäologie der Musik Melodie und Rhythmus scheinen Elixiere des Lebens zu sein. Nach heutigem Wissen entsteht Musik aus emotionalen, sozialen, kulturellen und kognitiven Gründen – ein Allheilmittel im Durcheinander der Gefühle. Nicht nur bei Menschen: Wale singen, Zikaden rasseln, Vögel zwitschern, einige sind sogar hervorragende Trommler. Der Palmkakadu aus Ozeanien klemmt sich Zweige zwischen die Füße und hämmert auf hohlen Bäumen, bis ihn ein Weibchen erhört. Welche Musik machte der Mensch, bevor die Notenschrift
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Flöte oder Kauknochen? Wissenschaftler streiten über die tatsächliche Verwendung des Artefaktes von Divje Babe.
seine Inspiration überlieferte? Musikarchäologen sind auf der Suche nach der flüchtigsten Form kultureller Schätze – der Musik. Nur fingerlang war der Knochen, der Ivan Turk von der Slowenischen Akademie der Wissenschaften 1996 in die Hände fiel. Turk war mit seinem Grabungsteam in der Nähe des Flusses Idrijca den Neandertalern auf der Spur und untersuchte altsteinzeitliche Schichten in den Höhlen der Umgebung. Im 43 000 Jahre alten Schutt der Höhle von Divje Babe fanden die Forscher den kleinen Knochen, der viel Staub aufwirbeln sollte. Zwei Löcher machten den Teil eines Bärenskeletts zur Sensation. Sie perforieren den Knochen und erinnerten Turk augenblicklich an eine Flöte. Auf ein Instrument schienen auch die Enden des Gebeins hinzuweisen. Diese waren zwar von Tieren angenagt, doch meinte der Entdecker, dort Reste von weiteren Löchern erkennen
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zu können. Offenbar hatten sich schon die Neandertaler gegenseitig die Flötentöne beigebracht. Aber konnte aus einem solchen Knochen überhaupt Musik kommen, und wie könnte sie geklungen haben? Der Archäologe suchte Rat beim Fachmann. Antwort kam aus Kanada. Dort vermaß der Musikforscher Bob Fink die Flöte und stellte fest: Mit einem Instrument wie diesem lassen sich vier Töne der diatonischen Tonleiter (do, re, mi, fa ...) spielen. Blanker Unsinn, meinten April Nowell und Philip Chase von der Universität Pennsylvania. Sie erkannten in den Löchern keineswegs Bohrungen eines eiszeitlichen Instrumentenbauers. Ein Wolf habe am Knochen genagt, seine Zähne hätten die Löcher gestanzt, erklärten Nowell und Chase nach einer Untersuchung des Originalstücks. Zufällig sei dabei eine Lochung entstanden, wie sie bei Flöten üblich ist, so die Wissenschaftler. „Wir können die Möglichkeit zwar nicht ausschließen“, erklärte Nowell in einem Aufsatz über die Untersuchung, „wer aber schlussfolgert, dass wir es hier mit einer absichtlich hergestellten Flöte zu tun haben, geht einen Schritt zu weit.“ Bald darauf wurden angenagte Bärenknochen in Spanien gefunden, die diese Meinung zu belegen schienen. Sie wiesen ähnliche Löcher auf. Aber Nowell und Chase stießen mit ihrer Kritik bei den Anhängern der Neandertalermusik auf taube Ohren. Während die Debatte hin- und herwogte, pfiff Jelle Atema auf alle Argumente und baute die Flöte nach. Der Biologieprofessor aus Boston hatte sich bislang um Hummer gekümmert, deren bizarre Formen der Kommunikation Atemas wichtigstes Studienobjekt sind. Privat jedoch ist der Wahlamerikaner ein Freund der Flöte, die er aus Hirsch-, Geier- oder Bärenknochen nachbauen kann. Mit interdisziplinärem Interesse: Sogar aus einer Hummerzange versteht es Atema, mit wenigen Handgriffen ein Blasinstrument zu basteln – ein Trick, mit dem der Professor gern seine Tischgäste verblüfft. Zum originalgetreuen Nachbau der Neandertalerflöte fehlte bloß der Knochen eines Höhlenbären, einer allerdings ausgestorbenen Art. Nach langem Suchen stellte ein österreichisches Museum ein Stück zur Verfügung. Der Flötenprofessor bohrte Lö-
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cher in das Fossil, versammelte Journalisten um sich und spielte, was einmal die Musik der Neandertaler gewesen sein mochte: helle Klänge, die an den Ton irischer Tin Whistles erinnern. Beeindruckt ließ der slowenische Präsident Milan Kucan die Flöte bei einem Empfang in Ljubljana erklingen. Damit wurde der Streit um das Instrument der Neandertaler in Slowenien zur nationalen Frage. Eine Antwort aber blieb bis heute aus.
Verlockende Laute Das Lonetal ist die Schatzkammer der Eiszeitkunst. In den Höhlen der Schwäbischen Alb fanden Archäologen bereits 18 Skulpturen von Tieren und Schimären, die möglicherweise Neandertaler geschnitzt haben. Eine der Lonetalgrotten, das Geißenklösterle, gab in den 1990er-Jahren ein weiteres Kleinod preis: eine Flöte. Eindeutig. Dieses Mal waren sich die Wissenschaftler sicher, ein Musikinstrument in Händen zu halten. Sein Alter: 35 000 Jahre. Die Fundsache Lonetal ist zwar rund 10 000 Jahre jünger als die Entdeckung aus Osteuropa, dafür jedoch mit Sicherheit ein Originalinstrument. Die Steinzeitmusikanten, vermutlich Vertreter der Gattung Homo sapiens, legten bei der Herstellung der Flöte große Sorgfalt an den Tag. In einen Schwanenknochen bohrten sie Löcher, drei davon sind erhalten. Um das Werkstück auszuhöhlen, schnitten sie es längsseits auf und fügten es anschließend mit einem natürlichen Klebstoff, vermutlich Birkenpech, wieder zusammen. Worin der Wunsch nach Tönen gründet, ist so unbekannt wie umstritten. Bob Fink hält die Flöte aus dem Lonetal für eine Lockpfeife, ein Werkzeug, das noch heute bei der Jagd auf Enten oder Rotwild zum Einsatz kommt. Keine Spur vom Musenkuss. Aber vielleicht entstand aus dem profanen Gerät das erste Instrument, das zu rituellen Zwecken gespielt worden sein könnte. So wie Jagd und Kult nahe Verwandte sind, mag sich die Lockpfeife allmählich in eine Kultflöte verwandelt haben. Flötenexperte Jelle Atema warnt vor voreiligen Schlüssen: „Letztlich gehört die faszinierendste Frage nach Funktion und Bedeutung von Flötenklängen für un-
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Die Flöte vom Geißenklösterle zählt mit einem Alter von 35 000 Jahren zu den ältesten bekannten Musikinstrumenten der Welt.
sere Vorfahren in das Reich der Poesie. Wir können nur vermuten, welche Gefühle sie erlebten, wenn sie die Töne ihrer hervorragend gefertigten Flöten hörten.“ Steinzeitpartys mit Musik und Tanz stellt sich der Tübinger Urund Frühgeschichtsprofessor Hansjürgen Müller-Beck vor. Freizeit, meint Müller-Beck, habe es schon damals gegeben. Entspannung nach anstrengendem Tagwerk sei so wichtig gewesen wie heute. Müller-Beck ist sich sicher, dass die Menschen der Steinzeit bei solchen Gelegenheiten musiziert haben. „Wahrscheinlich“, so Müller-Beck im Interview mit einer Zeitschrift, „klopften ein paar von ihnen den Takt mit Ästen oder Knochen, dafür sprechen rhythmische Kerbungen, die wir auf Knochen gefunden haben.“ Durchaus könne es Spiele, Spaß und Leidenschaft am abendlichen Feuer gegeben haben, meint der Urgeschichtler.
Töne aus Bronze, Töne aus Ton Wer an den Flöten zweifelt, muss an die Trommeln der Jungsteinzeit glauben. Sie gelten in der Archäologie als Beleg für absichtlich
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erzeugten Klang und tauchen mit der Verbreitung von Ackerbau, Viehzucht und der beginnenden Sesshaftigkeit des Menschen auf. Aus dem mittel- und norddeutschen Raum sind 310 dieser Trommeln überliefert, da sie aus Ton gefertigt waren und die Zeit überdauert haben. Das Töpfern zählte zu den bahnbrechenden Erfindungen der Jungsteinzeit, es erlaubte die Herstellung großer Gefäße für die Vorratshaltung, war damit Voraussetzung für Sesshaftigkeit und Hausbau – und den Bau von Musikinstrumenten. Während sich die Tontrommeln mitsamt Ritzdekor erhalten haben, ist ihre ursprünglich wohl lederne Bespannung vergangen. Dass es einst Trommelfelle gegeben hat, darauf weisen heute noch Zapfen, Ösen und Warzen hin, die am Rand der Steinzeittrommeln zu erkennen sind und einst die Befestigung des über den Mündungsrand gespannten Fells gehalten haben. Unterhaltungskünstler oder Priester – wer in der Jungsteinzeit den Takt vorgab, bleibt unbekannt. Zwar sind viele Trommeln und ihre Bruchstücke in der Nähe von Gräbern gefunden worden, doch bedeutet das nicht unbedingt, dass sie ausschließlich als Kultgeräte gedient haben. Auf der einen Seite ist vorstellbar, dass auf ihnen ein Rhythmus geschlagen wurde, während die Gruppe den Verstorbenen beisetzte. Andererseits ist es aber auch möglich, dass die Toten zu Lebzeiten selbst Musiker gewesen waren und ihnen ihr Handwerkszeug mit auf den Weg ins Totenreich gegeben wurde. Vielleicht sind die zu Scherben zerschlagenen Tontrommeln, die wiederholt gefunden wurden, auch bloß die Überreste einer Feier, bei der es hoch herging. Mit der Stille in den Wäldern Nordeuropas war es endgültig vorbei, als der Mensch die Kunst der Metallverarbeitung entwickelte. Bronzeschmiede dengelten Schmuck, Waffen und Rüstungen aus der glänzenden Legierung zusammen, Instrumentenbauer gossen erste Blasinstrumente, sogenannte Luren. Diese imposanten, bis zu drei Meter langen Rohre waren gedreht und erinnern an die Form einer modernen Tuba, die sich der Musiker um die Schulter legt. Ebenfalls der Tuba ähnlich, weitet sich das Ende der Lure, in diesem Fall jedoch nicht zu einem weiten Trichter, sondern
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zu einem flachen Zierteller. Bis zu zwölf Töne ließen sich mit der Lure spielen. Wie das Instrument allerdings verwendet wurde, bleibt Theorie. Experimente mit nachgebauten Luren haben gezeigt, dass das abwechselnde, kanonartige Spiel mehrerer Instrumente einen bewegten Klang ähnlich dem Geläut von Kirchenglocken hervorbringen kann. Sämtliche Versuche aber bleiben Spekulation. Die Musikarchäologin Ellen Hickmann von der Hochschule für Musik und Theater in Hannover fasst das Dilemma ihrer Zunft zusammen: „Wir wissen nicht, was gespielt worden ist. Bei Kulturen, die ihr Wissen nur mündlich weitergegeben haben, lässt sich das auch niemals herausfinden.“ Die Töne der Vergangenheit sind verklungen. Viele Musikinstrumente aber sind überliefert, durch archäologischen Fund und anschließende Rekonstruktion, durch Bilder wie die Fresken in etruskischen Gräbern, durch Schriften und bisweilen in noch heute verwendeten Folkloreinstrumenten. Dank der Quellenlage kennen Musikarchäologen heute wieder das apulische Sistrum, eine Art Leier des 4. Jahrhunderts v. Chr. aus Süditalien, die keltische Trompete „Trumpa Créda“ des 1. Jahrhunderts v. Chr. aus Irland, aztekische Blumenflöten aus Mexiko oder die Phorbeia aus dem antiken Griechenland. Jedes dieser Instrumente konnte nachgebaut und zum Klingen gebracht werden. Dennoch blieben die Flöten, Trompeten, Leiern und Harfen stumm. Wie komponierten die Menschen der Vergangenheit? Ein spezieller Zweig der Musikarchäologie versucht, den vergessenen Tönen nachzulauschen.
Geheimniskrämer in den Anden Die Nazca-Kultur im südlichen Peru ist berühmt für ihre Scharrbilder – gewaltige, mehrere Kilometer lange Figuren, die in den Boden getrieben sind. Da sie nur aus der Luft erfasst werden können, fütterten die Scharrbilder Theorien von Ufologen, laut denen die Nazca-Leute Botschaften an Raumfahrer gesandt haben sollen. Der Wirbel um die Nazca-Linien verdeckt viele andere erstaunliche Leistungen der Andenkultur, darunter ein tonales System, das
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nicht dem schönen Klang, sondern den strengen Regeln der Mathematik folgt. Auf dem weitläufigen Grabungsgelände von Cahuachi suchte 1995 der Archäologe Giuseppe Orefici nach Zeugen der Nazca-Zivilisation, die dort vor 1700 Jahren existiert hatte, und stieß dabei auf viele archäologische Schätze, darunter bemalte Keramikgegenstände, bestickte Textilien und Mumien. Während der Untersuchung des von den Forschern „Y-13“ getauften Tempels im Zentrum Cahuachis stöberte Orefici 27 Flöten auf. Ein ganzes Ensemble schien die religiösen Feste der Nazca musikalisch begleitet zu haben. Aber ebenso gut könnte es sich bei dem Flötenhort um eine Opfergabe für einen heute vergessenen Gott handeln, der Musik möglicherweise zu schätzen wusste. Die Flöten ähnelten den heute bekannten Panflöten aus dem Mittelmeerraum. Vielen Musikarchäologen schien die Entdeckung zunächst nicht sehr bedeutsam. Die Blasinstrumente der Nazca waren seit Langem bekannt und tragen in der Forschung den Namen „Antara“ nach einer heute in den Kordilleren noch gebräuchlichen Flöte aus Schilfrohren. Diesmal jedoch stammten die Flöten aus ein und demselben Fundzusammenhang, sie waren also in derselben Zeit entstanden und hatten vermutlich eine einheitliche Stimmung. Einige Rohre der Instrumente waren überdies vollständig geblieben. Die Antaras von Cahuachi öffneten eine Tür in die Tonalität des alten Amerika. Der Klang der Nazca-Antaras ließ sich mit Nachbildungen reproduzieren. Wer die Flöten der Vergangenheit spielte, hörte einen Ton, dessen Höhe sich ständig zu bewegen schien, einem Tremolo ähnlich. Die Musikforscherin Anna Gruszczynska-Ziólkowska wurde hellhörig, studierte die Zylinder der Flöten und fand heraus, dass die Teile der Instrumente einem Prinzip folgten: „Das System basiert auf mathematischen Verhältnissen. Jede Antara ist als Proportion von natürlichen Zahlen definiert, und eine Röhre/ein Klang ist immer durch eine exakte Zahl dargestellt.“ GruszczynskaZiólkowska vermutete, dass die Nazca ihre Musik nicht nach Hörgewohnheiten entwickelten, sondern sich an Serien von Zahlen orientierten.
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Die Flöten der Nazca-Kultur in Peru sind bis zu 2200 Jahre alt und dienten möglicherweise dazu, einen Geheimcode zu übermitteln.
Die Halbtöne einer Flöte liegen bei Instrumenten der Gegenwart stets an derselben Stelle. Bei den Antaras aus Peru aber waren sie in Anzahl und Lage unterschiedlich für jedes Instrument. Diese Konstruktion scheint den Gesetzen einer Geometrie zu folgen und könnte nach Meinung Anna Gruszczynska-Ziólkowskas „suggerieren, dass der numerische Gehalt für wichtiger gehalten wurde als der musikalische“. Spielten die Nazca also einfach dissonante Töne als Musik oder steckte mehr hinter dieser Entdeckung? Die Wissenschaftlerin verglich die Geometrie der Nazca-Musik mit den Verzierungen auf Keramiken und Textilien der Nazca. Auch bei diesen Artefakten war eine strikte Geometrie erkennbar. Gruszczynska-Ziólkowska: „Wir können zwar die verschiedenen Zeichen der Nazca-Leute nicht entziffern. Trotzdem sind viele Wissenschaftler aufgrund von Belegen aus der Völkerkunde versucht, sie als Methode der Datenverarbeitung anzusehen. Das berühmte Quipu-System, eine numerische Knotenschrift, könnte auch bei
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den Nazca genutzt worden sein. Waren die Musikinstrumente also eine Art Quipu, um numerische Operationen zu verschlüsseln?“
Antike Töne Griechenlands Während in den Anden mögliche Geheimbotschaften auf Flöten codiert wurden, entstand in Europa etwa gleichzeitig die erste Notenschrift. Früheste Versuche, Töne zu Papyrus zu bringen, sind aus dem antiken Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. überliefert – ein Glück für die Musikarchäologie und zugleich eine Tragödie der Wissenschaft: Die Notenschrift ist bekannt, aber niemand kann sie lesen. Die Musik der alten Griechen ist Stückwerk, erhalten auf Fragmenten wie Knochen, Steinen oder Scherben. Während Komponisten der Neuzeit ihre Werke minutiös zu Papier bringen, scheinen Musiker der Antike ihre Ideen auf jeden beliebigen Träger gekritzelt zu haben, der gerade zur Hand war. 61 solcher Dokumente sind heute bekannt. Darunter die vermutlich älteste musikalische Aufzeichnung Griechenlands, eine Vasenmalerei des 5. Jahrhunderts v. Chr., die eine Trompetenspielerin zeigt. Neben ihr sind die Worte „tote totote“ in die Keramik eingebracht, phonetischer Text, der die Laute der Trompete wie die Sprechblase eines Comics imitiert. Zwar wird dieses Dokument von Musikarchäologen als kurioser Versuch angesehen, Musik und Schriftlichkeit zusammenzubringen, von einer Notenschrift aber ist es weit entfernt. Neben Stückwerk und Fetzen sind zwei Bittgesänge vollständig erhalten. Diese „Paiane“ genannten Werke richten sich an den griechischen Gott Apoll und stammen aus Delphi. In der Orakelstadt verewigte sich 128 v. Chr. eine Gesandtschaft aus Athen, indem sie die Werke in die Wand eines der Schatzhäuser hauen ließ und der Gottheit stiftete. Sogar die Namen der Komponisten, Athenaios und Limenios, sind überliefert. Die Analyse der delphischen Paiane offenbarte, dass im antiken Griechenland ernste Musik existierte. Der Musikarchäologe Stefan Hagel von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften glaubt, die komplexen Werke seien
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nur einem Publikum zugänglich gewesen, das sich in antiker Musiktheorie und Geschichte auskannte. Den Schlüssel zum Verständnis des Notensystems verdankt die moderne Wissenschaft dem griechischen Gelehrten Alypios, der um 360 n. Chr. jene Symbole in seinem Werk systematisierte, die als antike Notenschrift bekannt sind. Alypios stand vor einem ähnlichen Problem wie Musikologen heute: Die Griechen konnten ihre Notenschrift selbst nicht lesen, da sie unterschiedlich geschrieben wurde, von Region zu Region oder sogar von Musiker zu Musiker. Die Bemühungen des Alypios, das Durcheinander zu ordnen und mit einem Standardwerk für Einheitlichkeit zu sorgen, mögen nicht den gewünschten Effekt gehabt haben, seine Aufzeichnungen aber lassen heutigen Musikwissenschaftlern viele Ton-Zeichen aus dem alten Griechenland lesbar erscheinen. Um die zu spielende Tonhöhe anzugeben, schrieben die Komponisten der Vergangenheit Buchstaben über die jeweiligen Textsilben. Mit zusätzlichen Buchstaben kennzeichneten sie eine Erhöhung oder Verminderung der Note. Heute sind dafür die musikalischen Vorzeichen # und b zuständig. Doch allein mit diesen Zeichen lässt sich das Rätsel der verlorenen Töne nicht lösen, denn Alypios legte für jeden Ton sechs verschiedene Symbole fest, drei für den Gesang, drei für die Instrumentalbegleitung. Die Musikhistorikerin Anna Boshnakov von der Universität Sofia: „Da wir nicht wissen, ob Töne wie in der heutigen abendländischen Musik stets um einen Halbton erhöht oder erniedrigt wurden und nicht um einen kleineren oder größeren Schritt, lässt sich die Tonhöhe nur grob festlegen. Rhythmus und Taktmaß ließen sich im Übrigen mit dieser Notation noch nicht aufschreiben und müssen heute aus dem Versmaß der Texte erschlossen werden.“ Die Musik der alten Griechen bleibt stumm. Verwandtschaft zwischen dem antiken und dem modernen Notensystem attestiert die Musikologin Eleonora Rocconi von der Universität Cremona in Italien. Die Wissenschaftlerin suchte nach dem Ursprung der vertikalen Klangkonzeption, nach der hohe und tiefe Klänge mit „aufwärts“ und „abwärts“ assoziiert und in der
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Notenschrift mit hochgestellten oder tiefgestellten Zeichen wiedergegeben werden. Diese Vorstellung mag bereits im antiken Griechenland bekannt gewesen sein. Zwar sind keine entsprechenden Noten überliefert, doch Rocconi fand die altgriechischen Worte „oxys“ und „barys“ in antiken Texten als Beschreibung von Tonhöhen. Diese Worte bedeuten „scharf, schrill“ und „schwer von Gewicht“. Nach Meinung der Musikforscherin lässt sich anhand dieser Vokabeln bereits der Versuch erkennen, Töne nach oben („schrill“) oder nach unten („schwer“) zu kennzeichnen und ihnen damit eine vertikale Ausrichtung zu geben. Die festgelegte Form, der Versuch, sie aufzulösen, um Neues zu schaffen, und die Kritik des konservativen Publikums – derartige Begleiterscheinungen der Musikszene sind keine Phänomene aus den Konzerthäusern der Neuzeit. Aus der griechischen Antike ist ein Text des Komikers Pherekrates bekannt, in dem sich die Musik selbst über ihre Behandlung durch erfindungsreiche Komponisten beschwert: „Kinesias aber, der verdammte Attiker, ist mitten in den Strophen aus der Harmonie abgebogen und hat mich so kaputt gemacht, dass in der Dichtung der Dithyramben, genau wie in den ‚Schilden‘, das Rechte bei ihm ausschaut wie links.“
Der Kompass der Wikinger Mit Hörnerhelm im Drachenschiff – wenn es darum geht, die Wikinger zu kennzeichnen, sind zwei Klischees über das raue Volk des Nordens bis heute erhalten. Aber während die gehörnten Helme aus dem Reich der Fantasie stammen und wohl nie den Kopf eines Wikingers geschmückt haben, waren die Drachenschiffe Realität. In ihnen fuhren Krieger und Händler von Skandinavien aus bis auf die Balearen und an den Bosporus, entdeckten Island, Grönland und Nordamerika. Bis heute weiß niemand, wie den Nordmännern diese nautischen Meisterleistungen gelangen. Der Kompass der Wikinger ist mit ihrer Kultur verloren gegangen. Archäologen und Seeleute suchen in Schiffswracks und Hausmüll
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nach Hinweisen auf eines der großen Geheimnisse in der Geschichte der Seefahrt. Ihre Leistungen auf den Meeren gaben den Wikingern Recht – und Macht. Schon 620 schifften sich Skandinavier ein, um die Hebriden zu besiedeln. Im Jahr 800 fassten sie Fuß auf den Färöer Inseln, zwei Jahre später eroberten sie die Orkneys und Shetlands – und nochmals fast zwei Jahrzehnte danach gründeten Wikinger ein Reich in der Gegend um Dublin. Die Besiedlung Islands um 930 war die letzte große Landnahme in Europa. Von dort setzte der Verbannte Erik Raude (Erik der Rote) nach Grönland über und errichtete 986 auf der größten Insel der Welt die Siedlung Brattalid. Die Wikinger waren am Ende der Welt angekommen und gingen noch einen Schritt weiter. Von Brattalid aus drang um das Jahr 1000 Leif Eriksson, Sohn Erik Raudes, mit 35 Gefährten weiter in unbekannte Gewässer vor, um Gerüchten über eine Küste im Westen nachzugehen. Die Expedition entdeckte Vinland, einen Küstenstrich im heutigen Neufundland. Die Wikinger hatten Amerika gefunden. So bedeutend diese Pioniertat aus heutiger Sicht erscheint – im Vergleich zu anderen Vorstößen der Wikinger war sie gering. Die Entfernung zwischen Grönland und Nordamerika ist mit vier Tagen auf See für eine geübte Mannschaft im Drachenschiff verhältnismäßig klein. Schon um von Mittelnorwegen nach Island zu gelangen, segelten die Wikinger sieben Tage auf dem offenen Meer – und das nicht nur in Ausnahmefällen oder bei zufälligen Irrfahrten, sondern auf bekannten Handelsrouten und mit ganzen Flotten von Auswandererschiffen. An Bord war es ungemütlich. Kein Deckaufbau schützte vor Regen oder Gischt. Da die Schiffswand nur knapp über die Dünung ragte, stand den Ruderern das Wasser ständig bis zum Hals. Für Gepäck oder Hygiene war an Bord kein Platz. Aber trotz spartanischer Ausstattung waren die Schiffe perfekt konstruiert. Das Funktionieren des Navigationssystems war die Lebensversicherung von Mannschaft und Passagieren. Die Wikinger segelten nicht nur los, um Land zu gewinnen. Bei Beutezügen erwiesen sich die Drachenboote als perfekte Konstruk-
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tionen. Sie ragten nur etwa einen Meter aus dem Wasser und wurden von Wachen an der Küste erst entdeckt, wenn es für organisierte Gegenwehr bereits zu spät war. Für die Überfallenen müssen die berüchtigten Drachenkopf-Steven wie Seeschlangen am Horizont aufgetaucht sein. Dank des geringen Tiefgangs konnten die Schiffe an der Küste landen und die Plünderer direkt an Land waten. Beim Rückzug waren ebenfalls keine zeitraubenden Manöver erforderlich. Da die Drachenschiffe am Heck denselben Rundsteven aufwiesen wie am Bug, ließen sie sich problemlos rückwärts aus der Gefahrenzone rudern. Am 8. Juni 793 begann mit dem Überfall auf das Kloster Lindisfarne in Nordengland eine Reihe von Raubfahrten, auf denen mit Schätzen gefüllte Kirchen und küstennahe Dörfer geplündert wurden. Bald schon tauchten ganze Flotten vor den europäischen Küsten auf, stießen über Flüsse ins Landesinnere vor und versetzten ihre Opfer in so großen Schrecken, dass selbst die mächtigen Franken unter Karl dem Großen es nicht wagten, ihren Feinden auf See nachzustellen. London, Hamburg, Canterbury, aber auch viele Städte und Kirchen entlang des Rheins gingen in Flammen auf. Im Jahr 885 fuhren 40 000 Krieger auf 700 Langschiffen die Seine hinunter und belagerten Paris. Im Jahr 1066 setzten 30 000 Normannen in 3000 Schiffen nach England über, um unter Wilhelm dem Eroberer die englische Krone in der Schlacht von Hastings zu gewinnen. Die Zahlen sind in den Berichten der Besiegten nachzulesen und vermutlich übertrieben. Aber sie spiegeln den Eindruck wider, den die herannahenden Scharen bei ihren Feinden und Opfern hinterlassen haben müssen. Der Stern der Wikinger sank erst, als ihre großen Stärken, Navigation und Schiffsbaukunst, nicht mehr auf dem Stand der Zeit waren. Städte begannen, sich mit Wehranlagen zu schützen – statt überraschend zuzuschlagen, mussten die Normannen nun langwierige und kräfteraubende Belagerungen in Kauf nehmen. Die Entwicklung der hochwandigen Hansekogge machte es zudem unmöglich, Handelsschiffe von den niedrigen Drachenbooten aus zu entern. Bei einem solchen Kräftemessen standen die Überfalle-
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nen hoch oben auf Deck und beschossen die Angreifer, bis deren Schiffe sanken oder sie das Weite suchten. Die letzte Nachricht von kämpfenden Nachkommen der Wikinger stammt aus dem Jahr 1429, als ein Aufgebot von Drachenbooten zusammengestellt wurde, um das norwegische Bergen gegen einen Angriff von Hansepiraten zu verteidigen.
Navigationssystem Sonne Bis heute ist es ein Rätsel, wie die Wikinger neue Küsten erreichten. Den Magnetkompass kannten sie noch nicht, er wurde erst um 1100 in China erfunden und brauchte weitere 100 Jahre, bevor er den Europäern den Weg wies. Dass der Kompass schon zuvor von China zu den Wikingern nach Dänemark gelangt sein soll, ist eine Theorie, die Schiffbruch erlitten hat. Die Handelskontakte der Nordmänner reichten zwar bis in die arabische Welt, wie Drachmen beweisen, die Archäologen in skandinavischen Handelszentren fanden. Für einen Austausch von Waren mit Fernost aber fehlt bislang jeder Beleg. Bis heute weiß niemand, wie die Wikinger navigierten. Hinweise aber gibt es. Bei einer Ausgrabung auf Grönland tauchte 1948 ein Artefakt aus Holz auf, das aus der Wikingerzeit stammt. Das Klima Grönlands konserviert Holzobjekte und sogar Stoffe in hervorragender Weise. Bei der Entdeckung handelte es sich um die Hälfte einer runden Holzscheibe, in deren Rand 17 Markierungen geschnitzt waren. Die Mitte der Scheibe wies ein rundes Loch auf. Einer Theorie zufolge soll es sich bei der Holzscheibe um den Rest eines Sonnenkompasses handeln. Ein solcher Kompass ist einfach herzustellen und leicht zu lesen. Dazu schnitzt man eine Scheibe aus Holz – das in Grönland entdeckte Exemplar hat einen Durchmesser von zehn Zentimetern – und steckt einen etwa einen Zentimeter hohen Stab in das mittige Loch. Die Konstruktion ähnelt der einer Sonnenuhr, auch beim Sonnenkompass wird der Mittelstab Gnomon genannt. Nun muss die Scheibe exakt waagerecht auf den Boden gelegt werden, die Wikinger könnten sich dabei an der Linie des
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Horizonts orientiert haben. Im Laufe eines Tages kann nun die Grenze des wandernden Schattens, den der Stab wirft, auf dem Holz markiert werden, im besten Fall im Abstand von jeweils einer Stunde. Ist die Sonne untergegangen, lassen sich die Markierungen mit Linien verbinden und formen damit eine Gnomonkurve. Damit ist der Kompass fertiggestellt. Ihn zu lesen, ist einfach. Im Laufe eines Tages wandert der Schatten auf der Scheibe immer näher an den Gnomon heran und steht ihm am nächsten, wenn die Sonne den Zenit erreicht hat. Danach wandert der Schatten zum Rand der Scheibe und verlängert sich wieder, je weiter der Tag fortschreitet und die Sonne allmählich sinkt. Daraus lässt sich schließen, dass die Kurve dort am kürzesten ist, wo sie nach Norden zeigt. Hat man einmal die Nordrichtung bestimmt, kann man eine Markierung auf der Scheibe anbringen, um das Ablesen beim Navigieren zu vereinfachen. Ein Sonnenkompass, der auf der Nordhalbkugel so eingerichtet wurde, funktioniert
Das Bruchstück einer Holzscheibe, das 1948 auf Grönland gefunden wurde, könnte einst den Wikingern geholfen haben, mit Drachenbooten über den Atlantik zu navigieren.
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jedoch auf der Südhalbkugel nicht, da die Sonnenbahn anders verläuft. Wer nun die Nordrichtung bestimmen will, hält die Scheibe horizontal in der Hand und dreht sie, bis der Schatten, den die Sonne auf den Gnomon wirft, mit der zuvor festgelegten Gnomonkurve deckungsgleich ist. Jetzt zeigt jene Markierung, die dem Gnomon am nächsten ist, Norden an. Experimente mit Nachbauten der Wikingerscheibe haben gezeigt, dass der Kompass nur in Zusammenarbeit von zwei Seeleuten gelesen werden kann: Während einer der Navigatoren dafür sorgt, dass der Kompass stets am Horizont ausgerichtet bleibt, dreht ihn der andere und liest die Kurven ab. Aber so perfekt das System auch dafür geeignet erscheint, die Meere zu durchkreuzen, es hat Schattenseiten. Schon eine geringe Abweichung von der Linie des Horizonts lässt den Gnomonschatten länger oder kürzer werden und damit die vorgezeichneten Kurven nicht mehr berühren. Bei aller Hochseetauglichkeit und Länge von bis zu 30 Metern waren Wikingerschiffe Nussschalen, die auf Wellenkämmen ritten. Insbesondere, wenn es auf das offene Meer hinausging, rollten und stampften die Drachenboote so stark, dass die Linie des Horizonts nie stillstand. Doch gerade diesen Orientierungspunkt benötigten die Navigatoren, um den Sonnenkompass nutzen zu können – und sie benötigten den Kompass gerade dort, wo ihnen die Küstenlinie keine Anhaltspunkte über ihren Aufenthaltsort verriet. Die hohe See war demnach für den Sonnenkompass ein Dilemma: Gerade hier wurde er dringend benötigt, konnte aber nur eingeschränkt genutzt werden. Sollten sich die Wikinger ausschließlich auf den Sonnenkompass verlassen haben, müssen sie Schönwetterfahrer gewesen sein. Der Norden Europas hat verhältnismäßig wenige Sonnentage, die Sonne aber war unabdingbar, wenn der Kompass benötigt wurde. Sollten sich die Wikinger trotz dieser Probleme auf den Sonnenkompass verlassen haben, müssen die Seeleute, verirrt im Atlantik, so lange gedümpelt haben, bis der Horizont ruhig stand und die Sonne schien. Erst dann konnten sie die Fahrt fortsetzen. Ob die Nordmänner mit dieser Navigationstechnik Nordamerika entdeckt haben, ist fraglich.
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Trotz der Einschränkungen scheint der Sonnenkompass in der wikingischen Kultur verankert gewesen zu sein. Zwar blieb die Entdeckung der grönländischen Holzscheibe über 40 Jahre lang ein Einzelfall und ihre Interpretation als Sonnenkompass galt als fragwürdig. Doch als Archäologen 2004 auf der polnischen Insel Wollin ein ähnliches Stück entdeckten, verstummten Skeptiker. Das Exemplar kam in der Nähe eines ehemaligen Wikingerhafens zutage. Seine Zugehörigkeit zum Schiffswesen der Nordmänner gilt damit als wahrscheinlich.
Navigationssystem Nase Möglicherweise konnten die Wikinger tatsächlich mit einer Mischung aus Kompass und Sonnenuhr navigieren. Aber sie kannten noch andere Tricks, um Wege übers Wasser zu finden. Ein Hinweis steckt in der altnordischen Saga von Olaf dem Heiligen. Das Epos erzählt in historisch-legendenhaften Darstellungen von der Einführung und Verbreitung des Christentums in Norwegen durch die Könige Olaf I. Tryggvason und Olaf II. Haraldsson. Darin berichtet der Verfasser, vermutlich der isländische Dichter Snorri Sturluson, von einem merkwürdigen, leuchtenden Stein: „Das Wetter war trübe und es war Schneetreiben, wie es Sigurd gesagt hatte [...] Dann ließ der König Ausschau halten und sah nirgendwo unbezogenen Himmel [...] Da ließ der König einen Sonnenstein bringen, und er hielt ihn in die Luft empor und sah, wo es aus dem Steine strahlte, und es bezeichnete genau die Stelle, die Sigurd genannt hatte.“ Den Sonnenstein der Wikinger gibt es tatsächlich. Er heißt Cordierit und ist ein Mineral, das in Skandinavien häufig vorkommt. Cordierit ist durchsichtig bis durchscheinend, schimmert meist blauviolett bis gelblich weiß und wird deshalb auch Wassersaphir genannt. Die Färbung wechselt je nach Lichteinwirkung von Blau zu Gelb. Die Farben zeigen die Lage der Polarisationsebene und damit den Stand der Sonne an – und das selbst dann, wenn die Sonne nicht zu sehen ist. Für die Seefahrer der Wikingerzeit ver-
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loren dank des Sonnensteins sogar die Nebelbänke des Nordatlantiks ihren Schrecken. Der Sternenhimmel hingegen, Hilfsmittel für Seeleute seit den frühesten Tagen der Schifffahrt, war für die Wikinger als Navigationshilfe weitgehend wertlos. Die Nächte des Nordens sind viele Monate im Jahr über hell, Sterne sind kaum erkennbar. Allenfalls der Abendstern mag als Fixpunkt am Firmament seinen Dienst als Orientierungshilfe geleistet haben. Dennoch war die Kunst der Naturbeobachtung den Navigatoren ein verlässliches Instrument. Landmarken in Küstennähe dienten der Orientierung. Ging es auf die offene See hinaus, wusste vermutlich der Kundige oder „Kendtmann“ in der Besatzung, in Fisch- und Vogelzügen zu lesen. Gab es auch diese nicht, konnte zusätzlich die Wasserfärbung beobachtet oder mit feiner Nase erschnüffelt werden, ob der Geruch von Vegetation in der Luft lag – das älteste Navigationssystem der Welt. Ähnliches Wissen ist von den frühgeschichtlichen Seefahrern des Südpazifiks überliefert. Die Polynesier gingen noch einen Schritt weiter. Sie sprangen über Bord, um schwimmend die Strömungen mit dem Körper zu fühlen und daran die Himmelsrichtung zu erkennen. Den Wikingern aber wird dieses Verfahren kaum behagt haben. Selbst den rauesten Gesellen wird das Wasser der Nordmeere zu kalt gewesen sein.
