Schreiben an den Grenzen der Sprache: Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub 9783110348590, 9783110348347

This book examines works on the experiences of dictatorship and concentration camps in 20th century history to investiga

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German Pages 360 Year 2014

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Unsagbar/Sagbar
1.1 Sagen, was man nicht sagen kann
1.1.1 Erinnerungsbilder und Erzählperspektive
1.1.2 „Man überlebte nicht“: Folter und Sprache
1.2 Gedächtnis und Narration
1.2.1 Erinnern und Erzählen: Narrare necesse est
1.2.2 Geschichte und verletztes Gedächtnis
1.2.3 Traumatische Erinnerungen: Vergangenheit als Gespenst und als Zeitloch
1.3 Unwillkürliche Erinnerung und Einbildungskraft
1.3.1 Willkürliche und unwillkürliche Erinnerung
1.3.2 Bild, Wort und Einbildungskraft in der individuellen Erinnerung
1.3.3 Traumatische Bilder
1.4 Der Unsagbarkeitstopos: Sagbarkeit des Unsagbaren – Produktivität der Sprachkrisen
2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment. Die Einzigartigkeit der Shoah
2.1 „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“: Schmerz, Unsagbarkeit und Weltvertrauen
2.2 Leben als Revolte in der Resignation
2.3 Die Essays als essayistisch-autobiographischer Roman
2.4 Autobiographische Fiktion versus autobiographischer Essay
2.5 „Die Mauern stehen sprachlos und kalt“: Literatur und Lager
2.6 Subjektkonstituierung ex negativo: Ressentiment, Zwang und Unmöglichkeit
2.7 Literatur als Folie für die Wirklichkeit
2.8 Die Dramatisierung der Biographie: Unmeisterliche Wanderjahre
2.9 Intertextualitäten und Sprachkritik
2.10 Amérys Tortur, Lefeus Worte
2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte
3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision. Auschwitz als Skandalon
3.1 Erinnern und erzählen: Autobiographie und Fiktion
3.2 Leben in zwei Diktaturen: Schreiben nach Auschwitz
3.3 Gegen den ‚Grundton der Tradition‘: Buchenwald, Weimar und Goethe
3.4 Vergangenheit in der Gegenwart – Spur, Vision und Erkenntnis: Der Spurensucher
3.5 Überleben, Weiterschreiben
3.6 Spiegelungen: Liquidation
3.7 Roman eines Schicksallosen: Atonalität als Konstruktionsprinzip
4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion. Spanischer Bürgerkrieg und Deportation
4.1 Blick, Spiegelung und Erzählperspektive
4.2 Semprún und seine Zeit
4.3 Sprache und Heimat
4.4 Schreiben oder Leben: Schreiben und Leben in der Literatur
4.5 Literatur und Identität, Literatur und Überleben: Intertexte, Zitate
4.6 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder
5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument. Der unendliche Archipel der Kolyma
5.1 Spur und Gedächtnis des Körpers
5.2 Das Lager erzählen: Schalamow und Améry
5.3 Siebzehneinhalb Jahre in den Lagern des GULAG
5.4 Die ‚neue Prosa‘ als durchlittenes Dokument
5.5 Körperliches Erzählen als Wegbahnung: Erzählen als mäandernde Navigation
5.6 Wachtürme des Lagers: Moskauer Hochhäuser
6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung. Diktaturen nach 45
6.1 Vergangenwart der Gegenheit: Das Nachthemd der Inge Wenzel
6.2 Die Wahrheit der erschriebenen Erinnerung
6.3 Leben unter Diktaturen
6.4 Metaphernsprache und Argumentation: Augenhunger und Worthunger
6.5 Metaphorik und Genauigkeit: Die vagabundierenden Eigenschaften
6.6 Der Blick und die Dinge: Der Verlust der Selbstverständlichkeit
6.7 Autofiktion und Unsagbarkeit: Die Sprache der Opfer im Roman (Herztier)
6.8 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel
7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus. Spanischer Bürgerkrieg, Deportation und Exil
7.1 Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben als Denken
7.2 Leben im Exil als destierro und destiempo: Aus dem Land und aus der Zeit
7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht
7.4 Zur Unmöglichkeit der Erzählung über die Lager: Das Rabenmanuskript
7.5 Gerechtes Gedächtnis und Geschichtsutopie: Die fiktive Antrittsrede zur Aufnahme in die Akademie
8 Zum Schluss
8.1 Unsagbar sagbar
8.2 Fiktionalisierung, Erkenntnis und Wahrheit
8.3 Poetiken
8.4 „Es muss noch Weiteres geben...“
Bibliographie
Primärliteratur
Weiterführend behandelte Forschung und Literatur
Dank
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Schreiben an den Grenzen der Sprache: Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub
 9783110348590, 9783110348347

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Marisa Siguan Schreiben an den Grenzen der Sprache

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Frauke Janzen

Volume 45

Marisa Siguan

Schreiben an den Grenzen der Sprache Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub

ISBN 978-3-11-034834-7 e-ISBN [PDF] 978-3-11-034859-0 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-038470-3 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.4

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11

1

Unsagbar/Sagbar Sagen, was man nicht sagen kann 4 Erinnerungsbilder und Erzählperspektive 4 „Man überlebte nicht“: Folter und Sprache 9 Gedächtnis und Narration 20 Erinnern und Erzählen: Narrare necesse est 20 Geschichte und verletztes Gedächtnis 26 Traumatische Erinnerungen: Vergangenheit als Gespenst und als Zeitloch 30 Unwillkürliche Erinnerung und Einbildungskraft 36 Willkürliche und unwillkürliche Erinnerung 36 Bild, Wort und Einbildungskraft in der individuellen Erinnerung 39 Traumatische Bilder 42 Der Unsagbarkeitstopos: Sagbarkeit des Unsagbaren – Produktivität der Sprachkrisen 44

Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment Die Einzigartigkeit der Shoah „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“: Schmerz, Unsagbarkeit und Weltvertrauen 51 Leben als Revolte in der Resignation 54 Die Essays als essayistisch-autobiographischer Roman 59 Autobiographische Fiktion versus autobiographischer Essay „Die Mauern stehen sprachlos und kalt“: Literatur und Lager Subjektkonstituierung ex negativo: Ressentiment, Zwang und Unmöglichkeit 70 Literatur als Folie für die Wirklichkeit 73 Die Dramatisierung der Biographie: Unmeisterliche Wanderjahre 77 Intertextualitäten und Sprachkritik 83 Amérys Tortur, Lefeus Worte 87 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte 93

61 67

VI

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

6 6.1

Inhaltsverzeichnis

Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision Auschwitz als Skandalon Erinnern und erzählen: Autobiographie und Fiktion 104 Leben in zwei Diktaturen: Schreiben nach Auschwitz 111 Gegen den ‚Grundton der Tradition‘: Buchenwald, Weimar und Goethe 113 Vergangenheit in der Gegenwart – Spur, Vision und Erkenntnis: Der Spurensucher 118 Überleben, Weiterschreiben 123 Spiegelungen: Liquidation 125 Roman eines Schicksallosen: Atonalität als Konstruktionsprinzip 132

Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion Spanischer Bürgerkrieg und Deportation Blick, Spiegelung und Erzählperspektive 149 Semprún und seine Zeit 157 Sprache und Heimat 166 Schreiben oder Leben: Schreiben und Leben in der Literatur Literatur und Identität, Literatur und Überleben: Intertexte, Zitate 174 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder 183

Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument Der unendliche Archipel der Kolyma Spur und Gedächtnis des Körpers 196 Das Lager erzählen: Schalamow und Améry 206 Siebzehneinhalb Jahre in den Lagern des GULAG 208 Die ‚neue Prosa‘ als durchlittenes Dokument 214 Körperliches Erzählen als Wegbahnung: Erzählen als mäandernde Navigation 220 Wachtürme des Lagers: Moskauer Hochhäuser 236

Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung Diktaturen nach 45 Vergangenwart der Gegenheit: Das Nachthemd der Inge Wenzel 242

170

Inhaltsverzeichnis

6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8

7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

8 8.1 8.2 8.3 8.4

Die Wahrheit der erschriebenen Erinnerung 245 Leben unter Diktaturen 248 Metaphernsprache und Argumentation: Augenhunger und Worthunger 249 Metaphorik und Genauigkeit: Die vagabundierenden Eigenschaften 256 Der Blick und die Dinge: Der Verlust der Selbstverständlichkeit 259 Autofiktion und Unsagbarkeit: Die Sprache der Opfer im Roman (Herztier) 264 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel 276

Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus Spanischer Bürgerkrieg, Deportation und Exil Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben als Denken 286 Leben im Exil als destierro und destiempo: Aus dem Land und aus der Zeit 295 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht 303 Zur Unmöglichkeit der Erzählung über die Lager: Das Rabenmanuskript 314 Gerechtes Gedächtnis und Geschichtsutopie: Die fiktive Antrittsrede zur Aufnahme in die Akademie 320

Zum Schluss Unsagbar sagbar 327 Fiktionalisierung, Erkenntnis und Wahrheit Poetiken 333 „Es muss noch Weiteres geben...“ 339

Bibliographie Primärliteratur 340 Weiterführend behandelte Forschung und Literatur Dank

VII

352

330

343

Einleitung In seinem Essay „Das glücklose Jahrhundert“1 spricht Imre Kertész von den vielen Menschen, die mit ihm die Erfahrung der Diktaturen teilen, die in einem Abschnitt ihres Lebens nicht ihr eigenes Leben führen konnten, weil alle Entscheidungen ihnen von einer äußeren Macht aufgenötigt wurden. In dieser Lebensphase konnten sie sich später nicht wiedererkennen; sie konnten diese Erfahrung nicht vergessen, aber sie verfremdete sich ihnen zur Anekdote. Diese Vergangenheit konnte nicht zu einem organischen Teil ihrer Person, nicht zu einer integrierbaren Erfahrung werden. Die charakteristische und neue Erfahrung des 20. Jahrhunderts sei „dieses Nicht-Aufgearbeitete, ja, oft Nicht-Aufarbeitbare von Erfahrungen“2. Dabei geht es um Auschwitz als Essenz des Nationalsozialismus, um den Massenmord an den europäischen Juden, um den Stalinismus. Auschwitz sei zum universalen Gleichnis im europäischen Bewusstsein geworden, es erfasse die gesamte Welt der nationalsozialistischen Konzentrationslager wie auch die allgemeine Erschütterung des Geistes darüber; es sei eine brennende Wunde und ein Trauma, die Endstation des europäischen Menschen nach 2000 Jahren ethischer und moralischer Kultur. Es sei sinnlos, Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen nationalsozialistischen und stalinistischen Lagern feststellen zu wollen, denn: „[D]as Leid hat kein Maß, die Ungerechtigkeit keinen Gradmesser“,3 so Kertész weiterhin; aber es ist auch offensichtlich, dass ihnen unterschiedliche Realitäten zugrunde liegen, aus denen individuelles Leiden entspringt, und dass dieses einzeln zu betrachten ist. In diesem Buch geht es um literarische Texte, die verschiedene europäische Diktatur- und Lagererfahrungen zum Thema haben. Die Autoren bezeugen Auschwitz und den Massenmord an den europäischen Juden (Kertész, Améry), das Lager zur Deportation von Widerstandskämpfern (Semprún), den Gulag (Schalamow), die Erfahrung einer stalinistischen Diktatur (Müller) und die französischen Lager, mit denen das Exil der spanischen Republikaner begann (Aub). Ihnen gemeinsam ist, dass ihr Schreiben von der Erinnerung an erlittenes Leid ausgeht, an durch Gewalt angetanes Leid. Es geht um ein Schreiben, dem der Wille innewohnt, Zeugnis abzugeben; sie alle sprechen auch für die Toten, für die Mithäftlinge und Freunde, die nicht überlebten. Sie suchen eine adäquate Sprache, die

1 Imre Kertész, „Das glücklose Jahrhundert“, in: Ders.,Die exilierte Sprache: Essays und Reden, aus d. Ungar. v. Kristin Schwamm, Frankfurt a.M. 2003, S. 110–132. 2 Ebd., S. 111. 3 Imre Kertész, „Die Unvergänglichkeit der Lager“, in: Ders., Die exilierte Sprache, S. 42–52, hier: S. 52.

2

Einleitung

sowohl die Ästhetisierung wie den Automatismus vermeidet, die das Vergangene nicht als vergangen behandelt und beruhigend als überwunden vermittelt, sondern den Spuren und Narben nachgeht und die noch offenen Wunden bloßlegt. Ihr Schreiben entsteht in der Spannung zwischen ihrem Gestaltungswillen und ihrem Gegenstand, der von der eigenen Erfahrung herrührenden Gestaltungsnot. Darüber hinaus gibt es Unterschiede in der Art der Verarbeitung. Die hier besprochenen Texte zeugen von unterschiedlichen Diktaturerfahrungen; ihnen liegen unterschiedliche Fassungslosigkeiten und Versehrtheiten zugrunde. Sie sperren sich gegen geschlossene Interpretationen. Um ihnen gerecht zu werden, muss man sie selbst sprechen lassen, indem man einen ihnen angemessenen hermeneutischen Zugang findet. Meine Argumentation versucht, ihnen und ihrem Aufbau zu folgen. Die zu untersuchenden Werke sind literarische Texte von großer Komplexität; sie sollen jeweils von ihrer eigenen Fragestellung aus betrachtet werden. Ausgangsfragen sind: Wie wird Erinnerung an Gewalt, an unermesslichen Schmerz in Literatur verwandelt? Welche Mittel literarischer Konstruktion werden dabei entwickelt? Wie wird mit Sprache sowohl das Subjekt neu konstituiert wie auch Versehrtheit bekundet? Inwiefern ist Erinnerungsliteratur auch auf Zukunft bezogen? Das erste Kapitel führt in die Problematik des Erinnerns und die (Un)Möglichkeiten und Paradoxien ein, die dessen literarische Bearbeitung bestimmen. Dort kommen vorwiegend die Autoren zu Wort, die den Holocaust überlebt haben und in deren Schreiben sowohl die Notwendigkeit wie das Bewusstsein der Unmöglichkeit des Zeugnis-Gebens am radikalsten zum Ausdruck kommen. Die weiteren Kapitel sind den einzelnen Autoren gewidmet. Sie gehen von der Erinnerungsproblematik in deren Schreiben aus, von den Möglichkeiten des Sagens und des Erinnerns, die sie selbst artikulieren. Die Biographie des jeweiligen Autors ist für dessen Schreiben bestimmend und wird deshalb berücksichtigt. Das Verhältnis zwischen Autobiographie, Biographie und Fiktion wird von den Autoren selbst behandelt und selbstreferentiell in ihren Werken thematisiert. Dem folgen Analysen einzelner Werke; diese gehen über die Erinnerungsproblematik hinaus und zeigen eine eigene Dynamik der Sprachsuche und der Subjektkonstituierung. Diese Thematik und die Dynamik meines eigenen Schreibens an den Texten entlang haben dazu geführt, dass die Kapitel ein Eigenleben gewonnen haben. Von den Texten verführt ist mir jedes Kapitel gewissermaßen zu einer Monographie geworden, in der es letzten Endes um das Schreiben aus der Erinnerung geht, um Sprachbilder und Intertextualitäten, um Subjektkonstituierung und Selbstreferentialität, die aus der eigenen Biographie gewonnen und zu Literatur werden. Die Texte lassen sich nicht auf eine Linie oder auf eine Idee reduzieren; mit diesem Verfahren meine ich ihnen gerechter werden zu können.

Einleitung

3

Zentrales Thema ist die Notwendigkeit des Zeugnis-Gebens: Der Mensch ist nämlich ein dialogisches Wesen, er redet ununterbrochen, und das, was er sagt, was er aussagt, seine Klage, sein Leid, ist nicht nur als Schilderung, sondern als Zeugnis gedacht und er will insgeheim – unterbewußt – dass dieses Zeugnis zu einem Wert und der Wert zu einer gesetzbildenden Kraft werde.4

Dies geschieht in der Aporie, die in dem Dialog zwischen Jorge Semprún und Elie Wiesel zum Ausdruck kommt: E.W. J.S. E.W.

[…] Niemand wird je erfahren, was du und ich erlebt haben. Wir versuchen es, wir setzten uns dafür ein. Aber ich glaube nicht daran. Man kann nicht über alles sprechen, man kann nicht alles vorstellbar, nachvollziehbar machen. Das geht einfach nicht. Schweigen ist verboten, Sprechen ist unmöglich.5

Hier geht es darum, ihrem Sprechen, dem das Verstummen eingezeichnet ist, nachzugehen.

4 Kertész, „Die Unvergänglichkeit der Lager“, S. 44. 5 Jorge Semprún Elie Wiesel, Schweigen ist unmöglich, aus d. Franz. v. Wolfram Bayer, Frankfurt a.M. 1997, S. 18.

1 Unsagbar/sagbar 1.1 Sagen, was man nicht sagen kann 1.1.1 Erinnerungsbilder und Erzählperspektive Imre Kertész, Nobelpreisträger von 2002, erhielt 2004 auch die Goethemedaille. In seiner Dankesrede beschreibt er eine Szene, die ich an den Anfang stellen möchte, weil sie als erzähltes Erinnerungsbild zugleich vom Erzählen ausgeht und darin eine Poetik des Erzählens aufweist. Es geht um ein Bild, das er sich, wie er sagt, als Erinnerung bewahrt hat: Eines meiner Bilder zum Beispiel: Ich sitze in eine Decke gehüllt im Frühjahr 1945 auf dem tragbaren Abort, der vor der Krankenhausbaracke in Buchenwald aufgestellt war, ganz so wie der Herzog von Vendôme, als er den Bischof von Parma empfing. Mein Kiefer bearbeitete ein amerikanisches Kaugummi. Mein Blick schweift gelangweilt umher zwischen den Typhusbaracken gegenüber und den etwas entfernteren, noch offenen Massengräbern, in denen mit Löschkalk übergossene Leichen wie Holzscheite liegen. Plötzlich werde ich auf eine unglaubliche Szene aufmerksam. Vom Hügel her nähert sich eine Gesellschaft von Damen und Herren. Röcke flattern im Wind. Feierliche Damenhüte, dunkle Anzüge. Hinter der Gesellschaft einige amerikanische Uniformen. Sie erreichen das Massengrab, verstummen, stellen sich langsam um das Grab herum auf. Die Herrenhüte werden einer nach dem anderen abgenommen. Taschentücher werden hervorgeholt, ein, zwei Minuten völlige Bewegungslosigkeit. Dann kommt wieder Leben in das erstarrte Gruppenbild. Die Köpfe wenden sich den amerikanischen Offizieren zu, die Arme werden erhoben und beteuernd ausgebreitet, fallen wieder am Körper zurück, werden von neuem erhoben. Die Köpfe werden verneinend geschüttelt. […] Ich verstehe das stumme Schauspiel auch so. Sie wussten gar nichts, niemand wusste irgendwas.1

Eigentlich handelt es sich um zwei Bilder, die zu einer Mikrosequenz ausgearbeitet sind. Am Anfang steht das Bild, das Kertész von sich selbst hat: ein Bild der Erinnerung, in dem er sich selbst sozusagen von außen sieht, mit Augen, die er sich nur einbilden kann. Was er als Erinnerungsbild aufruft, ist ein bewusst ausgearbeitetes Sprachbild; es wird mit Sprachmitteln konstruiert und entspricht bestimmten Strategien. In diesem Erinnerungsbild sieht der Autor sich in einer sehr unwürdigen Situation; der Leser kann nur entsetzt sein. Der Sitzende wird aber als gelangweilt beschrieben, womit der Horror als Alltäglichkeit dargestellt und damit nur noch entsetzlicher wird. Außerdem wird der auf dem Abort

1 Imre Kertész, „Das sichtbare und das unsichtbare Weimar“, in: Ders., Die exilierte Sprache, S. 105–109, hier: S. 106–108.

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

5

sitzenden Figur eine historische Parallele zugesprochen, durch die sie in eine ironisch behandelte historische Reihe mit etwas dubiosen Figuren, aber immerhin mit Figuren der Geschichte gesetzt wird. Die skurrile Szene des ungeniert auf seinem Nachttopf sitzenden Herzogs von Vendôme wird in den Memoiren des Marquis de Saint-Simon referiert. Und nun, nachdem der Protagonist im schmerzlichen Erinnerungsbild sozusagen mit schwarzem Humor und gewisser Groteske rehabilitiert ist, und zwar durch eine Erzählstimme und einen Blick, der gleichsam ‚von außen‘ schaut, kommt es zum zweiten Bild, das eher eine Sequenz ist. Es handelt sich um einen historisch dokumentierten und sehr bekannten Vorgang: Die Bürger Weimars wurden nach der Befreiung Buchenwalds in das Lager geführt, um zu sehen, was dort in ihrem Namen geschehen war. Die Szene wird mit den Augen der auf dem Abort sitzenden Figur, mit den Augen des Opfers beschrieben. Aber indem sie als eine Stummfilmszene geschildert wird, in der die Figuren wie Marionetten erscheinen, die keine Sprache besitzen, sondern nur über Gegenstände (Hüte, Taschentücher) Gestalt gewinnen und nur über ihre Gesten gedeutet werden, wirken die Figuren durchaus grotesk. Das Opfer nimmt ihnen die Stimme, könnte man sagen, um selbst zu sprechen. Nun wird die Realität aus der Sicht des Leidenden beschrieben, die möglichen Worte der gestikulierenden Figuren sind von Anfang an desavouiert. Kertész bringt dieses Bild als ein Erinnerungsbild zum Ausdruck, an das er sich hält, um den Schmerz wach zu halten: „Denn, damit er dauert, braucht der Schmerz seine Requisiten. So wie die Leidenschaft, verkommt auch er ohne das lebende Objekt. Ich hatte solche Requisiten in Form von Bildern in mir bewahrt.“2 Die Perspektive des Blickes von außen verweist nicht nur auf die Perspektive, aus der erzählt wird. Sie distanziert auch vom eigenen Leiden, verweist auf die Unbeschreibbarkeit. Der Erzähler kann nur erzählen, indem er sich aus sich selbst herausnimmt, um von außen zu schildern. Schreiben steht somit im Kontext von Schmerz und von Erinnerung, die wach gehalten werden müssen. Sie werden durch Bilder reflektiert, die von Blicken bedingt sind und, sprachlich vermittelt, Erzählperspektiven bestimmen – Bilder, die Augenblicke beschwören sollen, sie präsent machen sollen im Dienste einer Erinnerungsstrategie, eines argumentativen Verfahrens. Im geschilderten Augenblick zeigt sich das Visuelle und Zeitliche, das auf beide Medien verweist, Bild und Schrift. Im gerade kommentierten Bild wechselt dementsprechend auch die Erzählzeit ins Präsens. Nur das (banale) Kaugummi-Kauen markiert eine Vergangenheit, steht für die Erinnerung; es ist das einzige Verb im Präteritum.

2 Kertész, „Das sichtbare und das unsichtbare Weimar“, S. 106.

6

1 Unsagbar/sagbar

Evozierte Bilder, Blicke, Augenblicke: Kunst ist da, um den Augenblick neu zu erschaffen, schreibt Kertész auch. Die Existenzgrundlage des Romans ist die verlorene Zeit: Gerade weil sie verloren ist. Und weil man dem vergangenen Ich nicht wieder begegnen kann. Ich verstand, wenn ich gegen mein vergängliches Ich und gegen die ständige Wandelbarkeit der Schauplätze ankämpfen wollte, musste ich mir, mich auf mein schöpferisches Gedächtnis verlassend, alles von neuem erschaffen.3

Das Gedächtnis, und mit ihm das Wachhalten der Erinnerung, steht hier in einem produktiven Kontext – in dem von Imagination und Schöpfung. Auch das Erinnern ist vorwiegend narrativ, wie der Roman. Bilder sind Momente, Augenblicke, in denen Simultaneität, Gleichzeitigkeit veranschaulicht wird. In diesem Fall geht es auch um die Simultaneität von Tragik und Groteske, die im Bild zum Thema wird. Bilder besitzen eine eigene Logik: Ihre Sinnerzeugung funktioniert nicht prädikativ nach der Ordnung der gesprochenen oder gelesenen Sätze; sie wird in der Wahrnehmung realisiert. Diese Wahrnehmung ist von der Simultaneität gezeichnet; sehr unterschiedliche Elemente werden gleichzeitig gesehen. Der in der Zeit ablaufende Diskurs wird gewissermaßen aufgehoben, es dominiert die Simultaneität der Wahrnehmung. Diese ermöglicht die Gleichzeitigkeit von Kontrasten und Oppositionen wie zum Beispiel Tragik und Groteske. Es handelt sich bei den mit Sprachmitteln konstruierten Bildern um Simultaneitätseffekte, die in der Erzählung eine eigene Finalität erfüllen. Sie lassen die Erzählung still stehen und markieren damit einen Einsatz. In diesem Fall konstruiert das Sprachbild aber geradezu eine eigene Erzählung, es wird zu einer Mikroerzählung, indem es zu einer Bildsequenz ausgearbeitet wird. Bei dieser Bildsequenz geht es um die Konstruktion eines Schreibens, das weitgehend von der eigenen Biographie bestimmt ist, und diese wiederum ist von der Erfahrung des Lagers bestimmt. Ein Schreiben, das sich um die verlorene Zeit dreht, ist in der klassischen Moderne exemplarisch von Proust formuliert worden. Man muss sich nun fragen, wie es um solch ein Schreiben steht, wenn die beschriebene Zeit in die Erfahrung des ‚radikal Bösen‘ führt. Was nimmt es sich vor und warum? Welche Erzählstrategien baut es auf? Eine erste Antwort gibt Kertész, wenn er sein Schreiben als vom Schmerz bedingt erklärt und darum jene Requisiten braucht, die seinen Schmerz und damit das Schreiben am Leben halten – seine Erinnerungsbilder. Vorausgesetzt wird die Notwendigkeit des Schreibens, eines Schreibens, das die Notwendigkeit des Zeugnisses bekundet, des Bewusstseins, dass die Überlebenden

3 Imre Kertész, Der Spurensucher: Erzählung, aus d. Ungar. v. György Buda, Frankfurt a.M. 2002, S. 127.

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

7

den zivilisatorischen Skandal der Lager bekunden müssen und auch im Namen derjenigen sprechen müssen, die ihn bis in die letzten Konsequenzen erlitten haben und ausgelöscht worden sind. Aber dieses Schreiben ist auch ein Instrument der Aktivität: Schreiben macht das passive Opfer zum aktiven Subjekt, das die Wirklichkeit benennen kann. Dieses Schreiben ist also ein immerwährender Prozess, der nie zu Ende gehen kann; dafür muss der Schmerz erhalten bleiben, damit sich das Schreiben nicht automatisiert und die Realität flach geschrieben wird, damit sich die Leser nicht der Beruhigung hingeben können, das Skandalon „Auschwitz“ aufgelöst zu haben. Bei einem Podiumsgespräch mit Herta Müller formulierte es Ruth Klüger, auch Auschwitz-Überlebende, sachlich und lakonisch folgendermaßen: „Wir wollen den Leuten erzählen, was damals passiert ist. Aber wir wollen nicht, dass sie dabei eine allzu gute Zeit haben.“4 Das Offenlassen der Wunde ist notwendig, könnte man sagen. Denn, so auch Ruth Klüger: „Das wirklich Geschehene, selbst wenn es so unwahrscheinlich ist, wie der Holocaust es war, will gedeutet und dargestellt werden, einfach deshalb, weil es stattgefunden hat.“5 Auch in der Autobiographie von Jorge Semprún Schreiben oder Leben steht ein Blick, eine visuelle Szene, am Anfang. Das erste Kapitel heißt „Der Blick“. Es schildert eine Szene aus der Befreiung Buchenwalds, als drei Offiziere in britischer Uniform eintreffen und auf Jorge Semprún zukommen. Die Autobiographie beginnt mit folgenden Sätzen: „Sie stehen vor mir, mit aufgerissenen Augen, und ich sehe mich plötzlich in diesem schreckenstarren Blick: ihrem Entsetzen. Seit zwei Jahren lebe ich ohne Gesicht. Kein Spiegel in Buchenwald. […] Aber ich interessierte mich nicht für diese Details. […] Sie sehen mich an, mit verstörten Augen voller Grauen.“6 Die Erzählfigur wird mit den Augen der Anderen gesehen, beschrieben durch die Wirkung, die der Protagonist auf sie ausübt: das Grauen. Der Protagonist überlegt noch, woran es liegen mag, dieses Grauen. An seinem ausgemergelten Aussehen? Verschiedene Hypothesen werden nacheinander an ihren Blicken gemessen („Aber sie sind nicht überrascht, nicht beunruhigt. In ihren Augen lese ich blankes Entsetzen“) und anschließend verworfen: „Es bleibt also nur mein Blick, schließe ich daraus, der sie derart beunruhigen kann. Es ist das Grauen meines Blicks, das der ihre offenbart, von Grauen erfüllt. Wenn ihre Blicke ein Spiegel sind, dann muss ich einen irren, verwüsteten Blick haben.“7

4 Ruth Klüger, „Im Schlamassel der Erinnerung. Herta Müller und Ruth Klüger diskutieren in Frankfurt über Formen des Gedenkens“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.11.2011, S. 31. 5 Ruth Klüger, Dichter und Historiker: Fakten und Fiktionen, Wien 2000, S. 50. 6 Jorge Semprún, Schreiben oder Leben, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1995, S. 11. 7 Ebd., S. 12.

8

1 Unsagbar/sagbar

Der Blick, das Entsetzen der Anderen, dient dazu den eigenen Zustand zu schildern; ein Blick von außen, der aber von der ersten Person aus beschrieben wird: aus der Erzählperspektive des Protagonisten, der so von außen auf sich selbst schließen kann, der sich über die Augen der Anderen beschreiben kann. Die Anderen sind ein fundamentales Element in der Konstruktion der eigenen Individualität, die immer über Kommunikation und in einem bestimmten sozialen Rahmen geschieht. Im Falle von Kertész’ „Augenblicksbild“ wird den Anderen, der deutschen Öffentlichkeit, die Stimme entzogen. Im Falle von Semprún handelt es sich um die Befreier, und was sich aus dem Bild herauskristallisiert, ist eine fundamentale Situation der Kommunikationsnotwendigkeit und gleichzeitig der Nichtkommunikation. Die Offiziere sind entsetzt, man müsste ihnen also etwas erklären. Die Kommunikation zwischen ihnen und der Erzählfigur erweist sich jedoch zunächst einmal als unmöglich: Er sieht mich an, verstört vor Entsetzen. Was ist? Sage ich ärgerlich, zweifellos schroff. Setzt Sie das Schweigen des Waldes so in Erstaunen? […] Sie hatten nichts gemerkt, das Schweigen nicht gehört. Offensichtlich bin ich es, der sie entsetzt, nichts anderes. – Keine Vögel mehr, sage ich, meinen Gedankengang fortsetzend. Der Rauch des Krematoriums hat sie vertrieben, sagt man. Niemals Vögel in diesem Wald […]. Sie hören zu, beflissen, versuchen zu verstehen. – Der Geruch von verbranntem Fleisch, das ist es! Sie zucken zusammen, sehen einander an. Mit nahezu greifbarem Unbehagen. Einer Art Schluckauf, Brechreiz.8

Der Anfang des Werkes bereitet die Bühne, auf der das Erzählte stattfinden soll, und thematisiert sowohl die Notwendigkeit als auch die Schwierigkeit bzw. die Unmöglichkeit dieses Erzählens. Eine Grundidee der Gesprächsanalyse ist, dass ein Gespräch vermittelt wird durch die ganze Haltung, sprachlich und körperlich, in die man den Anderen, den Gesprächspartner, einbezieht; man schafft einen gemeinsamen Raum für das Gespräch, so dass das Zustandekommen einer Erzählung immer interaktiv konstituiert wird. In gesprächsanalytischer Terminologie ausgedrückt, vermittelt Semprún mit seiner Szene eine multimodale Sicht auf die Interaktion.9 Mit dieser Szene stellt er aber auch gewissermaßen eine eigene Poetik des Erzählens bereit: Über die Blicke wird die Erzählperspektive bestimmt, über die Sprache die Nichtkommunikation. Dafür wird auch ein literarischer Ver-

8 Ebd., S. 13. 9 Ich verdanke diesen Hinweis den Gesprächen mit Elisabeth Gülich im Rahmen unserer FRIASAufenthalte im Winter 2012.

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

9

weis gemacht: Dass keine Vögel im Wald singen, kann durchaus auch auf die im Walde schweigenden Vögelein von Goethes „Wanderers Nachtlied“ hindeuten, und damit wird die Nachbarschaft von Weimar und Buchenwald, die sowohl in Schreiben oder Leben wie in verschiedenen Romanen Semprúns, zum Beispiel in Was für ein schöner Sonntag, thematisiert wird, in ihr unheimliches Licht gestellt. Gerade die Unmöglichkeit der Kommunikation macht die Notwendigkeit des Erzählens akut, ist die Voraussetzung für das, was dann kommt: die Erzählung. Es geht also nicht darum, dass die Worte fehlen, es wird nicht die Unsagbarkeit des Geschehenen thematisiert oder gar das Ende der Repräsentation. Nicht die Unmöglichkeit oder Undarstellbarkeit der Lagererfahrung wird gezeigt, sondern die Notwendigkeit des Erzählens und die Bemühung um die Darstellung, die Perspektive, aus der sie geschehen soll, und die Paradoxie, in der sie stattfinden muss.

1.1.2 „Man überlebte nicht“: Folter und Sprache Dieses Erlebnis ist nicht salonfähig. Neulich sprachen wir hier in Göttingen beim Nachtisch von Engpässen, die wir erlebt haben, etwa ein Aufzug, der steckenbleibt, Tunnel, die zu lang sind […], wir sprachen über alles, was klaustrophobisch wirken kann, und auch, schon näher an meiner Erfahrung, von den Luftschutzkellern in der Kindheit einiger der Anwesenden. Ich hatte meine Fahrt im Viehwagon anzubieten und habe natürlich unentwegt daran gedacht, aber wie soll ich das beisteuern?10

Ruth Klüger, österreichische Jüdin, die als Kind in verschiedene Konzentrationslager, unter ihnen Auschwitz, deportiert wurde, hat an klaustrophobischen Erinnerungen ihre Fahrt im Viehwagon zum Konzentrationslager anzubieten, nur: Wie kann man das überhaupt erzählen? Es ist, wie sie sagt, nicht salonfähig. Nicht das Erzählen – überhaupt das Erlebte. Das heißt ganz konkret, dass niemand es hören möchte, dass die anwesenden Deutschen nicht mit der Schuld konfrontiert werden wollten. Alle Überlebenden der Konzentrationslager stellen sich diese Frage: Wie kann man den Horror erzählen, ihn benennen? Wie kann er überhaupt glaubhaft gemacht werden, wenn sie, die Erzählenden, ihn überlebt haben und sich als Zeugen in Frage gestellt sehen; eben weil sie ihn überlebt haben? Wenn man ihnen nicht zuhören will? Kann man das unermessliche Leiden schildern? Kann der Schmerz verständlich gemacht werden? Jean Améry, dem sich das gleiche Problem stellt,

10 Klüger, Weiter leben: eine Jugend, München 1999, S. 110.

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1 Unsagbar/sagbar

formuliert es folgendermaßen: „Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt. Uns ist es längst entschlafen. Und nicht einmal das Gefühl blieb zurück, dass wir sein Hinscheiden bedauern müssten.“11 Mit dieser Feststellung der Ohnmacht des Wortes vor der entsetzlichen Wirklichkeit der Konzentrationslager schließt Jean Améry seinen Essay „An den Grenzen des Geistes“ im Band Jenseits von Schuld und Sühne. Die Umdeutung von Karl Kraus’ Zitat „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“ kommt einer Bankrotterklärung des Wortes angesichts der Wirklichkeit des Naziregimes und der Lager gleich. „Wir waren dabei, uns zu fragen, wie man es erzählen könnte, damit man uns versteht. […] Wie kann man eine wenig glaubbare Geschichte erzählen, wie kann man das Unvorstellbare zur Geltung bringen?“12 So stellt sich die Frage für Jorge Semprún, gerade aus Buchenwald befreit, für ihn selbst und für seine Gefährten. Die Situation erscheint in fast allen Romanen Semprúns: Wie ist eine Realität zu schildern, die als unvorstellbar und somit als unglaublich für den erscheint, der sie nicht erlebt hat? Fred Wander schreibt in seinen Lebenserinnerungen: GELEBT – GESCHRIEBEN – So sehe ich mein Leben. Doch es gibt keine lebende Sprache, um darüber zu reden oder zu schreiben, was wir, die Überlebenden der Shoah, gesehen haben. Wir reden und schreiben, aber wir schweigen zugleich, uns fehlen die Worte. Und niemand, der nicht dort war, könnte es verstehen.13

In all diesen Aussagen geht es um den Versuch, das Unglaubhafte, Undenkbare zu erzählen, zu schildern, zu benennen. Zu schildern ist die Erfahrung des ‚radikal Bösen‘. Eine Erfahrung, die als solche, als Erlebnis und Gefühl, für das Individuum jenseits der Sprache liegt und für die die Schriftsteller eine Erzählsprache suchen, um sie glaubwürdig zu machen, um sie für die Erinnerung aufzubewahren, um sich beim Benennen von ihr zu erlösen oder um sich am Erlebten zu rächen. In der Sprache der Sprachphilosophie zeigt sich die Unsagbarkeit der Welt und der Empfindungen wie ein individuelles Ringen mit den Grenzen der Sprache hinsichtlich ihrer Fähigkeit, diese Welt und diese Empfindungen den Anderen zu vermitteln. Ludwig Wittgenstein formuliert in seinen Philosophischen Untersuchungen das schwierige Verhältnis zwischen der eigenen Intimität und ihrem Ausdruck gegenüber den Anderen folgendermaßen:

11 Jean Améry, „An den Grenzen des Geistes“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Jean Améry, Werke in neun Bänden, Irene Heidelberger-Leonard/Gerhart Scheit (Hrsg.), Bd. 2, Stuttgart 2002, S. 23–54, hier: S. 45. 12 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 139. 13 Fred Wander, Das gute Leben oder Von der Fröhlichkeit im Schrecken: Erinnerungen, Göttingen 2006, S. 397.

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

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293. Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort „Schmerz“ bedeutet, – muss ich das nicht auch von den Andern sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern? […] 302. Wenn man sich den Schmerz des Anderen nach dem Vorbild des eigenen vorstellen muss, dann ist das keine so leichte Sache: da ich mir nach den Schmerzen, die ich fühle, Schmerzen vorstellen soll, die ich nicht fühle. […] 315. Könnte der das Wort „Schmerz“ verstehen, der nie Schmerz gefühlt hat?14

Wittgenstein schneidet damit das Thema der Privatheit der Empfindungen an und der Schwierigkeit, sie mittels der Sprache auszudrücken: das schwierige Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv beim Versuch, Intimität auszudrücken. Dahinter steht das moderne Konzept von Individualität, von einem Subjekt, dessen Intimität nicht kontrastierbar ist. In den Worten des Psychiaters Carlos Castilla del Pino: „Mit dem verbalen Ausdruck bezieht sich der Sprecher auf seine sentimentale Welt, aber der Hörer kann nicht den gleichen Bezugspunkt haben, sondern er hat einen anderen: den eigenen, den, den er selbst aufbaut über dem Diskurs des Anderen.“15 Dabei sind zwei Problemstellungen interessant: erstens die Ausdrucksmöglichkeit dieser Intimität, die Suche nach einer ihr adäquaten Sprache. Und zweitens das Faktum, dass diese Suche, in der literarischen Tradition der Modernität, von der Romantik ausgehend, ein ganz bestimmtes Bewusstsein von Individualität, von Originalität, von Subjektivität voraussetzt. Die Erfahrung nun, die die genannten Autoren zu beschreiben haben, und ganz spezifisch und radikal die jüdischen Autoren, ist aber ganz strikt die der Zerstörung, der Auslöschung ihrer eigenen Existenz: Täglich morgens kann ich beim Aufstehen von einem Unterarm die Auschwitznummer ablesen; das rührt an die letzten Wurzelverschlingungen meiner Existenz, ja, ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht meine ganze Existenz ist. Dabei geschieht es mir annähernd wie einst, als ich den ersten Schlag der Polizeifaust zu spüren bekam. Ich verliere jeden Tag von neuem das Weltvertrauen. Der Jude ohne positive Bestimmung, der Katastrophenjude, wie wir ihn getrost nennen wollen, muss sich einrichten ohne Weltvertrauen.16

14 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 127–132. 15 Carlos Castilla del Pino, Teoría de los sentimientos, Barcelona 2000, S. 26 (Übersetzung von mir, M.S.). 16 Jean Améry, „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2, S. 149–177, hier: S. 168.

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1 Unsagbar/sagbar

Dies schreibt Jean Améry. Das Subjekt erkennt sich an seiner Identifikationsnummer, aber sein Individualitätsmerkmal ist zugleich das Zeichen für seine Auslöschung. Gerade diese Individualität ist dasjenige, was ihn dem Kollektiv der zur Auslöschung Bestimmten zuweist. Wie kann man aus der Erfahrung der Zerstörung des Subjekts heraus erzählen? Denn: Wer erzählt? Die Erzählung baut ein Ich auf, das sich in den beiden anfangs zitierten Fragmenten von Semprún und Kertész über den Blick von außen definiert und aus der Erinnerung gebaut wird. Die Erinnerung führt jedoch in die Lagererfahrung zurück und in die Zerstörung des Subjekts. Bis zu welchem Punkt aus der eigenen Zerstörung heraus geschrieben wird, zeigt ein weiteres Beispiel, diesmal aus dem Werk von Primo Levi. Im Unterschied zu den meisten Autoren, die über ihr Überleben der Konzentrationslager literarische Werke geschrieben haben, schreibt Levi sofort nach der Befreiung aus dem Lager seinen Band Se questo é un uomo (Ist das ein Mensch). Um seine Schreibbesessenheit zu beschreiben, verweist er auf die literarische Tradition. Er vergleicht sich mit Coleridges „Rhyme of the ancient mariner“, der mit Erzählobsession jedem der zu einer Hochzeit geladenen Gäste seine schrecklichen Erfahrungen schildern will: Wenn Sie sich an die Szene erinnern, der alte Seefahrer hält die Hochzeitsgäste auf, die ihn nicht beachten – sie sind mit der Hochzeit beschäftigt –, und zwingt sie, seiner Erzählung zu lauschen. Nun, als ich aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt war, habe ich mich genau so verhalten. Ich empfand ein unbezähmbares Bedürfnis, jedermann meine Erlebnisse zu erzählen! Ich hatte gerade eine Anstellung als Chemiker in einer kleinen Farbenfabrik nahe Turin gefunden, und das Personal der Firma betrachtete mich als eine Art harmlosen Irren, weil ich immer nur auf ein und dasselbe aus war: Jede Gelegenheit war mir recht, um allen meine Geschichte zu erzählen, dem Werkdirektor ebenso wie dem Arbeiter, auch wenn sie etwas ganz anderes zu tun hatten – genau wie der alte Seefahrer. Dann fing ich an, nachts auf der Maschine zu schreiben (denn ich wohnte neben der Fabrik). Jede Nacht schrieb ich, und das wurde als etwas noch Verrückteres angesehen!17

17 Risa Sodi, „Ein Interview mit Primo Levi“, in: Marco Belpoliti (Hrsg.), Gespräche und Interviews, aus d. Ital. v. Joachim Meinert, München 1999, S. 236–256, hier: S. 238. – Im Original: „Lei ricorda la scena, il Vecchio Marinaio blocca gli invitati al matrimonio, che non li prestano attenzione – loro stanno pensando al loro matrimonio –, e li costringe ad ascoltare il suo racconto. Ebbene, quando ero appena ritornato dal campo di concentramento, anch’io mi comportavo esattamente così. Provavo un bisogno irrefrenabile di raccontare la mia vicenda a chiunque! […] Ogni occasione era buona per raccontare a tutti la mia vicenda; al direttore della fabbrica così come all’operario, anche se loro avevano altre cose da fare. Ero ridotto proprio come il Vecchio Marinaio. Poi incominciai a scrivere a machina durante la notte […]. Tutte le notte scrivevo, e questa veniva considerata una cosa anchora più folle!“

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

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Den Band Die Untergegangenen und die Geretteten leitet ebenfalls ein Zitat aus dem „Rhyme“ ein: Since then, at an uncertain hour, That agony returns: And till my ghastly tale is told This heart within me burns18

Die Identifizierung mit der literarischen Figur geht viel weiter als ein reiner Vergleich der Erzählobsessionen, sie ergibt eine Fülle von (ungesagten) Verweisen auf Levis Erzählhaltung. Auch der Seefahrer hat eine traumatische Erfahrung zu berichten, den Schiffsuntergang, der ihn nicht loslässt. Es ist bei ihm nicht ganz klar, ob er lebt oder eigentlich ein Gespenst ist, das von den Toten zurückgekehrt ist, ein Wiedergänger. Wenn Levi mit ihm vergleichbar ist, wenn dieser sich sogar mit ihm identifiziert, dann ist auch Levis Überleben fragwürdig. Sein Zeugentum steht unter einem doppelten Zeichen. Als Zeuge spricht er zu den Lebenden, die er verzweifelt aufsucht, um zu erzählen. Als fragwürdig Überlebender steht er noch unter den Toten, spricht auch zu ihnen, in ihrem Namen, für sie, die einzigen, wie Giorgio Agamben schreibt,19 die ihn wirklich verstehen könnten, weil sie seine entsetzliche Erfahrung geteilt haben. In einem Gespräch mit Marco Viviani sagt Levi, dass die wirklichen Zeugen entweder tot oder verstummt sind: Wäre ich nicht Chemiker gewesen und hätte ich nicht ein bisschen Deutsch gekonnt, wäre mir ein anderes Los beschieden gewesen. […] Das Schicksal des gewöhnlichen Häftlings hat niemand erzählt, weil es für ihn nicht möglich war, körperlich zu überleben. Der gewöhnliche Häftling ist auch von mir beschrieben worden, wenn ich von den „Muselmännern“20 berichte; die „Muselmänner“ selbst haben sich jedoch nicht geäußert.21

18 Samuel Taylor Coleridge, Lyrical Ballads, Michael Mason (Hrsg.), London 1992, S. 389 (Verse 584–585). 19 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M. 2003. 20 Als Muselmänner wurden in den Lagern die extrem geschwächten, todesnahen, sich dahin schleppenden Häftlinge bezeichnet. Levi schreibt: „Sie leiden doch und schleppen sich dahin in grauer, innerer Einsamkeit; und sterben oder verschwinden in Einsamkeit, ohne eine Spur von Erinnerung zu hinterlassen“ (Primo Levi, Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 1991, S. 85). „Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie keine Angst haben, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu begreifen“ (ebd., 87). 21 Primo Levi, „Worte, Erinnerung, Hoffnung. Interview mit Marco Vigevani“, in: Marco Belpoliti (Hrsg.), Gespräche und Interviews, S. 224–235, hier: S. 226. – Im Original: „Il destino del prigioniero comune non l’ha raccontato nessuno, poiché non era materialmente possibile sopravvivere per lui. Il prigionero commune è stato decritto anche da me, quando parlo di ‚musulmani‘: però i

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1 Unsagbar/sagbar

Und in den Sommersi e i salvati (Die Untergegangenen und die Geretteten) schreibt er: Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit: Wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt, wer die Gorgo erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden. Vielmehr sind sie, die „Muselmänner“, die Untergegangenen, die vollständigen Zeugen, jene, deren Aussage eine allgemeine Bedeutung gehabt hätte. Sie sind die Regel, wir die Ausnahme. […] Wir, die das Los verschont hat, haben mit größerer oder geringerer Weisheit versucht, nicht nur von unserem Schicksal, sondern auch von dem der anderen zu berichten, eben derer, die untergegangen sind. Aber es handelte sich dabei um ein Unternehmen „für fremde Rechnung“, um einen Bericht über Dinge, die aus der Nähe beobachtet, doch nicht am eigenen Leib erfahren wurden. Über die zu Ende geführte Vernichtung, über das abgeschlossene Werk, hat niemand jemals berichtet, so wie noch nie jemand zurückgekommen ist, um über seinen Tod zu berichten. […] Jetzt reden wir, als Bevollmächtigte, an ihrer Stelle.22

Die Erinnerung geht mit Stummheit einher. Damit wäre Levis eigenes Zeugnis, als zufällig Geretteter, das in seiner Beredtheit eingeschriebene Verstummen.23 Es geht nicht darum zu schweigen, sondern darum, dem Sprechen die Unzulänglichkeit, die Unmöglichkeit des Sprechens einzuschreiben. Ein wirklicher Zeuge wäre zum Beispiel das Kind Hurbinek, das nur unverständliche Laute von sich gibt: „Hurbinek starb in den ersten Tagen des März 1945, frei, aber unerlöst. Nichts bleibt von ihm: Er legt Zeugnis ab durch diese meine Worte“, schreibt Levi in Die Atempause.24 Er hat sich bemüht, dem Kind zuzuhören, niemand kann aber das von ihm gesprochene Wort interpretieren. Die Gültigkeit der Zeugnisaussage beruht auf dem, was ihr fehlt, auf einer Abwesenheit. Sie bezeugt aus der Unmöglich-

musulmani non hanno parlato“ (Primo Levi, „Le parole, il ricordo, la speranza (1984)“, in: Marco Belpoliti (Hrsg.), Conversazioni e interviste: 1963–1987, Turin 1997, S. 213–222, hier: S. 215). 22 Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, aus d. Ital. v. Moshe Kahn, München 1993, S. 85 f. – Im Original: „Noi toccati dalla sorte abbiamo cercato, con maggiore o minore sapienza, di racontare non solo il nostro destino, mache quello degli altri, ei sommersi, appunto; ma è stato un discorso ‚per conto di terzi‘, il raconto di cose viste da vicino, non sperimentate in proprio. La demolizione consotta a termine, l’opera compiuta, non l’ha raccontata nessuno, come nessuno è mai tornato a raccontare la sua morte“ (Primo Levi, I sommersi e i salvati, Turin 1986, S. 64). 23 Vgl. Anselm Haverkamp, „Die Gerechtigkeit der Texte. Memoria – eine anthropologische Konstante im Erkenntnisinteresse der Literaturwissenschaften?“, in: Ders./Renate Lachmann (Hrsg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. 17–27, hier: S. 27. – Vgl. auch Giorgio Agamben, Quel che resta di Auschwitz: l’archivio e il testimone, Homo sacer 3, Turin 2007, S. 31 f. 24 Primo Levi, Die Atempause, München 1999, S. 20 (Im Original: La treva, Turin 1963).

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

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keit des Bezeugens heraus, ihrer Sprache ist die Unmöglichkeit des Sprechens eingeschrieben. Ein weiterer Aspekt bleibt noch zu beachten: Der Seefahrer erzählt und verschwindet dann; der Zuhörer ist aber am nächsten Morgen, so die Schlussverse des Gedichts von Coleridge, ein traurigerer und weiserer Mensch. Mit dieser Hoffnung, so können wir schließen, erzählt Levi. Er erzählt aber aus einer überaus gefährdeten Position. Der metaphorische Verweis auf die literarische Figur erklärt die eigene Wirklichkeit. Sie tut es aber in größerem Maße durch das, was nicht expliziert wird, als durch den direkt ausgesprochenen Verweis. Den Überlebenden als Wiedergänger und das seinen Texten eingeschriebene Verstummen thematisiert auch Charlotte Delbo, die in Aucun de nous ne reviendra (Auschwitz et après, I) „cette impression d’être morte, d’être morte et de le savoir“25 erwähnt und in folgendem Gedicht sowohl die Fraglichkeit des Überlebens als auch die Unmöglichkeit des Erzählens dokumentiert und daraus eine radikale Konsequenz für den Leser zieht: Es sei eine unnütze Kenntnis, die er aus den Erzählungen der Wiedergänger ziehe, sie führe ihn in den Tod, er werde nie wieder schlafen können. Das Verstummen wird auf den Leser übertragen. Der in Coleridges Text mitschwingende Trost, dass die Erzählung den Leser weiser mache, fehlt hier. Da er die Erzählung für wahr halten muss– die Präsenz der Wiedergänger zeugt davon– wird er selbst in das Verstummen hineingezogen: Et puis mieux vaut ne pas y croire Ces histoires De revenants Plus jamais vous ne dormirez Si jamais vous les croyez Ces sprectres revenants Ces revenants Qui reviennent Sans pouvoir même Expliquer comment.26

Zur Fragwürdigkeit des Überlebens übrigens haben sich Améry und Kertész viel radikaler geäußert. Améry schreibt im Nachwort zu Lefeu: „Es gab seither keine Jasage mehr. Das Reich des Todes hatte sich aufgetan in der Welt. Man überlebte nicht.“27 Und Kertész schreibt im Essay Die exilierte Sprache über die Überlebenden:

25 Charlotte Delbo, Aucun de nous ne reviendra, Auschwitz et après 1, Paris 1970, S. 114 f. 26 Charlotte Delbo, Une Connaissance inutile, Auschwitz et après, 2, Paris 1995, S. 191. 27 Améry, „Warum und Wie“ in Lefeu oder der Abbruch, S. 287–507, hier: 498.

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1 Unsagbar/sagbar

Anstatt nach Vergessen zu trachten, nach der Wärme eines normalen Menschenlebens zu suchen, bauten sie ihre in den Vernichtungslagern vernichteten Persönlichkeiten aus den in diesen Jahren erworbenen Erfahrungen wieder auf: sie wurden zum Medium von Auschwitz. Nur dass sie dadurch schon allzu bald der Unmöglichkeit des Überlebens gewahr wurden.28

Aus dieser äußerst gefährdeten Überlebenssituation heraus muss erzählt werden. Im Namen der Toten, um Zeugnis abzulegen, um zum Subjekt der Geschichte zu werden, um zu handeln, um die – im Falle der Juden zur Auslöschung bestimmte! – eigene Individualität in der Sprache zu rekonstituieren. Imre Kertész schreibt in einem Aufsatz über Jean Améry, dass er selbst zu schreiben angefangen habe, um endlich zum benennenden Subjekt zu werden, um zu agieren, um von der passiven Kondition des Opfers loszukommen.29 Schreiben ist in diesem Kontext im Wesentlichen Ichkonstruktion, Versuch der Wiedergewinnung der eigenen Individualität und Zeugentum. Und es ist ein Schreiben, das aus der Perspektive des ungewiss überlebenden Opfers geschieht. Aus dieser Perspektive entsteht das Problem der Unaussprechlichkeit. Denn das Erlebte liegt jenseits der Sprache, des Verständlichen, des Vorstellbaren. Und für die ohnmächtigen Opfer der Gewalt in einer radikal asymmetrischen Situation gibt es keine Möglichkeit des heroisierenden Gedächtnisses oder der heroisierenden Sprache, die im Kontext von Gewalt gehandhabt wird und die dazu führen soll, Gewalt akzeptabel zu machen, dem Opfer einen Sinn zu geben. In seinem Essay über „Die Tortur“, im Band Jenseits von Schuld und Sühne enthalten, beschreibt Améry präzise und distanziert die Folter, der er unterworfen wird, aber nicht seinen Schmerz: Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es „wie ein glühendes Eisen in meinen Schultern“ und war dieses „wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener, stumpfer Holzpfahl“? Ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede […]. Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens. Wer seinen Körperschmerz mitteilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden.30

Wieder und wieder versucht Améry in unterschiedlichen Ansätzen, die sich dem autobiographischen Essay oder dem Essay-Roman widmen, nie in einer direkten

28 Imre Kertész, „Die exilierte Sprache“, in: Die exilierte Sprache, S. 165–182, hier: S. 212. 29 Siehe Kertész, „Die Panne“, S. 17 f. 30 Jean Améry, „Die Tortur“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2, S. 55–85, hier: 73 f.

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

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Autobiographie, aber immer von ihr bedingt, seinen Schmerz, seine Verletzung zu bekunden. Aus einer ganz anderen Situation, und aus heutiger Sicht, spricht der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad Faciolince in einem Interview zu seinem Erzählband Ya somos el olvido que seremos (Wir sind schon das Vergessen, das wir sein werden, M.S.) auch über den Schmerz des Opfers der Gewalt. Er gibt ihn als eine Triebkraft seines Schreibens an, eines Schreibens aus der Perspektive des Opfers, das gerade deshalb die Gewalt nicht beschreiben kann: Diejenigen, die sie [die Gewalt, M.S.] nicht erlitten haben, können sich an ihr weiden, in allen Details die Gräueltaten der Henkersknechte beschreiben, Spektakel machen. Da ist Tarantino, und in Kolumbien gibt es viele, die die Streifzüge der Mörder zu Romanen gemacht haben, nicht nur Fernando Vallejo. Die Figur des Bösen hat großes literarisches Prestige, der Böse ist nie lächerlich, er provoziert nie Spott. Das Opfer ja. Aber ich musste diesen Horror schildern und um es zu tun, musste ich die Scham des Opfers überwinden, seine Fragilität. Mein Blick ist ein anderer: Ich verweile nicht auf der Beschreibung des Gewaltaktes, ich bekunde den angetanen Schmerz.31

Der Titel des Bandes bezieht sich auf ein Sonett von Jorge Luis Borges, das der Vater von Faciolince in der Hosentasche trug, als er mitten auf der Straße erschossen wurde. Mit dem Bezug auf Borges verbindet der Autor das Schreiben und das Vergessen, gegen das das Schreiben ankämpft: Schreiben geschieht gegen das Vergessen, dem wir, wenn wir nicht schreiben, anheimfallen werden. Schreiben gegen das Vergessen ist aber mit dem Erinnern eines unermesslichen Schmerzes verbunden, der die Bedingung des Opfers ausmacht. Über Améry und über die Scham des Opfers schreibt Kertész: „Wie ein Hund! sagte K., es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Wollte er aber wirklich, dass die Scham ihn überlebte, dann musste er die Scham genau artikulieren und das Artikulierte in eine bleibende Form gießen, das heißt, er musste ein guter Schriftsteller werden.32

31 Übersetzung von mir, M.S. – Im Original: „Quienes no la han padecido pueden regodearse con ella, describir con todo detalle los crímenes de los sicarios, hacer espectáculo. Ahí está Tarantino, y en Colombia hay muchos que han novelado las andanzas de los asesinos, no sólo Fernando Vallejo. El personaje del malo tiene mucho prestigio literario, nunca hace el ridículo, nunca genera burlas. La víctima, sí. Pero yo tenía que contar ese horror y para hacerlo tenía que superar el pudor de la víctima, su fragilidad. Mi mirada es distinta: no me detengo a describir los detalles del acto violento, sino a dar cuenta del dolor producido.“ Entrevista con Héctor Abad Faciolince, in: El País, 01.12.2007, S. 27. 32 Imre Kertész, „Der Holocaust als Kultur“, in: Ders., Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt: Essays, aus d. Ungar. v. György Buda, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 54–70, hier: S. 60.

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Sind Gefühlsqualitäten tatsächlich unbeschreiblich? Markieren sie die Grenze des Mitteilbaren? Kann man Schmerz aus der Erinnerung beschreiben? Mit welcher Sprache? Mit der des Folterers? Die traumatischen Erfahrungen von Leid und Scham finden nur schwer Einlass in das Gedächtnis und in die Sprache, weil sie nicht in ein positives individuelles oder kollektives Selbstbild integriert werden können, weil es für sie keine Rezeptionsmuster und Erinnerungstraditionen gibt. Und insofern möchte auch keiner sie hören, zumindest zu Anfang. „Man wollte uns einfach nicht zuhören. Weil wir eine Schande für die Menschheit waren. Man hatte Mitleid mit uns. […] Die Widerstandskämpfer wurden geliebt, aber von den Deportierten wandte man sich ab“, so Elie Wiesel im Gespräch mit Jorge Semprún.33 Und ein weiterer Aspekt kommt noch hinzu: Die Folter instrumentalisiert in ihrer Anwendung die Sprache für sich; die Sprache des Geständnisses ist gezwungenermaßen die Sprache des Folterers: Frage und Antwort bekräftigen zudem, dass der Gefangene nahezu keine Sprache mehr hat – sein Geständnis bedeutet bereits halbwegs die Auflösung von Sprache, zeigt hörbar an, wie nah er dem Schweigen ist –, während der Folterer und das Regime ihre Sprache gleichsam verdoppelt haben, denn der Gefangene spricht nun ihre Sprache.34

In der Erinnerung an die Folter spricht die Sprache der Folterer mit. Kann man dann nur mit der Sprache des Folterknechtes die Folter benennen? Auf die Diktaturerfahrung bezogen, besteht das Problem für Kertész darin, „eine Darstellung aus dem Blickwinkel des Totalitären vorzunehmen, ohne den Blickwinkel des Totalitären zum eigenen Blickwinkel zu machen“.35 Der Blickwinkel der Diktatur ist der Blickwinkel des Folterers, kann man weiter folgern, und was er in der Folter hauptsächlich hat, ist gerade der Schmerz des Gefolterten, die Macht über ihn: „Die Abwesenheit von Schmerz bedeutet die Gegenwart von Welt; die Gegenwart von Schmerz bedeutet die Abwesenheit von Welt. Mittels dieser beiden Umkehrungen wird aus Schmerz Macht“, argumentiert Elaine Scarry weiter:36 Je größer der Schmerz des Gefangenen, desto größer die Welt des Folterers.

33 Semprún, Schweigen ist unmöglich, S. 15. 34 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz: Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, aus d. Amerikan. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1992, S. 57. 35 Imre Kertész, Galeerentagebuch, aus d. Ungar. v. Kristin Schwamm, Berlin 1993, S. 21. 36 Wenn nicht nur der Folterer selbst, so Scarry, sondern beinahe alle Welt dazu neigt, das Geständnis mit „Verrat“ gleichzusetzen, bezeugt dies, dass die Abwesenheit von Welt dem Gepeinigten nicht Mitgefühl, sondern Verachtung einträgt. Dass die Ansprüche des Leidenden gerade durch den Weltverlust verdunkelt werden, den der Schmerz über ihn gebracht hat, ist ein Schritt in dem Wahrnehmungsprozess, der es möglich macht, dass der körperliche Schmerz des einen als Macht des anderen erscheint (vgl. Scarry, Der Körper im Schmerz, S. 57 f.).