Baumhirten und Schiffsbauer Gewiss ist, dass das Wissen um die Navigation in der wikingischen Kultur hohen Stellenwert hatte. Das Schiff war das wichtigste Gut der Gruppe. Das lässt sich bis heute an vielen kulturellen Hinterlassenschaften der Wikinger ablesen. Bildsteine tragen die Darstellungen von Paradeschiffen; Häuser erinnern mit ihren bauchigen Außenwänden an Schiffsrümpfe; Findlinge wurden bei Bestattungen zu zehn Meter langen Schiffsformen zusammengestellt, einige mit einem Runenstein – als symbolischem Mast – im Zentrum. Hohe Persönlichkeiten ließen sich gleich mit einem ganzen Schiff in die Erde legen. Über 400 dieser Schiffsgräber sind heute be-
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kannt, darunter das berühmte Gokstadschiff und das Schiff von Oseberg. Wie viele Bestattungen auf brennenden, aufs Meer hinaustreibenden Booten vorgenommen wurden, lässt sich nicht einmal schätzen. Wenn es aufs Meer hinausging, zeichneten sich die Wikinger durch Ideenreichtum und Fortschritt aus. Das Paddel ihrer Vorfahren tauschten sie gegen den Riemen, da das Rudern weniger Raum benötigte und die Schiffe damit schmaler und schneller wurden. Segel setzten sie erst, als die Schiffe immer größer wurden und nur noch über kurze Distanzen mit Riemen angetrieben werden konnten. Allerdings war das Segeln keine Erfindung der Wikinger. Schon Römer und Kelten kreuzten Jahrhunderte zuvor auf Segelschiffen vor den europäischen Küsten. Die ersten Zeugnisse für die Verwendung des Segels bei den Wikingern stammen aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. Zu dieser Zeit verewigten Steinmetze auf Gotland die frühesten aufgetakelten Paradeschiffe auf Bildsteinen. Der norwegische Forscher Arne Emil Christensen vermutet für diesen späten Einsatz des Segels kulturelle Gründe. Möglicherweise entsprach die harte Arbeit des Ruderns der damaligen Vorstellung von Männlichkeit und Herrschaft über das Meer. Dass die Wikinger schließlich doch unter Segel gingen, mag an den immer größeren Schiffen gelegen haben, die nur noch von einer eingespielten Mannschaft und nur über kurze Distanzen mit Riemen angetrieben werden konnten. Vollständig überzeugt schienen sie vom Segel aber nicht gewesen zu sein. Alle Kriegsschiffe hatten einen abnehmbaren Mast und konnten gerudert werden. Das war praktisch in einer Flaute oder bei schwierigen Manövern. Wie akribisch die Nordmänner an der Verbesserung ihrer Schiffe arbeiteten, zeigten Versuche des Wikingerschiffsmuseums in Roskilde, Dänemark. Dort fand Kurator Morten Gøthche mit einem Team historischer Schiffsbauer heraus, dass die Kenntnisse der Wikinger um ihr Baumaterial Holz enorm groß waren. Anschauungsmaterial gab es vor der Haustür. Im Fjord Roskildes hatten Wikinger um das Jahr 1000 herum alte Schiffe versenkt, um Angreifer auf die Wracks auflaufen zu lassen. 1962 gab das Gewässer
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Das Schiff von Gokstad gilt als Meisterwerk der Schiffsbaukunst. Es ist eines der schönsten erhaltenen Schiffe der Wikingerzeit.
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die Überreste von fünf dieser Wikingerschiffe preis, denen die Dänen ein eigenes Museum errichteten. 1996 begannen die Arbeiten an der Museumserweiterung – prompt stießen die Baggerschaufeln beim Ausheben des Hafenbeckens erneut auf Holz. Neun weitere Schiffe lagen im Schlick begraben, eines davon mit 36 Metern das längste jemals gefundene Drachenboot. Der Sensationsfund war für dänische Archäologen ein Bilderbuch der wikingischen Seefahrt. Da die Schiffe aus verschiedenen Zeiten stammten, ließ sich an ihrer Bauweise die Entwicklung der Schiffsbautechnik über mehrere Jahrhunderte nachvollziehen und damit Aufstieg und Untergang der Wikinger anhand von Schiffen ablesen. Die frühesten Modelle zeigen, dass Schiffbauer und Stellmacher versuchten, möglichst breite Planken zu verwenden. Damit sollten Nahtstellen vermieden werden, die stets Gefahr für Wassereinbruch waren. Im Lauf der Zeit wurde diese grobe Bauweise verfeinert. Als die Kunst der Schiffbauer Perfektion erreichte, konnten sie auch schmalere Planken benutzen und mussten trotzdem nicht fürchten, dass Wasser in die Schiffe eindrang. Die Hölzer des Nydamschiffs aus dem 4. Jahrhundert sind 50 Zentimeter breit, die der Skuldelevschiffe von Roskilde nur noch 30. Je schmaler die Planken waren, umso mehr konnten die Konstrukteure die Form des Schiffsrumpfs beeinflussen. Zur Blüte der Wikingerzeit, im 9. und 10. Jahrhundert, waren die Drachenboote lang, schmal und von so ausgefeilter Form, dass sie genug Auftrieb hatten, um mit Bug oder Heck gefahrlos in hohe Wellen eintauchen zu können. Spanten und Bitis – Querhölzer, die den Rumpf von innen versteifen – sind zur Hochzeit der wikingischen Kultur zahlreich im Schiff verzimmert. In den jüngeren Roskildeschiffen, von denen nur zwei zur Wikingerzeit gerechnet werden, verschwinden diese Konstruktionsmerkmale allmählich. Die Schiffsböden werden breit und flach. Der Einfluss der Kogge wird erkennbar. Das Schiff mit der Fundbezeichnung „Roskilde 1“ bricht endgültig mit der Tradition. Statt eines runden Achterstevens hat es ein hochgezogenes, gerades Heck.
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Wie die Wikinger ihre Schiffen bauten, ist aber noch immer nicht bis ins letzte Detail rekonstruierbar. So viel lässt sich an den Planken der Roskilder Schiffe ablesen: Auf Wikingerwerften fauchten keine Sägen. Alte Schiffsbauer benutzten Beile. Sie spalteten Baumstämme mit Äxten und Keilen, bis das Holz in Faserrichtung brach. Auf diese Weise lassen sich aus einem einen Meter starken Eichenstamm etwa 30 Planken herstellen. Der Vorteil der aufwendigen Methode liegt darin, dass gerissenes Holz seine Faserstruktur behält, dadurch weniger Wasser aufnimmt und wesentlich haltbarer ist als gesägtes. Der Nachteil: Ein im Kern verdrehter Stamm liefert krumme Planken. Die Wikinger mussten also in der Lage gewesen sein, die innere Struktur eines Baumes zu erkennen, bevor er fällig war. „Wie sie das geschafft haben, wissen wir noch nicht“, sagt Morten Gøthche. Verwundert vermaßen heutige Schiffbauer auch die Planken der Roskilder Drachenschiffe. Die Wikinger hatten die Hölzer so lang wie möglich verbaut, um Stoßkanten zu vermeiden und die natürliche Elastizität des Holzes nicht durch Nuten zu unterbrechen. Wie aber lassen sich bis zu 30 Meter lange Hölzer anfertigen? Insbesondere bei der Zerteilung durch Beile müssen die Stämme der Bäume sehr gerade gewesen sein. Zwar sind Hölzer, die diesen Anforderungen entsprechen, per Zufall in einem Wald auffindbar. Aber die Wikinger bauten ganze Flotten von Drachenschiffen und hatten großen Bedarf an gutem Holz. Der Frühgeschichtler Torsten Capelle vermutet, dass die Wikinger über Generationen Bäume pflanzten und Baumhirten dafür abstellten, diese künstlichen Wälder so zu hegen, dass die Stämme möglichst gerade wuchsen. Auf den Grund gehen konnten Archäologen in Roskilde bereits dem Rätsel um die Segel der Drachenboote. Sie waren aus Wolle. Nasse Wolle aber hängt schlapp und schwer von der Rah. „Wir haben Experimente mit Schafen angestellt“, berichtet Morten Gøthche, „und dabei herausgefunden, dass die Wolle einiger langhaariger Rassen besonders Wasser abweisend ist. Außerdem nutzten die Wikinger für die Segel eine ausgefeilte Webtechnik und rieben sie mit Pferdefett ein.“
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Segelfett, Schiffsbau und Baumhirten – wenn es um Drachenschiffe ging, wussten sich die Wikinger bei jedem Problem zu helfen. Obwohl die Kunst der Navigation jener Tage heute verloren ist, lässt doch der hohe technische Stand der wikingischen Nautik vermuten, dass die Nordmänner auch der Frage, wie sie sich auf offener See orientieren konnten, mit Erfolg begegnet sind.
Wettfahrt gegen Columbus Heute sind wieder Wikingerschiffe unterwegs. Mehr als 30 Rekonstruktionen der Drachenboote sind in den vergangenen 120 Jahren zu Wasser gelassen worden, alle mit Magnetkompass, Sextant und Seekarten, zuletzt sogar mit Satellitensystemen ausgerüstet, aber nicht immer erfolgreich. 1950 versank die „Ormen Friske“ ohne Überlebende in der Nordsee. Die Unglücksursache blieb ungeklärt. Als wohl spektakulärste Fahrt eines Wikingerschiffs der Neuzeit gilt die Reise der „Viking“, die 1893 von Bergen in Norwegen nach New York und von dort zur Weltausstellung nach Chicago segelte. Kapitän Magnus Anderson stellte bei der Reise fest, dass sich der Nachbau bei härtestem Seegang von nur einem Mann steuern ließ. Die „Viking“ benötigte für die 4800 Kilometer lange Strecke im offenen Schiff nur 27 Tage. Die Konkurrenz, ein von Spanien gestarteter Nachbau von Christoph Kolumbus’ „Santa Maria“, brauchte die doppelte Zeit und musste schließlich unter hängenden Segeln mit Mann und Maus in den New Yorker Hafen geschleppt werden.
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Gräber bergen Schätze. Das wissen Grabräuber seit der Bronzezeit. Sie brechen Grabkammern auf und buddeln Tunnel in Grabhügel, um an Grabbeigaben zu gelangen. Die Mumien vieler Pharaonen und Schätze des alten Ägyptens sind durch Diebstähle verloren gegangen. Nicht immer aber sind kostbare Gewänder und prunkvolles Geschirr der einzig wertvolle Inhalt einer Bestattung. In den Gräbern unter dem Kölner Dom wartete ein viel größerer Schatz auf die Archäologen: eine Flasche Wasser.
Verschollene Mumien Im alten Ägypten gingen Mumifizierer nicht gerade zimperlich mit den Körpern ihrer Klienten um. Mäuse, die in der Werkstatt störten, landeten kurzerhand zwischen den Bandagen; die nach getaner Arbeit nur noch schlecht zu identifizierenden Menschenkörper legten die Arbeiter bisweilen sogar in den falschen Sarkophag. Jahrtausende blieb die Fahrlässigkeit der Einbalsamierer unentdeckt und foppte die Forschung: Ist die berühmte Mumie Ramses II. vielleicht nur ein x-beliebiger ägyptischer Adeliger? Die meisten Mumien des Mittleren und Neuen Reichs, die im 19. oder frühen 20. Jahrhundert nach Europa kamen, waren nicht exakt
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Die Mumie eines der mächtigsten Pharaonen in Ägyptens Geschichte: Ramses II. (gest. 1213 v. Chr.). Aufnahme von 1885.
identifizierbare Leichen. In dieser Zeit stand die wissenschaftliche Methode hinter der Sensation des Schatzfundes zurück. Selbst ernannte Gelehrte und sogar Geistliche waren in Scharen in die Grabkammern der Pharaonen eingedrungen, hatten die Mumien hervorgeholt und nach Europa verschifft. Was die Forscher antrieb, war der Versuch, die Altertümer vor der Vernichtung zu retten – nicht immer erfolgreich. Mumien waren ein beliebtes Ziel von Grabräubern. War das Grab einer Mumie noch ungeöffnet, verbargen sich darin meist Schätze, mit deren Erlös sich eine ägyptische Familie mehrere Jahre lang ernähren konnte. Selbst wenn kein Goldüberzug auf den Sarkophagen glänzte oder Edelsteine im Grabinventar lockten – die Europäer zahlten den Grabräubern selbst für halb verrottete Holzgegenstände aus der Vergangenheit ein Vermögen. Sogar die Mumien selbst ließen sich versilbern. Seit dem 18. Jahrhundert
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galt in Europa zerstoßene Mumie als Allheilmittel bei psychischen und physischen Krankheiten. Damen der Salongesellschaft nahmen zerbröselte „Mummia“ in Wasser aufgelöst ein, um die leichtesten Beschwerden zu kurieren. Der Markt in Ägypten florierte. In diesem Durcheinander aus Geschäftemacherei, Schatzsuche und geschändeten Gräbern wussten sich die selbst ernannten Retter der Geschichte oftmals keinen anderen Rat, als brachial zu Werke zu gehen. Sie sprengten die Wände der Pyramiden mit Dynamit und schleppten aus den Grabkammern, was nicht niet- und nagelfest war. Zwar waren die Hieroglyphen bereits entziffert, aber das bedeutete nicht, dass sie auch jeder Europäer lesen konnte. Blieben die Inschriften auf den Sarkophagen unleserlich, etikettierten die Mumienretter von eigenen Gnaden danach, was sie von
Pharaonin Hatschepsut regierte vermutlich von 1479 bis 1458 v. Chr. und war eine der mächtigsten Herrscherinnen der ägyptischen Geschichte. Der künstliche Kinnbart war keine Verkleidung, sondern gehörte zu den Herrschaftsinsignien der Pharaonen.
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Einheimischen erzählt bekamen. Auf diese Weise bekamen Mumien Pharaonennamen, die sie gar nicht verdienten. Heute sind sich Ägyptologen sicher, dass ein Teil der konservierten Leichen in den Beständen der europäischen Sammlungen falsch identifiziert sind. Abhilfe aber konnte bislang niemand schaffen. Die Ägyptologie hatte einen ganzen Fragenkatalog an die ägyptische Mumienszene: In welcher verwandtschaftlichen Beziehung stand ein Pharao zu seinem Nachfolger? Welche der Ehefrauen eines Pharaos war die Mutter des Erben? Liegen unter den bislang nicht eindeutig identifizierbaren Mumien die verschollenen Leichen Echnatons und Hatschepsuts? Wer waren die beiden Föten, die in der Grabkammer Tutanchamuns lagen? Die Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse in den altägyptischen Königshäusern könnte viele bislang ungeklärte Fragen beantworten. Diesen Schatz heben zu können, erschien aussichtslos. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts machte die Gentechnologie so große Fortschritte, dass sich Archäologen und Molekularbiologen die Hand reichten und in Ägypten ein interdisziplinäres Projekt starteten. Dank DNA-Tests an Mumien machten die Forscherteams eine Entdeckung zwischen Sarkophag und Leinenbinde. Unter Fälschungsverdacht stand die Leiche von Pharao Thutmosis I. Wie ein Gentest in Kombination mit einer computertomografischen Aufnahme im Juni 2007 zeigte, war der bislang als Thutmosis I. geführte Leichnam der Körper eines jungen Mannes. Thutmosis I. aber starb als Greis. Nach diesem Erfolg wurden die ägyptischen Behörden aufmerksam. Bis dahin waren Mumien unter Verschluss geblieben und nur in seltenen Fällen für eine Untersuchung aus ihren luftdichten Glassärgen befreit worden. Prüfstein für künftige DNA-Analysen sollte eine der berühmtesten Mumien der ägyptischen Geschichte sein.
Beim Barte der Pharaonin Sie soll die erste Hosenrolle der Weltgeschichte gespielt haben: Die Pharaonin Hatschepsut (regierte vermutlich 1479 bis 1458 v. Chr.)
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war eine der wenigen Regentinnen im alten Ägypten und soll sich als Mann ausgegeben haben. Wie ihre Porträts und Statuen belegen, trug Hatschepsut einen künstlichen Bart. Für die Forscher im frühen 20. Jahrhundert war der Kinnschmuck Zeichen dafür, dass Hatschepsut ihr Geschlecht verbergen musste. Die Vermutung lag nahe, dass Frauen als Herrscherinnen Ägyptens nicht im selben Maß akzeptiert wurden wie Männer. Aber das stimmte nicht. Der Bart war ein göttliches Zeichen. Er konnte gewellt oder glatt sein, trapezförmig oder gerade, stets aber war er künstlich und mit Bändern am herrschaftlichen Haupt befestigt – auch bei Männern. Hatschepsut hatte nichts zu verbergen. Die Ägypter wussten, dass sie von einer Frau regiert wurden – und von was für einer. Hatschepsut gehörte zu den bekanntesten und umstrittensten Personen der altägyptischen Geschichte. Nach dem Tod ihres Ehemannes Thutmosis II. führte sie die Regierungsgeschäfte für den minderjährigen Nachfolger Thutmosis III., einen Sohn des toten Pharaos und einer Nebenfrau. Die Hebel der Macht lagen gut in ihren Händen: 1479 v. Chr. ließ sie sich zur Gottkönigin ausrufen. Thutmosis III. durfte sich zwar offiziell weiterhin als Pharao zeigen, die Reichsgeschäfte aber lagen in den Händen seiner Stiefmutter. Hatschepsut verstand es, die Fäden zu ziehen. Sie muss eine große Zahl von Seilschaften gepflegt haben, vermuten Ägyptologen heute. Immerhin hielt sich die Göttliche 22 Jahre lang an der Spitze des Staates. Keine Intrige, kein Giftmord, kein Krieg konnte sie stürzen. Stattdessen erlebte das Neue Reich Ägyptens unter ihrer Herrschaft eine kulturelle Blüte. Hatschepsut ließ monumentale Bauten errichten, von der hohen Kunst ihrer Baumeister sind heute noch zwei Säulen in Karnak erhalten sowie der berühmte Tempel von Deir el-Bahari, auf dessen Stufen 1997 Terroristen ein Massaker an 62 Touristen verübten. Hatschepsut öffnete die Schatzkammern Afrikas für Ägypten. Sie organisierte eine Expedition in das sagenhafte Land Punt und leitete die Unternehmung persönlich. Aus der Fremde brachte sie Weihrauch und Edelhölzer in die ägyptische Kultur. Punt, so vermuten Historiker heute, lag
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damals in Somaliland. Überdies pflegte Hatschepsut das kulturelle Erbe ihrer Vorfahren. An den zahlreichen Tempeln des Mittleren Reiches ließ die Pharaonin dringend notwendige Restaurierungsarbeiten vornehmen. Die alten Bauten waren während der Hyksoszeit, eines Interregnums semitischer Einwanderer, heruntergekommen und auch nach dem Ende der Hyksos nicht gepflegt worden. Unter Hatschepsuts Herrschaft erstrahlte Ägypten bald in neuem Glanz. Ihr Stiefsohn rächte sich. Obwohl Thutmosis III. offizieller Thronerbe war, stand er über 20 Jahre lang im Schatten der Pharaonin. Hatschepsut starb 1458 – woran und in welchem Alter, darüber sind Ägyptologen uneins. Gewiss ist, dass der Tod der Stiefmutter Thutmosis III. gelegen kam. Endlich Alleinherrscher, befahl der Pharao, alle Hinweise auf das Wirken Hatschepsuts zu tilgen. Ihre Statuen wurden zerbrochen, ihr Name aus den Königslisten gemeißelt. Hatschepsut hatte es nie gegeben. Dem Kahlschlag soll auch die Mumie der Pharaonin zum Opfer gefallen sein. Während viele berühmte Einbalsamierte wie Tutanchamun und Ramses II. im Laufe der Mumienbegeisterung des 19. und 20. Jahrhunderts entdeckt werden konnten, blieb Hatschepsut verschollen. Hatte der Zorn des Thutmosis auch vor der Leiche seiner Stiefmutter nicht haltgemacht? Es sollte 3500 Jahre dauern, bis eine Antwort gefunden werden konnte.
Königliche Leiche auf dem Prüfstand Am 27. Juni 2007 verkündete Ober-Ägyptologe Zahi Hawass, der Präsident der ägyptischen Altertumsbehörde, er habe Hatschepsuts Mumie entdeckt. Damit, so Hawass bei einer großen Presseveranstaltung, ende eine Jagd nach dem königlichen Leichnam, die Behörden, Techniker und Forscher ein Jahr lang auf Trab gehalten habe. Hawass, der Jahre zuvor zweimal die DNA-Untersuchung der Mumie Tutanchamuns unterbunden hatte, um die Totenruhe nicht zu stören, kündigte in Kairo an, Hatschepsuts Erbmaterial analysieren lassen zu wollen.
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Zahi Hawass untersucht die rätselhafte Mumie KV60A, die durch DNA-Analyse eindeutig als die Mumie der Pharaonin Hatschepsut identifiziert werden konnte. Was niemand ahnte – Hatschepsuts Mumie war bereits 104 Jahre zuvor entdeckt worden. Als Howard Carter, der Entdecker Tutanchamuns, 1903 Gräber im ägyptischen Tal der Könige erforschte, fand er auch eine Grabkammer im Fels, die heute nur KV60 heißt. Carter suchte nach der Sensation, in KV60 aber lagen nur ausgestopfte Gänse und die Mumien zweier Frauen, eine in einem Sarg ohne Deckel. Wie sich später anhand der Hieroglyphen auf der Sargwand herausstellen sollte, war die Tote Sitre-In, die Krankenpflegerin von Hatschepsut. Die andere Frauenmumie lag ohne Sarg auf dem Boden der Kammer – ohne Sarkophag oder Inschrift. Was heute für Ägyptologen ein Jahrhundertfund wäre, hatte für Howard Carter keine Bedeutung. Es gab keine Kunst, keinen Schmuck, kein Gold. Der Forscher verließ die Kammer und verschloss sie wieder. Zwar haben sich seine Aufzeichnungen erhalten, doch vergaß Carter, darin zu erwähnen, wo KV60 lag. Das rätselhafte Frauengrab geriet in Vergessenheit. Erst drei Jahre später fand der Ägyptologe Edward Ayrton KV60 wieder. Ayrton vermutete, die Mumie im Sarkophag müsse von
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größerer Bedeutung gewesen sein als die Tote auf dem Kammerboden. Der Wissenschaftler ließ Sitre-Ins Leichnam nach Kairo transportieren, wo die Mumie im Keller des Ägyptologischen Museums für die nächsten 100 Jahre zur Ruhe kam. Die nicht identifizierte Tote in KV60 blieb allein zurück. Erst 1989 stattete der Ägyptologe Donald Ryan KV60 den nächsten Besuch ab. Die Mumie lag noch immer auf dem Boden, so wie Jahrtausende zuvor. Ryan ließ einen schlichten Holzsarg zimmern und bettete die Tote um. Dann untersuchte er die Grabkammer. Tatsächlich trug sie nicht die Zeichen einer königlichen Bestattung. Nur zwei Augen waren mit schnellen Pinselstrichen in Nischen neben dem Eingang gemalt. Die Wände trugen keine Inschriften. Bis auf wenige kleine Artefakte war die Kammer leer. Wenn jemals Preziosen hier gelegen hatten, hatten Grabräuber sie gestohlen. Trotz der schlichten Ausstattung stutzte Donald Ryan. Die nackte Mumie lag in einer Körperhaltung auf dem Boden, in der üblicherweise nur Angehörige der königlichen Familie bestattet worden waren: Der linke Arm war angewinkelt, die Hand lag über der Brust und war zur Faust geballt. Ein Hinweis auf blaues Blut, aber kein Beleg. Aus der ägyptischen Geschichte sind zahllose Mumien einfacher Menschen bekannt, die sich mit demselben Gestus hatten beisetzen lassen – Imitatoren des Pharaos. Noch etwas stach Donald Ryan ins Auge, Details, die seinen Vorgängern Anfang des 20. Jahrhunderts entgangen waren. In der Grabkammer lagen Bruchstücke eines Sarkophags. Wie sich herausstellen sollte, hatten die Fragmente einst zum Kopfteil eines goldenen Totenschreins gehört. Der Prunksarg selbst schien ebenfalls Opfer von Grabräubern geworden zu sein. Seine Überreste aber genügten, um in Ryan den Verdacht aufkeimen zu lassen, trotz aller Schlichtheit der Ausstattung in einer königlichen Grabkammer zu stehen. Den entscheidenden Hinweis fand der Ägyptologe aus dem US-Bundestaat Washington in einem Haufen staubiger Überbleibsel in einer Ecke der Kammer. Ryan identifizierte eine Klammer, wie sie die ägyptischen Pharaonen genutzt hatten, um
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ihren göttlichen Bart am Kinn zu befestigen. Zweifel schienen ausgeschlossen: KV60 war ein Königsgrab. Wer hatte in dem schlichten Raum seine letzte Ruhestätte gefunden? Donald Ryan fand keine Antwort und ließ das Grab wieder schließen. Die mittlerweile „KV60A“ bezeichnete Mumie blieb erneut zurück. Weitere 17 Jahre vergingen, bevor Zahi Hawass eine Spur in KV60 witterte, die seiner Meinung nach zu dem verschollenen Leichnam der Hatschepsut führen mochte. Unter Hawass’ Leitung begann ein Team von Archäologen 2006 die Bestände des Ägyptischen Museums in Kairo zu durchforsten, der größten Sammlung von ägyptischen Altertümern weltweit. Drei Frauenmumien lagen in den Beständen der Sammlung, alle potenzielle Kandidatinnen auf den Pharaonentitel. Auch Sitre-In wurde in ihrem Sarkophag im Museumskeller wiederentdeckt. Eine Reihe von DNA-Tests und Computertomografien verliefen zwar weitgehend erfolgreich, brachten aber nicht das erhoffte Ergebnis. Hatschepsut war nach wie vor verschwunden – allerdings nicht spurlos. Angesichts der Mumie der Sitre-In erinnerte sich Zahi Hawass an KV60 und die noch immer dort liegende einbalsamierte Leiche. Der Generalsekretär der ägyptischen Antikenverwaltung ließ die Mumie nach Kairo bringen. Wie aber feststellen, dass es sich bei der Mumie, die ihres Schmucks und ihres Sarkophags beraubt 3500 Jahre auf dem Steinboden einer schmucklosen Felskammer gelegen hatte und nur dank der Fürsorge eines US-Historikers die jüngsten 20 Jahre in einer Holzkiste überdauert hatte, tatsächlich um die große Hatschepsut handelte? Ein Wissenschaftlerteam von Zahi Hawass versuchte, der Mumienidentität mit Naturwissenschaft auf die Spur zu kommen, während ein anderer Stab Keller und Kataloge durchsuchte. Dort fanden die Mitarbeiter des Museums zwischen Hunderten antiker Schätze eine unscheinbar wirkende Holzkiste. Darauf prangte das Siegel Hatschepsuts. Das Kästchen war bereits 1881 entdeckt worden. Es hatte mit anderen Königsmumien und deren Beigaben zusammen in einer Kammer gelegen. Kästen und Urnen tauchen häufig im Fundkon-
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text einbalsamierter Körper auf. Sie enthalten vier Organe der Toten, die dem Leichnam bei der Mumifizierung entnommen und nach altägyptischem Glauben separat bestattet werden mussten. Das war bei Hatschepsut nicht anders. Leber, Lunge, Niere oder Magen – welche Organe in dem Kasten mit dem Siegel der Pharaonin gelegen haben mochten, sie hatten die Jahrtausende nicht überdauert. Dennoch fanden die Forscher um Zahi Hawass einen Rest von Hatschepsuts Körper in dem Schrein: einen gut erhaltenen Backenzahn. Da der Zahn laut Siegel zu Hatschepsut gehört hatte und falls KV60A an der entsprechenden Stelle im Kiefer eine Zahnlücke haben sollte, so wäre die Identität der Mumie geklärt. Der Mund der Mumie aber war für alle Zeiten verschlossen. Ihn zu öffnen war unmöglich, der Leichnam wäre zerstört worden. Stattdessen ließ Zahi Hawass den Computertomografen starten. CT-Spezialisten schoben die mutmaßliche Hatschepsut in die Röhre und entdeckten beim Scannen des Kopfes tatsächlich eine Lücke im Unterkiefer. Die Fehlstelle ließ sich exakt vermessen. Der Vergleich mit dem Zahn aus der Kiste zeigte eine Übereinstimmung auf den Millimeter genau. Für Zahi Hawass war das Beweis genug: KV60A war Hatschepsut. Nicht gut genug, meinten viele Ägyptologen. Der Zahn passe zwar in die Mumie, aber er müsse nicht unbedingt einst der Hatschepsut gehört haben. Das Siegel auf der Holzkiste sei kein Beleg. Hawass erklärte, er werde eine DNA-Untersuchung an dem Leichnam vornehmen lassen. In einem Jahr, so kündigte der Generalsekretär an, könne er wasserdichte Ergebnisse vorlegen. Für den spektakulären Test des Erbmaterials mussten weder die Mumie noch eine Gewebeprobe Ägypten verlassen. Direkt vor den Türen des Ägyptologischen Museums in Kairo war in der Zwischenzeit ein Labor zur Untersuchung antiker DNA entstanden. Zawass ließ die mutmaßliche Hatschepsut gleich vor seiner Haustür erforschen – von ägyptischen Biologen. Aus den DNA-Laboren Europas und der USA hagelte es Kritik. Mumienexperte Scott Woodward, dem Jahre zuvor von Hawass im letzten Moment untersagt worden
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war, das Erbgut der Mumie Tutanchamuns zu testen, sagte gegenüber der Presseagentur AP: „DNA aus einer Mumie zu entnehmen ist ein sehr schwieriger Prozess. Wer einen Beweis erbringen will, benötigt die DNA von Verwandten, um Vergleichsmaterial zu bekommen.“ Probleme mit Verunreinigungen sah die Molekularbiologin Angélique Corthals von der Universität Manchester voraus: „Die Mumie wurde mehrmals an verschiedene Orte geschafft – ist also kontaminiert. Darüber hinaus zerstört der chemische Prozess der Mumifizierung das Erbgut.“ Aus Berlin meldete sich der Direktor des Ägyptischen Museums zu Wort: „Die Ergebnisse solcher Tests dürfen nicht als gesicherte Unterlagen für historische Schlüsse gelten. Das ist in solchen Fällen sehr problematisch.“ Allen Unkenrufen zum Trotz blieben die ägyptischen Biologen enthusiastisch. Es liege durchaus Material vor, mit dem die DNA von Hatschepsut verglichen werden könne, um die Identität über eine verwandtschaftliche Beziehung zu beweisen, hieß es in Kairo. Für einen Vergleichstest stehe die Mumie Ahmose Nefertaris zur Verfügung, die durch Inschrift auf ihrem Sarkophag eindeutig identifizierbar sei. Zwar ist bis heute nicht bekannt, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die zwei Frauen zueinander standen, beide aber gehörten zur 18. Dynastie und damit zum selben Adelsgeschlecht. In einer Pressemeldung erklärte der an den Tests beteiligte Molekulargenetiker Yehia Zakaria Gad, erste Sequenzen der mitochondrialen DNA (mtDNA) von KV60A seien bereits vorhanden und sähen vielversprechend aus. Es ging um mehr als um Identität. Zwar versprach allein der Beweis, dass es sich bei der wiederentdeckten Mumie um Hatschepsut handelte, eine Sensation. Aber erst die darauf folgenden Untersuchungen an der Leiche ließen Ägyptologen aufhorchen. Die Fachwelt hatte eine Menge Fragen an die Königin: Woran starb sie? Hatte Thutmosis III. seine mächtige Stiefmutter umbringen lassen, um das Reich endlich allein regieren zu können? Warum verschwand Hatschepsut in einer unscheinbaren Grabkammer? Wie alt war sie? War sie eine Königstochter oder nur eine entfernte Verwandte des Pharao ohne legitimen Anspruch auf den Thron?
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„Wir sind zu 100 Prozent sicher“, sagte Zahi Hawass auf der Pressekonferenz am 27. Juni 2007 in Kairo: Die Mumie sei Hatschepsut. Nach über 3000 Jahren offenbar identifiziert, lag die Pharaonin im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Am Konferenztisch zeigte sich auch der ägyptische Kulturminister Faruk Hosni angesichts des Ergebnisses der DNA-Analysen begeistert. Die DNA-Tests hatten, wie erhofft, nicht nur die Identität der Mumie preisgegeben, sondern auch einige Details über das Leben der Pharaonin offenbart. Nach Meinung der Biologen soll Hatschepsut übergewichtig gewesen sein. Sie litt an Diabetes und starb im Alter von 50 Jahren an Leberkrebs. Auch die Zugehörigkeit zur 18. Dynastie belegten die Forschungen im DNA-Labor Kairos. Die Sequenzen der mtDNA waren lang genug, um eine Ähnlichkeit zwischen Hatschepsut, ihrem Vater Thutmosis I., ihrem Halbbruder Thutmosis II. und ihrem Stiefsohn Thutmosis III. aufzuzeigen. Zwar zweifelten Ägyptologen in aller Welt die Aussagekraft der Analysen nach wie vor an, das Ergebnis aber war spektakulär genug, um der Molekularbiologie die Tür in die Asservatenkammern des Kairoer Museums zu öffnen. Nach langem Anlauf waren DNA-Tests an Mumien salonfähig geworden. Auf die Biologen wartete eine Menge Arbeit. Zahi Hawass kündigte an, dass 40 königliche Mumien in den folgenden Jahren mit den neuen Geräten des DNA-Labors in Kairo untersucht werden sollten. Alle Mumien stammen aus dem Tal der Könige im Süden des Landes, alle gehören der 18. und 20. Dynastie an, die Ägypten von 1539 bis 1077 v. Chr. beherrschte. An allen haftet ein Makel: Bis heute weiß niemand genau, ob die Zuordnungen der Namen zu den Mumien tatsächlich stimmen. Der Fall Hatschepsut hatte das Dilemma der Ägyptologie einmal mehr dargelegt. Mumie ist nicht gleich Mumie. Eine achtlos zur Seite geräumte Leiche musste nicht unbedingt bedeuten, dass es sich bei dem Toten um die Überreste einer unbedeutenden Person handelte. Die Mechanismen, die zu solchen Verwechselungen führen, sind der Forschung in einigen Fällen bekannt. So wissen Ägyptologen, dass Pharaonen der 21. Dynastie große Angst davor hatten, dass die Grabstätten
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ihrer Vorfahren von Dieben geplündert werden könnten – eine berechtigte Sorge. Um den Grabschändern zuvorzukommen, ließen die Pharaonen viele Gräber früherer Regenten öffnen und die Mumien daraus entfernen. An zwei geheimen Orten sollen die Leichname eine Zeit lang gut verborgen geblieben sein. Dann sammelten die Hohepriester die Mumien wieder ein, ließen sie neu einbalsamieren und beschrifteten auch die Sarkophage neu. Dabei muss einiges durcheinandergeraten sein. Auch ohne DNA-Tests wissen Ägyptologen von Fällen zu berichten, in denen die falsche Mumie im Sarkophag gefunden wurde. Sind es die Überreste des berüchtigten Echnaton, die in Grab 55 lagen, oder ist es sein Nachfolger Semenchkare? Mit viel Glück wird über die Analyse des Erbguts entziffert werden können, wessen Körper tatsächlich die Jahrtausende überdauert hat, wer mit wem verwandt war und woran die ägyptischen Könige starben. Die vier Basen der DNA sind die Hieroglyphen des 21. Jahrhunderts – sie machen Geschichte sicht-, aber niemals vollständig lesbar. Die meisten Mumien im Magazin des ägyptologischen Museums Kairo werden auch in Zukunft schweigen.
Die Domgräber Kölns Ausgrabung ist Zerstörung. Im 18. und 19. Jahrhundert galt als erfolgreicher Archäologe, wer Gold aus Gräbern riss, Statuen aus Fundzusammenhängen zerrte und nach Mumien griff – die Salongesellschaften Europas interessierte die Sensation, nicht der Diskurs, das Messnetz oder die Tonscherbe. Selbst Heinrich Schliemann, noch heute gefeierter Star der Archäologie, ging bei der Entdeckung Trojas mit brachialen Mitteln zu Werke und sprengte antike Mauern mit Dynamit, da er meinte, Troja müsse in tieferen Schichten zu finden sein. Im 20. Jahrhundert ist das beherzte Zugreifen dem Fingerspitzengefühl des Wissenschaftlers gewichen. Archäologie bedeutet nicht mehr Schätze bergen, sondern bewahren. Dennoch garantiert auch sorgfältiges Vorgehen nicht den Ver-
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lust von Untersuchungsmaterial. Als der Archäologe Otto Doppelfeld 1959 die Vorläufer des Kölner Doms suchte, stieß er auf zwei Gräber mit außergewöhnlichem Inhalt – und an die Grenzen der archäologischen Methode. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs beschloss das Kölner Domkapitel, die Geschichte des Doms erforschen zu lassen. Das Projekt stand seit Langem auf der Wunschliste rheinischer Historiker, hatte sich aber während des Krieges nicht verwirklichen lassen. Der Domhügel gilt als Keimzelle Kölns, dort erhob sich vor 2000 Jahren ein römischer Tempel der damaligen Römerstadt Colonia Ara Agrippinensium. 1164 brachte Rainald von Dassel, Kanzler Friedrich Barbarossas, die mutmaßlichen Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln und ordnete den Umbau der bis dahin bestehenden Kirche an. 1248 legte das Domkapitel den Grundstein für den neuen Dom, dessen Bau erst 1880 abgeschlossen werden konnte. Sowohl die Geschichte der gotischen Kirche als auch die Existenz des römischen Tempels waren aus den Quellen bekannt. Was aber ereignete sich auf dem Domhügel, nachdem die Römer den Rhein verlassen hatten? Der Archäologe Otto Doppelfeld begann am 21. Mai 1946 mit Ausgrabungen mitten in dem gewaltigen Kirchenschiff. Doppelfeld war Profi. Er verfügte über das nötige Wissen für eine derart komplexe Ausgrabung und war überdies Archäologe aus Leidenschaft. Noch während des Krieges hatte er viele Kölner Altertümer vor der Vernichtung gerettet und nach Kriegsende als einer der Ersten erkannt, dass die Trümmerlandschaft der Stadt der Archäologie Chancen bot, da nun vielerorts im Kölner Boden geforscht werden konnte, wo zuvor die Bebauung gestanden hatte. Für die Aufgabe, sich durch die Gemäuerschichten des Domhügels zu graben, schien niemand geeigneter als Otto Doppelfeld. Bereits zwei Jahre nach Beginn der Ausgrabung erklärte der Archäologe, er habe den Vorgängerbau des gotischen Doms gefunden und könne Größe und Lage dieser Kirche bestimmen. Tatsächlich fand Doppelfeld die Grundmauern eines Gotteshauses aus der Zeit der Karolinger, einer dreischiffigen Bischofskirche aus dem
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9. Jahrhundert. Mit dieser Entdeckung wären die Fragen des Domkapitels an den Kölner Boden bereits beantwortet gewesen, aber Otto Doppelfeld grub weiter.
Das Holz einer Königin Im Bauch des Doms rumorte es. Ende der 1950er-Jahre sollte die Kirche eine neue Krypta für die Kölner Erzbischöfe des 19. und 20. Jahrhunderts erhalten. Als die Bauarbeiten begannen, erkannten Doppelfeld und sein Team darin die Chancen für die Archäologie und begannen mit einer weiteren Ausgrabung, vier Meter unter dem Bodenniveau des heutigen Doms. Bei den Ausschachtungen eines Fundaments für die Pfeiler am 10. April 1959 entdeckten die Forscher eine Steinplatte aus Trachyt im Boden. Bei der ersten Untersuchung geschah ein Unglück. Einer der Arbeiter rutschte ab, fiel in den Schacht auf die Platte und fand sich 30 Zentimeter darunter in einem Grab wieder. Auf den ersten Blick war nicht viel zu erkennen. Wie sich später herausstellte, war der Unglückliche in das Kopfende des Grabes gestürzt. Der Rest der Bestattung aber war noch mit dem Rest der Steinplatte und darüber liegenden Erdmassen bedeckt. Um den Fund freizulegen, wäre das Abtragen der Erde und das vorsichtige Entfernen der übrigen Platte der logische nächste Schritt gewesen. Der Archäologe aber erkannte, dass bei dem Einsturz bereits Teile des Grabes zerstört worden waren und befürchtete, der Rest des Trachyts würde ebenfalls nachgeben, wenn man ihn von der schützenden Erde befreite. Hätte Doppelfeld zur Archäologen-Generation Heinrich Schliemanns gehört, die sich in erster Linie für uralte Objekte begeisterte, hätte er durch die Bruchstelle in das Grab gefasst und herausgeholt, was darin lag. Aber das Dom-Team war sich darüber im Klaren, dass es das Grab nicht von oben würde bergen können, die Deckschicht musste erhalten bleiben. Also galt es, durch die Bruchstelle zu operieren. Jedes Objekt des reich ausgestatteten Grabes musste durch die kleine Öffnung von der Seite her eingemessen werden, um seine Lage zu dokumentieren und später Rekonstruk-
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tionen anfertigen zu können. Dann entdeckten die Ausgräber, dass in dem Grab etwas erhalten geblieben war, was der Archäologie der Gegenwart wichtiger ist als Gold: Holzobjekte. Holzfunde sind selten. Entgegen häufiger überlieferten Materialien wie Metall oder Stein war Holz in der Vergangenheit der am meisten verwendete Werkstoff. Es war einfach zu beschaffen und zu verarbeiten. Mit Holz ließen sich Häuser bauen und Statuen bearbeiten, ein Armband ebenso herstellen wie eine Suppenschüssel. Kein anderer Werkstoff bestimmte den Alltag früherer Kulturen so sehr wie Holz. Zwar scheinen Goldobjekte der Vergangenheit auf den ersten Blick wertvoller zu sein, doch gehören sie in die Gruppe der Ausnahmeerscheinungen einer Kultur, entsprechend gering sind die Erkenntnisse, die sich durch Edelmetallfunde gewinnen lassen. Allerdings kommen Holzfunde in der Archäologie meist nur in feuchten Böden vor, etwa in Mooren. Ohne Feuchtigkeit zerfällt das Holz innerhalb weniger Jahrzehnte, es sei denn, es kommt nicht mit Sauerstoff in Berührung. Als Otto Doppelfeld das Grab unter dem Kölner Dom entdeckte, hatte die Archäologie noch nicht viel Erfahrung mit Holzfunden aus luftdicht verschlossenen Fundzusammenhängen. Aber der Archäologe hatte Glück. Die Holzreste waren gut erhalten und noch so fest, dass sie bewegt werden konnten, ohne dass sie zerfielen. Bevor das Holz auf den Sauerstoff reagieren konnte, war es geborgen und konserviert. Wie sich herausstellte, waren die Kölner Forscher auf ein Frauengrab gestoßen. Zwar waren von der Toten kaum mehr Gebeine erhalten, aber einige Zähne, ein Stück Wadenknochen und Reste des Schädels und der Halswirbel genügten, um Geschlecht und Alter zu bestimmen. Die Frau war mit 28 Jahren gestorben und in einem Holzsarg bestattet worden. Anschließend hatte man den 1,70 mal 0,55 Meter großen Sarg in die 3 mal 0,85 Meter große Steinkammer eingelassen. Wie die Datierung ergab, stammte das Grab aus dem 6. Jahrhundert. Obwohl es christlich war, war die heidnische Sitte, den Toten Beigaben ins Grab zu legen, noch in voller Blüte. Am Fußende des Holzsarges fanden die Archäologen
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Überreste eines golddurchwirkten Stirnbandes, Ohr- und Fingerringe, einen goldenen Armreif, Halsschmuck, Münzanhänger mit Bildern des byzantinischen Kaisers Justinus I. (reg. 518 bis 527). Überdies lagen zwei Münzen neben dem Kopf der Toten, möglicherweise eine späte Reminiszenz an den Charonspfennig, ein Geldstück, das in vielen Kulturen Toten auf die Zunge gelegt wurde, damit die Seele des Verstorbenen damit die Überfahrt über den Fluss zum Totenreich bezahlen konnte. Unter den Schmuckstücken fielen besonders die Fibeln auf. Einige Gewandspangen waren aus Gold, mit farblich nuanciertem Almandin besetzt, mit bläulich getönten Glasflüssen, Filigran und Perlen geschmückt. Für Otto Doppelfeld stand fest, dass es sich um „einmalige Meisterschöpfungen“ handelte. Auch die Beigaben, die nicht zur Kleidung gehörten, strichen den Reichtum der Bestatteten heraus: Wadenbinden, Schuhe mit vergoldeten Schnallen, eine Lederflasche, ein bronzebeschlagener Holzkasten, drei Glasflaschen und zwei Glasschalen konnten die Archäologen identifizieren und zum Teil vollständig bergen. Ursprünglich schien die gesamte Grablege mit einer Wolldecke abgedeckt gewesen zu sein. Sogar von dem Stoff hatte sich ein handtellergroßer Rest erhalten, weil die Oxidation der darunter stehenden Bronzeschale ihn konserviert hatte. Die günstigen Erhaltungsbedingungen unter dem Boden des Doms zeigten vor allem eins: Das Grab war ungestört. Einzig die Überreste eines Dolches schienen dieses Bild zu stören. Während der Griff an einem Ende der Kammer lag, fanden die Forscher die Klinge weit davon entfernt. Doppelfeld erklärte diesen Fundzusammenhang damit, dass der Dolch beim Zusammenbrechen des Holzsarges verschoben und dabei zerbrochen sein mochte. Wie üppig das Grab ausgestattet war, zeigt der Vergleich mit Gräbern einfacher Menschen aus dem Frühmittelalter, denen nur Schalen mit Speisen und ein Handwerksgerät oder eine Waffe ins Grab gelegt wurden. Für Bauern und Handwerker waren Gegenstände des Alltags wertvoller Besitz, nur wenige konnten sich leisten, etwa ein Eisen- oder Bronzeschwert, einen Hobel oder eine Waage abzugeben. Wer aber ein Grab so luxuriös einrichtete wie
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die Hinterbliebenen der Toten im Kölner Dom, musste reich gewesen sein. Otto Doppelfeld hielt die Tote für die fränkische Königstochter Wisigarde, die im 6. Jahrhundert mit dem Frankenherrscher Theudebert verheiratet war. Allerdings fand der Archäologe keine Inschrift, die die Identifizierung sicherte. Die Meinung, eine Königin entdeckt zu haben, weckte in den 1960er-Jahren zwar das Interesse der Öffentlichkeit. Für die Forschung aber hatte der Fund damit nur wenig Aussagekraft über das Leben im merowingischen Köln. Georg Hauser, heute Leiter der Dombauhütte in Köln: „Die Schlusspublikation des Ausgräbers von 1966 hat schließlich auch mit dem Versuch einer durchaus hypothetischen historischen Deutung diesen beiden Grabfunden eine solche Sonderstellung eingeräumt, dass viele Jahre lang jedes weitere Forschungsinteresse davor kapitulierte.“
Miniritter mit Kinderbett Otto Doppelfeld hatte einen Schatz geborgen und stieß gleich darauf auf einen weiteren. Dieses Mal aber hatte der Archäologe nicht so viel Glück. Das Fußende des Frauengrabs war mit einer Platte verschlossen, an der der Zahn der Zeit genagt hatte. Der Trachyt war gesprungen. Nachdem das erste Grab vollständig geborgen und seine Deckplatte abgenommen war, bemerkte Doppelfeld im August 1959 die fragmentierte Fußplatte und nahm ein Stück heraus. Dahinter lag eine weitere Kammer, in den Abmessungen der ersten ähnlich. Der Archäologe leuchtete hinein und schaute erneut in ein reich ausgestattetes Grab. Im Kunstlicht ließen sich ebenfalls prachtvolle Beigaben erkennen: Waffen, ein intaktes Holzbett, ein Stuhl, an dessen Holm ein Helm hing. Der Fall schien klar: Ein Männergrab war an das Frauengrab angeschlossen. Wie sich herausstellen sollte, spielten Schlagschatten und verzerrte Perspektive den Archäologen einen Streich. Zwar war das Grab tatsächlich reich ausgestattet, aber Bett, Stuhl, Waffen und Rüstung waren Miniaturausgaben. Die Forscher hatten ein Kindergrab entdeckt.
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Schon die Bergung des Frauengrabs von der Seite her war riskant gewesen. Diesmal wollte Otto Doppelfeld auf Nummer sicher gehen und zunächst die Erde über dem Grab abtragen, um es behutsam von oben öffnen zu können – ein Fehler, wie sich herausstellte. Im Grabungsbericht schreibt der Entdecker: „Die schwierigen Betonierungen zogen sich aber lange hin, und als wir nach fünf Monaten die Ecke des Grabes zur Kontrolle wieder öffneten, zeigte ein Vergleich mit dem zuerst gemachten Foto, dass die schwammigen Hölzer bereits sichtlich in sich zusammenzusinken begannen: Auch sah man an verschiedenen Stellen weiße Schimmelpilze, die vorher nicht beobachtet worden waren. Die geringe Menge Frischluft, die bei der ersten Öffnung eingetreten war, begann sich also schon auszuwirken.“ Für die Archäologen begann ein Wettlauf gegen die Zeit. An ein Durchstoßen der über dem Grab liegenden Estriche war nun nicht mehr zu denken. Wie zuvor beim Frauengrab, waren die Forscher gezwungen, die unzähligen, durcheinanderliegenden Teile vom Kopfende des Grabes herauszuholen. Für die Arbeit musste ein rollbarer Plan im Maßstab 1:1 konstruiert werden, eigens zimmerten die Archäologen Messvorrichtungen, um sie in den Schacht einschieben zu können. Für eine Weitwinkelkamera entwickelten sie eine Schiebevorrichtung. Um die Funde aus dem Grab ziehen zu können, bastelte das Team Tabletts mit elastischen Böden aus Juteleinwand. Um in dem Knabengrab arbeiten zu können, mussten die Wissenschaftler auf dem Bauch in dem Frauengrab liegen. Otto Doppelfeld beschreibt die Probleme der Bergung im Grabungsbericht: „Je tiefer wir dabei in das Grab hineingingen, umso schwieriger wurde es, besonders nachdem eine zur Sicherung unter die gesprungene mittlere Deckplatte eingebaute Abstützung den an sich schon schmalen Raum noch mehr verengte.“ Trotz großer Eile dauerte die Bergung des Grabinhalts weitere drei Monate. Auch das zweite Grab entpuppte sich als Schatzkammer der Archäologie. Wie sich herausstellte, war darin ein sechsjähriger Knabe bestattet worden. Er trug die Ausrüstung eines fränkischen Kriegers mit Wurfaxt, Kurz- und Langschwert, einem Spangen-
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helm, Lanze und Schild, allesamt maßgeschneidert für ein Kind – ein einmaliger Fund. Ähnlich wie bei der Frau hatten die Hinterbliebenen auch dem Knaben Essgeschirr mit ins Grab gelegt, darunter ein Trinkhorn, eine Glasflasche, einen Glasbecher und zwei Holzschälchen, die vermutlich ursprünglich mit Speisen und Getränken gefüllt waren. Doppelfelds Team konnte die meisten der Objekte in einwandfreiem Zustand retten. Für die Holzgegenstände aber kam jede Rettung zu spät. Bett und Stuhl waren durch den einströmenden Sauerstoff in ihrem einmaligen Erhaltungszustand zerstört und in sich zusammengefallen, nachdem die über dem Grab liegenden Estriche den Fundkomplex 1500 Jahre lang luftdicht konserviert hatten. Das Drama unter dem Dom hätte abgewendet werden können, meint der heutige Leiter der Dombauhütte, Georg Hauser: „Doppelfeld hatte keine Erfahrung mit Holzfunden, an die Sauerstoff gelangte. Er hätte sich bei den Kollegen aus der Ägyptologie erkundigen sollen, sie müssen oft mit Holzgegenständen hantieren, die sie im Wüstenklima entdecken.“ Trotz des Unglücks stehen heute Bett und Stuhl des Frankenknaben in der Kölner Domschatzkammer. Es sind Rekonstruktionen, die Georg Hauser und ein Team aus Archäologen und Schreinern 1995 anfertigten. Dank der Zeichnungen Otto Doppelfelds und der übrig gebliebenen Holzfragmente aus dem Grab konnten die Möbel neu aufgebaut werden. Sogar die verwendeten Hölzer, Kirsche, Eiche und Pflaume, ließen sich nachweisen und wurden wieder verwendet. Hauser: „Da die Hölzer zusammengefallen waren, wussten wir nicht mehr, wie hoch die Möbelstücke einst waren. Das Grab hatte eine Höhe von 0,62 Meter, also schätzten wir 60 Zentimeter. Bis auf diese Details sind wir aber sicher, die Möbel so gebaut zu haben, wie sie einmal ausgehen haben.“ Die akribische Dokumentation der Grabung durch Otto Doppelfeld und die Wiederherstellung von Bett und Stuhl durch Georg Hauser hatten den verloren geglaubten Holzschatz unter dem Kölner Dom gerettet. Der größte Verlust stand jedoch noch bevor.
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Rekonstruierte Holzmöbel aus dem Knabengrab unter dem Kölner Dom. Die Originale zerfielen, als sie mit frischer Luft in Berührung kamen.
Kölnisch Wasser In den Gräbern der Merowinger wartete eine weitere Kostbarkeit auf die Ausgräber: Wasser. Insgesamt drei Flaschen aus Glas fand Doppelfeld, keine war verschlossen, in jeder schwappte jedoch eine klare Flüssigkeit. Zunächst vermuteten die Archäologen, dass sich in den luftdicht versiegelten Kammern Kondenswasser gebildet und in den Gefäßen abgesetzt habe. Diese Vermutung erwies sich jedoch als falsch. Weder in den Schalen noch in den Bechern, die neben den Flaschen gestanden hatte, waren Spuren von Flüssigkeit zu finden. Kondensat hätte sich in allen Behältnissen gleichermaßen gesammelt. Es konnte sich also nur um eine Flüssigkeit handeln, die bereits bei der Grablege in den Flaschen gewesen war, sie war 1500 Jahre alt. Die Entdeckung war so außergewöhnlich, dass einige Kollegen Otto Doppelfeld Scharlatanerie vorwarfen. Der Kölner Archäologe sah sich nach Veröffentlichung des Fundes mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe die Flüssigkeiten selbst in die Flaschen gefüllt, um seine Entdeckung spektakulärer erscheinen zu lassen. Heute ist dieser Vorwurf versickert. Das Wasser unter dem Kölner Dom gilt als waschechte Sensation.
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Allerdings teilte dieser Schatz das Schicksal der Holzmöbel. Als bei der Entdeckung des Frauengrabes einer der Arbeiter in die Vertiefung stürzte, fiel eine der Flaschen um, der Inhalt lief aus. Nach wenigen Augenblicken war das seit über 1500 Jahren erhaltene Wasser verloren. Zwei zu jeweils einem Drittel gefüllte Flaschen blieben übrig. Zwar konnten beide geborgen werden. Aber noch einmal verschliss eine sorgfältige, aber noch nicht weit genug entwickelte Wissenschaft einen Schatz aus den Tiefen der Geschichte. Was in den beiden Glasflaschen schwappte, sah aus wie Wasser und roch wie Wasser – ziemlich abgestanden, aber ohne andere Duftstoffe. Trotzdem wollte Otto Doppelfeld sichergehen und chemisch analysieren lassen, welche Flüssigkeit die Franken ihren Toten tatsächlich mit ins Grab gaben. Das ließ sich nur von Chemikern prüfen. Die zweite Flasche wurde unter großen Vorsichtsmaßnahmen zum chemischen Institut der Universität Köln gefahren. Dort waren seinerzeit die Möglichkeiten zur exakten Analyse von Flüssigkeiten zwar gegeben, aber noch stark begrenzt. Für den Test benötigten die Chemiker den gesamten noch in der Flasche enthaltenen Liter. Dennoch kam die Flüssigkeit auf den Prüfstand. Das Ergebnis war ernüchternd: H2O – mehr als drei Buchstaben konnten die Chemiker dem gesamten Liter uralter Flüssigkeit nicht abringen. Weder ließ sich bestimmen, ob dem Wasser einst Duftstoffe beigegeben gewesen waren, noch konnten Schwebstoffe darin entdeckt werden. Der Preis dafür war hoch: Der zweite von drei erhaltenen Litern war zerstört. Jetzt legte das Domkapitel als Eigentümer die Hand über die letzte erhaltene Flasche. Keine weiteren Proben, keine Experimente, nicht einmal Begutachtungen ließen die Kölner Kirchenoberhäupter zu. Bevor die Chemie keine feineren Methoden zur Untersuchung von Flüssigkeiten entwickelt habe, bleibe die Flasche tabu, so das Domkapitel. Fortan blieb die Kostbarkeit in der Domschatzkammer, den bislang offenen Flaschenhals schloss ein Gummipfropfen. 17 Jahre lang blieb das Kölnische Wasser unangetastet.
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Im Herbst 1987 klingelte bei Georg Hauser das Telefon. Beim Leiter der Dombauhütte meldete sich Bert Steffan, ein Chemiker der Universität Bonn. Steffan wusste um das Malheur bei den Untersuchungen der fränkischen Flüssigkeiten, er wusste auch, dass das Wasser noch immer auf eine weiterentwickelte Chemietechnik wartete. Die gebe es nun, so Steffans Meinung. Mittlerweile sei man in der Lage, aus einzelnen Tropfen eine Flüssigkeitsanalyse anzufertigen. Nicht länger sei es nötig, ganze Liter in den Apparaturen zu verschwenden. Hauser horchte auf. Gemeinsam stellten die Männer das Verfahren dem Domkapitel vor. Auch die Kirche schenkte den Wissenschaftlern Glauben und einige Tropfen der Flüssigkeit. Die Forscher kamen keinen Monat zu früh. Als der Chemiker die Flasche sah und den Pfropfen untersuchte, stellte er fest, dass das Gummi allmählich zerfiel und drohte, das Wasser durch Ausfällung zu verunreinigen. Eine Folie zwischen Stopfen und Inhalt der Flasche hält das Wasser seither sauber. Bert Steffan sollte recht behalten. Tatsächlich gelang die Analyse mit nur wenigen Tropfen der uralten Flüssigkeit. Die Probe enthielt Schwebstoffe, die in zukünftigen Analysen die Herkunft des Wassers verraten könnten. Überdies fand der Chemiker, dass Rückstände einer hochpolymeren Substanz, möglicherweise eines Harzes, das dem Wasser als Duftstoff beigemischt worden war. Aber dieses Wasser war etwas Besonderes. Hauser und Steffan fanden Wasser von einer Qualität, die es heute nicht mehr gibt. Im Untersuchungsbericht heißt es: „Bedingt durch die enorme Umweltbelastung findet man heutzutage zum Teil selbst in Trink- und Quellwässern, mit denen sich ja eigentlich Begriffe wie Klarheit, Reinheit und Sauberkeit verbinden, Spuren von Pflanzenschutzmitteln wie Atrazin, aber auch Dioxine und PCBs. Diese Stoffe konnten hier nicht nachgewiesen werden.“ Diese Aussage unterstützte der Vergleichstest mit einer Standard-Referenzwasserprobe. Dieses Verfahren wird bei Flüssigkeitsanalysen angewandt, um zu beweisen, dass es sich tatsächlich um Wasser handelt. Für den Prozess nutzen Chemiker Wasser, das mit großer Präzision künst-
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lich hergestellt wird. Hauser: „Das ist das Standardwasser D2O mit 100 % Reinheit, 99,6 % Isotopenreinheit. Das ist das reinste Wasser, das es auf der Erde gibt.“ Aber bei der Testreihe stellte sich eine Unreinheit bei einer der beiden zu vergleichenden Substanzen ein. Wider Erwarten lag diese Unreinheit in dem unter Laborbedingungen hergestellten Wasser. Es war verschmutzter als das 1500 Jahre alte Wasser aus dem Knabengrab unter dem Kölner Dom. Georg Hauser: „Keine chemische Technik kann so reines Wasser herstellen wie das aus dem Knabengrab.“ Ein Schatz war gefunden, nur um festzustellen, dass ein anderer schon seit Langem verloren gegangen ist.
Das Grab Alexanders des Großen Alexander der Große eroberte die Welt in 13 Jahren. So viel über seine Taten bekannt ist, so wenig weiß die Wissenschaft über den Verbleib von Alexanders Leichnam. Das Grab des großen Feldherrn verschwand vor 1800 Jahren. Archäologen meldeten bereits 132-mal, das Grab sei gefunden, doch immer entpuppten sich die Berichte als falsch. Auf Sumatra, am östlichen Ende des Indischen Ozeans, suchte man ebenso vergebens wie in Venedig. Dort, so vermutet der britische Historiker Andrew Chugg, müsse die Mumie mitten im Markusdom liegen. Bereits das Ende Alexanders ist rätselhaft. Aus Indien zurückgekehrt, schlug der Makedone 323 v. Chr. das Lager in Babylon auf. Dort erkrankte er nach einem Trinkgelage. Dreizehn Tage später war Alexander der Große tot. Gift soll im Spiel – und im Sturzbecher – gewesen sein. Aber Alexanderbiograf Robin Lane Fox hält das für ausgemachten Unsinn: „Jeder, der einen physisch so starken König hätte umbringen wollen, wäre kein Risiko eingegangen. Er hätte den Tod durch eine hohe Dosis des tödlichsten Gifts gesichert. Es gab in der Antike kein bekanntes Gift, das langsam, aber sicher wirkte.“ Eines gab es: Alkohol.
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In diesem Wagen könnte der Leichnam Alexanders des Großen von Bagdad nach Ägypten transportiert worden sein. Die Zeichnung beruht auf einer Interpretation der literarischen Quellen.
Dahinter steht mehr als eine bloße Skandalgeschichte. Alexanders Trinklust ist historisch bezeugt, ihre Folgen sind noch heute sichtbar in den Ruinen von Persepolis, der ehemaligen Prunkstadt der Perser, die der Makedone auf dem Höhepunkt eines Siegesfestes im Vollrausch niedergebrannt haben soll. Auch bei seinem letzten Gelage soll Alexander nach einem Dreilitergefäß Wein verlangt und diesen unverdünnt hinuntergestürzt haben. Das war Kampftrinken. In der Regel mischten antike Weinfreunde den Rebensaft mit Wasser. Schließlich erkrankte der Makedone an einem Fieber. Am 10. Juni 323 v. Chr. hielt man den Feldherrn für tot. Tatsächlich aber, so behaupteten US-Mediziner 2003, könnte der König noch tagelang
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im Koma vor sich hingedämmert haben, ohne dass jemand diesen Zustand bemerkte. Zeitgenössischen Berichten aus Babylon zufolge soll Alexanders Körper acht Tage lang nicht verwest sein, doch das klingt unwahrscheinlich. Die schwüle Hitze hätte Gewebe innerhalb weniger Tage zerfallen lassen müssen. Aber die moderne Medizin kennt eine Übereinstimmung mit Komazuständen, wie sie heute bei Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse bekannt sind, einer Folge von Alkoholismus. Die antiken Ärzte standen diesem Phänomen ratlos gegenüber. Sie erklärten Alexander für tot. So mag der Feldherr eine Woche lang ohne Versorgung in der Gluthitze des Zweistromlands gelegen haben. Danach wäre er wohl verdurstet. Zu Lebzeiten hatte es Alexander in weniger als 13 Jahren bis ans Ende der damals bekannten Welt geschafft. Vom Sterbebett bis ins Grab brauchte er eine halbe Ewigkeit. Allein um den Transport der Leiche vorzubereiten, ließ sich General Philipp Arrhidaios zwei Jahre Zeit. Währenddessen entzündete sich der Streit um die Nachfolge des großen Feldherrn. Alexander selbst hatte niemanden als Erben seines Weltreichs eingesetzt. Auf die Frage, wen er zum Nachfolger bestimme, soll er mit den letzten Atemzügen geantwortet haben: „Den Stärksten.“ Diese Worte sind möglicherweise erfunden. Das Chaos aber, das über der Leiche des Makedonen losbrach, war Realität. Alexanders Sohn, Alexander IV., sowie seine Mutter Roxane fielen einem Attentat zum Opfer. Kassandros, der Mörder, versuchte den Thron zu usurpieren und heiratete Thessalonike, Alexanders Schwester. Roxane ihrerseits hatte zuvor Alexanders zweite Frau Stateira vergiftet. Zwar teilten die ehemaligen Feldherren das Reich unter sich auf, doch brachen immer wieder Kriege zwischen ihnen aus, die in der Geschichtsschreibung Diadochenkriege genannt werden. In diesem Durcheinander spielte der Leichnam eine symbolische Rolle: Wo der Tote lag, dort ruhte sein Wille. Der Seher Aristandros, ehemals bevorzugter Weissager Alexanders des Großen, hatte verkündet, das Land, in dem der Leichnam begraben liegen würde, werde zum wohlhabendsten Reich der Welt aufsteigen – Motivation genug, des Toten habhaft zu werden. Die Jagd auf den Leichnam begann.
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Von Babylon bis ans Ende der Welt Von Babylon aus setzte sich um 321 v. Chr. eine Leichenprozession in Bewegung. Ihr Ziel: Aigai, die alte Hauptstadt Makedoniens und Grablege aller makedonischen Könige. Auch Philipp II., Alexanders Vater, soll dort begraben worden sein. Der Trauerzug aber sollte Aigai nie erreichen. Ptolemaios, Jugendfreund und General Alexanders, bemächtigte sich der Mumie (einigen Quellen zufolge mit Waffengewalt) und entführte den Toten in seine Satrapie Ägypten. Die meisten Alexanderforscher glauben heute, dass die Leiche das Reich am Nil nie wieder verlassen hat. Tatsächlich kam der Tote eine Zeit lang in Memphis, der alten Hauptstadt Ägyptens, zur Ruhe. Darin sind sich alle antiken Autoren einig. Diodor beschrieb im 1. Jahrhundert v. Chr. das Grabmal als typisch ägyptische Architektur, vermutlich in Form einer sogenannten Mastaba. Aber der ewige Friede währte nicht lang. Der griechische Historiker und Geograf Strabon erzählt, dass Ptolemaios II. die Mumie nach Alexandria geholt habe. Dort sei dem Toten ein Mausoleum errichtet worden, das den Namen „Sema“ trug. „Sema“ ist altgriechisch für „Zeichen, Grabmal“. Später taucht das Wort in vielen antiken Quellen als Name eines Stadtteils von Alexandria auf. Das Grab wurde zum Wallfahrtsort der Antike. Prominente Feldherren wie Gaius Julius Caesar knieten vor Alexanders Gebeinen nieder. Der Machtpolitiker betrieb morbide Imagepflege und wollte sich öffentlich im Glanz des Welteroberers sonnen. Auch sein Nachfolger Augustus, der erste römische Kaiser, besuchte den Toten in Alexandria. Er ließ den Sarkophag aus der Grabkammer tragen, legte eine Goldkrone auf den angeblich gläsernen Deckel und streute Blumen darüber. Mehr als 200 Jahre später erzählte der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio Groteskes von der Feierstunde. Augustus habe den Sargdeckel abnehmen lassen und sich über den Leichnam gebeugt, um ihn zu küssen. Dabei soll sich der Herrscher Roms so ungeschickt angestellt haben, dass er der geherzten Mumie die Nase abbrach.
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Je mehr Prominenz sich am Grab sehen ließ, desto mehr verfiel die Mumie. So verließ der exzentrische Caligula das „Sema“ nicht ohne Souvenir: Alexanders Brustpanzer. Als einer der letzten prominenten Touristen wurde 215 n. Chr. Kaiser Caracalla am Grab gesehen. Dann beginnen die Spuren zu verblassen. Über Alexandria brachen ab 268 n. Chr. stürmische Zeiten herein. Unter den römischen Kaisern Claudius II., Aurelian und Diokletian versank das ehemalige Kraftzentrum des Hellenismus in die Bedeutungslosigkeit. Mehrfach wütete in der Stadt die Pest. Ein Erdbeben im 4. Jahrhundert verwüstete viele Stadtteile. 642 eroberten die Araber Nordafrika. Alexandria blieb zunächst Wirtschaftszentrum. Der Leuchtturm von Pharos, eines der sieben Weltwunder der Antike, kollabierte 1326. Nun setzte ein unaufhaltsamer Niedergang ein. Als Napoleon Bonaparte am 2. Juli 1798 während seines Ägyptenfeldzugs Alexandria erreichte, lebten in der einst 600 000 Einwohner zählenden Stadt noch 7000 Menschen. Das Grab Alexanders des Großen war bereits seit Jahrhunderten verschwunden. Der Erste, der sich nach dem Grab erkundigte, wollte es eigentlich gar nicht finden. Johannes Chrysostomos, Bischof von Konstantinopel, fragte Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. lakonisch: „Sagt mir, wer kennt heute das Grab Alexanders des Großen?“ Eigentlich wollte der später Heiliggesprochene seiner Gemeinde nur die Nutzlosigkeit menschlichen Handelns verdeutlichen. Sein Ausruf aber gilt heute als erster Hinweis darauf, dass Alexanders Grab um 400 n. Chr. bereits verschollen war. In der Hoffnung, im Alexandergrab Ruhm, Gold und Gemmen zu finden, veranstalteten Hobbyforscher im 19. und 20. Jahrhundert Schnitzeljagden quer durch den Mittelmeerraum. Wissenschaftler beobachten die Anstrengungen um das Grab gleichermaßen mit Amüsement und Interesse. Für Fachleute wäre bereits das Skelett von unschätzbarem Wert. Dank Gentechnik könnten Biologen noch heute lebende Verwandte Alexanders ausmachen, Gerichtsmediziner wären in der Lage, Alexanders Gesicht zu rekonstruieren, das auf Skulpturen und Münzen nur in idealisierter Schönheit überliefert ist. Selbst die Todesursache könnte mit etwas
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Glück und forensischen Methoden herausgefunden werden. Die Mumie aber bleibt verschollen. Unter Schatzsuchern gilt neben Alexandria die Oase Siwa in der libyschen Wüste als heißer Tipp. Heute wiegen sich Orangenhaine, Dattel- und Olivenbäume im Wüstenwind Siwas, einem 50 Kilometer breiten Grünstreifen an Ägyptens Grenze zu Libyen. Glaubt man dem römischen Geschichtsschreiber Diodor, so wollte Alexander der Große hier begraben sein. Diodor hatte im 1. Jahrhundert v. Chr. seine Zelte in Ägypten aufgeschlagen. Zwar kannte er den großen Feldherrn nicht persönlich. Aber als Diodor sein 40-bändiges Geschichtswerk niederschrieb, war das Alexandergrab noch eine allseits bekannte Touristenattraktion. Für Alexander war die Oase einer der Dreh- und Angelpunkte seines Lebens. Hier hießen ihn ägyptische Priester 331 v. Chr. als Sohn des Gottes Amun-Re willkommen und prophezeiten ihm die Herrschaft über die damals bekannte Welt. 800 Kilometer entfernt gründete er auch Alexandria, die erste Stadt dieses Namens. Auf seinen Feldzügen in den Osten entstanden noch viele kleinere Alexandrias. Aber keines sollte eine solche Bedeutung erhalten wie die Metropole in Ägypten. Siwa stand als mögliche Grablege stets im Schatten der Stadt. Bis 1989 die griechische Archäologin Liana Souvaltzi die Schriften des Diodor ernst nahm und die ägyptischen Behörden um Grabungserlaubnis in der Oase ersuchte. In Eigenregie grub Souvaltzi sechs Jahre nach den Überresten des berühmten Makedonen. Tatsächlich legte sie ein antikes Gemäuer frei. Die dorische Architektur und eine griechische Inschrift datierte die Archäologin ins 3. Jahrhundert v. Chr. 1995 verkündete Souvaltzi, das Grab sei entdeckt. Die ägyptischen Behörden ließen sich von der Begeisterung anstecken und schickten die Sensationsmeldung um die Welt. Doch der vermeintliche Schatz in der Wüste entpuppte sich als Fata Morgana. „Die Behauptung, dass der dorische Tempel in Siwa das Grab Alexanders des Großen sei, ist wissenschaftlich unhaltbar“, sagt Klaus-Peter Kuhlmann. Als Referent für Ägyptologie am Deutschen Archäologischen Institut Kairo war Kuhlmann selbst Ausgräber des Orakels von Siwa. Seines Wissens waren die
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Ruinen dort schon über hundert Jahre bekannt, als die Privatarchäologin den Spaten ansetzte. „Die Inschrift, die Frau Souvaltzi fand, datiert das Bauwerk auf die Zeit Trajans“, erklärt Kuhlmann. Dieser römische Kaiser regierte 98 bis 117 n. Chr., rund 400 Jahre nach Alexander. Auch er hatte ein Faible für dorische Architektur. Als Liana Souvaltzi die Grabungen in Siwa 1996 fortsetzen wollte, verweigerten die Ägypter die Erlaubnis. Seither weht Sand über die Angelegenheit. Solange das Verfahren schwebt, darf niemand nachsehen, was sich tatsächlich unter dem dorischen Gebäude verbirgt. Die Archäologin ist entsetzt: „Das Grundwasser der Oase dringt allmählich nach oben. Was auch immer in dem Gebäude begraben sein könnte, wird verloren gehen.“ Es sind die Besuche der Römer, die einen versteckten, aber stichhaltigen Hinweis auf das Alexandergrab geben: den Glassarg des Makedonen. Die Schilderungen des gläsernen Sarkophags scheinen Klaus-Peter Kuhlmann jedoch zu undurchsichtig. „Die Quellen über das Alexandergrab sind im Lauf der Jahrhunderte stark verfremdet worden“, meint der Archäologe. Beim Nachblättern in antiken Quellen entdeckte er, dass der Sarg nicht zwingend aus Glas gewesen sein muss, sondern eher aus „hyelos“ (υελος). Das Wort aus dem Altgriechischen steht nicht nur für Glas, sondern auch für „durchscheinendes Material“. „Und das“, so Kuhlmann, „kann ebenso gut Alabaster gewesen sein.“ Diese Beschreibung passt auf eine Entdeckung des italienischen Alexanderforschers Achille Adriani. Der ehemalige Leiter des Römischen Museums in Alexandria legte antike Quellen neben alte Stadtpläne, verglich sie mit der modernen Bebauung und tippte 1964 auf den Stadtteil Bab Sharki. Hier war bereits 1907 bei Erdarbeiten ein monumentales Grab aufgetaucht, aber bislang hatte ihm niemand Beachtung geschenkt. Das Grab bestand zum Teil aus Alabaster. Alles deutete darauf hin, dass damit Alexanders letzte Ruhestatt gefunden worden war. Die Anlage hatte majestätische Ausmaße und stammte tatsächlich aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Der Alabaster war in drei Meter langen Blöcken eigens aus Grie(/
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chenland importiert worden. Von Alexanders Mumie jedoch fehlte jede Spur. Die Grabkammer war leer.