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

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„Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, sagte Edgar, wenn wir reden, werden wir lächerlich.“37 So beginnt und endet Herta Müllers Herztier. Der Satz thematisiert sowohl die Problematik als auch die Aporie des Erzählens aus der Opferperspektive, eines Schreibens, das den unermesslichen Schmerz bekunden muss und dabei auch das passive Opfer zum aktiven Subjekt machen soll, eine Sprache, die das Verstummen in der Sprache signalisieren muss. Das autobiographische Schreiben, um das es hier geht, stellt den ‚autobiographischen Pakt‘ zwischen Autor und Leser auf eine besonders radikale Weise auf; denn da es um Zeugentum geht, wird die Frage nach der Wahrhaftigkeit besonders akut. Das sich konstituierende Ich des Erzählers besteht auf absoluter Authentizität, wenn auch nicht unbedingt auf historischer Akribie. Im Schatten des Holocausts hat sich eine Annäherung zwischen Geschichte und Gedächtnis ergeben, eine Aufwertung von Erinnerungen und mündlichem Tradieren; durch das Einlassen individueller Erfahrungen und Erinnerungen wird die Illusion einer kohärenten Geschichtskonstruktion unterlaufen und die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit der Erfahrungen aufgezeigt.38 Es geht hier nicht um mündliches Tradieren, sondern um literarisches, und zwar um höchst komplex ästhetisch konstruierte Werke. Aber diese Annäherung betrifft auch die Autobiographie und Autofiktion, deren Verweis auf Authentizität und Geschichtsnähe. Denn dafür, dass es auch in der Fiktion um Wahrhaftigkeit geht, bürgen die Erzählfigur und der Autor. Die Fiktion wird sogar als Instrument der Wahrheitssuche bestimmt. Die Autofiktion steht in diesem Zusammenhang: Sie distanziert das Erlebte und macht es erzählbar. Mit ‚autofiktional‘ kann man ein Schreiben definieren, das in weitem Maße autobiographisch konnotiert ist und sich von der Autobiographie unterscheidet, indem es die Lebensgeschichte als etwas behandelt, was zu erfinden ist. Sein Wahrheitsanspruch wird nicht aus einer Rekonstruktion des angeblich Gewesenen bezogen sondern, jenseits davon, aus den – von der Wiederlebbarkeit des Erinnerten bestimmten – literarischen Verfahren. Es geht dabei um ein Schreiben aus der Erinnerung. Entsprechend habe ich an den Anfang zwei Erinnerungsbilder gestellt, die bewusst eingesetzt werden, um vom Erzählen aus so etwas wie eine Poetik des Erzählens anzuzeigen. Im Folgenden möchte ich mich nun näher mit der Erinnerung, mit dem Erschreiben der Erinnerung und der Funktion der Bildlichkeit in ihr beschäftigen.

37 Herta Müller, Herztier, Frankfurt a.M. 2009, S. 7. 38 Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 47 f.

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1.2 Gedächtnis und Narration 1.2.1 Erinnern und Erzählen: Narrare necesse est Die Unvollkommenheit des Instruments, das sich Gedächtnis nennt, lässt mir keine Ruhe. Viele höchst charakteristische Details sind unweigerlich vergessen – ich muss nach zwanzig Jahren schreiben. Fast spurlos verloren ist allzu vieles – in der Landschaft wie in den Innenräumen und vor allem in der Abfolge der Empfindungen. Der gesamte Ton der Darstellung kann nicht so sein, wie er sein sollte. Der Mensch erinnert sich an das Schöne und Gute besser und vergisst das Schlechte leichter. Schlechte Erinnerungen bedrücken, und die Kunst zu leben, falls es diese gibt, – ist im Grunde die Kunst zu vergessen.39

So Warlam Schalamow, der in seinen Geschichten der Kolima das Überleben und Sterben im Gulag beschreibt. Semprún betitelt seine eigenen Memoiren Schreiben oder Leben. Und wenn schon erinnert und geschrieben werden muss, wie soll dieses erinnernde Schreiben sein? „Memoiren kann man wenig glauben“, schreibt auch Schalamow, „aber die Prosa der Zukunft ist glaubwürdig. Diese Prosa ist kein Essay, sondern ein künstlerisches Urteil über die Welt, abgegeben von einer Autorität des Authentischen.“40 Auch wenn die Glaubwürdigkeit der Memoiren angezweifelt wird: Das Schreiben, das aus der Erinnerung des Entsetzlichen entsteht, findet Formulierungen, die glaubwürdig und authentisch sind. Die Tatsache, dass das Erzählen vom Holocaust oder vom Gulag jeweils ein Anderes ist, weil auch die Realität eine andere ist, und auch ein Anderes ist als das übliche erinnernde Schreiben, wird in diesem Zusammenhang bestätigt und im Einzelnen zu behandeln sein.41 Neurologen und kognitive Psychologen haben in den letzten Jahren nachgewiesen, dass Erinnerungen zum Flüchtigsten und Unzuverlässigsten des menschlichen Intellekts gehören. Dennoch: Sie machen Menschen erst zu Menschen. Die eigenen biographischen Erinnerungen sind der Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und das Bild der eigenen Identität aufgebaut werden. Wie

39 Warlam Schalamow, Über Prosa, aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), Berlin 2009, S. 32. 40 Ebd. S. 110. 41 Vgl. Imre Kertész: „Die Auschwitz-Erzählung ist bereits in jene Periode der heimlichen Reifung und des scheinbaren Vergessens hinübergetreten, die psychoanalytische Schulen als Verdrängung bezeichnen. Der Gulag, darin bin ich sicher, ist trotz aller Ähnlichkeit eine andere Erzählung“ (Kertész, „Die Unvergänglichkeit der Lager“, S. 52).

1.2 Gedächtnis und Narration

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Luis Buñuel am Anfang seiner Memoiren schreibt: „Nuestra memoria es nuestra coherencia, nuestra razón.“42 Für die Konstitution von Identität sind die Speicherung vergangener Erlebnisse und Handlungen (Gedächtnis) sowie das Bewusstsein vergangener Erlebnisse und Handlungen als vergangene (Erinnerung) notwendige Voraussetzungen. Diese Fähigkeiten sind zum einen für die ontologische Frage von grundlegender Bedeutung, weil die kausale Verknüpfung psychischer Zustände die diachrone Identität konstituiert. Zum anderen sind für das evaluative praktische Selbstverständnis Selbst- und Zeitbewusstsein grundlegend, weil es Personen ermöglicht, sich zu ihrer eigenen Existenz kognitiv und willentlich zu verhalten.43

Man kann sich die Erinnerungen nicht als etwas vorstellen, was gespeichert parat wäre und auf das man einfach erinnernd zugreifen kann; das Erinnern ist vielmehr eine kognitive Operation, ein Prozess, der durch das episodisch-autobiographische Gedächtnis realisiert wird. Dieses operiert rekonstruktiv und erlaubt so eine fortlaufende Re-Interpretation der eigenen Erlebnisse und Erfahrungen der Vergangenheit. So können wir die Vergangenheit jeder neuen Lebenslage anpassen, eine Kontinuität zwischen den Episoden schaffen: Die Genese des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses verläuft parallel zu und in enger Verknüpfung mit der Identitäts- und Persönlichkeitsentfaltung eines Menschen. Erinnerungen an persönliche Erlebnisse bilden die Erfahrungsgrundlage für die Entstehung, die Kontinuität und den Wandel von Selbstkonzepten im Zeitverlauf des Lebens eines Menschen.44

Der Prozess des Erinnerns geschieht darüber hinaus in narrativen Prozessen. Vielleicht gilt dies sogar, nach den Forschungsergebnissen der Kognitionspsychologie, schon für das Speichern selbst: So wird z.B. dargelegt, dass nicht erst die Artikulation von Erinnerungen, sondern bereits deren kognitive Elaboration, ja schon Teile unserer vom Gedächtnis gespeicherten handlungsrelevanten Selbst- und Weltwahrnehmungen in Form kohärenter Erzähl-, bzw. Geschichtenschemata organisiert sind. Es sind die in Form von Geschichtenschemata mental repräsentierten Erfahrungen und Erwartungen, die das Erinnern in seinem Ablauf strukturell ordnen und dadurch auch inhaltlich bestimmen. Dies führt unter anderem dazu, dass

42 „Unser Gedächtnis ist unsere Kohärenz, unser Verstand“ (Luis Buñuel, Mi último suspiro, Barcelona 2000, S. 11). 43 Angelika Weber, „Autobiographisches Gedächtnis“, in: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 67–70. 44 Vgl. Tilmann Habermas, „Grundlagen des Erinnerns“, in: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 11–74, hier: S. 17.

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1 Unsagbar/sagbar

Erinnerungen […] häufig ganz unwillkürlich nach der formalen Maßgabe eines vollständigen Geschichtenschemas ergänzt und komplettiert werden, indem „faktisch“ nicht besetzte Leerstellen imaginativ ausgefüllt werden.45

Dieser These gemäß folgen Erinnern und Erzählen denselben Mustern von kohärenter Konstruktion, von Kausalitätszuordnungen, von Zusammenhängen. Das Konzept der Vergangenheit, das Phänomen der Erinnerung und das Schema der Erzählung verhalten sich dabei komplementär zueinander und stützen sich gegenseitig.46 Wir leben seit jeher in Geschichten. Und wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen können oder von denen wir uns wünschen, dass sie von uns erzählt werden. Über Geschichten konstruieren wir für uns und für Andere, wer wir sind. Die Strukturen, auf denen wir unsere Identität stützen und aufbauen, sind Gedächtnis und Narration. Wir organisieren unsere Erfahrung hermeneutisch nach sprachlichen Prozeduren. In dieser Hinsicht ist Narration ein grundlegender Figurationsprozess, der die menschliche Erfahrung von unserem eigenen Leben und Handeln und vom Leben und Handeln der Anderen bildet.47 Die Narration unserer selbst ermöglicht es, uns im Wandel der Zeiten als dieselbe Person zu fühlen, die früher war. So formuliert es Paul John Eakin: „As self-narration maps

45 Jürgen Straub, „Narration“, in: Gedächtnis und Erinnerung, Pethes/Ruchatz (Hersg.) S. 399–402. 46 S Vgl. Siegfried J. Schmidt, „Gedächtnisforschungen: Positionen, Probleme, Perspektiven“, in: Ders. (Hrsg.), Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt a.M. 11991, S. 9–55, hier: S. 39. 47 In einem Workshop über Narrative strategies in trauma narratives: coherence and identity, der vom 12.–14. Januar 2012 im FRIAS stattfand, wies Marc Freeman auf vier Merkmale der narrativen Erfahrung hin: „1. Entanglement with language and other forms of sign mediation, in the sense of the symbolic field being that what makes the experience, so that it can be reflected; 2. Inherent temporality awareness of the past as past; 3. the “what’s it like” quality of experience (which in traumatic experiences refers to being overwhelmed, paralysed, etc. and is linked with the consciousness factor and human experientiality: stories are not only about something but they act on experience); and 4. the interpretative nature, because the narrative experience is not just the immediate rendition of a perception.” Zu mündlichen Traumanarrativen vgl. Arnulf Deppermann/Gabriele Lucius-Hoene, „Trauma erzählen“, in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung und klinische Praxis 7/2005, S. 35–73; Elisabeth Gülich, „Unbeschreibbarkeit. Rhetorischer Topos – Gattungsmerkmal – Formulierungsressource“, in: Gesprächsforschung. Online-Zeitschrift für verbale Interaktion, 6/2005, S. 222–244; Ingrid Furchner/ Elisabeth Gülich, „Die Beschreibung von Unbeschreibbarem. Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken“, in: Inken Keim/Wilfried Schütte (Hrsg.), Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 161–186.

1.2 Gedächtnis und Narration

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and monitors the succession of body or identity states, it engenders the notion of a bounded, single individual that changes ever so gently across time but, somehow, seems to stay the same.“48 Somit ist die Narration der Vergangenheit von der Gegenwart her bestimmt und auf die Zukunft orientiert, die von der Erfahrung der Vergangenheit her geformt werden soll. Die Erzählung und Strukturierung unserer selbst in der Zeit hilft uns, zu wissen, wer wir sind. Eakin stützt sich auf die Arbeiten des Neurologen Antonio R. Damasio49 und paraphrasiert ihn: „Autobiographical memory permits a constantly updated and revised aggregate of dispositional records of who we have been physically and of who we plan to be in the future.“50 Aber: Consciousness seems inevitably to generate a sense of some central, perceiving entity distinct from the experience perceived. Damasio stresses, however, that there is no neurological evidence to support such a distinction, for despite the illusion of unified perception that ‘binding’ miraculously creates, multiple centers of activity in the brain produce it.51

Die Metaphern, die Damasio für die Aktivität des Erinnerns kreiert, berufen sich auf den Prozess und nicht auf den Speicher; er spricht von einem permanent im Kopf ablaufenden Film oder von einer Musik: Wir sind die Musik, solange sie dauert, oder der Film, solange er abläuft. Insofern greift es aber auch zu kurz, das Erinnern nur als eine Konstruktion von der Gegenwart aus zu verstehen. Es schafft eine Kontinuität, die auf die Zukunft projiziert wird, und braucht ein Kriterium der Adäquatheit, der Erklärbarkeit. Wir könnten den Platz der Narration beim Erinnern als eine konstante Navigation zwischen dem, was verbleibt, und dem, was sich geändert hat, definieren, getragen von dem Versuch, eine Kontinuität im eigenen Leben zu konstruieren. Dabei spielen besonders die Diskontinuitäten, Unterbrechungen und Stockungen eine Rolle; wir brauchen Diskontinuitäten zur Beantwortung der Frage nach unserer Identität im Laufe der Zeit, in der Reflexion darüber, ob ich noch der/dieselbe bin, und wie das überhaupt möglich ist. Man muss sich verändern, um der/die gleiche zu sein. Narration ist Integration und Differenzierung. Narration, Erfahrung und Erinnerung bedingen einander. Laut Manfred Weinberg bestätigt die These der Konstruiertheit allen Erinnerns „gegen ihre eigenen Intentionen“ vielmehr die Voraussetzung der Mög-

48 Paul John Eakin, Living Autobiographically. How We Create Identity in Narrative, Cornell 2011, S. 155. 49 Antonio R. Damasio, The feeling of what happens: body and emotion in the making of consciousness, New York/San Diego/London 1999. 50 Eakin, Living Autobiographically, S. 173. 51 Ebd., S. 73.

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lichkeit eines „adäquaten Erinnerns“.52 Das Vergangene ist nur als Erinnertes präsent; der Prozess des Erinnerns ist mehr eine Suche, eine recherche im Sinne Prousts, als eine Rekonstruktion. Die exilierte spanische Philosophin María Zambrano bringt die Spannung zwischen dem Hier und Jetzt des Erinnerns und der Vergangenheit, die nicht nur das Jetzt, sondern vom Jetzt aus das ganze Leben legitimieren soll, auf den Punkt, wenn sie schreibt: No temblaba por temor a que quedase en entredicho la verdad de lo vivido; era la legitimidad de su vida lo que buscaba. Por eso buscaba vaciarse de todo, verse como se había visto en „aquel momento“, pero con los ojos del entendimiento, ya „desde aquí“.53

Bezeichnenderweise schreibt sie ihre Autobiographie in der dritten Person, schreibt von sich selbst, indem sie sich selbst distanziert, dabei aber auch leidenschaftlich wahrnimmt und zu erklären versucht. Und zwar mit einer solchen Radikalität, dass sie beim Schreiben nicht um die Infragestellung der Wahrheit des Gelebten, sondern um die Legitimität ihres Lebens bangt. Denn diese Legitimierung ist der Impuls, der sie zum Schreiben der Autobiographie bewegt. Man kann sich anhand von Objekten und Räumen erinnern; diese können Erinnerungen auslösen. Aber die Formulierung eines übergreifenden Sinnzusammenhangs, die Beschreibung und Erklärung, die eine Erzählung bietet, kann nur innerhalb der Sprache geschehen. Und Sprechen ist ein zentrales Medium in der gesellschaftlichen Beziehung und im kulturellen Verhalten des Individuums. Wenn episodische Erinnerungen konkrete Ereignisse und Handlungen zum Inhalt haben, werden autobiographische Erinnerungen dadurch charakterisiert, dass sie Zusammenhänge schaffen und im sozialen Austausch des Erzählens mit subjektivem und intersubjektivem Inhalt ausgestattet werden: Sie gehen auf den Hörer ein und werden von ihm bestätigt oder in Frage gestellt; sie werden als Erinnerung in verschiedenem Maß stabilisiert und gehen in ein intersubjektives Gedächtnis ein. Es geht bei diesem Erzählen und Erinnern um Ereignisse im Selbstverständnis des Erzählers, also nicht nur um das, was passiert ist, sondern auch um das, was dem Erzähler passiert ist und wie es ihm

52 Manfred Weinberg, Das „unendliche Thema“. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur/ Theorie, Tübingen 2006, S. 42. 53 „Sie zitterte nicht aus Angst davor, dass die Wahrheit des Gelebten in Frage gestellt werden würde, das, wonach sie suchte, war die Legitimation ihres Lebens. Deshalb suchte sie, sich von allem zu entleeren, sich so zu sehen, wie sie sich ‚damals, in jenem Moment‘, gesehen hatte, aber mit den Augen des Verständnisses, schon ‚von jetzt aus‘“ (María Zambrano, Delirio y destino: Los veinte años de una española, Madrid 2011, S. 65. – Übersetzung von mir, M.S.).

1.2 Gedächtnis und Narration

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passiert ist.54 Seine Erzählung braucht aber einen Konsens, in den sie sich einfügen kann: Erinnerungen müssen von den Anderen, vom Kollektiv, bestätigt werden, sie werden sozusagen ausgehandelt. So entsteht eine geteilte Geschichte, in der das Individuum sich verortet, sich selbst und seine Erfahrungen versteht. Insofern ist die individuell und kollektiv erlernte Fähigkeit zum Erzählen eine fundamentale Kompetenz, Sinn und Bedeutung zu erzeugen, und sie wird in unseren Gesellschaften schon von der Kindheit an im familiären Umkreis gelernt. Dort werden gemeinsam Erinnerungen und Geschichten über die familiäre Vergangenheit erstellt und dabei strukturelle Strategien festgelegt, auch kulturell relevante Markierungen auf Ereignisse bezogen, die als erinnernswert betrachtet werden. Dazu gehört auch die Prägung, das gemeinsame Festlegen auf bestimmte kulturelle Strategien oder Modi des Erinnerns. Die Einordnung in der Zeit ist ein fundamentales Element der Strukturierung von Erinnerung. Aber auch Zeit und Raum sind Erfahrungen, die laut Piaget und Vygotskij gemacht und erlernt werden, und zwar in Zusammenspiel mit den Anderen. Vygotskij erläutert, wie eine missglückte, greifende Bewegung des Kindes zu einem Objekt erst durch das hilfreiche Eingreifen der Mutter als eine Geste des Zeigens erlernt werden kann, wie aus einer auf einen Gegenstand gerichteten Bewegung eine an einen anderen Menschen gerichtete Bewegung, ein Verständigungsmittel wird – das seinerseits für die Mutter verständlich werden muss: „Es wäre festzuhalten, dass wir erst durch andere wir selbst werden – und das gilt nicht nur für die Gesamtperson, sondern auch für die Geschichte jeder einzelnen Funktion.“55 Raum- und Zeitbegriffe werden so durch Erfahrung und in zwischenmenschlichen Bezügen erlernt und entwickeln sich von Eigenraum und Eigenzeit durch Sozialisation zu allgemeinen Begriffen. Zeit erweist sich als ein affektiv besetztes Beobachter- und Relationskonzept.56 Die soziale Identität wird durch Kommunikation hergestellt. Auch die individuelle Erinnerung wird durch die Umwelt stabilisiert oder gebrochen, ist auf die Umwelt angewiesen. Die eigenen Erinnerungen sind unaustauschbar und unübertragbar, aber sie sind vernetzt mit den Erinnerungen Anderer; so bestätigen und festigen sie sich, oder so werden sie hinterfragt und gewissermaßen ausgehandelt. Der spanische Historiker José Luis Aranguren erklärt in seinen Memoiren das Verhältnis zwischen dem Leben und dem sozialen, gemeinschaftlichen Aspekt des Erinnerns folgendermaßen:

54 Vgl. Habermas, „Grundlagen des Erinnerns“, S. 45; Lev S. Vygotskij, Geschichte der höheren psychischen Funktionen, Münster 1992, S. 235 f. 55 Ebd., S. 235. 56 Vgl. Schmidt, „Gedächtnisforschungen“, S. 41.

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Cuando vivimos no sabemos todavía qué sentido va a cobrar lo que hacemos, porque el sentido no depende solamente de nosotros, sino de la incidencia de nuestros actos sobre la realidad social, de la acogida o falta de acogida que encuentran nuestras acciones, de una porción de factores que todavía nos son incógnitos.57

1.2.2 Geschichte und verletztes Gedächtnis Maurice Halbwachs, dessen Tod in Buchenwald von Semprún geschildert wird, hat die sozialpsychologische Grundlage für die heutige Gedächtnisforschung gelegt. Er untersuchte welche Rolle Gruppen und Gemeinschaften für das individuelle Gedächtnis haben und ging den sozialen Prägungen individueller Erinnerungen nach. Dabei definiert er die cadres sociaux, die durch die Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Gruppen erbauten Rahmen der Erinnerung. Individuelle Erinnerungen sind nach Halbwachs Rekonstruktionen, die sich auf diese Bezugsrahmen stützen; mit ihrer Hilfe wird ein Bild von der Vergangenheit erstellt. Halbwachs unterscheidet nicht zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Erinnerbar ist nur das, was im Austausch mit Anderen mitteilbar ist. Ein einsamer Mensch könnte also nach Halbwachs keine Erinnerungen bilden, weil diese sozial gestützt sein müssen. Die Erinnerungen werden erst im Austausch mit Anderen, durch Kommunikation, aufgebaut.58 Es geht also um ein individuelles und ein kollektives Erinnern, um ein individuelles Gedächtnis und um ein kollektives Gedächtnis der Gruppen. Dabei ist der Begriff des kollektiven Gedächtnisses aber inzwischen sehr umstritten; seine Dimensionen gehen vom Individuum bis zur Nation und weiter. Problematisch und kontrovers ist auch der Übergang vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis. Von Halbwachs kreiert, wird es zum Beispiel von Susan Sontag in Frage gestellt, wenn sie in Regarding the pain of others über die Kriegsfotografien schreibt: Photographs that everyone recognizes are now a constituent part of what a society chooses to think about. It calls these ideas memories, and that is, over the long run, a fiction. Strictly

57 „Während wir es erleben, wissen wir noch nicht, welchen Sinn unser Handeln haben wird, weil der Sinn nicht nur von uns abhängt, sondern von den Folgen, die unser Handeln auf die gesellschaftliche Wirklichkeit hat, von der Zustimmung oder fehlenden Zustimmung, die unsere Handlungen finden, von einer Serie von Faktoren, die uns noch unbekannt sind“ (José Luis Aranguren, Memorias y esperanzas españolas, Madrid 1969, S. 17). 58 Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985; Helmut König, „Was ist Gedächtnis/Erinnerung?“, in: Gudehus/ Eichenberg/Welzer (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 75–125, hier: S. 85 f.; ferner Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 157 f.

1.2 Gedächtnis und Narration

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speaking, there is no such thing as collective memory – part of the same family of spurious notions as collective guilt. But there is collective instruction. All memory is individual, unreproducible – it dies with each person. What is called collective memory is not a remembering but a stipulating: that this is important, and this is the story about how it happened, with the pictures that lock the story in our minds.59

Jan Assmann unterscheidet zwei „Gedächtnis-Rahmen“ kollektiver Erinnerung: das kommunikative, alltägliche, auf Erinnerung und Überlieferung basierende und das kulturelle Gedächtnis. Harald Welzer prägt als Alternative den Begriff des sozialen Gedächtnisses als Universum einer Vergangenheitsbildung; darunter fallen die Praxis der mündlichen Tradition, der Bestand an konventionellen historischen Dokumenten wie Memoiren, Tagebücher, etc., gemalte oder fotografische Bilder, kollektive Gedenkrituale sowie geographische und soziale Räume.60

In dem Band Opa war kein Nazi geht er von den Assmann’schen Begriffen des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses aus. Ersteres ist ein „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“61. Das kommunikative Gedächtnis hingegen ist das alltagsnahe Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft, das „in interaktiver Praxis im Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen“62 lebt. Davon ausgehend untersucht er das (kommunikative) „Familiengedächtnis“, das den Rahmen für die Deutung des Geschichtswissens abgibt. Bei den Tradierungstypen der Familiengeschichten spielen Viktimisierungsund Heroisierungsgeschichten eine große Rolle. Sie passieren Wahrnehmungsfilter der logischen Konsistenz oder Wahrscheinlichkeit, die in anderen Fällen hinterfragt würden. Filme und Lebensberichte werden eingespielt. Die auslegende Wirksamkeit der Bilder bliebe ausschlaggebend für die Formulierung von Geschichten, so dass letzten Endes Stimmigkeit und Plausibilität von Erzählungen an ihrer Übereinstimmung an dem Bildinventar gemessen würden, das die Medien bereitgestellt hätten. Wir versuchen, Partikel und Episoden unserer eige-

59 Susan Sontag, Regarding the pain of others, New York 2003, S. 85 f. 60 Harald Welzer, „Das soziale Gedächtnis“, in: Ders. (Hrsg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 9–22, hier: S. 15. 61 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002, S. 12. 62 Ebd., S. 11.

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nen Lebensgeschichten und diejenigen Fremder nach dem Modell ästhetischer Konstruktionen zu verstehen. Was den Holocaust betrifft, kommen Welzer, Moller und Tsuggschnall bei ihrer Studie zu dem Fazit, dass er keinen systematischen Platz im deutschen Familiengedächtnis habe, das die primäre Quelle für das Geschichtswissen sei.63 Wie steht es also mit dem Bild der Vergangenheit, das mit unserem Bewusstsein von der Geschichte einhergeht? Paul Ricœur warnt davor, die Vergangenheit als eine Entität, einen Ort zu behandeln, in dem die vergessenen Erinnerungen zurückbleiben, die man mit einer Anamnese zurückholen könnte: Die Dynamik des geschichtlichen Bewusstseins erwächst aus dem Gefühl einer Orientierung im Fluss der Zeit. Diese Orientierung bezieht ihren ersten Anstoß aus dem Erwartungshorizont, der korrelativ den Erfahrungsraum beeinflusst, sei es, um ihn zu beeinträchtigen, sei es, um ihn zu bereichern; schließlich verleiht dieser Erwartungshorizont der Erfahrung der Gegenwart das Maß an Sinn oder Sinnlosigkeit, das letzten Endes dem geschichtlichen Bewusstsein seinen qualitativen Wert verleiht, welcher sich nicht auf die bloß chronologische Dimension der Zeit reduzieren lässt.64

Um eine Untersuchung der Vergangenheit zu entwickeln, die nicht von ihrem Vergangenheitscharakter überschattet wird, verlegt er diese in eine umfassendere Dialektik, in der das Verhältnis zur Zukunft mehr gilt als das zur Vergangenheit, „weil die Vergangenheit ihren doppelten Sinn des Gewesen-Seins und des NichtMehr-Seins erst in ihrem Verhältnis zur Zukunft erhält“65. Dafür schlägt er vor, die Zeitdimension der Erinnerung, ganz im aristotelischen Sinn, wieder in den Vordergrund zu stellen: „Diese Besonderheit des Gedächtnisses, dass es nämlich die zeitliche Distanz der erinnerten Sache anzeigen kann, muss im Gegensatz zu einer jahrhundertealten Kolonialisierung der Gedächtnisproblematik durch die Imagination zurückerobert werden.“66 In der Erinnerung ist die Vorherigkeit mit der Abwesenheit des Erinnerten, die durch das Bild evoziert wird, verbunden. Die Zukunftsperspektive des Gedächtnisses wird von Ricœur gerade durch die Reflexion über verletztes Gedächtnis und Geschichte theoretisch erschlossen. Ricœur sieht das Vergessen und den Missbrauch des Gedächtnisses (Tzvetan Todorovs Abus de mémoire) als zentrales Merkmal des verletzten Gedächtnisses. Das selektive Erinnern und der wohlüberlegte Gebrauch des Vergessens sind die Instrumente des Gedächtnismissbrauches, wenn sie als Strategie der Erzählung

63 Vgl. ebd., S. 210. 64 Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit: Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 86. 65 Ebd., S. 86 f. 66 Ebd., S. 88.

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eingesetzt werden. Wenn es auch nach Nietzsche eine Notwendigkeit des Vergessens gibt, so geht es doch darum, einen guten Gebrauch von der gefährlichen Macht der Selektion zu machen. Man dürfe nicht vergessen, um sich den Zerstörungen zu widersetzen, um Wurzeln für die Identität aufzubewahren, um die Dialektik von Tradition und Innovation aufrechtzuerhalten, um Spuren – darunter die Spuren der Opfer der Gewalt in der Geschichte – zu bewahren. In dieser Hinsicht ist das Gedächtnis bedroht. Die einzige Alternative zur ewigen Wiederholung der Verletzungen des Gedächtnisses liegt laut Ricœur in einer Verschiebung der Betonung von der Vergangenheit auf die Zukunft: Das Zuviel oder Zuwenig an Gedächtnis haben jedoch den gleichen Mangel, nämlich dass Vergangenheit der Gegenwart anhaftet: „die Vergangenheit, die nicht vergehen will“, von der manche der zeitgenössischen Historiker sprechen; es ist eine Vergangenheit, die noch der Gegenwart innewohnt, oder sogar wie ein Gespenst ohne Distanz in ihr spukt.67

Ricœur plädiert für eine Erinnerungsarbeit, die auch Trauerarbeit ist; für eine kritische Funktion der Historie in Bezug auf die Mängel des Gedächtnisses, indem sie gerade an die Distanzierungsfunktion des Gedächtnisses anknüpft. Unter diesem Gesichtspunkt finden die Texte, die hier zu analysieren sind, auch im Rahmen der Geschichte eine eigene Berechtigung im Sinne eines Beitrags zu einer Kultur des gerechten Gedächtnisses. Ein weiterer von Ricœur behandelter Aspekt ist für diese Kultur des gerechten Gedächtnisses bezeichnend. Ricœur kritisiert das, was er die „retrospektive Fatalitätsillusion“68 nennt. Er plädiert dafür, Vorsätze, Versprechen und Wünsche, die in der Vergangenheit entworfen und nicht erfüllt wurden, wiederzubeleben, und gibt diesem eine therapeutische Funktion. Auch dafür finden wir Elemente in den hier zu analysierenden Texten, bei Améry, bei Kertész, bei Aub. Sprache, Gedächtnis, Autobiographie und Identität sind tief ineinander verschlungen, bedingen sich wechselseitig. Sie sind bestimmend für die Artikulation und Repräsentation von Identität, und in diesem Zusammenhang kommt dem Erzählen und Verstehen von Geschichten eine fundamentale Rolle zu, weil Autobiographie und Identität im Medium des Narrativen geschehen. Bei der Autobiographie handelt es sich aber um Strukturierung der Erinnerung in Schrift. Und Schrift verweist auf Dauer einerseits, auf Diskursivität andererseits. Die Schrift ist der wichtigste Stabilisator von Erinnerung, und das Schreiben ist mit der Entwicklung der Subjektivität, des bürgerlichen Subjekts – und auch mit dem Bewusstsein von Zeit – untrennbar verbunden. Die Schrift hebt die sinnlichen Verkörpe-

67 Ebd., S. 113. 68 Ebd., S. 128.

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rungen auf, sie erschafft sekundäre Räume und Bilder. Die momentane Bilderinnerung erhält durch das Erzählen Sinn und Struktur; sie wird erschrieben und dadurch neu geschaffen.

1.2.3 Traumatische Erinnerungen: Vergangenheit als Gespenst und als Zeitloch Gerade aber das Bewusstsein der Vergangenheit als einer vergangenen – als etwas, was man narrativ konstruieren und sinngebend auf die Zukunft projizieren kann, weil in der Erinnerung immer auch eine Zukunftsprojektion enthalten ist, weil wir aus der Erinnerung, aus der Erfahrung unser Wissen über das Leben aufbauen – gerade dieses Bewusstsein ist bei traumatischen Erinnerungen gestört. Unbewältigt spielen diese in die Gegenwart hinein, verunsichern es. Levi beendet seinen Band Die Atempause mit der Beschreibung eines Traums, in dem dieser Aspekt thematisiert wird: Es ist ein Traum im Traum, unterschiedlich in den Details, gleichbleibend in der Substanz: Ich sitze am Familientisch, bin unter Freunden, bei der Arbeit oder in einer grünen Landschaft – die Umgebung jedenfalls ist friedlich, scheinbar gelöst und ohne Schmerz, dennoch erfüllt mich eine leise und tiefe Beklemmung, die deutliche Empfindung einer drohenden Gefahr. Und wirklich, nach und nach oder auch mit brutaler Plötzlichkeit löst sich im Verlauf des Traumes alles um mich herum auf; die Umgebung, die Wände, die Personen weichen zurück; die Beklemmung nimmt zu, wird drängender, deutlicher. Dann ist alles ringsum Chaos, ich bin allein im Zentrum eines grauen wirbelnden Nichts; und plötzlich weiß ich, was es zu bedeuten hat –, und weiß auch, dass ich es immer gewusst habe: ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager; alles andere waren kurze Ferien, oder Sinnestäuschung, Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause. Der innere Traum, der Traum vom Frieden, ist nun zu Ende, der äußere dagegen geht eisig weiter: Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehen, Wstawac.69

Semprún, der eine ähnliche Angst in verschiedenen seiner Romane schildert, zitiert erschüttert diese Stelle in Algarabía. Und er zitiert im Verhältnis dazu den Anfang des dritten Kapitels von Adornos Negativer Dialektik, beeindruckt davon, dass dies von jemandem geschrieben worden ist, der nicht die Erfahrung eines Lagers gemacht hat: Und von nun an kann ich Schweigen bewahren, weil das gesagt worden ist. Meine ganze Existenz ist vielleicht nur das von wildem Verlangen eines vor zwanzig Jahren Gestorbenen

69 Levi, Die Atempause, S. 245 f.

1.2 Gedächtnis und Narration

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durchdrungene Imaginarium. Zeit ist vergangen, seit Adorno schrieb. Dreißig Jahre schon. Ein vor dreißig Jahren Gestorbener, der der Lebende war, der ich nicht mehr bin. Dessen ungewisser Traum ich nur mehr bin.70

Bezeichnenderweise wird die zerrüttete Situation der Erzählfigur bei Levi über einen Traum vermittelt, mit Hilfe eines Traumbildes, das dann auch seine eigene Auflösung in den Traum versetzt. Dass dieses Traumbild den Erzählband beendet, zeigt, dass die Zerrüttung weiterreicht, bis in die Gegenwart des Lesers. Auch Fred Wander schildert das zerrüttete Verhältnis zwischen Realität und Traum, um die Allgegenwart und Präsenz des Todes zu bekunden: Jene Welt, wo es noch freie Städte gab, in denen die Menschen ohne Hunger lebten, war eine unwirkliche, eine geträumte Welt. Und die Leute dort wussten nicht, dass sie träumten! Die Umkehrung in meinem Leben, die Angst, das Bewusstsein des Todes und der Bestialität, die Angst, dass alles andere nur geträumt sei, dieses Gefühl hat mich noch nicht verlassen. Ich lebe noch im KZ, ich lebte noch in der Verkehrung des Menschentums. Aber das hinderte mich nicht daran, manchmal auch fröhlich zu sein.71

Traumatische Erinnerungen sind invasiv, unkontrollierbar, sie werden vom Opfer erlitten, überfallen es, anstatt dass sie evoziert, heraufbeschworen werden.72 Wie von der Traumapsychologie erfasst, sind traumatische Erinnerungen nicht narrativ, sie sind eher die Wiederholung eines Ereignisses mit allen Sinnen in Träumen oder Flashbacks, wo alle Elemente gesehen, gehört, gerochen, gefühlt werden – oder wo sie wiederholt als unzusammenhängende Fragmente erfahren werden. Diese traumatischen Zustände lähmen den Körper, paralysieren den Willen wie in einem Alptraum. Sie lassen sich nicht organisieren, und indem sie sich nicht als Vergangenheit einordnen können und die Gegenwart einnehmen, im Präsens erscheinen, zerstören sie auch das Bewusstsein der eigenen Identität als etwas, was sich über die Zeiten hinaus und auf eine Zukunft hin entwickelt. „The experience of the trauma, fixed or frozen in time, refuses to be represented as past, but is perpetually reexperienced in a painful, dissociated traumatic present“, so Ruth Leys in einer klassischen Studie über

70 Jorge Semprún, Algarabía oder die neuen Geheimnisse von Paris, aus d. Franz. v. Traugott König, Frankfurt a.M. 1989, S. 142. 71 Wander, Das gute Leben, S. 188. 72 „Die Nichtverarbeitung von traumatischen Erfahrungen wird seit Freud und Janet daran geknüpft, dass diese nicht vergehen wollen und somit nicht zur Vergangenheit werden. In einer gängigen Interpretation heißt das, dass sie nicht als auf die Vergangenheit verweisende Geschichte erzählbar, sondern nur wiedererlebbar sind“ (Tilmann Habermas, „Grundlagen des Erinnerns“, S. 70).

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1 Unsagbar/sagbar

Traumata.73 Leys schildert, wie man im Lager alles vergaß, inklusive der Zukunftspläne, die man für sich gemacht hatte: „The undoing of the self in trauma involves a radical disruption of memory, a severing of past from present and, typically, an inability to envision a future.“74 Dieser Verlust der Fähigkeit, Zeit und Kausalität, und damit die eigene Welt, zu ordnen, dieser Verlust an den Stützen des eigenen Bewusstseins von Identität, ist gerade das, was Leo Löwenthal 1946 in seinem Essay Individuum und Terror als Resultat der Unterdrückung der Gewaltregimes für die Individuen analysiert: Dieser erzeugte Verlust sei das Instrument, auf dem der Staatsterror beruht. Löwenthal sieht ihn tief in der Dynamik moderner Zivilisation und besonders moderner Wirtschaftsorganisation verwurzelt. Die Unmittelbarkeit und Allmacht des Terrors habe den Zweck, jede rationale Beziehung zwischen Regierungsentscheidungen und individuellem Schicksal auszurotten, individuelle Differenzen und Ansprüche gegenüber dem Machtapparat auszulöschen. Dem dienen Massenverhaftungen und das Zusammenwerfen von Menschen verschiedener Herkunft, Gesinnung und Religion in Konzentrationslagern. Die Konsequenz sei an erster Stelle der Zusammenbruch kontinuierlicher Erfahrung: Der Einzelne weiß nicht, was ihm bevorstehen mag; und das bereits Erlebte hat jede Bedeutung für seine Person und seine Zukunft verloren […]. Die schöpferischen Möglichkeiten von Phantasie und Erinnerung verlieren ihren Sinn und verkümmern schließlich, da sie außerstande sind, zu einer erwünschten Veränderung der Lebensumstände des einzelnen beizutragen.75

Wenn es keinen Plan für das Individuum gibt, werde dieses „zum bloßen Objekt, zum Bündel bedingter Reflexe, mit denen es auf unzählige manipulierte und kalkulierte Schocks reagiert“76. In seinem bekannten Essay „Die Tortur“ beschreibt Améry einen fundamentalen Aspekt der Folter: die unwiderrufbare Zerstörung des Weltvertrauens für denjenigen, der gefoltert wurde. „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“, heißt es in seinem Essay. „[U]nauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt, auch dann, wenn keine objektiven Spuren nachzuweisen sind.“77 Denn er wird nicht nur physisch und psychisch verletzt, sondern sozusagen gesellschaftlich, sozial: Mit

73 Ruth Leys, Trauma. A genealogy, Chicago 2000, S. 3. 74 Susan J. Brison, „Trauma Narratives and the Remaking of the Self“, in: Mieke Bal/Jonathan Crewe/Leo Spitzer, Acts of memory, Hannover 1999, S. 39–54, hier: S. 39. 75 Leo Löwenthal, „Individuum und Terror“, in: Dan Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988, S. 15–26, hier: S. 16. 76 Ebd., S. 17. 77 Améry, „Die Tortur“, S. 75.

1.2 Gedächtnis und Narration

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der Folter verliert er auch unwiderruflich das Vertrauen in den Mitmenschen. Es wird die Gewissheit zerstört, „dass der andere aufgrund von geschriebenen und ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, dass er meinen physischen und damit metaphysischen Bestand respektiert“78. Améry zieht eine Konsequenz, die Adornos Begriff vom perennierenden Leiden inspiriert: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen.“79 Wenn Améry in der Folter die Quintessenz des Nationalsozialismus sieht, wenn er sie als Apotheose des Nationalsozialismus ansieht, trifft er sich darin mit Löwenthals soziologischer Analyse und geht sogar noch weiter: Der Hitlergefolgsmann gelangte noch nicht zu seiner vollen Identität, wenn er nur flink war wie ein Wiesel, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. Kein goldenes Parteiabzeichen machte ihn zum vollgültigen Repräsentanten seines Führers und seiner Ideologie, kein Blutorden und kein Ritterkreuz. Er musste foltern, vernichten, um „groß zu sein im Ertragen von Leiden anderer“. Folterwerkzeug musste er handhaben können, dass Himmler ihm das geschichtliche Maturitätszeugnis ausstelle, es würden spätere Generationen ihn bewundern um seiner Austilgung der eigenen Barmherzigkeit willen.80

Die Schriftsteller müssen aus der Erfahrung der Zerstörung des Subjekts heraus erzählen, einer individuellen Zerstörung, die so weit geht, dass das Subjekt nicht mehr weiß, ob es Teil eines Traumes von einem Toten ist, in einer monströsen modernen Variante des barocken Themas Das Leben ein Traum (La vida es sueño, mit Calderón gesagt), – und einer sozialen Zerstörung, die das gesamte Weltvertrauen, das Weltbild und die Mitmenschen betrifft. Damit ist auch die Möglichkeit der Narration gestört: die Kausalitätsbestimmungen, die Ordnung in Zeit und Raum und die Frage nach dem möglichen Zuhörer. Inwiefern diese Narration wiederum das Subjekt selbst in Gefahr bringt, wird von der Psychosomatikerin Rachel Rosenblum erläutert: Survivre à un trauma historique majeur entraîne des conséquences lourdes à porter. Parmi celles-ci, la culpabilité et la honte d’avoir survécu dans des circonstances vécues comme inavouables et parfois délibérément conçues comme dégradantes. Le fait de se taire expose souvent le survivant à une sorte d’existence desséchée, à une „mort-dans-la-vie“. Mais le fait de dire l’expérience intolérable peut entraîner des dangers non moins graves. Ce dire semble, dans certains cas, déclencher des épisodes psychotiques, des atteintes somatiques graves, voire le suicide ou la mort. […] C’est la question des effets cathartiques,

78 Ebd., S. 66. 79 Ebd., S. 85. 80 Ebd., S. 70.

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mais parfois dévastateurs de la parole, du témoignage, du récit, lorsque ce récit porte sur un trauma.81

Dieser Problemkomplex wird von Semprún indirekt behandelt, wenn er seine Autobiographie La escritura o la vida, Schreiben oder Leben betitelt. Nach der Rückkehr aus dem Lager hat er sich vorgenommen, einen Roman darüber zu schreiben, muss aber die Unmöglichkeit seines Vorhabens entdecken und darauf verzichten. Erst fünfzehn Jahre später schreibt er seinen ersten Roman, in dem er die autobiographische Erfahrung des Lagers verarbeitet: Gleich einem gleißendem Krebs zerfraß der Bericht, den ich Brocken für Brocken, Satz für Satz meinem Gedächtnis entriss, mein Leben. Zumindest meine Lebenslust, mein Verlangen, in dieser armseligen Freude zu verharren. Ich wusste mit Sicherheit, dass ich an einen Punkt kommen würde, wo ich mein Scheitern zur Kenntnis nehmen müsste. Nicht, weil es mir nicht gelang, zu schreiben: vielmehr, weil es mir nicht gelang, das Schreiben zu überleben. Nur ein Selbstmord könnte diese unvollendete endlose Trauerarbeit besiegeln, ihr willentlich ein Ende setzen. Oder aber das Unvollendete selbst würde ihr selbst, willkürlich, ein Ende setzen, durch den Verzicht auf das Buch, an dem ich schrieb.82

Literatur ist Erinnerung, Memoria; Leben ist Vergessen. Aber Semprún kann das Vergessen, das Leben, nicht durchhalten: Er kehrt zum Schreiben, zur Memoria zurück, und indem er zur Literatur zurückkehrt, kehrt er zur Erinnerung, zur Angst, zum Terror zurück. Den Preis, den er dafür zahlt, das Buch zu schreiben, das er 15 Jahre früher aufgegeben hat, nennt er selbst: „So bezahlte ich diesen Erfolg, der mein Leben verändern sollte, mit der massiven Wiederkehr der alten Ängste.“83 Die traumatische Erfahrung geht in die Gegenwart ein, bestimmt sie. Darüber hinaus ergibt die narrative Konstante, die Tatsache, dass wir schon immer in Geschichten leben, einen Kontext der Fiktionalität, der Erinnerung als narrativer Konstruktion, der mit dem Anspruch auf absolute Authentizität des Erzählten kollidiert und der eine schmerzliche Spannung zwischen Autobiographie und Fiktion ergibt, in der das Erzählen stattfindet. Eine schmerzliche Spannung, die, wohlgemerkt, das Erzählte nicht in Frage stellt, auch an dessen Authentizität nicht rührt. Vielmehr ist die Fiktionalisierung ein Mittel, die Vergangenheit neu erstehen zu lassen und sie gleichzeitig in Distanz zu halten. Denn es geht darum, eine Sprache zu finden, in der die Aporie des Sprechens aus der Opferperspektive 81 Rachel Rosenblum, „Cure ou répétition du trauma?“, in: Revue francaise de psychosomatique, 28/2005, 2, S. 69–90, hier: S. 69, 73. 82 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 232. 83 Ebd., S. 269.

1.2 Gedächtnis und Narration

35

zur Sprache kommt, das Verstummen, das dieser Sprache eingeschrieben ist; eine Sprache, die nicht die Sprache der Folterknechte sei und die, distanziert, zur Identitätskonstruktion des Subjekts beitragen kann. Diese Sprache ist aber auch von der Automatisierung bedroht, und damit von der Gefahr, keine Wirkung mehr zu erzielen. So schreibt Kertész: Es muss vielleicht auch nicht verwundern, dass, während immer mehr über den Holocaust geredet wird, seine Realität – der Alltag der Menschenvernichtung – dem Bereich des Vorstellbaren zunehmend entgleitet. Ich selbst sah mich gezwungen, in mein „Galeerentagebuch“ zu schreiben: []„Das Konzentrationslager ist ausschließlich in Form von Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht – und sogar dann am wenigsten – wenn wir es erleben). Der mörderische Zwang zum Überleben gewöhnt uns daran, die mörderische Wirklichkeit, in der wir uns behaupten müssen, so lange wie möglich zu verfälschen, während der Zwang zum Erinnern uns verführt, eine Art Genugtuung in unsere Erinnerungen zu schmuggeln, den Balsam des Selbstmitleids, die Selbstglorifizierung des Opfers.84

Und Jean Améry lässt sein Alter Ego Eugen Althager in einem nicht veröffentlichen Romanfragment festellen, dass ihm seine Erfahrung verloren gegangen sei durch die vielen „Höllen-Dokumentarfilme“, die sein Schicksal als ein Massenschicksal werden ließen. Damit geht aber auch seine individuelle Erfahrung als solche für ihn verloren.85 Es handelt sich bei diesen Autoren um ein Schreiben, in dem das Verstummen der Sprache in der Sprache signalisiert wird, in dem Identitätskonstitution als permanenter Versuch seine Labilität und Bedrohtheit zum Thema macht, in dem die schreibende Herstellung und Versicherung eines Subjekts in der Autobiographie zutiefst gestört ist, in dem Autobiographie, Fiktion und Essay fluktuierende Grenzen haben, hybride Gattungen entstehen, die immer von der eigenen Biographie und deren Verletzungen, deren Grenzerfahrungen ausgehen und in der das kritische Potential der literarischen Darstellung sich zeigt.86 Die Literatur, die aus derlei traumatischer Erfahrung entsteht, zeigt dabei alle Charakteristika auf, die bei der Diskussion um kulturelle Traumata laut Hans Joas eine Rolle spielen:

84 Imre Kertész, „Wem gehört Auschwitz?“ in: Ders. Eine Gedankenlänge Stille, S. 145–153, hier: S. 146. 85 Vergl. Hans Mayer [Jean Améry], „Die Festung Derloven (1945?)“, in: Ders., Anhang zu Die Schiffbrüchigen, Jean Améry, Werke 1, Irene Heidelberger-Leonard (Hrsg.), Stuttgart 2007, S. 582–608, hier: S. 593. 86 Zur Gefahr einer ‚Normalisierung‘ der Lagererfahrung und des Holocaust anhand von Interpretation vgl. Manuela Günter, „Einleitung: Überleben schreiben“, in: Dies. (Hrsg.), Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, Würzburg 2002, S. 9–19, hier: S. 13 f.

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1 Unsagbar/sagbar

Den Schock der Gewalterfahrung selbst, die in die Sakralsphäre des Körpers eingreift; die Traumatisierung durch diese Erschütterung fundamentaler Gewissheiten des Weltverständnisses; die Unmöglichkeit, aus der Traumatisierung anders herauszufinden als durch Erzählen; der notwendige Zusammenhang zwischen dem Erzählen und der Konstitution neuen Sinns und neuer Wörter; die erschütternden Wirkungen solcher neuer Wert- und Sinnkonstitution für den überbrachten sozialen Zusammenhang; die Unvermeidlichkeit, politische Sinnfragen ins Existentiell-Religiöse hin auszuweiten.87

1.3 Unwillkürliche Erinnerung und Einbildungskraft 1.3.1 Willkürliche und unwillkürliche Erinnerung Das Projekt eines aktiven individuellen Gedächtnisses besteht darin, Erinnerungen bewusst aufzurufen und sie in die Form einer Erzählung zu bringen, die ihnen Bedeutung zu verleihen versteht und Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen vermag. Und diese Erinnerungsarbeit geht vom Präsens aus und ist von ihm bestimmt. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Italo Svevo dies folgendermaßen formuliert: Die Vergangenheit ist immer neu. Sie verändert sich dauernd, wie das Leben fortschreitet. Teile von ihr, die in Vergessenheit versunken schienen, tauchen wieder auf, andere wiederum versinken, weil sie weniger wichtig sind. Die Gegenwart dirigiert die Vergangenheit wie die Mitglieder eines Orchesters. Sie benötigt diese Töne und keine anderen. So erscheint die Vergangenheit bald lang, bald kurz. Bald klingt sie auf, bald verstummt sie. In die Gegenwart wirkt nur jener Teil des Vergangenen hinein, der dazu bestimmt ist, sie zu erhellen oder zu verdunkeln.88

Diese Überlegung nimmt die Position der modernen Gedächtnisforscher vorweg, für die der grundlegende Prozess der permanenten Überschreibung und der Rekonstruktivität von Erinnerungen gilt. Der Prozess der Einschreibung wird dabei ersetzt durch den Prozess des fortgesetzten Überschreibens.89 Eine heutige literarische Formulierung dieser Überzeugung, nämlich dass die Erinnerung immer von der Gegenwart aus erschrieben wird, ist in den Anfangszeilen von Martin Walsers autobiographischem Roman Ein springender Brunnen zu lesen:

87 Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, S. 123. 88 Italo Svevo, Zeno Cosini, Hamburg 1959, S. 467. 89 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 17 f.; sowie: Dies., Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 130 f.

1.3 Unwillkürliche Erinnerung und Einbildungskraft

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Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, dass es gewesen sei, haben wir nicht gewusst, dass es ist. Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.90

Zu etwa der gleichen Zeit wie Svevo entwickelte Marcel Proust seine Recherche du temps perdu aus genau der entgegengesetzten Position. Er widmet seinen ganzen Romanzyklus der Wiedergewinnung der Vergangenheit; er erschreibt die Vergangenheit und geht davon aus, dass sie verschüttet, aber in uns eingegraben ist, dass ihre Präsenz in der Gegenwart den fotografischen Negativen vergleichbar ist, von denen man nicht weiß, ob sie irgendwann einmal entwickelt werden oder nicht: „Das Buch mit den in uns eingegrabenen, nicht von uns selbst eingezeichneten Charakteren ist unser einziges Buch. Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur.“91 Die poetische Erinnerung gewinnt Bedeutung als Stabilisierung, Reorganisation, Rechtfertigung und Erneuerung des Lebens. Denn die Wirklichkeit unseres Lebens liegt verborgen, ihre wahre Kenntnis versäumen die Menschen, vielleicht weil sie dieses wahre Leben „nicht dem Licht auszusetzen versuchen, infolgedessen aber ist ihre Vergangenheit von unzähligen Photonegativen angefüllt, die ganz ungenutzt bleiben, da ihr Verstand sie nicht entwickelt hat“92. Sigmund Freud geht bekanntlich von der Präsenz von Dauerspuren in der menschlichen Psyche aus und gründet darauf sein ganzes analytisches System und seine talking cure-Therapie: Von den Wahrnehmungen, die an uns herankommen, bleibt in unserem psychischen Apparat eine Spur, die wir „Erinnerungsspur“ heißen könnten. […] Nun bringt es offenbar Schwierigkeiten mit sich, wenn ein und dasselbe System an seinen Elementen Veränderungen getreu bewahren und doch neuen Anlässen zu Veränderung immer frisch und aufnahmefähig entgegentreten soll.93

90 Martin Walser, Ein springender Brunnen, Frankfurt a.M. 1998, S. 9. 91 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7, Luzius Keller (Hrsg.), aus d. Franz. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a.M. 2002, S. 302. 92 Ebd., S. 303. 93 Sigmund Freud, „Zur Psychologie der Traumdeutung“ in: Gesammelte Werke: Chronologisch geordnet, Anna Freud u.a. (Hrsg.), Bd. 2/3, Frankfurt a.M. 1968, S. 543.

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1 Unsagbar/sagbar

Freud löst dieses Problem der Dauerhaftigkeit und gleichzeitig Aufnahmebereitschaft bekanntlich mit Hilfe der Metapher des Wunderblocks als Gedächtnismodell; die Erinnerung hält die Präsenz der Dauerspur fest. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um eine Schriftmetapher, während es bei Proust bei den gespeicherten Elementen um Fotonegative, also um Bilder geht. Es geht bei beiden um einen intensiv körperlichen Begriff des Erinnerns. Proust hatte die authentischen, unmanipulierten Erinnerungen gerade dort aufgesucht, wohin die Sprache nicht reicht, in den sinnlichen Einprägungen, die sich durch unwillkürliche, nicht kontrollierbare Reize plötzlich wieder bemerkbar machen. Sie machen die Vergangenheit sofort und auf radikale Weise gegenwärtig. Bei diesen Einprägungen geht es um Sinnliches, um Körperliches; und auch diese Präsenz des Vergangenem im Körper umschreibt Proust mit einer Bildmetapher, mit Fotonegativen. Die unwillkürlichen Manifestationen dieser sinnlichen Einprägungen konstituieren das, was er mémoire involontaire nennt, die unwillkürliche Erinnerung, und sie bestimmen die Erinnerungsarbeit. Denn die Erinnerung kann nur über die mémoire involontaire erschrieben werden; diese gibt die authentischen, realen Daten dafür. Sowohl Freud als auch Proust gehen bei ihrer „Erinnerungsforschung“ von der Dauerhaftigkeit der Einprägungen des Gedächtnisses aus, von dem Überleben der Spuren in ihm. Im Fall der traumatischen Erinnerungen, die zum Teil verschüttet sind, ist die Erinnerungsarbeit besonders schwierig, weil sie in das Trauma zurückführt. „Jeder Versuch, ein kohärentes Ich aufzubauen, scheitert an der unweigerlichen Wiederkehr des Verdrängten, der Tiefenerinnerung“, schreibt Saul Friedländer über die Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden.94 Die autobiographischen Texte der Autoren, die ich hier behandle, stehen in einer eigenen Dynamik des Erinnerns und Vergessens. Das Schreiben führt in den Horror zurück, zum Teil in das, was man zum Weiterleben lieber vergessen würde. Semprún sieht darin eine Alternative – Schreiben oder Leben; letzten Endes geht aber, trotz dieses Titels, das eine nicht ohne das andere. Erinnern wäre damit eine bewusste Rekonstruktionsarbeit des Gedächtnisses, die aber auf nicht organisierten und auch nicht organisierbaren, eingeprägten Dauerspuren beruht, beruhen muss, um Authentizität zu gewähren. Authentizität wird dabei mit den sinnlichen Dauerspuren, mit dem Körperlichen gleichgesetzt. Und in dem Prozess, sie in eine narrative Sprache zu führen, autobiographisch zu organisieren, sind die Bilder ein fundamentales Strukturierungselement. Mit einem weiteren Bild umschreibt Proust des Prozess des Schreibens gegen den Tod und um die verlorene Zeit wiederzufinden:

94 Saul Friedländer, Nachdenken über den Holocaust, München 2007, S. 141.

1.3 Unwillkürliche Erinnerung und Einbildungskraft

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Ich hatte gelebt wie ein Maler, der einen Weg hinaufgeht, unter den ein See sich breitet, dessen Anblick ihm ein Vorhang aus Felsen und Bäumen verbirgt. Durch eine Lücke erblickt er ihn; er hat ihn ganz und gar vor sich; er greift zu seinem Pinsel. Doch schon kommt die Nacht, in der man nicht mehr malen kann und über der sich kein neuer Tag erheben wird.95

Dass Erinnerung, wenn sie absichtlich hervorgerufen und strukturiert wird, visuell organisiert ist, zeigt schon die antike Tradition der memoria. Dem Redner helfen effigies, durch die er die Inhalte seiner Rede verräumlicht und gemäß der Ordnung im Raum, die er vor Augen hat, abrufen kann. Die Geschichte des Simonides, der sich an die Gäste eines Festmahls nach Einstürzen des Gebäudes erinnern kann, indem er die Sitzordnung reproduziert, ist dafür der Gründungsmythos. Auch die biographische Erinnerung ist von Alters her nach Gedächtnisplätzen organisiert worden. Seit Plutarch und Sueton markieren Gedächtnisorte, Topoi, das immer Wiederkehrende in den Lebensgeschichten. Die Lebenserinnerung ordnet sich gemäß solchen Schauräumen, die immer neu ausgestattet oder bewohnt werden können. Es geht dabei um Raum und Bild – oder um Bild im Raum.96

1.3.2 Bild, Wort und Einbildungskraft in der individuellen Erinnerung Unsere frühesten Erinnerungen sind eingeprägte Bilder. Vielleicht, weil der Filter, den Sprache und Bewusstsein vor die Wahrnehmung setzen, bei dieser direkten Einprägung umgangen worden ist. Ich möchte hier auf Jean Piaget zurückgreifen, der eine mögliche Erklärung aus kindheitspsychologischer Perspektive gibt: Das Kind, das noch nicht spricht, lernt mit seinen Bewegungen Raum, Kausalität, Zeit zu erfassen, lernt, auf Dinge und Personen jeweils anders zu reagieren, weil diese selbst anders reagieren und nach Schemata handeln und funktionieren, die mit dem eigenen Handeln in Beziehung gebracht werden können. Bevor also eine ‚Welt‘ in der symbolischen Ordnung der Sprache differenziert und erschlossen wird, existiert eine unmittelbare Strukturierung, die an eigene ausgeführte Bewegungen und an das Verstehen ‚fremder‘ Bewegungs- und Ausdrucksgestalten geknüpft ist. Das repräsentative Bildgedächtnis geht, laut Piaget, auf diese Aktionsintelligenz und deren Gedächtnis zurück und macht die affektive Kraft mancher körperlichen Erinnerung verständlich, weil sie in eine Dimension zu-

95 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, S. 508. 96 Vgl. auch. Helmut Pfotenhauer, Sprachbilder: Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert, Würzburg 2000, S. 15–30.

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1 Unsagbar/sagbar

rückführt, die der sprachvermittelten „allgemeinen Dezentrierung“ in personales Ich und strukturierte Mit- und Umwelt und damit auch der „Dezentrierung der Affektivität“ vorausgeht.97 Wir erinnern uns an die Bilder (im Sinne von imagines), die wir gesehen haben; aber die Erinnerung ist in den verschiedenen Personen sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die die visuellen Bilder mit solcher Exaktheit und für so lange Zeit bewahren, dass man bei ihnen von ‚fotografischem Gedächtnis‘ spricht; es gibt Menschen, die sich nur vage an Konturen und keine Details erinnern; andere erinnern sich nur an Farben und es gibt auch Erinnerungen in schwarz-weiß. Das gleiche gilt für den Geschmack und für die Töne. Einige Menschen erinnern unterschiedlichste Geschmäcker, andere viel weniger; auch Musik bzw. Töne werden sehr unterschiedlich wahrgenommen und erinnert. Der französische Psychologe Alfred Binet98 hat Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Schachspieler erforscht, die aus dem Kopf spielten, also ohne das Schachbrett zu sehen, und dabei festgestellt, dass einige das Schachbrett „sahen“, während andere nur Kraftlinien und formelle Schemata in Bewegung imaginierten. Derselbe Psychologe hat seine beiden Töchter, zehn- und zwölfjährig, ein ganzes Jahr lang beobachtet und geschlossen, dass sie, obwohl sie in der gleichen sozialen Umgebung lebten und ähnlichen Einflüssen unterlagen, ganz unterschiedliche Arten des Vorstellungsvermögens und des Erinnerns hatten. Neuere Forschungen zum sensorischen Gedächtnis setzen dieses insofern mit Kurz- und Langzeitgedächtnis in Verbindung, als dass eine Verarbeitung auf beiden Ebenen geschieht und das „Kurzzeitgedächtnis nicht als eigene Strukturkomponente gesehen wird, sondern prozesshaft definiert als derjenige Teil des Langzeitgedächtnisses, das gerade aktiviert wird“.99 Darüber hinaus ist zu schließen, dass wir in unserem Gedächtnis viele Bilder einer Realität bewahren können: Wir können uns zum Beispiel an das ruhige Meer erinnern, das wir von einem bestimmten Strand aus gesehen haben, aber wir bewahren natürlich viele andere Bilder vom ruhigen oder bewegten Meer, am Strand oder auf hoher See, bei Tageslicht oder in der Nacht in unserem Gedächtnis. Alle diese Bilder, die wir vom Meer haben, integrieren wir in das Wort „Meer“, und dieses Wort beinhaltet nicht nur alle unsere Bilder, sondern auch all unser

97 Vgl. Manfred Koch, Mnemotechnik des Schönen. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus, Tübingen 1988, S. 128. 98 Siehe: Alfred Binet, Psychologie des grands calculateurs et joueurs d’échecs. L’Étude Expérimentale de l’Intelligence, Paris 2003. 99 Vgl. Christian Kaernbach, „Sensorisches Gedächtnis“, in: Gedächtnis und Erinnerung, S. 538–540, hier: S. 539.