Feldherr im Markusdom Auch der britische Historiker Andrew Chugg meinte 2004, Alexander endlich gefunden zu haben: im Markusdom in Venedig. Diese Theorie wirkt nur auf den ersten Blick absurd. Chugg hatte die Idee, nicht nur wie seine Vorgänger nach dem Grabmal Alexanders zu suchen. Er versuchte, die Leiche selbst im Blick zu behalten. Denn die, so Chugg, liege nicht immer in der ihr zugedachten Gruft. Tatsächlich las der Forscher in Schriften der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit von einem regen Hin und Her mumifizierter Körper. Einer davon war der Leichnam des Evangelisten Markus. Er kam von Alexandria nach Venedig, lockt seit 1200 Jahren Wallfahrer und Touristen in die Lagunenstadt und ist nach Ansicht des Briten eine Fälschung. Die venezianischen Kauffahrer Bonus von Malamocco und Rusticus von Torcello erreichten 828 Alexandria mit unredlichen Absichten. Ihre Heimat Venedig war im Begriff, ein Machtfaktor in Mitteleuropa zu werden. Die Byzantiner waren zurückgedrängt. Alles, was den Venezianern noch fehlte, war der Segen der Kirche. Den erlangten Städte im Mittelalter durch aufwendige Kirchenbauten auf dem Grab eines Heiligen. Venedig wollte den Heiligen Markus. Dessen Körper galt in jenen Tagen als eine der besterhaltenen Mumien unter den christlichen Heiligen. Die Überreste des Evangelisten sollten in Alexandria liegen. Von dort planten Malamocco und Rusticus den Heiligen nach Europa zu bringen – koste es, was es wolle. Der Legende nach übertölpelten Bonus und Rusticus die Wächter des Leichnams; einige Quellen behaupten, die Hüter des Heiligen Markus hätten sich bestechen lassen, wieder andere sprechen davon, dass die Christengemeinde in Alexandria erleichtert gewesen sein soll, die Leiche loszuwerden, da die muslimischen Stadtherren im 9. Jahrhundert damit drohten, die Kirche seiner Grab-
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Am sogenannten Alipio-Tor des Markusdoms in Venedig ist die Überführung des heiligen Markus nach Venedig dargestellt. Möglicherweise handelte es sich bei der Mumie des Heiligen um die Überreste Alexanders des Großen.
lege zu zerstören, um mit den Steinen einen Palast zu bauen. Welche Motive hinter der Mumienentführung auch steckten, der vermeintliche Evangelist verschwand aus der Gruft. Der Leichnam erreichte die Lagunenstadt unbeschadet und wird dort seither im Markusdom aufbewahrt. Wie bedeutend die Reliquie für die Stadt war, zeigt sich darin, dass sich Venedig später selbst als Markusrepublik oder Republik von San Marco bezeichnete. Wessen Überreste aber tatsächlich 828 n. Chr. über das Meer und dunkle Kanäle nach Venedig verschifft wurden, ist ungewiss. Andrew Chugg meint, dass die venezianischen Diebe in Alexandria einem Irrtum aufsaßen: „Es ist unwahrscheinlich, dass der gestohlene mumifizierte Leichnam der des heiligen Markus war, weil der Evangelist starb, als die Christen noch eine unbedeutende Sekte waren und mehrere christliche Quellen darauf hindeuten, dass Markus’ Körper verbrannt wurde. Vermutlich erkannte die römische Kirche auch eine andere Mumie als Ersatz an, weil sie unbedingt in den Besitz des Leichnams kommen wollte.“
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Für die Theorie, dass die fragwürdigen Überreste die Alexanders gewesen sein könnten, sprechen nach Meinung des Briten mehrere Indizien. Das Mausoleum Alexanders könnte am 21. Juli 365 zerstört worden sein. An diesem unglücklichen Tag rollte eine durch ein Seebeben hervorgerufene Flutwelle über Alexandria und vernichtete einen Großteil der Stadt. Was zu diesem Zeitpunkt von Alexanders Mausoleum noch vorhanden gewesen ist, muss spätestens durch die Katastrophe untergegangen sein. Dieser Verdacht wird dadurch bestätigt, dass die letzte Schriftquelle über Alexanders Grabmal aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. stammt (Libanios, Orationes 49.12). Ein Schlüssel zu Alexander liegt nach Ansicht Chuggs in den nicht-biblischen Büchern des Christentums verborgen. Diese Apokryphen sind christliche Schriften, die es nicht in den biblischen Textkanon schafften. In den meisten Fällen lehnte die junge Kirche einige dieser Texte ab, weil sie im Widerspruch zu den Evangelien standen. Andere wurden erst nach der Kanonisierung der Bibel verfasst. Die „Markus-Akten“ sind eine solche apokryphe Schrift, sie entstanden im 4. Jahrhundert n. Chr., in jenem Zeitraum also, in dem das Mausoleum Alexanders vermutlich durch eine Flutwelle zerstört wurde. Die „Markus-Akten“ beschreiben das Martyrium des Heiligen Markus und sein Begräbnis. Demnach sollen die Heiden versucht haben, den Leichnam des Markus zu verbrennen. Doch durch einen wundersamen Sturm wurden die Flammen gelöscht. Herbeigeeilte Christen konnten den Körper vom Scheiterhaufen zerren und ihn in ihrer Kirche bestatten, die in einem Viertel namens Boukolia gestanden haben soll. An dieser Stelle wurde Andrew Chugg stutzig. Die Beschreibung deckte sich nicht mit allen bekannten Quellen, nach denen Markus’ Körper verbrannt worden sein soll. Chugg: „Deshalb mag es sein, dass das Wunder in den Markusapokryphen gegen Ende des 4. Jahrhunderts erfunden wurde, um zu erklären, warum es eine jüngst angefertigte Grabstätte für den Heiligen gab.“ Der britische Historiker fand die Kirche des Heiligen Markus auf einer Stadtkarte Alexandrias aus der Renaissance wieder. Als
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Chugg die Lage der Kirche mit dem Stadtplan des antiken Alexandria verglich, entdeckte er etwas Merkwürdiges: Die Kirche des Heiligen Markus lag ungefähr über dem alten Stadtzentrum und damit an jenem Ort, an dem Alexander der Große vermutlich ursprünglich begraben worden war. Gab es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Eroberer und dem Evangelisten? Alexanders Leichnam wurde 391 zum letzten Mal gesehen, wenn man Libanios glaubt. Kurz darauf begann die Kirche, mit harter Hand gegen heidnische Kulte vorzugehen. Wenn Alexanders Leichnam zu dieser Zeit noch in der Nilmetropole verehrt wurde, muss die Mumie in Gefahr gewesen sein, von den Christen zerstört zu werden. Andrew Chugg hält es für möglich, dass ein Patriarch der alexandrinischen Kirche oder ein hoher Offizier die Gelegenheit und die Mumie beim Schopf ergriff und sie kurzerhand zu einem christlichen Heiligen erklärte. Damit ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Alexanders Leichnam war gerettet und ruhte nun sicher in der christlichen Kirche. Darüber hinaus erhielten die Christen einen heiligen Ort in der Stadt, zu dem sie pilgern konnten. Ein solcher Glaubensmagnet brachte überdies Reisende und damit Geld an den Nil. Archäologen wissen um die Sitte aus den ersten Jahrhunderten des Christentums, ganze Körper auszutauschen und sie für Heilige zu erklären, solange nur der Ort der Verehrung echt war. Wussten die Gläubigen, dass sie auf geschichtsträchtigem Boden standen, stellte offenbar niemand die Authentizität des zu verehrenden Toten infrage. Andrew Chugg hält die Verwandlung Alexanders in Markus für keine heikle Angelegenheit: „Eine Mumie von einer anderen zu unterscheiden ist eine Frage für Experten – sie ähneln sich sehr. Sollte es damals notwendig gewesen sein, Alexanders Leichnam zu verkleiden, wäre auch das einfach zu bewerkstelligen gewesen, zum Beispiel durch neues Verbinden der Mumie.“ Wer liegt heute wirklich im Markusdom begraben und hat einer ganzen Kauffahrernation den Namen gegeben? Da der Körper des Heiligen Markus aller Wahrscheinlichkeit nach verbrannt wurde, wird er es kaum selbst sein, dessen Grab Tag für Tag Hunderte
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Menschen aufsuchen. Dass es tatsächlich Bezüge des Grabes in die Antike gibt, offenbarte eine Untersuchung des italienischen Forschers Ferdinando Forlati, der 1975 Teile der Grundmauern in der Basilika untersuchte. Forlati fand Reste einer Begräbnisstätte, die er für römisch hielt. Dazu gehörte ein aus Stein modellierter Schild, auf dem ein Stern zu sehen war. Dieses Symbol ähnelt dem Zeichen der makedonischen Königsfamilie, einem achtstrahligen Stern, der in den Königsgräbern von Vergina ebenso zu sehen ist wie in dem Mosaik einer Stadt in Baktrien, die von Alexander gegründet worden war. Zudem schlugen antike Münzer den Stern auf Geldstücke in Alexanders Reich. Ein solches Zeichen unter dem Markusdom untermauert demnach die Theorie von der weit gereisten Alexandermumie. Letzte Zweifel aber bleiben. Andrew Chugg: „Es sollte erwähnt werden, dass der Stern auch auf einem Schild und einer rotfigurigen Vase aus Lukanien von etwa 420 v. Chr. zu sehen ist. Er war demnach kein rein makedonisches Motiv. Auch enden die makedonischen Strahlen des Sterns nicht in Kugeln, wie es in dem Stück aus San Marco der Fall ist. Dennoch ist es ein seltsamer Zufall, ein so prominentes Symbol der Alexanderfamilie auf einer antiken Skulptur zu finden, die im ältesten Teil des Markusdoms niedergelegt worden ist.“ Chuggs These teilt die akademische Welt in zwei Lager. Während Kritiker die Nase rümpfen, sind Befürworter enthusiastisch und können es kaum erwarten, dass das Grab in Venedig geöffnet wird. Paul Cartledge, Professor für griechische Geschichte in Cambridge, unterstützt die San-Marco-Theorie: „Es gibt tatsächlich die Möglichkeit, dass etwas Wahres daran ist, einfach weil es eine geschichtliche Lücke in den Quellen gibt, die zu füllen ist. Wir wollen alle gerne erklären, warum die Spur Alexanders zum Ende des 4. Jahrhunderts kalt wird. In dieser Zeit triumphiert das Christentum und niemand kann sagen, wohin die vorchristlichen Heroen verschwunden sind. Der Körper ist irgendwo da draußen – aber ich vermute, er liegt noch immer unter den Straßen Alexandrias.“
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Der Zahn der Zeit nagt an ganzen Städten. Einige sind buchstäblich vom Erdboden verschluckt, etwa die alten Keltensiedlungen im süddeutschen Raum. Andere, wie die Handelsstadt Vineta, hat die Ostsee verschlungen. Die Suche nach den großen Schätzen der Geschichte führt in die Tiefe des Meeres und in den Abgrund der organisierten Kriminalität.
Die Ostseestadt Vineta Erst Reichtum, dann Untergang – die Geschichte vom Aufstieg und Fall großer Kulturen und Städte ist eine Begleiterscheinung der Geschichte: Die antiken Troer, Minoer und Römer könnten davon erzählen. Schicksalhaftes ereignete sich aber nicht nur am Mittelmeer. Auch an der Ostseeküste soll im 11. Jahrhundert eine der reichsten Städte Nordeuropas im Meer versunken sein. Das überliefert jedenfalls die Legende. Archäologen suchen noch heute nach Vineta, dem Atlantis der Ostsee. Der Untergang Vinetas lieferte über die Jahrhunderte Stoff für Spukgeschichten. Alfred Haas sammelte sie 1912 in den „Pommerschen Sagen“. Darin hielt der Volkskundler unter anderem fest, welche Mären er über die untergegangene Stadt finden konnte. Vineta, so erzählt eine der Legenden, soll noch immer am Meeres-
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grund sichtbar sein. Einmal im Jahr erscheine die Stadt sogar als „Schatten- oder Nebelbild“ über dem Wasserspiegel, und „die Leute in den umliegenden Dörfern sagen dann: Vineta wafelt!“ Um die Mittagsstunde des Johannistages, dem 24. Juni, sollen auch die Glocken Vinetas zu hören sein. Wer dem Ton lauscht, dem droht der Tod durch Ertrinken. Andere Sagen berichten erfindungsreich vom Luxus in der ehemaligen Handelsstadt. Demnach sollen die Häuser Vinetas kleinen Palästen geglichen haben, aus Marmor gebaut und mit vergoldeten Zinnen geschmückt. Die Hufe ihrer Pferde beschlugen die Vineter nicht mit Eisen, sondern mit Gold. Die Schweine fraßen aus güldenen Trögen. Brot, im Mittelalter Grundnahrungsmittel Nummer eins, missbrauchten die Mütter in Vineta dazu, ihre Säuglinge sauber zu wischen. Silberkugeln als Kindermurmeln, Taler als Wurfgeschosse, Goldpokale als Wassereimer – die Liste der Verschwendungssucht in Vineta ist nur durch die menschliche Fantasie begrenzt. Wie es scheint, erklärten sich die Bewohner der Ostseeküste im Mittelalter den Untergang Vinetas mit der Dekadenz ihrer Bewohner: Die Stadt soll in einem Strafgericht Gottes versunken sein – Sodom und Gomorrha in Pommern.
Eine Stadt aus alten Quellen Weniger schauerlich, aber ebenfalls sonderbar sind die Berichte über Vineta aus den zahlreichen mittelalterlichen Quellen, die für jene, die an die Existenz der Stadt glauben, das Alpha und Omega sind. Der früheste Hinweis auf eine reiche Stadt im Slawenland stammt von Bischof Rimbert, einem historisierenden Geistlichen des 9. Jahrhunderts. In seiner „Lebensgeschichte Ansgars“ schreibt Rimbert über eine Bande dänischer Wikinger, die die reiche Stadt Birka auf einer Insel im Mälarsee, Schweden, überfallen wollten. Als die Wikinger bemerkten, dass Birka schwer befestigt war, drehten sie ab und überlegten, welches lohnende Ziel sie nun stattdessen angreifen könnten. Rimbert schreibt: „Nochmals wurde gelost,
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wohin sie sich wenden sollten, und wo Schätze zu gewinnen seien, damit sie nicht, von falscher Hoffnung getäuscht, mit leeren Händen heimkehren müssten. Da fiel das Los, sie hätten zu einer weit entfernten Burg im Slawenland zu fahren.“ Der Coup gelang, die Stadt fiel und die Wikinger zogen mit fetter Beute ab. Ob es sich bei der namenlosen Stadt um Vineta handelte, ist eine Frage der Auslegung. Wem Rimberts Schrift zu nebulös erscheint, mag dem Chronisten Adam von Bremen glauben. Der Geistliche schrieb um 1075 eine Geschichte der hamburgischen Kirche und berichtet darin ausführlich über die Völker Grönlands, Islands und Skandinaviens. Für frühgeschichtliche Archäologen hat sich die Sorgfalt, mit der Adam von Bremen seine Recherchen betrieb, vielfach als segensreich erwiesen. So bestätigte Adams Bericht die Existenz der wiederentdeckten Wikingersiedlung Haithabu an der Schlei und ergänzte die archäologischen Funde durch detaillierte Beschreibungen von Handelskontakten, die die Stadt unter anderem mit Byzanz gepflegt haben soll. Über Vineta schreibt Adam: „Hinter den Liutizen [ein slawischer Stammesverband], die auch Wilzen heißen, trifft man auf die Oder, den reichsten Strom des Slawenlandes. Wo sie an ihrer Mündung ins Skythenmeer [ein damaliger Name für die Ostsee] fließt, da bietet die sehr berühmte Stadt Jumne für Barbaren und Griechen [griechisch-orthodoxe Christen] in weitem Umkreise einen viel besuchten Treffpunkt. Weil man sich zum Preise dieser Stadt allerlei Ungewöhnliches und kaum Glaubhaftes erzählt, halte ich es für wünschenswert, einige bemerkenswerte Nachrichten einzuschalten. Es ist wirklich die größte von allen Städten, die Europa birgt; in ihr wohnen Slawen und andere Stämme, Griechen und Barbaren. Auch die Fremden aus Sachsen haben gleiches Niederlassungsrecht erhalten, wenn sie auch während ihres Aufenthaltes ihr Christentum nicht öffentlich bekennen dürfen. Denn noch sind alle in heidnischem Irrglauben befangen; abgesehen davon wird man allerdings kaum ein Volk finden können, das in Lebensart und Gastfreiheit ehrenhafter und freundlicher ist. Die Stadt ist angefüllt mit Waren aller Völker des
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Nordens, nichts Begehrenswertes oder Seltenes fehlt. Hier steht ein ‚Vulkanstopf‘, die Einwohner sprechen von ‚griechischem Feuer‘ [...].“ Kein Wort von Vineta – und doch ein klarer Hinweis auf die Stadt. Die von Adam genannte Stadt Jumne ist auch in alten Urkunden belegt. Dort heißt sie Jumne oder Jumneta, in lateinischer Umschrift IVMNETA, aus dem sich nach Meinung einiger VinetaSucher der Name Vineta abgeleitet haben soll – ein Lesefehler, der von der Bewunderung für die reiche und schon damals legendäre Handelsstadt Venedig inspiriert gewesen sein mag. Noch im 16. Jahrhundert hält der Kanzlist Thomas Kantzow in Wolgast die Einwohner Venedigs für die Gründer Vinetas: „Und in der Zeit haben dieselbigen Venedes gepawet die Stat Vineta in Pomern […].“ Damit wehte ein Hauch warmer Mittelmeerluft an der Ostseeküste. Die Einwohner Jumnes mögen davon nichts gemerkt haben. Sie gingen in einer Sturmflut unter – so die Legende.
Untergang durch Gottes Zorn Wenn es Vineta gab – und darauf deuten seriöse Indizien hin – könnte es im Meer untergegangen sein. Unwahrscheinlich erscheint, dass die Stadt einen wirtschaftlichen Niedergang erlitt und allmählich bedeutungslos wurde. Eine solche Variante hätte sich vermutlich in schriftlichen Quellen niedergeschlagen, auch wären Überreste der Stadtanlage auffindbar, zwar nicht als Ruinen, aber doch als deutlich sichtbare Erhebungen im Gelände. Ein Beispiel für das Weiterleben einer ehemals reichen Siedlung liefert die Stadt Schleswig in Schleswig-Holstein. Der Ort liegt neben der ehemaligen Wikingermetropole Haithabu an der Schlei, einer der reichsten Handelsstädte Nordeuropas im frühen Mittelalter. Als Haithabu im 11. Jahrhundert verödete, nutzten die Nachfahren der Wikinger die hervorragende Lage des Ortes als Knotenpunkt zwischen Nord- und Ostsee und gründeten Schleswig in der Nachbarschaft der Wikingerstadt. Auch Vineta muss als ausgeprägtes Handelszentrum an einem besonders günstigen Verkehrspunkt
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gelegen haben, der den Land- mit dem Seehandel verband. Wäre die Stadt durch einen Brand zerstört oder durch eine Seuche entvölkert worden, die Nachkommen der Vineter hätten die günstige Lage zu nutzen gewusst und den Ort an derselben Stelle wieder aufgebaut. Davon hielt sie aber möglicherweise die Ostsee ab, die über dem untergegangenen Vineta schwappte. Dass schwere Sturmfluten die Ostseeküste bedrohen, zeigte sich zuletzt 1996, als das Meer in die Küstenorte brach und Schäden in Höhe von 6,6 Millionen Euro verursachte. Die vermutlich schwerste Katastrophe traf die Küste am 13. November 1872. Damals zeigte der Pegel von Warnemünde einen Wasserstand von 2,42 Metern und damit 1,60 Meter über dem Normalstand. Das Stadtgebiet von Eckernförde war tagelang mehrere Meter hoch überflutet, 78 Häuser wurden zerstört, 138 beschädigt und 112 Familien waren obdachlos. Das aufgewühlte Meer reißt nicht nur Menschen und Häuser mit sich, es trägt auch Land ab. In Mecklenburg-Vorpommern sind 70 Prozent des Küstenstreifens von Landverlust betroffen. Hier fallen jährlich zwischen 0,3 und 2 Metern Landfläche der daran nagenden Ostsee zum Opfer. Vineta mag durch diesen Prozess bereits geschrumpft gewesen sein, bevor es in einer großen Katastrophe untergegangen sein könnte. Aber es gibt noch eine andere Erklärung für das Verschwinden der reichen Handelsstadt: Krieg. Davon schrieb Helmold von Bosau, ein sächsischer Geistlicher, der 1170 in einer Chronik festhielt, ein dänischer König habe Vineta mit einer großen Flotte angegriffen und „bis auf die Grundmauern“ zerstört. An diesen Hinweis glaubt Klaus Goldmann, Leiter des Berliner Museums für Ur- und Frühgeschichte im Ruhestand. Nach dem Studium alter Karten und Chroniken entwickelte Goldmann die Theorie, Vineta sei Ziel eines Kreuzzuges geworden. Während im 12. Jahrhundert Ritter aus ganz Mitteleuropa Richtung Jerusalem aufbrachen, könnte es den nordischen Kreuzfahrern genügt haben, vor der eigenen Haustür zu kehren. Laut Goldmanns Theorie soll sich eine Flotte aus den bei Helmold von Bosau erwähnten Dänen gemeinsam mit den
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ebenfalls katholischen Sachsen, Polen und Böhmen auf den Weg gemacht haben, um gegen die Vineter zu kämpfen. Denn diese könnten Arianer oder griechisch-orthodoxe Christen gewesen sein. Das Kirchen-Schisma von 1054 hatte die römisch-katholische von der griechisch-orthodoxen Kirche getrennt. Wer kein Katholik war, galt fortan als Häretiker. Das Strafgericht Gottes wäre demnach tatsächlich über die Handelsstadt hereingebrochen, allerdings nicht durch Natur-, sondern Menschengewalt.
Der verirrte Geograf Vineta zu finden, ist heute Aufgabe von Wissenschaftlern und Hobbyforschern. Für die Wirtschaft entlang der Ostseeküste wäre die Entdeckung Vinetas gleichbedeutend mit einem Lottogewinn. Schon heute schmücken sich Unterkünfte in den Strandbädern mit dem Namen „Vineta-Hotel“, „Chalet Vineta“ oder „Residenz Vineta“, Restaurants bieten „Vinetafilets“ an. Im Heilbad Zinnowitz erleben Touristen das „Vineta-Osterspektakel“, bei dem eine Theatertruppe am Strand Sagen über Vineta nachstellt. Die untergegangene Insel aber bleibt ein Schemen – und kann dank der Ungewissheit von vielen gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Wer aber Vineta auf den Grund gehen will, liest noch einmal bei Adam von Bremen nach. Dem Geistlichen scheint die Geografie der Ostseeküste vertraut gewesen zu sein, er schreibt über die Lage Jumnes/Vinetas: „Hier zeigt sich Neptun in dreifacher Art, denn die Insel wird von drei Meeren umspült, eins davon soll von tiefgrünem Aussehen sein, das zweite weißlich; das dritte wogt ununterbrochen wildbewegt von Stürmen. Von dieser Stadt aus setzt man in kurzer Ruderfahrt nach der Stadt Demmin in der Peenemündung über, wo die Ranen [ein slawischer Stamm] wohnen. […] Die Reiseroute ist so beschaffen, dass man von Hamburg und der Elbe aus über Land in sieben Tagen die Stadt Jumne erreichen kann; für die Seereise muss man in Schleswig oder Oldenburg zu Schiff gehen, um nach Jumne zu gelangen. Von dieser Stadt aus kommt man in 14 Tagen Segelfahrt nach Nowgorod in Russland.“
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Die Angaben sind eindeutig, aber wer ihnen folgt, läuft in die Irre. Adam von Bremens Geografie war – wie im Mittelalter üblich – ungenau und stützte sich auf Beschreibungen von Kauffahrern. Ein Beispiel dafür ist die Verortung Demmins an der Peenemündung. Die alte Handelsstadt liegt jedoch im Landesinneren. Der Chronist hörte seinen Berichterstattern zwar genau zu, beging aber einen Verständnisfehler: Die Peene fließt durch Demmin und nimmt dort die Flüsse Tollense und Treibel auf. Diese beiden Flüsse münden in die Peene. Die Peenemündung selbst aber liegt über 50 Kilometer entfernt an der Ostsee. Leider sind solche Ungenauigkeiten keine Seltenheit in den sonst akkuraten Beschreibungen des Adam von Bremen. Die Odermündung, das Skythenmeer, die „kurze Ruderfahrt“ nach Demmin scheinen eher Ausschmückungen des Autors zu sein als tatsächliche Hinweise auf die Lage Vinetas. Doch von derlei Verwirrspiel lassen sich die Jäger der versunkenen Stadt nicht in die Irre führen. Während heute wohl jeder Ort entlang der Ostseeküste hofft, Vineta liege vor seinen Mauern, versuchen drei Städte, Beweise aufzutreiben und den jeweils anderen das Erbe des nordischen Atlantis streitig zu machen. Diese Kandidaten sind Barth, Usedom und Wollin.
Fundsache Wollin Mitten im Delta der Odermündung liegt die polnische Stadt Wollin. Hier ging im 19. Jahrhundert der Berliner Gelehrte Rudolf Virchow spazieren, einer der führenden Anatomen seiner Zeit und begeisterter Hobbyarchäologe. Virchow war berühmt für seine Streitlust, er hatte der Wissenschaft den ersten Fund eines Frühmenschen im Neandertal madiggemacht, indem er die Knochen für neuzeitlich erklärte, er war Abgeordneter in Berlin und Bismarck hatte ihn nach hitziger Debatte zum Duell gefordert. Ob Rudolf Virchow auf Wollin Entspannung suchte und die Seeluft genießen wollte oder auf der Suche nach Vineta war, ist nicht überliefert. Gewiss aber fiel dem Berliner an der Ostseeküste etwas Merkwürdiges auf.
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Virchow sah Erdwälle, die entlang des Oderarmes verliefen, und erkannte darin Überreste von Mauern. Binnen weniger Monate ließ der Berliner Ausgrabungen auf der Insel vornehmen, die zum ersten Mal die bewegte Vergangenheit des Ortes erahnen ließen. Schon die ersten Grabungsergebnisse, die Rudolf Virchow 1871 veröffentlichte, genügten dem Forscher, um von Wollin als einer einst reichen und mächtigen Stadt zu sprechen, in der bis zu 10 000 Menschen gelebt haben sollen. Virchow schlussfolgerte: „Vineta ist Wollin!“ Weder ist diese Aussage bis heute widerlegt noch bewiesen. Der Stettiner Archäologe Władisław Filipowiak führte die Ausgrabungen ab Mitte des 20. Jahrhunderts weiter. Dabei tauchten im Schlick der Ostsee Hafenanlagen und Reste eines Handwerksviertels auf – Hinweise auf Handel, vielleicht auf Vineta. Kritiker murrten, dass der Handel auf der Wolliner Insel schon immer von Bedeutung war. Tatsächlich reichen die ältesten Siedlungsspuren bis in die Jungsteinzeit zurück. Schon damals wussten die ersten Bauern die günstige Übergangsstelle zwischen der Insel und dem Festland als Siedlungsgebiet zu schätzen. Im Boden Wollins ist noch viel davon zu finden. Filipowiak verzeichnete insgesamt 20 Siedlungsschichten. Darin fand der Archäologe die Überreste von aufgegebenen, eingestürzten oder niedergebrannten Häusern mit allen Überresten menschlichen Daseins. Das Wort Vineta oder Jumne fand er nicht. Dass sich die Stadt hinter dem alten Namen Wollins, „Julin“, verbirgt, ist unbewiesene Theorie. Reichtum war auch den Vorfahren der Wolliner ein Begriff. Unter den Werkzeugen der Archäologen kamen 15 Silberschätze zum Vorschein, einer davon mit einem Gewicht von elf Kilogramm. Adam von Bremen beschrieb Vineta als „angefüllt mit Waren“. Auch in Wollin waren einst exotische Handelswaren und Luxusgüter an der Tagesordnung: Seide aus Ostasien, Glasperlen aus Syrien und Ägypten, mit Gold und Silber überzogene Schüsseln, Waffen und Wolle aus Skandinavien, Bronzekessel aus dem Rheinland, Seeschnecken aus den Tropen, Schmuck aus dem Baltikum und
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der Ukraine, Brokat aus Byzanz und ein Halsschmuck aus Indien. Der Handel an der Ostseeküste hatte das Wollin des 9. bis 11. Jahrhunderts reich gemacht. Danach versank die Stadt, nicht im Meer, aber in der Bedeutungslosigkeit. Als das pommersche Fürstengeschlecht im 11. Jahrhundert nicht Wollin, sondern Kamień Pomorski zur Residenz erkor, und Wollin 1176 überdies noch seine Rolle als Bischofssitz verlor, begann der Niedergang. Däneneinfälle entlang der Ostseeküste unter König Waldemar I. trafen auch Wollin hart. 1170 wurde das unbefestigte Fischereiviertel zerstört, das Handwerksviertel ging in Flammen auf und wurde geplündert. Die Stadt war so geschwächt, dass kurz darauf auch das Zentrum Angriffen zum Opfer fiel. Zwar existierte die Stadt weiter, aber zu mehr als regionaler Bedeutung konnte sie sich nie wieder aufschwingen. Wie die Vinetasage mit diesem Niedergang in Einklang zu bringen sein könnte, dafür haben die Historiker Ingrid und Werner Lange eine Erklärung: „Es war freilich eher der längst begonnene wirtschaftliche Verfall Wollins, der den Slawenchronisten Helmold von Bosau verwirrte und ihn vergebens die Stadt suchen ließ, die Adam [von Bremen] rühmte. Daher ließ er sie kurzerhand in den Fluten der Historie enden.“
Fundsache Usedom Vielleicht hatte Adam von Bremen doch recht. Der Kirchenmann berichtete der Nachwelt, Vineta habe in der Odermündung gelegen. Dort ist heute nicht nur Wollin zu finden, sondern, in westlicher Nachbarschaft, auch die Insel Usedom. Schon im 16. Jahrhundert glaubten die Insulaner, vor Usedom die Ruinen Vinetas auf dem Meeresboden gesehen zu haben. Handfeste Funde dafür fehlen jedoch. Die Usedomtheorie stützt sich auf einen Steinhaufen im Wasser und die darauf gewachsenen Fantasiepaläste der Romantik. Der Historiker Friedrich Wilhelm Gadebusch war der erste bekannte Heimatkundler Usedoms und schrieb 1863 eine Chronik
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Im Kartenwerk des Orthelius aus dem 16. Jahrhundert liegt Vineta an der Ostseeküste. der Insel. Darin hielt er fest, dass Vineta vor Usedom gelegen haben muss. Als Beleg führte Gadebusch das sogenannte Vinetariff an. Dessen Steine waren bei Koserow auf Usedom aus dem Meer geholt worden, um in den Molen bei Swinemünde verbaut zu werden, ein auf den steinarmen Inseln der Ostseeküste seit Jahrhunderten übliches Verfahren. Dieses Mal aber hatten die Steinfischer einen ungewöhnlichen Fang gemacht. Wie Friedrich Wilhelm Gadebusch entdeckte, wiesen die Felsen von Koserow Spuren menschlicher Bearbeitung auf. Zwar gibt es für dieses Phänomen mehr als eine Erklärung, doch Gadebusch witterte Vineta vor der Usedomer Küste. Der Heimatkundler studierte die Karten der Odermündung und bemerkte, dass eine der mittelalterlichen Beschreibungen genau auf die Geografie Damerows passte, eines Dorfes an der nordwestlichen Spitze Usedoms. Adam von Bremen hatte geschrieben, Vineta sei von drei Meeren umspült gewesen. Für Friedrich Wilhelm Gadebusch passte diese Beschreibung auf die Landzunge bei Damerow, die auf der einen Seite stets Wind und Seegang erlebte, auf der anderen ruhige See und im Süden von „grünem Achterwasser“ begrenzt war. Wer trotz dieser Hinweise noch immer Wollin für Vineta hielt, dem zeigte Gadebusch auf der Landkarte, dass Wollin gar nicht am Meer lag, sondern vier Meilen im Landesinneren an einem Fluss. Wenn Adam von Bremen die Wahrheit geschrieben hatte, musste auch Friedrich Wilhelm Gadebusch recht haben. Anerkennung fand die Hypothese des Heimatforschers zwar nicht bei den Kollegen der Wissenschaft, die eher an die Ausgra-
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bungsergebnisse auf Wollin glaubten, dafür aber bei der Usedomer Bevölkerung und bei den Dichtern und Komponisten jener Zeit. Heinrich Heine, Wilhelm Müller, Ferdinand Freiligrath, Selma Lagerlöf, Gerhart Hauptmann und Theodor Fontane schrieben Romantisch-Schauerliches über die versunkene Stadt vor Usedom. Johannes Brahms fühlte sich von der Sage zu einer Komposition inspiriert und beschwor Vineta mit einem sechsstimmigen Choral herauf. Archäologische Entdeckungen vor Usedom aber lassen bis heute auf sich warten.
Fundsache Barth Lanzenspitzen, Keramik, Spinnwirtel, Armbrustbolzen, Pferdetrensen und Tierknochen – was auf Usedom an archäologischen Hinweisen fehlt, das hat Barth. Die Stadt westlich von Stralsund und südwestlich von Rügen ist Vineta, daran glaubt jedenfalls Klaus Goldmann. Der Berliner Frühgeschichtler erkennt in den mittelalterlichen Siedlungsabfällen Reste eines einst umtriebigen Handelsplatzes. Solche Funde gibt es zwar auch in Wollin, Barth aber hat nach Meinung Goldmanns ein entscheidendes historisches Argument in der Vinetadebatte. Die heutige Stadt Barth liegt in der Nähe eines trocken gefallenen Oderarmes, der im Mittelalter ins Meer gemündet war. Auf Satellitenbildern ist dieser Arm westlich von Barth noch zu erkennen. Klaus Goldmann glaubt, in der alten Odermündung eben jenen Ort gefunden zu haben, den Adam von Bremen nennt, als er die Lage Vinetas beschreibt. Wem das als Beweis nicht genügt, dem präsentiert Goldmann Indizien in den alten Ortsnamen der Region. Allen voran steht Jumne, der vermutlich echte Name Vinetas. Klaus Goldmann hält es für möglich, dass hinter diesem Namen ein Schreibfehler steckt, die kleine, aber weitreichende Ungenauigkeit, die einem Kopisten in einer Schreibstube des Mittelalters unterlaufen ist – das Schreckgespenst jedes Historikers und dennoch eine Möglichkeit, die Wahrheit zu finden. Goldmann vermutet, dass der ursprüngliche Name nicht „Jumne“, sondern „Imne“ ge-
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lautet haben könnte. Dieses alt- oder mittelhochdeutsche Wort bedeutete einst Bienenkorb, ist noch heute im Imker wiederzufinden – und in Barth. Der heutige Name der Stadt bedeutet im Wendischen ebenfalls Biene. Klaus Goldmann hält es für möglich, dass die Region zwischen Barth und Stralsund einst ein blühendes Imkerparadies war und der Honig die Gegend so reich machte, dass er ihrer Handelsmetropole den Namen gab. Auch Klaus Goldmanns Theorien fanden seit den 1990er-Jahren so viele Kritiker wie Anhänger. Besonders begeistert von der Idee des Berliners ist die Stadtverwaltung Barths, sie hat „Vineta“ beim Patent- und Markenamt als Markennamen registrieren lassen.
Leuchtfeuer der Ostsee Oder oder Peene, Küste oder Landesinneres – der Text Adams von Bremen hat die Vinetaforschung auf eine Odyssee entlang der Ostseeküste geschickt. Aber bei allen Ungenauigkeiten enthält Adams Beschreibung von Vineta dennoch eine erhellende Passage. Adam schreibt über die Stadt, die er vermutlich nie selbst gesehen hat: „Hier steht ein ‚Vulkanstopf‘, die Einwohner sprechen von ‚griechischem Feuer‘ [...]“. Wer den Chronisten beim Wort nimmt, stößt auf eine Wunderwaffe des frühen Mittelalters. Das griechische Feuer war ein Kampfmittel, das vor allem im Seekrieg eingesetzt wurde, ein Brandsatz, den Wurfmaschinen auf gegnerische Schiffe schleuderten und der diese in Flammen aufgehen ließ. Die Zusammensetzung der Brandmasse ist bis heute nicht bekannt, es könnte sich um eine Mischung aus Erdöl, Kalk und Schwefel gehandelt haben, in jedem Fall eine Substanz, die sich mit Wasser nicht löschen ließ und die bei den Gegnern verheerende Wirkung hatte. In der Geschichtsschreibung taucht das griechische Feuer erstmals bei der Verteidigung Konstantinopels gegen die Araber (674 bis 678) auf. Demnach könnte auch Vineta gegen Angriffe mit dem griechischen Feuer gewappnet gewesen sein, das Wissen um die Brandwaffe mag mit Handelswaren aus
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dem Mittelmeerraum an die Ostsee gelangt sein. Die meisten Forscher aber erkennen in dem „Vulkanstopf“ des Adam von Bremen etwas viel Friedlicheres. Ein Leuchtfeuer könnte im Mittelalter vor Vineta gebrannt haben, eines jener Zeichen für die Schifffahrt, deren Nachfahre heute der Leuchtturm ist. Darauf deutet der Beiname „griechisch“ hin, der im Mittelalter gleichbedeutend mit „byzantinisch“ war. Damit lässt sich zum einen der Bogen zum gefürchteten Brandsatz schlagen, zum anderen aber nannten die Menschen des Mittelalters eine neue Art von Navigationshilfe entlang der Küste „byzantinische Leuchtfeuer“. Der Grund mag darin zu suchen sein, dass auch für die Küstenlichter jene von den Byzantinern entwickelte Mischung Brennmaterial verwendet wurde, die selbst bei Regen nicht verlosch. Vinetas Vulkanstopf erhellt ein dunkles Kapitel europäischer Schifffahrtsgeschichte. Bislang ist nicht bekannt, ob und wie die Menschen entlang der Küste Schiffe vor Gefahr warnten. Zwar brannte das erste Leuchtfeuer bereits im 3. Jahrhundert n. Chr. in einem eigens dafür errichteten Turm, doch stand der in Alexandria am Nildelta. Mit welcher Technik die Menschen Licht an die Ränder Nordeuropas brachten, ist nicht bekannt. Erwähnt sind Steinkohlefeuer und Laternen, die in Kirchtürmen aufgehängt wurden, doch stammen Notizen darüber aus Gemeindechroniken des 16. Jahrhunderts. Hatte an der Ostseeküste bis dahin Finsternis geherrscht? Einer, der im Vulkanstopf des Adam von Bremen ein Leuchtfeuer erblickte, war Władisław Filipowiak. Der Archäologe, der seit den 1950er-Jahren die Ausgrabungen auf Wollin leitete, suchte während der Dauer der Arbeiten auf der Insel immer wieder nach Spuren eines Leuchtfeuers. Die Lage für einen solchen Wegweiser wäre bei Wollin günstig gewesen. Oderabwärts segelnden Schiffen hätte das Feuer den Weg nach Kamień Pomorski, Wollin und Usedom gewiesen, auch die Peenemündung hätte es anzeigen können. Als Warnsignal wäre der Vulkanstopf wichtig gewesen, um Seeleute, die von der Dunkelheit überrascht wurden, vor den Untiefen
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des Oderhaffs zu warnen. Filipowiak glaubte daran, dass es einen Ort in der Nähe Wollins gab, an dem ein einziges Leuchtfeuer viele dieser Aufgaben gleichzeitig habe erfüllen können. Gemeinsam mit Seeleuten studierte der Archäologe alte und moderne Landkarten. Schließlich waren sich die Beteiligten einig, dass nur eine Stelle südlich des Wolliner Galgenbergs für ein solches Leuchtfeuer infrage gekommen sein konnte. Tatsächlich fanden die Ausgräber Brandspuren am Galgenberg. Die Anhäufungen von Holzkohle waren so immens, dass Filipowiak zunächst glaubte, den Vulkanstopf des Adam von Bremen gefunden zu haben. Als der Forscher aber das Gelände großflächig freilegte, stellte sich heraus, dass am Galgenberg eine Begräbnisstätte der Bronzezeit gelegen hatte. Bis heute sind dort 34 Gräber entdeckt worden, allesamt Feuerbestattungen, von denen die großen Holzkohlemengen herrühren. Adams Vulkanstopf und damit der möglicherweise einzige Hinweis auf Vineta bleibt vorerst verschwunden.