1.3 Unwillkürliche Erinnerung und Einbildungskraft

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Wissen über das Meer. Und die Bilder, die wir vom Meer haben, verweisen auf individuelle und ganz unterschiedliche, angenehme und unangenehme Erfahrungen und Gefühle, so dass eine episodische Erinnerung normalerweise ein Komplex aus Bildern, Ideen, Emotionen und Gefühlszuständen ist. In diesem Sinn ist Kertész’ im Einführungskapitel zitierte Argumentation zugunsten der Bilder als Requisiten des Schmerzes, um die Erinnerung wach zu halten, plausibel und einleuchtend. Eine besondere Art der Erinnerung ist die Erinnerung an die Wörter und Sätze, wir erinnern uns an die Laute und – vorausgesetzt wir verstehen die Sprache, die wir hören – an den Sinn der gehörten Wörter und Sätze, auch an die Gefühle, die wir mit den Sätzen oder Wörtern verbinden. Das gilt für die gesprochene und für die geschriebene Sprache; es gibt Menschen, die mehr visuelles Gedächtnis haben und die Schriftzeichen visuell erinnern, während andere nur ein vages Schriftbild imaginieren und sich eher an den Sinn erinnern. Wir erinnern uns auch, wie wir unseren Artikulationsapparat bewegen müssen, um zu sprechen, an die gesprochenen Laute und gleichzeitig den Sinn, den wir ihnen gegeben haben, und die Intention, mit der wir sie gesprochen haben. Wir organisieren diese Erinnerungen in komplexen und emotionsgeladenen Gebilden, in denen andere Menschen teilnehmen und vorkommen und die wir isoliert oder in Kombination mit anderen Episoden im Gedächtnis abrufen können. Dabei bilden die Anderen, die unsere Erinnerungen stützen oder hinterfragen können, einen Rahmen der Stabilisierung unserer Erinnerung. Die Anderen sind für die eigene Erinnerung notwendig. Die Erinnerung ist auch insofern kreativ, als wir uns nicht nur an die Bilder erinnern, die wir wahrgenommen haben, die Gespräche, an denen wir teilgenommen haben, die Ereignisse, die wir erlebt haben; wir können auch, von ihnen ausgehend, unsere Einbildungskraft stimulieren, uns Bilder von Ereignissen einbilden, Konversationen erfinden, die nur in unserer Imagination stattfinden. Manchmal dramatisieren wir sie, um der Langeweile oder den Frustrationen des Alltags oder den erlittenen Enttäuschungen zu entfliehen. Aber die Einbildungskraft hat darüber hinaus auch eine fundamentale Funktion in unserem Leben: Zum Handeln müssen wir in jedem Moment die Zukunft vorwegnehmen, uns die erwünschte Zukunft einbilden, um so zu handeln, dass sie unserer Meinung nach möglich wird, oder im Gegenteil uns mögliche Gefahren einbilden, um zu versuchen ihnen zu entgehen. Unsere Erinnerungen und Projekte bestehen in hohem Maße aus Bildern; der Versuch, sie zu kommunizieren, geschieht aber hauptsächlich durch das Wort, durch die Sprache; das Übertragen von Bild in Wort wird dabei meistens als ungenügend empfunden.

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1 Unsagbar/sagbar

1.3.3 Traumatische Bilder Sowohl Freud wie auch Proust haben die Erinnerung durch sinnliche Einprägungen bestimmt, die sich durch unwillkürliche, nicht kontrollierbare Reize plötzlich wieder bemerkbar machen. Diese machen die Vergangenheit sofort und auf radikale Weise gegenwärtig. Im Falle von traumatischen Einprägungen führen sie zurück in den Schrecken und die Sprachlosigkeit. In dem Prozess, die Erinnerung in eine narrative Sprache zu führen, autobiographisch zu organisieren, sind die Bilder ein fundamentales Strukturierungselement. Kertész bezeichnet sie als Requisiten, um den Schmerz wach zu erhalten; weiter oben wurde gezeigt, wie diese Bilder die Erzählung und die Erzählperspektive aufbauen, auch wie sie metapoetisch im Erzählen die Unmöglichkeit des Erzählens signalisieren. Die Bildlichkeit ist in dieser Hinsicht ein Mittel der Aufdeckung und gleichzeitig der Verdeckung. Die bei Kertész und Semprún schon kommentierten Bilder werden im Erzählprozess zu Sequenzen entwickelt, in denen das Sehen und Erzählen im Verhältnis zur Erinnerung dargestellt werden. Aber es gibt auch Bilder der mémoire involontaire, die die Vergangenheit schlagartig präsent machen und damit zurück in das Entsetzen führen. Sie brechen über die Erzählfiguren herein, zerstören das Bewusstsein von linear geordneter Zeit und sprengen sogar die Erzählsprache. Eine Episode aus Amérys Roman-Essay Lefeu oder der Abbruch stellt dieses Einbrechen der Erinnerung dar, es geschieht über ein Bild der traumatischen mémoire involontaire, und in seiner Radikalität stellt es auch die Erzählsprache in Frage. Es wird im Améry gewidmeten Kapitel in all seinen Komponenten weiter analysiert; hier sei es nur angedeutet. Der Maler Lefeu wohnt in Paris in einem Bau, der abgerissen werden soll, er weigert sich systematisch, seine Wohnung zu räumen und in die neue zu ziehen, die man ihm zugewiesen hat. Er bleibt in der Ruine, zu der allmählich seine Wohnung wird, und verfällt zusehends. Seine Freundin Irene ist Dichterin; sie spricht nicht und schreibt hermetische Gedichte, in denen sie die Sprache zertrümmert und die, laut Lefeu, das Verhältnis zur Wirklichkeit verloren haben. Lefeu und Irene kommen nur in der Liebe zusammen, der einzige Moment, in dem Irene spricht: Sie verbalisiert den Liebesakt mit dem, was Lefeu mots orduriers nennt. Diese Wörter lässt Lefeu gelten, denn sie haben Aussagewert und Funktion. Irenes Gedichte aber haben auf den Aussagesinn verzichtet, so Lefeu, der ihr Gedicht Pappelallee paraphrasierend ironisiert. In dem Maße aber, in dem sich Lefeu den mots orduriers, den Wellenbewegungen der Liebe und den Überlegungen zu Irenes Pappelalleegedicht überlässt, erscheinen eine Reihe von Assoziationen, unter ihnen die von einer route départementale, die letzten Endes seine Sicherheit, den Sinn der Sätze zu verstehen, ins Wanken bringen und die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen, der wiederum auf die Erinnerung des Lagers, auf Auschwitz zurückführt.

1.3 Unwillkürliche Erinnerung und Einbildungskraft

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Über die route départementale bahnen sich die Bilder der mémoire involontaire an. Zwei Kapitel nach der Ironisierung von Irenes Pappelalleegedicht fährt Lefeu auf einer route départementale und sieht die Flammen des Gaswerks Gaz de Lacq. Sofort wecken sie eine Assoziation und provozieren schlagartig eine Erinnerung an Auschwitz, an die Krematorien. Lefeus Eltern heißen Feuermann, sie sind in Auschwitz ermordet worden. Als Lefeu das Gaswerk sieht, überkommt es ihn: „Halten sie an: Ich erinnere mich.“100 Es ist eine fremde Erinnerung, denn nicht er hat das Erinnerte erlebt. Nicht Lefeu hat Auschwitz überlebt, wohl aber sein Autor, Jean Améry. Er überträgt seine Erinnerung des Lagers auf die Erinnerung Lefeus. Und nun folgt Lefeus Versuch, die Thematik der familiären Erinnerung in Sprache wiederzugeben: die Verhaftung und Deportation seiner Familie, die Reise nach Osten, das Grab in den Lüften. Lefeu setzt einige Male an und die verschiedenen Versuche bezeugen das Ungenügen der Sprache vor dem Schmerz, sie enden in Sprachlosigkeit. Dabei wird auch die Unmöglichkeit der Repräsentation aufgerufen, bedingt von der Automatisierung und Unangebrachtheit der Sprache. Denn Fritz Mauthners Wortfetische klingen bei dem letzten Versuch der Formulierung an und führen in die Ohnmacht des Sagens: Doch wie die Dinge nun einmal liegen (denn es ist unmöglich, abzusehen von der Bedingtheit durch Bildungsfakten), müssen die Wörter verstoßen werden und anstatt ihrer entringt sich noch einmal ein unterdrückter Lachwehlaut dem gequälten Thorax.101

Dieser Lachwehlaut aber verweist auf den Lachwehlaut Irenes bei der Liebe. Lefeu stellt fest, „daß die schwingenden Laute verwandt sind jenem Stöhnen, das Irene bei Lefeus Hand- und sonstigem Werk zu hören gibt“102, und erinnert jetzt selbst. Die Unmöglichkeit Lefeus, den Abtransport seiner Eltern erzählend zu erinnern, die richtigen Wörter zu finden, bringt ihm Irenes Dichtung nah: Die Pappelallee wird zur Pappelallee an der route départementale vor Gaz de Lacq, damit aber auch zur Pappelallee vor Auschwitz. Der Lachwehlaut, der Irene und Lefeu vereint, steht im Verhältnis zur Unsagbarkeit. Jetzt kommt Sinn in die Verse Irenes, vom Leser Lefeu gegeben, jetzt wird auch die Notwendigkeit, Sprache zu zertrümmern, evoziert. Der Text gibt dem Bildlichen eine fundamentale Rolle. Dieses wird benutzt, um die Grenze zu umspielen, an der die Sprache am Rande zum Verstummen steht. Diese Bilder sind Manifestationen der mémoire involontaire, in diesem Fall

100 Jean Améry, Lefeu oder der Abbruch, in: Ders., Jean Améry, Werke 1, S. 287–507, hier: 423. 101 Ebd., S. 426. 102 Ebd., S. 425.

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1 Unsagbar/sagbar

Heimsuchungen der mémoire involontaire, um die Erzählsprache zu sprengen, die Erinnerung als horrende und immerwährende Gegenwart zu zeigen und die Möglichkeiten des narrativen Diskurses neu zu bestimmen, zu erweitern. Letzten Endes also doch, um die Tortur und den Schmerz zu schildern – in einer Sprache, die nicht die Sprache der Folterknechte ist und die sowohl gegen das Schweigen wie gegen die Lächerlichkeit der Opferkondition spricht.

1.4 Der Unsagbarkeitstopos: Sagbarkeit des Unsagbaren – Produktivität der Sprachkrisen Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, lässt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen. […] – Eine Art von tönender Grenze.103

So schreibt Max Frisch in seinem Tagebuch 1946–1949. Dass die extremen Erfahrungen, körperlich und seelisch, außerhalb der Sprache geschehen, ist eine alte Erfahrung. Der Topos des Unsagbaren hat eine lange Tradition. In der Moderne scheint er eine neue Relevanz gewonnen zu haben. Die Inszenierung von Sprachkrisen ist geradezu ein Merkmal der Moderne geworden. Es häufen sich darin die wortreichen Metaphorisierungen der Ohnmacht der Begriffssprache.104 Und wie die Unaussprechbarkeit des ganz Anderen und die Nähe des Schweigens zur Tradition mystischer Redeweisen gehört, so ist der Unsagbarkeitstopos fester Bestandteil der literarischen Inszenierung grenzwertiger Erfahrungen mit der dunklen Seite des Bewusstseins. Die Inszenierung von Sprachkrisen ist ein durchaus produktives Paradigma der Moderne. Sie ermöglicht einen utopischen Raum, in dem die Paradoxie, das Unsagbare dennoch sagen zu können, die Suche nach einem neuen Sprechen bestimmt und zum poetologischen Programm macht. Lord Chandos beschließt bekanntlich seine wunderbar poetisch wortreiche Sprachkrise, seinen Zerfall der Worte, radikal mit der Verweigerung seines Schreibens;

103 Max Frisch, Tagebuch 1946–1949, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Hans Mayer (Hrsg.), Bd. 2, Frankfurt a.M. 1976, S. 347–755, hier: S. 378 f. 104 Vgl. Sabine Schneider, Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006; Dies. (Hrsg.), Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2010.

1.4 Der Unsagbarkeitstopos: Sagbarkeit des Unsagbaren

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sein Brief endet mit dem ausgesprochenen Bewusstsein, nie wieder schreiben zu können. Im Laufe seines Briefes schildert er aber Epiphanien, die zu einem neuen Sprachgefühl und somit zu einer neuen Sprache führen können, gewissermaßen, um das Wort von Frisch aufzunehmen, zu einer neuen ‚tönenden Grenze‘. Im Lichte der extremen Erfahrungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Schrecknisse und Traumata totalitärer Gewalt, im Lichte dessen, was die Überlebenden aus den Lagern zu schildern haben, und ganz konkret im Lichte der Existenz von Auschwitz, gewinnt aber jeglicher Verweis auf Sprachlosigkeit, auf Unsagbarkeit einen neuen, extremen Sinn und zwingt zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Grenzen des sprachlich Darstellbaren. Der Verweis auf das Erhabene, das durchaus in der Kunst der modernen Avantgarde präsent ist, das in der Tradition der mystischen Sprache steht und das Jean-François Lyotard in Rothko oder Malevitch analysiert, ist für unsere Zeit, nach den Gräueltaten des 20. Jahrhunderts, so nicht mehr möglich. Das Schweigen erhält dabei einen ganz anderen, radikalen Wert: „Das Schweigen“, schreibt Lyotard, „das den Satz ‚Auschwitz war ein Vernichtungslager‘ umgibt, ist kein Gemütszustand, sondern ein Zeichen dafür, dass etwas Ungeäußertes, Unbestimmtes zu äußern bleibt.“105 Totalitären Terror und Shoah als unsagbar darzustellen, heißt aber auch, sie dem rationalen Zugriff zu entziehen und dem verursachten Schmerz einen beinahe religiösen Nimbus zu verleihen. „Doch warum unsagbar? Warum die Vernichtung mit dem Ansehen der Mystik schmücken?“106, fragt Giorgio Agamben. Und: Zu sagen, Auschwitz sei „unsagbar“ oder „unbegreiflich“, heißt also soviel wie euphemein, heißt, es schweigend anzubeten wie man es einem Gott gegenüber tut; heißt also, was auch immer die Absichten jedes einzelnen sein mögen, zu seinem Ruhm beizutragen. Wir hingegen „scheuen uns nicht, den Blick fest auf das Unaussprechliche zu haften.“ Auch auf die Gefahr hin, entdecken zu müssen, dass wir das, was das Böse von sich weiß, leicht auch in uns finden.107

Unsagbarkeit erweist sich in diesem Kontext als nicht vertretbar. Die Etablierung einer Philosophie des Unsagbaren, Undarstellbaren läuft Gefahr, an den zahl-

105 Friedländer, Nachdenken über den Holocaust, S. 150. Zur Polemik um die (Un)Möglichkeiten der Repräsentation der Shoah siehe auch Ders., Probing the limits of representation. Nazism and the final solution, Cambridge, Massachusets 1992. 106 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt a.M. 2003, S. 28. – Im Original: „Ma perché indicibile? Perché conferire allo sterminio il prestigio della mistica?“ (Ders., Quel che resta di Auschwitz, S. 30). 107 Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 29.

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reichen Reden und Erinnerungstexten der Überlebenden vorbeizusehen und sie somit wieder auf die Stummheit zu reduzieren, auf das Nicht-Gehört-Werden:108 Es gibt zum Unsagbaren vieles zu sagen, und die notwendigen Reflexionen über die Grenzen der Verstehbarkeit und der Repräsentierbarkeit dürfen nicht zu neuen Tabus führen. Die verstehbaren Ausmaße des Verbrechens sind umfangreicher, als die meisten wahrhaben wollen, und es sind vor allem die Überlebenden, die uns diese Ausmaße vor Augen stellen.109

Die Reflexionen über die Grenzen der Repräsentierbarkeit, die hier erwähnt werden, stehen im Kontext des Repräsentierverbots, des Schutzes der Opfer. Imre Kertész erwähnt es in seinem Band Schritt für Schritt, der der Entstehung der Verfilmung des Romans eines Schicksallosen gewidmet ist. Der bildlichen, sozusagen ‚realen‘ Darstellung des Holocaust, der nationalsozialistischen Konzentrationslager, stehe ein Verbot entgegen, das auf einem stillschweigenden Konsens beruhe. Nach diesem Konsens sei die industrielle Liquidation von sechs Millionen Menschen nicht vorstellbar und es verbiete sich, sie vorstellbar zu machen. Claude Lanzmanns Film Shoah und seine um den Film gegebenen Interviews haben den Konsens verstärkt, der sich inzwischen wieder abgeschwächt hat. Wenn Imre Kertész selbst sich auf den Film einlässt und damit gegen das Verbot verstößt, rechtfertigt er sein Vorhaben durch die Authentizität der Zeugenaussage und durch das geschriebene Werk selbst; denn dieses beschreibt den Weg eines Menschen, der durch die Lager führt. Damit wird das Verhältnis zwischen Authentizität und Fiktion insofern legitimiert, als sich beide nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar bedingen: Die Illusion der Authentizität muss aufgegeben werden, denn eine solche Darstellung ist unmöglich, nur die Fiktion ist möglich. Der Autor beharrt aber auf ihrer Authentizität; diese ist ihr eingeschrieben. Der Darstellung liegt überdies ein ethisches Gebot zugrunde: „Werden wir uns doch zumindest um Treue, Lakonie und die düstere Pracht der Unverziertheit bemühen, die, wie wir hoffen, der Trauer von Millionen würdig ist.“110 Schweigen ist unmöglich, so formulierte es Elie Wiesel. Und Kertész sagt zur Unmöglichkeit des Schweigens weiterhin: Schweigen ist Wahrheit. Aber eine Wahrheit eben, die schweigt, und recht werden jene haben, die reden. Schweigen könnte nur dann eine wirksame Wahrheit sein, wenn es vollkommen wäre und wenn es Gott gäbe: wenn das Schweigen ein gegen Gott gerichtetes

108 Vgl. Günter, „Einleitung: Überleben schreiben“, S. 12. 109 Ebd., S. 15. 110 Imre Kertész, Schritt für Schritt: Drehbuch zum „Roman eines Schicksallosen“, aus d. Ungar. v. Erich Berger, Frankfurt a.M. 2002, S. 77.

1.4 Der Unsagbarkeitstopos: Sagbarkeit des Unsagbaren

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Schweigen wäre. In diesem Falle ließe sich von etwas wie einem Streik der Gattung Mensch reden, einer himmlischen Lohnforderung gleichsam an Gott.111

Plakativ und klar äußert sich Ruth Klüger: „Das wirklich Geschehene, selbst wenn es so unwahrscheinlich ist, wie der Holocaust es war, will gedeutet und dargestellt werden, einfach deshalb, weil er stattgefunden hat.“112 Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang noch zu erwähnen. Ich habe weiter oben darauf hingewiesen, dass die erinnernde Narration auf einem Konsens beruht: Erinnerungen erzählen Ereignisse im Selbstverständnis des Erzählers, also nicht nur was passiert ist, sondern was dem Erzähler passiert ist und wie es ihm passiert ist. Die Erinnerung hat eine soziale, mitmenschliche Komponente; sie wird auch von den Anderen getragen und mit ihnen ausgehandelt. Das, was sagbar oder unsagbar ist, steht auch im Verhältnis zu dem, was die Anderen (die Gesellschaft, das Publikum, die Umgebung) bereit sind zu hören, zu glauben und zu diskutieren. Das Gesagte ist viel mehr als die Wörter und die Sprachregeln, die sie regieren. Das Ungesagte ist der Hintergrund, gegen den das Gesagte Bedeutung erhält; es ist nicht mit der Stille oder dem Schweigen gleich zu setzen. Schweigen kann durchaus aktiv sein. In der linguistischen Reflexion ist die Unbeschreibbarkeit gerade im Rahmen der Gesprächsforschung erforscht worden. Elisabeth Gülich behandelt sie als Gattungsmerkmal und Formulierungsressource und bringt die Paradoxie des Themas auf den Punkt: Das Unsagbare hinterlässt Spuren im Äußerungsprozess, das Unbeschreibbare wird doch beschrieben. „Unbeschreibbar“ oder „unsagbar“ hieße dann eher „schwer beschreibbar“ oder „schwer formulierbar“.113 Was genau der Inhalt davon wäre, sei nicht ganz klar. In ihren Gesprächsanalysen der Beschreibungsversuche bei Arzt-Patienten-Gesprächen stellt sie das „Unbeschreibbare“ aber als fundamentale Formulierungsressource fest, die sowohl auf die besondere Schwierigkeit der Formulierung eines absolut privaten Erlebnisses wie auch auf die Interaktivität in der Beschreibung deutet: In den Patienteninterviews zeigt sich, „wie sehr auch höchst subjektive, dem Gesprächspartner nicht direkt zugängliche Erfahrungen mit dessen Hilfe zur Sprache gebracht werden“.114 Die Beschreibung wird im Gesprächsverlauf interaktiv hervorgebracht; der Verweis auf Unsagbarkeit ist eine Stütze, die das Gespräch in Gang hält, vorausgesetzt, der Zuhörer geht auf die Schwierigkeit ein und unterstützt die

111 112 113 114

Kertész,Galeerentagebuch, S. 36. Klüger, Dichter und Historiker, S. 50. Gülich, „Unbeschreibbarkeit“, S. 223. Ebd., S. 228.

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1 Unsagbar/sagbar

Erzählung. Es geht also um Unbeschreibbarkeit, nicht so sehr um Unsagbarkeit. Und sie ist bedingt durch den Zuhörer. Bei den hier zu besprechenden Texten handelt es sich um literarische Texte, aber auch sie zeigen sich als beharrliches Schreiben gegen die Unsagbarkeit dessen, das zumindest zu Anfang nicht gehört werden wollte und das dann in der Gefahr der rezeptiven Automatisierung stand. Zu den Dimensionen der Unbeschreibbarkeit gehört erst einmal die Begründung dessen, was zu beschreiben ist und was zu kategorisieren wäre, dann die Tatsache, dass das Phänomen von der Normalität abweicht, und schließlich das „Fehlen der Wörter“, die Unangemessenheit der bereitgestellten Formeln. Und an ganz zentraler Stelle eben die Tatsache, dass diejenigen, die es nicht erlebt haben, sich das zu Beschreibende nicht vorstellen können. Hier wären wir wieder bei der Tatsache, dass das Schreiben über die Lager zwar eine fundamentale Daseinsberechtigung im Zeugentum hat, aber nie richtig verstanden werden kann von denen, die das Bezeugte aufnehmen sollen. Insofern sind sowohl das Sagbare wie das Unsagbare auch Topoi, die ihren Sinn erst vor dem Hintergrund dessen erhalten, was gesagt wird, und dessen, was ungesagt bleibt. Und sie hängen von der Aufnahmebereitschaft der Hörer oder Leser, des Publikums, ab. Bezeichnenderweise thematisieren alle hier behandelten Schriftsteller die Schwierigkeit der Darstellung, die Aporie zwischen der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit, in der diese stattfinden muss. Aber es wird nicht das Ende der Repräsentation heraufbeschworen; es wird eher geradezu zwanghaft die Notwendigkeit des Erzählens betont und die Bemühung um die Darstellung, die Perspektive, aus der diese geschehen soll, und die Paradoxie, in der sie stattfinden muss. Unter diesen Umständen gewinnt das Erzählen der entsetzlichen Erinnerung neue Konturen. Es muss eine Sprache suchen, aus der ein gefährdetes Subjekt spricht, dessen Erinnerungsbilder eine horrende Vergangenheit zur permanenten Gegenwart machen und das aus seinen Erfahrungen ein Schicksal, eine Subjektbestätigung und eine Zeugenaussage macht, das mit seinem Schreiben eine Erinnerung wachhalten möchte und gegen die Automatisierung der Sprache, den Verschleiß der Zeit und die Automatisierung und Verflachung der wiederholten Erzählung sichern möchte, um seinen Diskurs in einen Horizont des gerechten Gedächtnisses einzubauen, um sich mit der Sprache und gegen alle Last der Sprache zu konstituieren. Das Unsagbarkeitsproblem führt in diesem Kontext zu einem Metadiskurs, den die literarischen Texte thematisieren. Die Unbeschreibbarkeit drängt zur Suche nach einer neuen Sprache, verwischt die Konturen zwischen den Gattungen, wird in den Essays verhandelt und den Romanen in vielerlei Gestalt einverleibt, nötigt zu den einzelnen Lösungen der Autoren, die hier vorgestellt werden.

1.4 Der Unsagbarkeitstopos: Sagbarkeit des Unsagbaren

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Die Aporie, in der dieses Schreiben geschieht, wird in dem schon zitierten Dialog zwischen Jorge Semprún und Elie Wiesel auf den Punkt gebracht, wenn Elie Wiesel sagt: „Niemand wird je erfahren, was du und ich erlebt haben. Wir versuchen es, wir setzen uns dafür ein. Aber ich glaube nicht daran.“ Semprún konstatiert: „Man kann nicht über alles sprechen, man kann nicht alles vorstellbar, nachvollziehbar machen. Das geht einfach nicht.“ Das radikale Fazit Elie Wiesels lautet: „Schweigen ist verboten, Sprechen ist unmöglich.“115 Zu den literarischen Verfahren, die dieses Schreiben gegen die Unsagbarkeit bestimmen, gehört unter anderen eine Handhabung der Bildlichkeit, die konsequent, medienbewusst, strukturierend und perspektivierend eingesetzt wird. Und bei der Konstruktion der Texte, bei der Beschreibung und Formulierung, spielt die Erinnerung an andere Texte, an das schon Gesagte, an eine Tradition, die sich jeder Autor für sich erarbeitet, eine wichtige Rolle. Bezeichnenderweise muss die Suche nach einer neuen Sprache, die Erweiterung der Grenzen des Sagbaren, eine eigene und neue Sinngenealogie erschaffen. Die Literatur wird dabei in verschiedenen Funktionen benutzt, sie dient sowohl als Überlebenshilfe im Lager als auch als Instrument des Metadiskurses, der Problematisierung des Schreibens. Die Erinnerung der Texte im neuen Text ist damit auch zukunftsweisend. Bekannt ist die von Primo Levi beschriebene Szene, in der er sich bemüht, Dantes Inferno einem Gefährten aufzusagen, der ihn gebeten hat, ihm Italienisch beizubringen. Der Gefährte versteht kein Wort davon, ist aber erschüttert von Levis Versuch. Die Literatur wird hier als Überlebenshilfe benutzt, aber auch als Kommunikationsinstrument zwischen den Personen: Sie wird mit ähnlichen Funktionen wie die gesprochene Sprache im Alltag ausgestattet. Sie wird als kollektive Tradition benutzt, um die Sprachlosigkeit des Individuums in extremen Situationen zu überwinden. Und sie spricht auch im Falle von Levi sehr viel mehr aus, als das was gesagt wird. Denn Levi erinnert sich bei der Nachfrage seines Gefährten Piccolo bezeichnenderweise gerade an den Gesang des Odysseus in Dantes Inferno. Und Odysseus wird bei Dante in einer von Seneca überlieferten Fassung dargestellt, und zwar nicht als zurückgekehrter Held, sondern als jemand, der seine Begleiter zu immer neuen und weiteren Taten angestachelt hat, jemand, der sie dazu gebracht hat weit über das bekannte Mittelmeer die Tore des Herkules zu kreuzen, um weiter in die unbekannten Meere zu fahren, bis sie alle von riesigen Wirbeln verschluckt werden. Levi hat große Teile des „Canto“ vergessen, aber die wenigen, an die er sich erinnert, verweisen auf die Berufung des Menschen auf Höheres:

115 Semprún, Schweigen ist unmöglich, S. 18.

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1 Unsagbar/sagbar

Considerate la vostra semenza: Fatti non foste a viver come bruti, Ma per seguir virtute e conoscenza.116

Das physische Überleben ist nicht sicher, der Verweis auf den Tod ist implizit und allgegenwärtig: Das Kapitel schließt mit den Versen des „Canto“: „Infin che’l mar fu sopra noi rinchiuso.“117 So wird im Lager der Verweis auf die Dignität des Menschen mit Hilfe des Verweises auf die literarische Tradition gemacht, die geradezu religiöse Züge bekommt. Bei all diesen zitierten Bezügen ist aber auch klar, dass der Verweis auf Würde, auf Zwischenmenschlichkeit immer in Koexistenz mit dem Tode steht. Literatur bannt den Tod nicht, auf dessen Allgegenwart sie hinweist. Sie wird benutzt in dem Versuch, ihn zu transzendieren. Wenn Améry in seinem Aufsatz „An den Grenzen des Geistes“ das Scheitern der gesamten Kulturtradition für den Intellektuellen im Lager bescheinigt, gewinnt er sie nachher in eigener und polemisierender Weise doch wieder, um über das Lager zu schreiben und um sich mit seiner Gegenwart auseinanderzusetzen. Es geht jetzt darum, die Texte der ausgewählten Autoren sprechen zu lassen. Die vorhergehenden Überlegungen sollen zum Nachdenken über die Texte beitragen, sie in den Kontext der Probleme stellen, die sie selbst behandeln.

116 „Bedenket, welchem Samen ihr entsprossen: / Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere, / Nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten.“ (Levi, Ist das ein Mensch?, S. 110). 117 „Bis über uns geschlossen ward das Meer“ (Ebd., S. 111).

2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment Die Einzigartigkeit der Shoah 2.1 „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“: Schmerz, Unsagbarkeit und Weltvertrauen Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es „wie ein glühendes Eisen in meinen Schultern“ und war dieses „wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener, stumpfer Holzpfahl“? Ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. […] Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens. Wer seinen Körperschmerz mit-teilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden.1

In seinem schon im Anfangskapitel zitierten Essay „Die Tortur“, im Band Jenseits von Schuld und Sühne (1966) enthalten, beschreibt Améry präzise und distanziert die Folter, der er zwanzig Jahre früher von der Gestapo in Fort Breendonck unterworfen wurde, nicht aber seinen Schmerz. Radikal hatte Améry seinen Essay „An den Grenzen des Geistes“ folgendermaßen abgeschlossen: „Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt. Uns ist es längst entschlafen. Und nicht einmal das Gefühl blieb zurück, dass wir sein Hinscheiden bedauern müssten.“2 Die Umdeutung von Karl Kraus’ Zitat zum Nationalsozialismus „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“ kommt einer Bankrotterklärung des Wortes angesichts der Wirklichkeit des nationalsozialistischen Deutschlands gleich. Im Laufe seines Schreibens, auch seines Aufsatzes über die Tortur, benutzt Améry trotzdem ständig Vergleiche und Bilder, Metaphern, die um das zu Beschreibende kreisen, es nie als endgültig beschrieben fixieren. Der Topos der Unsagbarkeit wird gleichzeitig reflektiert und unterlaufen, das Schreiben geschieht innerhalb dieser Paradoxie und bezieht sich auf die Kommunikation mit dem Leser, die sich in der gleichen Paradoxie bewegt, sie selbst zum Thema des Schreibens macht.

1 Jean Améry, „Die Tortur“, S. 73 f. 2 Améry, „An den Grenzen des Geistes“, S. 54.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Dieses ist mit dem Erinnern eines unermesslichen Schmerzes verbunden, der die Kondition des Opfers ausmacht, und damit auch mit dem Gewinnen der Subjektkondition für das Opfer, für den Auschwitzüberlebenden. Sein Schreiben ist ein Weg, Macht zu gewinnen über die Wirklichkeit, seinen Überlebenskampf nach Auschwitz weiterzuführen. Die Auslöschung, die er überlebt hat, die Vernichtung, der er ausgesetzt worden ist, muss er in sein Denken und Schreiben integrieren – um zu überleben, um das Überleben zu überleben, um daraus einen intellektuellen Diskurs für die Gegenwart zu machen. Imre Kertész widmet seinen Aufsatz „Der Holocaust als Kultur“ Jean Améry und schreibt darin: „Der gebrandmarkte zum Tode Verurteilte, den diese Macht überwältigte, beansprucht nun das Recht zur Objektivierung wieder für sich. […] Ich wollte aus meinem ewigen Objekt-Sein zum Subjekt werden, wollte selbst benennen, statt benannt zu werden.“3 Kertész schreibt, sagt er, um zum benennenden Subjekt zu werden, und setzt dieses Schreiben sogar in Zusammenhang mit einer Rache an der Wirklichkeit. Er bezeichnet Améry als „Heiligen des Holocaust“, der (Sub)Kultur des Holocaust, im Sinne der Gemeinschaft von Intellektuellen, die den Holocaust überlebt haben und ihn geistig bearbeiten müssen, weil sie, eben wegen ihres Überlebens, ihn nicht umgehen können. Améry bearbeitet ihn in seinen Auswirkungen und Implikationen intellektuell und philosophisch, Kertész’ eigene Postulate treffen in verschiedenen Aspekten mit Améry zusammen. Der radikale Schluss, zu dem Améry kommt, „Es gab seither keine Jasage mehr. Das Reich des Todes hatte sich aufgetan in der Welt. Man überlebte nicht“,4 wird auch von Kertész bestätigt: Der Versuch des Aufbaus der Persönlichkeit bringt die Überlebenden der Vernichtung dazu, dass sie „schon allzu bald der Unmöglichkeit des Überlebens gewahr wurden“5. Das Denken und Schreiben geschieht innerhalb dieser Paradoxie, muss sie sich zum Thema machen. Auch aus dieser Perspektive entsteht das Problem der Unsagbarkeit. Denn der erlebte Horror, die erlebte Gewalt liegt jenseits der Sprache. Sie zu benennen, zu erzählen, geschieht im Nachhinein und muss sowohl auf dem Willen zum Bennennen beruhen wie auf der Existenz eines Zuhörers, auf der Bereitschaft des Zuhörens, einer Bereitschaft, die in der Nachkriegszeit nicht gegeben war. Schreiben ist in diesem Kontext wesentlich Ichkonstitution, Wiedergewinnung der eigenen Individualität und Zeugentum. Es ist ein Schreiben, das die Erinnerung braucht und aufrechterhalten will. Es soll auch Zeugnis über die Katastrophe sein, über das Skandalon der abendlän-

3 Kertész, „Der Holocaust als Kultur“, S. 81 f. 4 Améry, „Warum und Wie“, in: Lefeu oder der Abbruch, S. 498. 5 Kertész, „Die exilierte Sprache“, S. 212.

2.1 „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“

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dischen Kultur, über Auschwitz. Nietzsches Maxime „[N]ur was nicht aufhört wehzutun bleibt im Gedächtnis“6 ist in dieser Hinsicht sowohl Voraussetzung des individuellen Schreibens wie auch intendierte Konsequenz davon im kulturellen Gedächtnis, in das dieser Schmerz eingeschrieben und behalten werden soll, im Sinne des von Ricœur definierten „gerechten Gedächtnisses“7. Dabei stellen sich einige Fragen: Sind Gefühlsqualitäten tatsächlich unbeschreibbar, wie Améry angibt? Markieren sie die Grenze des Mitteilbaren? Kann man Schmerz, durch Folter erlittenen Schmerz, beschreiben? Mit welcher Sprache? Mit der des Folterknechtes? Er instrumentalisiert die Sprache für sich; der Gefolterte spricht die Sprache des Folterers. Wie kann man die Folter schildern, ohne die Sprache und den Blickwinkel des Folterers zum eigenen zu machen? Die Diktaturerfahrung beschreiben, ohne den Blickwinkel der Diktatur zu benutzen? Das Opfer zum Subjekt machen, gerade indem man aber seine Versehrtheit bekundet? Jean Améry, in den sprachkritischen Wiener Kreisen zu Hause, gründet sein gesamtes Schreiben auf Fragestellungen, die letzten Endes um die Mitteilbarkeit des Schmerzes kreisen, um die Möglichkeiten der Subjektkonstruktion der Opfer, um die Möglichkeiten der Ichkonstruktion des Überlebenden, von einer Erinnerung ausgehend, die zugleich notwendig und unmöglich ist, die die Gegenwart über die Vergangenheit entschlüsselt und das Überleben in der Gegenwart bestimmt. Im Vorwort zur ersten Ausgabe 1966 von Jenseits von Schuld und Sühne beschreibt er seine Essays als „Wesensbeschreibung der Opfer-Existenz“. Der Fluchtpunkt seiner Analysen bestimmt sich im Laufe seiner Essays konkreter als der des jüdischen Opfers.8 Der Aufsatz über die Tortur ist zentral für Amérys Schreiben. Ohne ihn ist fast nichts vom dem, was er geschrieben hat, zu verstehen. Die Erinnerung ist auch bei Améry im Körper lokalisiert, sie wird vom Schmerz bestimmt, von der Erfahrung des unter der Folter gequälten Körpers; aus ihr entsteht auch sein Bewusstsein des Menschen als äußerst fragil, als „quälbarer Leib“. Die fundamentale Erkenntnis des Tortur-Essays ist, dass der Gefolterte das Vertrauen zur Welt verliert. Die Tatsache, dass der Mitmensch sich als Folterer erweist, der die Grenzen des eigenen Körpers, der Haut, verletzt, dass er den Konsens zerstört, der darauf beruht, dass man auf der eigenen Haut nur das spürt, was man spüren

6 Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“, in: Ders., Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Bd. 5, München/Berlin/New York 1999, S. 245–412, hier: S. 295. 7 Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit, S. 113. 8 Jean Améry, „Vorwort zur ersten Ausgabe 1966“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Jean Améry, Werke 2, S. 20–22, hier: S. 21 f.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

will, zerrüttet unwiderruflich das Weltvertrauen. Schon der erste Schlag überschreitet die „Grenze des Ichs“ in der Überschreitung der Hautgrenze, der „Grenze des Körpers“. Er führt zur „vollständigen Verfleischlichung des Menschen“, der Gefolterte erlebt in diesem totalen Ausgeliefertsein bei vollem Bewusstsein den eigenen Tod. Améry versucht die Gleichung „Körper = Schmerz = Tod“, folgert: „Diese ließe sich in unserem Fall wieder reduzieren auf die Hypothese, dass die Tortur, in der wir vom anderen zum Körper gemacht werden, die Todeskontradiktion auslöscht und uns den eigenen Tod erleben lässt“, entlarvt die Gleichung aber sogleich als „Sachflucht“.9 Améry berichtet sachlich, dass ihm nicht die schlimmsten Formen der Folter widerfuhren: Wenn man von der Tortur spricht, muss man sich hüten, den Mund vollzunehmen. Was mir in dem unsäglichen Gewölbe in Breendonck zugefügt wurde, war bei weitem nicht die schlimmste Form der Folter. Mir hat man keine glühenden Nägel unter die Fingernägel getrieben, noch hat man auf meiner nackten Brust brennende Zigarren ausgedrückt. […] Und doch wage ich, zweiundzwanzig Jahre nachdem es geschah, auf Grund einer Erfahrung, die das ganze Maß des Möglichen keineswegs auslotete, die Behauptumg: die Tortur ist das fürchterlichste Erlebnis, das ein Mensch in sich bewahren kann.10

Das Fazit ist radikal: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert“. Die Erinnerung daran bestimmt das Schreiben und das Paradox der Unsagbarkeit. Wie steht es aber um die Sprache, die den Schmerz schildern soll? Die sechshundertsiebenundvierzig Tage (in seiner Carte de Prisonnier Politique aufgezählt) in den Lagern AuschwitzMonowitz, Buchenwald (Dora-Mittelbau) und Bergen-Belsen, die der Tortur und sechs Monaten Haft in Fort Breendonck folgten, wurden zur zentralen Erfahrung in Amérys Biographie, sie haben sein Schreiben und Denken bestimmt. Ein Schreiben und Denken, das aus der eigenen Biographie, aus der Erinnerung an den Schmerz sein Material für die Analyse der Gegenwart und der Geschichte schöpft.

2.2 Leben als Revolte in der Resignation Jean Améry wird 1912 als Hans Mayer in einer im Habsburgerreich assimilierten und integrierten jüdischen Familie geboren. Seine Familie war nicht zum Christentum übergetreten, aber sie feiert Weihnachten mit einem Christbaum. Hans Mayer ist sich des Judentums der Familie bewusst, geht zugleich aber auch gern

9 Améry, „Die Tortur“, S. 74 f. 10 Ebd., S. 56 f.

2.2 Leben als Revolte in der Resignation

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in die Kirche: „Ich liebte das Gotteshaus, trotzdem es für mein Gefühl in einem zu engen Zusammenhang mit der ungeliebten Schule stand. Besonders das feierliche Hochamt am Ostersonntag hatte es mir angetan – und dabei wußte ich vage, dass wir ‚in Wirklichkeit‘ Juden waren.“11 Sein Vater war im ersten Weltkrieg in der Uniform der Tiroler Kaiserjäger gefallen, so dass er praktisch vaterlos aufwächst, vom väterlichen Großvater und der Mutter betreut, deren verschiedene Versuche, sich mit Pensionen ein Einkommen zu sichern, darunter eine gepachtete Gästepension in Bad Ischl, auf Dauer fehlschlagen. Bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr hört Hans Mayer laut eigener Aussage nicht von der Existenz des Jiddischen. Er wächst in der deutschsprachigen Kultur auf, mit einem Heimatkonzept, das sein Land, seine Sprache, seine Kultur umfasst: So beschreibt und dramatisiert er sich selbst in den Unmeisterlichen Wanderjahren. In Wien versucht er eine journalistische und schriftstellerische Laufbahn anzugehen, es entsteht sein erstes Romanmanuskript Die Schiffbrüchigen. Sein Denken und Schreiben wird vom Neopositivismus der Wiener Schule um Moritz Schlick und Rudolf Carnap bestimmt, außerdem entwickelt sich sein sprachkritisches Bewusstsein in der Auseinandersetzung mit Ludwig Wittgenstein. Seine Bildung erarbeitet er sich hauptsächlich als Autodidakt. Diese seine intellektuellen Anfänge prägen sein lebenslanges Denken. Die Nürnberger Rassengesetze und der Anschluss Österreichs zwingen ihn dazu, Jude zu sein, nehmen ihm die nationale Identität: Damit werden die eigene Heimat und Kultur zur Heimat und Kultur der Feinde. Seine Art, seine Dignität zu erhalten, besteht darin, dass er sich sein Judesein sozusagen ex negativo erarbeitet und dazu steht. Fünfundzwanzig Jahre später betitelt er den Essay, in dem er seinen Weg zum Judentum beschreibt: „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, er definiert sich darin als „Nicht-Nichtjude“. Nach 1938 muss Améry fliehen; dass er Jude ist, bestimmt von nun an seine Existenz. In Örtlichkeiten schildert er seinen langen Weg. Ohne Geld, ohne Papiere gelingt ihm die Flucht über unsichere Wege und mit Hilfe einer in Köln operierenden Organisation nach Belgien. Zwei Jahre lang kann er dort mehr oder weniger prekär leben, bis er 1940, wieder als Konsequenz von Hitlers Armeen, als „feindlicher Ausländer“ verhaftet und in das Lager Gurs in den Pyrenäen gebracht wird. Von dort gelingen ihm die Flucht und die Rückkehr quer über Frankreich nach Belgien, wo er sich dem kommunistischen Widerstand anschließt. 1943 wird er von der Gestapo verhaftet. In Fort Breendonk, zwischen Antwerpen und Brüssel, wird er gefoltert und sechs Monate gefesselt auf dem Fußboden in Einzelhaft gehalten. Bei seiner Aufnahme in Fort Breendonck heißt es auf dem

11 Jean Améry, „Gasthof zur Stadt Graz“, zit. nach: Irene Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Resignation, Stuttgart 2004, S. 22.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Formular, ‚Konfession: Evangelisch‘; nachdem er als Jude ‚entlarvt‘ worden ist, wird er am 15. Januar unter der Häftlingsnummer 379 mit dem Transport Nr. XXIII nach Auschwitz deportiert.12 Es folgen zwei Jahre in den Konzentrationslagern Auschwitz (Monowitz), Buchenwald (Dora Mittelbau) und Bergen-Belsen.13 Ein Text, den Améry schon zum Teil im Lager konzipiert und der unveröffentlicht bleibt, Zur Psychologie des deutschen Volkes, gibt Auskunft über Auschwitz: Konzentrationslager Auschwitz, im Januar 1944. Nach Ankunft eines Transportes von einigen hundert Juden, Männern, Frauen und Kindern, werden diese auf die gewohnte Weise durch SS-Leute nach Gruppen eingeteilt. Man trennt zunächst die arbeitsfähigen Männer von Frauen, Kindern und Greisen und löst schliesslich auch diese zweite Gruppe auf, indem man den Müttern die Kinder wegnimmt, von beiden die zitternden alten Männer fortjagt und jeden der drei auf diese Art gebildeten Menschenhaufen in eine gesonderte Ecke treibt. Fast alle sind still. […] Nur eine Frau, die mit suchenden Augen unter den zusammengedrängten, leise weinenden Kindern vergebens nach dem ihren geblickt hat, löst sich plötzlich mit aufgelöstem Haar und tragischen Gebärden von ihren Genossinnen und fragt schreiend, bereits mit sichtlichen Anzeichen beginnender Geistesgestörtheit, nach ihrem Kinde. […] So gerät sie an einen wachthabenden SS-Mann. „Mein Kind“, sagt sie, „haben Sie nirgends mein Kind gesehen?“ „Ein Kind willst du?“ antwortet der SS-Mann mit vollkommener Ruhe, „warte…“ und er geht sehr langsam auf die Gruppe der jetzt aus instinktiver Angst etwas lauter weinenden Kleinen zu. Er bückt sich und ergreift einen etwa vierjährigen Knaben beim Fuß. Er hebt ihn hoch und wirbelt ihn einigemale durch die Luft und schleudert es schliesslich mit voller Wucht gegen die hoffnungslos suchende Mutter, so dass diese unter der Gewalt des Anpralls mit einem Aufschrei, der ebensowenig menschlich ist wie die Augen des SS-Mannes, zu Boden stürzt.14

Hans Mayer wird unter der Häftlingsnummer 172.364 in Auschwitz (Arbeitslager Monowitz) einem Arbeitskommando zugeteilt. Von den 655 Menschen seines Transportes werden 417 sofort ermordet. Im Juni, sechs Monate später, kann er

12 Vgl. Heidelberger-Leonard, Jean Améry, S. 90 f. (Dieser Biographie verdanke ich zahlreiche Anregungen in diesem Kapitel). 13 Zur Geschichte von Auschwitz, siehe die Homepage der Gedenkstätte: Memorial and Museum Auschwitz-Birkenau. Home Page – History, http://en.auschwitz.org/h/index.php?option =com_content&task=view&id=27&Itemid=1 (Stand: 31.08.2013); The division of the Auschwitz camp, http://en.auschwitz.org/h/index.php?option=com_content&task=view&id=6&Itemid=6 (Stand: 31.08.2013); Ausschwitz II-Birkenau, http://en.auschwitz.org/h/index.php?option=com _content&task=view&id=10&Itemid=9 (Stand: 31.08.2013); Auschwitz and shoah, http://en.au schwitz.org/h/index.php?option=com_content&task=view&id=29&Itemid=32 (Stand 31.08.2013); The number of victims, http://en.auschwitz.org/h/index.php?option=com_content&task=view &id=14&Itemid=13 (Stand: 31.08.2013). Informationen zum KZ Buchenwald befinden sich in den Kapiteln zu Kertész und Semprún. 14 Hans Mayer [Jean Améry], „Zur Psychologie des deutschen Volkes (1945)“, in: Ders., Anhang zu Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2, S. 500–534, hier: S. 505 f.

2.2 Leben als Revolte in der Resignation

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dank seiner schriftstellerischen Fähigkeiten als Schreiber im Buna-Werk der I.G. Farben unterkommen. Er bekommt weiterhin 200 Gramm Brot und zwei Wassersuppen am Tag, kann aber im Trockenen sitzen: Ein Zufall hat mir diese Chance in die Hände gespielt und so trage ich also keine Zementsäcke mehr auf meinem Buckel, bekomme keine Schläge mehr wegen zu langsamer Arbeit, sondern sitze ziemlich friedlich im Büro zweier Montage-Werkmeister, für die ich einfache Schreibarbeiten erledige.15

Mitte Januar 1945 beginnt die sowjetische Offensive, und Auschwitz-Monowitz wird zwischen dem 17. und dem 26. Januar evakuiert. Hans Mayer wird auf dem Fußmarsch nach Gleiwitz II getrieben, dann auf einem offenen Bahntransport in die Provinz Sachsen, schießlich, Anfang Februar, nach Dora-Mittelbau. Anfang April wird auch dieses Lager evakuiert und er wird nach Bergen-Belsen transportiert. Am 15. April wird Bergen-Belsen von den Engländern befreit. Von diesem Tage an steht das Lager unter dem Schutz der Streitkräfte seiner Britischen Majestät. Zwanzig Jahre später ist Améry noch dankbar, wie er es in Örtlichkeiten beschreibt: „Ein jeder Schattenmensch fühlte sich direkt angesprochen von dieser Majestät. […] Das Gefühl der Dankbarkeit ist unverlierbar, darum hat man auch den wackeligen englischen Kleinwagen gekauft und nicht den unzerstörbaren VW […].“16 Hans Mayer kehrt zurück nach Belgien, ändert in den fünfziger Jahren seinen Namen durch Umstellung der Buchstaben zu Jean Améry und bleibt in Brüssel. Er empfindet es als Irrtum, noch am Leben zu sein nach so vielen Toten. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, schreibt er unter zahlreichen Pseudonymen Reportagen für verschiedene Schweizer Zeitschriften, ab 1948 für die Schweizer Agentur Dukas; diese Agentur bestellt und vertreibt fast alle seine Artikel. Er schreibt auf Deutsch, es erscheint ihm aber unmöglich, in Deutschland oder Österreich zu leben, so dass er in Brüssel bleibt und mitten in einem französischsprachigen Alltag lebt. Er reist und schreibt auch für sich selbst, entdeckt die französischen Intellektuellen, bewundert Sartre, erlebt den Existentialismus als Philosophie, die ihm das Überleben ermöglicht, indem sie den Menschen über seine Zukunftsprojektion definiert. Er baut an seinen Wiener schriftstellerischen Anfängen weiter, arbeitet gleich nach seiner Rückkehr aus den Lagern an einem neuen, nie veröffentlichten Roman, Dornenkrone der Liebe, den er als „radikale Autobiographie“ bezeichnet und der den früheren Roman Die Schiffbrüchigen wieder aufnimmt. In diesem Umkreis schreibt er die Erzählung Reise um den Tod. Die

15 Ebd., S. 513 f. 16 Jean Améry, „Zürich – London“, in: Ders., Örtlichkeiten, Werke 2, S. 423–444, hier: S. 439 f.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Festung Derloven (1945), die auf autofiktionaler Basis seine Folter in Breendonck narrativ bearbeitet. Essayistisch schreibt und denkt er nach über die Deutschen und die Schuld (Zur Psychologie des deutschen Volkes, geschrieben 1945, mit schon in Auschwitz angefangenen Notizen), entwirft ein Panorama der Nachkriegszeit im Westen, worin er seine Lagererfahrung völlig ausklammert (Geburt der Gegenwart, 1961), zeigt sich als Journalist und Kulturkritiker, Schriftsteller und Philosoph. Erst zwanzig Jahre nach Kriegsende aber schreibt er jene Essayreihe, die ihn schlagartig berühmt macht, in der er seine Erfahrung des Lagers und der Tortur, des Verstoßenwerdens und des Überlebens verarbeitet und sein Judentum zum Fluchtpunkt der Reihe macht: Jenseits von Schuld und Sühne (1966). Er debütiert somit literarisch erst als Vierundfünfzigjähriger. Anstoß hierzu ist, laut eigener Aussage, der große Auschwitz-Prozess. Die Aufsatzreihe wird als Radiosendung gelesen, bevor sie in Buchform erscheint, und hat solchen Erfolg, dass alle seine späteren Essaybände das gleiche Format annehmen: eine Rundfunksendung, die Améry auch eine ökonomische Sicherheit erbringt, und eine nachfolgende Buchpublikation. Jean Améry wird zum Medienliebling, zeigt sich in Radio- und Fernsehsendungen, ist in hohem Maße präsent im deutschen Geistesleben. Hanjo Kesting definiert ihn als homme de lettres in der französischen Tradition des Intellektuellen, auch Gerhard Scheit weist darauf hin.17 Von seinen Werken wird interessiert Notiz genommen, sie werden rezensiert und diskutiert. Er hält Lesungen und beteiligt sich an Diskussionen und Gesprächen in Reisen quer durch Deutschland, die er „Sängerfahrten“ oder „Handelsreisen des Geistes“ nennt. Regelmäßig beteiligt er sich an den Sitzungen der Berliner Akademie, wo er Kontakt zum Literaturwissenschaftler Hans Mayer und zu den Autoren Huchel, Canetti, Grass, Kunert, Johnson und Weiss pflegt. Seine Geburtstage zum 60. und 65. Jahr werden von Freunden, Presse und Verlag gefeiert. Sowohl vom österreichischen Bundeskanzler, Bruno Kreisky, kommt ein Glückwunschschreiben wie vom Bürgermeister und der Vizebürgermeisterin der Stadt Wien. Bundesdeutsche Ehrungen kommen hinzu: Im Juli 1972 verleiht ihm die Bayerische Akademie der Schönen Künste den Literaturpreis, im gleichen Jahr wird ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen, das ihm von Bundespräsidenten Gustav Heinemann am 17. November überreicht wird. 1976 wird er Ehrenmitglied des PEN-Clubs und wenig später zum korrespondierenden Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt gewählt. Im März 1977 verleiht ihm der Senat der Stadt Hamburg den Lessing-Preis. Améry wird zum 17 Hanjo Kesting, „An den Grenzen des Geistes. Jean Améry“, in: Ders. (Hrsg.), Ein bunter Flecken am Kaftan: Essays zur deutsch–jüdischen Literatur, Göttingen 2005, S. 268–281, hier: S. 270 f. – Vgl. auch Gerhard Scheits Nachwort zu den Unmeisterlichen Wanderjahren (Gerhard Scheit, „Nachwort“, in: Anhang zu Unmeisterliche Wanderjahre, Werke 2, S. 744–782, hier: S. 748 f.).

2.3 Die Essays als essayistisch-autobiographischer Roman

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beachteten und geehrten Intellektuellen. In diesem Kontext entstehen Über das Altern (1968), Unmeisterliche Wanderjahre (1971), Örtlichkeiten (gesendet 1975, erschienen posthum, 1980), Lefeu oder Der Abbruch (1974), Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod (1976) und Charles Bovary, Landarzt (1978), sein letzter Band. Die Kritik an seinen zwei literarischen Roman-Essays Lefeu oder Der Abbruch und Charles Bovary, Landarzt, die er als Unverständnis empfindet, trifft ihn schwer. Im Oktober 1978 unterbricht er eine Vortragsreise durch Deutschland und nimmt sich in Salzburg das Leben. Er wurde sowohl auf der Frankfurter Buchmesse erwartet wie in der Akademie für Sprache und Dichtung. Ein erster Versuch, sich das Leben zu nehmen, war schon 1974 erfolgt, er wird in Hand an sich legen thematisiert. Dort definiert er den Freitod als höchste Manifestation der Freiheit des Menschen, der damit die Logik des Lebens außer Kraft setzt: Er kommt „dem Fallbeil zuvor, das uns ohnehin ereilt.“ Der Mensch erteilt damit „ein schmetterndes Nein zum schmetternden, zerschmetterndem échec des Daseins“.18 Imre Kertész nennt Améry einen „Heiligen des Holocaust“ und kommentiert seinen Freitod: „[E]r hatte Zeugnis abgelegt und wusste genau, wann er zur Apotheose übergehen musste …“19 Améry hinterlässt siebzehn Bücher, von denen fünf posthum aus seinem Nachlass erschienen sind. In seinem letzten Jahr arbeitet er noch an einem Novellenprojekt: Rendezvous in Oudenaarde. Eine Werkausgabe ist in Bänden unter der Leitung von Irene Heidelberger-Leonhard ab 2002 erschienen. Sie ist auch die Autorin der schon zitierten, feinfühligen, dokumentierenden und richtungsweisenden Biographie Amérys mit dem Titel Jean Améry: Revolte in der Resignation. Essayistik und Romanwerk sollen jetzt im Einzelnen in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Gattungen, zwischen Erinnern und Erzählen, Ichkonstruktion und Demolierung besprochen werden.

2.3 Die Essays als essayistisch-autobiographischer Roman Die autobiographische Komponente hat in allen Texten Amérys eine grundlegende Funktion. Sie bestimmt sowohl seine Essays wie seine fikionalen Texte. Dabei entsteht eine Fiktionalisierung und Bearbeitung des eigenen Erlebens, des eigenen Erinnerns in seinen essayistischen Werken und eine Umwendung der Fiktion 18 Jean Améry, Über das Altern. Revolte und Resignation,, in: Jean Améry, Werke 3, Monique Boussart (Hrsg.), Stuttgart 2005, S. 7–172, hier: S. 57. 19 Imre Kertész, Dossier K. Eine Ermittlung, aus d. Ungar. v. Kristin Schwamm, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 181.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

in eine Wunschbiographie im Roman: so bei Lefeu oder der Abbruch. Sein Leben und sein Schreiben sind ineinander verwoben, bestimmen einander. Bezeichnend aber für ihn ist, dass er seine Erfahrung von Folter und Lager nicht narrativ abbildet, sondern sie aus der Erinnerung heraus analytisch-essayistisch bearbeitet. Das gilt für alle seine zu Lebzeiten veröffentlichten Werke. Im Vorwort zu den Unmeisterlichen Wanderjahren schreibt Améry, dass seine Essaybände Jenseits von Schuld und Sühne, Über das Altern und die Unmeisterlichen Wanderjahre „so etwas wie einen essayistisch-autobiographischen Roman“ ergeben. Die Bände bieten eine Reihe von Essays, in denen die Autobiographie es ermöglicht, Überlegungen zur Zeitgeschichte und dem Verlauf des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen anzustellen, die über das rein Persönliche weit hinausreichen. Und diese intellektuelle Autobiographie wird aus der radikalen Befürwortung der eigenen Subjektivität, der eigenen Individualität geschrieben – einer Subjektivität, die sich als Wille zum Ausdruck der Wahrheit versteht, deren Wahrheitsanspruch auf Authentizität des Denkens und Fühlens gründet, letzten Endes auf eigene Erfahrung, auf eigenes Erleben. Das Faszinierende an Amérys Texten ist nicht zuletzt, dass es unmöglich ist, die Gattungen voneinander zu trennen. So wie Fiktion und Biographie ineinander übergehen, gehen Essay, Roman und Autobiographie ineinander über. Ein Essay ist, wenn wir uns an Adornos Definition halten, Ausdruck einer Denkform, die sich in ihrem Möglichkeitscharakter gegen geschlossenes Systemdenken richtet, eine Denkform, die das Fragmentarische thematisiert. Der Roman wird, wenn wir uns an Bakhtin halten,20 durch eine dialogische, polyphone Struktur gekennzeichnet. Beide Fokussierungen passen vorzüglich auf Amérys Texte. Dazu ist bemerkenswert, dass Améry die oben genannte Trilogie essayistischer Texte als essayistisch-autobiographischen Roman hervorhebt und dafür seinem fiktionalen Text Lefeu oder der Abbruch die Gattungsdefinition Roman-Essay gibt. In den essayistischen Texten hebt er das Romanhafte hervor, im fiktionalen Text das Essayistische. Der Essay über die Tortur, aus dem ich anfangs zitiert habe, befindet sich im Band Jenseits von Schuld und Sühne, den Améry als den ersten Teil seines „autobiographischen Romans“ definiert und der 1966 erscheint. Darin behandelt er in den ersten zwei Kapiteln, „An den Grenzen des Geistes“ und „Die Tortur“, fundamentale Aspekte des Identitätsverlustes, der Identitätsvernichtung durch die Verhaftung und das Lager. Im dritten Kapitel thematisiert er den Identitätsverlust über den Heimatsverlust: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ Anschließend

20 Vgl. Mijail Bakhtin, Teoría y estética de la novela, Madrid 1989; Tzvetan Todorov, M. Bakhtine, le principe dialogique suivi de Écrits du Cercle de Bakhtine, Paris 1981.

2.4 Autobiographische Fiktion versus autobiographischer Essay

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werden zwei Kapitel dem Versuch des Überlebens gewidmet, den Bedingungen, unter denen die Identitätskonstitution des Überlebenden stattfindet: „Ressentiments“ und „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, der Fluchtpunkt der gesamten Analyse. Die Daten, die Améry über sich selbst mitteilt, sind minimal; der Platz, den er der Erinnerung einräumt, ist äußerst karg. Er benutzt sie nur, um darüber hinaus zu reflektieren, um sie intellektuell fruchtbar zu machen. Er beschreibt also kaum, betreibt im Wesentlichen keine Deskription des Geschehenen, sondern benutzt es, um die Geschichte zu deuten. Der Text über die Tortur ist einer der beeindruckendsten und bekanntesten. Er hat Adornos Konzept vom perennierenden Leiden geprägt und Ingeborg Bachmann inspiriert, die ihn in Drei Wege zum See erwähnt, um nur einige seiner berühmter Leser zu nennen. Man könnte auch eine Parallele zwischen Amérys Argumentation vom Verlust des Weltvertrauens in der Tortur und Herta Müllers Argumentation über den Verlust der Selbstverständlichkeit im Leben unter einer Diktatur wiedererkennen.21

2.4 Autobiographische Fiktion versus autobiographischer Essay Der Vergleich zwischen dem Essay Die Tortur und der viel früheren, nie von Améry veröffentlichten Erzählung Reise in den Tod. Die Festung Derloven zeigt die Entwicklung von der narrativ-autofiktionalen Bewältigung von Erinnerung zum abstrahierenden Essay. Der Vergleich zeigt auch die Suche nach der adäquaten Sprache, die Améry unternimmt, und den essayistischen Weg, den er dafür findet. In Die Tortur abstrahiert Améry von der autobiographischen Erfahrung: Sie wird äußerst knapp beschrieben und es wird darauf verzichtet, den Schmerz zu schildern und die Erinnerung narrativ aufleben zu lassen. Sie beschreibt den Ort, wo die Folter geschah, Fort Breendonck, in allen Einzelheiten. In der Zeit und im Raum lokalisiert, stehen Zeit und Raum für die Erinnerung, für den Schmerz, der hier, in der ersten Person des Essays, nicht zur Rede kommt (nicht kommen kann). Und doch wurde diese Erinnerung auch geschrieben, auch thematisiert, aber narrativ. Nicht in dem autobiographischen Essay über die Tortur, sondern in einem viel früher geschriebenen, autofiktionalen Textfragment, und nicht in der ersten Person, sondern in der dritten, einer fiktionalen Romanfigur zugeschrie-

21 Es gibt bei Herta Müller ohnehin verschiedene Verweise auf Améry. Und auch sie setzt eine Parallele zwischen Leben und Lesen; ihr Lesen von Literatur ist vom eigenen Leben bedingt, ihr literaturkritisches Schreiben auch.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

ben. Unter den Texten, die in den Romankomplex Die Dornenkrone der Liebe gehören und die Eugen Althager, schon Protagonist der Schiffbrüchigen, zum Protagonisten haben, befindet sich ein Fragment, das den Titel Reise um den Tod. Die Festung Derloven trägt. Irene Heidelberger-Leonard hat ihn auf 1945 datiert. Danach wäre er also gleich nach der Befreiung aus dem Lager und der Rückkehr nach Brüssel geschrieben worden. Der Protagonist, der in der Festung Derloven der Folter unterzogen wird, ist Eugen Althager, Alter Ego Amérys. Die Festung wird genauestens beschrieben, auch die Folterinstrumente. Althager wird der gleichen Folter unterzogen, die Améry später für sich beschreibt. Der Akzent wird gesetzt auf örtliche und zeitliche Bestimmungen, deiktisch überhöht: „[D]ort, an jenem 23. Juli 43“, heißt es in Die Festung Derloven.22 In Die Tortur heißt es: „Dort geschah es mir: die Tortur. […] Ich wurde im Juli 1943 von der Gestapo verhaftet.“23 Im Fragment Die Festung Derloven wird die Folter viel detaillierter seitenlang kommentiert, auch der Schmerz hat seinen Platz darin, oder besser gesagt: der Verweis auf den Schmerz. Zuerst wird die Foltermaschine mit allen Details in ihrer perfekten Bauweise und ihren Funktionen erklärt. Die vielen Streichungen im Manuskript bezeugen die Formulierungsschwierigkeiten Hans Mayers.24 Althager ist gefesselt, und „in die Stahlstange, welche hinterm Rücken seine Hände verband, griff ein zehn Zoll langer eiserner Haken, der seinerseits an einer vom Plafond in einer Zugrolle herabhängenden Kette befestigt war“25. Wenn an der Kette gezogen wird, wird der Gefolterte an den hinter dem Rücken gefesselten Händen erhoben; um das Auskugeln der Armgelenke zu vermeiden, muss sich der Gefolterte an den ausgestreckten Armen mit seinem ganzen Gewicht ungefähr einen Meter über dem Boden hängend halten. Das schafft er nur wenige Sekunden, bis er sein Gewicht nicht mehr halten kann und seine Arme aus den Gelenkpfannen springen: „Es rasselte und krachte – und es gab in den Schultern einen außerordentlichen, mörderischen, gänzlich unbeschreiblichen und eigentlich auch kaum noch fühlbaren Schmerz. Kaum noch fühlbar, sagen wir, denn E.A. hatte später vergebens den Versuch gemacht, diesen Schmerz zu erinnern.“26 Der Schmerz ist unermesslich, unbeschreiblich, kaum fühlbar – ist er auch wirklich nicht erinnerbar? Später, in dem Essay über die Tortur, widersetzt er sich den Metaphern. Erinnerbar ist Althagers und Amérys Reaktion, das Zuhilferufen, das an den Folterknechten und an den Festungsmauern verhallt. Diese Reaktion

22 23 24 25 26

Améry, „Die Festung Derloven“, S. 586. Améry, „Die Tortur“, S. 56, 59. Heidelberger-Leonard, Jean Améry, S. 84. Améry, „Die Festung Derloven“, S. 587. Ebd., S. 588.

2.4 Autobiographische Fiktion versus autobiographischer Essay

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führt zu einer der wichtigsten Folgerungen Amérys im späteren Essay. Der Gefolterte hat das Vertrauen zu den Mitmenschen endgültig verloren: „[W]er gefoltert wurde, kann nicht mehr heimisch werden auf der Welt.“ Die Folter wird zur totalen Umstülpung der Sozialwelt: „[I]n dieser können wir nur leben, wenn wir auch dem Mitmenschen das Leben gewähren, die Ausdehnungslust unserer Ichs zügeln, sein Leiden hindern. In der Welt der Tortur aber besteht der Mensch nur dadurch, dass er den anderen vor sich zuschanden macht.“27 Der fiktionale Text gibt noch einen weiteren Hinweis auf das Nicht-Erinnerbare des Schmerzes: Eugen Althager dachte selten und nur ungern an seine Kriegs- und Lagererlebnisse. Nicht so sehr, weil sie schmerzvolle Erinnerungen gewesen wären – waren doch solche sein hauptsächlicher seelischer Bestand – sondern deshalb, weil diese Lebensstrecke ihm überhaupt nicht mehr zugehörte. Sein Wissen um diese Zeit war ihm gestohlen worden durch KinoWochenschauen, welche einem fromm entsetzten Publikum die Greuel als Einleitung zu einem angenehmen Spielfilm zeigten, durch Zeitungsartikel, durch zahllose Höllen-Bücher, die Hölle von Bergen Belsen, die Hölle von Mauthausen, Buchenwald, Groß-Rosen, Auschwitz, Ebensee, die Hölle von Derloven. Es war ja wirklich Massen-Schicksal, das er da erlebt hatte, Reportage-Schicksal, geprägt von sogenannten Elementar-Gefühlen, Hunger, Kälte, Schmerz, Schicksal so unpersönlicher, so durchaus typischer Art, daß es ihm gleichgültig werden mußte.28

Der Schmerz ist nicht vergessen, aber zur verfremdeten Anekdote geworden. Er muss zurückgewonnen werden, genauso wie das Schicksal – als Massenschicksal ist es für das Individuum verloren gegangen. Als Wochenschau ist der Schmerz trivialisiert, automatisiert, banalisiert worden. Damit muss aber auch eine Sprache gefunden werden, die das eigene Schicksal ermöglicht, den eigenen Schmerz bekundet. In seinen autobiographischen Essayromanen, in der Verschiebung der Grenzen zwischen den Gattungen, in der Polyphonie seiner in verschiedenen Stimmen sprechenden Texte sucht Améry sie. Zuerst formuliert sich die Erfahrung der Tortur distanziert, in dritter Person auf eine Romanfigur projiziert, und getragen vom Raum, in dem die Erinnerung lokalisiert ist. Erst Jahre später kann sie sich in Essayform im Ichformat artikulieren, stellenweise mit genau dem gleichen Wortlaut. Irene Heidelberger-Leonard analysiert, wie in der autobiographischen Fiktion der Festung Derloven ein grundlegendes Element der Erinnerung an den Holocaust in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht zur Sprache kommen kann: die Einzigartigkeit des Massenmordes an die europäischen Juden. Direkt nach dem

27 Améry, „Die Tortur“, S. 77. 28 Améry, „Die Festung Derloven“, S. 592 f.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Ereignis wurde es als „Massen-Schicksal“ abgetan, die „Schmach und Schande“ der rassisch verfolgten Häftlinge war von ihnen selbst verinnerlicht worden, weil sie, im Unterschied zu den politischen Häftlingen, „nur“ eine passive Opferrolle innehatten. Insofern ist es nicht von ungefähr, dass Hans Mayer gerade die Episode unter die Lupe nimmt und beschreibt, in der er eine aktive Rolle als Flugschriftenverteiler einnimmt und als Widerstandskämpfer gefoltert wird.29 In der Fiktion schafft es Althager, eine Geschichte zu erfinden, welche die zum Glück nichtswissenden Folterer befriedigt: „Es war ein absoluter Trumpf des Geistes über die Materie: Der Häftling wurde zum Märchenerzähler, zum Kriminalroman-Autor – und der Beamten bemächtigte sich eine gewisse Sympathie für diesen Mann, der ihnen die langweiligen Amtstunden verkürzte.“30 Im zwanzig Jahre späteren Essay erweist sich dieser Aspekt der Fiktion als Verharmlosung. In der Reflexion über die Folter im Essay wird gerade das Gegenteil thematisiert: Es geht um den Sieg der Materie über den Geist, die absolute Macht des Folterers setzt die Negation des Gefolterten voraus, sein Leben und sein Tod sind in der Hand des Folterers. Das Biographische wird jetzt ausgespart, dafür tritt die Deutung in den Vordergrund, das Grundsätzliche wird reflektiert. Die Erinnerung wird nicht als Nacherzählung rekonstruiert, mit Erzählfigur, Ortbeschreibung und chronologischem Zeitvergehen, sondern sie dient zum Nachdenken und konstituiert sich durch dieses. Dabei ist ein fundamentaler Aspekt des Tortur-Essays, dass der Körper, die Materie, über den Geist triumphiert. Hier weicht Améry von Sartre ab, der in Das Sein und das Nichts geschrieben hatte, dass auch die Folter uns die Freiheit nicht nimmt. Améry weiß es besser: der Folterer löscht den Geist systematisch aus, damit ist der Gefolterte ganz Körper, ganz Schmerz: „Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewegten Hand reicht aus, den Anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien und die Welt als Wille und Vorstellung aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen.“31 Diese Erfahrung, nur noch materielles Objekt zu sein, lässt das IchGefühl und die eigene Identität zusammenstürzen, damit auch das Weltvertrauen. Und zwar auf irreversible Weise: „Dass der Mitmensch als Gegenmensch

29 „Man hat in diesen Zeiten der Hochkonjunktur vergessen, dass das Klima des direkten Nachkriegs gegenüber ihren Leidensgeschichten geradezu feindselig gestimmt war, dass die Deportation und das Überleben der rassisch Verfolgten – im Gegensatz zu den Politischen – in den Augen der Öffentlichkeit wenn nicht eine Schande so doch ein Tabu waren. […] In Westdeutschland fanden sie erst zur Zeit der Auschwitz-Prozesse in Frankfurt, zur Zeit von Jenseits von Schuld und Sühne Gehör“ (Heidelberger-Leonard, Jean Améry, S. 66 f.). 30 Améry, „Die Festung Derloven“, S. 595. 31 Améry. „Die Tortur“, S. 77 f.

2.4 Autobiographische Fiktion versus autobiographischer Essay

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erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.“32 Die Erinnerung daran ist und bleibt im Körper lokalisiert: Es war für einmal vorbei. Es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibt es kein „Verdrängen“. Verdrängt man denn ein Feuermal? Man mag es vom kosmetischen Chirurgen wegoperieren lassen, aber die an seine Stelle verpflanzte Haut ist nicht die Haut, in der einem Menschen wohl sein kann.33

Maria Lassmann hat auf die Nähe Amérys zur Phänomenologie von MerleauPonty in Bezug auf Körpererfahrung und vécu hingewiesen, ein vécu als ein Wissen von Erfahrungen, das nicht sprachlich kodiert, sondern im Leib aufgezeichnet ist. Diese phänomenologische Blickwendung wendet Améry in Jenseits von Schuld und Sühne und spezifisch im Tortur-Aufsatz an.34 Damit begründet er einen Auschwitz-Diskurs, der von der körperlichen Vernichtungserfahrung des Auschwitz-Überlebenden ausgeht.35 Im Tortur-Essay wird, im Unterschied zu der narrativen Bewältigung in Die Festung Derloven, nicht die Folter vergegenwärtigt, sondern es wird Erkenntnis über sie gewonnen, die von dem unmittelbar Erlebten ausgeht. Diese Erkenntnis erarbeitet das Wissen und Denken von zwanzig Jahren, um zum Schluss zu kommen, dass die Tortur die Essenz des Nationalsozialismus konstituiert. Aus der eigenen Erinnerung wird die Bewegung der Selbstreflexion und der Epochenerklärung gewonnen. Das kann Améry nur tun, weil er die Folter durch die Erfahrung des Konzentrationslagers hindurch erinnert.36 Diese Erfahrung macht 32 Ebd., S. 85. 33 Ebd., S. 79. 34 Maria Lassmann, „Die Grenzen des Körpers, die Grenzen der Sprache. Jean Amérys und Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie“, in: Irene Heidelberger-Leonard/Irmela von der Lühe (Hrsg.), Seiner Zeit voraus. Jean Améry: ein Klassiker der Zukunft?, Göttingen 2009, S. 91–103, hier: S. 96. 35 Nach Sylvia Weiler begründet er damit einen eigenen phänomenologischen Auschwitz-Diskurs: Sylvia Weiler, „Jean Amérys Dialogangebot an die Deutschen in Jenseits von Schuld und Sühne und die zeitgenössische Gedächtniskultur“, in: Jean Marie Valentin/Jean-François Candoni (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 „Germanistik im Konflikt der Kulturen“, 12, Bern,/Berlin 2007, S. 221–225. Vgl. auch Dies., „Das Problem der Zukunft als offene Wunde des Geistes“, in: Heidelberger-Leonard/von der Lühe (Hrsg.), Seiner Zeit voraus, S. 75–91. 36 Siehe Gerhard Scheits Nachwort zu Jenseits von Schuld und Sühne im zweiten Band der Werkausgabe. Ihm verdanke ich erhebliche Anregungen zu diesem Kapitel. Scheit setzt auch diese Erinnerung in Zusammenhang mit Amérys Theorie zum Nationalsozialismus: „Eine wichtige Phase dieser Erinnerungen ist mit der Psychologie des deutschen Volkes wie in einer Moment-

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

das Thema für den ersten Essay in Jenseits von Schuld und Sühne aus: die Frage nach der Rolle des Geistes, und spezifisch nach der Situation des Intellektuellen im Konzentrationslager, bezeichnenderweise An den Grenzen des Geistes betitelt. Schon hier hat sich der Geist als gescheitert gezeigt. Das analytische Denken hilft dem Intellektuellen im Lager nicht, eher umgekehrt: Er ist es zwar gewöhnt, die Macht anzuzweifeln, aber die Machtgestalt des SS-Staates türmt sich im Lager unüberwindlich vor dem Häftling auf: „[E]ine Wirklichkeit, die nicht umgangen werden konnte und die darum als vernünftig erschien. Jedermann […] wurde in diesem Sinne hier zum Hegelianer.“37 Der Versuch, die Wirklichkeit des Lagers zu verstehen, führt auch nur in eine Dialektik der Zerstörung: „Der Intellektuelle aber revoltierte dagegen in der Ohnmacht des Gedankens. Für ihn galt am Anfang die rebellische Narrenweisheit, dass nicht sein könne, was doch gewiss nicht sein darf. Allerdings nur im Anfang.“38 Dieses erste Nichtglauben führt nämlich letzten Endes zum Verstehen, zum Akzeptieren, zur Resignation gegenüber der Logik des Lagers, die eine Logik der Zerstörung ist: „Die grundsätzliche geistige Toleranz und der methodische Zweifel des Intellektuellen wurden so zu Faktoren der Autodestruktion.“39 Hinzugefügt sei, so Améry, der traditionsgemäße Respekt des Intellektuellen vor der Macht: Das Ergebnis sei ein gebeugtes Individuum, ein schlechter Überlebender. Wie zerstörend hier Améry, der sich ja als Intellektueller versteht, auch mit sich selbst umgeht, ist offensichtlich. Bezeichnenderweise eröffnet er die Essayreihe mit der Geschichte des Todes, zu dem er vorbestimmt war. Zu diesem Tod gehört auch der Tod des Geistes, der in Auschwitz versagt, den Intellektuellen im Stich lässt. Irene Heidelberger-Leonard betont, wie hier strengste Autobiographie betrieben wird, wie es um Améry selbst geht, um seinen Geist, der in Auschwitz an seine Grenzen kommt. Der einzige Schluss, zu dem sein analytisches Denken ihn befähigt, „besteht darin, seine Selbstzerstörung zu besiegeln, denn in Auschwitz ist der Geist […] nur zu einem gut: zu seiner Selbstaufhebung“40. Und doch ist die Erfahrung des Lagers und der Folter der Referenzpunkt des Denkens und der Gewinnung von Erkenntnis: „So wage ich denn zu

aufnahme festgehalten. Hatte Améry damals den Satz zitiert, die Deutschen seien heroisch im Ertragen vom Leiden anderer, um sich über den‚Sonderweg‘ dieser Nation klar zu warden, sieht er jetzt in diesem Diktum das Entscheidende über seine Lage als jüdisches Opfer der Folterer ausgesagt – das, was er in den Faschismus- und Totalitarismustheorien vergeblich sucht“ (Gerhard Scheit, „Nachwort“, S. 661). 37 Améry, „An den Grenzen des Geistes“, S. 40. Hegel hatte geschrieben: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ 38 Ebd., S. 37 f. 39 Ebd., S. 38. 40 Heidelberger-Leonard, Jean Améry, S. 200.

2.5 „Die Mauern stehen sprachlos und kalt“: Literatur und Lager

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sagen, dass wir Auschwitz zwar nicht weiser und nicht tiefer, wohl aber klüger verlassen haben.“41 Und: „Dass sie [die Erfahrung] mich besser ausgerüstet haben möge zur Erkenntnis der Wirklichkeit, ist meine Hoffnung.“42 Es geht bei seinem gesamten späteren Werk um eine Wiederbelebung des Geistes, der Literatur und der Sprache. Amérys Schreiben vollzieht sich, indem er seine Erinnerung, seine Biographie essayistisch aufarbeitet, strukturiert, ästhetisiert, und indem er die Fiktion, essayistisch bearbeitet, eigentlich zur (Wunsch)Biographie macht, d.h. autofiktionalisiert. Die Erfahrung, von der er ausgeht, ist das Lager, die Folter, das Exil und das (Über)leben als jüdisches Opfer nach Auschwitz: eine konstante Erfahrung der Negation einer positiven Identität.

2.5 „Die Mauern stehen sprachlos und kalt“: Literatur und Lager Im Lager erweist sich übrigens nicht nur der Geist, sondern auch die Kultur, und konkreter noch die Literatur, als unzuständig. Denn unter den Lagerbedingungen, schreibt Améry, ist die Literatur kein Instrument, das ermöglichen würde, die Realität zu transzendieren. Die Verse von Hölderlin, an die er sich eines Tages beim Rückmarsch zum Lager erinnert, sagen ihm nichts mehr: „Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen“ murmelte ich assoziativ mechanisch vor mich hin. Dann wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem Rhythmus nachzuspüren und erwartete, dass das seit Jahren mit diesem Hölderlin-Gedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllt „links“, und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen.43

Immerhin ist es bezeichnend, dass ihm gerade dieses Gedicht einfällt. Der einzige Moment, in dem Améry zugibt, etwas einer ästhetischen Emotion Ähnliches gefühlt zu haben, geschieht, als er krank ist und jemand ihm eine zusätzliche Portion Suppe gebracht hat, wo er also für ein Mal keinen entsetzlichen Hunger leidet. Und da kommt ihm Thomas Manns Zauberberg in den Sinn. Es ist bemerkenswert, dass Primo Levi, auch in Auschwitz, in diesem Punkt nicht mit Amery

41 Améry, „An den Grenzen des Geistes“, S. 53. 42 Améry, „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, S. 177. 43 Améry, „An den Grenzen des Geistes“, S. 32.

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einverstanden ist. In seinem Essay „Der Intellektuelle in Auschwitz“ stellt er diese Interpretation des Intellektuellen und der Funktion der Kultur in Auschwitz in Frage44 und verweist auf den schon im ersten Kapitel dieses Bandes kommentierten Versuch, den 26. Gesang aus Dantes Inferno einem elsässischen Gefährten zu rezitieren, der ihn gebeten hatte, ihn Italienisch zu lehren.45 Levi schildert diese Szene in Ist das ein Mensch?, und er schildert sie als eine sehr intensive Erfahrung. In dieser Szene wird die Literatur in den Alltag integriert, in einen Lageralltag, der für Améry Hölderlins Verse hatte sinnlos werden lassen. Und die Literatur erfüllt dabei eine intensive, kommunikative Funktion in einer Situation, in der weder der literarische Text noch die Sprache, in der er vermittelt wird, dem bewegten Zuhörer bekannt sind. Sie appellieren sowohl an die Würde des Menschen wie an eine höhere Macht, die sie knechtet, sie verweisen auch auf den Untergang, den sie nicht bannen können, aber in eine Tradition des gesagten Leidens bringen. Im Unterschied zu Améry konnte Levi auf eine Tradition und eine Sprache zurückgreifen, die er nicht als entfremdet und in Feindeshänden empfand. Denn als weiterer verschlimmernder Faktor für Améry und für die deutschsprachigen Juden kommt hinzu, dass ihre „Heimatliteratur“, die ihre

44 Zur merkwürdig verschobenen Debatte zwischen Améry und Levi siehe u.a. Scheits Nachwort zu Jenseits von Schuld und Sühne (Scheit, „Nachwort“, S. 678 f.) und Heidelberger-Leonards Abschnitt „Jean Améry/Primo Levi: ein Exkurs“ in ihrer Biographie (Heidelberger-Leonard, Jean Améry, S. 93 f.). Améry setzt sich gegen Levis Ist das ein Mensch ab, das seit 1961, als die deutsche Übersetzung erscheint, auch in Deutschland die Diskussion über Auschwitz bestimmt, und führt seinen analytischen Ansatz ein. Primo Levi reagiert mit Unverständnis; Améry, erbost, nennt ihn in einem Brief an die gemeinsame Freundin Hetty Schmitt-Maas, die eigentlich beide hatte zusammenführen wollen, einen „Verzeiher“, was wiederum Levi erbost. Er weist diese Anschuldigung in einem Interview energisch von sich. Seine öffentliche Position in der Auseinandersetzung mit Améry erscheint erst nach dessen Tod in I sommersi e I salvati (Turin 1986), in dem er das genannte Kapitel über den Intellektuellen in Auschwitz einfügt gegen Amérys vermeintlich zu enge Auffassung des Intellektuellen. Dass Améry auch ironisch-selbstkritisch von sich selbst ausging, ist Levi entgangen. Trotz Polemik führt aber Levi die Diskrepanz zwischen beiden auf ihre unterschiedlichen Erfahrungen zurück, d.h. den Verlust der nationalen Identität und die Folter; beides erklärt Amérys Ressentiments. W.G. Sebald betont, wie wenig beide Autoren gemeinsam gehabt haben in ihrer Lebensauffassung und -praxis, nicht einmal ihr Judetum sei ein gemeinsames. Für Levi besteht es schon in familiärer Tradition, Améry erarbeitet es sich mühsam aus der Verfolgung und um der Aufrechterhaltung der eigenen Würde wegen sozusagen ex negativo. Dass Améry von den eigenen Landsleuten, der eigenen Kultur und Sprache „verjagt“ wird, macht seine Situation extremer als Levis. Und doch sind beide nah genug, um sich schwer zu kränken (Winfried Georg Sebald, „Jean Améry und Primo Levi“, in: Irene Heidelberger-Leonard (Hrsg.), Über Jean Améry, Heidelberg 1990, S. 115–123). Imre Kertész seinerseits hat in der Auseinandersetzung Levis Text als „Streitschrift gegen Amérys entschlossenen existentiellen Radikalismus“ gesehen (Kertész, „Die Panne“, S. 20). 45 Siehe weiter oben, in Kapitel 2.4.

2.5 „Die Mauern stehen sprachlos und kalt“: Literatur und Lager

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literarische Memoria ausmacht, jetzt in Feindeshand ist, genauso wie die Heimat selbst: „Von den Merseburger Zaubersprüchen bis Gottfried Benn, von Buxtehude bis Richard Strauss war das geistige und ästhetische Gut in den unbestrittenen und unbestreitbaren Besitz des Feindes übergegangen.“46 Die eigene kulturelle Identität wird in Frage gestellt und gerät damit in dieses selbstzerstörerische Hassliebe-Verhältnis, das auch das Verhältnis zur Heimat charakterisiert und das Améry in dem Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch“ behandelt. Dort definiert er Heimat als Sicherheit, zu der man ein natürliches Bedürfnis habe: Man braucht sie umso mehr, je weniger man sie hat. Exil wird mit Angst und Unsicherheit gleichgesetzt, Heimat mit Sicherheit. „Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben“47, schließt Améry seinen Essay: Heimat wird ex negativo vom Verlust her definiert. Man muss sie haben, um sie nicht nötig zu haben. Auch die Reflexion über die Heimat geht von der individuellen Erfahrung, vom Erinnerten aus: Ein Nachbar in der Wohnung, in der die Widerstandsgruppe, der Améry zugehörte, Flugblätter druckte, ist ein SS-Mann des Sicherheitsdienstes. Vom Lärm gestört, klopft er ahnungslos an die Tür, um Ruhe für seinen Mittagsschlaf zu erbeten. Améry entdeckt, dass er den Dialekt seiner Heimatregion spricht und muss sich gegen ein schlagartig einsetzendes Vertrauen wehren; er findet sich in einem Zustand, in dem gleichzeitig schlotternde Angst und aufwallende Herzlichkeit konkurrieren und die Empfindung aufkommt, ein paar Wörter würden eine Komplizenschaft herstellen: „In diesem Augenblick begriff ich ganz und für immer, dass die Heimat Feindesland war und der gute Kamerad von der Feindheimat hergesandt, mich aus der Welt zu schaffen.“48 Luzide erkennt Améry das Selbstzerstörerische des Heimatgefühls, des Heimwehs. Die spezifisch jüdische Erfahrung des Vertriebenen, der Heimat enteignet zu werden, erweist sich als Identitätsvernichtung: „Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, dass wir es jemals waren, sind wir es auch nie gewesen.“49 Im Unterschied zu den anderen Exilierten haben sie das Land, das sie verlassen mussten, nie besessen: „Was wir gemeint hatten, es habe unser Wesen ausgemacht – war es denn jemals anderes gewesen als Mimikry?“50

46 Améry, „An den Grenzen des Geistes“, S. 33. 47 Améry, „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2, S. 86–117, hier: S. 117. 48 Ebd., S. 99. 49 Ebd., S. 116. 50 Ebd., S. 100.

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2.6 Subjektkonstituierung ex negativo: Ressentiment, Zwang und Unmöglichkeit In den weiteren Essays aus Jenseits von Schuld und Sühne geht es um die Bedingungen, unter denen das Überleben nach dem Lager, das Weiterleben geschieht. An erster Stelle der Essay Ressentiments. Améry widmet sich dem, wie Scheit schreibt, was einmal zur Heimat zu gehören schien und jetzt als Land der Täter begriffen wird.51 Améry schreibt über seine Reisen und Begegnungen im Deutschland der Nachkriegsjahre. Irene Heidelberger-Leonard betitelt das Kapitel von Amérys Biographie, das sie diesem Aufsatz widmet, Warten auf Gegenliebe, und bezeichnet dieses als Drehpunkt von Amérys Essay. In der Tat handelt der Essay vom verpassten Dialog zwischen den zurückkehrenden Exilanten, den Verfolgten, den Opfern, und den Besiegten, den Tätern. Über zwanzig Jahre sind nach Kriegsende vergangen, und die Sicht Amérys auf die Deutschen hat sich geändert, die Unterschiede zwischen dem Ressentiment-Essay und der Psychologie des deutschen Volkes sind markant. Dort hatte er noch aus dem Bewusstsein der Sieger gedacht und in der Hoffnung darauf, dass die Erfahrung der Opfer in der Nachkriegszeit etwas zu sagen haben würde, in der Hoffnung auf Schuldbekenntnis und Erziehung. In diesem Sinne hatte er sich auch gegen den Begriff der Kollektivschuld gewandt und Schuld konkretisiert. Jetzt hatte sich die Situation insofern geändert, als nichts von dem geschehen war, was er sich erhofft hatte. Kein wirkliches Schuldbekenntnis, keine wirkliche Erziehung, keine Ohren für das Leid der Opfer, nur Aufbau, Arbeit und Vergessen. In dieser Hinsicht ist der Fall von Améry ein weiteres Dokument des schwierigen Verhältnisses zwischen Nachkriegszeit und Exil, des fehlenden Dialoges zwischen ihnen. Jetzt unterdrückt Améry seine frühere Auffassung der Kollektivschuld und erklärt, dass ihm dieser Begriff 1945 durchaus recht gewesen sei. Er kann jetzt keine große Hilfe von dem Begriff der Kollektivschuld erwarten, umso wichtiger aber wird ihm der Begriff der Ressentiments, um seine eigene Befindlichkeit zu erklären und zu unterstützen, zu erhellen gegenüber denen, gegen die sich seine Ressentiments richten. Gegen Nietzsche und gegen eine Psychologie des Vergessens grenzt er den Begriff positiv ab. Er zitiert Nietzsches Definition des Ressentiments in der Genealogie der Moral: „Das Ressentiment bestimmt solche Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.“52 Das entspricht aber seiner eigenen Erfahrung nach dem

51 Scheit, „Nachwort“, S. 664. 52 Jean Améry, „Ressentiments“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2, S. 118–148, hier: S. 126.

2.6 Subjektkonstituierung ex negativo: Ressentiment, Zwang und Unmöglichkeit

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Nationalsozialismus. Insofern hat er die Ressentiments vor „zwei Begriffsbestimmungen zu schirmen: gegen Nietzsche, der das Ressentiment moralisch verwirft, und gegen moderne Psychologie, die es nur als einen störenden Konflikt denken kann“53. Immerhin erklärt aber aus unserer Perspektive gerade die Psychologie genau die Beschaffenheit der Ressentiments: Ihre Besonderheit liegt darin, dass nur der Andere, derjenige, gegen den die Ressentiments sich richten, den Schlüssel zur Lösung des Konfliktes hat. Er muss sich zu der Situation bekennen, die den Konflikt bzw. die Ungerechtigkeit ausgelöst hat, aus der das Leid entstanden ist und die die Ressentiments legitimiert; die Auflösung der Ressentiments ist nur durch Zusammenarbeit möglich. In dieser Hinsicht ist Amérys Essay, auch wenn er sich gegen die Psychologie wendet, geradezu paradigmatisch als psychologische Diagnose des Ressentiments und als – verzweifelter – Lösungsvorschlag. Ein Lösungsvorschlag, der sich im Raum des Utopischen entfaltet. Améry definiert sein Ressentiment als seinen persönlichen Protest „wider das moralfeindliche natürliche Zeitverwachsen“54, er fordert, dass der nicht ausgetragene Konflikt „zwischen den Opfern und den Schlächtern exteriorisiert und aktualisiert werden muss, wenn es beiden, Überwältigten und Überwältigern, gelingen soll, die in ihrer radikalen Gegensätzlichkeit doch auch gemeinsame Vergangenheit zu meistern“55. Einen Wundheilungsprozess könne und dürfe es nicht geben. Entwürdigung dürfe nicht als „unentrinnbares Schicksal“ gedacht werden. Der radikal utopische Entwurf kommt zutage, wenn vom Wunsch nach Umkehrung der Geschichte die Rede ist; man muss an Ricœur denken und an seine Forderung, die zurückgebliebenen Möglichkeiten der Geschichte nicht zu vergessen, den rückwärtsgewandten Fatalismus zu vermeiden. Améry folgert: „Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung und damit nach Moralisierung der Geschichte.“56 Diese Forderung ans deutsche Volk hätte ein enormes Gewicht: „Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen. Und am Ende wäre wirklich für Deutschland das erreicht, […] die Auslöschung der Schande.“57 Dass Améry sich im Rahmen der Utopie bewegt, ist ihm immerhin bewusst: Zum Abschluss des Essays fragt er sich, für wie lange er noch an den moralischen Rang und die geschichtliche Gültigkeit seiner Ressentiments glauben könne; ob sein moralisches Verlangen nach Umkehrung der Geschichte als Halbklugschwatz gedeutet werde.

53 54 55 56 57

Ebd., S. 127. Ebd., S. 141. Ebd., S. 141 f. Ebd., S. 143. Ebd.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Der letzte Essay des Bandes zeigt sich als der Fluchtpunkt, auf den die vorherigen hinauslaufen, und zwar als Identitätsdefinition, die aus dem Vorangegangenen folgt: „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“. Als Folge der Nürnberger Gesetze sei ein Jude „ein Toter auf Urlaub“58. In dieser Todesbedrohung liege auch die Entwürdigung der Juden durch die Nazis. Améry bezieht sich auf Sartres Betrachtungen zur Judenfrage, wenn er schreibt, dass sich die Juden durch den Antisemitismus, also durch den Feind, ihr Bild hätten aufprägen lassen. „Jedoch kann der entwürdigte, todesbedrohte Mensch – und hier durchbrechen wir die Logik der Aburteilung – die Gesellschaft von seiner Würde überzeugen, indem er sein Schicksal auf sich nimmt und sich zugleich in der Revolte dagegen erhebt.“59 Améry definiert sein Judesein ex negativo: aus dem Zwang, der ihm angetan wurde, aus der Unmöglichkeit, es zu sein. Wie Kertész, der sich als Keinerlei-Jude definiert, verwandelt er die Fremdbestimmung in Selbstbestimmung und macht sie zu einer ethischen Aufgabe, zu einer Existenzform: „Als Nicht-Nichtjude bin ich Jude, muss es sein und muss es sein wollen.“60 Was dabei aber für den Leser klar wird, ist, dass es um eine bedrohte Existenzform geht. Sie ist von der Auschwitznummer und von der Folter bedingt, von der körperlichen Erinnerung, die den Verlust des Weltvertrauens begründet: „Dabei geschieht es mir annähernd wie einst, als ich den ersten Schlag der Polizeifaust zu spüren bekam. Ich verliere jeden Tag von neuem das Weltvertrauen. Der Jude ohne positive Bestimmbarkeit, der Katastrophenjude […] muss sich einrichten ohne Weltvertrauen.“61 Der Essay schließt mit dem Wiederaufnehmen des Ziels der Essays, „die Grundkondition des Opferseins auszuforschen, im Zusammenstoß mit Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“62 und der Hoffnung, dass ihn dieses Erforschen zur besseren Erkenntnis der Wirklichkeit ausgerüstet habe. Améry hat sich nie seine Auschwitznummer wegoperieren lassen, als Narbe und Zeugentum, als Identitätsmerkmal und als Zeichen für die Paradoxie der unmöglichen und gleichzeitig unverzichtbaren, in den Körper eingeschriebenen Erinnerung. Auf seinem Grabstein hat er nur seinen angenommenen Namen Jean Améry, seine Geburts- und Todesjahre und seine Auschwitznummer haben wollen. Als Identitätsmerkmal zeigt auch sie sich als tödlich-paradox: Sie markiert seine Identität, schreibt ihn aber damit in das Kollektiv der zur Auslöschung Bestimmten ein.

58 Améry, „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2, S. 149–177, hier S. 154. 59 Améry, „Über Zwang und Unmöglichkeit“, S. 159. 60 Ebd., S. 167. 61 Ebd., S. 168. 62 Ebd., S. 177.

2.7 Literatur als Folie für die Wirklichkeit

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In der Einführung von Jenseits von Schuld und Sühne geht Améry dem Prozess des Schreibens nach. Erst während dieses Prozesses hat er Sprache und Methode gefunden: „Erst im Prozess des Schreibens entschleierte sich, was ich vorher in einer halbbewussten, an der Schwelle des sprachlichen Ausdrucks zögernden Denkträumerei undeutlich erschaut hatte.“63 Somit wird Schreiben, wie Denken, zu einem hermeneutischen Prozess der Wahrheitsfindung, der Analyse dessen, was früher verworren, in Denkträumerei versunken war. Wenn zuerst ein objektives und distanziertes Schreiben vorgesehen war, macht der Prozess des Schreibens – der aus der traumatischen Erinnerung an Auschwitz geschieht – diesen Vorsatz zunichte: Es ist unmöglich, aus der Distanz über die Wunde Auschwitz zu schreiben. Der einzige Weg ist, von der persönlichen Erfahrung auszugehen, aus dem Ich heraus zu schreiben: „Wo das ‚Ich‘ durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt. Eine nachdenklich-essayistische Arbeit hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand.“64 Es ist dennoch eine nachdenkliche essayistische Arbeit. Sie bezieht ihre Legitimität aus dem eigenen Erleben, aus der in den Körper eingeschriebenen Erinnerung. Améry setzt seine Essays mit einer Konfession in Verbindung und gibt so einen Verweis auf eine bestimmte literarische Tradition, auf Rousseau, auf die Legitimierung des eigenen Erlebens, auf das Bewusstsein, dass es exemplarisch ist. Denn im Vorwort zur Neuausgabe von 1977 gibt er einen weiteren Hinweis auf sein Ziel: Es geht ihm um Aufklärung. Auch sie ist durch das eigene Erleben und die eigenen Emotionen legitimiert: „Wo steht geschrieben, dass Aufklärung emotionslos zu sein hat? Das Gegenteil scheint mir wahr zu sein. Aufklärung kann ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn sie sich mit Leidenschaft ans Werk macht.“65

2.7 Literatur als Folie für die Wirklichkeit Obwohl Améry im Lager den Geist und die literarische Tradition für unzuständig erklärt, den Bankrott des Wortes angesichts der Realität der Konzentrationslager konstatiert, braucht er die literarische Tradition, schon um seinen Essay einzuführen. Der Verweis auf die Suche nach einer adäquaten Sprache für eine unvergessbare Zeit wird mit verkappten Worten von Marcel Proust vorgestellt: „Ich hatte mich zwei Jahrzehnte lang auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit 63 Améry, „Vorwort zur ersten Ausgabe 1966“, S. 21. 64 Ebd., S. 21. 65 Jean Améry, „Vorwort zur Neuausgabe 1977“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2, S. 11–19, hier: S. 19.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

befunden, nur, dass es mir schwer gewesen war, davon zu sprechen.“66 Auch der Titel enthält literarische Verweise: auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, auf Dostojewskys Schuld und Sühne. Améry bevölkert sein ganzes Werk mit literarischen Figuren und Verweisen auf die literarische Tradition. Dazu bemerkt Imre Kertész: „In Auschwitz konnte ihm der Geist nicht helfen, nach Auschwitz ruft er aber den Geist zum Beistand, um die gegen ihn, gegen den Geist erhobene Beschuldigung zu verfassen.“67 Er gewinnt die eigene Tradition, die im Lager in Feindeshand ist, so radikal wieder, dass in seinem ganzen Schaffen die Nutzung der literarischen Tradition und die Konfrontation mit ihr eine grundlegende Rolle erhalten. Einige Jahre nach seinem Essay über Auschwitz schreibt Améry in seinem Aufsatz Ein Leben mit Büchern den literarischen Figuren die gleiche Funktion wie den realen Personen im Leben zu: Der lebenslange Umgang mit Büchern, wenn ich versuche, ihn zu analysieren […] ist wesentlich ein Umgang mit Menschen. […] Davos, das war Castorp, das waren Ziemssen, Settembrini und Madame Chauchat. In der Normandie, die ich häufig bereise, finde ich in einem elenden Nest die Fußspuren der Emma Bovary. Illiers ist Combray. Sollte ich jemals nach Moskau kommen, würde ich zweifellos aufs intensivste die geisterhafte Gegenwart Raskolnikows verspüren. Die subjektive Welt eines jeden Lesers ist bevölkert: nicht nur von den realen Personen, deren Bekanntschaft er im Leben gemacht hat, sondern von Geschöpfen der Literatur. Sie sind um uns, Julien Sorel und der junge Werther, der Zögling Törleß und Leopold Bloom; Hans Giebenrath, Serenus Zeitblom […]. Beizufügen ist freilich, dass alle hier Aufgereihten und hinter ihnen die zahllosen Nichtgenannten einen erheblich höheren Realitätsgrad haben als viele Personen, die im Laufe unseres Lebens in Fleisch und Blut vor uns hintraten.68

Er baut in alle seine Werke, ganz besonders in seine Essaybände Über das Altern. Revolte und Resignation und Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod viele literarische Figuren und ihre Argumentationen in seine eigenen ein, gibt ihnen den gleichen Ort wie den Theorien und Gedanken von realen Wissenschaftlern oder Schriftstellern. Sie werden zu Metaphern im eigenen Denkprozess und appellieren an den Leser, sein gesamtes Bildungsgut in die vorgeschlagene Argumentation einzubringen. Sie ermöglichen es dem Leser, an Amérys Argumentation weiterzuarbeiten, zwingen ihn, eine Position einzunehmen, provozieren ihn. In Hand an sich legen z.B. soll er Lieutenant Gustls Überlegungen zugunsten des

66 Améry, „Vorwort zur ersten Ausgabe“, S. 20. 67 Kertész, „Die Panne“, S. 16 f. 68 Jean Améry, Ein Leben mit Büchern, Nachlass Jean Améry im Marbacher Literaturarchiv, Mk 81.1275, S. 2.

2.7 Literatur als Folie für die Wirklichkeit

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Freitods mit Dr. Behrens’ Gedanken über den Tod und den Theorien zeitgenössischer Ärzte oder Philosophen vergleichen und annehmen. Die Literatur wird als Folie benutzt, die auf die Realität verweist, sie bekommt damit eine wichtige utopische Dimension. Aber nicht nur das. Sie wird im Schreiben auch gewissermaßen metaliterarisch benutzt: indem sie auf das Schreiben selbst verweist, auf die Konstruktion des Textes, den Prozess des Schreibens, auf die Möglichkeit, Realität durch Be-schreiben zu erzeugen. Und auch diese Konfrontation mit der literarischen Tradition geschieht in Beziehung zum Schreiben als Ich-Konstruktion, als Aufarbeitung der eigenen Biographie. Das zeigt sich sehr gut in der Auseinandersetzung Amérys mit Marcel Proust, die in Über das Altern. Revolte und Resignation stattfindet.69 Dieses Werk ist überhaupt bemerkenswert dialogisch aufgebaut. Jeder seiner fünf Teile zeigt die Auseinandersetzung mit einem Dichter oder Denker, anhand derer sich Amérys eigener Diskurs entwickelt, von Existentialismus und Phänomenologie geprägt.70 An erster Stelle, im ersten Kapitel, steht die Konfrontation mit Proust. Es geht um Dasein und Zeitvergehen (so der Titel des Kapitels). Dem ganzen Band ist bezeichnenderweise ein Proust-Zitat aus dem letzten Band der Recherche, Le temps retrouvé, vorangestellt: J’avais vécu comme un peintre montant un chemin qui surplombe un lac dont un rideau de rochers et d’arbres lui cache la vue. Par une brèche il l’aperçoit, il l’a tout entier devant lui, il prend ses pinceaux. Mais déjà vient la nuit où l’on ne peut plus peindre et sur laquelle le jour ne se relèvera plus!71

Améry führt das Thema des Zeitvergehens an, indem er den Morgenempfang bei der Prinzessin von Guermantes aus dem letzten Band der Recherche du temps perdu, Le temps retrouvé schildert. Beim Empfang trifft Proust seine Gestalten wieder, Zeit ist vergangen, auch über ihm. Bei der Beschreibung der Figuren hält sich Améry fast wörtlich an Proust und akzentuiert ihre Todesverfallenheit, die schon bei Proust anzutreffen ist:

69 Siehe dazu: Monique Boussart, „Jean Amérys Essay ‚Über das Altern‘: Ein Dialog mit französischen Dichtern und Denkern“, in: Heidelberger-Leonard (Hrsg.): Über Jean Améry, S. 79–91, s.a.: Marisa Siguan, „Bethsaïda, la piscine des cinq galeries. Literarische Tradition und Schweigen im Werk von Jorge Semprún und Jean Améry“, in: Marisa Siguan/Karl Wagner (Hrsg.), Transkulturelle Beziehungen. Spanien und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Amsterdam 2004, S. 215–232. 70 Vgl. auch Ben Hutchinson, „‚Ich bin im Altern durch meinen Körper und gegen ihn‘: Jean Amérys Grammatik des Alterns als Dialog mit der französischen Philosophie“, in: Jahrbuch für internationale Germanistik, 40/2008, 1, S. 119–132. 71 Jean Améry, Über das Altern, S. 9.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Den Hut in der Hand, tritt A – Marcel Proust – ein bei seinen Gastgebern, erfährt dabei, daß das Personal des Hauses ihn wiederkennt, trotz jahrelanger Abwesenheit. […] Der Narrateur sieht Menschen wieder, denen es, tröge nicht der flüchtige Augenschein, noch viel schlimmer erging als ihm selbst. Wer ist dieser Märchenkönig, der einen Wattebart trägt und der sich beim Gehen fortschleppt, als hätte er an seinen Schuhen bleierne Sohlen? Der Prince de Guermantes, den hat es – ein „Es“, von dem lange und viel zu sprechen sein wird – also zugerichtet. […] Der Besucher stößt auf Menschen, deren Lider die versiegelte Starre haben jener, die bald abtreten werden, und deren ständig murmelnde Lippen schon die Gebete der dem Tod Anheimgegebenen zu sprechen scheinen. Andere hat die Sklerose durchstrukturiert und sie zu steinernen ägyptischen Göttern gemacht.72

Aber bei Améry kann man über Literatur die Zeit nicht wiedergewinnen, es gibt keine temps retrouvé mittels der Literatur, mittels des Erinnerns in der Sprache: A – Proust – meinte, als das Asthma ihn plagte und er im abgedichteten Zimmer, vermummt in wollene Halstücher, in seinem Bette an der Recherche kritzelte, er könne in der Erinnerung die wirklichere Wirklichkeit und mit ihr zugleich so etwas wie Zeitlosigkeit oder auch Ewigkeit in Besitz nehmen; es entstand dabei ein großes Werk, aber das war ihm, als es zum letzten, der Welt in Qual entrissenen Atemzug kam, zu nichts mehr nütze.73

Die einzige Art, die Zeit zu erfahren, ist das Altern: „Wir können es. Wir finden die Zeit im Altern – auch wenn wir nicht, wie A chez de Guermantes, uns der Dichterillusion hingeben, wir hätten sie als temps retrouvé im Erinnern eingeholt, aufgehoben und dabei uns selber eingeschlichen in die Ewigkeit.“74 Dazu sollte vielleicht noch bemerkt werden, dass Améry Proust mit dem Erzähler im Text gleichsetzt und dass Proust womöglich auch nicht gedacht hat, er fände mit dem Schreiben die Zeit wieder, sondern eher, dass das wirklich gelebte Leben das von der Literatur geschriebene, strukturierte, bewusst gemachte Leben sei. Aber diese Möglichkeit interessiert Améry überhaupt nicht. Sein Ansatzpunkt ist ein völlig anderer. Es geht ihm um die vitale, individuelle Erfahrung des Zeitvergehens. Er weigert sich, vom Raum des subjektiv Erlebten abzusehen. In diesem Sinn revoltiert er gegen Prousts angebliche Lehre und ist zugleich fasziniert von der Beschreibung des Zeitvergehens, die Proust unternommen hat. Bei seiner Konfrontation mit Literatur geht es um Bewältigung der eigenen Vergangenheit, um Ich-Konstruktion auf eine mögliche Zukunft hin, und letzten Endes ist seine Autobiographie für seine Argumentation bestimmend. Die Erfahrung des Lagers taucht gleich nach den zitierten Passagen auf, nämlich: der Wechsel vom altern-

72 Ebd., S. 20 f. 73 Ebd., S. 38. 74 Ebd., S. 31.

2.8 Die Dramatisierung der Biographie: Unmeisterliche Wanderjahre

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den „A“ Proust zu einem weiteren „A“, das gefangen genommen und von der Gestapo gefoltert wurde, „ein A, den wir gut kennen, lag während sechs Monaten gefesselt in einer halbdunklen Einzelzelle“.75 Die ich-konstruktionsbezogene Perspektive, die Perspektive des Opfers, der Verweis auf Individualität, auf radikale und subjektive Individualität steht auch hinter der Auseinandersetzung Amérys mit Flaubert und Sartre in einem weiteren, bemerkenswert dialogisch aufgebauten Werk Amérys: Charles Bovary, Landarzt.76 In Über das Altern verweigert sich Améry der Erinnerung der mémoire involontaire, die für Proust das Instrument ist, das die Erschreibung der Erinnerung überhaupt möglich macht; Améry entlarvt sie als „Dichterillusion“. Als traumatische Erinnerung bricht sie immerhin bei der Ansicht vom Gaswerk Gaz du Lacq schlagartig über Lefeu, den Protagonisten von Amérys Roman Lefeu oder der Abbruch, ein, vergegenwärtigt ihm die Verschleppung seiner Familie nach Auschwitz und tritt so als invasive Rückkehr des Traumatischen auf, das zur Suche nach einer Sprache zwingt, in der dieses artikuliert werden kann.

2.8 Die Dramatisierung der Biographie: Unmeisterliche Wanderjahre Mit den Unmeisterlichen Wanderjahren arbeitet Améry an seiner intellektuellen Autobiographie weiter. Wenn Jenseits von Schuld und Sühne ein Gegenentwurf zur Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Fünfziger und Sechziger Jahren ist, stehen die Unmeisterlichen Wanderjahre im Verhältnis zur Entwicklung der Neuen Linken in Frankreich und Deutschland nach der Erfahrung vom Mai 68. Auf viel radikalere Weise als in Jenseits von Schuld und Sühne werden hier die Biographie und die intellektuellen Fragestellungen der Zeit miteinander verwoben. Gerhard Scheit schreibt von einer Engführung von beidem, von der Reduktion, die Améry mit seiner Biographie und gleichzeitig mit seiner Zeit vorgenommen hat. Denn während in jedem Kapitel ein Abschnitt der Biographie behandelt wird, steht gleichzeitig eine politische, literarische oder philosophische Frage zur Debatte.77 Das Konstruierte, Elaborierte, Fiktionalisierte der eigenen Biographie in den Unmeisterlichen Wanderjahren hat schon Irene Heidelberger thematisiert. Sie

75 Ebd., S. 44. 76 Siehe dazu auch: Hanjo Kesting, „‚Charles Bovary, Landarzt‘ oder das Totenreich der Kunst. Anmerkungen zu Flaubert, Sartre, Jean Améry“, in: Heidelberger-Leonard: Über Jean Améry, S. 91–115. 77 Scheit, „Nachwort“, S. 757 f.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

spricht von der Dramatisierung einer ästhetischen Existenz, von den Sinnabschnitten, die Améry entwirft und die so gar nicht haben gewesen sein können;78 von den Fiktionen des Ichs, von den Wunschbiographien, die darin entworfen werden. In seinem Exposé zu den Unmeisterlichen Wanderjahren erklärt Améry, dass er in einer Reihe von Aufsätzen die prägenden intellektuellen Ereignisse von etwa 1930 bis zum „heutigen Tag“, also den 70er Jahren, schildern möchte. Aber er möchte sie nicht einfach chronologisch nacherzählen, sondern die Zeitkulissen durcheinander schieben – „jede der dargestellten Epochen beziehungsweise Bewegungen so zu präsentieren, wie sie ihren Zeitgenossen erschienen sein mochten, und kontrapunktistisch dagegen, ihre Bedeutung im Referenzsystem der Gegenwart aufzuweisen“79. Er fügt noch hinzu, dass die informative Komponente gegenüber der subjektiven ein klares Übergewicht werde haben müssen. In den Unmeisterlichen Wanderjahren sind die verschiedenen Abschnitte, die Améry markiert, in ein zeitlich-räumlich-geistesgeschichtlich definiertes Konglomerat kondensiert. Die Topographie des Erinnerns ist aber, wie es dem Konzept der Wanderjahre entspricht, von der Bewegung getragen. Die beiden ersten Kapitel, Frühe Weigerung und Die scheinbaren Scheinfragen, sind zwischen Bad Ischl und Wien lokalisiert und behandeln den Werdegang Amérys, der sich, auch topographisch in Bewegung, mit der Metapher des im Idyll gefangenen Waldgängers gegenüber dem modernen, bewussten Stadtgänger definiert. Das dritte Kapitel, Debakel, ist im Lager Gurs lokalisiert und in der Flucht daraus. Existenzsorgen schildert sein Verhältnis zum Existentialismus als ein Pendeln zwischen Brüssel und Paris, als Zaungast, wie er schreibt. Expeditionen jenseits des Rheins behandelt die deutsche Nachkriegszeit aus der Perspektive des Reisenden, der Améry ist. Strukturen, das letzte Kapitel, ist in Brüssel lokalisiert, dem Endpunkt der Wanderung. Indem Améry die Epochen, wie er sagt, „kontrapunktistisch“ aufeinander bezieht und jeweils Vergangenheit und Interpretation der Gegenwart spiegelt, baut er seine gesamte Epochenübersicht und das Verhältnis zwischen Informativem und Subjektivem in eine dialogische Struktur ein. Wenn das Urbild der hermeneutischen Situation, des Verstehens, die dialogische Struktur ist, so prägt

78 Irene Heidelberger-Leonard, „Zur Dramaturgie einer ästhetischen Existenz“, in: Dies./Hans Höller (Hrsg.), Jean Améry im Dialog mit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002, S. 61–77. Vgl. auch ihr Nachwort zu Lefeu oder der Abbruch: Irene Heidelberger-Leonard, „Nachwort“, in: Jean Améry, Werke 1, Stuttgart 2007, S. 668–693, hier: S. 668 f. 79 Jean Améry, „Jean Améry: Unmeisterliche Wanderjahre. Fragmente einer Biographie des Zeitalters (Exposé, 1969)“, in: Anhang zu Unmeisterliche Wanderjahre, Werke 2, S. 732–738, hier: S. 733.

2.8 Die Dramatisierung der Biographie: Unmeisterliche Wanderjahre

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er sie hier, um seine eigene autobiographische Aufarbeitung zu ordnen. Das unwissende Ich, die (angeblich) unwissenden Zeitgenossen der Vergangenheit werden gegen ein (mutmaßlich) wissendes Ich und eine wissende Gegenwart ausgespielt, ausgefragt, um den Platz und die Evolution des Ichs in der Geschichte aufzuzeigen. Dieser dialogische Prozess erweist sich aber als ausgesprochen spannungsreich, sogar aggressiv und wird mit verschiedenen Stimmen geführt: Sowohl das Ich wie auch die Gegenwart haben verschiedene und oft widersprüchliche Stimmen. Um das Übergewicht der informativen Komponente gegenüber der subjektiven zu erhalten und doch den Ton der persönlich-existentiellen Aussageform zu bewahren, wählt Améry folgendes Verfahren: „Praktisch wird dies bedeuten, daß das ‚Ich‘ des Narrateurs, das keineswegs verschwinden soll, zeitweilig abgelöst wird durch ein kritisch-polemisches ‚Du‘ oder durch ein distanzierendes ‚Er‘.“80 Die Erzählperspektive, die dadurch entsteht, ist die eines gefährdeten, nicht fixierten, gegen die Auflösung kämpfenden Ichs, das die erste Person benutzt, um Gewissheiten vorzubringen, die meistens von der Schutzlosigkeit des Ichs zeugen, die zweite Person, um aggressiv-polemisch gegen die erste Person vorzugehen, und die dritte, um sich objektiv-distanziert über sie zu beugen. Die Rolle der wissenden (sich aggressiv gebenden) Instanz wird somit meistens von der zweiten und dritten Person getragen. In dieses Spiel mit syntaktischen Personen baut Améry die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und seiner Interpretation der Zeitgeschichte ein. Es zeigt sich besonders dramatisch in den ersten Kapiteln, wo er sich schonungslos mit den dreißiger Jahren beschäftigt und seine angebliche Ahnungslosigkeit, seine naive, provinzielle, waldidyllische (Un-)Bildung, seine angebliche Entfremdung gegen eine städtische, moderne, avantgardistische und zeitbewusste Haltung ausspielt. Die Auseinandersetzung sieht zum Beispiel so aus: Einfacher gesellschaftspsychologischer Mechanismus! Du wolltest nichts hören und nichts sehen von der produzierenden, wenn auch schlecht und wenig hervorbringenden Welt, so liefst du in den Wald und gerietest dort in eine Produktionsmaschine anderer Art, die den Untergang der Erde am Geist herstellte. […] Gib endlich zu, daß dein Bewußtsein den Vergreisungsprozess eines Bürgertums widerspiegelte […]. Es war die bloße und für immer dich bloßstellende Spießerideologie, es war ein exemplarischer Beweis dafür, wohin falsches Bewußtsein, wohin die Entfremdung … halt, halt, ich erhebe Einspruch!81

80 Ebd. 81 Jean Améry, „I. Frühe Weigerung“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, Werke 2, S. 185–211, hier: S. 193.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Die Stimme, die das Du benutzt, steigert sich in eine Aggression, die in der Beschuldigung des Spießbürgertums, des falschen Bewusstseins, der Entfremdung gipfelt: alles Anschuldigungen, die der Sprache der marxistischen Ideologiekritik der 68er entstammen. In den Unmeisterlichen Wanderjahren verwendet Améry verschiedene Sprachregister, verschiedene Stimmen, er parodiert sie und benutzt sie als Aggressionsmittel gegen die Konstruktion des gefährdeten, fragilen Ichs. Auch die Sprache der Neopositivisten, des Existentialismus, des Strukturalismus wird bei der Auseinandersetzung mit dem Ich benutzt. Im nächsten Werk Amérys, dem RomanEssay Lefeu oder der Abbruch wird die Parodierung der Sprache der verschiedenen Instanzen, zum Beispiel der smarten Galeristen aus Düsseldorf, in Lefeus eigenen Diskurs eingebaut; das Spiel mit den syntaktischen Personen ist nicht mehr nötig, weil das gefährdete Ich als Erzählperspektive nicht mehr auftritt. Aber das parodistische und dialogisch-aggressive, polyphonische Romanprinzip ist das gleiche. Irene Heidelberger und Gerhard Scheit haben gezeigt, wie aus Amérys frühen Schriften hervorgeht, dass er nicht so ahnungslos und idyllisch-waldgängerisch gewesen sein kann, wie er sich hier gibt.82 Warum betreibt er wohl so aggressiv seine Selbstzerstörung? Améry dramatisiert, ästhetisiert, er schafft auch eine Bühne, auf der später effektvoller zu zeigen ist, wie der Existentialismus dem völlig zugrunde gerichteten Améry in der Nachkriegszeit die Möglichkeit des sich selbst Neuerschaffens bietet, wie er geradezu ein Rettungsanker für ihn wird. Das ist einer der beeindruckendsten Aspekte des Werkes: die Einsicht in die Wichtigkeit des Existentialismus in der Nachkriegszeit, die Rolle, die er für das Überleben spielt. Aber vielleicht doch noch einiges mehr. Die Stimme, die dieses aggressive Du verwendet, ist die der strengsten (engsten) marxistischen Ideologiekritik. Und das Ich setzt sich zur Wehr. Die dritte Person behauptet dann das Gegenteil von dem, was die zweite Person als Anklage formuliert hat: Nur über die Entfremdung mache ich mir Gedanken: ich hab’ es getragen, das Wort, manches Jahr, ich trag’ es nicht länger mehr. Einmal, nicht hier, aber später im Laufe des Gesprächs werde ich genaue Einsicht nehmen in das Dossier Entfremdung. […] Was mich angeht, so war ich meinetwegen entfremdet, war auch ein durch Proletarisierung stadtflüchtig gewordener Bürger. Aber war ich darum schon ein potentieller Faschist? […] Nein. Das war er sicher nicht.83

82 Siehe dazu die schon zitierten Nachworte zu den Bänden 1 und 2 der Améry-Werkausgabe von Irene Heidelberger-Leonard und Gerhard Scheit. 83 Améry, „I. Frühe Weigerung“, S. 193 f.