Raubgrabung in Keltenstädten Unter dem Humus des Hochtaunus liegt einer der größten Schätze der deutschen Archäologie – so groß, dass er bis heute nicht gehoben werden konnte. So viel ist bekannt: Nur wenige Kilometer nordwestlich von Frankfurt am Main erstreckte sich vor etwa 2000 Jahren eine Siedlung der Kelten, die den wirtschaftlichen Nabel ihrer Zeit darstellte. Dieser eisenzeitliche Vorläufer der Bankenmetropole gilt heute als größtes Bodendenkmal Hessens. In der Eisenzeit lockte der Ort mehrere Tausend Menschen zu den beiden Bergkuppen, zwischen denen er lag. Heute sind es nur noch einige Dutzend, die zu dem sogenannten Heidetränk-Oppidum pilgern – um es zu zerstören. Die unterirdische Keltenstadt war bis vor wenigen Jahren Deutschlands größter Anziehungspunkt für Raubgräber. Hier ereignete sich ein Diebstahl, der 15 Jahre dauerte. Seit den 1970er-
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Jahren suchten Sammler das Gelände systematisch mit Metalldetektoren ab. Sie kamen zwischen Frühjahr und Spätherbst, wenn Büsche und Bäume genügend Laub trugen, um zu verbergen, was sich zwischen Oberursel und dem Taunuskamm abspielte: das Abtasten des Bodens nach Metallobjekten und das Ausbuddeln der Funde ohne wissenschaftliche Dokumentation. Der Erfolg war enorm. Im Heidetränk-Oppidum wurden so viele keltische Goldmünzen gefunden, dass zeitweise die Goldpreise auf dem internationalen Markt von der Goldschwemme berührt wurden und fielen. Aber diese Tage sind gezählt. Heute ist das Oppidum ausgeweidet von Schatzsuchern, ein Kadaver der Archäologie. Ohnmächtig mussten Archäologen und Polizei mit ansehen, wie das Oppidum von Schatzgräbern nach und nach zerstört wurde und sich der Wald, in dem es liegt, durch systematische Raubgrabungen in eine Kraterlandschaft verwandelte. „Das ist ein Raubgräbersumpf, den gilt es, auszuheben,“ sagt Eckhard Laufer, Kriminalist und Archäologe in einer Person. Laufer arbeitet als ehrenamtlicher Kreisarchäologe im Hochtaunuskreis und koordiniert als Polizeioberkommissar den Kulturgüterschutz beim Hessischen Landeskriminalamt. Die Kraterlandschaft auf der ehemaligen keltischen Siedlung beobachtet Laufer seit Jahren. Seiner Einschätzung nach ist das Heidetränk-Oppidum bereits von Raubgräbern abgeräumt: „Bekannte Sondengänger haben dort über Jahrzehnte etwa 1000 bis 3000 Fundstücke geborgen.“ Diese Fundmenge rechnet Laufer pro Person. Nach Informationen, die der Kriminalist bei der archäologischen Denkmalpflege sammeln konnte, waren über die Jahre etwa 20 bis 30 Sondengänger mit dem Ausräumen des Oppidums beschäftigt. „Dann ergibt sich eine Fundmenge von circa 20 000 bis 60 000 Funden“, so Laufer. Dass diese Zahl realistisch ist, zeigt der Vergleich mit den Grabungsergebnissen des keltischen Oppidums von Manching bei Ingolstadt, wo Archäologen eine vergleichbare Zahl von Artefakten bergen konnten. Von den Grabungsbedingungen in Bayern aber können die Hessen nur träumen. Für die Untersuchung des HeidetränkOppidums fehlt seit Jahren das Geld. Um die 130 Hektar große
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Unter diesem Waldboden liegt eine der größten Fundstätten keltischer Kultur in Deutschland. Das Areal ist bis heute weder ausgegraben noch gesichert und wird von Sondengängern geplündert.
Fläche im Hochtaunus wissenschaftlich untersuchen zu können, bräuchte das zuständige Amt für Bodendenkmalpflege 25 Jahre und etwa 100 Millionen Euro, die Kosten für die Restaurierung der Funde und für Publikationen nicht eingerechnet. Solange eine Finanzierung dieses Ausmaßes ein Traum bleiben muss, behelfen sich die hessischen Wissenschaftler mit kleinen Notgrabungen, um zu retten, was noch zu retten ist.
Lottogewinn unter Grasnarbe Geld spielt für die Schatzsucher die größte Rolle. Viele hoffen auf den großen Fund, doch der Jackpot der Raubarchäologie lässt auf sich warten. Eckhard Laufer schätzt, dass ein Sondengänger „schon mal ein Steinbeil für 150 Euro verkaufen kann, höher liegt das meist nicht.“ Aber auch viele kleine Funde machen den Kohl fett. Peter Haupt, Dozent für Vor- und Frühgeschichte an der Universität Mainz, beobachtete dreißig Tage lang den Handel mit archäo-
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logischen Kulturgütern im Internet-Auktionshaus eBay. Haupt errechnete, dass ein eifriger Sondengänger monatlich bis zu 2000 Euro Verdienst erwirtschaften kann – steuerfrei. Wer nicht weiß, wo man nach Schätzen sucht, kann es aus der Boulevardpresse erfahren. Die Tageszeitung „Bild“ veröffentlichte am 25. Mai 2005 eine „Schatzkarte Deutschland“ und zeigte, „wo die schönsten und wertvollsten Schätze auf einen Finder warten“. Das Blatt machte Lust auf „Söldner-Geld“ der Römer in „alten Bauernstellen“, auf „versunkenes Briten-Gold“ an der Nordseeküste, auf Kleinsilber in Wüstungen oder auf „Goldschüsseln“ in keltischen Siedlungen. Zwar ergänzte „Bild“ den Artikel mit einem Hinweis auf Denkmalschutzgesetze, aber für Eckhard Laufer „ist das fadenscheinig. Die Lust auf Schatzsuche wird geweckt“. Zu den berüchtigtsten Fällen der Szene gehört der Verkauf eines goldenen Kegels aus der Bronzezeit an das Museum für Vorund Frühgeschichte in Berlin 1996. Damaliger Preis: 1,5 Millionen Mark. Schatzsucher hatten das Objekt, von dessen Art nur vier Exemplare bekannt sind, vermutlich in Süddeutschland entdeckt. Als ein Kunsthändler dem Museumsdirektor Wilfried Menghin das Stück zum Kauf anbot, war über die Herkunft des Kegels nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als dass es aus dem Privatbesitz eines Schweizer Sammlers stammen sollte. Menghin griff zu, zum Ärger einiger Kollegen. „Solche Praktiken sind zu rügen, weil damit illegale Machenschaften interessant werden,“ meint Jörg Biel, ehemaliger Landesarchäologe in Baden-Württemberg. Biel vertritt eine harte Linie gegenüber Sondengängern. Was an geschichtsträchtigem Kulturgut im Boden steckt, gehört in Baden-Württemberg ausnahmslos dem Land und, so Biel, „ins Schatzregal. Finder, die in die eigene Tasche wirtschaften, begehen ein Eigentumsdelikt“. Im Klartext: Diebstahl, Unterschlagung und Hehlerei. Haben Sondengänger keine Angst vor Konsequenzen? Die Strafen sind milde. Einige Hundert bis Tausend Euro müssen Raubgräber bezahlen, wenn sie erwischt, angezeigt und verurteilt werden. Eckhard Laufer winkt ab. Seiner Meinung nach „bezahlen die das aus der Portokasse. In der Szene gilt zudem jeder
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als Held, der schon einmal verurteilt wurde“. Um Strafen zu entgehen, verschieben die Entdecker wertvoller Artefakte ihre Funde von einem Bundesland ins nächste, wie vermutlich im Fall des Berliner Goldkegels. Denn: Was in Baden-Württemberg als Eigentumsdelikt gilt, ist in Nordrhein-Westfalen nur eine Ordnungswidrigkeit. Die Denkmalpflege und ihre Gesetzgebung unterliegen der Kulturhoheit der Länder – „und da hat jede Regierung ihre eigenen Bedürfnisse“, sagt Detlef Jantzen, Landesarchäologe in Mecklenburg-Vorpommern. Das gilt nicht nur für die Bestrafung überführter Raubgräber. Auch die Sondengänger genießen in MecklenburgVorpommern einen anderen Status als in Baden-Württemberg. Statt als Zerstörer werden sie oft als Retter in der Not gesehen.
Ehrenamt ist Ehrensache Eine Mannschaft von 300 ehrenamtlichen Helfern steht Detlef Jantzen zur Verfügung, um Schätze zu suchen, darunter sind viele Sondengänger. „Ohne diese Menschen wären viele archäologische Funde verloren“, sagt der Dezernent aus Neutstrelitz. Verkehrte Welt? Nicht in Mecklenburg-Vorpommern. Detlef Jantzen erkennt bei vielen Sondengängern großes Interesse an der Vergangenheit und bietet legale Wege an, Lust auf Historisches zu befriedigen. Wer ehrenamtlich für die Archäologie arbeiten will, den kann Jantzen zum Beauftragten des Landes ernennen. Dann geht es los auf Schatzsuche – ganz offiziell. Raubgräber mit Sheriffstern? Der Mecklenburger Landesarchäologe schüttelt den Kopf. „Unsere Ehrenamtlichen gehen das Gelände ab und melden Auffälligkeiten“, sagt Jantzen. Das kann eine Erhebung im Gelände sein – vielleicht der Rest eines Grabhügels – oder eine Keramikscherbe auf frisch gepflügtem Feld, die auf Siedlungsreste im Untergrund schließen lässt. „Mit diesen Hinweisen ergänzen wir unsere Verbreitungskarten. Meldet jemand ein Bauvorhaben an und wir haben den Verdacht, dass die Baumaßnahme ein Bodendenkmal gefährden könnte, schalten wir uns ein und unternehmen eine Probegrabung. Ohne begründeten Ver-
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dacht geht das jedoch nicht. Je mehr wir also über Streufunde in der Umgebung erfahren, desto mehr Bodendenkmäler können wir retten, bevor der Bagger kommt.“ Die Erfolgsquote ist hoch. Jantzen schätzt, dass Ehrenamtliche jährlich 2000 Funde allein in Mecklenburg-Vorpommern melden. Einige berühmte Entdeckungen gehen auf das Konto der Auxiliartruppen im Namen der Archäologie. Es waren Ehrenamtliche, die das Grab des Keltenfürsten von Hochdorf entdeckten und Amateurforscher, die im belgischen Veldwezelt das Jägerlager einer Neandertalersippe fanden. Eckhard Laufer räumt ein: „Ohne die Arbeit von ehrenamtlichen Helfern wären die Denkmalämter aufgeschmissen.“ Aber für ihn hat die Medaille eine Kehrseite. „In vielen Fällen lassen sich illegale Sondengänger einen Ausweis ausstellen und nehmen an Fortbildungen teil, die ihnen die Ämter finanzieren, nur um dann trotzdem in die eigene Tasche zu wirtschaften – aber unter dem Deckmantel der Denkmalpflege.“
Herkunft unbekannt – Kulturgut außer Kontrolle Für Denkmalpfleger und Polizei sind vor allem Metallsuchgeräte rote Tücher. Die Preise der Detektoren sprechen für sich. Ab 130 Euro geht ein Gerät über den Ladentisch. Apparate dieser Kategorie eignen sich nach dem Reklametext eines Händlers „für Ihre Kinder, für den Urlaub oder, um auszuprobieren“. Wer mehr will, kann bis zu 600 Euro für einen Luxusdetektor mit „größerer Eindringtiefe“ ausgeben. „Solche Preise zahlt niemand, der nicht hofft, wenigstens einen Teil des Geldes wieder rauszubekommen“, meint Eckhard Laufer. Der Kriminalbeamte wünscht sich, dass der freie Verkauf von Metalldetektoren verboten wird. „Wie bei Schreckschusspistolen,“ erinnert sich Laufer, „die auch erst verboten wurden, nachdem man merkte, dass sie Schaden anrichteten“. Doch gegen ein grundsätzliches Verbot wehren sich nicht nur die Sondengänger, sondern auch die Händler. Die Landesarchäologen schätzen, dass etwa 90 Prozent aller in Deutschland gehandelten archäologischen Stücke aus illegalen
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Quellen stammen. Jürgen Stock, Vizepräsident des Bundeskriminalamts, zählt Raubgraben und Sondengängertum bereits zum organisierten Verbrechen. Stock in einem Interview für das ZDFMagazin „Frontal 21“: „Dafür gibt es immer wieder Hinweise, beispielsweise die Schmuggelwege, auf denen auch Rauschgift und Waffen transportiert werden, auf denen Menschenhandel stattfindet. Das heißt, es gibt schon Hinweise, dass wir es zum Teil mit Strukturen der organisierten Kriminalität zu tun haben.“ „Diese Vorwürfe sind maßlos übertrieben,“ sagt Hans-Martin Schmitz, Vorstandssprecher des rheinischen Kunsthandels und Mitglied im Bundesverband des deutschen Kunst- und Antiquitätenhandels. „Solche Zahlen kann niemand belegen. Archäologen gehen ihren Interessen mit großem Eifer nach. Wenn man den Gerüchten der Kunsthandelsgegner glaubt, folgt der Handel mit Kulturgütern in der Häufigkeit gleich nach dem Drogenhandel. Es gibt aber keine Statistiken für so etwas.“ Tatsächlich führt keine Behörde ein Register für illegal gehandelte Funde aus Bodendenkmälern. Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden sammelt Fälle gestohlener Antiquitäten, Kunstobjekte und sakraler Gegenstände gemeinsam unter dem Stichwort „Kunstraub“. 140 000 Fahndungen zählen die Beamten zurzeit, davon gehören 53 000 zum Bereich Kunst und Antiquitäten. Die Hälfte dieser Fälle sind international. Während in Deutschland die Sondengänger nach Einschätzung der Kriminalpolizei noch nicht als organisierte Gruppe arbeiten, sind die Verhältnisse im internationalen Kunsthandel dramatischer. Zwar lassen sich auch auf internationalem Parkett geraubte Artefakte wegen hoher Dunkelziffer nicht zusammenzählen, aber die Folgen des illegalen Antikenhandels werden sichtbar. Nach einer Studie der UNESCO sind in den vergangenen Jahren besonders Mali, Bangladesch und Samoa Ziele für Kunsträuber gewesen. In den Museen dort, so das BKA in Wiesbaden, herrsche gähnende Leere, weil keine Ausstellungsstücke aufzutreiben seien. Auch aus dem Mittelmeerraum fließt ein steter Strom illegal gehandelter antiker Kunst nach Europa. Hauptumschlagplatz ist die Schweiz.
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Das Alpenland steht in der Liste der Hehlerparadiese weltweit an vierter Stelle. Auf der Konferenz „Illegale Archäologie“, die in Berlin stattfand, erklärte Andrea Rascher vom Schweizer Bundesamt für Kultur: „Die Schweiz hat schwache Gesetze, was Kulturgüter angeht. Ein gestohlener Picasso wird gleich behandelt wie ein gestohlenes Fahrrad. Es ist heute einfacher, eine griechische Vase einzuführen als ein Kilo Tomaten.“ Dabei zählen nur kapitale Stücke. Güter mit zweifelhafter Herkunft landen bei Einfuhr im Schweizer Zollfreilager. Wenn sich der Besitzer nicht meldet, liegen sie dort fünf Jahre, danach gilt die Angelegenheit als verjährt. Ein Käufer, der sich nun für das Stück interessiert, kann es problemlos erwerben. Detlef Jantzen aus Neustrelitz rechnet eins und eins zusammen: „Die Käufer müssen die Lagerkosten von fünf Jahren tragen. Da muss sich der Kauf schon lohnen. Objekte mit geringem Wert werden auf diesem Wege bestimmt nicht verschoben.“ Jantzen kennt weitere Umschlagplätze für geraubte Artefakte. Er nennt Belgien, die USA und das Baltikum als Drehscheiben des illegalen Kunsthandels. „Dass aus den baltischen Staaten viel importiert wird, wissen wir nur, weil der schwedische Zoll so gut arbeitet und viel abfängt,“ sagt der Archäologe. In Deutschland gelten Frankfurt am Main und München als Hauptumschlagplätze für gestohlene Kulturgüter. Bislang liegt es in der Verantwortung der Händler, verdächtige Objekte abzulehnen. „Due diligence“ heißt das im Fachjargon – angemessene Sorgfalt bei der Prüfung eines Objekts. Dieser Selbstkontrolle der Händler misstrauen jedoch Polizei und Archäologen. Das Kulturgütertransfergesetz, seit dem 1. Juni 2005 in der Schweiz rechtskräftig, soll Abhilfe schaffen und beide Interessengruppen zusammenführen. Kauft dann ein Händler in der Schweiz ein Stück, das in Italien als gestohlenes Objekt gemeldet ist, kann das vermeintliche Schnäppchen teuer werden: Das Ursprungsland hat dann das Recht, das unrechtmäßig außer Landes gebrachte Kulturgut zurückzufordern. In so einem Fall geht der Händler leer aus. Hans-Martin Schmitz: „Natürlich lässt sich die Prüfung eines Ob-
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jekts nur ab einer gewissen Dimension durchführen, beispielsweise für eine Marmorplastik. Aber wir können nicht dem Weg jedes Öllämpchens nachgehen.“ Während sich die Grabstätten der römischen Legionäre, der keltischen Krieger und der germanischen Fürsten weiter in Krater verwandeln, löst sich Geschichte ungehindert in Wohlgefallen auf. Es gibt keine deutsche Fachbehörde für Raubgrabungen, und eine Anpassung der Landesgesetze ist auch nicht in Sicht. Detlef Jantzen: „Wir werden noch lange damit leben müssen. Aber wir tauschen uns aus.“ Zunächst werden die Löcher im Boden bleiben, „die Hoffnung aber“, ergänzt Eckhard Laufer, „stirbt zuletzt.“
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Die größten Gedanken der Menschheit sind auf dünnem Papier festgehalten. Feinde hat das Material viele: Wasser, Feuer, Luft und der Mensch selbst vernichten täglich Papier tonnenweise. Kein Wunder also, dass heute 90 Prozent der Texte des Altertums als verloren gelten. Die erhaltenen sind Schätze: die Philosophie des Aristoteles, die Physik des Thales, die Schriften des Cicero über Rhetorik. Schon vor unserer Zeitrechnung berechneten die Griechen den Erdumfang und die Maya das Ende der Welt. Welche Geistesblitze sind mit den alten Papyri verbrannt?
Die Bücher der Maya Die Welt endet am 21. 12. 2012. Das sollen jedenfalls die Maya gewusst haben, jenes rätselhafte Volk des alten Amerika, das große Städte in den Dschungel Yucatáns pflanzte. An die Apokalypse der Maya glauben heute auch die Menschen der Industrienationen. Ob zu Recht oder nicht – das Phänomen zeigt, dass das Wissen untergegangener Kulturen heute hoch im Kurs steht. Umso tragischer, dass ausgerechnet die Vorfahren der Europäer dafür gesorgt haben, diesen Kenntnisschatz zu vernichten: Als die Spanier im 16. Jahrhundert Yucatán eroberten, entdeckte ein christ-
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licher Missionar in den Mayastädten ganze Bibliotheken und warf Bücher voll jahrtausendealtem Wissen mit Feuereifer auf den Scheiterhaufen. Von vielen Hundert Werken haben vier überdauert. Mit diesen Bruchteilen versuchen Sprachforscher den Code der Maya zu knacken, um das Wissen einer ganzen Kultur zu rekonstruieren. Yucatán war für die Spanier eine Schatztruhe, die weit offenstand. Gemeinsam mit den Portugiesen hatte die spanische Krone im Vertrag von Tordesillas 1494 Amerika in Interessengebiete aufgeteilt, de facto war damit ausgeschlossen, dass sich die beiden Seefahrernationen beim Plündern der Neuen Welt in die Quere kamen. In aller Ruhe erkundeten die Konquistadoren die Regenwälder auf der Suche nach Gold und Heiden. Zunächst erstickten spanische Soldaten die Widerstände der einheimischen Bevölkerung mit überlegener europäischer Waffentechnik, dann kamen die spanischen Missionare, um unter den Besiegten das Christentum zu verbreiten. Eine der berüchtigtsten Figuren der mexikanischen Missionsgeschichte war Diego de Landa. Der Geistliche sah in der gesamten Kultur der Maya Teufelswerk, das es zu vernichten galt. Landa brachte nicht nur das Christentum, sondern auch seine schlimmsten Auswüchse, die Inquisition und Kulturvernichtung, mit nach Lateinamerika. Dem wütenden Priester fielen Menschen und Bücher zum Opfer, die er in den größeren Mayastädten fand. Landa schrieb: „Wir fanden eine große Zahl Bücher, und da sie nichts enthielten, in dem nicht Aberglaube und Lügen des Teufels zu sehen waren, verbrannten wir sie alle, was sie [die Maya] in erstaunlichem Maße bedauerten und was ihnen viel Kummer bereitete.“ Landa und seine Schergen jagten nicht nur die Dokumente der Mayakultur, sie vernichteten auch ihre Urheber. Unter der Führung des Bischofs war es den Ureinwohnern verboten, weiterhin in der Hieroglyphenschrift der Vorfahren zu schreiben. Wer dennoch die Bilder der Vergangenheit zu Papier brachte, wurde schwer bestraft. Heute glauben Altamerikanisten, dass das Schreibverbot dazu
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führte, dass bereits zwei Generationen nach Landa kein Maya mehr die alten Texte lesen oder schreiben konnte. Das Wissen der Vergangenheit war verloren. Diego de Landa hatte als einer der ersten Bischöfe Lateinamerikas fast unumschränkte Macht über die Menschen in seiner Diözese. Die Kardinäle und der Papst waren weit, Landa muss sich in Sicherheit gewähnt haben. Dennoch kamen seine Greueltaten den Kirchenvätern in Spanien zu Ohren. Sie zitierten den Missionar 1566 nach Europa, wo er sich für seine Handlungen verantworten sollte. Diesem Umstand verdankt die Altamerikanistik eines der letzten Zeugnisse der weitgehend vernichteten Mayakultur: Bevor Diego de Landa Spanien erreichte, verfasste er eine Verteidigungsschrift unter dem Titel „Relación de las cosas de Yucatán“ (Die Geschichte der Dinge in Yucatan). Darin hielt der Bischof minutiös fest, welche Religion, Sitten und Gebräuche die Maya pflegten. Heute ist die „Relacion“ die Bibel der Mayaforschung. Der Altamerikanist Michael Coe sagt: „Wir können heute kaum etwas Sinnvolles schreiben, ohne dabei Bischof Landa zu zitieren.“ Damit war der Missionar zugleich Vernichter und Bewahrer – und sein Erbe erlitt dasselbe Schicksal wie das von ihm verbrannte Kulturgut: Der Originaltext der „Relación de las cosas de Yucatán“ ist verschollen. Die heutige Fassung erschien erst 1864 in Spanien und basiert auf einer Abschrift aus dem 17. Jahrhundert.
Autoren und Propheten Als die Spanier kamen, schrieben die Maya bereits seit 400 Jahren Texte. Die Bibliotheken und Archive, die die Eroberer fanden und vernichteten, müssen entsprechend groß gewesen sein. Als Trägermaterial diente den Gelehrten des alten Amerika Papier, das wie seine Verwandten in Europa, Afrika und Asien aus Pflanzenfasern hergestellt wurde. Dazu pressten die Maya Agave- oder Ficusbastfasern zu Blättern und überzogen sie mit einer feinen Schicht aus Kalk, um das Papier aufzuhellen und die aufzutragenden Farben
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besser zur Geltung kommen zu lassen. Davon gab es eine große Palette: Aus Pflanzenstoffen und Mineralien stellten die Maya Rot, Gelb, Braun, Schwarz, Weiß, Grün und Blau her, in den wenigen erhaltenen Exemplaren der Mayabücher sind die meisten Seiten farbenprächtig. Ihr Detailreichtum und ihre aufwendige Ausschmückung erinnern an die leuchtend illuminierten Folianten, die in den Skriptorien europäischer Klöster des Mittelalters entstanden sind. Möglicherweise war die Kunst des Schreibens auch im alten Amerika Priestern vorbehalten. Darauf deuten die Hieroglyphen hin, die sich in Teilen mit Göttern, Astrologie und sich daraus ergebenden Prophezeiungen befassen. Die Maya kannten weder das Handwerk des Buchbindens noch die Technik, umfangreiche Texte auf ein einziges langes Papier zu schreiben und dann aufzurollen. Stattdessen schnitten sie Seiten, die doppelt so hoch wie breit waren und falteten sie harmonikaartig in Leporellotechnik. Die Blätter dieser Bücher bemalten die Schreiber beidseitig mit Hieroglyphen und Bildern. Es ist vor allem die Darstellung von Personen, die heutige Leser an Comicfiguren erinnern: Sie sind in immer derselben Perspektive dargestellt, flächig von der Seite gesehen, die Konturen sind betont, die Gliedmaßen bunt bemalt. Solche Merkmale charakterisieren auch die Fresken des alten Ägyptens, doch im Gegensatz zu den meist emotionslos dargestellten vom Nil zeigen die Gesichter in den Mayabüchern eine expressive Mimik, sie runzeln die Stirn, reißen den Mund auf, blicken neugierig, drohend oder gutmütig, in einigen Fällen lassen sich Altersunterschiede an der Physiognomie des Gesichtes ausmachen. Diese Art der Schreibkunst hatte in Altamerika Tradition und war verbreitet. Neben den Maya hielten auch ihre Nachbarn, die Azteken und Mixteken, bedeutendes Wissen ihrer Religion, Politik und Kultur in Büchern fest. Allerdings liebten die Schreiber der Azteken und Mixteken die Hieroglyphen nicht so sehr wie die Maya und füllten ihr Papier hauptsächlich mit figurenreichen Szenen, die historische Ereignisse zeigen. Die Maya aber hatten mehr zu erzählen, als mit Bildern möglich war.
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Mayabücher: Ein Kanon mit vier Stimmen Vier Bücher der Maya sind heute bekannt. Niemand weiß, unter welchen Umständen sie vor dem Scheiterhaufen gerettet worden waren und wer sie nach Europa brachte. Einem Gerücht zufolge soll Hernando Cortes, Anführer der Eroberung Mexikos, persönlich dafür gesorgt haben, dass Texte der Maya nach Spanien gelangten. In Europa kursierten sie zunächst im Privaten, erst im 18. und 19. Jahrhundert tauchten sie in Sammlungen auf. Heute werden die Bücher nach den Orten ihrer ersten öffentlichen Präsentation benannt: Dresden, Paris, Madrid und Grolier, nach dem Grolier-Club in New York. Der Codex Dresdensis, heute im Buchmuseum der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresdens verwahrt, ist das besterhaltene Dokument der Mayakultur. Seine 39 Blätter sind 20,5 cm hoch und 10 cm breit und mit dünnen Häutchen zu einem Leporello verbunden, der aufgefaltet eine Länge von 3,56 m ergibt. Durch den Vergleich seiner Hieroglyphen mit solchen von Stelen in der Mayaruinenstadt Chichén Itzá ließ sich der Dresdener Kodex auf eine Entstehungszeit von 1200 bis 1450 datierten. In den 1950er-Jahren gelang es dem Linguisten Günther Zimmermann, Schreibweisen in den Hieroglyphen zu unterscheiden. Zimmermann identifizierte acht verschiedene Handschriften, seiner Meinung nach war das Buch demnach ein Schreibprojekt, das mehrere Jahre gedauert hatte und vermutlich von einem Schriftgelehrten zum nächsten weitergegeben worden war. Lesen konnte es in Europa jedoch niemand – zunächst. Die Pracht des Dresdener Kodexes ist ein Einzelfall. Nur Stückwerk ist von den anderen Mayabüchern geblieben. Wie der Altamerikanist Michael Coe meint, waren die vollständigen Originale erst in den letzten Jahren der Mayakultur entstanden, möglicherweise bereits unter der Herrschaft der Spanier. Die Blätter zeigen kaum noch etwas von der Pracht des älteren Codex Dresdensis, die Bemalungen sind flüchtiger, der Text enthält Fehler – möglicherweise waren die Schriftgelehrten der Maya zu dieser Zeit bereits weniger gut ausgebildet.
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Der Dresdener Codex ist eines der wenigen, teilweise erhaltenen Bücher der Maya. Er enthält eine Prophezeiung des Weltuntergangs für das Jahr 2012.
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Obwohl der Pariser Kodex oder Codex Peresianus bereits 1832 in der Seinestadt bekannt wurde, verschwand er auf ungeklärte Weise wieder. Erst 1859 tauchten Kopien des Kodex auf – unter merkwürdigen Umständen: Der Orientalist Léon de Rosny brachte einige der Blätter in einem Buch heraus und gab vor, die Fragmente zusammen mit Papiermüll in einem Korb der Bibliothèque Nationale in Paris gefunden zu haben. Dort sollte das Material zum Anzünden des Kamins verwendet werden, so Rosny. Diese Geschichte mag dazu gedient haben, die tatsächliche Herkunft der Blätter zu vertuschen – für die Erforschung der Mayahieroglyphen war sie ein Glücksfall. Ein dritter Kodex wurde 1875 in Madrid entdeckt, auch dieses Exemplar war jahrzehntelang durch die Kanäle des Kunsthandels geschwommen. Es enthielt 42 Seiten in gutem Zustand. Erneut war es Léon de Rosny, der dieses Codex Cortesianus genannte Buch zuordnen konnte. Rosny kannte ein anderes Werk aus Mexiko, den Codex Tro. Dessen 70 Seiten hatte der französische Priester Charles Étienne Brasseur de Bourbourg 1866 im Archiv des spanischen Adeligen Don Juan de Tro y Ortolano gefunden. Diesem Spanier wurde nachgesagt, ein Nachfahre von Hernando Cortes gewesen zu sein. Tatsächlich verfügte Tro y Ortolano über eine beträchtliche Sammlung amerikanischer Altertümer, darunter jenen Kodex, den er Brasseur zeigte und den dieser untersuchte. Der Geistliche nannte das Mayabuch zu Ehren seines Freundes Codex Tro. Als Rosny neun Jahre später den Madrider Fund untersuchte, fielen ihm bei den Zeichnungen Eigenartigkeiten auf, die er auch im Codex Tro bemerkt hatte. Ein Vergleich der beiden Funde zeigte, dass die Seiten zusammengehörten. Heute heißt dieses Mayabuch Codex Tro-Cortesianus und ist mit insgesamt 112 Seiten das umfangreichste erhaltene Werk der altamerikanischen Kultur. Nun dauerte es beinahe 100 Jahre, bevor die Bibliothek des alten Amerika um ein weiteres Fundstück ergänzt wurde – den bis dato letzten Überlebenden der spanischen Bücherverbrennung. Der sogenannte Codex Grolier kam aus einer ähnlich undurchsichtigen Quelle wie seine Vorgänger, in diesem Fall einer Höhle. Ent-
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deckt wurde das Stück 1965, als der mexikanische Sammler José Saenz einem Gerücht folgend in die Sierra de Chiapas flog. Dort traf Saenz eine Gruppe von Einheimischen, die ihm archäologische Funde zum Kauf anboten. Unter den Artefakten, die die Verkäufer in einer Höhle entdeckt haben wollten, fand der Sammler auch eine Bilderhandschrift. Saenz kannte die Hinterlassenschaften der Maya gut und vermutete, dass es sich um ein Original handelte. Er kaufte das Stück und brachte es nach New York. Nach eingehenden Untersuchungen führender Altamerikanisten präsentierte der Grolier-Club amerikanischer Bibliophiler die Blätter 1971 der Öffentlichkeit. Danach schenkte Saenz den Codex der mexikanischen Regierung, die ihn seither unter Verschluss hält. Michael Coe: „Das ist ärgerlich, das Stück gehört in ein Museum.“
Was die Maya wussten Die Wissenschaft lernte lesen. Jeder der vorliegenden Mayatexte versprach, der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur zu sein, aber entziffern konnte ihn niemand. Der Durchbruch gelang 1832, als Constantine Rafinesque so lange auf die Maya-Zeichen blickte, bis er verstand, wie die alten Amerikaner gezählt hatten. Rafinesque war ein Universalgelehrter des 19. Jahrhunderts – für manche. Für andere war er ein Chaot. Der Wahlamerikaner hatte sich vielen Wissenschaften zugewandt. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Schriften über die Botanik, die Meteorologie, Zoologie, Anthropologie, Geologie und Linguistik. Mit so viel Wissen gewappnet, versuchte sich der gebürtige Grieche auch an der Übersetzung des Codex Dresdensis – ein Unternehmen, an dem schon viele gescheitert waren und das Rafinesque gelang. Zwar konnte auch der Polyhistor die Schrift der Maya nicht lesen, wohl aber erkannte er ein System von Kreisen und Blöcken als Zahlensystem. Als Constantine Rafinesque die entzifferten Zahlen der Maya in der Zeitschrift „Atlantic Journal And Friend Of Knowledge“, die er selbst herausgab, veröffentlichte, blieb das Fachpublikum zunächst distanziert. Erst die weitere Dechiffrierung der
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Mayahieroglyphen zeigte, dass Rafinesque tatsächlich den Zahlencode der Maya entschlüsselt und damit den Grundstein für das Lesen der altamerikanischen Hieroglyphen gelegt hatte. Ernst Förstermann erkannte den Durchbruch des Constantine Rafinesque etwa 50 Jahre später und sah dahinter ein komplexes mathematisches System. Förstermann arbeitete als Bibliothekar in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, er hatte Zugang zum dort lagernden Codex Dresdensis sowie zu den Schriften Diego de Landas. Die Verteidigungsschrift des Bischofs war ebenfalls in einer Kopie in der Dresdner Buchsammlung enthalten. Überdies galt Förstermann als talentierter Mathematiker. Es mag an dem Zusammenspiel dieser Komponenten gelegen haben, dass der Deutsche die Zahlen der Maya zu lesen begann und der Mathematik und Astronomie des alten Volkes auf die Spur kam. Der Bibliothekar entdeckte Überraschendes in der Mayamathematik: Die Maya kannten die Null. Spätere Vergleiche mit datierbaren Gravuren in Mittelamerika ergaben, dass das Zeichen für null bereits 36 v. Chr. in Yucatán geschrieben worden war. In Europa war die Null zu dieser Zeit noch eine unbekannte Größe. Sie bereicherte die Mathematik erst durch Leonardo Fibonacci im 12. Jahrhundert. Ebenso fand Förstermann heraus: Das gesamte Zahlensystem der Maya basierte auf der Zahl 20, ähnlich dem europäischen Dezimalsystem, das auf der 10 aufgebaut ist. Den Forschern brachte der geknackte Zahlencode Einblick in die Astronomie der Maya und in ihr Kalendersystem, das Ähnlichkeiten mit dem Gregorianischen Kalender aufwies und zugleich fremdartig wirkte: Das Jahr des Gregorianischen Systems ist in 52 Wochen eingeteilt, bevor es wieder von vorn beginnt. Auch die Maya rechneten 52 Zeiteinheiten für einen Kalenderzyklus, allerdings zählten sie nicht 52 Wochen, sondern Jahre. Mathematik und Astronomie konnten dank Förstermann verstanden werden, aber der Großteil der Texte blieb nach wie vor stumm. Die Bücher der Maya setzten sich nur zu einem Teil aus Zahlen zusammen, die meisten Blätter jedoch waren mit Bildern und Textzeichen übersät, die keine Berechnungen, sondern Ge-
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schichten wiederzugeben schienen. Sie lesbar zu machen, war die nächste große Herausforderung, für die Linguisten noch einmal 100 Jahre benötigten. Die Forschung stockte, weil die Maya zu wenig Zeichen geschrieben hatten und doch zu viele. Ein Alphabet, bei dem ein Wort aus Buchstaben kombiniert wird, benötigt zwischen 20 und 35 Zeichen. Ein System, das 80 bis 100 Zeichen unterscheidet, ist vermutlich eine Silbenschrift, bei der Konsonanten und Vokale miteinander verbunden sind. Die dritte bekannte Variante ist die Logografie, eine Bilderschrift, bei der jedes Zeichen für ein Objekt, eine Handlung oder ein Attribut steht. Ein solches System hat mehrere Tausend Zeichen. Die Schrift der Maya hatte 800 Zeichen – zu viele für ein Alphabet und eine Silbenschrift und zu wenige für ein logografisches Textsystem. Um dieses Phänomen erklären zu können, behaupteten Linguisten, die Maya hätten eine Bilderschrift genutzt, die wegen ihrer geringen Zeichenzahl stark eingeschränkt gewesen sein muss. Doch diese Hypothese erwies sich als falsch. Um ein Haar hätte in den 1930er-Jahren der britische Forscher Eric Thompson die Mayaschrift entziffert. Bereits vor Thompson war bekannt geworden, dass ein gewisses Symbol in der Sprache der Maya „Westen“ bedeutet. Thompson erkannte in dem Zeichen eine Sonne und eine fast geschlossene Hand. Seiner Meinung nach stand die Hand für etwas, das noch nicht vollendet war – zum Beispiel der Untergang der Sonne. Deshalb bedeute das Zeichen „Westen“, so Thompson. Auch die anderen Mayazeichen müssten in dieser Art gelesen werden, glaubte der Forscher. Mehr als 20 Jahre später bewies ein Russe, dass dem Code der Maya so einfach nicht beizukommen war. Yuri Knorosow betrachtete 1952 noch einmal die Theorien über Alphabete, Silbenschriften und Logografie und fand heraus, dass ein bis dahin geltendes Gesetz der Linguistik falsch war: Keines dieser Systeme war in sich homogen. Ein Alphabet nutzt auch Elemente einer Silbenschrift oder einer Logografie (im lateinischen Alphabet sind das Umlaute wie ae, oe, ue und Zeichen wie
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+ oder –). Dasselbe gilt für Silbenschriften und logografische Systeme, die wiederum Teile der jeweils anderen Systeme nutzen. Für die Schrift der Maya bedeutete diese Entdeckung: Die 800 Mayazeichen konnten keine reine Logografie sein, weil sie zum Teil alphabetisch und syllabisch waren. So bahnbrechend diese Erkenntnis war, beinahe wäre sie gar nicht bekannt geworden. Knorosow war Sowjetbürger und seine Arbeiten wurden auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges im Westen nicht publiziert. Erst die Altamerikanisten Michael und Sophie Coe halfen Ende der 1950erJahre nach, veröffentlichten Knorosows Arbeiten auf eigene Faust in den USA und machten sie damit im Westen zugänglich. Mit den Sprachwerkzeugen von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs begannen nun die Linguisten des Westens, die Mayatexte zu entziffern. Wie sich herausstellte, bestand Maya aus einigen Hunderten Logogrammen oder Bildzeichen, die mit ebenso vielen Silbenzeichen kombiniert werden konnten. Ein und dasselbe Zeichen konnte als abstraktes Symbol gezeichnet werden, aber auch als Kopf eines Gottes oder Tieres. Zeichen, die zusammengeschrieben eine Bedeutung ergaben, mussten nicht unbedingt nebeneinanderstehen, sondern konnten auch ineinander verschoben sein, sodass sie hintereinander standen und der Buchseite eine dritte Dimension verliehen. Ebenso verbanden die Maya zwei Zeichen so, dass deren Attribute miteinander verschmolzen. Diese Schreibtechniken sind heute bekannt, etwa 80 Prozent der Texte in den Mayabüchern können gelesen werden. Ihr Inhalt ist erstaunlich wissenschaftlich. Der Dresdener Codex enthält genaue Tabellen der Kalenderarithmetik, die die Zyklen der Venus als Morgen- und Abendstern korrekt angeben. Überdies fanden die Kalenderpriester der Maya heraus, dass fünf Venuszyklen von 583 Tagen ebenso lange dauern wie acht Sonnenjahre von 365 Tagen. Auch die Madrider Handschrift beschäftigt sich mit Kalendern und Astrologie. Sie enthält Prophezeiungen und legt die günstigsten Tage für Saat und Ernte fest. Das Zauberbuch enthält besonders viele groteske Darstellun-
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gen von Göttern, vermutlich wurde es in einem religiösen Kontext verwendet. Große Aufmerksamkeit erlangte in den vergangenen Jahren die letzte Tafel des Codex Dresdensis. Diese Seite gibt dramatische Ereignisse einer kosmischen Katastrophe wieder. Drei furchterregende Figuren symbolisieren göttliche Gewalten, die Verderben über die Menschen bringen. Über dem Geschehen schwebt der Himmelsdrache, der nicht den segensreichen Regen bringt – wie sonst auf Darstellungen üblich – sondern Wassermassen speit. Zusammen mit Attributen der Götterfiguren, die als Unheil bringend gedeutet werden, stellt die Tafel eine Art Apokalypse dar. Versuche, den Mayakalender mit dem gregorianischen Kalendersystem in Einklang zu bringen, haben zu der Interpretation geführt, die im Codex Dresdensis vorausgesagte Katastrophe ereigne sich am 21. 12. 2012. Wie aus anderen Mayatexten bekannt, sind Sintfluten in der Religion des altamerikanischen Volkes ein häufig prophezeites Ereignis. Sie bedeuten nicht nur Zerstörung, sondern auch Reinigung und die Möglichkeit für einen Neuanfang – Hoffnung statt Vernichtung. Nach dem Glauben der Tolteken, die vom 9. bis zum 11. Jahrhundert n. Chr. die beherrschende Macht im zentralen Hochland Mexikos waren, zerstörte der Gott Quezalcoatl Sonne und Erde in einer Flut. Die Menschen verwandelten sich in Fische. Die Mixteken, deren Kultur von 200 v. Chr. bis zum Erscheinen der Spanier 1520 bestand, erzählten, dass die Erde einst dicht bevölkert war. Doch als die Menschen die Götter erzürnten, wurden sie in einer großen Flut vernichtet. Die Mixteken erkannten in sich selbst die Nachfahren der wenigen Überlebenden. Das Ende von allem und Hoffnung auf Neubeginn – die Prophezeiung der Maya steht stellvertretend für das Dilemma der Altamerikanistik: Die Bibliotheken der Maya sind auf den Scheiterhaufen fanatischer Missionare verbrannt. Die wenigen erhaltenen Exemplare haben ausgereicht, um die Hieroglyphen aus Yucatán lesbar zu machen. Mit diesem Schlüssel in der Hand findet die Forschung nun keine Türen, die sie damit aufschließen kann. Aber es gibt Hoffnung.