2.8 Die Dramatisierung der Biographie: Unmeisterliche Wanderjahre

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Als Antwort auf die Anklage entwickelt Améry über die polyphone Struktur seines Textes eine viel komplexere ideologiekritische Position. Dabei verweist er auf die konkrete Erlebniswelt des Individuums, auf die Möglichkeit, sie zu transzendieren. Er spricht vom geistigen Klima seiner Zeit in Wien, um festzustellen, dass es aus vereinzelten Figuren bestand: „Sie waren eingesponnen, ein jeder in das Universum einer besonderen Schöpfung, und nur aus weiter Entfernung nimmt man sie aus als jene Einheit, die sie in ihrer synchronen Präsenz keineswegs bildeten“84, schreibt er, und wenn man das geistige Klima zu definieren versucht, gehört Améry selbst dazu: Vielleicht ist der, von dem hier erzählt wird und der selbst eingedenk seiner frühen Unordnung das Wort ergreift, gar kein schlecht gewähltes Beispiel für die Witterungsverhältnisse. […] Ich war Mittelpunkt eines geistigen Komplexes, der sich konzentrisch um meine Person ordnete. Man kann auch sagen, ohne den Sachverhalt zu verändern: die Elemente des Komplexes strahlten Kausallinien aus, deren Schnittpunkt mein Ich ergab. Den weitesten, im logischen Sinne weitesten, also: durch den Begriffsumfang den Inhalt fast zur Ungreifbarkeit verdünnenden Raum nahm in einer nicht mehr entflechtbaren Verschlingung von Erfahrenem und Angelesenem etwas ein, das ich Landschaft nannte.85

Améry baut sich in eine Landschaft ein und beansprucht das Recht, sich aus seinem Erleben zu definieren. Und wenn er das im Laufe der Wanderjahre systematisch und auch selbstzerstörerisch mit allen Konsequenzen betreibt, rückt er in die Nähe des komplexeren ideologiekritischen Konzeptes von Paul Ricœur und dessen ideologiekritischem Verständnis von Hermeneutik. Ricœur, der in den Wanderjahren als Opfer „infantiler Aggression in Nanterre“ erscheint, die ihm „einen Mülleimer übers Haupt stülpte“86, definiert Ideologie als eine Art von „sozialem Gedächtnis“, eine symbolische Projektion einer mythologisierten Vergangenheit, die als Basis für die Konstruktion einer symbolischen Repräsentation der Vergangenheit dient.87 In deren Rahmen werden Begebenheiten und Texte kategorisiert und verstanden; Ideologie hat dynamischen Charakter und konstituiert die Basis für soziales Verhalten. Die Funktion der Hermeneutik besteht darin, die Polysemie zu erhalten, die Bedeutungen und Interpretationen nicht zu einem monolithischen System werden zu lassen. In der hermeneutischen Methode und in der Distanz besteht die Möglichkeit der Objektivität und des Verstehens. Wenn Améry die verschiedenen Stimmen in seinen Wanderjahren sprechen lässt, einen selbstzerstörerischen Monolog mit sich selbst führt, kämpft er um Subjektkon84 85 86 87

Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Ebd., S. 339. Vgl. Paul Ricœur, L’idéologie et l’utopie, Paris 1997.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

struktion und um Verständnis der Geschichte. Und damit schlägt er eine Interpretation seiner Zeit vor, die aus der Erlebniswelt des Einzelnen, des Subjekts, des Opfers ihre Legitimation erhält. Die Befürwortung der Subjektkonstruktion bestimmt auch Amérys Position in den 70er Jahren sowohl gegenüber dem Strukturalismus wie auch gegenüber der Frankfurter Schule. Er setzt sich damit in den Unmeisterlichen Wanderjahren auseinander. In den letzten beiden Kapiteln, Expeditionen jenseits des Rheins und Strukturen, wird Amérys Enttäuschung über die Studentenrevolte vom Mai 68 deutlich, die Diskrepanz zwischen seinen Erwartungen und ihrem realen Verlauf und auch seine Enttäuschung über die Entwicklung seines ehemaligen Meisters Jean-Paul Sartre. Améry beobachtet die junge, aus dem Wirtschaftswunder geborene deutsche Linke, die neuen Generationen, die sich der Dialektik der Frankfurter Schule hingeben. Er misstraut der Distanz, die diese gegenüber der erlebten Geschichte zeigt, er misstraut dem, was er als Flucht in die Abstraktion interpretiert, eine Flucht, die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erübrigt. Er interpretiert den Sieg des Strukturalismus oder auch der Dialektik der Frankfurter Schule als einen Verrat an der Individualität. Da er schon einmal als Opfer den Individualitätsverlust erlitten hat, ist dieses sein bestimmendes Argument gegen diese Philosophien. Er stellt seine Individualität, seine Subjektivität, seine Welterfahrung gegen jede historische oder ideologische Schematisierung. Sie wird zum fundamentalen Argument gegen die philosophischen Strömungen der Zeit: Denn so miserabel enge habe ich den Menschen niemals erfahren. Er ist mir kein antikes Standbild, noch romantische Schwärmerei, noch expressionistischer Schrei. Er ist, der er ist. Ich begegne ihm täglich in den Straßen. Da gibt er sich gerade so rührungsfern wie ein Bauer der Thomas-Münzer-Zeit oder der Weber, der in Deutschlands Leichentuch den dreifachen Fluch wob. Aber er hat einen Leib, durch dessen Mittel er die Welt auf- und einnimmt. Sein Wohl, von dem er zu wenig hat, sein Wehe, das ihn sprachlos macht, sie sind da und dringen tiefer ein in den Raum meines Desinteressements als die Wörter und die Formen, les mots et les choses. Ich lande immer wieder an den Ufern der Banalität des Alltags, wo allein ich noch Wirklichkeit zu entdecken vermag. […] Aus ihnen redet inmitten der Strukturen der Mensch mich an in seiner totalen Subjektivität, die ist das ens realissimum, das ich als solches anerkenne.88

Auch hier steht die Erfahrung des Menschen als „arme Haut“, als „quälbarer Leib“ im Hintergrund; den Kampf zwischen freiem Selbstentwurf und Strukturen fügt Améry in die Polemik für Sartre und gegen Foucault ein. Dieses Bewusstsein, diese Anklage wird auch auf die Bewertung der zeitgenössischen Literatur übertragen mit Verweisen auf James Joyce, Max Frisch und Uwe Johnson:

88 Jean Améry, „Strukturen“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, Werke 2, S. 322–349, hier: S. 335.

2.9 Intertextualitäten und Sprachkritik

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Mein Seinsraum entvölkert sich mit jedem Tage. Es hat keinen Sinn, weiterhin noch imaginäre Freundschaften zu pflegen mit Castorp oder einem eigenschaftslosen Ulrich, mit dem armen Teufel Leopold Bloom, mit all denen – sie mögen zu Hunderten sich aufsummieren –, die ein Leben lang mit mir waren. Anstelle ihrer tritt ein Gantenbein, der sich selber nicht kennt, oder irgendein X, über den nur Mutmaßungen anzustellen sind. Man wird bettelarm. Befreunde sich doch einer mit Strukturen! Trauriges Gelächter. Du solltest Besseres zu tun haben, als deine Emma Bovary zu beweinen, Tränen darüber zu vergießen, daß Tränen nur noch vergossen werden von undisziplinierten, unbegabten, unzeitgemäßen Irgendwers, wenn ihnen ein Irgendwer stirbt.89

Das Gedicht Hölderlins, das Améry in Auschwitz seine Kraft verwehrt hat, kehrt am Ende der Wanderjahre wieder zurück: The walls stand speechless and cold. Vier Wände eines Arbeitszimmers. Strukturen. Wer als Fremdling ihnen ausgeliefert ist, wird tiefes Verlangen spüren, stumm sein zu dürfen. Nicht jedem ist’s gewährt. Schreiben ist ein Metier wie irgendeines.90

Distanziert, in einer anderen Sprache, scheinen Hölderlins Verse die Wirklichkeit nun doch zu transzendieren.

2.9 Intertextualitäten und Sprachkritik Amérys In-der-Literatur-verwachsen-sein, sein Gebrauch der Literatur als Überlebensinstrument, als letzte Instanz seines Sprachvertrauens, zeigt sich im Laufe des ganzen Werkes. Er entwickelt einen Schreibstil, der die Trümmerbewältigung und Spurensuche des Subjekts mittels eines Sprachgestus betreibt, der die Sprache analysiert und auf ihre möglichen Bedeutungen hin abklopft, sie wörtlich in ihren Redewendungen übernimmt, um ihre Aussagekraft zu prüfen, sich von ihr zu distanzieren und sie zu demaskieren. In dieser extrem sprachbewussten, sprachkritischen Haltung bleibt Améry seinen Anfängen im Wiener Kreis treu. In den Unmeisterlichen Wanderjahren schreibt er zu den aus der Wortkunst von Mallarmé bis Heidegger gespeisten Werken, die er als „Verbalgewitter“ betrachtet: „Alle sinnvollen Sätze müssen rückführbar sein auf Sätze mit wahrnehmbaren Prädikaten. Oder: der Sinn eines Satzes ist der Weg seiner Verifizierung.“91

89 Ebd., S. 333. 90 Ebd., S. 349. 91 Jean Améry, „Die scheinbaren Scheinfragen“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, Werke 2, S. 212–238, hier: S. 215.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Und doch erinnert seine akribische, dem Sinn nachspürende, suchende Sprachverwendung an Heidegger und Sartre. Er treibt die Wortbildung zu extremen Konsequenzen, er benutzt die Wörter, indem er ihrem Sinn in ihrer Etymologie nachspürt, indem er parallele Bedeutungen spielen lässt. Von den jungen Leuten schreibt er, sie seien gar nicht um soviel „gescheidter – ich schreibe das mit dt, Hinweis auf die Etymologie“92, und reflektiert so die Ambivalenz und den konkreten Wert ihrer Gescheitheit. Von dem Intellektuellen in der Konsumgesellschaft schreibt er: „Er glaubt, dass er reflektiere. Freilich doch, man kann es sagen: er reflektiert, strahlt genau das zurück, womit man ihn anleuchtet.“93 Mit Präfixen wie ent- und un- entwickelt er seine eigene Dialektik der Negation. In Über das Altern wird das Abstempeln des Alternden durch die Gesellschaft mit Adjektiven, die alle mit un- beginnen, durchschaut (unfähig, ungeschickt, unerwünscht, ungesund, un-jung).94 Seine Kenntnis des Französischen kommt ihm für seine bohrende Sprachbenutzung sehr zu nutze, er kreiert Neologismen, zögert nicht, französische Formen zu übernehmen, hält dies sogar für eine Befreiung gegenüber der eigenen Sprache, dem Deutschen. Unter die Lupe nimmt er auch Phraseologismen und lexikalisierte Metaphern. Wenn er von seinen Gesprächen mit dem Philosophen Georg Grelling, mit dem er zusammen ein Buch schreiben soll, im Lager Gurs erzählt, sieht die Beschreibung Grellings, der einen Ruf an eine Hochschule in New York erhalten hat und sich darauf vorbereitet, folgendermaßen aus: „Er kam, wie man’s nennt, nicht zum Zuge, wurde vielmehr getrieben in einen Zug, der ihn nach Auschwitz fuhr. Laval hatte die Weichen gestellt.“95 Die Schwierigkeiten, die aus einer solchen sprachspielerischen, sprachkritischen Haltung für einen Übersetzer entstehen, sind leicht vorstellbar. Seine sprachkritische Haltung ist von den Wiener Kreisen bedingt. Im Grunde ist er immer seinem sprachkritischen Neopositivismus treu geblieben. Als Schriftsteller, als Denker und Essayist bemüht er sich aber darum, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern, gegen die entschlafenen Wörter zu kämpfen, plädiert für die Kommunikationsmöglichkeiten der Sprache, für ihre Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu denken, zu bedenken, zu sagen. In dieser Hinsicht polemisiert er auch gegen Wittgenstein in der Schrift, die er zu dessen 25. Todestag verfasst hat und die sich in Marbach unter den Texten des Améry-Nachlasses befindet. Es ist sicher nicht von ungefähr, dass er sich besonders an den Aphorismen Wittgen-

92 Améry, „I. Frühe Weigerung“, S. 197. 93 Ebd., S. 200. 94 Vgl. dazu Petra S. Fiero, Schreiben gegen Schweigen. Grenzerfahrungen in Jean Amérys autobiographischem Werk, Hildesheim/Zürich/New York 1997, S. 121 f. 95 Jean Améry, „Debakel“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, Werke 2, S. 239–267, hier: S. 239.

2.9 Intertextualitäten und Sprachkritik

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steins aus den Philosophischen Untersuchungen über die Kommunizierbarkeit des Schmerzes, einer individuellen Empfindung, stößt, die einen Satz wie „Ich habe Schmerz“ sinnlos erscheinen lassen: „Ist es noch nötig, darauf zu verweisen, dass hier eine logische Haarspalterei betrieben wird, die nachgerade scholastische oder talmudische Dimension annimmt?“ Amérys radikales Fazit lautet: „Wittgenstein ist ein gefährlicher Denker. Ihm verfallen, heißt, die Wirklichkeit verlieren.“96 Man verliert die Wirklichkeit, wenn man die Aussagekraft der Sprache anzweifelt, wenn man ihre Möglichkeiten, über die Realität etwas auszusagen, verneint. In dem Vortrag Vertrauen an die Sprache, 1973 in Graz gehalten und im Nachlass zu finden, definiert Améry sein Vertrauen in die Sprache als „wesentliches Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation. […] Das Vertrauen an die Sprache ist Teil des Weltvertrauens überhaupt, Teil des Vertrauens auch in die Logik“97. Dazu sollte man aber wiederum nicht vergessen, dass Weltvertrauen und Vertrauen in die Logik ihrerseits durch die Erfahrung der Tortur und des Konzentrationslagers grundsätzlich in Frage gestellt worden sind. Eine weitere Behandlung der Tradition im metaliterarischen Sinn findet in den Unmeisterlichen Wanderjahren statt. Dort ruft er niemand Geringeren als Goethe zum Zeugen. In seinem Exposé schreibt er darüber, dass die GoetheAllusion kein Wortspiel sei, sie habe ironischen Charakter, „und die konkrete Bedeutung der Un-Meisterschaft soll sinnfällig werden an der Relativität und Historizität aller Erscheinungen, die zu ihrer Epoche als autonom und mit dem Anspruch auf Endgültigkeit aufzutreten pflegen“98. Goethe selbst hat seinen Roman als „Aggregat“ definiert, als Summe von Elementen, die sich aufeinander beziehen. Ein Bezug, der bei Améry durch die Figur des Ich gegeben wird. Der Begriff der Wanderjahre zeigt sich als eine vorzügliche chronotopische Metapher, um sein Schreiben zwischen Erinnerung und Zeitanalyse zu entwickeln, um die Polyphonie der verschiedenen Stimmen der Geschichte zu artikulieren, um die Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit polemisch zuzuspitzen. Was die Meisterschaft betrifft, so wehrt sich der Text gegen jede Meisterschaft. Aber indem er eine Zeitanalyse aufbaut, die von der Erlebniswelt des Subjekts bestimmt wird, wird das Exemplarische dieses Subjekts deklariert. Programmatisch setzt sich Améry mit seinem Titel vom Ziel

96 Jean Améry, An den Grenzen von Sprache und Wirklichkeit. Zum 25. Todestag Ludwig Wittgensteins, Nachlass Jean Améry im Marbacher Literaturarchiv, Mk. 81.1227, S. 8. 97 Jean Améry, „Vertrauen an die Sprache“ (Vortrag in Graz, 21.10. 1973), Nachlass Jean Améry im Marbacher Literaturarchiv, Mk. 81.1328, S. 9. 98 Améry, „Unmeisterliche Wanderjahre. Exposé“, S. 734.

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des klassischen Bildungsromans ab. Genauso programmatisch hält er aber an der menschlichen Erfahrungswirklichkeit und Wahrheit des Einzelnen fest. Améry benutzt systematisch die Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition, das Zitat und die Paraphrase, die Intertextualität beim Schreiben als Subjektkonstitution. Damit kommen seine Texte auch als Vorschläge an den Leser, der mit dem eigenen Kulturgut konfrontiert wird und sich diesem stellen muss, der den Text in eine lange Sequenz miteinander verbundener Aussagen einbauen muss. Das Zitierte hat verschiedene Funktionen: Es benennt das Grauen mit schon benannten Sätzen, es verweist, es distanziert, es entlarvt. Wenn Améry von seiner waldgängerischen Jugend erzählt, stehen auf wenigen Zeilen intertextuelle Verweise auf Heym, Trakl, Holz, die Zeitschrift Phantasus und Brecht: Waren die Städte nicht Verlorene und Aufgelöste? Saß nicht ihr Gott, ein Baal, breit auf einem Häuserblock? Stand nicht ein Kreuz auf ödem Hügel, und verlor nicht im Walde, ja, im Walde und nicht in den Straßen, sich eine rote Herde, und war man nicht mit dem Phantasus eher waldverloren als im Dickicht der Städte?99

Die ersten drei Kapitel der Unmeisterlichen Wanderjahre leben geradezu von literarischen Intertextualitäten. Sie sind ein wesentliches Merkmal der Polyphonie des Textes und damit seines Reichtums. Darüber hinaus sind sie aber auch ein fundamentales Merkmal des Vertrauens in die Sprache, in die Erzählbarkeit der Welt, in die Kommunikation. Die Autobiographie ermöglicht einen philosophischen, zeitgeschichtlichen, existentiellen Diskurs, bedingt und strukturiert ihn zeitlich. Die autobiographischen Details werden jedoch mit extremer Sparsamkeit bis hin zum Lakonismus beschrieben. Améry lehnt es ab, Geschichten über sich zu erzählen, geht von der Introspektion aus, um seine Gedanken in abstraktere Räume zu führen, um über die Existenz, das Zeitvergehen, die individuelle Existenz als Objekt (Opfer) – oder auch als Subjekt der Geschichte zu reflektieren. Die Unmeisterlichen Wanderjahre gehen den historischen Erfahrungsräumen des Ichs reflektierend nach, zeichnen sein gefährdetes Überleben nach, seine Zerstörung, seine Selbstzerstörung. Sie versuchen, mittels Trümmerbewältigung ein neues Ich aufzubauen. Am Ende stehen folgende Sätze, die ein Appell sind für die Einzigartigkeit dieses Ichs: „Der Mensch, den du kanntest, das warst nur du. […] Der Mensch, den du von der Zukunft fordertest, das war nichts anderes als die weit über deine Zeit und deine Lebenserwartung hinaus geworfene Person.“100

99 Améry, „Frühe Weigerung“, S. 195 f. 100 Améry, „Strukturen“, S. 343 f.

2.10 Amérys Tortur, Lefeus Worte

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Schon Manfred Durzak hat auf die utopische Dimension dieser Subjektkonstruktion hingedeutet.101 Dieses Ich, Opfer der Zeitgeschichte, das Tortur und Konzentrationslager erlitten, die Auslöschung überlebt hat und nun eine eigene Trümmerbewältigung und Spurensuche betreibt, bestätigt und fordert seine eigene, subjektive Erfahrungsweise als Garant seiner Menschlichkeit. Darüber hinaus behauptet es das Recht dieser Menschlichkeit, den Wahrheitsanspruch dieser Subjektivität gegenüber jedem anderen theoretischen, philosophischen oder historischen Wahrheitsanspruch. Auch hier Sartre gegen Foucault, gegen Strukturen. Amérys Schreiben ist Subjektkonstruktion: Gerade weil er den übermächtigen Strukturen der nationalsozialistischen Gewalt, der radikalen Entpersönlichung ausgeliefert war, setzt er das existentielle Ich den Strukturen gegenüber und gibt die Aufklärungsutopie des mündigen Ichs nicht preis.

2.10 Amérys Tortur, Lefeus Worte Gleich nach den Unmeisterlichen Wanderjahren schreibt Améry Lefeu oder Der Abbruch, von ihm als Roman-Essay definiert. Wenn er in den Unmeisterlichen Wanderjahren die eigene Biographie inszeniert und in ihr Zeitabschnitte sucht, die mit den philosophischen Ideen der Zeit enggeführt werden, schreibt er jetzt ein fiktionales Werk, in dem eine (Wunsch)Biographie essayistisch bearbeitet wird. Im letzten Kapitel des Lefeu beschreibt er gewissermaßen metapoetisch den Prozess des Schreibens am Roman. Es ist ein ganz anderer als der des Essays, er wird vom Erzählen getragen, von einem gewissen ‚sich gehen lassen‘ in der Sprache, von einer Befreiung sogar. Aber auch das fiktionale Erzählen mündet schließlich im Autobiographischen, gerät in den Bereich des Autofiktionalen: „[D]er Mann, aus dem später Lefeu wurde, führte eben die Existenz (so schien es mir), die durchzustehen ich selber die Courage nicht hatte.“102 Die Voraussetzungen des Schreibens sind anders, der Prozess geht in nicht kontrollierbaren Regionen von sich, im halb Unbewussten: Beim Einschlafen, morgens während der Rasur, im gelegentlichen Spazierengehen durch benzinverdampfte Straßen in Brüssel umschlangen einander die Figur des späteren Lefeu, die sehr alten Erzählerwünsche, die hartnackig selbstgrübelnde (um nicht gestelzt zu sagen: ichsuchende, ichfindende) autobiographische Intention.103

101 Vgl. Manfred Durzak, „Autobiograhische Gewissenserkundung. Zu Jean Amérys Unmeisterlichen Wanderjahren und Örtlichkeiten“, in: Heidelberger-Leonard (Hrsg.), Über Jean Améry, S. 69– 79, hier S. 69 f. 102 Améry, Lefeu oder Der Abbruch, S. 482. 103 Ebd.

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Insofern ist es ein befreiender Prozess, er stellt aber letzten Endes auch die rationale Sprache in Frage, die er benutzt. So wie Améry den Prozess des Schreibens beschreibt, scheint es, als ob das fiktionale Schreiben, das Erzählen, ihm viel mehr Möglichkeiten des Sagens ermöglichen würde: Die autobiographische Intention ließ sich, Narzißmus hin, Exhibitionismus her, nicht einmal im Zustande des Halbdenkens, in dem das Projekt lange Zeit erwogen wurde, eliminieren. Der Prozess der Identifikation mit dem Maler Lefeu vollzog sich, ehe an eine Niederschrift überhaupt noch gedacht wurde. Zur gleichen Zeit spielten sich in einer helleren Bewußtseinsschicht Verläufe ab, die präzise nachzuzeichnen mir keine Schwierigkeit bereitet. […] Was ich da und dort zum Beispiel in meinen Büchern „Über das Altern“ und „Unmeisterliche Wanderjahre“ geschrieben hatte, es mußte neu, entschiedener, genauer formuliert werden. Das Problem der Sprache wartete ebenfalls längst auf das ihm zukommende gründlichere Nachdenken und auf schärfere Aussagen. Über die Revolution und Violenz hatte ich manches geschrieben, was mir längst als schal und unzureichend erschien.104

Der Protagonist, Lefeu, ein Maler, der im Prinzip durch den realen Maler Erich Schmid inspiriert war, wird zu einem Alter Ego, zu einer Wunschbiographie Amérys. Schmids Selbstporträt, Unglücksvogel betitelt, wird zur Metapher der gesamten Existenz der beiden Künstler. Lefeu altert und verfällt und in einer konsequenten, radikalen Revolte gegen seine Zeit verweigert er sich allen Erfolgsmöglichkeiten in der Gesellschaft, allen Instrumentalisierungen seiner Kunst. In den letzten Kapiteln der Unmeisterlichen Wanderjahre hatte Améry gegen die geistigen Strömungen der 70er Jahre revoltiert, gegen den Strukturalismus und auch gegen die Dialektik der Frankfurter Schule. Amérys und Lefeus Revolte geschieht im Namen der Individualität, des Subjekts, des Opfers. Und in dessen Namen wehrt sich Améry auch gegen die literarischen Tendenzen der Zeit. Lefeu ist genau das Gegenteil von Gantenbein. Er braucht aber dafür auch eine eigene Sprache. Eine Sprache, die im Verhältnis zu den Dingen steht – hier verweist Améry direkt auf Foucault, dem er zu dieser Zeit einen sehr kritischen Essay widmet, – und im Verhältnis zum Leiden. Bezeichnenderweise trägt ein Kapitel von Lefeu den Titel „Die Wörter und die Dinge“. In ihm wird das Verhältnis Lefeus zu seiner Freundin Irene thematisiert, deren Gedichte Sprachexperimente sind, die, laut Lefeu, das Verhältnis zur Realität verloren haben. In dem Abschlusskapitel, das ich oben zitiert habe, schreibt Améry von der Notwendigkeit, sich mit dem Sprachproblem gründlicher als bisher auseinanderzusetzen. Damit meint er, sprachkritisch geschult, das Ausleuchten des Verhältnisses zwischen Sprache und Welt, Wörtern und Dingen, die Möglichkeit über die Wirklichkeit Fundamen-

104 Ebd., S. 483.

2.10 Amérys Tortur, Lefeus Worte

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tales auszusagen; damit meint er das Vertrauen in die Sprache und das Wissen um ihre Grenzen. Im Exposé zu Lefeu verweist er noch eindrücklich darauf, dass die wesentliche formale Grundlage das Vertrauen in die Sprache sei: „Ja, die Sprache kann Wirklichkeit vermitteln, ohne daß diese in jener aufginge; ja, die Sprache ist als Kommunikator auch kompliziertester Sachverhalte brauchbar. Es kommt darauf an, was gesagt wird: nicht auf das, was unausgesprochen bleibt.“105 In dem Maße aber, in dem der Konstitutionsprozess des Roman-Essays im Halbbewussten vor sich geht, entschlüpft auch die Sprache des Romans den rationalen essayistischen Intentionen, der klaren Logik der Sätze. Sie erweist sich im Laufe des Romans als problematisch; eigentlich demontiert die Entwicklung des Romans die Sprache, die in den theoretischen Ansätzen dokumentiert wird, so dass das, was unausgesprochen bleibt, doch seine beunruhigende Präsenz signalisiert. Der Roman-Essay ist in der dritten Person einer Erzählstimme geschrieben, die aus der Perspektive Lefeus erzählt. Aber diese Erzählperspektive ist insofern polyphon, als sie die Sprache von unterschiedlichen Instanzen einnimmt, auch Dialoge mit verschiedenen Stimmen einbaut. Die Erzählstimme gibt sowohl den Diskurs Lefeus wieder wie, in seinen Diskurs eingebaut, die Worte der Galeristen aus Düsseldorf, die seinen Unglücksvogel ausstellen und ihn mit einem neuen Begriff, „metaphysischer Realismus“, in Mode bringen wollen, oder die Worte der Nachbarn. Lefeu wohnt in Paris in einem Bau, der abgerissen werden soll; er weigert sich systematisch, seine Wohnung zu räumen und in die neue zu ziehen, die man ihm zugewiesen hat. Inmitten des allgemeinen Verfalls bleibt er in der Ruine, zu der allmählich, seine Wohnung wird, und verfällt selbst zusehends. Die Sprachproblematik kommt besonders in der Beziehung von Lefeu und seiner Freundin Irene zur Sprache. Irene ist Dichterin und schreibt hermetische Gedichte, in denen sie die Sprache zertrümmert und die, laut Lefeu, das Verhältnis zur Wirklichkeit verloren haben. Ihre Gedichte kommen aber nur über Lefeus Kommentare an den Leser, sie werden nicht von Irene rezitiert oder im Text wiedergegeben. In dem Maße, in dem die Gedichte – laut Lefeu – ihren Aussagecharakter verlieren, verfällt Irene der Kommunikationsunmöglichkeit und dem Wahnsinn. Sie hat keine Sprache im Text, nicht einmal die Sprache ihrer Gedichte, sie schaut nur an die Decke und reagiert überhaupt nicht auf Lefeus Sprechen, auf Lefeus Argumentation, auf Lefeus Verzweiflung. Beide kommen nur in der Liebe zusammen; dies ist der einzige Moment, in dem Irene spricht: Sie verbalisiert den Liebesakt mit dem, was Lefeu mots orduriers nennt, die beide zur Lust bringen,

105 Jean Améry, „Lefeu oder Der Abbruch. Konzept zu einem Roman-Essay (1972)“, in: Anhang zu Lefeu oder Der Abbruch, Werke 1, S. 649–659, hier: S. 649.

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die beide vereinen, die aber für den Leser nicht transkribiert werden. Diese Wörter lässt Lefeu gelten: „Denn sie, diese schmutzigen Wörter, gehören dem echten Verfall an, mittels dessen ich protestiere, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, amen.“106 Sie haben Aussagewert und Funktion, direkt physische, erotisierende Funktion. Irenes Gedichte aber haben auf den Aussagesinn verzichtet, so Lefeu, der das Gedicht Pappelallee paraphrasierend ironisiert: Exemplifizieren wollte ich nur deine Preisgabe jeglichen Aussagesinns, des Un-sinns, der notwendigerweise im Nichtsinn verborgen liegt – ich sage nicht: des Wahnsinns, aber das Wort liegt mir entsetzlich nahe und ent-setzt mich, so daß ich vom Lager aufspringen möchte und schreien, ja, schreien, dich zurückrufen in unsere Welt des Verfalls, die sich auflöst zwar, aber nicht in Un- und Wahnsinn sich negiert! (Leise zu sagen: je t’aime beaucoup, je serais terriblement seul sans toi, seul, seul, söll wohl!) Der Wahnsinn scheint ansteckend zu sein, entgegen allen diesbezüglichen Erkenntnissen der Psychiatrie.107

In dem Maße aber, in dem sich Lefeu den mots orduriers, den Wellenbewegungen der Liebe und den Überlegungen zu Irenes Pappelalleegedicht überlässt, erscheinen eine Reihe von Assoziationen, die letzten Endes sein Vertrauen in den Sinn der Sätze ins Wanken bringen und die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen, der wiederum auf die Erinnerung des Lagers, auf Auschwitz zurückführt. In dem Versuch, den Unsinn von Irenes Pappelalleegedicht zu dokumentieren, entstehen Assoziationen und Impressionen, die doch etwas Bestimmtes aussagen: „[D]as Pappelalleegedicht könnte die Impression einer Autofahrt auf einer route départementale wiedergeben: flugs landest du in der französischen Übertragung in einem rüstigen Revolutionsgesang.“108 So argumentiert Lefeu, und offensichtlich ist diese zwingende Assoziationsmöglichkeit ein Manko für ein Gedicht, das auf Sprachsinn verzichten wollte. Wieso aber „route départementale“ und „Revolutionsgesang“? Zwei Kapitel weiter fährt Lefeu auf einer route départementale, und sieht die Flammen des Gaswerks Gaz de Lacq. Sofort rufen sie eine Assoziation auf und provozieren eine unbewusste, fremde Erinnerung: an Auschwitz, an die Krematorien. Lefeus Vorfahren heißen Feuermann, sie sind in Auschwitz ermordet worden. Als Lefeu das Gaswerk sieht, überkommt es ihn: „Halten sie an: Ich erinnere mich.“109 Es ist eine fremde Erinnerung, denn nicht er hat das Erinnerte erlebt. Sie lebt aber in ihm, als kollektive Erinnerung, als notwendige Assoziation. Es folgt der Versuch, die Thematik der fremden (kollektiven, jüdischen) Erinnerung in 106 107 108 109

Améry, Lefeu oder der Abbruch, S. 383. Ebd., S. 359 f. Ebd., S. 359. Ebd., S. 423.

2.10 Amérys Tortur, Lefeus Worte

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Sprache wiederzugeben: die Verhaftung und Deportation seiner Familie, die Reise nach Osten, das Grab in den Lüften. Lefeu setzt einige Male an. Es lohnt sich, diese Versuche genauer anzuschauen, denn sie bezeugen das Ungenügen der Sprache angesichts des Schmerzes, des Horrors; sie enden in Sprachlosigkeit: Feuermann. Stuttgart. Stiefelfüße, schwer aufgesetzt. Gepolter und Gelächter im Korridor. Raus mit euch – oder so. So oder anders muß es gewesen sein. Eilige Hände in Schränken und Läden, das Nötigste wird mitgenommen, aber was ist das Nötigste? So oder anders. Vielleicht auch Schluchzen einer alten Frau und bebende Finger, die nach einem EK I suchen. Züge: Räder müssen rollen für den Sieg, unnötiges Reisen verlängert den Krieg. Nötige Reisen ostwärts, unerläßliche Fahrten durch Tage und Nächte, deren Ziel die Flammen sind. C’est lou Gaz de Lacq. Wenn selbst in cruzialen Momenten einer Existenz nur Wörter sich darbieten, die durch den dokumentarischen oder auch dichterischen Verbrauch (ein Grab in den Lüften) vollkommen ausgelaugt, also zwar sachlich durchaus be-deutend, aber dem Erlebnishorizont nicht gemäß sind, wird der wortohnmächtige Betroffene eine Tendenz haben, auf die Aussage zu verzichten und die sich einschiebenden Wortgemächte von sich zu schieben: mit Ekel.110

Das Bild lässt sich nicht verdrängen; ein weiterer Versuch, es durch Sprache zu bewältigen, endet genauso radikal: Die bebenden Hände hielten das Eiserne Kreuz hoch, der Büttel zuckte kaum die Achseln und trieb zum Ausbruch an, mit los, so oder so. Oder so. Die Wörter, wie es auch bestellt sei um ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, sind zu unterdrücken: um der Wirklichkeit tödlicher Ehre willen.111

Fritz Mauthners Wortfetische112 klingen bei dem erneuerten und letzten Versuch an, indem auf einen – unmöglichen – nicht ästhetisch verderbten Lefeu hingewiesen wird: Der verliebte Einfaltspinsel oder ein nicht ästhetisch verderbter Lefeu würde demnach in unerschütterlicher Legitimität und im Zustand totaler Erlebnisdichte sagen: Vater zeigte das EK I und Mutter weinte leise vor sich hin, aber die Männer kannten kein Erbarmen. Doch wie die Dinge nun einmal liegen (denn es ist unmöglich, abzusehen von der Bedingtheit durch Bildungsfakten), müssen die Wörter verstoßen werden und anstatt ihrer entringt sich noch einmal ein unterdrückter Lachwehlaut dem gequälten Thorax.113

110 Ebd., S. 423 f. 111 Ebd., S. 425. 112 „So hat der Dichter und Denker unserer Zeit alle Wortfetische zweier Jahrtausende in seinem Gehirn beisammen und kann kein Urteil mehr fällen, kann kein Gefühl mehr ausdrücken, ohne daß die Worte […] verraten, dass sie halbverweste Gerippe sind“ (Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache 2: Zur Sprachwissenschaft, Leipzig 31923, S. 291). 113 Améry, Lefeu oder der Abbruch, S. 426.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Dieser Lachwehlaut aber verweist auf den Lachwehlaut Irenes bei der Liebe: „Daß die schwingenden Laute verwandt sind jenem Stöhnen, das Irene bei Lefeus Hand- und sonstigem Werk zu hören gibt“114, stellt Lefeu fest, indem er jetzt selbst erinnert, nämlich Irenes Lachwehlaute erinnert. Die Unmöglichkeit Lefeus, den Abtransport seiner Eltern erzählend zu erinnern, die richtigen Worte zu finden, bringt ihm Irenes Dichtung nah: Die Pappelallee wird zur Pappelallee an der route départementale vor Gaz de Lacq, damit aber auch zur Pappelallee vor Auschwitz. Der Lachwehlaut, der Irene und Lefeu vereint, steht im Verhältnis zur Unsagbarkeit. Jetzt kommt Sinn in die Verse Irenes, vom Leser Lefeu gegeben, jetzt wird auch die Notwendigkeit, Sprache zu zertrümmern, evoziert. Letzten Endes muss Lefeu bei Irene Abbitte leisten: Im letzten Kapitel seiner Geschichte, bezeichnenderweise Nachtflug betitelt, wendet er sich nochmals an sie: „Längst bin ich nicht so sicher des Sinnes der Sätze, meine Freundin, muß manches dir abbitten. Pappelallee, zum Beispiel. Und warum nicht so dichten? Laß mich ruhig ein, Irene, ich habe keine schlimmen Hintergedanken, […] will nur wissen. Wissen.“115 Es ist aber Lefeu, der den Sinn der Verse interpretiert. Irene kann nichts mehr dazu sagen, die Gefahr ihrer Sprache zeigt sich darin, dass sie (wahrscheinlich) in Wahnsinn versinkt. Wahrscheinlich: Der Roman lässt ihr Ende offen, er entlässt sie mit verschiedenen Möglichkeiten. Sie geht vielleicht zu dem Wochenblatt zurück, bei dem sie als Reporterin arbeitet, und rettet sich in die Banalität der Alltagssprache, möglicherweise wird sie letzten Endes in eine Irrenanstalt (Lefeu schreibt „Irenenanstalt“) eingeliefert, und vielleicht sucht sie auch selbst den Tod und kommt damit Lefeu zuvor. Die chronotopische Metapher der Wanderjahre hat sich in Lefeu zum Nachtflug über Paris geändert, vom Unglücksvogel Lefeu getragen. Goethe ist durch den verkrachten Maler Erich Schmid, der Dichter durch den Maler ersetzt worden. Die Autobiographie wird ästhetisiert, fiktionalisiert, der Roman essayistisch untermauert und zum biographischen Entwurf stilisiert. Fliegen bietet im Unterschied zum Wandern eine viel souveränere Perspektive, eine von oben auf die Welt, eine göttliche geradezu. Aber Lefeu stellt sich als Unglücksvogel dar, sein Wissen ist ein unglückliches, ein nächtliches, und sein Fliegen geschieht im Wechsel mit seinen Clochardstreifzügen durch Paris, nachdem seine Wohnung nun doch eingerissen worden ist. Auch Lefeu ist voller literarischer Verweise: auf Goethe und auf Heines Matratzengruft, hauptsächlich aber auf Mörikes Feuerreiter, deren rote Mütze das Kapitel betitelt, in dem Lefeus Gaz de Lacq-Erlebnis der mémoire involontaire

114 Ebd., S. 425. 115 Ebd., S. 459 f.

2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte

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stattfindet. Bezeichnenderweise kommen die Metaphernkomplexe vom Unglücksvogel (oiseau de malheur) und vom Feuerreiter erst nach Lefeus Überwältigung vom Gaz de Lacq zur vollen Entfaltung. Das Rot ist ein Leitmotiv des gesamten Romans, es taucht in Bildern Lefeus auf und vereinigt sie mit dem Feuer, den Flammen von lou Gaz du Lacq und den Krematorien in Auschwitz, dem gespenstischen Feuerreiter in seiner Ambivalenz zwischen Revolutionär und Brandstifter, dem Feuerphantom, in dem Lefeu Paris brennen zu sehen glaubt, und dem Brand, dem er sein eigenes Werk hingibt. Es symbolisiert so auch, über die Rückkehr des Verdrängten in dem Erlebnis der unwillkürlichen Erinnerung, die Unmöglichkeit des Verdrängens, des Vergessens. Denn am Ende des Lefeu taucht der Verweis auf Lager und Tortur wieder auf: „Schwarz, tief in der Ecke drunten, durch gelbe Flecken verschandelt, die schon Verbrannten, deretwegen das Schultergelenk sich regt.“116 Der Verweis erscheint distanziert, als Wahnbild, weiterhin im Körper präsent, weiterhin geschildert. Eines der fundamentalen Argumente von Améry gegen Foucault ist, dass die Schrift Zeugenschaft sei, der Autor bürge für sie mit seinem Leben.117 Zum Titel des Romans schreibt Irene Heidelberger-Leonard, dass Abbruch Programm sei: Abbruch der Mietskaserne, Abbruch der geschichtlichen Illusionen über das Résistance-Land Frankreich, Abbruch der Malerei im Autodafé, Abbruch des Mitmenschen Irene, Abbruch der verifizierbaren Sprache. Und sie fragt sich, ob Lefeu nicht doch die Alternative zum Abbruch wäre: „Noch klagt Lefeu als Subjekt seine Existenzberechtigung ein. Auch wenn der Text sein Verschwinden inszeniert, es hat ihn gegeben. Er ist sogar der Autor seines eigenen Verschwindens.“118

2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte Der letzte Roman-Essay Amérys, Charles Bovary, Landarzt (1978), ist das radikalste Dokument seiner Nutzung von Literatur als Lebensbewältigung, als Subjektkonstruktion, seiner Bewertung der Literatur als utopischer Folie für die Wirklichkeit, seiner radikalen Befürwortung der eigenen, auf der Erfahrung des Opfers beruhenden Subjektivität. 1971 schreibt Jean Améry drei bemerkenswerte literaturkritische Essays: Die Stunde des Romans. Zum 150 Geburtstag des Meisters der Bovary, Die Wörter

116 Ebd., S. 477. 117 Siehe dazu das Kapitel „Die Wörter und die Dinge“ in: Ebd., S. 354–385. 118 Irene Heidelberger-Leonard, „Nachwort“, in: Jean Améry, Werke 1, S. 688 f.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Gustave Flauberts. Über Jean Paul Sartres ‚L’idiot de la famille‘ und Zugang zu Marcel Proust. Zum 100. Geburtstag des Dichters. Es handelt sich dabei nicht um Gelegenheitsdichtung: Améry nutzt die Anlässe, um über für ihn besonders bestimmende Autoren und Meister zu schreiben. Proust ist (zusammen mit Thomas Mann) einer seiner liebsten Autoren; er bezeichnet die Recherche als Jahrhundertwerk. Sartre war sein Meister gewesen. Und Emma Bovary gehört zu den literarischen Figuren, denen er mehr Wirklichkeit als vielen realen Personen im Leben zuspricht. In dem Aufsatz über Sartres riesige Flaubert-Monographie geht Améry jedoch auf Distanz zu seinem Vorbild und in seiner letzten Arbeit, Charles Bovary, Landarzt, wenige Wochen vor seinem Freitod 1978 erschienen, rechnet er mit Sartre und auch mit Flaubert ab, protestiert gegen die Art, wie Flaubert den armen Charles in seinem Roman behandelt. Charles Bovary, Landarzt ist, so wie Irene Heidelberger-Leonard es formuliert, das literarische Testament Amérys. Der Roman-Essay bildet den Schlusspunkt einer sehr konsequenten Evolution in der literarischen Praxis des Autors; er zeigt auch, wie bei ihm literarische Kritik und literarisches Schaffen reibungslos ineinander übergehen, wie Lesen und Schreiben, Literatur und Essay eine Einheit bilden, die stets ungehemmt von der eigenen Biographie bestimmt wird. Er zeugt von der Radikalität, mit der Améry die Frage behandelt, wie es um das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Literatur, zwischen der Sprache und den Dingen, die sie benennt, bestellt ist. Das Lesen von Literatur wird für Améry ebenso vom Leben bestimmt wie das Schreiben. Das schreibende Ich geht von seiner traumatischen Zeiterfahrung aus; diese bestimmt den eigenen Blick beim Lesen und fundiert seine Gültigkeit beim Schreiben. Es geht um radikale Subjektbezogenheit und diese prägt auch den Realitätsbegriff. Amérys literaturkritische Essays sind autobiographische Leseerfahrungen,119 oder, wie er einen Aufsatz über Thomas Mann betitelt, „Bergwanderungen“. Die Literatur wird als Folie benutzt, die auf die Realität verweist; sie bekommt damit eine wichtige utopische Dimension. Was Améry bei Proust vor allem schätzt, ist, dass er seine Figuren nicht beschreibt, sondern höchstens andeutet: Er habe erkannt, es sei unstatthaft, sein Anschauen für das Anschauen schlechthin zu halten, da die Figuren von verschiedenen Mitspielenden jeweils anders gesehen werden: „Die Größe der Recherche sagte ich, sei nicht Verdichtung, sondern Zerlösung der Wirklichkeit.“120 Eine „Zerlösung“ der Wirklichkeit, die man nur aus der eigenen Perzeption beschrei119 Vgl. Hans Höller, „Nachwort“, in: Ders. (Hrsg.), Anhang zu Aufsätze zur Literatur und zum Film, Jean Améry. Werke. 5, Hans Höller (Hrsg.), Stuttgart 2003, S. 581–593. 120 Jean Améry, „Zugang zu Marcel Proust“, in: Ders., Leben mit Büchern, Werke 5, S. 86–115, hier: S. 104.

2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte

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ben kann, die letzten Endes von der eigenen Biographie bestimmt ist, einer Biographie, die Überleben als Chaosbewältigung sieht. Von seiner eigenen Biographie aus lesend, schätzt Améry an Proust im Laufe des Aufsatzes plötzlich die Hilflosigkeit Prousts vor der Wirklichkeit nicht als Methode, sondern als „gelebtes Dasein“121. Améry erinnert daran, dass Proust Halbjude zur Zeit der Affäre Dreyfus war und außerdem Homosexueller: Er selbst, ein Ich, das nichts war als das Mach’sche „Bündel von Empfindungen“, war zu weit fortgeschritten in der Erkenntnis der Unerkennbarkeit, als daß er hätte zurückfinden können zur Naivität des „Jetzt und Hier“, des „So-ist-es-gewesen“, war zu tief vorgedrungen in die Wirklichkeit, als daß er Wirklichkeit noch hätte formen können.122

Gerade das aber, nämlich mit Sprache Wirklichkeit zu formen und dabei etwas über die tatsächliche Realität auszusagen, ist das Vorhaben des Romans, ein Vorhaben, das Améry fasziniert, aber das er für nicht mehr möglich hält. Denn die Wirklichkeit ist extrem unwirklich geworden. Sie verflüchtigt sich vor unseren Augen, es verflüchtigt sich das Leben selbst, dem man keine höhere Ordnung zuschreiben kann, „so daß am Ende im Schlußband Die wiedergefundene Zeit entgegen des Autors eigener Absicht und Hoffnung das Ereignis der Vergangenheit, dessen die Erinnerung habhaft zu werden glaubt, so gut ist als wär’ es nie gewesen“123. Améry sieht bei Proust die exemplifizierte Unmöglichkeit „im Roman über die Realität Verbindliches auszusagen“124; Proust war es, der die Omnipotenz und Omnipräsenz des Erzählers in Frage stellte – und der aus dieser Erfahrung schrieb, ohne daraus eine methodische Ästhetik zu machen. Wenn Améry im gleichen Jahr 1971 über Flaubert schreibt und ihn den Meister des Romans nennt, ist dabei auch das Scheitern des Romans für die Zukunft gemeint. Es ist nur eine konsequente Radikalisierung, wenn Améry Proust für eine konstruktive, faszinierte Polemik in seinen Essay Über das Altern. Revolte und Resignation aufnimmt und hingegen 1978 in Charles Bovary, Landarzt eine Kampfschrift gegen Flaubert und seinen angeblich objektiven Realismus in Form von Literatur verfasst. Bezeichnenderweise sieht Améry 1971 in seinem Aufsatz über den „Meister der Bovary“ Flauberts Größe nicht in dessen impassibilité, sondern in der Subjektivierung seiner vermeintlichen Objektivität durch Metaphern: „Die Originalität des Romans liegt in der Transformation seelischer Wirklichkeit in Metaphern.“ Als Beispiel zitiert er die Beschreibung eines selbstvergessenen Augenblicks der Emma Bovary: „Unter ihren Füßen war der Boden 121 122 123 124

Ebd., S. 108. Ebd., S. 107. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

weicher als eine Welle und die Ackerfurchen erschienen ihr als immense, brandende Wogen, […] Wort und Bild, wortbildgewordene Trauer und Verzweiflung. Wer hätte solches vor Flaubert gekonnt?“125 Améry schätzt bei Flaubert „wortbildgewordene Trauer und Verzweiflung“, die durch Metaphorik evoziert wird. Wie steht es nun aber bei Flaubert um die Beschreibung der Dinge? Wenn bei Proust die Gestalten nicht oder kaum beschrieben werden, wenn man bei ihm kaum Information über eventuelle Monokel findet, geschieht bei Flaubert genau das Gegenteil. Die Dinge werden minutiös beschrieben und sie bestimmen die Realität der Menschen, die sie tragen oder sich mit ihnen umgeben. Charles Bovary beherrscht die ersten fünf Kapitel der Madame Bovary, und seine Protagonistenrolle wird schon in der ersten Szene über seine Mütze bestimmt. Es lohnt sich, diese Mütze bei Flaubert etwas näher ins Auge zu fassen. Sie wird mit enormem Aufwand beschrieben, mit so viel Detailreichtum, dass man sie im Laufe der Beschreibung schon aus den Augen verliert und von ihr nur der überwältigende Eindruck unbeschreiblicher Hässlichkeit bleibt.126 Wenn einer Figur eine solche Mütze aufgesetzt wird, ist es von vornhinein um sie geschehen, sagen wir uns als Leser: Aus diesem Protagonisten wird nichts. Schon die Beschreibung sorgt dafür, lässt dem Leser keine Möglichkeit einer anderen Perspektive auf Charles als diese schreckliche Mütze, die somit zur Metonymie für die unglückliche Romanfigur wird. Eigentlich hätte es der Strafe, zwanzig Mal „ridiculus sum“ schreiben zu müssen, die Charles an seinem ersten Schultag auferlegt bekommt, nicht bedurft, meinen wir als Leser; die Mütze bedingt und bestimmt

125 Jean Améry, „Die Stunde des Romans“, in: Ders., Aufsätze zu Flaubert und Sartre, Jean Améry,Werke 4, Hanjo Kesting (Hrsg.), Stuttgart 2006, S. 225–237, hier: S. 236. 126 Man kann nicht umhin, sich zu fragen, wie Flaubert auf eine so ungemein hässliche Mütze überhaupt kommen konnte: „Es war eine vielfältig gebaute Kopfbedeckung, eine, an der sich die Grundbestandteile einer Bärenfellmütze, einer Tschapka, eines steifen Huts, einer Otterpelzkappe und einer baumwollenen Zipfelmütze vereinigt fanden, eine Synthese von erdenklichen Abscheulichkeiten und Unbequemlichkeiten all dieser Dinge, ein ungeheuerliches Produkt der Hutmacherei, eine der albernen Schöpfungen des Menschen, die kläglich anzusehen sind, eines der armseligen Dinge mit einem Wort, bei denen sogar das Material jämmerlich anmutet und deren stumme Häßlichkeit Tiefen elenden Ausdrucks besitzt wie das Gesicht eines Schwachsinnigen. Sie war eiförmig, in der Mitte mit Fischbeinstäbchen versteift und begann mit drei kreisförmigen Wülsten, an denen auf dem Untergrund des pflaumenfarbenen Tuchs sich, getrennt durch einen roten Streifen, Rauten aus grünem Samt und Kaninchenfell miteinander abwechselten; dann erhob sich eine harte, sehr straffe Kuppel mit regelmäßigen Rippen, wie eine Melone, worauf eine Art Sack folgte, der in einen vieleckigen Pappdeckel auslief; er war mit komplizierter Litzenstickerei bedeckt, und darin hing an einem viel zu dünnen Faden eine kleine, eichelförmige Troddel aus Goldfäden“ (Gustave Flaubert, Madame Bovary: Sittenbild aus der Provinz; Urfassung, aus d. Franz. v. Ernst Sander, München 1969, S. 6 f.).

2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte

97

Charles’ lächerliche Realität. Sie tut es durch eine Zelebrierung der Sprache, in der keine reale Mütze mehr beschrieben wird, sondern ein Kompendium der möglichen Mützen männlicher Hutmode oder eine Narrenkappe. Die Mütze als Metonymie, als, nach Améry, „wortbildgewordene“ Lächerlichkeit, bestimmt die Figur durch die Omnipotenz der Erzählstimme, die noch weiter wütet und ihr die Strafe des „ridiculus sum“ antut; die Erzählerhaltung ist genau das Gegenteil der von Améry geschätzten Proust’schen Auflösung – Améry schreibt von „Zerlösung“ – der Wirklichkeit. Eine „Zerlösung“, in der es aber auch Beschreibung gibt; wir müssen hinnehmen, dass Améry über sie hinwegsieht, mutmaßlich weil sie, für ihn, einer anderen Erzählhaltung entspringt. Gegen diese totalitäre, Flaubert’sche Erzählerhaltung rebelliert Améry wenige Jahre später in seinem Charles Bovary, Landarzt. In seinem Protest lehnt er sich zugleich auch gegen Sartre auf und radikalisiert konsequent seine eigene Leseund Schreibhaltung. In seinem Exposé zum Roman-Essay, der wie alle weiteren Essays Amérys zuerst übers Radio an das Publikum gelangte, schreibt er: An Emma soll nicht gerührt werden: In meiner Erzählung bleibt sie ganz und gar Flauberts vibrierende, der bürgerlichen Moral unbewußt, darum aber nicht weniger nachdrücklich zuwider handelnde Madame Bovary. Was ich hingegen zu tun mich unterfange, ist die Ehrenrettung Charles Bovarys, des Individuums und des in ihm verkörperten bürgerlichen Subjekts.127

Man könnte sagen, dass Améry den Totalitätsanspruch der Flaubert’schen Impassibilité, der „Feder als Skalpell“ (Sainte Beuve), demoliert, indem er auf alle Inkongruenzen in der Beschreibung Charles’ eingeht; er entlarvt ihn als unglaubwürdig, er liest ihn sozusagen gegen den Strich und gibt Charles Bovary, als Opfer seines Schöpfers gesehen, die Möglichkeit zu einem neuen, würdigen, wenn auch tragischen Leben. Wenn bei Flaubert die ersten fünf Kapitel die Lächerlichkeit Bovarys, aber auch seine Güte festlegen, zeigt der Schluss ihn in einer erstaunlichen Bestimmtheit: Er stirbt mit einer Locke Emmas in der Hand, entsagt also nicht seiner Liebe zu ihr. Um ihn zu „rehabilitieren“, fängt Améry gerade mit dieser Schlussszene an; er lässt Charles die gleichen Worte wie Flaubert sagen. Nur: Als Anfang eines Monologs, einer Totenklage, zeigen sie die Figur in geradezu tragischer Größe: Ich will, daß man sie in ihrem Brautkleid bestatte, in weißen Schuhen, mit dem Brautkranz. Ihr Haar soll man über ihre Schultern breiten. Drei Särge, einer aus Eiche, einer aus

127 Jean Améry, „Charles Bovary, Landarzt. Exposé“, in: Anhang zu Charles Bovary, Landarzt, Werke 4, Hanjo Kesting (Hrsg.), S. 279–294, hier: S. 281.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

Mahagoni, einer aus Blei. Und daß man mir nicht zuspreche: ich werde Kraft finden. Über das ganze ein großes Stück von grünem Samt. Ich will es. Es geschehe.128

Ich will es. Es geschehe. Amérys Charles bestimmt die Wirklichkeit, bestimmt und beschreibt die Dinge; er ist kein Opfer dieser Dinge. Er erscheint geradezu als Doppelgänger seines Schöpfers: Es geschehe. Erst im zweiten Kapitel, Ridiculus sum betitelt, wird der von Flaubert geschilderte erste Schultag aufgenommen, und zwar ohne Beschreibung der Mütze. Sie wird nur über die Subjektivität des Protagonisten, aus seiner Perspektive und mit seiner Stimme beachtet: „Meine Mütze, liebevoll von Mutter genäht, fiel zu Boden, ich hatte Angst, man werde sie mir nehmen. Lachen und Meckern und Grölen und Strafarbeiten für den und jenen, auch für mich, der ich nur Opfer gewesen.“129 Über die Subjektivität des Protagonisten, des Opfers, gewinnt sie ihren Wert, auch wenn sie hässlich oder gar lächerlich sein mag. Über Thomas Mann, auch ein Lebensautor für Améry, schrieb er 1975, dass es in seinem Werk um „die Omnipräsenz von Krankheit und Tod, gegen deren Erkenntnis kein soziales Kraut gewachsen ist, [um] das Leiden und Mit-Leiden mit dem Bündel Kreatur“ gehe, um „besorgtes Erzählen vom armen Teufel Mensch“.130 Dafür braucht man Emotion und Pathetik, Extremes. Auch über Emotion und Pathetik gehen Literatur und Leben ineinander über, das Lesen beansprucht die eigene Biographie. Améry schreibt über Thomas Manns Werk: Ich höre, sehe, erfühle nur das Leid am Leben, dessen auch die von mir ersehnte sozialistische Gesellschaft so ohne weiteres nicht Herr werden wird. Ein Zeitungsphoto zeigt mir einen weinenden Mann, Flüchtling aus Hué, der sein verwundetes Kind auf dem Rücken trägt. Er weint die Tränen Jakobs um Joseph. Ich hörte 1943 Männer des Widerstands in Nachbarzellen weinen und weinte mit ihnen: ich schämte mich so wenig wie sie.131

Hinter Amérys Charles stehen die Männer der Nachbarzellen, Améry selbst: die Opfer, denen Améry eine Stimme gibt, der Mensch als „quälbarer Leib“. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. […] Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht“, hatte Améry geschrieben.132 Die kalte Gleichgültigkeit der Nachkriegszeit gegenüber den Opfern des Nazismus, die Améry in den Unmeisterlichen Wanderjahren beschreibt,

128 Jean Améry, Charles Bovary, Landarzt, in: Ders., Jean Améry, Werke 4, S. 7–185, hier: S. 13. 129 Ebd., S. 43. 130 Jean Améry, „Bergwanderung. Noch ein Wort zu Thomas Mann“, in: Leben mit Büchern, Werke 5, S. 24–51, hier: S. 42. 131 Ebd., S. 44. 132 Améry, „Die Tortur“, S. 85.

2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte

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möchte er mit seinem Schreiben bewusst machen. Laut Hans Höller bedeutet das für Améry „ein Schreiben und eine Theorie des Schreibens zu entwickeln, die dem Mitgefühl, der Emotion, der Anteilnahme, dem Pathos ihre Berechtigung zurückgewinnen – gegen fast alles, was die Literaturszene des Nouveau Roman und der Konkreten Poesie bestimmt“133. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dass Améry für Thomas Mann Humor statt Ironie beansprucht. Denn Humor provoziert herzliches und menschenfreundliches Gelächter. Zu vermuten bleibt, dass es bei Ironie nicht so ist; dass Ironie für Améry mit Kälte in Verbindung gesetzt wird. Charles Bovary als Opfer der Gleichgültigkeit, der Kälte seines Schöpfers, wird von Améry zum tragischen Helden gemacht. Er gibt ihm dabei eine eigene Stimme. Er liest aus dem Roman den anderen möglichen Charles heraus, den in unsichtbarer Schrift in den Roman mit hineingeschriebenen. Er deckt, sozusagen, die anderen Möglichkeiten der Geschichte auf: „Jede Erzählung ist ein ‚offenes Geschehen‘: es ist der Autor, der, ‚stark wie der Tod‘ am Ende die Türen verrammelt.“134 Améry gibt Charles die Möglichkeit, selbst über seinen Tod zu entscheiden, selbst die Türen zu verrammeln, sein Geschick in die Hände zu nehmen und damit sein Selbstbewusstsein und seine Ressentiments, seine Leidenschaft, seine Revolte und seine Resignation, kurz: seine Würde zu bestimmen. Amérys Roman-Essay ist in sechs Kapitel gegliedert. Dabei handelt es sich um vier Monologe Charles’ und zwei reflektierende Essays; die Titel der Kapitel lauten „Totenklage“, „Ridiculus sum“, „Die Wirklichkeit Gustave Flauberts“, „Der Bürger als Liebhaber“, „Die Wirklichkeit Charles Bovarys“, „J’accuse“. In ihnen vermischt Améry Flauberts reale und Charles Bovarys fiktive Wirklichkeit, geht selbst fiktional in die Fiktion ein, hebt den Unterschied auf zwischen Fiktion und Realität zugunsten der Ehrenrettung Charles Bovarys, des Opfers, des zum Opfer gemachten Subjekts. In ihnen erscheinen alle Themen, die für Amérys Schreiben bestimmend gewesen sind; nach Hanjo Kesting „Grenzerfahrung und menschlicher Selbstentwurf, unvollendete Aufklärung und bürgerliche Subjektivität, Lebensverlangen und Todverfallenheit, Revolte und Resignation“135. In seinem Roman-Essay wirft Améry Flaubert vor, aus Charles Bovary einen Trottel gemacht zu haben, ihm die Möglichkeit einer Emma ebenbürtigen Existenz vorenthalten zu haben, an ihm, indem er ihn nicht zu einem freien Bürger und citoyen gemacht hat, die Ideale der französischen Revolution, der Aufklä-

133 Hans Höller, „Voraussetzungen einer Lese- und Schreibbiographie“, in: Ders. (Hrsg.), Anhang zu Aufsätze zur Literatur und zum Film, Werke 5, S. 594–604, hier: S. 603. 134 Jean Améry, „Bovary. Exposé“, S. 292. 135 Hanjo Kesting, „Nachwort“, in: Ders. (Hrsg.), Anhang zu Charles Bovary, Landarzt, Werke 4, S. 339–395, hier: S. 349.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

rung, verraten zu haben. Hinter Amérys Kritik an Flaubert steht auch eine Kritik an Sartres Flaubert gewidmeter Studie L’idiot de la famille: Die Chance, die Sartre Flaubert gibt, nämlich zu verneinen, was er war, der gescheiterte Sohn eines reichen Arztes, und zu werden, was er wird, Meisterschöpfer der Bovary, gibt Améry jetzt Charles Bovary, macht ihn zum leidenschaftlichen Liebhaber, Emma ebenbürtig. Und er endet mit einem Monolog Charles Bovarys, der den Titel trägt J’accuse: Ich klage Sie an der Verletzung des Paktes, den Sie mit der Realität geschlossen hatten, ehe Sie sich an die Niederschrift meiner Geschichte machten: denn ich war mehr, als ich war, gleich jedem Existierenden, der täglich und stündlich im Widerstand gegen die Anderen und die Welt aus sich heraustritt, zu verneinen, was er war, und zu werden, was er sein wird.136

Auch hinter Charles Bovary stehen Jean Améry und seine radikale Befürwortung der Aufklärungsutopie des mündigen Ichs, die er mit dem Existentialismus des frühen Sartre in autobiographische Verbindung bringt. In den Unmeisterlichen Wanderjahren schildert Améry die Wirkung des Existentialismus auf ihn, die Überlebenshilfe, die Zukunftshoffnung, die er ihm bietet, der sich als Nichts, als von den Toten auferstanden beschreibt. Da er nichts sei, könne er durch die Sartre’sche Freiheit alles sein: „Und da ich alles sein konnte, wollte ich das auch. Der Existentialismus […] wurde mir zur ganz persönlichen Philosophie des Lebenshungers, der sich wühlend einstellte, nach so vielen Toden, so vielen provisorischen Auferstehungen.“137 In Charles Bovary spielt Améry sozusagen den ersten Sartre, seinen Meister, den Philosophen des Existentialismus, gegen den späteren Sartre aus, gegen den Totalitätsanspruch von dessen Flaubert-Studie, die Améry beeindruckt, aber in der er im Grunde und auf eine andere Art und Weise den gleichen Totalitätsanspruch wie bei Flaubert sieht. Einen Totalitätsanspruch, der blind ist für die Opfer der Unterdrückung. So wie Sartre versucht, den wahren Flaubert zu zeichnen, lässt Améry jetzt einen wahren Charles Bovary sprechen, indem er von den Inkongruenzen der Flaubert’schen Figur ausgeht. Er spricht Flaubert sogar den Realismus ab: „Der realistische Erzähler aber hätte die Leerstellen auffüllen müssen. Seine Sache wäre es gewesen, dort das eigene Wort zu nehmen, wo die seines Geschöpfes versagte.“138 Worin hätte das bestanden? –, können wir uns fragen. Darin, dass Flaubert Charles nicht nur über lächerliche Dinge beschrie136 Améry, Charles Bovary, Landarzt, S. 174 f. 137 Jean Améry, „Existenzsorgen“, in: Ders., Unmeisterliche Wanderjahre, Werke 2, Gerhard Scheit (Hrsg.), S. 268–294, hier: S. 274. 138 Améry, Charles Bovary, Landarzt, S. 143.

2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte

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ben, sondern ihm auch eine Bild- und Metaphernsprache, wie Emma, gegönnt hätte? Die Dinge, die Charles’ Lächerlichkeit ausmachen, werden bei Améry nicht beschrieben. Die Mütze wird durch die Gefühle Charles’ definiert. Die Hosenstege, die ihm beim Tanz im Schloss lächerlich machen würden, nimmt er jetzt auf sich, weil er tanzen möchte. Die Luxusgegenstände, die Emma kauft, verteidigt er in ihrer Maßlosigkeit. „Die Totenklage um Emma wurde unter den Händen des Wortspielers und Wortmeisters Flaubert zu stammelnder Wortlosigkeit“, stellt Améry fest.139 Bei ihm wird allen Monologen Charles’ Bilderreichtum, Metaphernreichtum gegönnt, die Wortlosigkeit wird umgewendet in Wörterreichtum. Nur: Die Sprache, die ihm angemessen ist, steht in einer konstanten Spannung zwischen dem Sprachvertrauen, das die Dinge und die rationalen Überlegungen benennen lässt, und der Auflösung der Sprache in Traum- und Halluzinationsbilder, die dem Extremen, dem Aufbrechen des Unbewussten ihre Stimme geben: Visage deines Glücks, Emma, die deine Lustblässe zum lugubren Todesspiegel machte. Nervöse Hände, die dahin und dorthin weisen, leicht bebend, als nestelten sie ungeduldig an deinen Linnen und Seiden. Hände, die mir sind, als wäre jede ein Stück von dir. Wie war es, als sie, das knisternde Leibzeug achtlos zerknüllend, zu deiner atmenden Haut vordrangen und deine Brüste caressierten? […] Mir ist, als spürte ich sie an meinem eignen, noch in der Ausgezehrtheit plumpen Leib, als wäre ich Emmas zerfallender Kadaver, den sie aus der Erde graben und unzüchtig liebkosen…140

Améry vermutet bezeichnenderweise, dass Sartre „in Flaubert sich zumindest streckenweise selbst portratiert“141, und zwar in beider Obsession für die Sprache, für die Wörter, und dass Sartre mit seiner Studie einen Roman geschrieben habe, einen essayistischen Bildungsroman: „Sartre hat in der Tat mit seinem Flaubert einen Roman geschrieben – in der vielleicht einzigen, heute noch akzeptablen Form.“142 Auch sein Charles Bovary wäre ein Roman in der einzigen heute noch akzeptablen Form: einer Form, die der „Zerlösung“ der Wirklichkeit gerecht wird, die Essay mit Reflexion und Fiktion vermischt, die vom eigenen Leben bedingtes, lesendes und schreibendes Denken ist, die zwischen dem Vertrauen auf die Aussagesätze und der Auflösung der Sprache in Halluzinatorisches, in Traumbilder steht, die eine eigene Ebene der Wirklichkeiten schafft. Charles Bovary, Landarzt ist letzten Endes das äußerst elaborierte Endprodukt einer Lese-, Denkund Schreibsequenz, die folgendermaßen abläuft: Améry liest Sartre, der Flaubert

139 Ebd., S. 148 f. 140 Ebd., S.166. 141 Jean Améry, „Die Wörter Gustave Flauberts“, in: Ders., Aufsätze zu Flaubert und Sartre, Werke 4, Hanjo Kesting (Hrsg.), S. 198–224, hier: S. 208. 142 Ebd., S. 210.

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2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche, Sprachexperiment

liest, der Charles Bovary geschaffen und beschrieben hat; aus dieser Distanzkonstellation entsteht eine Hyperrealisierung der Charles-Bovary-Figur. Man sollte Charles Bovary, Landarzt nicht nur als Testament, sondern auch als Nachlass Amérys für die Zukunft lesen. In seinem Exposé schreibt er vernichtend: „Der Revisionsprozess zugunsten Charles Bovary wird gewonnen. Der Versuch, Literatur zu rechtfertigen, ist verloren.“143 Der Versuch jener Literatur, die Charles seine Mütze aufgesetzt hat, so könnten wir hinzufügen. Améry arbeitet dabei schon an einem neuen literarischen Projekt, Rendezvous in Oudenaarde, von dem es heißt: Der Grundgedanke ist die Macht der Imagination (wenn die Welt meine Vorstellung ist, sind innerhalb der Gesamtvorstellung auch besondere Vorstellungen „Welt“). Das Imaginative hat hier sowohl traumhaften wie literarischen Charakter: Erhärtet soll die Realität literarischer Figuren werden: Hans Castorp ist wirklicher als irgendein Onkel; Niels Lyhne ist uns mehr Gefährte auf unseren Wegen als beliebige Bekannte; es gibt die Gestalten aus Hermann Bang, Proust, Flaubert, Joyce, Musil, Thomas Mann etc. […] Sie alle versinnbildlichen den Traum als Leben.144

Literatur wird als utopische Folie für die Wirklichkeit konzipiert, in engem Verhältnis zur eigenen Biographie. Es ist aber eine Literatur, in der die Protagonisten keine Mützen tragen können, wie Charles sie von Flaubert aufgesetzt bekommt. Der Autor, der „stark wie der Tod“ am Ende alle Türen verrammelt, kann nur die Auflösung der Wirklichkeit schildern und denken, „dennoch aber ist das Offenbleiben von erzählten Vorgängen keine Lösung, denn auch sie ist ja vom Autor gewollt und ihre Undeutlichkeit hat die gleiche Gewalt des Verhängnisses wie jede klar zu Ende geführte Handlung – so gibt es keine Erzählung, kein erzähltes Geschick, keine wiedergegebene Wirklichkeit.“145 So steht es im Exposé zu Charles Bovary. Amérys Schreiben stand, wie sein Leben, unter dem scharfen Bewusstsein der Spannung von Revolte und Resignation – wie auch sein Sprachverständnis in der Spannung zwischen dem Selbstreferentiellem und dem Referentiellen stand. Für die Ausforschung der Grundkondition des Opfers hat Améry eine Sprache gefunden, die das Biographische als Ausgangspunkt und Beweisinstanz für den Essay nimmt. Die vom Körper getragene Erinnerung ist somit letzten Endes das

143 Jean Améry, „Charles Bovary, Landarzt. Exposé“, in: Ders., Anhang zu Charles Bovary, Landarzt, S. 279–294, Werke 4, S. 286. 144 Jean Améry, „Rendezvouz in Oudenaarde“, in: Ders., Leben mit Büchern, Werke 5, S. 11–23, hier: S. 11. 145 Améry, „Charles Bovary, Landarzt. Exposé“, in: Anhang zu Charles Bovary, Landarzt, Werke 4, S. 279–294, hier S. 293.

2.11 Amérys Tortur, Charles Bovarys Worte

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Instrument der Recherche und auch die letzte Instanz der Beweisführung. Die persönliche Erfahrung ist die Basis für die Analyse, die der Essay liefert; beide sind ineinander verschränkt. Zwischen Erziehung des Menschengeschlechts und Wahrheit des Einzelnen betreibt er eine Subjektkonstruktion, die durch den von seinem Tortur-Aufsatz inspirierten Begriff des Leidens geprägt ist, und entwickelt dabei eine eigene und tragische Dialektik der Negation der Negation als Affirmation. Dabei bleibt er seinen sprachkritischen Wurzeln in der Wiener Moderne treu, plädiert in seinem Schreiben für die Erzählbarkeit der Welt und des Subjekts und betreibt dabei eine äußerst labile Subjektkonstitution mit und gegen alle Last der Sprache. Seine an der Wiener Schule geschulte sprachkritische Haltung reibt sich an Wittgenstein wund, seine rassiermesserscharfe essayistische Sprache wird aber durch das Einbrechen der Erinnerung in seinen Roman-Essays auch aufgelöst und unterlaufen.

3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision Auschwitz als Skandalon 3.1 Erinnern und erzählen: Autobiographie und Fiktion Bis ins Innerste der Figuren und Begriffe eindringen – mit den Mitteln des Äußeren. Nur das Sagbare sagen und darauf vertrauen, dass das nur aus Sagbarem bestehende fertige Werk in seiner Geschlossenheit – und seiner Wortlosigkeit – mehr über das Unsagbare sagen wird, also versuchte ich, es direkt zu fassen.1

In einem Nachwort zu seinem Roman beschreibt Kertész, wie es zu seiner Erzählung Der Spurensucher kam: Er machte im Jahre 1962, während er am Roman eines Schicksallosen schrieb, eine Reise, um die Schauplätze seines Lebens zu begehen; er besuchte Buchenwald und Zeitz. Dieser Besuch gibt das Motiv für den Roman her, den Kertész auch als emotionale „Entlastung“ gegenüber der rigiden Sprachdisziplin im Roman eines Schicksallosen empfindet. Der Versuch, die Vergangenheit von den Orten her wieder aufzuleben zu lassen, seine Spuren an den Orten zu suchen, schlägt für den Spurensucher in gewisser Weise fehl; er kann sie an den museal gewordenen Stätten nicht wiederfinden. Kertész, der sich im Nachwort zu der Reise bekennt, die der Spurensucher im Roman in dritter Person antritt, beschreibt seinen Irrtum: Nur hatte ich dabei den Fehler begangen, zu glauben, die Vergangenheit sei wiedererlebbar. Wäre es so gewesen, dann hätte ich die Zeit und das allen Menschen auferlegte Gesetz des Lebens besiegt – sicher aber nie einen Roman geschrieben. Denn die Existenzgrundlage des Romans ist ja gerade „die verlorene Zeit“, die Tatsache, dass wir dem Gegenstand unserer Erinnerungen, unserem einstigen Ich, in Wirklichkeit nicht wiederbegegnen können. Ich bin als ein Fremder über fremde Schauplätze geirrt, habe weder draußen etwas gefunden noch innen etwas gefühlt. Da begriff ich, was man gemeinhin als Vergänglichkeit bezeichnet und wie teuer mir das war, was mir durch sie verlorenzugehen drohte. Ich verstand, wenn ich gegen mein vergängliches Ich und die ständige Wandelbarkeit der Schauplätze ankämpfen wollte, musste ich mir, mich auf mein schöpferisches Gedächtnis verlassend, alles von neuem erschaffen.2

Das Schreiben wird von der Erinnerung bestimmt, aber die einzige Art, die verlorene Vergangenheit zum Leben zu bringen, ist, sie neu zu erschaffen. Roman-

1 Kertész, Galeerentagebuch, S. 24. 2 Kertész, Der Spurensucher, S. 127.

3.1 Erinnern und erzählen: Autobiographie und Fiktion

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schreiben wird als Ankämpfen gegen die Vergänglichkeit der Welt und des Ichs beschrieben. Das Gedächtnis arbeitet dabei kreativ: Es findet die Vergangenheit nicht wieder, es erschafft sie. Dieser Begriff des Erschaffens der eigenen Vergangenheit bedingt die Unterscheidung, die Kertész zwischen Autobiographie und Fiktion macht. Erinnern erschafft ein Stück Welt, aber überschreitet sie nicht. Das hingegen tut die Fiktion. Die Fiktion kann sich auf Dokumente stützen, kann auch authentisch sein, aber im Gegensatz zur Autobiographie schafft sie eine eigene Welt. In Dossier K. erzählt Kertész, wie er beim Schreiben des Romans eines Schicksallosen immer an seinem Uhrarmband gerochen habe, weil ihn der Geruch irgendwie an den Geruch der Baracken der Lager erinnerte. Und in Fiasko geht er systematisch auf die Erinnerung und auf deren Erschreiben ein, indem er im Nachhinein die Entstehung und das Geschick des Romans eines Schicksallosen reflektiert. Man könnte Fiasko als ‚Metaroman‘ bezeichnen oder als ‚Roman vor dem Roman‘. Er handelt von einem Schriftsteller, dem „Alten“, dessen Roman (eines Schicksallosen) vom Verlag abgelehnt worden ist und der nun in einem neuen Roman namens Fiasko das Entstehen und Scheitern des alten Projektes zum Gegenstand nimmt. Dieser neue, vom „Alten“ geschriebene Roman Fiasko hat seinerseits einen weiteren schriftstellerischen Helden namens Steinig („Köves“ auf Ungarisch). So wird der Schreibprozess in einer doppelten Spiegelung in eine Art von mise en abyme gesetzt und auf Distanz gehalten: Der „Alte“ in Fiasko, ein Kertész nachgezeichneter Protagonist, versucht seinen Roman (den Roman eines Schicksallosen), nachdem der Verlag seine Drucklegung verweigert hat, mit ‚fremden‘ Augen (den Augen des Zensors?) zu lesen. Dies gelingt ihm aber nicht, es gelingt ihm nicht einmal, ihn mit seinen eigenen Augen zu lesen. Denn im Zuge des Schreibens hat sich der Romantext über die Erinnerung geschoben. Der „Alte“ hat das Erlebte zweimal gelebt: einmal „– unwirklich – in der Wirklichkeit, und das zweite Mal – sehr viel wirklicher – später, da ich mich daran erinnerte.“3 Beim Prozess des Schreibens lebt er ein Doppelleben: „[M]ein gegenwärtiges – halben Herzens, recht und schlecht – und mein vergangenes im Konzentrationslager – mit der schneidenden Wirklichkeit der Gegenwart.“4 Diese Wirklichkeit der Erinnerung wird – ganz im Sinne Prousts – von Bildern und sinnlichen Eindrücken der Gegenwart schlagartig ausgelöst: Auschwitz war hier in mir, in meinem Magen, wie ein unverdauter Kloß: sein Geschmack stieß in den unerwartetsten Momenten in mir auf. Es genügte schon, einer trostlosen Gegend ansichtig zu werden, einer kalten Industrielandschaft, einer von der Sonne gegeißelten

3 Imre Kertész, Fiasko, aus d. Ungar. v. György Buda, Berlin 1999, S. 91. 4 Ebd.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

Straße, der Betonpfeiler eines Rohbaus oder den Geruch von Teer und den Harzduft der Baugerüste einzuatmen, um in mir immer neue Einzelheiten, Ergänzungen und Stimmungen hervorquellen zu lassen, sozusagen mit der Stärke gegenwärtiger Wirklichkeit.5

Je lebendiger aber die Erinnerungen sind, desto unmöglicher wird das Romanschreiben. Und in dem Moment, wo das Romanschreiben ansetzt, verändern sich die Erinnerungen. Sie werden zu Inhalten verschiedener Schubladen – so beschreibt es der Alte –, in die er greift, um sie herauszuholen und zu komponieren. So gelangt er vom Persönlichen ins Objektive, ins Allgemeine. Nach diesem Prinzip entsteht Fiktion: von der Erinnerung entrückt und um das Vermitteln bemüht; damit wird sie auch gewissermaßen zur Autofiktion. Das Geschriebene kann für den Alten kein Substitut der subjektiv erlebten Realität sein; man kann niemals „sich selbst vermitteln“. Denn: „Mich hatte nicht der Zug aus dem Roman nach Auschwitz gebracht, sondern der wirkliche.“6 Man könnte an Rilkes Verse im Requiem an Wolf von Kalkreuth denken, in denen er die Nähe zum Gefühl, zum Erlebten, zum Leiden als „alten Fluch der Dichter“ bezeichnet und die Rettung darin sieht, das Leiden in die Dichtung einfließen zu lassen, es damit in eine Distanz zu rücken, so dass es zu einem Kunstding wird: Dies war die Rettung. Hättest du nur ein Mal gesehn, wie Schicksal in die Verse eingeht und nicht zurückkommt, wie es drinnen Bild wird und nichts als Bild, nicht anders als ein Ahnherr, der dir im Rahmen, wenn du manchmal aufsiehst, zu gleichen scheint und wieder nicht zu gleichen –: du hättest ausgeharrt.7

Literatur entsteht aus Leiden. Das glückliche Leben ist stumm; das wäre das Fazit. Im Galeerentagebuch schreibt Kertész: „Das glücklich gelebte Leben ist ein einfaches Leben: demzufolge stumm.“8 In der Distanz zwischen Erinnerung und Fiktion mag aber auch die Möglichkeit bestehen, das Erinnerte zu überleben. Die Distanz, die durch Fiktion entsteht, ermöglicht es, das Unbeschreibbare dennoch zu beschreiben.

5 Ebd., S. 92. 6 Ebd., S. 94. 7 Rainer Maria Rilke, Für Wolf Graf von Kalckreuth, Requiem, Paris, Leipzig 1909 (geschrieben 04.–05.11.1908), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, Wiesbaden 1955, S. 663. 8 Kertész, Galeerentagebuch, S. 64.

3.1 Erinnern und erzählen: Autobiographie und Fiktion

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Den Unterschied zwischen autobiographischer Erinnerung und Fiktion definiert Kertész in Dossier K. folgendermaßen: Der wesentliche Unterschied besteht trotzdem darin, dass die Fiktion eine Welt erschafft, während man sich in der Autobiographie an etwas, was gewesen ist, erinnert. […] Ich musste im Roman Auschwitz für mich neu erfinden und zum Leben bringen. Dabei konnte ich mich nicht an den äußeren, den sogenannten historischen Tatsachen außerhalb des Romans festhalten. Alles musste auf hermetische Weise, durch die Zauberkraft von Sprache und Komposition in Erscheinung treten.9

Dies rechtfertigt zum Beispiel, warum er im Roman eines Schicksallosen die Szene im Kasernenhof, wo Köves und seine Freunde vor ihrer Deportation zusammengepfercht werden, in ihrer Gewalttätigkeit und Bedrohung von Seiten der Gendarmen nicht näher beschreiben konnte, nämlich als im Zusammenhang mit einem Putsch der Gendarmerie stehend: Es sei zwar eine glänzende Szene, sie sei aber in den Roman nicht zu integrieren gewesen, sagt Kertész in Dossier K., die Gesetze der Fiktion seien gnadenlos. Später rettet er die Szene dann doch in den Roman Fiasko hinüber und auch in die Verfilmung des Romans eines Schicksallosen. Die historisch dokumentierte Wirklichkeit der Szene notiert er dann sowohl in Dossier K. wie auch im Galeerentagebuch. Kertész’ Romane sind durch sein Leben bedingt. Dieses Leben enthält die Voraussetzungen und stellt die Weichen für die Fiktionen seiner Romane: „Ich betrachte mein Leben als Rohstoff für meine Romane – so denke ich einfach, und das macht mich frei von allen Hemmungen.“10 Schreiben, Erzählen war schon immer in gewisser Weise auch ein Ankämpfen gegen den Tod, gegen die Vergänglichkeit. Wenn in Ilse Aichingers Die größere Hoffnung das Mädchen Ellen ihre jüdische Großmutter in der Nacht, in der sie deportiert werden soll, um eine Geschichte bittet und der Großmutter in der gegebenen Situation keine einfällt, bittet Ellen ihre Großmutter eigentlich um die Bereitschaft, zu leben. Wie schon im ersten Kapitel erwähnt, ist Geschichtenerzählen ein Zeichen für Überlebenswillen. Geschichten helfen, zu überleben, unter anderem auch weil ihnen jemand zuhört und es darum geht, dass sie weiterhin erzählt und in Zukunft gehört werden. Bei Kertész geht es aber um ein Erzählen, das aus der Vergangenheit schöpft und das nicht nur gegen den Tod ankämpft, sondern den Tod als Mord thematisiert, sich in ihn vertiefen muss, – den Mord, die Liquidierung, die Auslöschung, die er überlebt hat. Der Tod steht nicht nur in der Zukunft, sondern in einer

9 Kertész, Dossier K., S. 13. 10 Ebd., S. 15.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

Vergangenheit, die die Gegenwart einholt. Das Erschütternde an dem Zitat aus dem Nachwort des Spurensuchers ist, dass es sich bei dem Erschaffen des Vergangenen, bei dem Wunsch, nichts verloren gehen zu lassen, um die Erfahrung des Konzentrationslagers, der Auslöschung, des zutiefst gefährdeten Überlebens handelt. Das ist das zentrale Thema der Romane, Tagebuchromane und Romantagebücher von Kertész. „Auch wenn ich scheinbar von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir“, schreibt er im Galeerentagebuch.11 Und auch: Werde ich fähig sein, das Konzentrationslager so, wie es erforderlich ist, wiederaufleben zu lassen? Kann es sein, dass vielleicht darin der tiefere Sinn meiner seltsamen Lebensweise, meiner freiwilligen Einkerkerung besteht? Und kann es sein, dass mit der Beendigung des Romans meine gesonderte, eigene Befreiung erfolgt?12

„Das Schreiben des Spurensuchers war nichts anderes als ein weiterer Aufschub des Selbstmords“, schreibt Kertész ganz sachlich einige Zeilen weiter im Nachwort. Bei diesem Aufschub, diesem Schreiben, dieser Neuerschaffung der Vergangenheit geht es aber auch um eine Suche nach Wahrheit: „Es ist vorstellbar, dass die Sehnsucht, mit der wir nach der Wahrheit lechzen, einen Spalt in die Mauer schlägt, durch den für einen kurzen Moment ein Ausweg erscheint“, so endet das Nachwort. Kann die Sehnsucht nach Wahrheit auch einen Akt der Freiheit begründen, indem sie einen Ausweg sucht? – so könnten wir fragen. In seiner Nobelpreisrede mit dem Titel Heureka! beschreibt Kertész, wie hinter seinem Willen zum Schreiben die Wiedergewinnung seines Ichs steht. Nach der Befreiung aus Buchenwald, in Ungarn dann unter der Rákosi-Diktatur und später in der geschlossenen Gesellschaft der Kádár-Ära lebend, isoliert er sich mit einem Schreiben, das sich praktisch an kein Publikum richten kann. Gegenüber der offiziellen Objektivität vertritt er die Realität des Subjekts: Ich dagegen kam an einem schönen Frühlingstag 1955 unvorhergesehen auf den Gedanken, dass nur eine einzige Realität existiert, diese Realität aber bin ich selbst, mein Leben, dieses zerbrechliche und mir für unbestimmte Zeit zugesprochene Geschenk, das unbekannte, fremde Mächte beschlagnahmt, verstaatlicht, determiniert und besiegelt hatten und das ich aus der sogenannten Geschichte, diesem fürchterlichen Moloch, zurückholen musste, weil es allein mir gehört und ich entsprechend mit ihm umzugehen hatte.13

11 Kertész, Galeerentagebuch, S. 32. 12 Ebd., S. 22. 13 Imre Kertész, „Heureka!“, in: Ders., Die exilierte Sprache, S. 243–256, hier: S. 244.

3.1 Erinnern und erzählen: Autobiographie und Fiktion

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Geradezu als Vision, als visionären Moment schildert er im Roman Fiasko und in seiner Nobelpreisrede den intensiven Augenblick, in dem er auf einem menschenleeren Flur eines Amtsgebäudes Schritte näherkommen und vorbeigehen hört. Dies suggeriert ihm das Bild einer dröhnenden Marschkolonne, in deren Sog er sich einfügen könnte, und verursacht ihm das Gefühl, dass er sich an die Wand drücken und ducken muss, um diesem verführerischen, nietzscheanisch-dionysischen Sog zu entgehen. Er beschreibt diesen Moment als einen der existentiellen Bewusstwerdung. Er erkennt, dass ihm ein Jahrzehnt nach der Rückkehr aus den Lagern der Nationalsozialisten und noch zum Teil im Bann des stalinistischen Terrors „von dem Ganzen nicht mehr als ein nebulöser Eindruck und ein paar Anekdoten blieben. Als wenn mir nichts passiert sei, wie man zu sagen pflegt“14. Schreiben steht im Kontext von verschütteter Erinnerung, von der Rückeroberung des eigenen Schicksals, des eigenen Ichs. Die Erinnerung aber bedeutet das Neuerschaffen des Horrors, des Todes. Das abhanden gekommene Ich, das ins Nichtexistieren gestoßene Ich wird durch Schreiben wiedergewonnen. „Ich verrate euch: Meine einzige Identität ist die des Schreibens“, schreibt Kertész in Ich – ein Anderer, in dem er sich in existentieller Krise als „eine sich selbst schreibende Identität“ zwischen Leben und Tod beschreibt. „Wer ich sonst bin? Wer wüsste es?“15 Schreiben ist auch eine Art, mit den Mitteln der Kreativität aus der passiven Opfer-Kondition in die aktive Rolle des Subjekts zu finden: „Ich wollte Macht über die Wirklichkeit gewinnen, die mich ihrerseits – sehr wirksam – in ihrer Macht hatte. Ich wollte aus meinem ewigen Objekt-Sein zum Subjekt werden, wollte selbst benennen, statt benannt zu werden.“16 Die Suche nach der dafür adäquaten Sprache bestimmt seine Romane und theoretischen Überlegungen, seine intellektuellen Tagebücher und Essays, seine Notizen zu den Autoren, die ihm nahestehen: Kafka, Camus, Nietzsche, Thomas Mann – und seine Auseinandersetzung mit Goethe. Kertész interpretiert Auschwitz als Zivilisationsbruch, sieht darin die Konsequenz einer Entwicklung der Modernität, die alle Werte der humanistischen Entwicklung in Frage stellt, eine Endstation ethischer und moralischer Kultur. Die einzige Möglichkeit sei jetzt, zu überlegen, wie es von diesem Nullpunkt aus weitergeht. Kertész wandelt das bekannte Diktum von Adorno, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, um in den apodiktischen Satz, nach Auschwitz könne man nur mehr über Auschwitz schreiben. „Das wirkliche Problem Auschwitz besteht darin, dass 14 Ebd., S. 247. 15 Imre Kertész, Ich – ein anderer, aus d. Ungar. v. Ilma Rakusa, Berlin 1998, S. 56. 16 Kertész, „Der Holocaust als Kultur“ in: Ders., Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt: Essays, aus d. Ungar. v. György Buda, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 54–70, hier S. 61.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

es geschehen ist und dass wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können“, heißt es in der Nobelpreisrede weiter. Und: „Die einzige Möglichkeit, zu überleben und uns schöpferische Kraft zu wahren, besteht darin, dass wir diesen Nullpunkt erkennen. Warum sollte diese Klarsicht nicht fruchtbar sein?“17 Daraus entstehe ein Moment der Freiheit, der uns die „wahre Tatsache unserer Existenz und unsere wahre Verantwortung für sie zu Bewusstsein bringt“18. Kertész hat diese extreme Erfahrung für sich als Freiheit aufgefasst, Freiheit zum Schreiben als Überlebensinstrument, Schreiben trotz allem, und das geradezu obsessiv. Unter einer weiteren Diktatur konnte er in absoluter Einsamkeit schreiben, ohne an ein Publikum zu denken. Er konnte jenseits der offiziellen Geschichtsauffassung und Deutungsstrukturen seine eigene individuelle Geschichte erschreiben.19 In einem radikalen Stoizismus lebend, in der Einsamkeit der Küche seiner Budapester Wohnung schreibend, vermied er die Enttäuschungen, die anderen Autoren wie Primo Levi oder Jean Améry nicht erspart blieben. Sie konnten in ihren freien Gesellschaften nicht mit dem Publikum rechnen, das sie sich erhofft hatten: „[D]ie beflissene Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die vielen offenen Türen, durch die sie nicht eintreten konnten und durch die einzutreten sich nicht lohnte, deckten das ihnen eingebrannte Urteil wie eine schwere, niemals verheilende Wunde wieder auf.“20 Die Gleichgültigkeit jener diktatorisch kontrollierten Gesellschaft, in der Kertész selbst lebte, mag ihm Enttäuschungen erspart haben; aber sein Schreiben verzichtet nicht vollständig auf ein Publikum: Es rechnet nur mit einem anderen Publikum, mit einem anderen Leser, mit einer anderen Zeit. „Denn, heute sehe ich es klar, einen Roman zu schreiben heißt, für andere zu schreiben – unter anderem auch für jene, die ihn ablehnen“, schreibt der Alte in Fiasko. In seiner Nobelpreisrede dagegen sagt Kertész, dass der Schriftsteller zweifellos für sich schreibe, mit keinem Publikum zu rechnen habe. Er beansprucht dies für sich selbst: Er habe sowieso kein Publikum gehabt und sich nur die formale und sprachliche Treue zum Gegenstand zum Ziel gesetzt. Aber für ein Publikum schreiben ist nicht das gleiche wie mit einem Publikum zu rechnen: Jeder Schriftsteller, der sich um eine Publikation bemüht, – und zu diesen zählt Kertész – rechnet mit einem potentiellen Leser, jedes Sprechen mit jemandem, der zuhört.

17 Kertész, „Heureka!“, S. 252 f. 18 Ebd., S. 253. 19 Vgl. Volkhard Knigge, „Gott ist ein schöner Gedanke“, in: Dietmar Ebert (Hrsg.), Das Glück des atonalen Erzählens. Studien zu Imre Kertész, Dresden 2010, S. 13–18. 20 Kertész, „Die exilierte Sprache“, S. 212.

3.2 Leben in zwei Diktaturen: Schreiben nach Auschwitz

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Das Beharren darauf signalisiert seine Existenz; es bildet eine utopische Folie dafür, dass es einen Anderen geben muss, der bereit ist, zu hören. Im Folgenden geht es mir darum, das Neu-Erschreiben der Erinnerung in der Spannung zwischen Autobiographie und Fiktion, zwischen Spurensuche und Erkenntnis, zwischen Wort und Wortlosigkeit als Ichkonstruktion und als Kampf um ein Schicksal im Werk von Kertész zu ergründen.

3.2 Leben in zwei Diktaturen: Schreiben nach Auschwitz Imre Kertész wurde 1929 in eine kleinbürgerliche jüdische Familie in Budapest geboren. 1940 kam er in eine jüdische Klasse ins Gymnasium, 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, von dort nach Buchenwald21 und anschließend in das Konzentrationslager Rehmsdorf bei Zeitz. Die Befreiung erlebte er wiederum in einer Krankenbaracke in Buchenwald. Im Juli 1945 kam er nach Budapest zurück und wurde nach seiner Ausbildung Journalist. 1950 wurde er aus seinem Beruf entfernt, arbeitete als Fabrikarbeiter, absolvierte zwischen Ende 1951 und 1953 seinen Militärdienst. Anschließend verfasste er Libretti von zum Teil sehr erfolgreichen Musikkomödien und beschloss gleichzeitig, Schriftsteller zu werden. In Dossier K. schildert er sein Unbehagen am Doppelleben in der Diktatur: auf der einen Seite als Verfasser von Libretti zu Musikkomödien, auf der anderen, geheimen, beim eigenen Schreiben. Als er sich endgültig zu seinem – heimlichen – Schreiben entschließt, gerät er in immer größere Distanz zur Welt: Ich folgte wie ein Schlafwandler einer Inspiration, die mich immer weiter aus der alltäglichen Welt entfernte, und wußte selbst nicht, wohin sie mich schließlich führen würde. Ich war aus der Geschichte ausgetreten und musste erschrocken erkennen, dass ich alleine war. Und es hat meine Situation keinesfalls erleichtert, dass wir zu dieser Zeit allein vom Verdienst Albinas lebten.22

Ende der 50er Jahre beginnt er, den Roman eines Schicksallosen zu schreiben, laut eigener Aussage in einem Interview als „Selbstbestrafung“ für seine Misserfolge; er arbeitete dreizehn Jahre daran. Der Roman wurde zunächst abgelehnt, erschien dann 1975, fand aber kein besonderes Echo. Kertész fing an, aus dem Deutschen zu übersetzen, unter anderem Freud, Nietzsche, Hofmannsthal, Roth, Canetti und Wittgenstein. In den 80er Jahren, nach der zweiten Auflage von Roman eines 21 Vgl. Information zur Geschichte Buchenwlds auf der Homepage der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora: Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. http://www.bu chenwald.de/72/ und http://www.buchenwald.de/896/ (Stand: 31. 08. 2013). 22 Kertész, Dossier K., S. 166. – Albina ist Kertész’ erste Frau.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

Schicksallosen, wurde Kertész langsam bekannt; seine Werke wurden ins Deutsche und dann in zahlreiche andere Sprachen übersetzt; seine Anerkennung stieg und erbrachte ihm 2002 den Nobelpreis für Literatur. Die Bände, die man als Tetralogie der Schicksallosigkeit bezeichnen kann, folgen in Abständen dem Roman eines Schicksallosen: Fiasko 1988, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind 1990, Liquidation 2003. 1977 war die Erzählung Der Spurensucher erschienen. Diese von der eigenen Biographie aus erschaffenen, autofiktionalen Romane werden begleitet von autobiographischen Schriften, die in aphoristischen, tagebuchartigen Formulierungen verfasst sind und sowohl Tagebuchromane wie Romantagebücher sein können: Galeerentagebuch erschien 1992, Ich – ein anderer 1997. 2006 erschien Dossier K., ein überarbeitetes Interview, das eine Art autobiographisch-existentiellen Dialog in platonischer und nietzscheanischer Tradition darstellt. Zurzeit lebt Kertész in Budapest und hat im Herbst 2013 sein, laut eigener Aussage letztes Werk, Die letzte Einkehr. Tagebücher 2001–2009, herausgegeben. Ende 2012 übergab er seine gesamten Manuskripte und literarischen Dokumente, Briefwechsel usw. der Akademie der Künste in Berlin, wo es jetzt ein Imre Kertész-Archiv gibt. Seine Romane, Erzählungen, Reden und Essays bilden ein Werk, das er im Galeerentagebuch als „Lebensentwicklungsroman“ bezeichnet. Wie bei Améry durchbrechen seine Schriften die Gattungsgrenzen, die ineinander übergehen. Die Schriften beider Autoren sind erzählendes Denken und denkendes Erzählen. Diese Übergriffe werden in der Einleitung des Essaybandes Die exilierte Sprache als „annäherndes Schreiben“ dargestellt: Schreiben ist ein immerwährender Prozess, der aus verschiedenen Perspektiven realisiert wird und immer das Gleiche umkreist: Im übrigen würde ich die hier versammelten Texte nicht als Essays im regulären Sinn des Wortes bezeichnen, sondern eher als „Annäherungen“ – auch wenn es eine solche Gattung natürlich nicht gibt – um damit einerseits auszudrücken, dass keiner von ihnen seinen Gegenstand ganz ausschöpft, sondern sich ihm allenfalls nähern kann; und zum anderen, dass sie, nur von einer anderen Seite her, versuchen, sich dem gleichen zu nähern wie meine erzählerischen Arbeiten: etwas Unnahbarem. So wird es auch hier und da Wiederholungen geben, Gasttexte, die aus anderen Arbeiten stammen und wie Leitmotive wirken, auf die manchmal für mich selbst geheimnisvolle Kohärenz von größeren Zusammenhängen, Denk-, Sprech-, sogar Lebensweisen verweisend.23

Dem Leser bleibt es überlassen, diese geheimnisvolle Kohärenz zu verfolgen. Für seine Sprache, die er als eine Sprache nach Auschwitz zu konzipieren sucht, übernimmt Kertész den Begriff der Atonalität. Er erklärt seine „literarische

23 Imre Kertész, „Vorbemerkung“, in: Ders., Die exilierte Sprache, S. 13–16, hier: S. 14.

3.3 Gegen den ‚Grundton der Tradition‘: Buchenwald, Weimar und Goethe

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Atonalität“ so, dass er in seiner Sprache auf einen Grundton verzichtet, auf den Grundton einer Übereinkunft mit der Tradition. Auschwitz hat für Kertész das humanistische Weltbild des neunzehnten Jahrhunderts radikal zerbrochen; dieses kann keinen Bestand mehr haben; insofern kann man Auschwitz auch nicht in der „Vor-Auschwitz-Sprache, mit vor-Auschwitz-Begriffen“ behandeln und „über Leichenberge, den Trümmerhaufen Europa und den Zusammenbruch aller Werte hinwegschreitend, mit Farbfilmbildern und Triumphmusik das ewige Überleben verklären“.24 Derjenige, der über Auschwitz redet, der Überlebende, den Kertész als neuen Menschentyp der europäischen Geschichte beschreibt, reibt sich im Prozess des Schreibens unaufhörlich auf. Entweder akzeptiert er die geltende Sprache und die mit ihr einhergehenden Konventionen, „die Wörter Opfer, Verfolgter, Überlebender und so weiter, sowie Rolle und Bewusstsein, die damit verbunden sind, oder er wird sich seiner Isoliertheit allmählich bewusst und gibt den Kampf eines Tages auf“25. Die Sprache, die er damit zur Verfügung hat, ist eine Sprache, die die Sprache der anderen ist, eine Sprache, die die Bewusstseinswelt einer gleichmütig weiterfunktionierenden Gesellschaft ist, eine Sprache, in der der Ausgestoßene immer Sonderfall, Stein des Anstoßes, Fremder bleibt: er, sie oder es, eine Sprache, die das Ausgestoßensein in Auschwitz nach Auschwitz endgültig besiegelt hat.26

3.3 Gegen den ‚Grundton der Tradition‘: Buchenwald, Weimar und Goethe Mit Auschwitz konstatiert Kertész den Schiffbruch des gesamten Wertesystems, welches das neunzehnte Jahrhundert, seine Ideale der Aufklärung und des Fortschritts leitete. Der Holocaust gehe über die Tragödie des Judentums hinaus; er sei eine Welterfahrung, ein europäisches Trauma; denn er habe sich nicht im luftleeren Raum vollzogen, sondern im Rahmen der westlichen Kultur, auch sie sei gleichsam Auschwitz-Überlebende. In den Flammen der Krematorien „wurde alles zerstört, was wir bis dahin als europäische Werte schätzten, und an diesem ethischen Nullpunkt, an dieser moralischen und geistigen Finsternis, erweist sich als einziger Ausgangspunkt gerade das, was diese Finsternis erzeugt hat: der Holocaust“27. Kertész beharrt auf der Erkenntnis, die er auch in seiner Nobelpreisrede äußert, dass der Holocaust „über unermessliches Leid zu unermess24 25 26 27

Kertész, „Die exilierte Sprache“, S. 211. Ebd., S. 210. Ebd. Ebd., S. 216.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

lichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt“28. Ob dieses Trauma in Form von Kultur oder von Neurose in der Gesellschaft Europas weiterlebt, ob in konstruktiver oder destruktiver Form, wird laut Kertész zu einer Existenzfrage dieser Zivilisation werden. Damit ist Kultur auf privilegiertes Bewusstsein bezogen, ein Bewusstsein, das Kultur analysieren und kritisieren kann. Für ihn als Überlebenden erwachse daraus die ethische Pflicht, das wahre Antlitz des Jahrhunderts zu zeigen, existentielle Arbeit damit zu verrichten, ein ethisches Wirken auf der Erkenntnis basierend, dass wir uns nach Auschwitz selbst überlassen seien.29 „Wir müssen uns unsere Werte selbst erschaffen, Tag für Tag, durch jenes andauernde, aber unsichtbare ethische Wirken, das diese Werte eines Tages ans Licht bringt und vielleicht zu einer neuen europäischen Kultur erhebt“, schreibt er weiterhin in Die exilierte Sprache.30 In seiner Nobelpreisrede erwähnt er, dass der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, ihm ein Paket zuschickte mit einer Kopie der Tagesmeldung vom 18. Februar 1945 über den Häftlingsbestand des Konzentrationslagers Buchenwald, in der sein Tod angezeigt ist. „Ich bin also schon einmal gestorben, um leben zu dürfen – und vielleicht ist das meine wahre Geschichte“, sagt Kertész.31 Und dieses Sterben, um leben zu dürfen, muss man nicht nur metaphorisch, sondern auch wörtlich nehmen. Das Dokument beweist, dass jemand ihn auf die Totenliste setzte, um ihn dann heimlich in den Häftlingskrankenbau zu verlegen und dort pflegen und versorgen zu können. Überhaupt beweist es, dass es einen Krankenbau gab, in dem Kranke im Rahmen des Möglichen gepflegt wurden und der nicht nur als Zwischenstation für Selektionen diente. Es gab also jemanden, der inmitten des radikal Bösen das Gute tat, der von der Freiheit Gebrauch machte, konstruktiv statt destruktiv zu handeln, jemanden, der nicht absolut funktionalisiert war. „Und wenn man jetzt fragt, was mich heute noch

28 Im Aufsatz „Der Holocaust als Kultur“ formuliert er dies folgendermaßen: „Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt. Das tragische Weltwissen einer den Holocaust überlebenden Moral könnte, wenn es bestehen bleibt, vielleicht sogar das von Krisen geschüttelte europäische Bewusstsein befruchten, ähnlich wie der der Barbarei trotzende und in den Perserkrieg ziehende griechische Genius die antike Tragödie als unvergängliches Vorbild hervorbrachte. Wenn der Holocaust in unsren Tagen eine Kultur hervorgebracht hat – wie es nun einmal unleugbar geschehen ist und geschieht –, dann kann seine Literatur daraus, aus der Bibel und aus der griechischen Tragödie, diesen beiden Quellen der abendländischen Kultur, Inspiration schöpfen, auf dass der nicht wiedergutzumachenden Realität Wiedergutmachung entsprieße – der Geist, die Katharsis.“ (Kertész, „Der Holocaust als Kultur“, S. 68). 29 Vgl. dazu Knigge, „Gott ist ein schöner Gedanke“, S 16. 30 Imre Kertész, „Wird Europa auferstehen?“, in: Die exilierte Sprache, S. 165–182, hier: S. 178. 31 Kertész, „Heureka!“, S. 254.

3.3 Gegen den ‚Grundton der Tradition‘: Buchenwald, Weimar und Goethe

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hier auf Erden hält, was mich am Leben hält, antworte ich, ohne zu zögern: die Liebe“ schließt Kertész seinen Text Die exilierte Sprache und bestätigt so sein Vertrauen darauf, dass es den Anderen gibt, der einen menschenfreundlichen Gebrauch von seiner Freiheit macht, einen möglichen Hörer und Leser. Knigge erinnert sich an ein Gespräch, das er im Januar 2010 in Berlin mit Kertész führte und in dem es um dessen Erfahrungen mit dem Nationalismus und Antisemitismus in Ungarn, aber auch um sein Gottesverständnis ging. Da habe er unter anderem gesagt, Gott sei ein schöner Gedanke, eine grammatikalische Funktion, etwas, bei dem man sich bedanken könne dafür, dass man lebe, auch wenn sonst niemand da sei. „Er sagte das als Agnostiker, mit einem lebhaften, spielerischen Vergnügen am Uneinholbaren, am final nicht Definierbaren, Fixierbaren, an einen Gott ohne Gott“, so Knigge. Er schlägt vor, dies so zu übersetzen, dass erst recht nach Auschwitz der Mensch ein schöner Gedanke sei, „ein den Kulturbegriff ebenso in Frage stellender wie ihn antreibender, beseelender Gedanke. Ein naiver Gedanke und ein nicht naiver Gedanke gleichzeitig, weil es in Auschwitz nicht Teufel und Menschen gegeben hat, sondern nur mehr nichts als Menschen und Menschen.“32 Kertész empfindet es als Privileg, ins Auge der Gorgo geblickt zu haben und weiterzuleben. Aber er weiß, dass ihn das Gorgonen-Antlitz nie freilassen wird, dass es ihn – den zu Stein Gewordenen? – für immer gefangen hält. Verschiedene Protagonisten seiner Werke führen Namen, die mit Worten für „Stein“ zusammenhängen: Köves (Ungarisch für „steinig“) im Roman eines Schicksallosen, Steinig in Fiasko. Laut Földényi steht ihnen auch Keserü („bitter“) in Liquidation nicht fern.33 Kertész assoziiert diese Namen mit den Steinen auf den Gräbern der jüdischen Friedhöfe. Sein beharrliches Schreiben geschieht aus dem Bewusstsein des gefährdeten Überlebens heraus. Er bemüht sich, eine „Nach-Auschwitz“Sprache zu finden, in der die „irreführenden Schlagworte einer irreführenden Freiheit“ als „unerklärlicher historischer Irrtum“ verworfen werden,34 in der der „Konsens mit der durch Rationalismus, Aufklärung und Humanismus geprägten Vergangenheit aufgekündigt“35 ist. Provokant zeigt er diesen Verfall in einem Selbstbildnis, das als Kontrafaktur zu Goethes Dichtung und Wahrheit komponiert ist. Er ist kein Privatmensch wie

32 Knigge, „Gott ist ein schöner Gedanke“, S. 18. 33 László F. Földényi, „Stein“, in: Ders. (Hrsg.), Schicksallosigkeit: Ein Imre-Kertész-Wörterbuch, aus d. Ungar. v. Akos Doma, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 284–286, hier: S. 284. 34 Kertész, „Die exilierte Sprache“, S. 221. 35 Dietmar Ebert, „Atonales Erzählen im Roman eines Schicksallosen – Vom Finden einer Romanform, um ‚Auschwitz schreibend zu überleben‘“, in: Ders. (Hrsg.), Das Glück des atonalen Erzählens, Dresden 2010, S. 111–134, hier: S. 129.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

Goethe mehr, sondern ein „Privatüberlebender“. Im Galeerentagebuch kommentiert er die Beschreibung der eigenen Geburt des Protagonisten eines Buches, dem „modriger Geruch“ entströmt. Das Buch erweist sich für den kundigen Leser als Goethes Dichtung und Wahrheit. Kertész kommentiert Goethes Version seiner Geburt als eine perfekte Konstruktion, in der der Genius, der große Schöpfer die Welt betritt. Sein Leben sei voller Bedeutsamkeiten; es gäbe dort keinen Platz für Zufälle. Goethes Fazit, der Künstler müsse seine Herkunft kennen, setzt er nun für sich um und parodiert nicht nur Goethe, sondern zusätzlich auch Musils Parodie der gleichen Szene: Also dann: Als ich zur Welt kam, stand die Sonne im Zeichen der größten Weltwirtschaftskrise aller Zeiten, von sämtlichen aufragenden Punkten des Erdenrunds […] stürzten sich die Menschen Hals über Kopf ins Wasser, in den Abgrund, auf das Pflaster, wie es gerade kam; ein Parteiführer namens Adolf Hitler blickte mir mit schrecklich unfreundlichem Gesicht aus den Seiten seines Buches „Mein Kampf“ entgegen, und das Numerus clausus genannte erste ungarische Judengesetz stand als Zeichen im Zenit meiner Konstellation, bevor die übrigen hätten Platz nehmen können. Sämtliche irdische Zeichen (über die himmlischen weiß ich nichts) zeugten von der Überflüssigkeit, mehr noch: von der Unvernünftigkeit meiner Geburt. Obendrein war ich auch meinen Eltern eine Last, denn sie wollten sich gerade scheiden lassen.36

Der Bedeutsamkeit der von Goethe geschilderten Anekdoten, den Hinweisen auf seine Berufung und reiche und vielfältige Begabung setzt Kertész provozierend seine eigene Unwichtigkeit entgegen: „Die befehlende Stimme der Berufung drang kein einziges Mal an mein Ohr, die Summe meiner Erfahrungen konnte nur meine Überflüssigkeit bestätigen, nie meine Wichtigkeit.“37 Seine Originalität bestünde darin, sich am Leben zu erhalten. Der extrem gepflegten Bildung, die Goethe im Elternhaus zu Teil wird, stellt sich deren moderne Realisierung bei dem jungen Kertész entgegen. Radikal wird die mörderische Absurdität einer Erziehung gezeigt, deren Werte an der Bewunderung der Klassik orientiert sind und die die industrielle Vernichtung von Menschen nicht nur nicht verhindert, sondern sie sogar erleichtert, ohne dass sich die in diesen Werten erzogenen Opfer dagegen wehren würden: „Ich glaube an Gott, an das Vaterland und an die Auferstehung Ungarns“, betete ich zu Beginn des Unterrichts. […] „Navigare necesse est, vivere non est necesse“, paukte ich im Lateinunterricht. „Schma jisroél, adonái elohénu, adonái chod“, lernte ich im Religionsunterricht. Von allen Seiten wurde mein Bewusstsein eingezäunt, in Besitz genommen. Ich wurde erzogen. Mit guten Worten und mit strengen Ermahnungen brachte man mich zur

36 Kertész, Galeerentagebuch, S. 106 f. (vgl. auch: Ders., Fiasko, S. 111). 37 Kertész, Fiasko, S. 113.

3.3 Gegen den ‚Grundton der Tradition‘: Buchenwald, Weimar und Goethe

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Reife, um mich auszurotten. Ich protestierte nie und bemühte mich, mein Bestes zu geben. […] Ich war ein mäßig eifriges, nicht immer untadeliges Mitglied der lautlosen Verschwörung, die sich gegen mein Leben richtete[.]38

Kertész schreibt dieses im Galeerentagebuch unter einer Diktatur lebend. Aber auch als bekannter Schriftsteller, der sein Leben aus der Perspektive des Nobelpreisträgers als eine durch den Erfolg gekrönte Linie re-interpretieren könnte, hält er an der Haltung des Überlebenden fest. Eine andere Haltung wäre ein Verrat an den Toten, an denjenigen, die nicht überlebt haben, in deren Namen er ebenfalls spricht und schreibt. Aus dieser Perspektive lässt sich sein Verständnis und seine existentielle Nutzbarmachung des Absurden verstehen. Kertész lässt sich nicht als Genie kategorisieren, er verweigert sich der gesamten Tradition, die damit zusammenhängt. Nach der Logik der Geschehnisse der Geschichte war er ein für den Tod bestimmter Junge und sein Schicksal hätte sich damit und nicht mit dem Nobelpreis erfüllt. Dass er überlebt hat, war unvorhersehbar und unberechenbar; er verdankt es etwas, „das absurd ist, jeder Erwartung widerspricht und den Menschen in gewissem Sinn dem für ihn vorgesehenen Schicksal (das heißt der Schicksallosigkeit) entreißt“, so Földényi.39 In seiner Nobelpreisrede, mit der sich sozusagen das Absurde statt des ihm bestimmten Schicksals erfüllt, warnt Kertész davor, dem Glauben an irgendeine überirdische oder metaphysische Ordnung zu erliegen. „Meine Geschichte in der Retrospektive als Erfolgsgeschichte zu sehen, wäre eine phantastische Lüge“, sagt er 2006 in einem Interview mit Jörg Plath.40 Das Absurde ist somit eher ein weltimmanentes Phänomen und gehört zu den Begriffen der allgemeinen Orientierung. Im Galeerentagebuch schreibt er: „Das Absurde ist tragisch, übertrieben tragisch. Das wirkliche Sein dagegen ist von allen verlassen, von niemandem beachtet, monologisch und langweilig. Worte der Fäulnis und des Verfalls drücken es aus.“41 Und in Liquidation schreibt der Lektor Keserü, seinen eigenen Werdegang kommentierend, dass in der Welt, die ihm zuteil geworden sei, Folgen und Ursachen nicht im logischen Verhältnis zueinander gestanden hätten. Er zieht daraus die Konsequenz: „[U]nd so war die Logik, die über die Analyse der Wirkungen zu den Ursachen vorzudringen wähnt, in dieser Welt eine schiefe Logik. Ich glaube, die Welt, die mir zuteil geworden ist, hatte überhaupt keine Logik.“42

38 39 40 41 42

Kertész, Galeerentagebuch, S. 108 (vgl. auch: Ders., Fiasko, S. 112). Földényi, „Absurd“, in: Ders. (Hrsg.), Schicksallosigkeit, S. 15–19, hier: S. 15. Ebd., S. 16. Kertész, Galeerentagebuch, S. 129. Imre Kertész, Liquidation, aus d. Ungar. v. Laszlo Kornitzer, Frankfurt a.M. 2003, S. 44.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

3.4 Vergangenheit in der Gegenwart – Spur, Vision und Erkenntnis: Der Spurensucher Der Spurensucher (1977) geht in Weimar mit seiner Frau zum Abendessen in ein Restaurant mit gepflegtem Ambiente und Palmengarten. Unschwer kann man darin den Elephanten erkennen, wo Lotte in Weimar zu ihrem Besuch bei Goethe absteigt. Die Verweise auf Goethe und Thomas Mann sind in der Novelle weiterhin durchaus präsent. Der Spurensucher ist im Laufe der Kapitel teils hintereinander, teils abwechselnd ‚der Gast‘, ‚der Beauftragte‘, meistens ‚der Abgesandte‘, ganz kurz ‚der Sehende‘; damit wird bei ihm wie bei Gustav von Aschenbach in Manns Tod in Venedig ein Zustand definiert, der ein Signal setzt, anstatt zu psychologisieren. Auch in Camus’ L’étranger wird der Protagonist über seinen Zustand definiert. Und zum Schluss ist der ‚Spurensucher‘ zeitweilig auch ‚der Fremde‘. Im Unterschied zu ihnen wird der ‚Spurensucher‘ aber außerdem durch eine Funktion definiert, deren Erfüllung oder Scheitern die Geschichte zum Thema macht. Der Palmengarten kann auch mit der Lobby im Hotel des Bains in der Visconti-Verfilmung vom Tod in Venedig assoziiert werden. Eine Dame mit von einem Trauerflor verhülltem Gesicht, die ‚der Abgesandte‘ schon beim Besuch in Buchenwald gesehen hat, mahnt ihn an seinen Auftrag der Spurensuche, die in dem musealisierten und von Touristen besuchten Lager fehlgeschlagen ist. Sie trauert um ihren Vater, ihren Bruder und ihren Bräutigam. Tous les trois, sagt sie. Ihre Rede verweist auf den Zauberberg, ihre Trauer aber ist ein Ausdruck der Unversöhnlichkeit. Nach dem Essen, im nächsten Kapitel „Stoßzeit“, findet in einem Straßencafé ein Gespräch über Goethes Iphigenie auf Tauris statt, von der Frau des ‚Abgesandten‘ eingeführt, die den Band in einer Buchhandlung gesehen hat und sich an die Geschichte zu erinnern versucht. ‚Der Abgesandte‘ entlarvt den versöhnlichen Schluss als Lüge gegenüber der Wirklichkeit: In Wirklichkeit seien Orest und Pylades umzingelt, entwaffnet und gefesselt worden, Iphigenie vor ihren Augen geschändet und die Männer anschließend vor den Augen Iphigenies geschlachtet worden. Der König hätte noch gewartet, bis auf dem Gesicht Iphigenies „die Apathie eines nicht mehr steigerungsfähigen Elends“ sich zeige, eine Apathie, die den Leser an die Apathie des Muselmanns im Lager erinnert, um ihr den Gnadenstoß geben zu lassen. „Am Abend gingen dann alle ins Theater, um sich anzuschauen, wie der König der Barbaren auf der Bühne Gnade walten lässt, während sie, in den Logen verborgen, sich kräftig ins Fäustchen lachten.“43 Auch hier wird gegen den ‚Grundton der Tradition‘ angeschrieben, werden die

43 Kertész., Der Spurensucher, S. 89.

3.4 Vergangenheit in der Gegenwart

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Sprache und das Menschenbild der Klassik als Truggebilde entlarvt. Die intertextuellen Verweise markieren auch die Erinnerung im Text. Am Ende des Spurensuchers wird das Scheitern der Spurensuche festgestellt und im Nachwort das Fazit gezogen, man müsse die Vergangenheit neu erschreiben, um gegen ihre Vergänglichkeit anzukämpfen. Man kann daraus schließen, dass die Novelle sozusagen metaliterarisch dieses Problem thematisiert hat und dass in ihr nicht nur das Scheitern der Spurensuche zu finden ist, sondern auch die Neu-Erschreibung der Vergangenheit angedeutet ist, dass man zumindest Elemente so interpretieren kann. Der ‚Spurensucher‘ begibt sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit, indem er deren Spuren nachgeht. Laut Walter Benjamins Definition ist eine Spur die „Erscheinung einer Nähe, sofern das sein mag, was sie hinterließ“44. Spur ist mit Erinnerung verbunden – und mit Nähe des Erinnerten. Seit Baudelaire ist aber Vergangenheit „nicht als Dauer repräsentierbar, sondern nur durch das Ausagieren einer dynamischen Flüchtigkeit anzudeuten“45. Die Poetik der Erinnerung der Moderne ist Augenblickspoetik. Für Baudelaire wie für Bergson und Proust gelingt das Erinnerungswerk, indem es von einem geglückten Augenblick der mémoire involontaire ausgelöst wird, der die Vergangenheit präsent macht. Proust führt die geradezu programmatische Opposition zwischen einer zum Scheitern verurteilten bewussten Erinnerung und einer gelingenden unwillkürlichen ein; nur von dieser aus könne man schreibend, erzählend die Vergangenheit näherkommen lassen. Wie schon im ersten Kapitel besprochen wurde, ist das Kunstwerk für den Schriftsteller „das einzige Mittel, die verlorene Zeit wiederzufinden“46. Die Spuren müssten den ‚Abgesandten‘ zu einer Wiederbegegnung mit der Vergangenheit führen, die aber ausbleibt. „Jedermann will eine Spur im Leben hinterlassen. Ich würde lieber spurlos verschwinden“ so schreibt Kertész in sein Galeerentagebuch.47 Konsequent fragt László F. Földényi in seinem Imre-KertészWörterbuch: „Aber was tut dann der Abgesandte im Spurensucher? Will er die eigene Spur liquidieren? Oder will er, nachdem er der eigenen Spurlosigkeit

44 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Bd. V/1, Frankfurt a. M. 1983, S. 560 (vgl. auch: Dietmar Ebert, „Atonales Erzählen in der geschlossenen Gesellschaft – Die Romane Fiasko, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind und die Erzählungen Der Spurensucher, Die englische Flagge, Protokoll und Detektivgeschichte“, in: Ders. (Hrsg.), Das Glück des atonalen Erzählens, S. 209–272, hier: S. 231 f.). 45 Nicolas Pethes, Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen 1999, S. 25. 46 Proust, Die wiedergefundene Zeit, S. 302. 47 Kertész, Galeerentagebuch, S. 80.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

bewusst geworden ist, im Fehlen der Spuren den einzigen Beweis für sein Leben erblicken?“48 Der ‚Abgesandte‘ findet zwar nicht die Spuren, in denen er sich in der Vergangenheit wiederzuentdecken hofft, dafür erlebt er aber doch zwei Momente, in denen das Gesehene in die Zeitlosigkeit transzendiert wird, zwei zu Epiphanien gesteigerte Visionen. Bei seinem Spaziergang durch die Stadt, in dem sein zielstrebiger Blick „ohnmächtig dahingleitet“ und nach Verborgenem sucht, wird der ‚Abgesandte‘, ganz im Proust’schen Sinn, schlagartig von einem besonderen, gelben, leuchtenden Licht gefesselt: Der Anblick der gelben Farbe der Fassaden, die man nicht verändert hat, das Licht, das darauf fällt, erschüttert ihn und lässt ihn den Augenblick transzendieren. Er hat nach Erkenntnis gejagt, jetzt erkennt er: „Nach diesem Gelb, nach dieser erschütternden Erkenntnis, die das Werk des gegenwärtigen Augenblicks war, kam mit einem Mal auch der bislang vergeblich gejagte andere Augenblick zustande […] und siehe da, alles war unwiderlegbar, erwiesen und schmerzlich gewiss.“49 Visionsartig erkennt er die Wahrheit der Stadt, ihre Wirklichkeit: Ihre Gebäude und Ornamente „tauchten in die Zeit ein, die Maske der Ewigkeit fiel von ihnen ab, und die Augenblicklichkeit ihres Seins, ihre einmalige Zufälligkeit und haarsträubende Absurdität wurde offenbar. Der Beauftragte sah und erkannte: es war die Stadt, nicht so, wie sie gezeigt werden wollte, sondern so, wie sie sein musste.“50 Der ‚Abgesandte‘ ist im Lauf der Epiphanie zum ‚Beauftragten‘ geworden, er durchschaut den Schein der Stadt, ihre Verfallenheit, die durchaus symbolisch zu deuten ist: Verfallen ist die Welt, die sie repräsentiert, haarsträubend absurd geworden durch die Vergangenheit. Die zweite visionsartige Erfahrung erfolgt im Straßencafé, wo er nach dem gescheiterten Besuch in Buchenwald mit seiner Frau sitzt. Nach dem Gespräch über Iphigenie und ihre „Entlarvung“ sieht der jetzt als ‚Abgesandte‘ Bezeichnete plötzlich einen jungen Mann, der mit dem Fremden zu vergleichen ist, den Aschenbach am Anfang vom Tod in Venedig plötzlich erblickt und der in Aschenbach eine Vision weckt. Der junge Mann, den der fiktionale Abgesandte sieht, ist Albrecht Dürer; der Blick des Malers öffnet den Blick des Abgesandten, der nun zum Seher wird. Die Stadtszene unter sengender Sonne an einer belebten Kreuzung wird zu einem Bild, und zwar zu einem Bild des Dies Irae, zu einer Art von Totentanz: „Und mit einem Mal erhielt alles seinen Sinn, die rasende Reihe der

48 Földényi, „Spur“, in: Ders. (Hrsg.), Schicksallosigkeit, S. 280, hier: ebd. 49 Kertész, Der Spurensucher, S. 45. 50 Ebd., S. 46.