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Bücher als Wandschmuck Der Archäologe Bill Saturno kämpfte sich im März 2001 durch den Dschungel des nördlichen Guatemala. Saturno war auf der Suche nach Hinterlassenschaften der Maya, die er, vom Regenwald überwuchert, zu entdecken hoffte. Bislang aber war die Suche so erfolglos wie anstrengend verlaufen, das schwüle Klima machte dem USAmerikaner zu schaffen. Er legte eine Pause ein und fand ein einladendes Plätzchen am Fuß einer Mayaruine. Das Bauwerk war seit Langem bekannt, nicht nur bei Wissenschaftlern. Bill Saturno entdeckte einen Graben, wie ihn Plünderer unter die alten Mayabauten graben, um in die Gebäude zu gelangen und sie auszuräumen. Neugierig geworden, kroch der Forscher ins Innere der Ruine, in der es angenehm kühl, aber finster war. Als der Forscher die Taschenlampe aufscheinen ließ, fand er sich direkt vor einem Meisterwerk der Mayakunst wieder. Ein Wandgemälde aus farbigen Mayahieroglyphen bedeckte die Ruine von innen, über weite Teile hatte sich die Farbe erhalten. Den Plünderern schien diese Entdeckung unwichtig gewesen zu sein, für Saturno und seine Kollegen aber bedeutete sie einen Hoffnungsschimmer. Die 4,5 Meter lange Szene mit Hieroglyphen ließ sich dank der Entzifferung der Mayaschrift lesen. Das Wandgemälde von San Bartolo zeigt fünf Gottheiten, jeweils vor einem heiligen Baum. Vier Götter durchstechen ihren Penis und vergießen ihr heiliges Blut. In jedem Baum hockt die oberste Vogelgottheit und beaufsichtigt das Geschehen. Eine vergleichbare Opferszene ist im Codex Dresdensis zu sehen – für Altamerikanisten ein Beleg für die Dauerhaftigkeit und Kontinuität der Mayareligion, denn zwischen beiden Bildern liegen 500 Jahre Zeitunterschied. Seit der Entdeckung Bill Saturnos sind weitere Wandgemälde der Maya gefunden worden, etwa jene von Bonampa im Süden Mexikos. Sie sind die Bücher, die den spanischen Inquisitoren entgangen sind. Die Hoffnung des altamerikanischen Volkes auf einen Neubeginn nach der Apokalypse scheint sich zumindest bezüglich ihrer Texte zu erfüllen.
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Das Wissen der Antike Das Wissen der Antike gilt als gewaltig und ist verloren. Althistoriker schätzen, dass 99 Prozent aller Ideen der Griechen, Römer und Ägypter verschwunden sind, einige vom Zahn der Zeit zerfressen, andere in Kriegen, bei Katastrophen oder durch Unachtsamkeit abhandengekommen. Heute klauben Papyrologen aus den Überresten von Textrollen Wörter zusammen, die in wenigen Fällen Einblick in die Gedanken großer Geister der Vergangenheit liefern. Die vermutlich größten Verluste soll die Wissenschaft der antiken Welt erlitten haben, als 47 n. Chr. in der Bibliothek von Alexandria Feuer ausbrach. Die Geschichte der Katastrophe ist in der Antike oft erzählt worden: Gaius Julius Cäsar war von Rom an den Nil gekommen, um die Schiffe der Ptolemaier in Brand zu setzen. Im Hafen brannte die Flotte, die Flammen sollen nach der Bibliothek geleckt und diese zerstört haben – mitsamt allen Wissensschätzen, die darin lagerten. Das muss eine Menge gewesen sein. Alexandria galt seit Jahrhunderten als reiche Handelsstadt und zugleich als Kraftzentrum der hellenistischen Wissenschaft. Hier forschten große Geister wie der Philosoph Philon, die Mathematikerin Hypatia, der Astronom Diodor und der Tüftler Heron. Der Erfinder entwickelte bereits in der Antike den Münzautomaten (der gegen Einwurf eines Fünfdrachmenstücks Weihwasser spendete) und ließ Tempeltüren sich automatisch öffnen und Opferfeuer sich selbst entzünden. Neben den Schriften vieler heimischer Denker muss die Bibliothek Alexandrias die Ideen aller großen antiken Wissenschaftler versammelt haben. Zwar ging das meiste davon verloren, Abschriften jedoch haben sich in einigen Fällen erhalten – genug, um die Welt zu verändern. So erklärte der Astronom Aristarchos von Samos bereits 1800 Jahre vor Nikolaus Kopernikus das heliozentrische Weltbild. Eratosthenes berechnete im 2. Jahrhundert v. Chr. den Erdumfang, den er aus den Höhenwinkeln der Sonne in Alex-
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andria und Syene (heute Assuan) und der Entfernung dieser Orte voneinander (850 km) bis auf ein Prozent genau bestimmte. Der Mediziner Galen beschrieb die Heilkunst so gut, dass sein Wissen noch bei Ärzten der Renaissance gültig war. Die Liste ist lang, zu ihr zählen Euklids geometrische Formeln, Homers Vers-Epen und die Philosophie des Aristoteles.
Wissensquell im Wüstensand Vielleicht aber hatte die Feuersbrunst am Nil nur geringe Auswirkungen und die Legende vom brutalen Cäsar, der das Wissen der Antike vernichtete, mag ein Propagandastück seiner Gegner gewesen sein. Heute glauben viele Historiker, dass die fatale Feuersbrunst von 47 v. Chr. das Museion, so der Name der gigantischen Bildungsstätte am Nildelta, gar nicht erreichte. Zwar mögen Tausende von Schriftrollen im Hafen verbrannt sein, doch es könnte sich dabei um Texte gehandelt haben, die in einem Lagerhaus auf den Verkauf warteten – Wissensschätze waren ein Exportschlager im alten Ägypten. Möglicherweise unberührt von den Flammen überdauerte die Bibliothek im Palastviertel der Stadt, gut behütet von den Archivaren und der Stadtwache. Die Soldaten sorgten dafür, dass kein einfacher Alexandrier eintreten konnte – das in den Hallen gesammelte Wissen war einzig Fachleuten zugänglich, die im Auftrag von Königen forschten und philosophierten. Schon Ptolemaios I., Weggefährte Alexanders des Großen, wusste, dass Wissen Macht bedeutet, und hatte die Bibliothek 295 v. Chr. gegründet. Keine andere Stadt wäre dafür geeigneter gewesen. In Alexandria berührten sich die Kulturen der Ägypter, Griechen und später der Römer und wurden über Handelswege zudem von Wissensschätzen Asiens befruchtet. Die Ideen der damals bekannten Welt flossen am Nil zusammen. Die antiken Archivare stöhnten auf: Die Menge der Papyri wuchs täglich, sie zu sortieren war eine Sisyphosaufgabe. So entwickelten die Verwalter der Texte eigene Ideen, um das Wissen
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anderer zugänglich zu machen – den ersten Bibliothekskatalog der Welt, das erste Ausleihsystem, das erste Literaturarchiv. Raffiniert soll auch die Methode gewesen sein, mit der die Alexandrier Texte für die Bibliothek beschafften. Dabei scheint es nicht immer mit rechten Dingen zugegangen zu sein. Berichten der Griechen zufolge mussten alle Schiffe, die im Hafen Alexandrias festmachten, ihre mitgeführten Schriftrollen abgeben. Die Schreiber der Bibliothek kopierten diese und gaben den Eigentümern die Kopien zurück. Die Originale aber blieben im Besitz der Alexandrier. Einer Überlieferung zufolge sollen sich die Ptolemaier auch in den großen Bibliotheken der antiken Welt umgesehen haben und dort – ganz legal – Werke für einen regulären Betrag ausgeliehen haben. Allerdings brachten die Bücherjäger die Texte nie zurück, sondern reihten sie in Alexandria in die Regale ein zwischen Hunderten anderer „geliehener“ Schriftrollen aus der gesamten antiken Welt. So soll es den Archivaren gelungen sein, sogar Originaltexte aus der legendären Akademie Athens in ihren Besitz zu bringen. In Alexandria entstand die größte Bibliothek ihrer Zeit. Keineswegs ging dieses Kraftzentrum des Hellenismus an einem Tag unter, sondern in einem langen Prozess. Eine Ursache dafür war das Christentum. In der Altertumswissenschaft gilt heute als gesichert, dass religiöse Fanatiker im Namen Christi die Bibliothek stürmten und ein Großteil der dort gesammelten Schätze vernichteten. Wie viele solcher Anschläge auf den Tempel der Gelehrsamkeit verübt wurden, ist nicht überliefert. Ein bekannter Überfall ereignete sich 415 n. Chr. Im selben Jahr erschlugen Christen in Alexandria auch die Mathematikerin und Philosophin Hypatia. Weder Wissenschaft noch das Frauenbild, das Hypatia symbolisierte, waren mit der neuen christlichen Religion zu vereinbaren und mussten verschwinden. Dennoch überdauerte die Bibliothek. Mit welchen Mitteln die Wissenswächter den schrumpfenden Bestand zu retten versuchten, ist nicht überliefert. Als aber die Araber im 7. Jahrhundert Nordafrika eroberten und in Alexandria einmarschierten, fanden sie
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immerhin noch so viele der antiken Texte vor, dass sie es für nötig befanden, diese Entdeckung von ihren Geschichtsschreibern festhalten zu lassen. Zwar waren damit einige Bruchstücke der antiken Wissenschaft gerettet, Alexandria aber hatte als Standort der größten Bibliothek der Welt ausgedient. Die Eroberer erkannten, welchen Schatz sie am Nil gehoben hatten und schickten die Texte nach Osten. Auf der arabischen Halbinsel widmeten sich die Wissensdurstigen des Islam den Kenntnissen der Antike, retteten, was noch zu retten war und schufen auf diesem Fundament einen Wissenschaftsbetrieb, der im Mittelalter ohnegleichen war. Erst in der Zeit der Kreuzzüge setzte der Kulturtransfer aus dem Orient ein, der die letzten Fragmente antiker Forschung auch in Europa bekannt machte. Viele Schätze jahrhundertelanger Forschung gingen verloren: Texte des Sophokles, frühe Kopien des Neuen Testaments und Grundlagen der Naturwissenschaft. Dass es diese Schriften einmal gegeben hat, ist heute gewiss. Von den meisten der verschollenen Werke sind weder Autor noch Inhalt bekannt. Immerhin rechnete der byzantinische Gelehrte Tzetzes 490 000 Rollen als Bibliotheksbestand in Alexandria zusammen. Tzetzes lebte im 12. Jahrhundert und stützte sich bei seiner Schätzung auf Quellen über das Bibliothekswesen und die Stadt Alexandria. 800 Jahre später ergänzte der Oxforder Historiker Nigel Wilson die Arbeit des Tzetzes und errechnete, dass nur ein Prozent aller Schriften der Antike erhalten geblieben ist.
Rückkehr aus dem Nimmerwiedersehen Berichte von Überresten der Bibliothek gelten in der Archäologie als modernes Märchen. Überdies sind die Möglichkeiten der Spatenforschung begrenzt: Wer glaubt, den Grundmauern der Bibliothek von Alexandria mit archäologischen Mitteln auf die Spur kommen zu können, stößt auf Hindernisse. In Alexandria steht die moderne Bebauung Grabungsvorhaben oft im Weg, in vielen Fällen müssen Archäologen Jahrzehnte warten, bevor Stadtteile saniert
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und Grabungsflächen durch den Abriss von Häusern freigelegt werden. Ähnlich erging es dem Archäologen Grzegorz Majcherek von der Universität Warschau, der in den 1990er-Jahren damit begann, eine Fläche innerhalb der antiken Stadtmauern Alexandrias zu untersuchen. Der polnische Forscher stand vor einem wuchtigen französischen Erbe. Napoleons Truppen hatten an dieser Stelle eine Festung gebaut, die später von den Briten und Ägyptern genutzt und erweitert worden war. Erst in den 1950er-Jahren war das Bollwerk aufgegeben worden. Es dauerte noch einmal vier Jahrzehnte, bevor die ägyptischen Behörden das Terrain für Grabungen freigaben. Zehn Jahre lang grub sich Majcherek durch die Ruine. Dann stieß er im November 2003 auf farbige Mosaiken, die, wie sich herausstellte, zu den Überresten römischer Villen gehörten. Die größte Überraschung aber lag noch tiefer. Unter den Hinterlassenschaften Napoleons und jener der Römer entdeckte Majcherek rechteckige Räume, die in einer Reihe angeordnet waren. Ihr Eingang lag jeweils dort, wo in der Antike die Straße verlaufen war. In der Mitte jedes Raums war eine hufeisenförmige Steintribüne erkennbar. Für Zahi Hawass, den Präsidenten der ägyptischen Altertumsbehörde, war die Interpretation des Fundes klar: Die Ruinen gehörten zu einer Bibliothek, vermutlich zu jener legendären Einrichtung, die als Wissenspool der antiken Welt galt. In einer Pressekonferenz in Kalifornien im Mai 2004 gab Hawass bekannt: „Ein Komplex von Lehrräumen aus der greco-römischen Zeit ist nie zuvor im Mittelmeerraum entdeckt worden.“ Immerhin hätten 5000 Studierende in den Räumen Platz gefunden. „Vielleicht die älteste Universität der Welt“, so Hawass. Die Nachricht, die Bibliothek Alexandrias sei entdeckt, ging um die Welt – voreilig, wie sich herausstellte. Erst fünf Jahre später hatten die Archäologen die Baureste so weit ausgegraben, dass die Datierung auf sicherem Fundament stand. Ergebnis: Die Einrichtung war tatsächlich eine Art Museion oder Bibliothek, allerdings aus der Zeit um 500 n. Chr. In diesem Abschnitt des frühen Mittelalters war die alexandrinische Bibliothek längst verschwunden.
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Papyrusforschung – wenn Wörter aus der Rolle fallen Ein weiterer Wissenstempel der Antike war die Bibliothek von Herculaneum am Golf von Neapel. Sie beherbergte im 1. Jahrhundert n. Chr. zwar nur einen Bruchteil des Wissens, das einst am Nil gesammelt worden war. Heute aber gilt die Papyrussammlung aus Herculaneum der Forschung als bedeutender: Sie ist in Teilen erhalten. Ursache dafür ist der Ausbruch des Vesuvs, der 79 n. Chr. die antiken Städte am Golf von Neapel erschütterte und sie in Schutt und Asche legte. Das Ereignis war ein Glücksfall für die Archäologie. In Pompeji vernichtete die pyroklastische Wolke alles Leben binnen Minuten und konservierte die Stadt wie eine Momentaufnahme der Antike bis zu ihrer Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert. In dem benachbarten und von einer Lava-Schlamm-Lawine verschütteten Herculaneum überdauerten 1800 Papyrusrollen die Katastrophe, die bei dem Vulkanausbruch Temperaturen von 300 bis 320 Grad Celsius ausgesetzt waren. Dennoch verbrannten die Texte nicht, sondern dampften zu schwarzen Klumpen zusammen. Der Brandprozess wurde durch den Schlamm unterbrochen, das Material damit luftdicht eingeschlossen und vor Verfall geschützt. Viele verkohlte Knollen lagen in einem Haus, das heute Villa dei Papiri genannt wird. Es sind brüchige, federleichte Aschestücke. Dennoch gelingt es einem Team von Papyrologen aus Italien und den USA, Bruchstücke der darauf geschriebenen Texte wieder sichtbar zu machen. Den Augen der Papyrologen kommt seit einigen Jahren die Infrarottechnik zu Hilfe. Physiker an der Universität Mailand entwickelten eine hochauflösende Digitalkamera, die mithilfe von Infrarotstrahlen Linien und Zeichen erkennt, die das menschliche Auge nicht wahrnehmen kann. Dabei absorbieren die mit Rußtinte geschriebenen Zeichen die Strahlen, während der Papyrus sie reflektiert. Mit dieser Technik werden sogar überschriebene Zeichen wieder sichtbar, denn Korrekturen waren auch in den Schreibstuben der Antike schon an der Tagesordnung. Wer den Text auf einem dieser alten Papyri lesen will, muss vorsichtig zu Werke gehen. Bei den Rollen aus Herculaneum
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kommt das Problem hinzu, die verkohlten Reste nicht auseinanderrollen zu können. Selbst, wenn das gelingt, gibt es nur wenig zu lesen. Papyrus besitzt die Eigenschaft, im Laufe der Jahre nachzudunkeln. Hingegen wird die Tinte, in der Antike meist aus Ruß angerührt, blasser. Wo sich Schriftzeichen erhalten haben, sind sie mit dem bloßen Auge nicht erkennbar, selbst unter dem Mikroskop offenbaren sich meist nur noch Fragmente von dem, was einmal Buchstaben, Wörter und Sätze waren. Fingerspitzengefühl und Feinmechanik der heutigen Wissenschaft sind neu, noch im 18. Jahrhundert rückten Forscher dem Papyrus mit gröberen Methoden zu Leibe. Immer wieder versuchten sich Gelehrte daran, die zusammengebackenen Wülste zu öffnen, immer wieder scheiterten sie – mit verheerenden Resultaten. In der Hoffnung, das Material geschmeidig zu machen und abrollen zu können, strich man die Rollen mit Leim oder Quecksilber ein. Als das nicht funktionierte, griffen die Forscher zum Messer, zerschnitten die Papyri und höhlten sie von innen aus, bis genug Raum war, um beim Hineinblicken das Innere der äußeren Schichten erkennen zu können. Dutzende der einmaligen Funde fielen einer noch nicht weit genug entwickelten Wissenschaft zum Opfer. Heute sind solche Methoden Schauergeschichten für Papyrologen. In den 1980er-Jahren entwickelten die Norweger Knut Kleve und Brynjulf Fosse eine Technik, bei der eine leimartige Substanz auf die Rollen aufgetragen wird, die den Papyrus durchdringt. Nach einer Weile bekommt das Material Festigkeit und lässt sich vorsichtig abrollen. Über 150 Rollen aus Herculaneum sind mit dieser Technik bereits lesbar gemacht worden. Die Papyrologen fanden bis dahin unbekannte Texte des Philosophen Philodemos von Gadara (110 bis 30 v.Chr.), die Einblick in die Schule des Zenon liefern. Philodemos war überdies ein Bekannter von manchem Prominenten seiner Zeit, etwa des Vergil, des Cicero und des Lukrez. Ob sich Einflüsse dieser Gelehrten in den wiederentdeckten Texten aufspüren lassen, müssen altphilologische Untersuchungen noch zeigen.
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Entdeckungen wie diese lassen darauf hoffen, auch das Wissen aus der Bibliothek Alexandrias eines Tages wiederzuentdecken. Besteht eine Chance? „Geringfügig“, meint Andrea Jörgens, Direktorin des Instituts für Papyrologie in Heidelberg. „In Alexandria herrscht Seeklima, da vergehen Papyri schnell. Überdies ist die Stadt seit Jahrhunderten immer wieder überbaut worden.“ Andernorts sind die Aussichten, Untersuchungsmaterial zu finden, größer. „Im trockenen Hinterland Ägyptens finden wir immer wieder Papyri“, sagt Jörgens. Einige davon können nach Meinung der Papyrologin mit der Schreibkultur in Alexandria in Zusammenhang gebracht werden, darunter alexandrinische Hochpoesie aus Oxyrhynchos, einer altägyptischen Stadt und Grabungsstätte am mittleren Nil. „Es ist vorstellbar, dass jemand im Altertum Kopien solcher Texte in Alexandria entlieh und mit nach Hause nahm, aber sie nie wieder zurückbrachte“, meint die Heidelberger Forscherin. Zu den großen Erfolgen bei der Suche nach den federleichten Fetzen mit gewichtigem Inhalt zählt die Entdeckung von Werken des Poseidippos, eines Epigrammdichters, der bislang nur dem Namen nach bekannt war. Auch der Fall des Artemidoros gehört zu den Meilensteinen der Papyrusforschung. Das einst umfangreiche Werk des Gelehrten aus Ephesos ist heute nur noch aus Zitaten anderer antiker Autoren bekannt. Wie viele seiner Zeitgenossen wirkte auch Artemidoros um 100 v. Chr. in Alexandria, wo seine Arbeiten in der Bibliothek archiviert waren und untergingen. Bis vor etwa zehn Jahren die Papyrologin Bärbel Kramer Fetzen eines Papyrus entdeckte, der aus dem Kunsthandel kam. Der Papyrus war Teil einer antiken Mumienmaske und vermutlich als Füllmaterial verwendet worden. Kramer und ihr Mailänder Kollege Claudio Gallazzi puzzelten die Schnipsel des Papyrus zusammen. Vor zwei Jahren präsentierten die Forscher das Ergebnis: eine geografische Beschreibung Spaniens mit einer Landkarte des Artemidoros und damit die älteste erhaltene Karte der Welt des klassischen Altertums. Die Aussichten, solche Schätze zu finden, sind jedoch gering. „Nur fünf Prozent der gefundenen Texte sind Literatur“, sagt An-
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Der Papyrus des Artemidoros von Ephesus, hier bei einer Ausstellung in Turin 2006, ist einer der spektakulärsten Funde der Papyrusforschung. Er enthält eine geografische Beschreibung Spaniens mit Karte sowie zahlreichen Tier- und Menschendarstellungen auf der Rückseite.
drea Jörgens, „die übrigen Funde sind Papyri mit Alltagstexten“. Darunter verstehen die Forscher Quittungen, Rechnungen, Privatbriefe und Handelslisten – wichtige Zeugnisse für die Rekonstruktion antiker Lebensverhältnisse, von der romantischen Sehnsucht nach verlorenen Wissensschätzen jedoch weit entfernt. Einer, der das mit Inbrunst beklagte, war Johann Jakob Winckelmann. Der Ahnherr der Kunstgeschichte und Archäologie erwartete Mitte des 18. Jahrhunderts, in den Rollen aus Herculaneum Hochkaräter wie Aristoteles, Sophokles oder Euripides wiederzufinden. Als stattdessen ein Traktakt über die Musik des bis dato noch unbekannten Philodemos entziffert werden konnte, schrieb Winckelmann seufzend: „An einer hypochondrischen und zerstümmelten Klage wider die Music ist uns nicht viel gelegen.“
Eine Sternenkarte fällt vom Himmel Manch verborgener Schatz, der seit dem Brand in Alexandria verloren geglaubt ist, taucht wieder auf – nicht als Idee auf Papyrus
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oder Pergament, sondern als Artefakt. Eines davon ist das Sternverzeichnis des Hipparchos. Der wohl bedeutendste Astronom der Antike lebte vermutlich von 194 bis 120 v. Chr. und vertrat die Ansicht, die Sonne drehe sich um die Erde. Mit dieser Meinung lag Hipparchos zwar nicht richtig, seine Sternenkarten aber dienten seinen astronomischen Erben Ptolemaios und Kopernikus als Vorlagen und halfen dabei, das geozentrische Weltbild abzulösen. Tragisch: Die originale Sternenkarte des Ur-Astronomen mit der exakten Angabe von über eintausend Sternen ging verloren, eine letzte Kopie mag in der Feuersbrunst von Alexandria verschmort sein. Trotzdem konnte das Sternenverzeichnis wiedergefunden werden, die Götter standen Pate. Atlas, Sohn der Titanen, trägt gemäß antiker Mythologie das Himmelsgewölbe auf den Schultern. Merkwürdig, dass eine Marmorstatue des Schwerstarbeiters aus Neapel stattdessen eine Art Globus schultert, denn der war in der Antike noch nicht erfunden. Überdies zeigt die Kugel nicht etwa die Erde, sondern den Himmel mitsamt Tierkreiszeichen, Tropenkreisen, Sonnenbahn und Himmelsäquator. Bradley Schaefer rechnete nach. Der US-Forscher von der Louisiana State University fand 2005 heraus, dass die Himmelskonstellation auf des Atlas’ Schultern in dieser Form etwa um 125 v. Chr. zu sehen gewesen sein müsste – ungefähr zu jener Zeit schrieb Hipparchos seine Werke. Der Himmel über der antiken Welt war in einer Sternstunde der Wissenschaft wiederentdeckt worden.
Shakespeares „Cardenio“ Reich an Worten ist die Welt durch William Shakespeare – und reich an Fragen. In der Biografie des großen Dramatikers, dessen Werk Literatur, Theater, Musik und bildende Kunst seit dem 16. Jahrhundert inspiriert, gibt es Leerstellen. Sie zu füllen, ist eine Wissenschaft für sich. Generationen von Forschern haben aus Archivregalen und Büchertruhen immer wieder neue Erkenntnisse
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über den Dichter des „Hamlet“ und „Macbeth“ gehoben. LiteraturArchäologen graben zwischen den Zeilen nach einem verschwundenen Shakespeare-Helden: „Cardenio“. Das Stück gilt als verschollen. Die erste Spur ist 400 Jahre alt. Im Winter 1612/13 und im Juni 1613 soll „Cardenio“ von der Shakespeare-Theatertruppe „The King’s Men“ in London aufgeführt worden sein. Das geht aus Ankündigungen von Bühnenstücken, Programmlisten und Buchhaltungsunterlagen hervor, wie sie Edmund Kerchever Chambers, einer der renommiertesten Literaturhistoriker und Shakespeare-Forscher des 20. Jahrhunderts, zusammengetragen hat. Entstanden sein könnte das Drama demnach in William Shakespeares letzter Lebensphase. Die Hinweise auf das Stück reichten aus, um Forscher hellhörig werden zu lassen: Könnte „Cardenio“ das Wissen über den Dichter und sein Werk bereichern?
Ein Phantom von Weltrang Über die Figuren in den Dramen versucht der US-Literaturwissenschaftler Harold Bloom zu Shakespeare vorzudringen. Bloom schreibt Shakespeare eine „unheimliche Fähigkeit, Persönlichkeiten heraufzubeschwören“ zu und nennt sie „die Erfindung des Menschlichen“. Den Menschen Shakespeare zu finden, ist jedoch ungleich schwieriger. Aus Dokumenten, Urkunden und Verträgen haben Gelehrte ein Gerüst von Shakespeares Lebenslauf rekonstruiert – danach starb der Dramatiker 1616 im Alter von 52 Jahren. Shakespeare hinterließ viel Text, aber keine privaten Aufzeichnungen. Tagebücher und Briefe fehlen der Forschung. Anonymität auf der einen und Berühmtheit auf der anderen Seite – das Rätsel um Leben und Person William Shakespeares hat eine Fülle von Spekulationen aufkommen lassen. Eine schon fast religiöse Verehrung hat seine Identität für Anhänger der Theorie, dass er als Strohmann den „wahren Autor“ gedeckt habe, zur Glaubensfrage werden lassen. „Marlowe lives!“ ist das Motto einer bestehenden britischen Bewe-
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gung, die den englischen Dichter Christopher Marlowe hinter Shakespeares Werken vermutet, und auch der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon hat als Pseudo-Shakespeare heute eine entsprechende Fangemeinde. „Mittlerweile wetteifern um die 57 Kandidaten um die Ehre, Shakespeares Werke geschrieben zu haben“, berichtet die deutsche Shakespeare-Forscherin Ingeborg Boltz. Zwischen den „Spuren einer Durchschnittsexistenz und der Außerordentlichkeit des dichterischen Werkes“ liegt nach Ansicht Boltz’ „eine Kluft, die zur Mythenbildung herausfordern musste“. Für die spärlichen biografischen Überlieferungen hat sie eine einfache Erklärung: Dramen galten zu Shakespeares Zeit nicht als Literatur, sondern als Gebrauchstexte. Entsprechend gering war das Interesse an den Autoren. 38 Stücke, die William Shakespeare geschrieben hat, sind bekannt. Er ist alleiniger Autor von 35 und Teilautor von drei Dramen. Diese Aussagen sind jedoch so instabil wie Börsenkurse. Denn die Vermutung, dass sein Gesamtwerk weitaus größer war, spornte schon früh zur literarischen Schatzsuche an. „Love’s Labour’s Won“ (Gewonnene Liebesmüh’) und „Cardenio“ wurden schon im 17. Jahrhundert als Titel verloren gegangener Stücke entdeckt. Identifiziert sind die Texte bis heute nicht.
Liebende von trauriger Gestalt Als Vorbild des „Cardenio“ wurde „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes Saavedra ausgemacht. In dem spanischen Meisterwerk über den Ritter von der traurigen Gestalt taucht eine Figur mit dem Namen Cardenio und einer für ein eigenes Drama geeigneten Geschichte auf. Shakespeare kann das 1605 in Madrid erstmals erschienene Werk in der englischen Übersetzung von Thomas Shelton gelesen haben. Sheltons Version des „Don Quijote“ wurde zwar erst nach 1612 publiziert, das Manuskript könnte Shakespeare aber schon viel früher in die Hände gefallen sein: In der Widmung Sheltons heißt es, dass er 40 Tage an der Übersetzung gearbeitet hat – und zwar fünf oder sechs Jahre vor der Veröffentlichung.
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„Mein Name ist Cardenio, meine Heimat eine der vornehmsten Städte hier in Andalusien, mein Geschlecht edel, meine Eltern reich, mein Unglück so groß, dass es meine Familie betrauern und meine Eltern beweinen mussten, ohne es mit all ihrem Reichtum abwenden zu können“, stellt sich der junge Mann vor, den Don Quijote und sein Begleiter Sancho Pansa im Gebirge Sierra Morena treffen. Cervantes‘ Leser erfährt die Geschichte in einer Rückschau: Cardenio liebt die schöne und reiche Luscinda. Die Eltern der beiden jungen Leute sind ihren Gefühlen wohlgesonnen, halten sie aber aus Gründen des Anstands voneinander fern. „Dies Verbot hieß, Flamme zu Flamme zu fügen und Begierde zu Begierde“, schreibt Cervantes – Cardenios Gefühle werden dadurch, dass er sie in Liebesbriefen und -gedichten an Luscinda niederschreibt, angestachelt. Dieses Thema findet sich auch bei Shakespeare, etwa in „Romeo und Julia“: Die Liebe als selbst formuliertes Gefühl ist in der eigenen Fantasie viel intensiver und lebendiger als die tatsächliche Beziehung zum anderen Menschen. Cardenio entschließt sich, um Luscindas Hand anzuhalten. Ihr Vater ist nicht abgeneigt, macht aber zur Bedingung, dass Cardenios Vater den Antrag stellt – „von Rechts wegen“. Denn falls dieser nicht zustimme, „so sei Luscinda kein Weib, um verstohlenerweise genommen oder gegeben zu werden“. Cardenio stimmt zu. Hier wird die Geschichte schicksalhaft: An die Stelle der Emotionalität rückt beim Helden die Vernunft und die Verbeugung vor gesellschaftlichen Normen. Dieser innere Gegensatz ist es, der Spannung in den Charakter des Helden bringt. Cardenio könnte deshalb für Shakespeare eine interessante Figur gewesen sein. Cardenio eilt nach Hause, sein Vater kommt ihm allerdings mit einer Neuigkeit zuvor: Herzog Ricardo, ein Grande von Spanien, wünscht Cardenio als Begleiter seines ältesten Sohnes an seinen Hof. Cardenio verschweigt dem Vater sein Werben um Luscinda und willigt ein. Der Geliebten und deren Vater schildert er sein Dilemma und bittet, die Vermählung aufzuschieben. Beide stimmen zu. Cardenio reist an Ricardos Hof und wird dort gut aufgenommen, vor allem vom zweiten Sohn des Granden, Fernando.
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„Ein stattlicher Jüngling von adliger Sitte, freien Sinns und verliebter Natur“ – erneut eine Figur, an der Shakespeare Freude gehabt haben könnte. Fernando wird von Cardenio leidenschaftlich geliebt und gehasst. Fernando erzählt Cardenio, dass er ein Bauernmädchen begehrt und ihr die Ehe versprechen will, um sie verführen zu können. Cardenio sieht das als Unrecht an und versucht, ihm das Vorhaben auszureden, berichtet schließlich sogar Herzog Ricardo davon. Fernando will nun vor Schwierigkeiten fliehen. Unter dem Vorwand, Abstand zu seiner Liebe bekommen zu wollen, schlägt er Cardenio eine Reise zu dessen Vater vor. Fernando verschweigt Cardenio, dass er bei dem Bauernmädchen längst erreicht hat, was er wollte. Die beiden treffen bei Cardenios Vater ein, Cardenio sieht Luscinda wieder und erzählt Fernando von seiner Liebe. Seine Schwärmerei macht Fernando neugierig auf die Geliebte, und auch er ist von ihr hingerissen. Er schickt Cardenio unter einem Vorwand aus der Stadt. Aus einem Brief von Luscinda erfährt Cardenio wenige Tage später, dass Fernando die Situation ausgenutzt und um ihre Hand angehalten hat. Cardenio eilt zu ihr. Kurz vor der Vermählung trifft er ein. Beide schwören sich Liebe, die sie mit Worten und notfalls mit Gewalt verteidigen wollen: Luscinda trägt einen Dolch bei sich, Cardenio ein Schwert, die Waffen wollen sie bei der Zeremonie gegen andere oder gegen sich selbst richten. Es gelingt Cardenio, sich im Hochzeitssaal zu verstecken. Im entscheidenden Moment aber bleiben beide stumm und tatenlos. Luscinda heiratet Fernando und wird nach der Vermählung ohnmächtig. An ihrem Busen findet Fernando ein verschlossenes Papier. Ohne den Inhalt des Schreibens erfahren zu haben, flüchtet Cardenio aus dem Haus und reitet in die Berge, in denen er fortan herumstreunt und dem Wahnsinn verfällt – und schließlich Don Quijote und Sancho Pansa trifft. Den weiteren Verlauf der Geschichte erleben die Männer gemeinsam. In der Einöde trifft Cardenio mit Don Quijote und Sancho Pansa auf Dorothea – jenes Bauernmädchen, das Fernando verführt und verraten hat. Von ihr erfährt Cardenio, dass aus Luscindas
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Brief ihre Liebe zu Cardenio und ihre Selbstmordabsichten hervorgingen. Fernando habe daraufhin versucht, die Ohnmächtige mit dem Dolch zu erstechen, Eltern und Hochzeitsgäste hielten ihn aber zurück, er verließ die Stadt. Luscinda sei in ein Kloster geflüchtet, von Fernando aber daraus entführt worden. Cardenio sieht die Begegnung mit Dorothea als Zeichen der Hoffnung: Er bietet ihr seine Dienste als Ritter an und will dafür sorgen, dass sie mit Don Fernando zusammengeführt oder er bestraft wird. In einer Schenke führt der Zufall schließlich alle Liebenden zusammen. Dorothea überzeugt Fernando davon, von Luscinda abzulassen und sich ihr wieder zuzuwenden. In einem tränenreichen Finale wird Vergebung gefeiert und die Kraft der Liebe beschworen.