3.4 Vergangenheit in der Gegenwart

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lose herumwirbelnden Erscheinungen füllte sich mit einem Male mit Inhalt. Er sah, genauso wie er am Vormittag die Stadt gesehen hatte.“51 Über neun Seiten erstreckt sich die Beschreibung des bewegten, geradezu rasenden Bildes. Erst senkt sich der Platz, die Perspektive verrutscht: Inmitten der grellen Blitze funkensprühender Lichtbrechungen tat sich der Himmel auf und drohte in der – von tausenderlei Metallgegenständen, Chrom, Glas und Klinkerflächen bis zur Raserei angefachten – Flammen- und Funkenflut der unerbittlichen Sonne herunterzubrechen. Waren das die in sieben Ecken das Klagelied der Autos anstimmenden Hupen oder waren das die Fanfaren des Dies irae?52

Der massive Stau wird zu einer Orgie von verzweifelten Bewegungen und Versuchen, aus ihm auszubrechen: „Das war kein Platz mehr, sondern ein Jammertal.“53 Es wirbeln alle möglichen Figuren im Strudel; in einer Folge von Momentaufnahmen werden Szenen beschrieben, die an Georg Grosz oder Otto Dix erinnern–, oder Gesten, die aus Picassos Guernica stammen könnten: „Im tobenden Stimmengewirr, unter der zornig glühenden Sonne wirbelten sie umeinander, stießen aneinander, stolperten und suchten mit den Armen entsetzt nach Halt[.]“ In einem Auto „reckt sich nur ein vom Ellbogen an aufgerichteter Arm, in dessen drohend geballter Faust allein das Schwert fehlt […].“ Und etwas weiter: „Der Gejagte wendet sich mit einer verlorenen Bewegung zurück, seine linke Hand – verbietend? bittend? – zu ihnen hebend, dann läuft er weiter, mit diesen Furien im Rücken[.]“54 Dietmar Ebert erinnert die Beschreibung dieses apokalyptischen Stadtgemäldes an die des Pergamon-Altars in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstandes, auch an bestimmte Gesänge aus Dantes Göttlicher Komödie.55 Für den ‚Spurensucher‘ aber wird die Realität zum Bild, und seine Vision bringt ihm Erkenntnis. Das Erinnerungsbild des Lichtes führt zu einem neuen Bild, zur erkennenden Vision. Die Gleichzeitigkeit der vielen Momente, die von Bewegungsverben getrieben werden, aber auch als Bildteile simultan erscheinen und den Fluss der Erzählung ins Stocken bringen, lässt die Erzählzeit stillstehen, entrückt den visionären Augenblick und verleiht ihm Zeitlosigkeit; die Vision wird zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Der dankbare Blick des Abgesandten sucht den Fremden, der ihm zum Sehen verholfen hat, aber wie der Fremde im Tod in Venedig ist auch er verschwunden:

51 52 53 54 55

Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd., S. 96–100. Ebert, „Atonales Erzählen in der geschlossenen Gesellschaft“, S. 236 f.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

Dort hinter dem Gelände floss alles weiter, blind, unaufhaltsam; jeder tat das Seine und nur das Seine, dieses alltägliche Grauen mit der Gleichgültigkeit der Gewöhnung und dem selbstmörderischen Eifer der Selbsttäuschung erleidend und betreibend. Ja: sein Wissen war vergeblich, seine Wahrheit unteilbar.56

Der ‚Spurensucher‘ hat keine Spuren gefunden, die eine Nähe zur Vergangenheit erzeugt hätten. Aber es ist diese Vergangenheit, die seine Visionen ermöglicht. In gewisser Weise wird die Proust’sche Epiphanie umgedreht: Die von dem wiedererkannten Licht der Gegenwart sinnlich aufgerufene mémoire involontaire macht nicht die Vergangenheit in der Gegenwart präsent, sondern sie enthüllt die Gegenwart; das unwillkürliche und schlagartige sinnliche Erinnern führt in eine neue, entlarvende Sicht der Gegenwart, führt zur Erkenntnis. In dieser Erkenntnis der Wahrheit der Gegenwart sprechen die verstummte Vergangenheit, ihre unauffindbaren Spuren mit. Auch im Spurensucher klingt die Verfallenheit der Kultur vor Auschwitz mit, wird nach einer „Nach-Auschwitz“-Sprache gesucht, wird das Verstummen der Sprache in der Sprache mit Hilfe von Bildern, von visionären Bildern bezeugt. Und es wird nach Erkenntnis als einem Akt der Freiheit gesucht. Mit der Suche nach Wahrheit, nach Erkenntnis erscheint die Möglichkeit eines Auswegs, die einhergeht mit dem Sich-nicht-Anpassen und der Gewinnung eines eigenen Schicksals. Die Novelle endet mit der Nachricht des Selbstmords der Dame mit dem Trauerflor, wovon der nun als ‚Fremder‘ definierte ‚Spurensucher‘ auf dem Bahnhof in Zeitz liest: „Der Fremde ließ das Blatt aus der Hand sinken; verstohlen blickte er auf dem ganzen Bahnhof umher – dann besann er sich bestürzt: Wie?! Er suchte doch nicht vielleicht nach seinen Anklägern […]? Er erhob sich, dann ließ er sich wieder auf die Bank nieder.“57 Der Verweis auf die möglichen Ankläger bringt den Schatten einer Schuld auf, der Schuld des Überlebens, des möglichen Scheiterns der Mission des Abgesandten. Im Gespräch, das er mit der Dame im Restaurant führte, fühlte er sich von ihr zur Rechenschaft gefordert. Auf ihre Feststellung „Es gibt nur Unrecht“58 reagiert er folgendermaßen: „Ich bin hier, um zu versuchen, dieses Unrecht wiedergutzumachen“, sagte er dennoch, leise, in gewisser Weise wie jemand, der sich rechtfertigt. „Wiedergutmachen? Wie denn? Wodurch?“ fragte sie darauf, und mit einem Mal, als würde er sie gedruckt vor sich sehen, fand der Abgesandte die Worte: „Dadurch, dass ich Zeugnis ablege von allem, was ich gesehen habe.“

56 Kertész, Der Spurensucher, S. 103. 57 Ebd., S. 124. 58 Hier und im Folgenden: Ebd., S. 83.

3.5 Überleben, Weiterschreiben

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Die Dame verlangt Radikaleres. Ihr versteinertes Gesicht starrt ihn stumm, „unersättlich Rechenschaft fordernd an, mit einer alles verschlingenden Forderung, ein Mahnmal der Unversöhnlichkeit“. Schaudernd wendet sich der ‚Abgesandte‘ ab: „Sie können nichts von mir verlangen, was über meine Fähigkeiten geht. Was können Sie noch wollen? Auch meine Möglichkeiten sind begrenzt […] auch ich habe Rechte!“ schrie er fast. „Dann nutzen Sie sie!“ ist ihre letzte Aufforderung. Der ‚Abgesandte‘, der ‚Beauftragte‘ kann nur von den Toten abgesandt, beauftragt worden sein. Die Dame deutet auf die Unmöglichkeit der Wiedergutmachung, der Abgesandte auf ein Dies irae in der Gegenwart, das mit einem Stimmenwirrwarr endet, „zu einem Aufschrei, zu einer einhelligen Klage ansteigend: Wehe, wehe, wehe denen, die die Erde bewohnen […].“59 Seiner Dokumentation ist die Unmöglichkeit des Sagens, seiner Sprache das Verstummen in der Sprache eingeschrieben. Im Galeerentagebuch gibt Kertész das Zeugnis-Ablegen als Beweggrund seines Schreibens an. Es steht im Zusammenhang mit der Erfahrung des Verlustes der Individualität, der Menschheit als Masse, des funktionalisierten Menschen: Das Verlangen, Zeugnis abzulegen, wächst dennoch, als sei ich der letzte, der noch lebt und reden kann, und ich richte meine Worte gleichsam an jene, die die Sintflut, den Schwefelregen oder die Eiszeit überleben – biblische Zeiten, große, schwere Kataklysmen, Zeiten des Verstummens. An die Stelle des Menschen tritt die Gattung, der Einzelne wird vom Kollektiv niedergetrampelt wie von einer entsetzt fliehenden wilden Elefantenherde.60

Auf dem Bahnsteig, nach dem fruchtlosen Besuch in Rehmsdorf bei Zeitz, wo sogar die Spuren des Lagers verschwunden sind und die Menschen vor ihm auf der Hut sind, sich sogar leicht aggressiv verhalten, liest der nun Fremde die Nachricht vom Tod der Dame in der Zeitung und beschäftigt sich anschließend mit der Planung einer Reise ans Meer. Definitiv fremd in der Welt ist er durch seine Vergangenheit und auch durch seine Erkenntnis. Dass seine Wahrheit nicht mitteilbar sei, ist immerhin zu revidieren. Der Leser hat sie ja erfahren.

3.5 Überleben, Weiterschreiben Überleben, weiterleben, beharrend auf der Suche nach Erkenntnis weiterschreiben und diesem Schreiben die Erfahrung des unermesslichen Schmerzes einschreiben, jedes Schreiben ein Kampf gegen den Tod: Alles das ist in dem Spuren-

59 Ebd., S. 102. 60 Kertész., Galeerentagebuch, S. 35 f.

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sucher miteinander verbunden. Im dialoghaft aufgebauten Tagebuchroman Ich – ein anderer schreibt der Icherzähler: „Was mich betrifft, so ahne ich schon, dass ich an meinem Platz ausharren werde, höchstens mein Ekel wird zunehmen. Das lange Leben hält immer Überraschungen für uns bereit – Überraschungen, mit denen wir uns selber verblüffen.“61 Die Annahme des eigenen Schicksals als eine Form der Wiedergewinnung des eigenen Lebens spricht aus den Zitaten, die in Ich – ein anderer zu einer eigenen Poetik beitragen. Rilke: „Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen.“ Kafka: „Ich muss viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.“ Nietzsche: „Das Pathos der Distanz[.]“62 Dietmar Ebert notiert, dass die Einteilung von Der Spurensucher in acht Kapitel auf die Zahl Acht in der jüdischen Zahlenmystik verweist, wo die Acht für Zaun (Chet) steht. Wir können uns fragen, ob der Stacheldrahtzaun auf die verstummte Vergangenheit in der Erzählung verweist. Der Protagonist verliert zwar seine Spuren hinter dem Zaun, aber sie liegen seinen Visionen zugrunde. In Kaddisch für ein nicht geborenes Kind setzt die Totenklage des Erzählers B. auf das Kind, das nie geboren werden soll, unmittelbar den Text von Paul Celans „Todesfuge“ voraus. Seine Frage, wie ein Überleben nach der Shoah möglich sei, knüpft direkt daran an.63 Das Kindertotenlied, in diesem Fall das Kaddisch, gilt einem Kind, das nicht geboren werden kann, weil sich der Schriftsteller B. außerstande sieht, ein Kind in die Welt nach Auschwitz zu setzen. Somit wird auch das Kindertotenlied an den Rand des Verstummens gebracht. Sowohl der Spurensucher wie auch Köves, der Protagonist im Roman eines Schicksallosen, kommen zum Schluss, dass sie ihr in den Konzentrationslagern geführtes Leben fortsetzen müssen, das auch wollen. Ebenso der Erzähler B. Sein Weiterleben hingegen – wie das seines Autors – kann sich nur im Prozess des Schreibens realisieren. B. sieht sich als ein zum Tode Verurteilter, dessen Urteil nicht vollstreckt worden ist. Fast am Ende des Kaddisch bekennt er: In diesen Jahren erkannte ich auch die wahre Natur meiner Arbeit, die im Grunde nichts anderes ist als ein Schaufeln, das Weiter- und Zuendeschaufeln jenes Grabes, das andere mir in den Wolken, in den Winden, im Nichts zu schaufeln begonnen haben. In diesen Jahren erträumte ich erneut meine bereits einst im Traum vorgesehene, wie ich heute weiß, durch das Beispiel des „Herrn Lehrers“ vorhergesehene Aufgabe und geheime Hoffnung. In diesen Jahren erkannte ich mein Leben, einerseits als Fakt, andererseits als geistige Existenzform, genauer als Existenzform des Überlebens, die ein gewisses Überleben nicht mehr überlebt, nicht überleben will, ja wahrscheinlich auch nicht überleben kann, die trotz allem

61 Kertész, Ich – ein anderer, S. 11. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. Ebert, „Atonales Erzählen in der geschlossenen Gesellschaft“, S. 269.

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das ihre fordert, beziehungsweise fordert, dass sie gestaltet werde, wie ein abgerundeter, glasharter Gegenstand, damit sie schließlich so fortbestehe, egal wozu, egal: für wen – für alle und keinen.64

Das Beispiel des Herrn Lehrers ist ein Akt der Freiheit, der sich dem Verhalten des funktionalisierten Menschen entzieht: Während der junge B. im Lager auf einer Tragbahre liegt, bittet er den Herrn Lehrer – eine stark symbolträchtige, von Hunger und Entbehrung gezeichnete Gestalt – eine Ration Verpflegung für ihn aufzuheben, obwohl er damit rechnet, dass der Lehrer, selbst am Verhungern, sie aufessen wird. Doch dieser sucht ihn später auf, um ihm die Ration zurückzugeben. Auf B.s unverhüllte Überraschung antwortet der Lehrer „mit einer auf seinem kleinen, sich schon auf den Tod vorbereitenden Gesicht klar zu erkennenden Entrüstung […]: Was hast du denn gedacht?“ B. dient diese Geschichte als Beweis, dass das Böse sehr wohl rational erklärbar sei, das Gute hingegen nicht. Er kommentiert, dass der Lehrer damit nicht nur zu B.s Überleben beitrage, sondern auch zum eigenen: „Er wurde offensichtlich von etwas anderem geleitet, er tat es offensichtlich vor allem, um selbst am Leben zu bleiben, was er nebenbei auch für mein Überleben tat.“65 Seine Tat ist eine „Tat des über den totalen Widersinn errungenen Sieges“66, eine moralische Tat, ein Akt der Freiheit. Insofern ist sie eine Tat des nicht funktionalen und nicht schicksallosen Menschen. In allen Texten der hier behandelten Autoren wird zumindest eine gute Tat beschrieben, die sie am Leben erhalten hat. Als ob in einer Situation, die auf dem Sieg des Bösen beruht, gerade der Verweis auf das Gute als höchsten Akt der Freiheit und der Menschlichkeit das Überleben möglich machen würde. Bei Primo Levi zum Beispiel ist es die Handlung von Lorenzo: „Nicht so sehr wegen seines materiellen Beistandes, sondern weil er mich mit seiner Gegenwart, mit seiner stillen und einfachen Art, gut zu sein, dauernd daran erinnerte, dass noch eine gerechte Welt außerhalb der unseren existiert.“67

3.6 Spiegelungen: Liquidation In der radikalsten Form wird die Gefährdung des Überlebens, aber auch die Suche nach Wahrheit und Freiheit, in Kertész’ Roman Liquidation, 2003 erschienen,

64 Imre Kertész, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, aus d. Ungar. v. György Buda, Berlin 1992, S. 154 f. 65 Ebd., S. 58. 66 Ebd., S. 95. 67 Levi, Ist das ein Mensch?, S. 117.

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gezeigt. Schon die Komplexität der Spiegelkomposition erweist sich hier als extrem. Der Protagonist ist ein Verlagslektor, ein kritischer Leser also, namens Keserü, „bitter“ auf Ungarisch. Er hat Unmengen gelesen, arbeitet auch als Übersetzer, teilt also einiges an Biographie mit seinem Autor. Der abwesende Protagonist ist der Schriftsteller Bé, der Selbstmord begangen hat, mit dem Keserü befreundet war und dessen Nachlass er betreut. Keserüs Hamletfrage heißt nicht „Sein oder Nichtsein“, sondern „Bin ich oder bin ich nicht?“. Das Verstehen des eigenen Seins, des eigenen Lebens, stellt sich für Kertész als Kernfrage in Ich – ein anderer: „Verstehe ich je mein Leben? Kann ich es verstehen? Alles spricht dagegen: das in mir wurzelnde fremde Ich, der sich selbst rechtfertigende Moralist, der lügnerische Fabelproduzent.“68 Kertész greift auf Hanna Arendts Aussage zurück, dass die einzige Motivation für ihr Schreiben der Wunsch sei, etwas zu verstehen. Verstehen definiert Kertész als etwas in Besitz nehmen; aber dieser Möglichkeit verweigert er sich: Gibt es eine Art des Verstehens, bei der ich nicht besitzen, nicht mich bemächtigen will? Zum Beispiel: indem ich mich in eine Erzählung hineinbegebe, dort in einen Hinterhalt gerate und gefangengenommen werde? […] Ist mein Leben nicht eine solche Erzählung? Wie könnte ich diese Erzählung zum Reden bringen? Nur als erzählbare Wirklichkeit; als Wirklichkeit keineswegs, es sei denn, ich finde ihren geheimen Sinn, […] doch wenn ich einmal glauben sollte, ich hätte das Ziel erreicht, würde mein Bewusstsein wie mein Sein vor dieser schrecklichen Harmonie vergehen.69

Wenn ein Verstehen abgelehnt wird, das einen Sinn fixiert und insofern besitzt, sozusagen ein beruhigendes Verstehen, wird das Verstehen zu einem immerwährenden Vorgang der Annäherung und Umgehung. Schreiben, Erzählen wird zu einem nicht endenden Prozess, zu einem Kampf um das Erzählen und Verstehen, zu einem obsessiven Tun, in dem der Erzähler auch im Erzählen gefangengenommen werden kann. Auch dieses Verfahren könnte man mit dem Topos der Unsagbarkeit, Unbeschreibbarkeit in Verbindung bringen und darin jene Paradoxien der Mitteilung von Nicht-Mitteilbarem finden. Liquidation zeigt diesen Prozess gefangennehmender Annäherung jedenfalls in Form von Spiegelungen und Verschachtelungen sowie durch intertextuelle Verweise, die im ganzen Werk von Kertész, wie bei Jean Améry, sehr präsent sind. Die fremden Texte werden aufgerufen und stellen so den eigenen Text in ein Netz von Bezügen, verweisen auch auf die Erinnerung der Texte im Text selbst, der sich in eine eigene, selbsterwählte und selbsternannte Tradition des Schreibens

68 Kertész, Ich – ein anderer, S. 96. 69 Ebd., S. 97.

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stellt und vom Leser verlangt, dass er die Bezüge erarbeitet, um aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Der Text geht auch durch diesen Bezug zu anderen Texten in einen unendlichen Prozess ein, in eine sozusagen selbstgeknotete Kette von Bedeutungen, schafft eine eigene Sinngenealogie. Dieser Prozess impliziert eine dialogische Struktur im Rahmen des Textes und seinem Verhältnis zum Leser.70 Wenn im Spurensucher die Verweise auf Goethe und Thomas Manns Tod in Venedig dominant waren, sind es in Liquidation die Verweise auf Becketts Molloy. Ein Zitat daraus wird dem Werk sogar vorangestellt. Das Absurde steht somit im Vordergrund, im Kertész’schen Sinne als ein weltimmanentes Phänomen, als ein Begriff der allgemeinen Orientierung. Ein existentialistisch Absurdes, könnte man auch sagen; es wird weiterhin radikal bestimmt von dem Erlebnis des Lagers, der Fragwürdigkeit des Überlebens, dem Leben unter der Diktatur und dem Schreiben darüber. Auch in Liquidation tauchen also alle Themen von Kertész auf. Schon das vorangestellte Zitat von Beckett nimmt das komplizierte Verhältnis zwischen Realität und Fiktion wieder auf: „Dann ging ich ins Haus zurück und schrieb: Mitternacht. Der Regen schlägt gegen die Scheiben. Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.“71 In Ich – ein anderer hat die Ich-Figur sich als „lügnerischer Fabelproduzent“ definiert. Aber auch in Liquidation stehen zwei Figuren im Mittelpunkt, die Eigenschaften, Erlebnisse und Tätigkeiten von Kertész haben: Keserü und der Schriftsteller Bé, der Selbstmord begangen hat. Keserü steht bei Beginn und am Ende des Romans am Fenster, wie der „Alte“ in Fiasko, und betrachtet das Treiben der Obdachlosen, für die er eine große Faszination empfindet: Er interpretiert ihre fehlende Melancholie als Ausdruck ihres Erinnerungsverlusts, des Vergessens ihrer eigenen Geschichten. Insofern leben sie ohne Vergangenheit, aber auch ohne Zukunft, in einem Zustand dauernder Gegenwart. Es ist nicht auszuschließen, dass Keserü in irgendeiner Zukunft sich mit ihnen zusammen auf der Bank da unten befinden wird. Dieser Gedanke, der für ihn nicht erfreulich ist, wird dadurch ausgelöst, dass er wieder einmal zwei Manuskripte prüfen soll und ihn dabei eine „bleierne Lustlosigkeit erfasst“. „Er war es einfach überdrüssig zu beurteilen, ob ein Buch gut oder schlecht war, da diese Frage für ihn neuerdings vollkommen gleichgültig geworden war, obwohl er von der Entscheidung über solche Fragen lebte.“72 Der Roman endet mit dem Blinken des Computerbildschirms, den Keserü nicht ausgeschaltet hat und

70 Eine detaillierte Analyse der Intertextualitäten und Verweise auf Autoren und Texte der Literatur, Kunst und Philosophie bei Kertész wird von Bernhard Sarin in seinem vorbildlich dokumentierenden Band geliefert: Bernhard Sarin, Ein Leben als Artikulation. Die anthropologische Ikonographie der Schriften von Imre Kertész, Potsdam 2007. 71 Kertész, Liquidation, S.5 72 Ebd., S. 141.

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der einen initiierten, aber nicht zu Ende geführten Vorgang anzeigt: „Gehe weiter – Abbrechen“. Es sind die zwei Lebensoptionen, die Keserü und Bé jeweils befolgt haben, die Alternativen des Überlebens, Weiterlebens, und die des Abbrechens, des Suizids. Und sie bestehen weiter, so kann man den Schluss interpretieren. Keserü ist Lektor. Bé ist Autor und Übersetzer, wie B. in Kaddisch und der „Alte“ in Fiasko. Letzterer hat zum Beispiel dem dafür zuständigen Lektor Keserü „die Übersetzung eines französischen Romans“ gebracht, was eine Anspielung auf den von Beckett auf Französisch geschriebenen Roman Molloy sein kann; Sarin zu Folge kann es sich aber auch um die Übertragung von Gides L’Immoraliste handeln.73 In diesem Spiegelkabinett der Texte wird eine mise en abyme der Texte praktiziert, die sowohl auf das Absurde verweist wie auch auf die radikal subjektive Tradition des Existentialismus. Das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität wird insofern radikalisiert zur Sprache gebracht, als Bé ein Bühnenmanuskript hinterlassen hat, in dem Gegebenheiten beschrieben sind, die erst viel später, nach Bés Tod passieren: „Er selbst, Keserü, hatte ungefähr das gleiche gesagt, was im Stück stand. Der einzige Haken war, dass der Mensch, der das Stück und darin diese Szene geschrieben hatte, zu dem Zeitpunkt, als sich die Szene dann – und zwar fast wortwörtlich – in der Wirklichkeit abspielte, nicht mehr am Leben war.“74 Auch die Möglichkeit der Literatur, über die Realität Verbindliches auszusagen, ist hier radikalisiert. Als utopische Folie für die Wirklichkeit kann die Literatur die Wirklichkeit sogar voraussagen. Das beharrende Schreiben und auch die radikale Befürwortung der Literatur als Instrument der Entlarvung der Realität bringen einen weiteren Autor in die mise en abyme der Texte. Kertész selbst verweist auf Améry in Dossier K.; er erzählt, dass er beim Schreiben ein beeindruckendes Foto von ihm vor Augen gehabt habe.75 Améry zog die gleiche Konsequenz wie Bé, sein Freitod trägt ähnliche Züge. Im Aufsatz „Der Holocaust als Kultur“ widmet ihm Kertész ein Denkmal und stellt auch einen eigenen Bezug zu ihm her. Améry überlebte Auschwitz und wenn er sein Überleben überleben wollte, wenn er es mit Sinn, oder besser mit Inhalt versehen wollte, „dann konnte und musste er als Schriftsteller notgedrungen in der Selbstdokumentierung, in der Selbstanalyse, in der Objektivierung, das heißt, in der Kultur, sehen. […] Wenn er sich der Vergänglichkeit, der amoralischen Zeit stellen wollte, dann musste er sein Leben – bis er auch das von sich warf – dem Schreiben widmen“.76 73 74 75 76

Sarin, Ein Leben als Artikulation, S. 136 f. Kertész, Liquidation, S. 15. Kertész., Dossier K., S. 181 f. Kertész, „Der Holocaust als Kultur“, S. 80 f.

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Nicht nur das beharrende Schreiben, auch die Frage nach der Macht über das Schreiben einigt beide Autoren. Kertész beansprucht diese Frage für sich selbst und fragt sich, ob sie sich nicht als geheimer Gedanke hinter Amérys Kapitel über Ressentiments verberge. Améry untertitelt seinen Band Jenseits von Schuld und Sühne mit Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Aber wie bewältigt ein Schriftsteller? Indem er durch sein Schreiben die Macht übernimmt? Das Recht zur Objektivierung sei ein Privileg und gewissermaßen eine Macht: „Der gebrandmarkte zum Tode Verurteilte, den diese Macht überwältigte, beansprucht nun das Recht zur Objektivierung wieder für sich.“77 Bé wie Améry haben Auschwitz überlebt; Bé wählt die gleiche Alternative wie Améry – den Freitod. Die Fragilität des Überlebens zeigt sich hier als literarische Chiffre. Aber Bé ist auch ein Alter Ego von Kertész. Beide teilen die Analyse des funktionalen, schicksallosen Menschen in den Diktaturen, die Interpretation von Auschwitz als Katastrophe der Zivilisation, die Interpretation des Lebens nach Auschwitz als Überleben und die Analyse des Überlebenden. Keserü erzählt ein Gespräch mit Bé bei einem Spaziergang: B. entwickelte den Gedanken, es gebe den tragischen Menschen nicht mehr. […] Der total reduzierte Mensch, anders gesagt der Überlebende, sagte er, sei nicht tragisch, sondern komisch, weil er kein Schicksal habe. Auf der anderen Seite lebe er mit einem tragischen Schicksalsbewusstsein. Das sei ein Paradoxon, […] das sich ihm, dem Schriftsteller, als stilistisches Problem zeige.78

Im Galeerentagebuch definiert Kertész „die Möglichkeit der Tragödie“79 als Schicksal und damit auch als Freiheit: Sie besteht in der Möglichkeit der Auflehnung. Dem entgegen steht der Begriff der Schicksallosigkeit. Er steht im Zusammenhang mit dem funktionalisierten Menschen, der die Wirklichkeit als reine Determiniertheit erlebt, der sein Schicksal nicht zum Gegenstand der eigenen Arbeit an sich selbst machen kann. In diesem Gespräch erscheint Bé geradezu wie eine Symbiose aus Améry und Kertész. Bei beiden Schriftstellern beglaubigt die Literatur – oder besser: die Literarisierung des Lebens – das biographische Leben. Irene Heidelberger-Leonard weist darauf hin, wenn sie schreibt: „Wo das Leben nur als Kunst, nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist, ist es einerlei, ob Freiheit der Kunst oder dem Leben abgetrotzt wird. So besehen ist Amérys Freiheitsbegriff dem von Kertész erstaunlich nahe.“80 Wie schon erwähnt, sieht Bés

77 Ebd., S. 81. 78 Kertész, Liquidation, S. 24 f. 79 Kertész, Galeerentagebuch, S. 16. 80 Irene Heidelberger Leonard, „Einklang im Zweiklang. Imre Kertész im Dialog mit Jean Améry“, in: Ebert (Hrsg.), Das Glück des atonalen Erzählens, S. 371–384, hier: S. 373.

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Bühnenmanuskript die Wirklichkeit voraus. Bé hat vor seinem Tod Abschiedsbriefe an seine Geliebte Sara und an seine erste Frau Judith geschickt. Dieser hat er auch das Manuskript eines Romans gesendet. Dass sie es liest und seiner Bitte nachgebend auch verbrennt, ist von Bé genauso antizipiert worden wie der Verlauf eines Gesprächs zwischen Judith und ihrem zweiten Mann Adam, nachdem sie sowohl Bés Roman wie auch seinen Abschiedsbrief verbrannt hat. Liquidation besteht aus lauter Textfragmenten, die sich aufeinander beziehen und ineinander spiegeln. Dietmar Ebert sieht in der Romankomposition ein atonales „Ricercar“.81 Über diese komplizierte Textstruktur wird auch die Zukunft der Erinnerung thematisiert. Bé gibt Judith sein Manuskript zu lesen und zu verbrennen. Das Verbrennen wird zu einer symbolischen Wiedervereinigung zwischen ihnen: „Ich habe mich keinen Augenblick allein gefühlt. Es war, als sähen wir gemeinsam in die Flammen.“82 Bé versteht sich als Medium von Auschwitz; er hat alle seine Mittel angewandt, um dem gerecht zu werden, empfindet seine Bemühungen aber als gescheitert. In seinem Abschiedsbrief schreibt er: „Meine Vorstellung war unzureichend, meine Mittel haben nicht ausgereicht […]. Ich aber weiß zumindest, dass das einzige Mittel, das wir haben, gleichzeitig unser einziges Gut ist: unser Leben.“ Judith versteht jedes Wort, versteht auch den Auftrag: „Dir kommt es zu, diese Schrift zu verbrennen, mit der ich Dir unsere erbarmenswerte und vergängliche Geschichte in die Hände lege: Dir, die – unschuldig und ohne Kenntnis von Auschwitz – durch mich so tief von Auschwitz verwundet worden ist.“ Judith ist Jüdin, ihr legt Bé die erbarmenswerte Geschichte in die Hände, für sie, die er liebt, kann er die Geschichte zurücknehmen: „[…] Und mittels der durch erlittene Qualen erworbenen Ermächtigung nehme ich für dich, allein für dich, Auschwitz zurück[.]“ Kann Judith das annehmen? „Es ist immer der schuldig, der am Leben bleibt. Doch ich werde die Wunde tragen müssen.“ Die offengelassene Frage, was man ihren halbjüdischen Kindern erzählen soll, bildet den Schluss des Manuskripts. Doch unter Bés Papieren findet sich ein anderer Schluss, in dem Judith ihrem zweiten Mann Adam die Liebe als einzige Chance des Lebens anbietet und sich die beiden mit dem Wort „Lieben“ und verschiedenen Gegenständen bewerfen: „Lieben! Lieben? Lieben… […] Lieben… […] Die Wörter fliegen, die Gegenstände fliegen hinterher.“83

81 Vgl. Dietmar Ebert, „Im Spiegelkabinett gefangen – Der späte Roman Liquidation“, in: Ders. (Hrsg.), Das Glück des atonalen Erzählens, S. 347–370, hier: S. 351. Ebert geht auch dem von Földényi initiierten Vergleich zwischen der Komposition der Figuren von Liquidation und der Oper Herzog Blaubarts Burg von Béla Bartók nach. 82 Dieses Zitat und folgende: Imre Kertész, Liquidation, S. 131 f. 83 Ebd., S. 137.

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Bé fühlt sich durch sein Leiden ermächtigt, Auschwitz für Judith zurückzunehmen, aber Auschwitz ist für die Gesellschaft nicht zurückzunehmen. Auch aus diesem Text spricht die Überzeugung von Kertész, dass der Holocaust durch unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve in sich trägt. Ob dieses Trauma in konstruktiver oder destruktiver Form in der Gesellschaft Europas weiterlebt, wird laut Kertész zu einer Existenzfrage dieser Zivilisation werden. Sie steht im Zusammenhang mit der Zukunft der Erinnerung an Auschwitz, wenn die Überlebenden sie nicht mehr tragen können. Judith und ihre Kinder, aber auch ihr nicht-jüdischer Mann, bezeichnenderweise Adam genannt, müssen sich dieser Frage stellen. Dass Liebe in ihr eine fundamentale Rolle spielt, bleibt aber auch, wie in dem Essay Die exilierte Sprache, weiterhin präsent. Der Zufall und das Absurde des Überlebens werden auch in Liquidation thematisiert. Auch hier ist das Überleben nur durch eine gute Tat ermöglicht worden. Bé ist in Auschwitz geboren worden. Sein Leben hat er der Tatsache zu verdanken, dass man seine Mutter als politische Gefangene aus der Slowakei in die Krankenkartei eingetragen hatte. Wäre sie als ungarische Jüdin eingetragen worden, hätte der Säugling keine Überlebenschancen gehabt.84 Dafür meldete man den Tod einer Jüdin und erweckte eine längst verstorbene politische Gefangene aus der Slowakei mit Hilfe der Lagerregistratur zum Leben. Nach der Geburt nimmt man der Mutter sofort das Kind; aber es bleibt doch auf irgendeine Weise am Leben. Auch Köves im Roman eines Schicksallosen verdankt, wie Kertész selbst, sein Überleben einer guten Tat; beide werden sie im Krankenbau gepflegt. Dafür wird Kertész auch in der Krankenkartei für tot erklärt. Er hält an seinem Vorsatz fest, das Vorhandensein der „guten Taten“ nicht in eine erlösende Geschichte einzutragen; das wäre ein Verrat an den Toten. Ihr Überleben ist eine Ausnahme, eine Anekdote, aus der Perspektive des Absurden zu sehen, ein Sandkorn im Getriebe der Leichenmaschinerie. Wen interessiere, sagte er, seine der Lagerprominenz zu verdankende Ausnahmeexistenz, diese regelwidrige, einmalige Betriebspanne? Und wo hätte die nach dem nicht existenten B. genannte Ausnahme-Erfolgsstory ihren Platz innerhalb der allgemeinen großen Vernichtungsgeschichte?85

Mit dem prägnanten Bild der Betriebspanne verweist Kertész wieder auf Améry, der den Begriff in seinem Aufsatz Ressentiments benutzt.86 Damit wird aber die gute Tat durchaus in ihrer Musterhaftigkeit behandelt und als moralischer Sieg 84 Ebd., S. 37. 85 Ebd., S. 40. 86 „[…] und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, dass immerhin manche von uns überlebten.“ (Améry, „Ressentiments“, S. 146).

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

über den funktionalen Menschen herausgestellt. Sie beweist, dass es Jemanden gibt, der bereit ist anders zu handeln als vorgesehen, seine Freiheit, wie auch im Falle des Herrn Lehrers in Kaddisch, für ein Handeln im Guten zu nutzen. Bé schrieb auch eine moralische Fabel, deren Publikation verweigert wurde. Darin entwickelt er die These, dass das Lebensprinzip das Böse sei; das Gute könne trotzdem getan werden – „[W]enn auch nur um den Preis, dass der Handelnde sein eigenes Leben opfert. Es war eine kühne These, ebenso kühn wie die Prosa, in der sie formuliert war. Zudem spielte alles noch in den Kulissen eines Nazi-Konzentrationslagers.“87 Das Gute ist somit ein Akt der Freiheit. Freiheit ist für Kertész Freiheit der Selbstbestimmung und steht auch im Verhältnis zur Tragödie, dem Gegenbegriff zur Schicksallosigkeit. Aber auch im Verhältnis zum Glück. In Kaddisch gehört die Erfahrung der Freiheit zur Erfahrung des Glücks, und zu ihr gehört die Fähigkeit zur Güte: „[D]as wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse […], es ist das Gute.“88 Deshalb interessiert sich der Protagonist statt für das Leben der Diktatoren nur mehr für das Leben der Heiligen; es gebe keine rationale Erklärung für ihre Verweigerung der mörderischen Wirklichkeit.89

3.7 Roman eines Schicksallosen: Atonalität als Konstruktionsprinzip Die Begriffe der Schicksallosigkeit und des funktionalen Menschen entwickeln sich beim Schreiben des Romans eines Schicksallosen (1975). Und im Zusammenhang damit wird auch der Begriff des atonalen Schreibens von Kertész kreiert, den Kertész als bestimmend für sein ganzes Schreiben sieht. Beide Begriffe sind von seinen Erfahrungen des Lagers und der Diktatur von Rákosi und Kádár geprägt. In totalitären Systemen sei jedem Menschen ein Platz zugewiesen: „So lebt niemand seine eigene Wirklichkeit, sondern jeder nur die eigene Funktion, ohne das existentielle Erlebnis seines Lebens, das heißt ohne ein eigenes Schicksal, das für ihn Gegenstand von Arbeit – einer Arbeit an sich selbst – bedeuten könnte.“90 Schicksal setzt er, wie oben schon erwähnt, mit der Möglichkeit der Tragödie gleich. Das Leben des funktionalen Menschen ist determiniert: „Wenn wir also als Wirklichkeit die uns auferlegte Determiniertheit erleben statt einer

87 88 89 90

Kertész, Liquidation, S. 51. Kertész, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, S. 56. Ebd. Kertész, Galeerentagebuch, S. 9.

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aus unserer eigenen – relativen – Freiheit folgenden Notwendigkeit, so bezeichne ich das als Schicksallosigkeit.“91 Dabei gibt es nur zwei Schutzalternativen: Entweder man akzeptiert und passt sich an, versucht, die Fremdbestimmung dem eigenen Schicksal anzuverwandeln, oder man revoltiert dagegen. Beide Alternativen bleiben aber in der Determiniertheit befangen, sind also, so Kertész, nur Scheinalternativen. In diesem Sinn formuliert er das Dilemma meines Muselmanns: Wie kann er ein Schicksal aus der eigenen Determiniertheit gestalten. Diese Determiniertheit lässt sich ja nicht fortsetzen: Sie verliert ihre historische Gültigkeit und wird von allen geleugnet. So dass von ihr nichts bleibt außer der Erinnerung an körperliches Leid. Nun, und die Aussicht auf neue Determiniertheiten.92

Dabei wird impliziert, dass sein Protagonist ein Muselmann ist, also in einem Zustand ist, in dem das Überleben nur auf Grund einer außergewöhnlichen Situation geschehen kann, was tatsächlich der Evolution von Köves im Roman eines Schicksallosen entspricht. Dabei kommt aber auch die paradoxe Problematik des Überlebenden zum Ausdruck. Die Determiniertheit seiner Situation wird geleugnet, so dass er nur die individuelle Erinnerung an sein Leid hat, die sozial nicht gehört, nicht aufgenommen, nicht geteilt wird. Auch in dieser Hinsicht ist sein Leid unsagbar. Für die Darstellung dieser Gesellschaft, dieser Menschen, inklusive dieses Muselmannes, stellt sich das Problem für den Schriftsteller letzten Endes folgendermaßen: „Wie können wir eine Darstellung aus dem Blickwinkel des Totalitären vornehmen, ohne den Blickwinkel des Totalitären zum eigenen Blickwinkel zu machen?“93 Im Getriebe der totalitären Gesellschaft ist es eine Tatsache, „dass der Mensch fähig ist, Opfer und Henker zu sein, und im Getriebe der Todesmaschinerie wie ein Rädchen funktioniert“94. Den Totalitarismus darzustellen, ohne den Blickwinkel des Totalitären einzunehmen, ist einer der zentralen Aspekte des Schreibens von Kertész. Wenn in einem totalitären System die funktionalisierten Menschen sowohl Opfer wie Henker sein können, ist ein Blickwinkel, der der Situation gerecht wird, einer, der einen Augenblick der Freiheit ermöglicht. Die Option der Freiheit ist eine der Freiheit zum Guten; sie ist, wie am Beispiel des „Herrn Lehrers“ zu sehen ist, ein Akt, der weder vernunftmäßig noch logisch ist, der sich insofern der Vernunft und Logik von Auschwitz entgegenstellt. Die Güte

91 92 93 94

Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

ist eine Manifestation des Geistes, der Freiheit, des Schicksals; sie trotzt allem, was ist.95 Die Sprache, in der authentisch über den Holocaust geschrieben werden könne, bezeichnet Kertész als atonal; er kreiert sie als adäquat für sein Schreiben. Dass er auf eine Metapher zurückgreift, die er aus einem anderen Medium, der Musik, übernimmt, verweist wieder auf die Unsagbarkeit, auf die Suche in einem anderen Medium, um in der Sprache selbst das Verstummen in der Sprache zu markieren. In der Rede zur Verleihung der Goethe-Medaille, aus der zu Beginn des ersten Kapitels zitiert wurde, verweist Kertész auf Erinnerungsbilder als Requisiten, um den Schmerz wach zu halten, der für das Schreiben notwendig ist: „Denn, damit er dauert, braucht der Schmerz seine Requisiten. So wie die Leidenschaft, verkommt auch er ohne das lebende Objekt. Ich hatte solche Requisiten in Form von Bildern in mir bewahrt.“96 Erinnerungsbilder bilden die Elemente, aus denen die Erzählung komponiert wird. Die Bildlichkeit ist ein fundamentales Konstruktionselement in Kertész’ Werk; sie bestimmt den Blickwinkel und die Erzählperspektive, die Erstellung des Szenarios, in dem die Erzählung stattfindet – oder sie konzentriert sich in jenen Visionen, die zur Erkenntnis führen. Atonalität deklariere die Ungültigkeit von Übereinkunft, von Tradition, schreibt Kertész in seinem Essay Die exilierte Sprache. Sie deklariere die Ungültigkeit des Grundtons der Tradition, die mit Auschwitz endgültig zerbrochen sei: „Ein atonaler Roman. Was heißt Tonalität? Der Grundbass einer eindeutigen Moral, der Grundton, der überall darin brummt. Gibt es einen solchen Grundton? Falls es ihn gibt, ist er erschöpft.“97 Am 6. Dezember 1970 notiert er in seinem Galeerentagebuch, dank der Lektüre Adornos sehe er klar, dass die Technik seines Romans der Zwölfton- bzw. der Reihentechnik folge, also einer integralen Kompositionsmethode. Sie verbiete freie Charaktere und die Möglichkeit einer freien Wendung der Erzählung: „Die Charaktere sind hier thematische Motive, die innerhalb der Struktur der Totalität, welche von außen her über den Roman herrscht, auftreten.“98 Davon ausgehend schließt Kertész ganz konkret Wendungen wie Flucht oder anekdotische Teillösungen aus. Der Roman eines Schicksallosen erzählt die Geschichte des 14-jährigen Gyurka Köves aus Budapest von der Einberufung seines Vaters ins „Arbeitslager“ an, über seine eigene Deportation nach Auschwitz, Buchenwald, Zeitz und zurück 95 96 97 98

Vgl.: László F. Földényi, „Güte“, in: Ders. (Hrsg.), Schicksallosigkeit, S. 137–139, hier: S. 139. Kertész, „Das sichtbare und das unsichtbare Weimar“, S. 106. Kertész, Galeerentagebuch, S. 74. Ebd., S. 26 f.

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nach Buchenwald ins Krankenrevier bis hin zu seiner Rückkehr nach Budapest nach der Befreiung des Lagers. Er ist zeitlich geordnet und spielt auf das Muster sowohl eines Bildungs- wie eines abenteuerlichen Reiseromans an, – Muster, die gleichsam von Grund auf als untauglich entlarvt werden, weil sie die Geschichte, die zu erzählen ist, und die Perspektive, aus der sie erzählt wird, verzerren und umdeuten. Die Zuschreibung einer poetologischen Atonalität geschieht im Laufe des Schreibens, gewissermaßen a posteriori, in metaphorischer Weise. Jahre später, 1985, aus Anlass der neuen Auflage, notiert Kertész weitere Gedanken zur Komposition des Romans. Er gibt die Fragen an, die die Tonart des Romans bestimmen: Nach dem „Warum“ werde in den ersten Kapiteln gefragt; die Fragestellung erweise sich als sinnlos; es gebe kein „Warum“. Die zweite Frage sei das „Wie“ und sie werde im Mittelteil behandelt. An dritter Stelle werde nach der Möglichkeit des Am-Leben-bleibens gefragt; viertens stelle sich die Frage, ob es möglich und erlaubt sei, am Leben zu bleiben, nachdem man am Leben geblieben sei, also ob es möglich sei, das Überleben zu überleben.99 Was die Struktur betrifft, verweist Kertész auf Anton Webern und sein Konzept, dass eine Reihe nicht willkürlich sei, sondern „aufgrund bestimmter Überlegungen angeordnet. Grundlage jeder Überlegung war bei mir die Ähnlichkeit zwischen der Struktur des dargestellten Gegenstandes und der strukturellen Anordnung des Romanstoffes“100. Die Struktur und die Sprache des Romans selbst entlarven die Sprache und die Werte, die Kertész als „Vor-Auschwitz“-Sprache und -Werte bezeichnet, indem er sie als der schrecklichen Wirklichkeit unangemessen zeigt. Die Reise und die erhofften großen Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland, die Köves und seine Freunde mit gespannter Aufregung erwarten, werden zur Fahrt im Viehwagon nach Auschwitz. Die Entwicklung des Jungen erweist sich als eine Einweisung in das Leben im Lager, als eine Erziehung, die in den Tod führen muss. Aber das Spektakulärste an dem Roman ist die Konstruktion der Erzählperspektive des Protagonisten; in ihr lässt sich die atonale Komposition von Kertész am besten erkennen. Der Autor hat selbst auf die Strenge der Struktur verwiesen, darauf, dass die Regeln der konstruierten Fiktion es ihm unmöglich machten, bestimmte Begebenheiten in ihr zu erzählen. Der Vergleich mit dem Filmdrehbuch, den er selbst für die Verfilmung seines Romans geschrieben hat, gibt einen guten Hinweis auf den Unterschied zwischen den zwei Medien, so wie ihn Kertész empfindet. Dort schreibt er im Vorwort, dass der Schriftsteller sich als Drehbuchautor dabei

99 Vgl. Kertész, Galeerentagebuch, S. 200 f. 100 Ebd., S. 201.

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ertappe, dass „er plötzlich ausführlicher und persönlicher wird. Nun kann er gewissen autobiographischen Erinnerungen, auch Anekdoten, die er als Romancier damals strengstens verwerfen musste,“101 Genüge tun. Die Erinnerungsbilder sind für Kertész Requisiten, um den Schmerz wach zu halten; sie dienen also der Erinnerung und dem Schreiben, das diese Erinnerung beschwört. Das visuelle Medium des Films erlaubt eine größere Umsetzung der autobiographischen Komponente; die Visualität ist näher, nicht distanziert wie die zur Fiktion konstruierte Schrift. Eine Szene, die im Roman eines Schicksallosen ausgespart werden musste, kann im Film wieder präsent sein. In der Nacht, die die schon gefangen genommenen Juden in der Gendarmeriekaserne verbringen, wird die Stadt bombardiert. Zum Teil völlig betrunkene Gendarmen richten die Maschinengewehre auf die im Kasernenhof versammelten Juden mit der Beschuldigung, sie hätten den englischen Flugzeugen mit Kerzen Zeichen gegeben, und drohen, sie bei der ersten einschlagenden Bombe alle zu erschießen: „Wenn auch nur eine einzige Bombe in der Umgebung fällt, metzeln wir euch alle hier, an Ort und Stelle, nieder!“102 Die Szene ist wichtig, weil sie die Verantwortung der Gendarmen für die Deportation zeigt und so den Antisemitismus in der ungarischen Gendarmerie selbst bezeugt. Sie rechtfertigt das schwierige Verhältnis Kertész’ zur eigenen Nationalität, der er nichts zu verdanken hat. Dazu gehört auch die Szene an der Grenze, wo der ungarische Polizist den im Wagon gefangenen Juden ihre Wertsachen abnehmen will mit dem Argument, dass diese damit immerhin in ungarischen Händen blieben: „Schließlich seid auch ihr ja eigentlich Ungarn!“103 Als sie dafür Wasser haben wollen, und zwar bevor sie ihm Geld geben, kann er sie mit einem antisemitischen Stereotyp beschimpfen: „Ihr Saujuden, ihr würdet noch aus den heiligsten Dingen ein Geschäft machen!“104 Diese Szene konnte Kertész im Roman eines Schicksallosen beschreiben. Warum nicht die Szene auf dem Kasernenhof? Was für strenge Regeln der Fiktion sind es, die das unmöglich machen? Sie liegen wohl in der Konstruktion des Blickwinkels, aus dem Köves erzählt und aus dem der Roman erzählt wird, in der Konstruktion der Erzählperspektive. Köves würde womöglich seine konstruierte und fiktive Naivität zu früh verlieren müssen, wenn er gleich mit so einer Szene konfrontiert würde. Die außerordentliche Wirkung des Romans auf die Leser, die Betroffenheit, die er auslöst, hat gerade mit der Perspektive der Köves in den Mund gelegten Erzählung zu tun. Köves erzählt aus der Haltung von jemandem, der nichts weiß und

101 Kertész, Schritt für Schritt, S. 8. 102 Ebd., S. 59. 103 Kertész, Roman eines Schicksallosen, aus d. Ungar. v. Christina Viragh, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 85. 104 Ebd.

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langsam lernt, also seine Entwicklung beschreibt. Der skandalöse Faktor ist, dass diese Entwicklung ihn in ein Konzentrationslager führt. Seine Naivität ist nicht durch den Anspruch verursacht, die Perspektive eines 14-jährigen psychologisch real zu beschreiben, einen Charakter zu zeichnen. Psychologische Charakterzeichnung gehört zu der Sprache des 19. Jahrhunderts, die nicht mehr gültig ist: Die große Entdeckung der Neuen Prosa: die Eliminierung des Menschen aus dem Zentrum der Dinge. Eine qualitative Veränderung, die den Roman – aber auch das Gedicht – zum Text, zum reinen Text verwandelt, dem man das Subjekt gleicherweise entzogen hat, wie die Sach- und Machtstrukturen der Welt das Individuum zerschlagen und auf bloße Impulse reduziert haben.105

„Heute war ich nicht in der Schule.“106 Sachlich und lakonisch fängt der Roman an. Der Protagonist, der so erzählt, beschreibt mit der gleichen Lakonie die horrendesten Dinge, mit denen er nach und nach konfrontiert wird. Die Realität mit den Augen eines Kindes oder eines Unwissenden zu beschreiben, also mit Augen, die die Zusammenhänge nicht kennen und sie somit ausleuchten und sichtbar machen, ist ein altes Verfremdungsmittel der Kunst. Victor Sklovsky erwähnt es in seinem epochemachenden Aufsatz über Die Kunst als Verfahren,107 in dem er die Kunst als ein Verfahren definiert, das mit Hilfe der Verfremdung die Welt wieder sichtbar werden lässt, unsere automatisierte Wahrnehmung von ihr wieder ursprünglich macht – mit Sklovskys Worten den Stein wieder Stein und den Schmerz wieder zum Schmerz werden lässt. Ferner ergibt sich die Wirkung von Köves’ Sprache auch daraus, dass der Leser viel mehr als dieser über seine Situation weiß. Auch darin besteht die Provokation seiner Naivität. Hinzu kommt, dass seine Sprache und seine gesamte Evolution das Scheitern der Sprache vor Auschwitz vorführen. Wenn Kertész schreibt, in den ersten Kapiteln werde die Frage des „Warum“ behandelt, um zu schließen, dass es überhaupt kein „Warum“ gab, kann man darin auch die Vorführung der absoluten Inadäquatheit einer falschen, der Realität nicht mehr angemessenen Sprache sehen. Wenn Köves’ Vater zu einem Arbeitslager einberufen wird und die Vorführung der ganzen Familie „ein angemessenes Verhalten“108 an den Tag legt und dieses auch von dem Protagonisten erwartet, wenn Herr Sütó die „Ware“109 (den Schmuck der Stiefmutter) und auch den Holzhandel des Vaters an sich nimmt und eine Be-

105 Kertész, Galeerentagebuch, S. 70. 106 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 7. 107 Victor Sklovsky, „Kunst als Verfahren“, in: Jurij Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München 1969, S. 3–36, hier: S. 15–17. 108 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 8. 109 Ebd., S. 11.

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scheinigung vorlegen will, die in Wirklichkeit nichts bescheinigen kann, sondern sogar gefährlich wäre, wenn der Rucksack für den Vater mit allem Nötigen bepackt wird, – dann tut dem Leser die Unangemessenheit geradezu weh.110 Mit der Sprache, die Köves’ Familie benutzt, wird die Hilflosigkeit derjenigen gezeigt, die sie sprechen und die versuchen, gegen ein tieferes Wissen trotzdem an ihr festzuhalten. Sie benutzen damit aber eine Sprache, die zur Sprache ihrer Folterer geworden ist. Herr Fleischmann und Herr Steiner, die Nachbarn im Haus, führen sie auch nach dem Krieg weiter. Als Köves zurückkehrt, melden sie ihm, dass sein Vater in Mauthausen nach Zeugnis von Kameraden „nach kurzem Leiden verschieden sei“111. Die Parameter der Vernunft und der Moral anzunehmen, die hinter einer solchen Sprache herrschen, erweist sich nicht nur als völlig unangebracht, sondern auch als tödlich. Haarsträubend wirkt es auf den Leser, wenn Köves bei seiner Ankunft im Lager vor dem Anblick der Häftlinge erschrickt und auf die Ordnung der Soldaten, also der SS, hofft. Köves erweist sich als redlich bemüht, die Wirklichkeit zu akzeptieren und sich in ihr zu bewähren. Diese Logik führt aber nur in den Abgrund, – ebenso wie das Verstehen der Situation: „Ich kann sagen, dass ich mir, noch bevor der Abend des ersten Tages herabsank, im Großen und Ganzen schon über alles so ziemlich genau im Klaren war.“112 Das Verstehen hat im Roman aber auch eine entlarvende Funktion: György Köves ist nun imstande, die Organisation nachzuvollziehen, in der Gaskammern entwickelt werden und die Strategie der Täuschungen, die dafür notwendig ist: Einer kommt dann auf die Idee mit dem Gas, ein anderer dann gleich auf die Idee mit dem Bad, ein Dritter auf die mit der Seife, ein vierter wiederum fügt die Blumen hinzu und so weiter. […] Die Ideen der Befehlshaber werden dann mittels vieler emsiger Hände, eifriger Betriebsamkeit verwirklicht, und am Erfolg der Darbietung, das sah ich wohl, konnte nicht der geringste Zweifel bestehen.113

110 Marcel Reich-Ranicki hielt am 27.01. 2012 im deutschen Bundestag eine Rede zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus; darin erzählte er seine Erinnerungen an den 22.07.1942 in Warschau, dem Tag, an dem die „Umsiedlung“ der Juden aus dem Ghetto „nach Osten“ verordnet wurde und begann. Mit „Umsiedlung nach Osten“ waren Transporte nach Treblinka gemeint: „Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.“ Reproduktion der Rede in: Ders., „Ein Tag in meinem Leben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.2012, S. 29. Zur Sprache des Dritten Reichs vgl. Victor Klemperer, LTI (Lingua Tertii Imperii). Notizbuch eines Philologen, Stuttgart 2010. 111 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 278. 112 Ebd., S. 122. 113 Ebd., S. 127.

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Das Verständnis der Todesmaschinerie führt zu einer Perspektive der Natürlichkeit, der Normalität des Horrors. Wenn Köves einen „Fehler im Getriebe“ des funktionierenden Lagers darin sieht, dass die schlechten Haftbedingungen die Arbeitsqualität der Häftlinge mindern, dann ist seine Fähigkeit zum Widerstand im Schwinden begriffen. „Ne pas chercher à comprendre“, hat in Levis Wenn das ein Mensch ist ein Häftling in seinen Napf eingraviert. Améry spricht von der geringeren Überlebenskapazität des Intellektuellen im Lager, weil er in dem Moment, in dem er das genaue Funktionieren der Todesmaschinerie versteht, auch einsieht, dass er ihr nicht entgehen kann. Kertész’ fiktiver Protagonist führt seine Überlegungen weiter: Mit der Erinnerung an seinen gerade erfolgten Eintritt ins Gymnasium und der Rede des Direktors unter dem Motto non scholae sed vitae discimus wird seine humanistische Bildung zu einer Groteske. Seine Folgerung, dass er eigentlich für das Konzentrationslager ausgebildet worden sei, dafür aber nicht genügend Information erhalten habe, entspricht durchaus der Situation. Sein Verstehen ist ein Entlarven, das die Situationen auf die Spitze treibt. Köves’ Sätze enthalten Ausdrücke wie: „[S]o wie ich es sehe, natürlich, so denke ich“. Sie drücken eine Natürlichkeit und eine Normalität der Vernichtung aus, die so provokativ sind, weil diese Normalität, wie ihm der Journalist bei Köves’ Rückkehr sagt, überhaupt nicht natürlich ist. In einem Lager aber, ist die Erwiderung von Köves, ist sie es. In dem Maße, in dem sich Köves in die Lagerdynamik einfügt, die die Chance des Überlebens zu sein scheint, wird er zum Opfer der Lagerumstände und letztlich zum überlebensunfähigen Muselmann. Der Versuch, ein guter Häftling zu sein, führt in den Tod. Camus schreibt über Kafka, dass der „ständige Wechsel zwischen Natürlichem und Außergewöhnlichem, zwischen Individuum und Allgemeinem, zwischen Tragik und Alltäglichem, zwischen Absurdem und Logischem“114 dessen ganzes Werk durchzieht und ihm seine Wirkung und seine Bedeutung gibt; diese Paradoxa seien Schlüssel zum Verständnis des Absurden. Sowohl Camus wie Kafka sind Autoren, in deren Tradition sich Kertész stellt und die für sein Schreiben bestimmend sind. Die Realität der Lager führt sowohl die Paradoxie wie auch das Absurde an tödliche Grenzen. Dass Köves’ „Normalisierung“ im Lager ihn an den Tod heranführt, zeigt sich in der Szene des Zementschleppens, die einen Wendepunkt in der Erzählung markiert. Beim Schleppen von 10- bis 15-Kilo-Zementsäcken, was im Prinzip „in jedem Kommando – völlig zu Recht […] – nur mit der Freude zu begrüßen [ist], die

114 Albert Camus, „Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka“, in: Ders., Der Mythos des Sisyphos, aus d. Franz. v. Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 163–180, hier: S. 167.

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seltenen Gelegenheiten gebührt“115, lässt der völlig geschwächte Junge einen Sack fallen, der zerplatzt. Der brutale und außer sich geratende Soldat der Organisation „Todt“, der die Aufsicht hat, schlägt Köves mit Fäusten und Stiefeln, drückt ihm das Gesicht in den Zement, verlangt, dass er ihn zusammenkratzt, aufleckt, usw. und lädt ihm von da an persönlich die Säcke auf, verfolgt ihn geradezu mit ihnen. Köves schleppt sich hin, lässt aber tatsächlich keinen weiteren Sack fallen: „Und das war ja – das musste ich einsehen – alles in einem die Bestätigung für ihn. Andererseits fühlte ich am Ende dieses Tages, dass etwas in mir unwiederbringlich kaputtgegangen war, von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte, an dem ich noch aufstehen würde[.]“116 Der Sieg des Folterers besteht in der Gebrochenheit des Opfers; damit ist aber dessen Weg in den Tod besiegelt. Kurz danach kann Köves Ekel in den Augen eines Wächters sehen und gibt zu, dass dafür einiges Recht besteht – er kann zwar noch zu bedenken geben, dass er nicht ganz allein Schuld an seinem ekelerregenden Zustand sei, sieht aber, dass dies schwer zu beweisen ist. Der Gefolterte ist nun ganz in der Macht der Folterer und deren tödlicher Sprache. Ab jetzt lässt sich Köves gehen, wird zum Muselmann. Sein Mentor Bandi Citrom, der ihn gelehrt hat, im Lager zurechtzukommen, und insofern zu seinem Überleben geholfen hat, kann ihn nicht mehr halten. Köves kommt ins Krankenrevier und findet sich schließlich unter Sterbenden und Leichen. Als er sich später dem Journalisten gegenüber weigert, das Lager als Hölle zu bezeichnen, führt er die Langeweile als Charakteristik des Lagers ein. Langeweile, Alltag, Warten. Wie in Thomas Manns Zauberberg wird im Roman eines Schicksallosen über die Zeit nachgedacht, wird die Zeit zum Thema gemacht. Auch hier steht sie still im Bewusstsein, im reglementierten Alltag, aber gleichzeitig rast sie: Erst in Zeitz bin ich dahintergekommen, dass auch die Gefangenschaft ihren Alltag hat, ja, dass echte Gefangenschaft im Grunde aus grauem Alltag besteht. Mir schien, dass ich schon einmal in einer etwa ähnlichen Lage gewesen war, und zwar in der Eisenbahn, unterwegs nach Auschwitz. Auch dort hatte alles von der Zeit abgehangen, nun ja, und dann auch von den Fähigkeiten jedes Einzelnen. Nur dass ich – um bei meinem Beispiel zu bleiben – in Zeitz allmählich das Gefühl hatte: Der Zug steht still. Andererseits – und auch das stimmte – raste er so schnell, dass ich den vielen Veränderungen vor mir, um mich herum, aber auch in mir selbst kaum folgen konnte. Eines kann ich zumindest sagen: Ich meinerseits habe den ganzen Weg zurückgelegt, habe sämtliche Möglichkeiten, die sich auf dem Weg ergeben, redlich ausprobiert.117

115 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 187. 116 Ebd., S. 188. 117 Ebd., S. 151.