Wo Shakespeare abschrieb Shakespeares Texte sind Meisterwerke der Originalität, aber selbst dieses Genie der europäischen Literatur erfand die Handlungen seiner Stücke nicht frei, sondern lehnte sich an Vorlagen an. Der Cardenio aus Don Quijote ist im Werk des Briten in guter Gesellschaft bei dem Vorläufer des Hamlet, den Saxo Grammaticus in seinem Buch „Gesta Danorum“ erwähnt und der dort Amleth heißt. Auch für Romeo und Julia konnte Shakespeare aus dem Vollen schöpfen, die Geschichte der verbotenen Liebe existierte bereits in leicht anderer Form als Volksmärchen in Norditalien, bevor der britische Dramatiker sie für die Bühne umschrieb und unsterblich machte. Die englische Dichterin Charlotte Ramsey Lennox präsentierte Mitte des 18. Jahrhunderts ihr dreibändiges Werk „Shakespeare Illustrated“, in dem sie die Quellen von 22 Shakespeare-Stücken beschrieb. Für das Studium von Shakespeares Texten gibt es hingegen nur eine anerkannte Quelle: die sogenannte erste Folioausgabe, „Mr. William Shakespeares Comedies, Histories & Tragedies“, erschienen 1623, sieben Jahre nach dem Tod des Dichters. Seine Schauspielerkollegen John Heminges und Henry Condell stellten darin
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36 seiner Dramen zusammen. Die Sammlung bildete im 17. Jahrhundert das Fundament für weitere Folioausgaben, in die auch andere Stücke aufgenommen wurden. Deren Ursprung waren meist Quartoausgaben – Einzeldrucke, in denen bereits zu Shakespeares Lebzeiten 20 Stücke erschienen waren. Die Frage nach Authentizität und Urheberschaft dieser Texte, die Datierung der Dramen und die Rekonstruktion der Reihenfolge, in der sie erschienen sind, haben Generationen von Literaturwissenschaftlern beschäftigt. Von sieben Stücken, die als „Shakespeare-Apokryphen“ bezeichnet werden, setzte sich eines durch und sicherte sich einen Platz im Kanon: „Pericles“. Anfang des 19. Jahrhunderts umfasst der Kanon also 37 Dramen. Eine textkritische Forschungsarbeit entwickelte sich. Zu deren Ergebnissen zählt, dass der Philologe Ludwig Tieck im 19. Jahrhundert Shakespeare ganze 59 Werke zuordnete, Anfang des 20. Jahrhunderts waren es bereits 66 Stücke über den First-Folio-Kanon hinaus. Kritiker wie Frederick James Furnivall, der im 19. Jahrhundert die „New Shakespere Society“ gründete, stellten diese wiederum infrage und schrieben die Werke größtenteils zeitgenössischen Dichterkollegen Shakespeares zu: Christopher Marlowe, George Peele, Thomas Lodge, Robert Greene. „Love’s Labour’s Won“ und „Cardenio“ setzten sich immerhin als „verlorene Stücke Shakespeares“ durch: In der 1986 erschienenen Ausgabe des „Complete Oxford Shakespeare“ setzten die Herausgeber erstmals Leerstellen für die beiden Dramen – und damit ein Zeichen. Während von „Love’s Labour’s Won“ nur der Titel die Zeit überdauerte, hat „Cardenio“ ein Eigenleben entwickelt. Als Nachweis für die Existenz des Stücks und die Beteiligung Shakespeares daran gilt ein Eintrag des Verlegers Humphrey Moseley ins Stationers’ Register, datiert auf den 9. September 1653. Dieses Verzeichnis der Londoner Buchhändler, Drucker und Verleger sicherte ihnen die Veröffentlichungsrechte – ein Vorläufer des späteren Urheberrechts. Den einen gilt das Dokument als Beweis für „Cardenio“, die anderen zweifeln Moseleys Zuverlässigkeit an. Shake-
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speare ist in Moseleys Eintrag für „The History of Cardenio“ als Co-Autor ausgewiesen. Er soll das Stück demnach zusammen mit John Fletcher geschrieben haben, seinem Nachfolger als Hauptdramatiker der „King’s Men“ und Mitverfasser anderer Stücke, wie „Henry VIII.“ und „The Two Noble Kinsmen“ („Die beiden edlen Vettern“). Es gibt die Vermutung, dass „Cardenio“ nach dem Eintrag ins Stationers’ Register gedruckt worden ist, die Auflage aber bei dem großen Londoner Brand von 1666 in Flammen aufging. Buchhändler sollen damals versucht haben, ihre Bestände und Manuskripte in einem Gewölbe unter der St. Paul’s Cathedral vor dem Feuer zu retten. Der mächtige Bau war jedoch unter den 13 000 Häusern und 87 Kirchen, die niederbrannten, angeblich weil ein Bäcker (und Hoflieferant des Königs) seine Backöfen abends nicht gelöscht hatte. Geschmolzenes Blei vom Dach von St. Paul’s drang bis in die Tiefen der Kirche, zerstörte Gruften, Krypten und Kapellen. Mit einem anderen Großbrand war „Cardenio“ schon zuvor in Zusammenhang gebracht worden: Der Verdacht, dass das Stück 1613 beim Feuer im Globe Theatre verbrannte, ist jedoch durch den viel späteren Eintrag ins Stationers’ Register widerlegt. Bei einem Kanonenschuss während der Premiere von Shakespeares „Heinrich VIII.“ war das Strohdach des Holzbaus in Brand geraten. Der Dramatiker war Teilhaber des Hauses – und mag das Manuskript des „Cardenio“ zur fraglichen Zeit dort deponiert haben. Überraschenderweise tauchte „Cardenio“ im 18. Jahrhundert auf. Lewis Theobald brachte ein Stück mit dem Titel „Double Falsehood or The Distrest Lovers“ („Doppelte Falschheit oder Die verzweifelten Liebenden“) auf die Londoner Bühne. Der bis dahin wenig beachtete Herausgeber und Autor von Theaterstoffen sprach dabei von seiner Version eines Shakespearedramas, das wiederum nach einer Geschichte aus Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“ entstanden sei. Er sei im Besitz gleich mehrerer OriginalManuskripte des verschollen geglaubten Shakespearestücks, behauptete Theobald. Er veröffentlichte „Double Falsehood“ 1728,
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nachdem das Drama zuvor erfolgreich aufgeführt worden war. Premiere des Stücks soll am 13. Dezember 1727 im Londoner Theatre Royal in der Drury Lane gewesen sein. Wie viel von Shakespeares und Fletchers „Cardenio“ in Theobalds Stück steckt, ist ein Rätsel. Kritik und Fälschungsvorwürfe verfolgten Lewis Theobald. Denn die angeblichen Shakespearemanuskripte bekam niemand zu Gesicht. Entweder hatte Theobald sie erfunden oder sie verschwanden erneut – bis heute hat sich der Fall nicht klären lassen. Auch war der Autor mit dem einflussreichen englischen Dichter Alexander Pope in Streit geraten, dessen 1725 erschienene Shakespeareedition er öffentlich verhöhnt hatte. Pope rächte sich, als Theobalds „Double Falsehood“ erschien. Sein Feldzug beschädigte Autor und Stück nachhaltig. Ironischerweise sicherte Pope damit gleichzeitig das Überleben des Stücks bis in die heutige Zeit: Die Debatte um Autorenschaft und Einflüsse dauert an – und „Double Falsehood“ ist nach mehr als 250 Jahren sogar wieder aufgelegt worden. Die Herausgeber der renommierten Shakespeare-Arden-Ausgabe veröffentlichten den Streit um „Double Falsehood“ zusammen mit dem Werk im März 2010. Brean Hammond, Anglistikprofessor an der Universität Nottingham, präsentierte damit das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit – darunter Analysen von Wortschatz, Versbau und Bildsprache in dem Text. Einige Literaturwissenschaftler sprachen von einem literarischen Erbgutnachweis, von „Shakespeare-DNA“ in Theobalds Werk, andere lehnten die Zuordnung ab. Die Aufnahme des Stücks in den Kanon der Shakespeare-Arden-Ausgabe sorgte für Aufruhr.
Auferstanden für die Bühne „Warum sollen die Akademiker den ganzen Spaß haben?“, fragte daraufhin Phil Willmott. Der britische Theaterregisseur brachte „Double Falsehood“ als Reaktion auf die Neuveröffentlichung und die Diskussion darüber auf die Bühne, „um es von der wissen-
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Zeitlose Leidenschaft: Der Cardenio von Shakespeare ist heute wieder auf der Bühne zu sehen, hier in einer Aufführung des American Repertory Theater 2008.
schaftlichen Debatte loszureißen und auf eigene Füße zu stellen, damit Theaterbesucher und Theatermacher debattieren können – aber mehr über ein lebendiges, atmendes Stück Theater als über einen wissenschaftlichen Text“. Im Januar 2011 feierte Willmott im Londoner Union Theatre mit „Double Falsehood“ Premiere. Es sei „die erste professionelle Wiederbelebung des umstrittenen Dramas um junge Liebe, Verrat und Versöhnung seit 1792“, warb die Bühne und beschrieb den Inhalt so: Der jüngste Sohn des Herzogs vergewaltigt ein Bauernmädchen und zieht los, um die Braut seines Freundes zu rauben. Das Nachspiel dieser traumatischen Ereignisse verschlägt die vier in die Wildnis. Der älteste Sohn des Herzogs muss einen Weg finden, alle zu versöhnen und die vermissten jungen Leute mit ihren Eltern zu vereinen. Einen Schritt weiter ging Willmotts Kollege Gregory Doran. Der britische Theaterregisseur hatte für die Royal Shakespeare Company „Cardenio“ neu bearbeitet. Von einem „Meisterwerk der Literatur-Archäologie” sprach die Theatertruppe selbst. Doran hat
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seine „Rekonstruktion“ des Stücks dokumentiert. Theobalds „Double Falsehood“ von 1727/28 und Sheltons Übersetzung des „Don Quijote“ von 1612 seien praktisch identisch, urteilte Doran nach der vergleichenden Lektüre. Er ergänzte „Double Falsehood“ um einige selbst verfasste Szenen und studierte das Ergebnis mit seinen Schauspielern ein. Theobalds Stück sei „faszinierend, ein echter Pageturner“, meinte Doran. Er vermisse allerdings einige dramatische Elemente, ohne die sich Cardenios Geschichte seiner Meinung nach nicht erzählen lasse. Eine Verführungs- und eine Entführungsszene nannte er als Beispiele. Mithilfe des spanischen Bühnenautors Antonio Alamo, Direktor des Teatro Lope de Vega in Sevilla, schrieb Doran neue Passagen, die der Geschichte „ein Stück ihrer spanischen Vergangenheit zurückgeben sollen“, wie er sagte. Gregory Doran hatte 1986 schon einmal ein anderes Shakespeare und Fletcher zugeschriebenes Stück auf die Bühne gebracht: „The Two Noble Kinsmen“ („Die beiden edlen Vettern“), gezeigt im Swan Theatre in Shakespeares Heimatort Stratford-upon-Avon. Dort feierte im April 2011 auch „Cardenio“ Premiere. Zwar ist damit für Doran nicht der „Cardenio“ des großen Erzählers wiederbelebt – jenes Stück, das die Londoner Theaterbesucher 1612 und 1613 gesehen haben – aber eine Version der Gegenwart
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Götterbilder sind Schätze – für die Anhänger der jeweiligen Religion. Anderen Glaubensgemeinschaften sind sie oft ein Dorn im Auge. Zielscheibe für Zerstörungswut waren im Mittelalter der Weltbaum der Sachsen und in der Antike die Schätze aus dem Tempel in Jerusalem: Siebenarmiger Leuchter und Schaubrottisch sollen von Mose persönlich angefertigt worden sein – nach dem Bauplan Gottes. Bis heute suchen Menschen nach den Kultobjekten, nicht nur, weil sie aus reinem Gold gewesen sein sollen.
Die Irminsul der Germanen Auf der fiktiven Liste der meistgesuchten germanischen Altertümer rangiert gleich hinter dem Ort der Varusschlacht die Irminsul, der Kultbaum der Sachsen. Wie das Schlachtfeld des Varus, so ist auch die Göttersäule im Strudel der Geschichte versunken, gehört aber keineswegs ins Reich der Legenden. Die Chronisten der Franken berichteten im 8. und 9. Jahrhundert von der Irminsul, der Weltsäule, dem Grundpfeiler der sächsischen Kultur, dem Weltenbaum, der das All trägt – und von ihrer angeblich ruhmreichen Vernichtung durch Karl den Großen. Zwar hat die Axt in
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der Hand des Franken dem Heiligtum ein Ende bereitet, den Mythos Irminsul jedoch erst durch die Zerstörung zum Leben erweckt.
Verschwommene Konturen Wie die Irminsul aussah, ist unbekannt. Zwar lässt die Silbe „sul“ eine Säule vermuten, aber der fränkische Geschichtsschreiber Rudolf von Fulda weiß es besser und beschreibt sie als Baum. Aus Archäologie und Geschichtsforschung ist Vergleichbares bekannt. Ähnliche Kultstätten standen in Skandinavien, wo bis ins hohe Mittelalter Quellen, Moore und Haine als spirituelle Orte dienten. Überdies sind Baumheiligtümer bei den Slawen bekannt, die zwischen 800 und 1200 n. Chr. menschliche Gesichter in die Spitzen von Kultbäumen geschnitzt haben sollen. Ob auch die Irminsul solcherlei Zierrat trug, ist nicht klar. Überliefert ist hingegen, dass Karl der Große Gold und Silber von der Kultstätte fortgeschleppt haben soll. Demnach wäre es denkbar, dass die Sachsen Votivgaben an ihrem Heiligtum niederlegten. Die Irminsul mag mit Kelchen, Schüsseln und Schmuck behängt oder belegt gewesen sein. Aus einer anderen Perspektive betrachtete der Geschichtsschreiber Poeta Saxo die Irminsul. Der Geistliche, der mangels Hinweisen nur unter einem Notnamen bekannt ist, schrieb im 9. Jahrhundert die „Geschichte der Taten Karls des Großen“ in Form eines Gedichts. Darin erwähnt Poeta Saxo auch die Irminsul, jedoch nicht als Baum, sondern als eine Art Idol. Es mag sich dabei um einen Baumstumpf gehandelt haben, der transportabel war und gemäß der sächsischen religiösen Feste an verschiedenen Orten aufgestellt wurde. Derartige Wanderidole sind von anderen Religionen bekannt, besonders denen nomadisierender Völker. Ein berühmtes Beispiel eines Wanderheiligtums ist die Stiftshütte der Juden auf dem Weg ins Gelobte Land. Irminsul – über die Herkunft des Namens spekuliert die Sprachforschung. Hinter Irmin könnte sich der sächsische Gott Saxnoth verbergen, eine nicht klar umrissene Göttergestalt, die
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vermutlich kriegerischen Charakters war. Der Germanist Ernst Götzinger verfolgte die Spuren des Wortes zurück in die germanische Vergangenheit und meinte, in Irmin das gotische „ariman“, das althochdeutsche „irmin“ und das angelsächsische „eormen“ wiedergefunden zu haben, das „als verstärkender Vorsatz in der Bedeutung ‚allgemein‘ verwandt wird“. Götzinger schloss daraus, „Irmingod“ sei der „allgemeine Gott des ganzen Volkes“. Weder Name noch Aussehen der Irminsul sind überliefert, ebenso verhält es sich mit Religion und Kosmologie der Sachsen. Zwar sind Anleihen bei der gut belegten Götterwelt der Skandinavier möglich, Details aber bleiben der Spekulation überlassen. Da die historischen Quellen von der Irminsul als Weltsäule sprechen, die nach Ansicht der Sachsen den Himmel gestützt haben soll, liegt der Vergleich mit Yggdrasil nahe. Diese Weltesche, in der altisländischen Skaldendichtung „Edda“ besungen, soll ein heiliger, immergrüner Baum im Weltmittelpunkt sein, dessen Zweige sich über die gesamte Erde ausbreiten. Seine Wurzeln verbinden Unter-, Zwischen- und Oberwelt. Das Beben des Baumes Yggdrasil galt den nordischen Kulturen als Zeichen für den Beginn des Weltunter-
Karl der Große lässt die germanische Irminsul fällen. Darstellung des 19. Jahrhunderts.
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gangs. Sollten die Sachsen diese Prophezeiung gekannt haben, muss ihnen der Überfall Karls des Großen auf das Heiligtum wie das Ende aller Tage erschienen sein.
Christianisierung mit Feuer und Schwert Die Franken unter König Karl lagen mit den Sachsen im Krieg. Glaubt man den zeitgenössischen Quellen der Franken, blieb Karl nichts anderes als ein Feldzug übrig, da die Sachsen wiederholt Grenzabkommen missachtet hatten. Doch das scheint Politpropaganda des Frühmittelalters gewesen sein. Der wahre Grund für den Sachsenkrieg waren territoriale Ansprüche und vermutlich der Plan des Königs, das Christentum zu verbreiten, um damit den Papst auf seine Seite zu ziehen. Mit dessen Hilfe wollte Karl Kaiser werden. Wie sich herausstellte, war es einfacher, die Kaiserkrone zu erlangen, als die Sachsen zu besiegen. Karl der Große wurde 800 von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt, die Sachsen aber wehrten sich noch bis 804 gegen die Franken. Karls Biograf Einhard schreibt: „Kein anderer Krieg ist von den Franken mit ähnlicher Ausdauer, Erbitterung und Mühe geführt worden.“ Vom Ende der Irminsul berichten auch die fränkischen Reichsannalen: „König Karl aber beschloss, nachdem er den Reichstag zu Worms gehalten hatte, die Sachsen zu bekriegen; er zog unverweilt dahin, verwüstete alles mit Feuer und Schwert, eroberte die Feste Aeresburg und zerstörte das Götzenbild, das die Sachsen Irminsul nannten.“ Drei Tage, so die Chronik weiter, soll der damals 24-jährige Karl mit der Vernichtung des Heiligtums verbracht haben. Die Kultanlage muss entweder gut verteidigt oder von gewaltiger Größe gewesen sein. Die Zerstörung der Irminsul war Teil der Missionierung germanischer Stämme im frühen Mittelalter. Hatten es Missionare bei anderen Gruppen leicht, den neuen Glauben zu verbreiten, liefen sie bei den Sachsen gegen die Wand. Der Historiker Dieter Hägermann vermutet, den Sachsen seien zentrale Begriffe des Christentums wie Sünde, Schuld und Vergebung fremd gewesen.
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Wie Hägermann in seiner Karlsbiografie herausstellt, seien die Worte nicht einmal in der sächsischen Sprache vorgekommen. Sie waren deshalb von den christlichen Wanderpredigern kaum zu vermitteln. Auch für die Drohgebärden der mächtigen Franken hatten die Sachsen wenig Verständnis und ließen sich nicht einschüchtern. Schickte König Karl Soldaten aus, um die Sachsen zur Taufe zu zwingen, gelobten die sächsischen Schwärme Besserung und stellten die kollektive Annahme des christlichen Glaubens in Aussicht. Aber kaum waren die Franken wieder abgezogen oder befanden sich wegen eines Feldzugs, etwa nach Italien, außer Reichweite, überfielen die Sachsen wieder Klöster und Bischofssitze. Für dieses enervierende Kräftemessen mag Karl der Große eine Lösung gesucht und sie in der Vernichtung der Irminsul gefunden haben. Noch effektiver als die eigentliche Bekehrung muss es den Christen erschienen sein, die großen heidnischen Kultbilder zu vernichten, um den Germanen die Schwäche ihrer Götter zu demonstrieren, „eine Art sichtbares und überlieferungswürdiges missionarisches Erfolgserlebnis“, meint der Archäologe Torsten Capelle.
Wo die Germanen Opfer brachten Obwohl die Spuren der Irminsul und der um sie praktizierten Religion verschwunden sind, gibt es nur geringe Zweifel daran, dass sie einst existiert hat. Unter den zeitgenössischen Historikern nennt Einhard, Vertrauter Karls des Großen, die Irminsul einmal ausdrücklich in den Annalen der Franken. Allerdings ist in einem weiteren Werk Einhards, der „Vita Karoli Magni“, der Lebensbeschreibung Karls des Großen, von der Irminsul nicht die Rede, obwohl der Autor dem Sachsenkrieg zwei Kapitel widmet. Wegen seiner Nähe zum Frankenkönig gilt diese erste Herrscherbiografie des Mittelalters als weitgehend authentisch, auch wenn sich Einhard bisweilen an den ausgeschmückten Kaiserbiografien des römischen Autors Sueton orientiert haben soll. Auch von Poeta Saxo nehmen Literaturwissenschaftler heute an,
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dass ihm die fränkischen Annalen des Einhard als Vorlage gedient haben. Ob Poeta Saxo, Einhard oder Rudolf von Fulda die Irminsul selbst gesehen haben oder voneinander abschrieben, bleibt fraglich. Auch die Archäologie kennt keine Belege für die Irminsul. Hinweise auf Kultbäume aber gibt es. Dazu zählen germanische Holzidole wie die Figur einer Göttin aus dem Seenheiligtum von Oberdorla in Thüringen. Für Archäologen sind derlei Entdeckungen in jeder Hinsicht ein Glücksfall. Zum einen sind Holzfunde selten, da das Material mit der Zeit zerfällt und nur unter günstigen Erhaltungsbedingungen – etwa unter Luftabschluss im Boden von Gewässern oder Mooren – erhalten bleibt. Zum anderen belegen Funde wie jener aus Oberdorla, dass die Germanen Kultobjekte aus Holz benutzten. Den Beweis eines direkten Bezugs zu Kultbäumen muss die Archäologie jedoch schuldig bleiben. Selbst wenn sich ehemalige heilige Bäume über Jahrhunderte erhalten haben sollten, ist ihre Nutzung als spiritueller Ort nicht mehr erkennbar. Einige germanische Quellopferfunde wie jener von Bad Pyrmont im deutschen Mittelgebirge tragen jedoch Bodenspuren alten Baumbewuchses.
Grabräuber von Gottes Gnaden Sollte es Spuren der Irminsul geben, kann sie nur die Archäologie finden. In den vergangenen 100 Jahren haben Wissenschaftler mehrfach versucht, Reste der Kultsäule zu entdecken. Grabungsteams mit akademischen Weihen, Privatgelehrte und Heimatforscher fahndeten meist in Obermarsberg, einem Stadtteil Marsbergs im Hochsauerlandkreis. Dort, in der Nähe der Diemel, lag im 8. Jahrhundert die Eresburg, eine Befestigung, die mit jener Aeresburg der Sachsen gleichzusetzen ist, die in den Lorscher Annalen erwähnt wird. Die Sachsen hatten den Platz gut gewählt. Die Befestigung erhob sich auf einer 900 Meter langen und 350 Meter breiten, nach allen Seiten steil abfallenden Bergkuppe. Mit welchen Mitteln die
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Franken die Eresburg 772 einnahmen, ist nicht überliefert. Angesichts der strategischen Lage des Orts kann der Angriff jedoch keine einfache Aufgabe gewesen sein. Dennoch gelang der Coup. Die Eresburg fiel in fränkische Hand, Karl der Große errichtete eine Kirche auf dem Gelände, die er später zur Osterpfalz seiner Familie ausbauen ließ. In den historischen Quellen steckt eine Randnotiz der Geschichte: Während es Karls Frau und seine Kinder auf dem unwirtlichen Berg meist allein aushalten mussten, badete der Herrscher lieber in den warmen Quellen seiner Paderborner Pfalz oder war auf Kriegszug. Genau am Ort des Kirchenbaus soll die Irminsul gestanden haben. Zwar gibt es dafür keinerlei Hinweis in den zeitgenössischen Texten, zur Zeit der Missionierung Europas war es jedoch üblich, Kirchen über paganen Kultorten zu errichten. Ob die Irminsul einst unter jenem Gotteshaus gestanden hat, dessen Nachfolger noch heute in Obermarsberg die Gemeinde aufnimmt, entscheiden vier Buchstaben. Die Lorscher Annalen berichten, Karl habe die Eresburg erobert, bis er zur Irminsul gelangte („ad Ermensul usque pervenit“). Welcher geografische Raum mit dem Wort „usque“ (bis) ausgemessen werden muss, ist nicht bekannt. Es mag sein, dass die Irminsul gleich hinter der Eresburg in einem heiligen Hain aufragte. Ebenso gut aber ist es möglich, dass das Heiligtum mehrere Tagesreisen entfernt lag. Für Vertreter der Eresburgtheorie gibt es einen weiteren, möglicherweise entscheidenden Hinweis in den Lorscher Annalen: „Und es war eine große Dürre, sodass es an Wasser an dem oben angegebenen Ort [der Irminsul] mangelte. Und da der oben genannte glorreiche König dort zwei oder drei Tage bleiben wollte, da ergoss sich plötzlich durch Gottes Gnade am Mittag, da das ganze Heer ausruhte, in einem Gießbach, wovon niemand wusste, Wasser in so reichlicher Fülle, dass das ganze Heer genug hatte. Darauf kam er zum Flusse der Weser.“ Tatsächlich ist bei Obermarsberg ein geologisches Phänomen nachgewiesen, das diesen Bericht einst genährt haben mag: eine intermittierende Quelle. An solchen Orten tritt manchmal Wasser aus dem Boden, einem
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Geysir ähnlich. Das periodische Verhalten dieser Art von Quelle ist mit gespannten Gas- und Luftmassen erklärbar, deren Entladung dafür sorgt, dass die Quelle springt. Überdies haben Karstquellen oft einen intermittierenden Überlauf. Wenn bei der Schneeschmelze oder nach größeren Regenfällen die Quellhöhle nicht mehr genug Raum bietet, steigt der Wasserspiegel im Gestein, bis irgendwann eine Öffnung weiter oben erreicht wird. Diese beginnt dann zusätzlich zu schütten. Bei Obermarsberg sind solche intermittierenden Quellen belegt, aber sie liegen tiefer im Berg, während sich die Burg auf der Höhe erhebt. Die Archäologin Gabriele Isenberg rückte der Eresburg Anfang der 1990er-Jahre mit der Wissenschaft zu Leibe. Während einer Grabungskampagne untersuchte Isenbergs Team unter anderem die heutige Kirche auf dem Gelände der ehemaligen sächsischen Befestigung – jenes Gotteshaus, das auf die fränkische Osterpfalz zurückgeht – und das dazugehörige Gräberfeld. Dazu die Archäologin: „Obermarsberg ist stratigrafisch problematisch. Hier liegen elf Kirchen übereinander. Von der ursprünglichen, die vermutlich einst zur Osterpfalz Karls des Großen gehörte, haben wir nur den Westteil gefunden.“ In den alten Gräbern wartete eine Überraschung auf die Wissenschaftlerin. Wie sich herausstellte, hatten schon im 18. Jahrhundert Schatzsucher nach der Irminsul gefahndet. Die Grabstätten waren geöffnet und durchwühlt worden, anschließend hatten die Grabschänder die Gruben wieder geschlossen. Betroffen waren nur die oberen Grabschichten. An die unteren, für die Archäologen wertvolleren Gräber aus der Zeit der fränkischen Invasion, hatten die Langfinger nicht Hand angelegt, vermutlich hatten sie nicht einmal von ihrer Existenz gewusst. Dennoch gab die Plünderung Rätsel auf. Es handelte sich bei den Bestattungen um die Gräber einfacher Leute, kein Adelstitel versprach reiche Beute, zumal die Sitte, Toten reiche Beigaben mit ins Grab zu geben, mit der Christianisierung ohnehin verschwunden war. Eine Erklärung fand Gabriele Isenberg schließlich in den Briefen eines Abtes des nahen Klosters Corvey aus dem 19. Jahrhundert. Darin schlug der um
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Geld verlegene Klostervorsteher vor, die Gräber auf der ehemaligen Eresburg zu untersuchen, weil der legendäre Schatz der Irminsul vielleicht noch dort vergraben sein könne. Nach Isenbergs Meinung gingen die Grabräuber von Gottes Gnaden leer aus. Auch über 100 Jahre später fanden die Archäologen keine Preziosen. Gabriele Isenberg erinnert sich augenzwinkernd: „Auch in den ältesten Gräbern habe ich keinen Schatz gefunden.“ Dennoch sprachen die Gebeine Bände. Die wenigen Grabbeigaben, die das Team in den Bestattungen fand, waren allesamt fränkisch. Unchristianisierte Sachsen aus der Zeit der Irminsul sind in Obermarsberg nicht bestattet worden. Ein weiterer Hinweis auf die sächsische Kultsäule entpuppte sich als Hirngespinst. Bereits 1936 war in der Marsberger Drakenhöhle, in der Umgebung der Kirche Peter und Paul, ein mutmaßlicher Überrest der Irminsul entdeckt worden: eine aus Stein gehauene stilisierte Krone eines Baums – ein Teil der Irminsul und Beweis, dass sie in der Nähe der historischen Eresburg gestanden hatte? Für Gabriele Isenberg war dieses Fundstück anrüchig: „Die Entdeckung der sogenannten Weltensäule wurde 1936 gemacht. Vermutlich steckte Heinrich Himmler dahinter. Das entdeckte Schopfstück eines Baumes erinnert jedenfalls überhaupt nicht an Bildhauerei aus der Zeit der Karolinger, sie sieht eher wie BauhausKunst aus. Es gibt auch keine Spuren von Verwitterung, die der Stein hätte tragen müssen. Überdies gelten die Sachsen des frühen Mittelalters nicht gerade als begnadete Steinmetze.“ Trotz interessanter Befunde fehlt jede Spur der Irminsul auf dem Obermarsberg. Gabriele Isenberg hält es für wahrscheinlich, dass das Kultobjekt ein Wanderheiligtum war: „So ein Idol kann man in jedes Loch stecken. Dessen Standort findet man nicht wieder.“
Späte Rache an Heiligen aus Stein Wer den Standort der Irminsul sucht, kommt an den Externsteinen nicht vorbei. Die zerklüftete Sandsteinformation im Teutoburger
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Wald ist seit Jahrhunderten Projektionsfläche für Sagen und Märchen, deren Wahrheitsgehalt besonders in der Zeit des Nationalsozialismus belegt werden sollte. Die Versuche, in den 1930erJahren ein germanisches Kultzentrum an den Externsteinen auszugraben, schlugen jedoch fehl. Allerdings existiert ein Hinweis am Fuß der etwa 47 Meter hohen Felsen: ein großes Felsrelief. Es zeigt eine Kreuzabnahme in der typischen Darstellungsweise mittelalterlicher Kunst – aber mit einem geknickten Baum. Das Relief an der Nordostseite eines der Felsen ist aus dem anstehenden Sandstein herausgehauen. Auf einer rechteckigen Fläche von 4,80 mal 3,70 Metern stellte der unbekannte Steinmetz eine Kreuzabnahme dar, ein seit der Antike beliebtes Sujet christlicher Kunst. Leider ist der untere Teil leicht verwittert, er zeigte vermutlich zwei Menschen mit einem Drachen. Möglicherweise sollte an dieser Stelle eine Unterwelt dargestellt werden, das lässt die deutliche Trennung vom größeren oberen Reliefteil vermuten. Herausragend erhalten ist hingegen das obere Stück, die Kreuzabnahme. Es zeigt, wie der entseelte, vom Kreuz bereits gelöste Leib Christi herabgelassen wird. Links nimmt Joseph den Leichnam entgegen, den rechts Nikodemus vom Kreuz abgenommen hat. Obwohl den Figuren keine Namen zugeordnet sind, entspricht die Szene dem Kanon mittelalterlicher Kreuzabnahmen, bei denen stets Joseph den Leichnam empfängt, der ihm von Nikodemus auf der rechten Seite des Kreuzes übergeben wird. Doch der Nikodemus im Teutoburger Wald brachte den Stein der Irminsuldebatte noch einmal ins Rollen. Um an das Kreuz zu gelangen, steht Nikodemus nicht – wie sonst üblich – auf einer Leiter, sondern auf dem geknickten Stamm eines vegetabilen Objekts, das an einen Baum erinnert. Der Stamm gabelt sich am Kopf in zwei Äste und hat sich, bevor er umgebogen wurde, auf einem trapezförmigen Fuß erhoben – ein Bild der gefällten Irminsul? Schon Johann Wolfgang von Goethe hat sich über die Geschichte der Externsteine den Kopf zerbrochen. Der Dichter und Forscher untersuchte das Relief 1824 und war sich sicher, dass die Fußstüt-
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Das Relief an den Externsteinen zeigt eine Kreuzabnahme. Der geknickte Baum unten rechts könnte eine Darstellung der Irminsul sein.
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ze des Nikodemus ein Baum ist. Weiter wagte sich Goethe aber nicht vor. Er suchte nicht nach der Irminsul, sondern war von der Idee besessen, die Urpflanze auf alten Bildern zu finden, ein Gewächs, aus dem alle anderen Pflanzenarten hervorgegangen sein sollen. Was Goethe offenließ, versuchten viele andere zu füllen. Eine verbreitete Annahme ist, dass es sich bei dem mutmaßlichen Baum um eine Dattelpalme handelt. Darauf deute der gegabelte Kopf am Ende des Stammes hin, der tatsächlich an Palmblätter erinnert. Auch könne, so ein weiteres Argument pro Palme, ein solcher Baum durchaus auf dem Kalvarienberg gestanden haben. Tatsächlich wachsen Dattelpalmen in der Levante. Gegner der PalmenHypothese führen Details der Figuren auf dem Relief ins Feld: Sie tragen keineswegs levantinische Kleidung der Antike, sondern frühmittelalterlichen germanischen Schmuck. So zeigt eine weibliche Gestalt, die als Maria interpretiert wird, Reifen als Hals- und Armschmuck, eine durch die Archäologie belegte germanische Kleidungssitte. Überdies erscheint es wenig plausibel, den noch zu christianisierenden Germanen Dattelpalmen vorzusetzen. Eine wichtige Aufgabe der Missionare im frühen Mittelalter war es, die Christusgeschichte in die germanische Kultur zu überführen, um sie verständlich zu machen. Das Interesse der Germanen an der Flora der Levante wird eher gering gewesen sein. Aufschluss über das rätselhafte Objekt unter den Füßen des Nikodemus gibt die Datierung des Kunstwerks. Der Prähistoriker Walther Matthes untersuchte das Relief Anfang der 1990er-Jahre und verglich es mit ähnlichen Darstellungen aus der Zeit des Mittelalters. Als Entstehungszeit schätzte Matthes daraufhin das 9. Jahrhundert. Damit rückt das Relief in zeitliche Nähe zur Zerstörung der Irminsul. Matthes’ kunsthistorische Expertise lässt sich mit geschichtlichen Ereignissen um die Externsteine ergänzen. Im 9. Jahrhundert gründeten Mönche des fränkischen Klosters Corbier das erste Kloster auf sächsischem Boden. Der Ort der Klostergründung ist heute nicht bekannt, er wird in den Quellen als „hethis“ (Heide) bezeichnet. Ob die Geistlichen aus Corbier
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sich neben den Externsteinen niederließen, lässt sich nicht belegen. Aber selbst wenn dort ein christlicher Altar errichtet worden sein sollte, hielten es die Mönche nicht lange an den Externsteinen aus. Sie zogen 822 um und lebten fortan in der Weseraue, im Vorläufer des heutigen Klosters Corvey bei Höxter. Einer anderen Theorie zufolge sollen es Mönche des Paderborner Klosters Abdinghof gewesen sein, die sich bei den Externsteinen niederließen. Diese Gründung fällt jedoch erst ins 11. Jahrhundert und gehört nach Matthes in die Zeit nach der Entstehung des Reliefs an den Externsteinen. Dass die Mönche ausgerechnet die Externsteine mit einem Großrelief schmückten, hält Walther Matthes für nachvollziehbar: „Das zunächst rätselhaft erscheinende Vorhaben vermag jedoch verständlich zu werden, wenn es als Teil jener Maßnahmen betrachtet werden kann, die nach der Unterwerfung der Sachsen ein bedeutendes heidnisches Felsenheiligtum in eine führende Kultstätte des christianisierten Sachsenlandes umwandeln sollte.“ Vor dem Hintergrund, dass die Franken in den meisten Fällen Kirchen dort errichteten, wo sie zuvor heidnische Kultbilder vernichtet hatten, weist Matthes darauf hin, dass bei dem Felsen „schon in heidnischer Zeit große Skulpturen zu sehen waren“. Tatsächlich tragen die Externsteine aus dem Sandstein herausmodellierte Gesichter, bis zu sechs Meter groß, die heute zwar stark verwittert, aber noch gut erkennbar sind. Das Relief erzählt zwei Geschichten, zum einen die der Kreuzabnahme Christi, zum anderen die Reaktion der Sachsen auf die Christianisierung. Die Figur des Nikodemus steht zwar auf dem geknickten oder gefällten Baum, um an das Kreuz heranzureichen. Allerdings fehlen Nikodemus beide Beine. Da das übrige Relief gut erhalten ist, scheinen die Beine gezielt zerstört worden zu sein. Zwar ist nicht mehr nachvollziehbar, in welchem Jahrhundert der steinerne Nikodemus verstümmelt wurde, doch lässt sich die Motivation hinter der Tat erahnen. Der Christ tritt die mutmaßliche Irminsul, das Allerheiligste der Sachsen, mit Füßen. Dieser Frevel mag bei den Germanen das Fass zum Überlaufen gebracht haben.
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Das Herausschlagen der Beine des Nikodemus ist ein Hinweis darauf, dass der gefällte Baum von ihnen einst als Irminsul identifiziert worden sein könnte.
Überleben in der Erinnerung Mit der Christianisierung brach im Land der Sachsen – wie vielerorts in Europa – ein neues Zeitalter an. Karl der Große ließ in den eroberten größeren Siedlungen Kirchen in die Mitte der Bebauung setzen. Die Religion war fortan zentraler Punkt des Lebens. Das war ungewöhnlich. Götter und Totenkult gehörte für die Sachsen zwar zum Leben, aber an den Rand der Dörfer und Weiler. Religion als zentraler Aspekt des Alltags war ihnen unbekannt. Wenn das den Sachsen noch nicht ungewöhnlich erschienen sein mag, so wird es die Art und Weise der steinernen Kultbauten gewesen sein. Die sächsische Kultur war eine Holzkultur. Nicht nur Häuser und Alltagsgerät, auch die religiösen Male und Idole waren aus Holz gefertigt. Mit der Zerstörung der Irminsul versetzte Karl der Große nicht nur der sächsischen Religion einen schweren Schlag, sondern der gesamten sächsischen Kultur. Der Schatz, der verloren ging, war mehr als ein Kultobjekt. Er war Mittelpunkt einer von Religion noch nicht vollständig durchdrungenen Lebenswirklichkeit und damit einer, wenigstens zum Teil, modernen Form des Miteinanders, wie sie heute kaum mehr bekannt ist. Dennoch hat ausgerechnet der Zerstörungsakt Karls des Großen dafür gesorgt, dass die Quellen seiner Zeit überhaupt von der Irminsul berichteten und sie damit bis in die Gegenwart überliefert haben. Ausgerechnet durch den triumphalen Zerstörungsakt der Franken hat das Wissen um die Irminsul – wenn auch nur in Fragmenten – überlebt.
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Die Menora der Juden Wer in Rom den Spuren der Antike folgt, wandert vom Forum Romanum zum Kolosseum und begegnet dabei dem knapp 15 Meter hohen Triumphbogen des Titus. Das Innere des Bogens ist mit zwei Reliefs geschmückt, die den Triumphzug des Titus durch Rom zeigen, nachdem der Feldherr und spätere Kaiser den Aufstand der Juden niedergeschlagen und Jerusalem erobert hatte. Das war im Jahr 70 n. Chr. Heute sind die Reliefs für die Kunstgeschichte und Altertumsforschung gleichermaßen wertvoll: Zwei der größten Schätze jüdischer Kultur sind auf einem der Bilder zu Stein erstarrt. Vor fast 2000 Jahren schlug ein antiker Meister der Bildhauerkunst in den pentelischen Marmor des Bogens eine Szene, die heute als Momentaufnahme der Weltgeschichte gilt: Zwischen römischen Soldaten, Fanfarenbläsern und Trägern sind der siebenarmige Leuchter und der Schaubrottisch aus dem jüdischen
Abtransport der Menora durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. in der Darstellung auf dem Titusbogen in Rom.
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Tempel in Jerusalem zu sehen. Die beiden heiligen Objekte wurden als Sinnbilder des Sieges über die Juden von den Römern durch die Straßen der Tibermetropole getragen. Danach verschwanden sie für immer.
Sieben Lichter im Dunkel der Geschichte Die Menora (hebräisch für „Leuchter“) wird mitsamt Bauanleitung im Alten Testament beschrieben. Im 2. Buch Mose fordert Gott Mose auf, Kultobjekte für die Stiftshütte anzufertigen, für jenes Zeltheiligtum, das den Juden als Anbetungsstätte auf dem Weg von Ägypten ins Gelobte Land diente und Vorläufer des später errichteten Tempels in Jerusalem gewesen sein soll. Nach dem Text im 2. Buch Mose 25, 31–39 soll die Menora Arme nach beiden Seiten haben und sieben Lampen tragen: „Du sollst auch einen Leuchter von feinem, getriebenem Golde machen; daran soll der Schaft mit Röhren, Schalen, Knäufen und Blumen sein. Sechs Röhren sollen aus dem Leuchter zu den Seiten ausgehen, aus jeglicher Seite drei Röhren. Eine jegliche Röhre soll drei offene Schalen mit Knäufen und Blumen haben; so soll es sein bei den sechs Röhren aus dem Leuchter. Aber der Schaft am Leuchter soll vier offene Schalen mit Knäufen und Blumen haben und je einen Knauf unter zwei von den sechs Röhren, welche aus dem Leuchter gehen. Beide, die Knäufe und Röhren, sollen aus ihm gehen, alles getriebenes, lauteres Gold. Und sollst sieben Lampen machen obenauf, dass sie nach vornehin leuchten, und Lichtschneuzen und Löschnäpfe von feinem Golde. Aus einem Zentner feinen Goldes sollst du das machen mit allem diesem Gerät.“ Mit seinen sieben Armen sollte der Leuchter an den Baum des Lebens im Paradiesgarten erinnern. Überdies steht die Zahl sieben für die sieben Schöpfungstage, die „sieben Säulen der Weisheit“ aus den Sprüchen Salomons und die sieben damals bekannten Himmelskörper Saturn, Jupiter, Mars, Merkur, Venus, Mond und Sonne. Die Flamme der Menora, so forderte es das Gebot Gottes, durfte niemals verlöschen – keine einfache Aufgabe bei einer jah-
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relangen Völkerwanderung. Auf dem Zug aus Ägypten verwalteten Mose und sein Bruder Aaron die Menora deshalb vermutlich persönlich. Wie die Menora so entstanden auch weitere Kultobjekte im Auftrag Gottes: die Bundeslade für die Aufbewahrung der Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten, die Mose auf dem Berg Sinai empfangen hatte; ein goldener Räucheraltar; ein Tisch aus Akazienholz, mit Gold überzogen und mit goldenen Gefäßen für Trankopfer. Auf dem Tisch sollten zwölf „Brote des Angesichts“ oder „Schaubrote“ liegen, je eins für einen der zwölf Stämme Israels. Auf diesen Opferbroten sollten die Augen Gottes ruhen, der das Volk Israel mit Nahrung versorgte. Allen Objekten war gemein, dass sie Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem von ihm auserwählten jüdischen Volk waren – Menora, Altar, Bundeslade und Schaubrottisch waren für die Juden von höchstem religiösen Wert. Wer sich an diesen Gaben Gottes vergriff, verletzte ein ganzes Volk. Das störte die Gegner der Juden kaum, mancher Kriegsfürst mag gerade deshalb die Kultobjekte im Blick gehabt haben, weil er mit ihrem Raub den Juden einen schweren Schlag versetzen konnte. So gerieten die Schätze der Hebräer ins Visier ihrer Feinde. Als erstes Objekt des Tempelschatzes verschwand die Bundeslade beim Überfall der Babylonier unter Nebukadnezar II. auf Jerusalem um 587 v. Chr. Auch die drei übrigen Kultgeräte gingen im Strudel der Geschichte verloren.
Kultgeräte als Kopien Wer unter dem Titusbogen steht und sich das Relief der Menora genau anschaut, erkennt die Abbildungen winziger Tiere auf dem Sockel des Leuchters. Kunsthistoriker wissen, dass diese Art der Darstellung hellenistisch ist und damit aus einem Abschnitt der Weltgeschichte stammt, die erst im 4. Jahrhundert v. Chr. mit den Eroberungszügen Alexanders des Großen begann – 800 Jahre nach dem Auszug der Juden aus Ägypten. Überdies sind Tierbilder auf
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jüdischen Kultgeräten nicht üblich. Wie gelangten diese Abbildungen auf die Menora? Der Althistoriker Wolf Virgin vermutet, dass ein hellenistisch geschmückter Holzkasten den Fuß der Menora beim Triumphzug schützte. Eine andere, weiter verbreitete Theorie besagt, dass die auf dem Titusbogen dargestellte Menora ein in der Antike hergestellter Ersatz für das Original gewesen sein könnte, das zu dieser Zeit vielleicht schon lange verschwunden war. Gelegenheiten dazu hatte es viele gegeben. Zunächst die Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar II., bei dem der Babylonier nicht nur nach der Bundeslade griff, sondern auch den übrigen Tempelschatz geplündert haben mag. Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. herrschte der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes mit harter Hand über Israel. Er schaffte das jüdische Gesetz ab und weihte den Jerusalemer Tempel dem Zeus. Es ist vorstellbar, dass er auch die Kultobjekte hellenisierte. Eine andere Version der Geschichte erzählt der jüdische Historiker Flavius Josephus. Er berichtet in seinem Werk „Jüdische Altertümer“, der Herrscher der Seleukiden habe die Tempelschätze geplündert. Allerdings schrieb Flavius Josephus erst 300 Jahre nach den Ereignissen und hat den Text möglicherweise ausgeschmückt. Die Geschichte Jerusalems hält eine weitere Möglichkeit parat: Die Tage der Seleukiden in Israel waren 164 v. Chr. gezählt, als der jüdische Rebell Judas Makkabäus Jerusalem mithilfe der Römer zurückeroberte. Die Bibel berichtet, der Untergrundkämpfer habe dem Tempel daraufhin eine neue Menora gestiftet (1. Makkabäer, 4, 49–51). Dieser Leuchter soll wundertätig gewesen sein: Wegen der Kriegslage gab es nur wenig geweihtes Öl in Jerusalem, sodass die Lichter nur einige Stunden hätten brennen können. Trotzdem sollen sie – durch ein Wunder – acht Tage lang nicht verloschen sein, so lange, bis die Priester neues Brennmittel herbeigeschafft hatten. Heute feiern Juden weltweit dieses Ereignis als Lichterfest „Chanukka“. Der Leuchter auf dem Titusbogen ist möglicherweise ein Abbild jener wundertätigen Menora des Judas Makkabäus.
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Der Sieg über die Seleukiden hatte Folgen. Die Römer dachten nicht daran, Jerusalem wieder zu verlassen. Sie stellten die Stadt unter ihren Schutz und hielten Palästina 230 Jahre lang besetzt. In dieser Zeit lebte und starb Jesus von Nazareth, über das Land regierte Herodes I., ein Marionettenherrscher der Römer. 66 n. Chr. brach unter der römischen Steuerlast der zweite jüdische Aufstand los. Vier Jahre lang herrschte Blutvergießen im Gelobten Land. Dann gelang es dem Feldherrn und Kaisersohn Titus Flavius Vespasianus, Jerusalem zu belagern und schließlich zu erobern. Zwar bescheinigt Historiker Flavius Josephus dem Kaisersohn die Absicht, die Gebäude der Stadt zu schonen, aber das Schicksal des Tempels – und seiner Schätze – lag in der Hand eines einfach Soldaten: „Zu dieser Zeit ergriff einer der Soldaten, ohne dazu Befehl erhalten zu haben, […] einen brennenden Gegenstand. Von einem anderen Soldaten ließ er sich hochheben und warf das Feuer durch ein goldenes Fenster (des Tempels)“, schreibt Flavius Josephus in „Der jüdische Krieg“. Das große Gotteshaus brannte am 10. August 70 n. Chr. nieder. Das Bauwerk war so gewaltig, dass es mehrere Tage gedauert haben soll, bis sich die Flammen zu den Grundmauern heruntergefressen hatten – genug Zeit für die Römer, den Tempelschatz zu plündern. Es blieb nicht viel übrig vom Haus Jahwes. Neben dem verkohlten Fundament ragte noch ein Rest der alten Befestigungsmauer empor, der heute Klagemauer genannt wird. Seit fast 2000 Jahren trauern Juden vor der Wand in der Jerusalemer Altstadt um den Verlust des großen Tempels und der heiligen Kultobjekte.
Asyl im Tempel des Feindes Im Gepäck der Sieger zogen Menora und Schaubrottisch nach Rom. Darauf deutet das Relief im Titusbogen hin. Nach dem Triumphzug des Titus fanden die Objekte ein Zuhause in einem Tempel für die Friedensgöttin, den Kaiser Vespasian als Dank für den Sieg in Palästina auf dem Forum Romanum errichten ließ. Wie Flavius Josephus berichtet, verwendete der Kaiser das aus dem
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Jerusalemer Tempelschatz geplünderte Gold und Silber, um den Bau errichten zu lassen, und ließ in seinem Innern die schönsten Beutestücke aus Palästina ausstellen, darunter Vorhänge des Tempels, die jüdische Gesetzesrolle der Thora und – für die Luxus liebenden Römer besonders reizvoll – die schweren Goldgegenstände der Menora und des Schaubrottisches. Mancher Jude wird es als Zeichen Gottes angesehen haben, dass der Tempel der römischen Friedensgöttin das Schicksal des Jerusalemer Tempels teilte und 191 n. Chr. niederbrannte. Zwar gibt der römische Geschichtsschreiber Herodian detailliert Auskunft über die Feuersbrunst auf dem Forum, über den Verbleib der jüdischen Tempelschätze schweigt er sich jedoch aus. Gingen Menora und Schaubrottisch in der Katastrophe verloren? Ein Hinweis auf den Verbleib der Kultobjekte mag in der Abgabezahlung verborgen liegen, die die römische Verwaltung kurz nach dem Brand von den Juden in der Stadt forderte, und die an den Tempel des Jupiter Capitolinus zu entrichten war. Dort könnten die Römer Menora und Schaubrottisch untergebracht haben. Es ist möglich, dass die Juden für das Asyl der heiligen Gegenstände zahlen mussten. Ob die Kultobjekte in der Spätantike noch existierten oder zu einem Klumpen Edelmetall zusammengeschmolzen waren – sie hatten einen festen Platz in der jüdischen Kultur. Das zeigen Graffiti in den jüdischen Katakomben um Rom, in denen die Juden ihre Toten bestatteten. Diese Begräbnisart ist heute hauptsächlich von den Christen überliefert. Ähnlich der frühen Christen bedienten sich auch die Juden in Rom der Möglichkeit, Zeichen in den weichen Tuffstein zu ritzen. Während die Christen Anker, Fisch und später das Kreuz als Zeichen ihrer Religion verwendeten, finden sich neben den jüdischen Gräbern der Katakomben Bilder des siebenarmigen Leuchters.
Vom Vatikan nach Mekka Solange der Beweis für die Zerstörung der Menora und des Schaubrottisches ausbleibt, keimt Hoffnung. Längst aber sind es nicht
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allein religiöse Motive, die Menschen antreiben, nach den jüdischen Kultobjekten zu fahnden. Wissenschaftler hoffen, das Auffinden der Menora könne Licht in die noch dunklen Winkel jüdischer Geschichte werfen, Schatzsucher interessieren vor allem die monetären Aspekte der goldenen Gegenstände, und auch Verschwörungstheoretiker haben Ideen zum Verbleib der Heiligtümer entwickelt. Gemäß einer solchen populären Theorie sind die Geräte in den Geheimarchiven des Vatikan versteckt. Das behauptete als Erster der italienische Mönch Petrus Diaconus. Im Skriptorium des Klosters Montecassino schrieb der Geistliche im 12. Jahrhundert, der Papst habe die Kultgeräte aus dem Haus Jahwes in Besitz. Obwohl Petrus Diaconus unter Theologen heute als geschickter Fälscher von antiken Texten und Erfinder unterhaltsamer Sachverhalte gilt, schenkte ihm der Staat Israel noch im 20. Jahrhundert Glauben. 1996 sandte der israelische Minister für Religiöse Angelegenheiten, Shimon Shetreet, eine offizielle Anfrage an den Papst und bat das Kirchenoberhaupt, in den Archiven des Vatikans nach der Menora suchen zu lassen. Die Anfrage blieb ohne öffentlich bekannte Antwort. Der Weg vom Forum Romanum zum Vatikan ist kurz. Wahrscheinlich aber gelangten die jüdischen Heiligtümer in die Hand der Westgoten und nahmen in den Wirren der Völkerwanderung einen Umweg über weite Teile Südeuropas. Die Westgoten hielten zu Beginn des 5. Jahrhunderts das siechende Weströmische Reich in Atem. Unter ihrem Anführer Alarich hatten die Horden weite Teile der Balkanhalbinsel verwüstet und standen nun vor Rom. Die Stadt hielt nicht lange stand. 410 eroberten die Westgoten die einstige Metropole und plünderten sie mehrere Tage lang. Das Datum gilt Historikern heute als Ende der antiken Welt. Aber entgegen der Legenden von zertrümmerten Kunstwerken, gemarterten Römern und brennenden Stadtteilen soll die Zerstörungswut der Westgoten Grenzen gekannt haben. Glaubt man dem gotischen Geschichtsschreiber Jordanes, befahl Alarich seinem Heer, so wenig wie möglich zu zerstören. In
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Kapitel 30 der „Gotengeschichte“ heißt es: „Als sie schließlich Rom betraten, gab Alarich den ausdrücklichen Befehl, die Stadt nur zu plündern, nicht aber in Brand zu stecken, so wie es bei wilden Völkern üblich ist, auch erlaubte er nicht, die heiligen Stätten zu beschädigen.“ Jordanes schrieb im 6. Jahrhundert und damit zeitnah zu den Ereignissen. Noch genauer will es der Historiker Prokop wissen, der berichtet, dass die jüdischen Kultobjekte den Westgoten in die Hände gefallen seien. Offenbar existierten Menora und Schaubrottisch noch, als Alarichs Heer durch Rom zog. Auch scheint der Gotenführer die Kultobjekte nicht zerstört, sondern aus der Stadt getragen zu haben. Zwar verfasste Prokop sein Geschichtswerk „Historiai“ etwa 100 Jahre nach dem Fall Roms. Da Prokop aber ab 527 als Berater des oströmischen Feldherrn Belisar an einem Krieg gegen die Goten und Vandalen teilnahm, könnte er Zugang zur historischen Überlieferung der Westgoten gehabt und diese aufgeschrieben haben. Mit der Eroberung Roms schrieb Alarich Weltgeschichte, kurz darauf starb er, als er von Kalabrien versuchte, per Schiff nach Westafrika überzusetzen. Das Grab des Königs ist bis heute eine Legende: Alarich soll mit vielen Schätzen im Fluss Busento bei Cosenza begraben worden sein, den die Westgoten dafür vorübergehend trocken gelegt haben sollen. Die ältesten Quellen für diese Sage sind Texte des langobardischen Geschichtsschreibers Paulus Diaconus, der jedoch erst 300 Jahre nach den Ereignissen lebte. Bis heute glauben viele Schatzsucher an die Gruft im Flussbett, in Cosenza ist die Legende ein Touristenmagnet, Grab und Schatz sind allerdings noch nicht gefunden worden. Die Westgoten zog es weiter nach Westen. Unter dem neuen König Athaulf gelangte das Heer ins Languedoc in Südfrankreich, damals die römische Provinz Gallia Narbonensis, aber von den Römern verlassen. Vorübergehend richteten sich die Streitkräfte hier ein. Prokop berichtet, dass Athaulf „die Geräte des Hebräerkönigs Salomon“ hinter den Mauern der Stadt Carcasso verbergen ließ und erwähnt ausdrücklich einen „Schatzturm“. Noch heute erhebt sich über den Mauern der südfranzösischen Stadt Carcas-
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sonne der „Tour du Trésor“. Zwar regt der Name die Fantasie an und hat bereits zahlreiche Schatzsucher nach Südfrankreich gelockt, eine Verbindung zwischen dem Bauwerk und dem Hebräergold zu ziehen, erscheint jedoch voreilig: Schatztürme gehörten im Mittelalter zum Erscheinungsbild vieler europäischer mittelalterlicher Städte, in ihnen wurden unter anderem die Kleinodien der lokalen Herrscher aufbewahrt. Der Schatz aus dem Tempel zu Jerusalem wurde im Mittelalter mythisch aufgeladen und erhielt einen Stellenwert ähnlich dem Heiligen Gral. Entsprechend kritisch sind die Quellen aus der Zeit zwischen 500 und 1000 n. Chr. zu lesen. Einer der Chronisten aus den fränkischen Jahrhunderten gilt hingegen als zuverlässige Quelle: der Geistliche Gregor von Tours. Der Bischof erlebte selbst die chaotischen Zustände des Merowingerreiches und schrieb eine „Geschichte der Franken“, die bis 591 n. Chr. reicht. Darin heißt es: „Childebert (I.) trug aber unter den übrigen Schätzen Kirchengeräte weg, das heißt: von den wertvollsten Gefäßen Salomons sechzig Kelche, fünfzehn Schüsseln, außerdem 20 Evangelienbehälter, verziert und schön geschmückt. Aber er ließ diese Sachen nicht zerschlagen, sondern verteilte und verschenkte alles an die Kirchen und Gotteshäuser der Heiligen.“ Diese Zeilen waren im 19. und 20. Jahrhundert manchem Jäger der Menora die Bibel. Sie verweisen auf einen Schatz, der um 1885 in Frankreich aufgetaucht sein soll, den aber nie jemand zu Gesicht bekam.
Der Schatz von Rennes-le-Château Die Westgoten zogen in die Berge. Wenige Tagesmärsche von Carcassonne entfernt lag das Dorf Rhedae, das Athaulf und seine Mannen besetzten und ausbauten. Zwar war Rhedae ein nur kleiner Ort, im Kampf gegen die mächtiger werdenden Franken aber kam ihm aufgrund seiner Lage strategische Bedeutung zu. Diese ehemalige Gotenfestung heißt heute Rennes-le-Château und zählt kaum 100 Einwohner. In den Resten der Befestigungs-
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anlage Castrum Rhedarium ist das Erbe der Westgoten noch erkennbar. Aber die größte Sensation des Dorfes ist ein Geistlicher des 19. Jahrhunderts, der in der Kirche einen Schatz gefunden haben soll – das Gold aus dem Tempel zu Jerusalem und möglicherweise jenen Schatz, von dem Gregor von Tours erzählt, der Frankenkönig Childebert habe ihn an Kirchen verschenkt. Als der Pfarrer Bérenger Saunière 1885 in den Bergort im Languedoc berufen wurde, fand er die Dorfkirche in desolatem Zustand vor. Mit bescheidenen Mitteln ließ der Geistliche das Gebäude renovieren. Während der Arbeiten entdeckten Handwerker einen Hohlraum im Altar, in dem sie ein Stück Pergament fanden. Dem herbeigerufenen Pfarrer waren die darauf geschriebenen Worte bekannt. Es handelte sich um eine Passage aus dem Neuen Testament, Matthäus 12, 3–4, in der Jesus die Pharisäer kritisiert: „Er aber sprach zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David tat, da ihn und die mit ihm waren, hungerte, wie er in das Gotteshaus ging und aß die Schaubrote, die ihm doch nicht ziemte zu essen noch denen, die mit ihm waren, sondern allein den Priestern?“ Mit geschickter Hand hatte der Schreiber einige Buchstaben auf dem Leder so markiert, dass sie hervorgehoben waren. Zusammen gelesen ergaben sie den Satz „A Dagobert II. roi et à Sion est ce trésor et il est la mort.“ (Dagobert II., dem König von Zion, gehört dieser Schatz und er ist der Tod.) Der Frankenkönig Dagobert II. regierte Mitte des 7. Jahrhunderts. Er soll in der Kapelle von Rhedae eine westgotische Prinzessin geheiratet haben – so weit die historische Kulisse. Vor ihr entspann sich ein Kabinettstück der Verschwörungstheorien. Noch heute erzählen sich die Dorfbewohner in Rennes-le-Château, der Pfarrer habe sich für die Renovierung der Kirche Geld leihen müssen. Kurz nach der Entdeckung des Pergaments aber soll Bérenger Saunière auf unbekannte Weise zu Reichtum gekommen sein. Er baute das Pfarrhaus zu einer Residenz mit Bibliothek, großzügigem Garten und Aussichtsturm aus und schmückte die Ortskirche mit einer bizarren Skulptur des Dämons Asmodäus, einer Gestalt des Alten Testaments (Tobias 3, 8) und des jüdischen
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Volksglaubens. Nicht nur war dieser Kirchenschmuck ungewöhnlich, der Dämon gilt auch als Hüter verborgener Schätze und soll dereinst von König Salomon gezwungen worden sein, beim Bau des Jerusalemer Tempels zu helfen. Auch die Erwähnung Zions auf dem rätselhaften Pergament verweist auf den Tempelschatz, steht der Name doch für den Heiligen Bezirk in Jerusalem. Hatte ein mittelloser Geistlicher Menora, Schaubrottisch und den dazugehörigen Goldschatz in einer verfallenen Dorfkirche entdeckt? Tatsächlich besaß Saunière bei seinem Tod 1917 ein beträchtliches Vermögen, das er auf mehrere Konten verteilt hatte. Für den Reichtum des bettelarmen Landpfarrers gibt es jedoch eine mögliche Erklärung. Wie sich herausstellte, war der Pfarrer ein geschickter Spekulant gewesen. Nachweislich war er an der Börse aktiv gewesen und hatte auf die damals boomenden Wirtschaftszweige des Öl- und Eisenbahngeschäfts gesetzt – mit Erfolg. Dennoch glauben bis heute Scharen von Schatzpilgern an den Tempelschatz in Rennes-le-Château und nehmen den kleinen Ort unter die Lupe. Der Text des rätselhaften Pergaments wurde in den 1960er-Jahren veröffentlicht, seither ist im Dorf kein Flecken Erde mehr vor Schatzsuchern sicher. Der kleinen Gemeinde scheint es recht zu sein. Seit 50 Jahren boomt das Tourismusgeschäft, DVDs und Bücher über den findigen Geistlichen und den vermeintlichen Goldfund lassen die Kassen klingen. Auch wenn die Menora verschollen bleibt – der wahre Schatz von Rennes-le-Château ist längst gehoben.
Jahwes Gold zu Allahs Ehren Wer am Schatz von Rennes-le-Château zweifelt, mag die Geschichte von der Reise der Menora nach Mekka glauben. Unter dem arabischen Feldherrn Tariq ibn Ziyad landeten die Araber 711 in Gibraltar (eigentlich Djebel al-Tariq, Berg des Tariq) und eroberten die Iberische Halbinsel, von ihnen Al-Andalus genannt, im Handstreich. Auch bei diesem Eroberungszug taucht der Jerusalemer Tempelschatz auf.
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Einer Legende zufolge sollen die Westgoten die Kultobjekte nicht in Südfrankreich gelassen, sondern auf ihrem Zug weiter nach Spanien getragen haben. Dort errichteten die Erben Alarichs am Ende des 7. Jahrhunderts das Reich von Toledo, das nur wenige Jahrzehnte Bestand hatte, bevor es die Araber 712 eroberten. Der arabische Historiker Ajbar Machuma schreibt rückblickend im 11. Jahrhundert, dass das Erobererheer eine Stadt erreichte, die Tariq „die Stadt des Tisches“ nannte, „weil er dort den Tisch des Salomon, des Sohnes Davids, fand“. Zwar nennt Ajbar Machuma die Stadt Toledo nicht ausdrücklich, doch passen die den Text flankierenden geografischen Angaben auf die Lage des Ortes. Der Historiker berichtet weiter, Tariq habe den Tisch seinem Herrscher in Damaskus, dem Kalifen Walid, zum Geschenk gemacht. Anschließend taucht das Kultobjekt in mehreren Quellen auf, darunter in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Kein Wunder: König Salomo gilt auch im Islam als verehrungswürdig, er heißt dort Sulaiman Ibn Dawoud (Salomo, Sohn Davids) und ist eine märchenhafte Heldengestalt. Die Spur des Tisches führt nach Mekka. Der Historiker Muhammad Ali Qutb-ad-Din schrieb im 16. Jahrhundert „Die Geschichte Mekkas“. Darin ist zu lesen, dass Ali Walid Ibn Abd el Malek seinem Statthalter von Mekka 36 000 Dinare geschickt haben soll, damit diese, zu Goldplättchen verarbeitet, an die Türen der Kaaba geschlagen werden sollten. Der Autor erwähnt ein Gerücht, demzufolge der Schmuck dem aus Gold bestehenden Tisch des Sulaiman Ibn Dawoud entnommen worden sein soll. Ausdrücklich erzählt der Historiker, dass der Tisch aus Toledo in Al-Andalus „auf einem kräftigen Maultier“ fortgeschleppt worden sei. Damit verliert sich die Spur des Tempelgoldes. Die höchsten Kultobjekte der jüdischen Religion könnten eingeschmolzen worden sein, um das höchste islamische Heiligtum zu schmücken. Aber selbst in Mekka, im Herzen des Islam, wäre das Gold Jahwes nicht sicher gewesen. Die Kaaba, ein im Mittelpunkt der großen Moschee gelegenes Gebäude aus Holz, ist im Laufe der Jahrhunderte mehrfach abgebrannt, erneuert und von vielen Herrschern immer wie-
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der anders geschmückt worden. Sollte das Gold aus Jerusalem tatsächlich einmal die Tür der Kaaba verziert haben, ist es längst verschwunden.
Theorien wie Sand am Meer Menora und Schaubrottisch geistern durch weitere Quellen des frühen Mittelalters. Mal steht der siebenarmige Leuchter im Palast des byzantinischen Kaisers, mal im Markusdom Venedigs. Auch die Tempelritter, Topstars für Verschwörungstheoretiker, sollen den Schatz irgendwo in Europa vergraben haben, immerhin lautete der volle Name des Bundes „Arme Ritter Christi vom Tempel Salomonis“. Überdies war der Orden im Widerspruch zu seinem Namen steinreich – viele vermuten, dass dieser Reichtum auf dem Schatz gründete, den die Kreuzfahrer dereinst im Jerusalemer Tempel entdeckt haben sollen. Alle Theorien aber sind stets auf bloße Randnotizen in den historischen Quellen und die damit verbundenen Schlussfolgerungen
Die von Benno Elkan geschaffene Menora vor der Knesset in Jerusalem.
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eines Findigen zurückzuführen. Solange Handfestes ausbleibt, müssen Menora und Schaubrottisch als verloren gelten. Das Relief auf dem Titusbogen in Rom gilt als letztes Zeugnis der Kultobjekte, das ernst genommen werden kann – wissenschaftlich und künstlerisch. Es diente als Vorlage für eine moderne, monumentale Menora, die der jüdische Künstler Benno Elkan schuf, und die seit 1966 gegenüber dem Gebäude der Knesset, dem jüdischen Parlament, in Jerusalem aufgestellt ist. Heute ist sie das offizielle Emblem des Staates Israel.
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QU E LLE N U N D LIT E R AT U R
Quellen und Literatur
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Quellen und Literatur
Die Beiträge beruhen weitgehend auf Interviews. Es folgt eine Zusammenstellung der darüber hinaus verwendeten Quellen und Literatur:
Die Goldhörner von Gallehus Dieterich, A.: Das Geheimnis der Goldhörner von Gallehus. Nürnberg 1969 Hartner, W.: Die Goldhörner von Gallehus. Wiesbaden 1969 Knauer, D.: Die Inschrift auf dem Runenhorn von Gallehus. Karlsruhe 1995 Ohne Autor: Danish National Treasure Stolen, AFP-Meldung vom 17. September 2007 Ohne Autor: Oldtidens Ansigt. Faces of the past. Kopenhagen 1990 Rooth, E.: Das Runenhorn von Gallehus. Stockholm 1984 Thomsen, V.: Die Geschichte der Sprachwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Halle/Saale 1927
Das Bernsteinzimmer Ohne Autor: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. Nov. 1945 – 1. Okt. 1946, Bd. 23. München o.J.
Die Bronzekunst der Griechen Ekschmitt, W.: Die Sieben Weltwunder. Mainz 1984 Gulli, M./Partenope, M.: Die Bronzestatuen von Riace und das Nationalmuseum in Reggio Calabria. Luxemburg 1997 Haimerl, J.: Der Bronzeguss in der Antike. Amberg 1986 Plinius: Die Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus. Übers. v. Marion Giebel. Ditzingen 2005 Vedder, U.: Der Koloß von Rhodos – Mythos und Wirklichkeit eines Weltwunders. In: Nürnberger Blätter zur Archäologie 16, 1999/2000
Die Archäologie der Musik Boshnakov, A.: Bittgesang für Olbia. In: Abenteuer Archäologie 3/2006 Hagel, S.: Ancient Greek Music. A New Technical History. Cambridge 2010 Hagel, S. et al.: Ancient Greek Music in Performance. Wien 2005 Hickmann, E. et al.: Studien zur Musikarchäologie III. Orient-Archäologie Band 10. Rahden 2002
Der Kompass der Wikinger Capelle, T.: Die Wikinger. Darmstadt 1988
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Graham-Campbell, J.: Das Leben der Wikinger. München 1993 Krause, A.: Die Welt der Wikinger. Frankfurt/Main 2006 Olson, O./Crumlin-Pedersen, O.: Fünf Wikingerschiffe aus Roskilde-Fjord. Kopenhagen 1978 Snorri Sturluson: Sagen der nordischen Könige. Übers. v. Hans-Jürgen Hube. Wiesbaden 2006
Verschollene Mumien Abrell, B.: Hatschepsut, schwieriges Erbgut-Puzzle. Focus-Online, 16. Juli 2007, 11:57 Uhr. Husemann, D.: Die Neandertaler. Frankfurt am Main 2005 Husemann, D.: Vaterschaftstest für Pharao. Stuttgart 2008
Die Domgräber Kölns Doppelfeld, O. und Weyres, W.: Die Ausgrabungen im Dom zu Köln. Mainz 1980 Doppelfeld, O.: Der unterirdische Dom. Köln o.J. Hauser, G.: Das fränkische Gräberfeld unter dem Kölner Dom. In: Die Franken, Wegbereiter Europas. Mainz 1996 Hauser, G. und Steffan, B.: Zum Inhalt einer eineinhalb Jahrtausende alten Grabbeigabe aus Köln. In: Schmutz und Sauberkeit: Wasser. Ausstellungskatalog. Basel 1992
Das Grab Alexanders des Großen Chugg, A.: The Lost Tomb of Alexander the Great. London 2004 Curtius Rufus: Die Taten Alexanders des Großen. Übers. v. Herbert Schönfeld. Essen 1987 Libanios: Orationes. München 1910 Thompson, J./Pyke, N.: Does The Tomb Of St Mark In Venice Really Contain The Bones Of Alexander The Great? In: The Independent – UK, 16. Juni 2004
Die Ostsee-Stadt Vineta Adam von Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte. Übers. v. Carsten Miesegaes. Bremen 1987 Blair Brysac, S.: Atlantis of the Baltic. In: Archaeology, Juli/August 2003 Filipowiak, W.: Wolin Vineta. Rostock 1992 Goldmann, K., Wermusch, G.: Vineta. Die Wiederentdeckung einer versunkenen Stadt. Bergisch Gladbach 1999 Haas, A.: Pommersche Sagen. Leipzig 1926 Lange, I. und P.: Vineta. Atlantis des Nordens. Leipzig 1988 Rimbert: Leben der Erzbischöfe Ansgar. Übers. J.C.M. Laurent. Berlin 1956 Trillmich, W.: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der hamburgischen Kirche und des Reiches. Hamburg 1961
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Raubgrabung in Keltenstädten Laufer, E.: Illegale Entnahme von Kulturgut und Handel. Das Beispiel keltischer Oppida in Hessen: Heidetränk und Dünsberg. Vortrag auf dem Werkstattgespräch des Deutschen Museumsbundes zum Thema „Rechtsschutz für Kulturgut“. Berlin o. J. Maier, F.: Das keltische Heidetränk-Oppidum bei Oberursel im Taunus. Wiesbaden 1993
Die Bücher der Maya Arellana Hoffmann, C.: Die Bücher der Maya, Mixteken und Azteken. Frankfurt/Main 1999 Diego de Landa: Bericht aus Yucatán. Übers. v. Ulrich Kunzmann. Stuttgart 2007
Das Wissen der Antike Philon von Byzanz: Reiseführer zu den sieben Weltwundern und andere antike Texte. Übers. v. Kai Brodersen. Frankfurt/Main 1992
Shakespeares Cardenio Bloom, H.: Shakespeare – die Erfindung des Menschlichen. Berlin 2002 Cervantes Saavedra, Miguel de: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha. Übers. v. Ludwig Braunfels. Düsseldorf und Zürich 2005 Ohne Autor: Sources of four plays ascribed to Shakespeare. Columbia 1989 Schabert, I.: Shakespeare-Handbuch. Stuttgart 2000
Die Irminsul der Germanen Bödger, J.: Marsberg. Marsberg 1990 Capelle, T.: Die Sachsen des frühen Mittelalters. Darmstadt 1998 Einhard: Vita Karoli Magni. Das Leben Karls des Großen. Übers. v. Evelyn Scherabon Coleman. Stuttgart 1968 Gregor von Tours: Zehn Bücher Fränkischer Geschichte. Übers. v. Wilhelm Giesebrecht. Leipzig 1913 Hägermann, D.: Karl der Große. Berlin 2000 Jordanes: Gotengeschichte. Übers. v. Wilhelm Martens. Essen 1985 Künzl, E.: Die Germanen. Stuttgart 2006 Matthes, W., Speckner, R.: Das Relief an den Externsteinen. Ostfildern 1997 Rau, R.: Quellen zur Karolingischen Reichsgeschichte. Darmstadt 1974 Stiegemann, Ch.: 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Mainz 1999
Die Menora der Juden Flavius Josephus: Jüdische Altertümer. Übers. v. Heinrich Clementz. Wiesbaden 1977 Voß, J.: Die Menora. Göttingen 1993
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DANK UND BILDNACHWEIS
Dank
Dank und Bildnachweis
Für viel Geduld und Informationsbereitschaft dankt der Autor Dr. Gabriele Isenberg, ehemals Leiterin des Westfälischen Museums für Archäologie und des Amtes für Bodendenkmalpflege Dr. Georg Hauser, Leiter der Dombaustelle Köln Eckhard Laufer, Polizeioberkommissar, Koordinator Kulturgüterschutz, Hessisches Landeskriminalamt Wiesbaden Dr. Klaus-Peter Kuhlmann, ehemals Referent für Ägyptologie am Deutschen Archäologischen Institut Kairo Andrew Michael Chugg, technischer Ingenieur in Bristol Dank gilt auch Herrn Joachim Schüring von der Redaktion der Zeitschrift ‚epoc‘, Verlag ‚Spektrum der Wissenschaft‘, für die Genehmigung des Abdrucks einiger vom Autor dort veröffentlichter Passagen.
Bildnachweis A.R.T. 2008-09 Season production of Cardenio by Charles L. Mee and Stephen Greenblatt. Photo by Michael Lutch. Reproduced by courtesy of the American Repertory Theater: S. 159; akg-images: S. 72, 73, 95, 175; akg-images/Nimatallah: S. 37, 46; akg-images/Schadach: S. 163; akgimages/Werner Forman: S. 67; akg-images/Bildarchiv Monheim: S. 171; AP Photo/Massimo Pinca: S. 149; Dombauarchiv Köln, Matz und Schenk: S. 91; dpa/picture-alliance: S. 187; dpa/picture-alliance/Christian Ringbaek: S. 10/11; Gianni Dagli Orti/CORBIS: S. 55; Hessisches Landeskriminalamt (HLKA): S. 121; Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen: S. 51; Lennart Larsen, National Museum of Denmark: S. 62; National Museum of Denmark: S. 19; picture-alliance/dpa: S. 77; ullstein bild – Nowosti: S. 26/27; ullstein bild – united archives: S.133; wikimedia commons: S. 115; wikimedia commons/Sl-Ziga: S. 48; wikimedia commons/Bloodofox: S. 13; wikimedia commons/Roman Bonnefoy: S. 102.
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