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Die Bewegung und das Stillstehen des Zuges stehen gegeneinander. In diesem geschlossenen Zeit-Raum findet der „redlich ausprobierte“ Weg des Jungen statt: ein Bildungsweg in den Tod. Dabei findet das Warten, das angebliche Stillstehen, einen neuen Bedeutungszusammenhang – es wird zu einem Privileg, denn solange man warten kann, lebt man noch: So habe ich dann gemerkt: selbst in Auschwitz kann man sich offenbar langweilen – vorausgesetzt man gehört zu den Privilegierten. Wir warteten und warteten – und wenn ich es recht bedenke, so warteten wir eigentlich darauf, dass nichts geschähe. Die Langeweile, zusammen mit diesem merkwürdigen Warten: das, ungefähr dieser Eindruck, glaube ich, mag in Wirklichkeit Auschwitz bedeuten – zumindest in meinen Augen.118

Die Konstellation, dass Warten mit Erwartung zusammengeht,119 wird hier zerschlagen. Es handelt sich um ein Warten, das weder Angst noch Hoffnung enthält, ein Warten um seiner selbst willen.120 Warten ist Überleben, die Alternative zum Warten ist der Tod. Das Warten des Muselmanns ist nicht von der Erwartung eines zukünftigen Lebens außerhalb des Lagers geleitet, wie es zum Beispiel Bandi Citrom verkörpert, der die Rückkehr nach Hause immer vor Augen hat. Die Rückkehr in die Heimat ist für Köves keine hoffnungsvolle Alternative, sie war es eigentlich nie; das Bewusstsein, dass er von seinen ungarischen Mitmenschen weggejagt, deportiert worden ist, ist bei ihm (wie bei Kertész und Améry) vorherrschend. Wie Annette Keck angibt, ist das Überleben immer mit Hoffnung, mit Zukunftsorientierung verbunden; die „Muselmänner“ werden als überlebensunfähig angesehen: Sie sind schon dem Tode anheim gegeben. Die „Muselmänner“ werden von Köves als „lebende Fragezeichen“ bezeichnet. Sie lassen das Überleben beim Warten buchstäblich fraglich werden.121 Aber Köves setzt sich insofern über seine „Muselmannrealität“ hinweg, als er sie bezeugt; dazu sind „Muselmänner“ nicht mehr imstande. Levi bekundet: „Der gewöhnliche Häftling ist auch von mir beschrieben worden, wenn ich von den ‚Muselmännern‘ berichte; die ‚Muselmänner‘ selbst haben sich jedoch nicht geäußert.“122 Köves überlebt, er kommt aus seiner „Muselmannrealität“ heraus,

118 Ebd., S. 134. 119 Vgl. Lothar Pikulik, Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten, Göttingen 1997. 120 Vgl. Annette Keck, „Merkwürdiges Warten. Imre Kertész’ Beitrag zu einer Poetik des Wartens zwischen Erinnern und Vergessen im Roman eines Schicksallosen“, in: Manuela Günter (Hrsg.), Überleben schreiben, Würzburg 2002, S. 139–154, hier: S. 145 f. 121 Ebd., S. 147. 122 So Primo Levi zu Marco Viviani (Primo Levi, „Worte, Erinnerung, Hoffnung“, S. 226). – Im Original: „Il destino del prigioniero comune non l’ha raccontato nessuno, poiché non era materi-

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wird erlöst durch einen vernunftwidrigen Akt: durch eine gute Tat. Er wird durch das Eingreifen einer ganzen Anzahl von Menschen gerettet. Dafür, dass man Köves’ Geschichte nicht als eine Erlösungsgeschichte mit harmonischem Ausgang lesen soll, dient weiterhin die Sprache des Romans. Denn die lakonische Schilderung von Köves beschreibt eine Welt, in der alles auf den Tod hin ausgerichtet ist. Wenn plötzlich in einem Krankenrevier versucht wird, zu heilen, wird die Normalität transgrediert. Das Neuartige dieser Erfahrung ist für Köves nur schwer und mit Zögern realisierbar. Die Spannung der Erzählung wird jetzt dadurch konstruiert, dass der Leser – wie Köves – im Unverständnis der Situation die bis jetzt gültigen Parameter anwendet, also immer das Schlimmste (Normalste) erwartet. Überraschenderweise aber tritt dies nicht ein; das Vorhandensein von Laken deutet zum Beispiel zu Köves Überraschung nicht darauf hin, dass die Kranken in besonders raffinierter Weise ausgehungert oder monströsen chirurgischen Operationen zugeteilt werden, sondern auf die Pflege, die ihnen tatsächlich zuteil wird. Bezeichnenderweise wird jetzt im Erzählen die zweite Person eingesetzt, ein „Du“ universalisiert; dies macht Erzähler und Leser zu Komplizen und schafft eine Gemeinschaft zwischen ihnen. Wie sein Autor Kertész wird Köves durch kommunistische Ärzte in Buchenwald gerettet. Die konkreten Umstände von Kertész’ Rettung liegen im Dunkeln; in Buchenwald sind nur die von ihm in seiner Nobelpreis-Rede erwähnten Dokumente erhalten.123 Die gute Tat, ein Akt der absoluten Freiheit, ist somit nötig für

almente possibile sopravvivere per lui […]. Il prigioniero comune è stato descritto anche da me, quando parlo di „musulmani“: però i musulmani non hanno parlato“ (Primo Levi, „Le parole “, S. 215). 123 Im Rahmen der mit Volkhard Knigge während unserer Forschungszeit als Senior Fellows im FRIAS gewechselten Gespräche und E-mails hat sich Knigge zu den Umständen der Rettung von Kertész folgendermaßen geäußert: Das von – kommunistischen – Kapos betreute Revier (Krankenblock) konnte zum Schutz genutzt werden, einmal für Tauschaktionen, wie im Fall von Stéphane Hessel, oder um Häftlinge für einen Moment den Augen der SS zu entziehen (durch vorgetäuschte Krankheiten) und ihnen Erholung zu ermöglichen. In der Regel mussten dazu aber SS-Ärzte bestochen oder auf andere Weise zum Mitmachen bewegt werden. Wir haben keinen Hinweis auf einen Austausch im Fall von Kertész. Ein Austausch war unabdingbar im Fall des Schutzes von zum Transport Befohlenen, weil die Transportzahlen stimmen mussten. Ein Austausch war auch zwingend notwendig vor der Endphase, weil die Zahl der Toten wie der Lebenden stimmen musste, und auch, weil nur ein registrierter Häftling in die Verpflegungsrationen mit einbezogen wurde, mochten sie noch so klein sein. Bis etwa Mitte März funktionierte die Lagerbürokratie recht präzise, erst danach brach auch die Häftlingsregistrierung zusammen. Häftlingsärzte hatten faktisch am ehesten die Möglichkeit, einen Häftling zum Schutz für tot zu erklären, standen dann aber vor dem Problem, dass der registrierte Tote „beseitigt“ werden musste und der so Geschützte aus der Verpflegung heraus fiel, also von den Rationen eines oder mehrerer Mithäftlingen ernährt werden und den Augen der SS entzogen bleiben musste. Das wäre über

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das Überleben im Lager und eröffnet einen Ausblick auf die Anwesenheit des nicht funktionalisierten Menschen, der mit der Freiheit zum nicht-konformen Handeln auch ein eigenes Schicksal gewinnt. Aber sie zeigt sich auch als vernunftwidriges Handeln; sie lässt es nicht zu, die Geschichte vom Ende her, als Erlösungsgeschichte, zu erzählen. In dieser Hinsicht zeigt die Heimkehr von Köves auch die Unmöglichkeit der Kommunikation mit Außenstehenden, das Fehlen einer Sprache dafür. Die Nachbarn Fleischmann und Steiner beharren auf der gleichen, nun besonders unangemessenen Sprache, die sie am Anfang des Romans benutzten, und kommentieren den Tod von Köves’ Vater, wie schon erwähnt, als einen „nach kurzem Leiden“ eingetroffenen; sie befürworten das schnelle Vergessen. Das Gespräch zwischen Köves und dem Journalisten signalisiert eine geradezu paradigmatische Situation der Nichtkommunikation. Köves trifft den Journalisten bei seiner Rückkehr an der Straßenbahn; der Journalist hilft ihm, indem er ihm eine Fahrkarte für die Straßenbahn kauft, in der er sonst nicht fahren könnte. Der Journalist ist im Prinzip und im Unterschied zu anderen in der Straßenbahn sitzenden Figuren zur Kommunikation bereit; er möchte wissen, was im Lager passiert ist. Aber er hat nur unangemessene Metaphern anzubieten: das Wort Hölle an erster Stelle. Erinnern wir uns daran, wie Améry sein Alter Ego Eugen Althager zur Automatisierung der Bezeichnung „Hölle“ sagen lässt, dass ihm gerade die zahllosen Höllen-Bücher über die Lager oder die Wochenschauen als Einleitung zu angenehmen Spielfilmen sein Leiden und sein Wissen über die Zeit „gestohlen“ hätten. Als Massenschicksal und in einer automatisierten Sprache dargestellt, wird dem Subjekt sein individuelles Leiden auch zu einem Massenschicksal verfremdet. Demgegenüber hat Köves sein Erlebnis der Zeit und des Wartens anzubieten. Der Journalist ist erschüttert, kann aber eigentlich nicht verstehen. Er versteht nicht einmal, dass Köves erst einmal sein eigenes Leben wiedergewinnen muss. In seinem Vorschlag, den Zufall ihrer Bekanntschaft zu einem „glücklichen Zufall“ zu machen, klingt etwas großspurig die Goethe-Schiller-Freundschaft nach; sie soll auch zu gemeinsamen Aufsätzen zur Beschreibung der Lager führen, um über die Gräueltaten zu informieren. Für Köves ist das keine Alternative. Die Alternative, die er dem „Vergessen“ der Fleischmanns und Steiners entgegenstellt, ist die Wiedergewinnung des eigenen Schicksals: ein Akt der Freiheit,

einen langen Zeitraum nur sehr schwer bzw. gar nicht möglich gewesen, schon gar nicht ohne Deckung durch einen SS-Arzt. Angesichts des Endes gab es allerdings durchaus Rückversicherungsinteressen unter manchen von diesen. So viel kann man zu den Umständen sagen, unter denen Kertész geschützt wurde. Man könnte dies zugespitzt vielleicht so formulieren: Es gab einen Menschen, der ihn gleichsam doppelt unter dem Mantel des Todes schützte, dem „kleinen“ erfundenen Tod und dem großen Sterben in einem hoffnungslos überfüllten Lager.

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der Annahme. Mit seiner Metapher des Schritt-für-Schritt-Gehens stellt sich Köves außerdem gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus: Es musste nicht so kommen, jeder hat seine Schritte getan, und so ist es geworden: Auch ich habe ein gegebenes Schicksal durchlebt. Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt – und ich begriff nicht, warum es ihnen nicht in den Kopf ging, dass ich nun eben etwas damit anfangen, es irgendwo festmachen, irgendwo anfügen musste, dass es jetzt nicht mehr genügen konnte, mir zu sagen, dass es ein Irrtum war, ein Unfall, so eine Art Ausrutscher, oder dass es eventuell gar nicht stattgefunden hat, womöglich. […] Aber auch so habe ich ihnen erklärt, dass man nie ein neues Leben beginnen, sondern immer nur das alte fortsetzen kann. Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mit Anstand. […] Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich: Wenn es aber […] die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal, das heißt also – ich hielt inne, aber nur, um Atem zu holen –, das heißt also, wir selbst sind das Schicksal.124

Die ‚Poetik der Schritte‘ hat auch mit der Linearität zu tun, die das Erzählen regiert. Man darf sozusagen nichts überspringen, weil dann die Begebenheiten als implizit und notwendig erscheinen. Kertész schreibt in seinem Galeerentagebuch über die zwanzig Minuten zwischen Zugankunft und Selektion auf der Rampe, die meistens vergessen oder verwischt werden. Er erinnert sich an sie und sucht nach Fotos: Hübsche, lachende Frauengesichter, verständnisvoll dreinblickende junge Männer, voll von den besten Absichten zur Mitarbeit. Nun verstand ich, warum und wie diese beschämenden zwanzig Minuten der Untätigkeit und Wehrlosigkeit sich in ihnen so hatten verwischen können. Und als ich darüber nachsann, dass sich das alles immer wieder und genauso wiederholt hatte, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, eine lange Reihe von Jahren hindurch, da begriff ich die Technik des Schreckens, begriff, wie es möglich gewesen war, die menschliche Natur selbst gegen das Leben des Menschen zu wenden. So habe ich mich Schritt für Schritt, auf dem linearen Weg der Erkenntnis voranbewegt; es war, wenn Sie so wollen, meine heuristische Methode.125

Der Roman führt Schritt für Schritt zur Erkenntnis, setzt sich dem Vergessen entgegen wie auch der Sinngebung der erzählten Geschichte vom Ende her, einer Sinngebung, die letzten Endes die Vernichtung durch das nationalsozialistische Regime irgendwie harmonisieren könnte. „Wer aus dem KZ-Stoff literarisch als Sieger, das heißt erfolgreich, hervorgeht, lügt und betrügt todsicher: So schreibe deinen Roman“, schreibt Kertész in sein Galeerentagebuch.126

124 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 184. 125 Kertész, „Heureka“, S. 250. 126 Kertész, Galeerentagebuch, S. 30.

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Köves’ Erkenntnis stellt sich in den Gesprächen mit dem Journalisten und ganz besonders, geradezu kathartisch, mit den Fleischmann-Steiner-Nachbarn dar. In der Verweigerung des Vergessens, die Köves gegenüber seinen ehemaligen Nachbarn äußert, fällt provokativ das Wort Glück. Der Roman endet mit einem Verweis darauf: „Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.“127 Vom Glück im Lager statt von Gräueln zu erzählen, erscheint auf den ersten Blick als eine Provokation. Damit wird wieder einmal die normale Erwartung in ihr Gegenteil verkehrt. Dies kann aber auch mit Distanzierung und Fokussierung zu tun haben: Semprún betitelt den Roman, den er über seine Gefangenschaft in Buchenwald schreibt, Was für ein schöner Sonntag: Er hält die Sonntage, die Ruhetage, für den geeigneten Blickwinkel, um den Horror distanziert und damit umso beeindruckender zu schildern. Die Schilderung des „glücklichen“ Sonntags impliziert auch ganze Serien von nicht geschilderten Gräueltaten, die dabei sichtbar werden, ohne direkt beschrieben zu werden, in gewisser Weise unter Repräsentationsverbot stehend. Sie bilden das durchleuchtete Negativ, die tönende Grenze des Ungesagten. Bei Kertész hat der Verweis auf das Glück möglicherweise ebenfalls einen distanzierenden Effekt, der das Unglück zum Tönen bringt. Aber es geht noch um einiges mehr. In Dossier K. schreibt Kertész über die Kohärenz des Romans, in dem Autobiographisches und Fiktionales zu einer Form zusammenfließen, die den Erzählgestus, die Bilder und die Sprache beinhaltet. Auf die Frage des Interviewers, einer Art von Alter Ego, nach dem Sinn von Worten wie „Glück“ und „Heimweh“, erklärt Kertész diese als Wörter, die nur in ihrer Immanenz Bedeutung erlangen. In der dramaturgischen Wirkung, die ihnen Ort, Zeit und das komplizenhafte Einverständnis des eingeweihten Lesers verleihen. In einem Roman verändern bestimmte Wörter ihre gewöhnliche Bedeutung; so wie man zur Errichtung einer Kathedrale zwar Ziegelsteine braucht, wir am Ende aber die Türme und das Bauwerk bewundern, die durch sie Form gewonnen haben.128

Damit verweist er auf einen immanenten Sinn von Glück im Roman. Wenn wir aber auf die Momente achten, die er im Zusammenhang mit diesem erwähnt, kann man dem Begriff näher kommen. Es sind Momente, die als Erinnerungsbilder beschworen werden, in denen das Licht eine fundamentale Rolle für das Erinnern spielt und auch die Zeit markiert.

127 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 287. 128 Kertész, Dossier K., S. 96 f.

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Seine liebste Stunde im Lager ist die Abendstunde und sie wird heraufbeschworen durch den Abend der Heimkehr nach Budapest: „Dort vorn, wo ich dann würde gehen müssen und wo die Straße sich zu verlängern, zu verbreiten, ins Unendliche zu verlieren schien, waren die Schäfchenwolken über den bläulichen Hügeln schon violett und der Himmel purpurn.“129 Die Menschen werden milder und scheinen sich mit Blicken einander zuzuwenden. Dieses Licht, diese Stunde evoziert die liebste Stunde im Lager und verursacht Köves Heimweh und die Erinnerung an diejenigen, die zu seiner Rettung beigetragen haben. Er nennt sie beim Namen und widmet ihnen einen Erinnerungsstein. Unter ihnen ist Bandi Citrom, der Hoffnungsvolle, der nicht zurückgekehrt ist – im Unterschied zu ihm, dem Muselmann. Diese Erinnerung an das Lager führt aber zurück in die Gegenwart und verändert sie: Die Straße, die sich ins Unendliche verliert, wird jetzt zu einer „von tausend Verheißungen erfüllten Straße“ und er spürt, „wie in mir die Bereitschaft wächst und schwillt: Ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen“.130 Die Gegenwart ruft die Vergangenheit auf und wird von ihr visionsartig beleuchtet. Glück steht in Zusammenhang mit Lebenswillen, mit ganz ursprünglichem Lebenswillen. Ein weiterer Glücksmoment im Abendlicht ist ebenfalls visionsartig und zeigt ein Aufflammen von kreatürlichem Lebenswillen. Es ist der Moment seiner Rettung und er trägt Züge einer Wiedererweckung von den Toten. Dem vorangegangen ist sein eigenes Im-Sterben-Liegen, unter Sterbenden, die alle nach Buchenwald zurücktransportiert werden – zum sicheren Tod. In dieser Situation der aufgegebenen Hoffnungen, in den Tod gefügt, begreift er sich zum ersten Mal als Mitglied einer Gemeinschaft. In einer lakonischen Sprache taucht beeindruckend das Wort „Liebe“ auf: Die Körper, die an mich gepresst waren, störten mich nicht mehr, irgendwie freute es mich eher, dass sie bei mir waren, mir so vertraut und dem meinen so ähnlich, und jetzt zum ersten Mal erfasste mich ihnen gegenüber ein ungewohntes, regelwidriges, irgendwie linkisches, um nicht zu sagen ungeschicktes Gefühl – möglicherweise vielleicht Liebe, glaube ich. Und Gleiches wurde mir von ihnen zuteil.131

Im Sterben verschwindet die tödliche Dynamik des Lagers: Die Sterbenden helfen einander. Als Muselmänner gewinnen sie eine menschliche, brüderliche Identität einer Solidargemeinschaft zurück. Erst nachdem er in diese Gemeinschaft eingegangen ist, wird Köves gerettet. Während er noch rätselt, wie wohl sein Tod sein

129 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 286. 130 Ebd., S. 287. 131 Ebd., S. 204.

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wird, geschieht der visionäre Moment: Als er auf einem Karren transportiert wird, öffnet sich der Ausblick über die Landschaft des Lagers im Abendlicht und der Duft der Kohlrübensuppe weht heran: Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit half da nichts – in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: Ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.132

Glück steht im Zusammenhang mit Erweckung und mit Lebenswillen, einem Lebenswillen, der vom Tod weiß und sich an die Gemeinschaft der Toten erinnert: „Allein die Toten sind unbeschmutzt von der Schande des Holocaust. Dagegen ist es eine bittere Sache, den Stempel des Überlebens zu tragen, für das es keine Erklärung gibt.“133 Köves kommt im Laufe des Geschehens zu einer weiteren Erkenntnis: der seines Judentums. Zu Anfang des Romans hat er seiner jüdischen Nachbarin, die eine tatsächliche Differenz zwischen Juden und Nichtjuden feststellen wollte, um dadurch ihrer Verfolgung und ihrem Leiden einen Sinn geben zu können, das Absurde dieser von den Antisemiten konstruierten Argumentation beweisen wollen, sie damit aber völlig verunsichert und trostlos zurückgelassen. Im Lager misstraut er den orthodoxen Juden. Als er aber ein Kaddisch für drei Erhängte hört, erfasst ihn ‚fast‘ Neid. Und als er zurückkehrt, fügt er sein Judentum in die Schritte seiner Entwicklung ein: Jetzt könnte ich ihr sagen, was es bedeutet, Jude zu sein: nichts, für mich nichts und ursprünglich nichts, solange die Schritte nicht einsetzen. Nichts von alledem ist wahr, es gibt kein anderes Blut, es gibt nichts, […] es gibt bloß die gegebenen Umstände und in ihnen neue Gegebenheiten.134

Das Judentum wird konstruiert. In der Annahme des Schicksals wird es zu einer ethischen Aufgabe, so Kertész. In Ich – ein anderer definiert sich der Ich-Erzähler Kertész als „Keinerlei-Jude“. In Kaddisch für ein nicht geborenes Kind interpretiert der Erzähler es als ein großes Glück, Jude zu sein, wegen der Erfahrung, die dies ihm gebracht hat: „Mir bedeutet mein Judentum nichts, genauer gesagt, als Judentum bedeutet er mir nichts, als Erfahrung alles.“135 Es ist ihm sogar eine Gnade, denn er pfeift zwar auf 132 133 134 135

Ebd., S. 209. Kertész, Dossier K., S. 210. Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 283. Kertész, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, S. 115.

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3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, Atonalität und Vision

das, was er ist, aber nicht auf seine Erfahrung: „Vielmehr dass ich als gebrandmarkter Jude die Möglichkeit hatte, in Auschwitz zu sein, so dass ich auf Grund meines Judentums etwas durchlebt und etwas ins Auge geschaut habe und etwas weiß, ein für allemal und unwiderruflich weiß, von dem ich nicht lasse, nie lassen werde.“136 In seiner Nobelpreisrede spricht Kertész von dem Wissen, das aus dem unermesslichen Leid der Lager erwachsen sei. In diesem Sinn ist Auschwitz als Gnade eines Wissens zu interpretieren – als Glaubensbekenntnis ist es aber, so Irene Heidelberger-Leonard, schockierender kaum zu denken.137 Wie Améry, der sich als „Nicht-Nichtjude“ bezeichnet, verwandelt Kertész die Fremdbestimmung in Selbstbestimmung und macht sein Judesein zu einer ethischen Aufgabe, einer Existenzform. Der Determiniertheit kämpft er, im Ethischen wie im Politischen, Freiheitsräume ab. Sein Judentum ist ein solcher Freiheitsraum. Kertész schreibt gegen den ‚Grundton der Tradition‘ an; zentrale Elemente sind dabei die Verlusterfahrung der Individualität, die Erfahrung der Menschheit als Masse und des funktionalisierten Menschen. Erkenntnis ist für ihn ein Akt der Freiheit, der Schicksalgewinnung und insofern der Subjektkonstituierung. In seinem Galeerentagebuch schreibt er: „Es wird […] vielleicht der erste Roman sein, der, das gesamte Material, das gegen das Individuum spricht, mit sich schleppend und auch vorzeigend, es doch mit dem Durchbruch des Individuums versucht.“138 Die Erkenntnis darf zu keinem beruhigenden Verstehen führen, das einen Sinn fixiert; das Schreiben wird zu einem immerwährenden Vorgang der Annäherung und Umgehung. Ihm ist der Verweis auf die Unmöglichkeit des Sagens, auf Unsagbarkeit und Unbeschreibbarkeit eingeschrieben; es signalisiert in der Sprache das Verstummen der Sprache und braucht die Fiktion als Mittel der Erkenntnis. Durch Fiktionalisierung wird die Erinnerung neu erschrieben und damit Erkenntnis über die Wirklichkeit und die Geschichte gewonnen.

136 Ebd., S. 154. 137 Heidelberger-Leonard, „Einklang im Zweiklang“, S. 379 f. 138 Kertész, Galeerentagebuch, S. 150.

4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion Spanischer Bürgerkrieg und Deportation 4.1 Blick, Spiegelung und Erzählperspektive – Du kommst aus dem Lager? hat er gefragt. – Wie Sie sehen. […] Man musste es sehen, in der Tat. Ich trug russische Stiefel, eine Hose aus grobem Tuch, auf deren linkes Bein meine Nummer – 44904 – genäht war. Ich trug eine Art graue Joppe mit der Inschrift „KL Bu“ in grüner Farbe auf den Rücken gemalt. Schwierig, nicht zu sehen, dass ich aus Buchenwald kam. – Es war hart, was?, hat der Offizier mit dem Kommandokäppi gesagt, mit konzentrierter Miene. […] Ich hätte darauf gefasst sein müssen, ich hätte darauf vorbereitet sein müssen, eine so schlecht gestellte Frage zu beantworten. Seit vierzehn Tagen hatte ich jedesmal, wenn ich mit Leuten von draußen zu tun gehabt hatte, nur schlecht gestellte Fragen gehört. Doch um die richtigen Fragen stellen zu können, müsste man die Antworten vielleicht schon kennen.1

Die Szene ereignet sich bei einem festlichen Abend in Eisenach, zwei Wochen nach der Befreiung aus dem Lager und kurz vor der Repatriierung nach Paris. Der französische Offizier hat sich gerade zwischen Semprún und die Frau gedrängt, mit der dieser getanzt hatte. In diesem banalen Rahmen stellt sich die Verlorenheit des erst vor kurzem befreiten Deportierten besonders drastisch dar; dieser fällt völlig aus dem Rahmen. Die Szene dokumentiert auch die Unmöglichkeit der Kommunikation der eigenen Erfahrung, auf die der Andere nur mit einer abgedroschenen Phrase eingeht, um den Ex-Deportierten sofort auszugrenzen – und schon wieder gleichsam zu enteignen, jetzt von der Frau, mit der er getanzt hat. Der Hinweis aber, dass man, um richtig fragen zu können, schon einen Teil der Antwort wissen muss, deutet auf eine Haltung hin, die in der Nachkriegszeit nicht gegeben war und die auf das fragende Zuhören anspielt. Semprún eröffnet seine Autobiographie Schreiben oder Leben mit einer Szene, die vom Blick der Offiziere ausgeht, die Semprún bei ihrer Ankunft in dem befreiten Lager antreffen. Ich habe sie im ersten Kapitel (siehe: „1.1.1. Erinnerungsbilder und Erzählperspektive“) besprochen und zitiere sie hier noch einmal: Sie stehen vor mir, mit aufgerissenen Augen, und ich sehe mich plötzlich in diesem schreckenstarren Blick: ihrem Entsetzen.

1 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 143 f.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Seit zwei Jahren lebe ich ohne Gesicht. Kein Spiegel in Buchenwald. […] Aber ich interessierte mich nicht für diese Details. […] Sie sehen mich an, mit verstörten Augen voller Grauen. […] In ihren Augen lese ich blankes Entsetzen. […] Es bleibt also nur mein Blick, schließe ich daraus, der sie derart beunruhigen kann. Es ist das Grauen meines Blicks, das der ihre offenbart, von Grauen erfüllt. Wenn ihre Blicke ein Spiegel sind, dann muss ich einen irren, verwüsteten Blick haben.2

Die Offiziere der alliierten Befreiungsarmee sind gerade ins Lager gekommen und aus dem Wagen gestiegen. Der Icherzähler, der Semprúns Züge trägt, liest in ihrem Blick das Grauen, das er auslöst, und schließt daraus auf seine eigene Erscheinung, auf den eigenen verwüsteten Blick; er sieht sich selbst mit dem Blick der Anderen. Die Anderen sind ein wesentliches Element in der Konstruktion der eigenen Individualität, die mit Hilfe von Kommunikation im sozialen Kontext geschieht. Es wäre also notwendig, den Offizieren die Situation zu erklären, eine Kommunikation herzustellen, die ihren Ekel bannt. Was sich aber herauskristallisiert, ist sowohl die Notwendigkeit wie die Unmöglichkeit der Kommunikation; und dies wird dadurch bestätigt, dass Semprúns erste Worte nicht verstanden werden, sondern das Entsetzen nur noch vertiefen. Er erklärt die Abwesenheit der Vögel im Walde mit dem unausstehlichen Geruch des Krematoriums: „Sie hören zu, beflissen, versuchen zu verstehen. – Der Geruch von verbranntem Fleisch, das ist es! – Sie zucken zusammen, sehen einander an. Mit nahezu greifbarem Unbehagen. Einer Art Schluckauf, Brechreiz.“3 Zuerst Ekel, dann, zwei Wochen und ungefähr hundert Seiten später, bei dem Fest in Eisenach, Distanzierung. Im ersten Kapitel von Schreiben oder Leben, „Der Blick“ betitelt, wird eine eigene Poetik des autobiographischen Erzählens entwickelt. Die Problematik des Erzählens, das in der Aporie zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit stattfindet und beide in sich aufnimmt, wird thematisiert. In diesem Fall verweist der Blick auf die Kommunikation, die nicht zustande kommt und gar nicht zustande kommen kann; und dies führt wiederum zur Notwendigkeit des Schreibens zurück. Semprúns Schreiben ist immer autoreferentiell, metaliterarisch. Damit wird außerdem die Erzählperspektive des (bedrohten) Ichs definiert. Auch in seinem Aufbau ist dieses erste Kapitel von Schreiben oder Leben bezeichnend für Semprúns Schreiben: Es entwickelt sich anhand von Assoziationen, die die Zeitlinie des Erzählten unterbrechen, mit Vorwegnahmen und Rückblenden, welche die Erzählung mäandernd oder labyrinthisch weiterführen und immer wieder auf den erzählten Moment zurückkommen, auf die Präsenz der Offiziere. Dabei werden fundamentale Themen in Semprúns Werk wie nebenbei

2 Ebd., S. 11. 3 Ebd., S. 13.

4.1 Blick, Spiegelung und Erzählperspektive

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gestreift, von dem angeblich willkürlichen Prozess des Erinnerns getragen. Sie kehren im Verlauf von Schreiben oder Leben und in seinem gesamten Romanwerk geradezu obsessiv wieder, werden immer wieder aufgenommen. Diese Repetition ist ein Konstruktionsprinzip seiner Werke, die immer auch Erinnerungswerke sind. Die unwillkürliche Wiederkehr der Erinnerung wird mittels der Erinnerung an den Geruch des Krematoriums dargestellt, einer sinnlichen Erinnerung wie der Blick. Sie kann jederzeit auftreten: „Es bedürfte nur eines Augenblicks, irgendeines, ganz zufällig, unversehens, überraschend, unvorbereitet. Oder, im Gegenteil, eines reiflich überlegten Entschlusses.“4 Und sie führt in die Allgegenwart des Todes, die die Lagererfahrung prägt. Semprún sagt selbst oft, dass diese Erfahrung einen zentralen Bestandteil seiner Identität bildet. An erster Stelle definiert er sich als einen ehemaligen Deportierten: „Und der sonderbare Geruch würde sofort auftauchen, in der Realität des Gedächtnisses. Ich würde in ihm wiedergeboren, ich würde sterben, wenn ich in ihm wieder auflebte. Ich würde mich öffnen, durchlässig, dem betäubenden Modergeruch dieser Todesmündung öffnen.“5 So wird das Erzählen, das von der Erinnerung getragen ist, über zwei Sinne eingeführt: Der Blick verweist auf die Erzählperspektive des Ichs und auf die Notwendigkeit des Erzählens, der Geruch auf die Erinnerung, auf das Thema der Erzählung, die Erinnerung an den Tod. Diese Todeserinnerung ist der Motor des Schreibens. Sie ist ihm eingeschrieben; die Zerbrechlichkeit des Überlebens wird auch hier thematisiert. Das Entsetzen in den Augen der Offiziere führt den Icherzähler zum Bewusstsein, ein Wiedergänger (revenant) zu sein: Ich habe plötzlich begriffen, dass diese Soldaten Recht hatten zu erschrecken, meinem Blick auszuweichen. Denn ich hatte den Tod nicht wirklich überlebt, ich war ihm nicht ausgewichen. Ich war ihm nicht entgangen. Vielmehr hatte ich ihn durchlaufen, von einem Ende zum andern. Ich hatte seine Wege durchlaufen, hatte mich darin verloren und wiedergefunden, ungeheurer Landstrich, durch den die Abwesenheit rinnt. Kurz, ich war ein Wiedergänger. Und Wiedergänger jagen immer Angst ein.6

Aus dieser Fragilität des Überlebens heraus muss erzählt werden. Die Situation des Wiedergängers, die auch Primo Levi, dessen Werk Semprún gut kennt und bewundert, oder Charlotte Delbo thematisiert haben, bestimmt seinen Bericht und schreibt ihm das Verstummen ein. Der Wiedergänger ist weder so gestorben wie diejenigen, die nicht zurückgekehrt sind, noch lebt er so, wie diejenigen, die nicht deportiert wurden. Wie kann er erzählen? Er ist der Träger einer Erzählung,

4 Ebd., S. 15. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 25.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

die nicht zu erzählen ist, kann aber nichts anderes als eben dies erzählen. Wie Levi es über Coleridges „ancient mariner“ sagt, den Levi auf sich selbst bezieht.7 Mit der Ungewissheit, noch am Leben zu sein, geht auch die Verunsicherung der eigenen Realität einher, in die die Allgegenwart des Lagers hineinspielt. Diese überrumpelt das Leben ‚danach‘, das Leben ‚draußen‘, das sich plötzlich als Traum erweist. Traum und Trauma als unwillkürliche Erinnerung tauchen auch in diesem ersten Kapitel von Schreiben oder Leben auf. Semprún erwähnt Levis Traum, der La treva beendet und der jeden Moment des Lebens anfallen kann: „[P]lötzlich weiß ich, was es zu bedeuten hat –, und weiß auch, dass ich es immer gewusst habe: ich bin wieder im Lager“, so dass sich herausstellt, dass die angebliche Realität des ‚Draußen‘, des ‚Danach‘ eigentlich fiktiv ist, dass sie ein Traum ist, dass die einzige Realität die des Lagers ist: Der innere Traum, der Traum vom Frieden, ist nun zu Ende, der äußere dagegen geht eisig weiter: Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehen, „Wstawac“.8

Durch irgendetwas hervorgerufen, zerstört die traumatische Erinnerung das Präsens, überfällt es und verunsichert damit die eigene Identität als etwas, das sich auf die Zukunft hin projiziert. Semprún erwähnt die gleiche Traumsituation; bei ihm taucht dabei der Befehl „Krematorium ausmachen“ der letzten Zeit des Lagers auf: So konnte es geschehen, wenn wir jäh aus dem Schlaf erwachten oder wieder zu uns kamen, dass wir argwöhnten, das Leben sei nur ein, zuweilen kurzweiliger, Traum gewesen, seit unserer Rückkehr aus Buchenwald. Ein Traum, aus dem uns diese beiden Wörter plötzlich weckten, uns in Angst versetzend, eine wegen ihrer Heiterkeit sonderbare Angst. […] Gerade die Tatsache, am Leben zu sein, und sei es im Traum, war beängstigend.9

Die Lagererfahrung wird zur bestimmenden Erfahrung der Existenz. Wie aber sie erzählen, wie der Unmöglichkeit und Notwendigkeit der Kommunikation einer Erfahrung nachgehen, die vom Tod bestimmt wird und von der Erfahrung des radikal Bösen, die ihn verursacht? Von einer fragilen Identität, der Identität eines Wiedergängers aus? Auch die Möglichkeit des Erzählens selbst kommt in diesem ersten Kapitel zur Sprache. Und Semprún kämpft auch gegen die Unsagbarkeit an: „Nicht, dass das Erlebte unsagbar wäre. Es ist unerträglich gewesen, was

7 Vgl. Risa Sodi, „Ein Interview mit Primo Levi“, S. 238. 8 Levi, Die Atempause, S. 245 f. 9 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 21.

4.1 Blick, Spiegelung und Erzählperspektive

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etwas ganz anderes ist, wie man leicht verstehen wird.“10 Und es wird eine erste Antwort gegeben: Um die Substanz des Erlebten wiederzugeben, reichen Geschichte und Dokumentation nicht aus: „Zu dieser Substanz, dieser transparenten Dichte werden nur diejenigen vordringen, die es verstehen, ihr Zeugnis in ein Kunstwerk, einen Raum der Schöpfung zu verwandeln.“11 Diese Idee wird geradezu obsessiv wiederholt. Einige Kapitel weiter, auf demselben Fest in Eisenach, wo ein Offizier die Tanzpartnerin des Icherzählers mitnimmt, fragen sich die aus dem Lager Befreiten, wie sie ihre Geschichte überhaupt erzählen können. Einer der Beteiligten, möglicherweise ein Professor der Universität Straßburg, unterstützt die Position des Icherzählers, die damit sogar akademischen Hintergrund erhält. Er geht davon aus, dass die Lager für die Zukunft dokumentiert werden, dass es Zeugnisse geben wird, dass die Historiker sich mit ihrer Realität beschäftigen werden, aber dass die wesentliche Wahrheit, die grundlegende Art der Erfahrung, an die keine historische Rekonstruktion herankommt, sich nicht wiedergeben lässt… oder vielmehr nur durch das literarische Schreiben, „durch den Kunstgriff des Kunstwerkes natürlich“12. Diesem Gespräch ist durch eine Rückblende eine Szene vorausgegangen, in der eine Gruppe junger Frauen aus der Mission France ins Lager kommen, um es zu besichtigen; mit völliger Unkenntnis der Situation und etwas frivoler Neugier ruft eine von ihnen aus: „Aber das sieht ja gar nicht übel aus!“13 und fragt anschließend nach dem Schornstein des Krematoriums, ob das die Küche sei. Die Frage erschüttert den Icherzähler, sie stellt sein Überleben wieder in Frage, vor dem ihm schaudert; er empfindet sich als nicht wirklich am Leben: „Wenn ich kein Teil des kollektiven Gedächtnisses unseres Todes gewesen wäre, hätte mich diese Frage nicht rasend gemacht.“14 Damit ist wieder eine Szene der Unmöglichkeit der Kommunikation evoziert und es wird wieder auf den Überlebenden als Wiedergänger angespielt. Der Erzähler führt die jungen Frauen zum Gebäude des Krematoriums, zeigt ihnen die Haken, an denen die Deportierten gehenkt wurden, die Ochsenziemer und Keulen der Folterkammer im Keller, die Lastenaufzüge, die die Leichen ins Erdgeschoß direkt vor die Öfen brachten, die Öfen mit noch halbverkohlten Leichen, schließlich wortlos den Hof, wo sich noch ein Leichenberg türmt. Die Frauen sind längst verstummt, fliehen. Der Erzähler schafft damit eine Szene, in der erzählend die Unmöglichkeit des Erzählens

10 11 12 13 14

Ebd., S. 23. Ebd. Ebd., S. 152. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

gezeigt wird und in der die Augen, das Sehen, letztendlich wieder die – verstummte – Sprache bestimmen. Erzählen steht im Zusammenhang mit Blicken, mit Sehen, Schauen: mit Wissen und Erkennen. Und Blicke haben auch eine bestimmte Richtung, gehen von einem bestimmten Blickpunkt aus. Sie bestimmen eine Perspektive, die, wenn sie zu Sprache geworden ist, eine Erzählperspektive wird. In diesem ersten Kapitel wird zwischen verschiedenen Blicken unterschieden. Der Ekel der Anderen, der Außenstehenden, steht am Anfang und bestimmt die Notwendigkeit des Erzählens. Dem ist der Blick des Erzählers auf die Toten entgegengesetzt, ein brüderlicher Blick. Die Omnipräsenz des Todes wird schon hier mit dem Tod von Maurice Halbwachs eingeführt. Der Erzähler ist bei ihm, begleitet ihn, und in der Not, letzte Worte für ihn zu finden, überwindet er seine Sprachlosigkeit, indem er ihm einige Verse von Baudelaire rezitiert: „O Tod, alter Kapitän, es ist Zeit! Laß uns die Anker lichten.“15 Diese Verse erhalten damit eine geradezu religiöse, rituelle Funktion. Die Literatur hilft, die eigenen Nöte in schon gesagte Worte zu kleiden; sie überwindet die Sprachlosigkeit und schafft eine Gemeinsamkeit der Leser oder Hörer, die sich auf sie beziehen können. Die Literatur erfüllt noch weitere wichtige Funktionen in Semprúns Werk und in seinem Überleben: Die literarischen Verweise sind bei ihm konstant, wie noch zu sehen sein wird. Hier geht es aber zunächst darum, wie Literatur im Lager auch kommunikativ eine direkte Funktion hat, die sich zur religiösen steigern kann. Und damit trägt sie auch zu einer Gemeinschaft der brüderlichen Blicke unter den Häftlingen – aus Semprúns Freundeskreis! – bei. Halbwachs „lächelt, sterbend, sein Blick ruht auf mir, brüderlich.“16 Die Blicke schaffen Gemeinschaft und zeigen gesellschaftliche Ordnungen. Es gibt die brüderlichen Blicke der eigenen Gemeinschaft, der Gemeinschaft der Sterbenden, die auf den Tod verweist: „Dieser war die Substanz unserer Brüderlichkeit, der Schlüssel unseres Schicksals, das Zeichen der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Lebenden. […] Wir alle, die wir bald sterben würden, hatten aus Liebe zur Freiheit die Brüderlichkeit dieses Todes gewählt.“17 Hier gibt der Icherzähler auch einen Hinweis auf den Hintergrund seiner Lagererfahrung: Er ist als „Rotspanier“ in Buchenwald. Als Mitglied der französischen Résistance, des Maquis, ist er von der Gestapo gefangengenommen geworden; in Buchenwald ist er von den kommunistischen Parteigenossen aufgenommen worden und in eine geschützte Arbeitsstelle verlegt worden; er weiß, warum er im Lager ist, und hat eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, von denen die

15 Ebd., S. 34. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 35.

4.1 Blick, Spiegelung und Erzählperspektive

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meisten, aber nicht alle, Kommunisten sind und die ihm ein Kollektiv bieten. Und Buchenwald ist ein Lager, in dem die politischen Häftlinge in der Mehrheit sind. Insofern ist seine Lagerhaft durch seine vorherige politische Aktivität bedingt, sie ist gewissermaßen Konsequenz einer freien Handlung, der Entscheidung, sich dem Widerstand, dem Maquis, anzuschließen. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu der jüdischen oder überhaupt rassenbedingten Erfahrung der Lager, die von der Selektion und der Existenz der Gaskammern, der ‚Endlösung‘ bestimmt ist. Es geht mir nun nicht darum, Grade des Horrors oder des persönlichen Traumas zu bestimmen, aber doch die Verschiedenheit der Erfahrungen zu charakterisieren. Semprún selbst hat die Einzigartigkeit der Erfahrung der Vernichtung der Juden immer wieder in Reden und Gesprächen betont. Er betont sie auch in Hinblick auf einen Vergleich zwischen den stalinistischen und den nazistischen Lagern: „[N]iemals darf man diese Singularität, die Endlösung vergessen. Diese Singularität der Erfahrung der Juden. Nur sie haben diese Erfahrung gehabt.“18 Seine Situation erklärt seine Überlegungen zur Freiheit, zum Konzept des radikal Bösen, das aus der Freiheit des Menschen hervorgegangen ist, ebenso wie im Gegensatz dazu die Freiheit zum Guten besteht. Und seine Lagererfahrung ist zwar mit der Erinnerung an die Omnipräsenz des Todes verbunden und hat das traumatisierte Bewusstsein des Wiedergängertums zur Folge; aber sie geht davon aus, dass der Tod durch Erschöpfung, durch extrem schwere Arbeit, Schläge und Misshandlungen, Mord, Gewalt, Hunger bis zur Auszehrung, Krankheit und Seuchen zustande kommt, dass er aber nicht durch Selektion und Gaskammer vorherbestimmt ist. Es werden noch weitere Blicke im ersten Kapitel von Schreiben oder Leben inszeniert. Der brüderliche Blick, der die Gemeinschaft der unter dem Zeichen des Todes Lebenden verbindet, ist auch der Blick, der den Toten gerecht werden muss: „Aber der Blick, der überlebt haben würde, war brüderlich. Weil von soviel Tod genährt, wahrscheinlich. Von einem so reichen Erbteil genährt.“19 Dieser Blick wird als einziger den Toten gerecht; er ist aber nur von Seiten ihrer Mitgefährten möglich: „Ich dachte daran, dass man ihren Tod erlebt haben musste, wie wir es getan hatten, wir, die wir ihren Tod überlebt hatten – aber noch nicht wussten, ob wir den unseren überlebt hatten – um einen reinen, brüderlichen Blick auf sie zu richten.“20 Und er kann von sich sagen: „Seit bald zwei Jahren lebte ich umringt 18 Semprún, „Unüberbietbar schlimm. Über Zerstörung, Leid und die Chance der Literatur“, in: Hans-Jürgen Heinrichs (Hrsg.), Schreiben ist das bessere Leben: Gespräche mit Schriftstellern, München 2006, S. 252–279, hier: S. 270. 19 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 27. 20 Ebd., S. 148.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

von brüderlichen Blicken.“21 Dies ist der Fall, als die jungen Frauen aus der Mission France geflohen sind, nachdem der Erzähler sie in den Innenhof des Krematoriums geführt hat, wo sich Leichen häufen. In dieser Überlegung zeigt sich vieles zugleich: die Zerbrechlichkeit des Wiedergängertums, die Notwendigkeit, Zeugnis abzugeben, die ethische Haltung, die diesem zugrunde liegen muss, und gleichzeitig das Verstummen, das dem Zeugnis des Wiedergängers innewohnt. Es gibt aber auch andere Blicke, die auf die Machtstrukturen im Lager verweisen. Im ersten Kapitel wird auch eine Begegnung mit einem jungen Russen beschrieben, Nicolai, dem „Chef“ des Stubendienstes von Block 56, der einer der Anführer der wilden Banden russischer Jugendlicher ist, die nach eigenen Gesetzen im Kleinen Lager hantierten, Schiebereien und Machtverteilungen kontrollieren. Der Erzähler hat ein gutes Verhältnis zu ihm, weil er ihn schon bei ihrer ersten Begegnung seine Autorität spüren ließ. Auch diese Situation wurde mit Blicken ausgemessen: die prüfenden Blicke Nicolais auf das rote Dreieck und auf das „S“ auf der Kleidung des Erzählers führten ihn zu der irrigen Annahme, dass dieser keine Autorität habe. Um seine Position zu festigen und an Nicolai vorbeizukommen, der sich ihm in den Weg gestellt hat und ihn nicht vorbei lässt, demonstriert der Erzähler seine Autorität, indem er Drohungen brüllt: Er arbeite in der Arbeitsstatistik und könne ihn auf eine Transportliste setzen. Der Erzähler sieht und hört sich selbst zu und findet sich ekelhaft; er befolgt mit seinen Drohungen die Überlebensregeln des Lagers. Damit wird auch gleich zu Anfang die privilegierte Position des Erzählers gegenüber möglichen Romantisierungen bekundet. Er versteht sich in dieser Szene nicht als Opfer und ist sich durchaus seiner besseren Position bewusst, die ihm das Überleben erleichtert. Die Anekdote zeigt auch, dass die Ordnung aus Gewalt, Vernichtung und Ausbeutung ihre spiegelbildliche Entsprechung in der Substruktur des Widerstands findet. Das Überleben der Kommunisten im Lager wird allein durch Anpassung an die Ordnungen der Gewalt gesichert und um ihren Platz in dieser Ordnung zu genießen, haben sie selbst mit allen Mitteln kämpfen müssen. Wobei später zu erfahren sein wird, dass Semprún doch nicht ganz zu den Privilegierten gehört, nicht zur „Lagernomenklatur“, und zum Beispiel keinen Zugang zu Extra-Essensrationen hat. Und wenn die brüderlichen Blicke auf den Tod hindeuten, gibt es noch eine letzte Art von Blicken, die auf die Machtstruktur und das Leben im Lager verweisen: Das sind die Blicke der SS, die man nicht abfangen kann. Äußerst selten gelingt es dem Erzähler, für einen Augenblick den Blick des Obersturmführers Schwartz zu erhaschen; in ihm drückt sich nichts anderes als Hass aus: „Der Blick des SS-Mannes dagegen, voll beunruhigtem, tödlichem Hass, verwies mich auf

21 Ebd., S. 27.

4.2 Semprún und seine Zeit

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das Leben. Auf den irrsinnigen Wunsch zu dauern, zu überleben: ihn zu überleben.“22 Semprún stilisiert seine Erzählfigur zum Widerstandskämpfer, gibt dem Hassblick auch ein Element der Bedrohung, indem der Blick des SS-Mannes beunruhigt, verunsichert scheint, – von der Gestalt des Rotspaniers? Von dem Wagnis, ihm in die Augen zu blicken? Die Autobiographie geht von der Situation des befreiten Lagers aus. Sie zeigt den Grauen erweckenden Erzähler mit verwüstetem Blick, aber als Teil des bewaffneten Aufstands im Lager, mit einer Waffe am Eingang des Lagers stehend, die britischen Offiziere empfangend. Nachdem auf diese Weise die Grundpositionen des Erzählens und der Erzählfigur bestimmt worden sind, endet das Kapitel mit der Rückkehr zur Ausgangssequenz, dem „entsetzten, irren Blick“ der drei Offiziere und der Frage, die sowohl die Notwendigkeit der Erzählung statuiert wie ihre Problematik umkreist: „Aber heute, an diesem Apriltag, nach dem Winter über Europa, nach dem Regen aus Eisen und Feuer, worauf verweist er mich heute, der entsetzte, irre Blick der drei Offiziere in britischer Uniform? Auf welches Entsetzen, welchen Irrsinn?“23 Auch Semprúns Schreiben ist von seiner Biographie, von der Erfahrung des Lagers und der politischen Kämpfe bedingt. Aus diesen Erfahrungen schöpft sein Schreiben, das Biographie zur Autobiographie, aber auch zur Autofiktion macht. Es beruht auf der Erinnerungsarbeit, auf dem Exil als definitivem Zustand, der seine Heimat in der Sprache und der abendländisch-kosmopolitischen Kulturtradition findet, auf der Annahme verschiedener Identitäten im realen Leben, bevor diese in die Literatur übernommen und dort als autobiographischen Maske benutzt werden. Es umfasst Memoiren, die wie Romane geschrieben, und Romane, die voller autofiktionaler Elemente sind. Ich möchte nun den schon am ersten Kapitel von Schreiben oder Leben erörterten Themenkreisen anhand der verschiedenen Werke von Semprún nachgehen und näher auf die literarischen Strategien eingehen, mit denen sie komponiert werden.

4.2 Semprún und seine Zeit Jorge Semprún Maura bezeichnet sich als ehemaligen Deportierten und als Rotspanier; darin sieht er die bestimmenden Zeichen seiner Identität. Er wurde 1923 in Madrid in einer Familie des Großbürgertums geboren. Sein Großvater mütterlicherseits war konservativer Politiker und fünfmal Premierminister unter König

22 Ebd., S. 35 f. 23 Ebd., S. 36.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Alfonso XIII. Es gibt in der Großfamilie sowohl konservative wie liberale Familienmitglieder und seitens des Vaters eine engagierte republikanische Tradition. Das führt dazu, dass die Familie 1937 vom Baskenland aus, das von den republikanischen Truppen abgeschnitten und isoliert ist, per Schiff nach Frankreich fliehen muss; die Reise wird sich als ein andauerndes Exil herausstellen. Jorge ist das zweite von sieben Kindern, seine Mutter, die er sehr liebt und vermisst, ist schon 1931 gestorben, der Vater hat die ehemalige Gouvernante geheiratet. Zuerst zieht die Familie nach Den Haag, wo der Vater in der Gesandtschaft der legalen republikanischen spanischen Regierung Geschäftsträger ist. Nach dem Ende des Bürgerkriegs zieht die Familie nach Paris, nun endgültig in der „schlaflosen Nacht des Exils“24, wie Semprún es nach Marx formuliert. Der Vater, ein militanter Katholik, bewegt sich in der Gruppe um die Zeitschrift Esprit und findet dort eine wenngleich bescheidene Hilfe. Laut eigener Aussage bemüht sich der junge Jorge Semprún, so schnell wie möglich einwandfreies Französisch zu sprechen, um nicht aufzufallen. Er beginnt ein Studium im Lycée Henri IV. als Vorbereitung für die École Normale Supérieure, muss dieses aber bald aufgeben, weil das Pensum zu groß ist, um nebenbei Geld für seinen Unterhalt zu verdienen, was er mit Spanischunterricht und allerlei kleinen Arbeiten schafft. Er fängt stattdessen an, in der Sorbonne Philosophie zu studieren, genießt philosophisch-literarische Konversation, liest Marx und Lukács und eine Fülle weiterer Autoren, darunter Paul Nizan (La Conspiration), André Gide (Paludes) und Michael Leiris (L’Âge d’homme), die ihn besonders beeindrucken, und bewegt sich in den intellektuellen Kreisen, die ihn nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen mit der Résistance in Kontakt bringen. Michel Herr, der Sohn des Bibliothekars der École Normale, Lucien Herr, führt ihn bei der Main d’oeuvre immigrée (MOI) ein, die sich unter diesem unverfänglichen Namen während des Krieges in eine Sektion der kommunistischen Widerstandsorganisation Franc-tireurs et partisans wandelt. Dank Herr und der MOI lernt Semprún zum Beispiel österreichische Emigranten kennen, in deren Bibliothek er Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein entdeckt, dessen Lektüre ihm den nötigen Anstoß gibt, um Theorie und politische Wirklichkeit miteinander zu verbinden. Durch die MOI macht er auch Bekanntschaft mit der spanischen kommunistischen Partei und wird in diese aufgenommen. Da die Kommunisten sehr bald von den Deutschen festgenommen werden, bleibt nur noch die MOI handlungsfähig und erhält 1943 die Aufgabe, sich in der besetzten Zone der Résistance anzuschließen und Waffen für den Widerstand zu beschaffen. Im Frühsommer 1943 werden Michael Herr und Jorge

24 Vgl. Franziska Augstein, Von Treue und Verrat: Jorge Semprún und sein Jahrhundert, München 2008, S. 54.

4.2 Semprún und seine Zeit

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Semprún dem Netz Jean-Marie Action im Burgund zugeteilt; sie unterstehen Maurice Buckmaster, dem britischen Oberst, der im Londoner Außenministerium Hilfslieferungen an die Résistance koordiniert. Michel Herr trägt den Namen Jacques Mercier, Jorge Semprún heißt Gérard Sorel und ist Gärtner. Wenn sie wieder in Paris sind, benutzen sie ihre richtigen Namen, holen sich neue Anweisungen, sehen Freunde, gehen zu Partys und ins Theater, wohnen der Aufführung von Sartres Les mouches bei, das für sie ein Stück über die Freiheit ist. Semprún hat großen Spaß an diesem abenteuerlichen Doppelleben, zumindest schildert er dies später so: Die Freude, mit der ich auf eine surprise party gegangen bin, ist mir noch heute gegenwärtig: […] dass man sich amüsiert und miteinander getanzt hatte, dass man sich unterhalten hatte, über alles und nichts, auch über ernsthafte Dinge, über Themen von Belang […] und gleichzeitig zu wissen, dass man im Morgengrauen bei einem Freund ein Bad nehmen, den Ausweis wechseln und in den Maquis zurückfahren würde: Diese Doppelwelt, von der nur ich wusste, dieses Spiel zwischen zwei Welten hat mir immer viel Spaß gemacht, seitdem ich achtzehn Jahre alt bin.25

Diese Darstellung liest sich geradezu wie ein Abenteuerroman. Unter den Büchern, die Semprún in den Maquis mitnimmt, sind eine deutsche Ausgabe des Don Quijote, Albert Camus’ 1942 publizierter Le Mythe de Sisyphe, eine französische Übersetzung von Kants Schrift über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, André Malraux’ Lutte avec l’ange von 1943 und dessen Geschichte des spanischen Bürgerkriegs L’espoir, die Semprún immer wieder liest. Bei seiner Beteiligung am Widerstand geht es ihm eigentlich um den Kampf gegen den Faschismus, um eine Fortsetzung des Kampfes im spanischen Bürgerkrieg, an dem er nicht hatte teilnehmen können, weil er zu jung war. In dieser Hinsicht ist seine Haltung mit derjenigen der Kämpfer der internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg vergleichbar. Semprún liest viel, findet sich in den Büchern wieder. Die Literatur gewinnt in seinem Leben eine große Rolle mit verschiedenen Funktionen. Dies zeigt sich dann auch in seinen eigenen Werken, sowohl in seinen Autobiographien wie in seinen Romanen, die zum Teil Autofiktionen enthalten. Einleuchtend schreibt Franziska Augstein in ihrer SemprúnBiographie: „Seine Konstante im Leben ist die Literatur. Sie ist seit jeher ein Medium seiner Weltwahrnehmung, Schutzwand und vermittelnde Instanz in einem.“26 Zunächst, in seiner Résistance-Zeit, hat sie eine identifikatorische Funk-

25 Franziska Augstein, Von Treue und Verrat: Jorge Semprún und sein Jahrhundert, München 2008, S. 89 f. 26 Ebd., S. 95.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

tion: „[I]n der Résistance wurde ich eine Figur von Malraux“, sagt er über seine Lektüre von L’Espoir.27 Die Bedeutung von Malraux für Semprún zu dieser Zeit ist schwer zu überschätzen, sowohl für sein Selbstverständnis als Abenteurer als auch für seine eigenen Werke. In seinem ersten Roman, Die große Reise, gibt er dem autofiktionalen Protagonisten den Namen Manuel, den auch eine der Hauptfiguren in L’Espoir trägt. In verschiedenen seiner Bücher erwähnt er das Exemplar von L’Espoir, das er im Maquis bei sich hatte, aus dem er seinen Kameraden in der Gruppe ‚Tabou‘ die Szene der Massenerschießung vorlas, das er bei ihnen ließ und das nach seiner Verhaftung verloren ging. Die Solidarität und Brüderlichkeit, die Malraux literarisch darstellt und die Semprún in der Maquisgruppe ‚Tabou‘ erlebt, kann er später im Lager auf die Gemeinschaft seiner Mithäftlinge projizieren. In dieser Hinsicht ist die Bedeutung von L’espoir für ihn tatsächlich kaum zu überschätzen. Am 8. Oktober 1943 wird Jorge Semprún in einem Gehöft, in dem seine Gruppe ein Waffendepot unterhält, von der Gestapo verhaftet. Die Besitzerin des Hofs, Irène Rossel, wird festgenommen, gefoltert, nach Ravensbrück deportiert; sie stirbt an Typhus in Bergen-Belsen wenige Wochen nach der Befreiung des Lagers. Jorge Semprún hat bei seiner Verhaftung seine echten Papiere bei sich. Die Tatsache, dass er Bürger „einer befreundeten Macht“ ist, hilft ihm vielleicht etwas. Auch aus seiner späteren Zeit im Lager schildert er, dass SS-Männer nicht verstehen können, dass jemand, der Deutsch spricht, weil er mit deutschen Kindermädchen aufgewachsen ist, in ein Lager kommen konnte. Er wird gefoltert, in Auxerre und Compiègne in Gefangenschaft gehalten und schließlich in einem Güterwaggontransport nach Buchenwald deportiert,28 wo Ende Januar 1944 seine Haftzeit beginnt. Seine Erinnerung an das Erlebnis der Folter ist der Betrachtung von Améry über dessen Foltererlebnis diametral entgegengesetzt. Semprún steht mehr in einer Linie mit Sartre, obwohl die Folter auch ihn sich selbst entfremdet und er den Körper und die Welt als unerträglich empfindet. Diese Unterschiede sind nicht nur in den individuellen Charaktereigenschaften der beiden Schriftsteller, sondern sicher auch in ihrer unterschiedlichen Situation im Lager begründet. Die Erinnerung an die Folter wird in beiden Fällen durch die Erfahrung des Lagers vermittelt, sozusagen als deren Ausgangssituation, wie später in Zusammenhang mit Schreiben oder Leben und Der weiße Berg zu besprechen sein wird. Semprún wird mit der Nummer 44904 registriert, übersteht die ‚Quarantänezeit‘ im ‚Kleinen Lager‘, wo keine konkreten Arbeiten zu leisten sind, wo aber je 27 Jorge Semprún/Paul Alliès, „Écrire sa vie. Entretien avec Jorge Semprún“, in: Pôle Sud 1/1994, S. 23–34, hier S. 31. 28 Zur Information über Buchenwald siehe das Kapitel über Imre Kertész und die Homepage der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald: www.buchenwald.de (Stand: 31.08.2013).

4.2 Semprún und seine Zeit

161

nach Erfordernissen oder Launen der Einsatzführer Häftlinge für Schwerstarbeiten eingesetzt werden – zum Beispiel zum Schleppen riesiger Steine im Steinbruch oder zum Transport von Fäkalien für die Gärten der SS-Villen. Diejenigen, die nicht zur Arbeit gerufen werden, verbringen den Tag zusammengedrängt im Liegen auf den Pritschen. Zum Stehen oder Sitzen war kein Platz, erinnert sich Semprún. Das ‚Kleine Lager‘ wird zu einem mörderischen Provisorium, in dem die Häftlinge dahinsiechen. Dort geht der fünfzehnjährige Imre Kertész fast zugrunde; er wird im letzten Moment von den Ärzten gerettet. Als die deutschen Truppen vor der Roten Armee zurückweichen und die Gefangenen aus den Lagern verlegt werden, wird das ‚Kleine Lager‘ eine Auffangstelle für die Transporte aus dem Osten. Die aus Auschwitz und anderen Lagern Transportierten werden in Zelten und Pferdeställen untergebracht, sie bringen tödliche Epidemien mit, vor allem Typhus und Fleckfieber. Im ‚Kleinen Lager‘ sterben auch Semprúns Freund Diego Morales und Maurice Halbwachs, der an der Sorbonne sein Professor war. Semprún hat sein Überleben ‚guten Taten‘ zu verdanken, Akten der Freiheit von Menschen, die sich nicht in die tödliche Lagerdynamik fügen, und dies bereits, bevor er von den kommunistischen Genossen in eine geschützte Arbeitsposition gebracht wird. Schon bei seiner Aufnahme schreibt ihn der protokollierende Häftling als Stuckateur statt als Student ein, gibt ihm also einen Beruf und schützt ihn damit. Und beim Steineschleppen in den ersten Tagen, als er noch im ‚Kleinen Lager‘ ist, nimmt ihm ein junger starker Russe einen riesigen Stein ab, unter dem der schmächtige Semprún beinahe zusammenbrach. Semprún sieht ihn danach nicht wieder; es war eine interesselose, rettende, brüderliche, für sich stehende gute Tat. Nach der ‚Quarantäne‘ wird Semprún im ersten Stock im Block 40 im Großen Lager untergebracht. Er teilt die Pritsche mit Sebastián Manglano, einem spanischen Mechaniker und Kommunisten, der im Bürgerkrieg gekämpft hat, mit dem er sich anfreundet und den er in Schreiben oder Leben vorstellt. In Die große Reise ähnelt ihm der „Junge aus Saumur“, der fiktive Gefährte des Erzählers. Schon während der Quarantäne ist Semprún von den kommunistischen Genossen aufgespürt worden. Dank seiner Deutschkenntnisse wird er der Lagerverwaltung, der Arbeitsstatistik zugeteilt. Die Kommunisten haben in Buchenwald nach langjährigen blutigen Kämpfen Funktionen in der Lagerverwaltung einnehmen können, im Unterschied zu anderen Lagern, Auschwitz zum Beispiel, wo die Berufsverbrecher den Ton angeben. Es gibt in Buchenwald eine geheime internationale Lagerverwaltung, die in den Händen der Kommunisten liegt. Laut Semprún gibt es eine interne Hierarchie, in der die Deutschen das Sagen haben; Tschechen und Franzosen sind einflussreich; die Russen sind zahlreich, aber die SS hätte nie zugelassen, dass sie in der internen Verwaltung eine Rolle spielten. Es gibt nur wenige Spanier, und sie können froh sein, wenn sie überhaupt ein wenig mit-

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

reden können.29 In der Arbeitsstatistik hat Semprún die Namen der ‚Abgänge‘ auszuradieren, damit sie für neue Namen zur Verfügung stehen; er ist auch an der Registrierung der Außenkommandos beteiligt.30 Auf Anweisung der kommunistischen Genossen nimmt er manchmal Manipulationen vor, um Genossen vor der Arbeit in den Außenlagern zu schützen; von den Häftlingen, die dem Außenkommando Dora zugeteilt werden, stirbt zum Beispiel jeder dritte. In seiner Gedenkrede zum fünfzigjährigen Jubiläum der Befreiung Buchenwalds weist Semprún auf die moralische Problematik hin, die aus der Untergrundtätigkeit der Kommunisten, aus ihrem Kampf um Machtpositionen erwuchs. Sie spielt, wie noch zu untersuchen ist, eine wichtige Rolle in seinen Romanen, auch im Zusammenhang mit seinem Verhältnis zu den kommunistischen Parteien. Dies hängt auch damit zusammen, dass Buchenwald, nachdem es ein nationalsozialistisches Lager war, zu einem stalinistischen wird, zum Speziallager II. In seiner Rede fragt er sich als erstes, ob es möglich und vertretbar ist, das Wort im Namen der Toten, Vermissten und Verschollenen zu ergreifen. Seine Rede steht zwischen dem „Versuch, zu schweigen und diesem essentiell nicht endenden Versuch, alles so wahrheitsgetreu wie eben möglich zu sagen“31; diese Spannung bestimme seine Existenz seit fünfzig Jahren. Er übernimmt die Verantwortung, im Namen des angehäuften Schweigens, des „schweigenden und anonymen Todes“ von so vielen zu sprechen. Das aber verlangt mehr als mitfühlende Rhetorik, es verlangt auch eine kritische Reflexion über die Vergangenheit. Damit verbunden ist unter anderem die Frage nach der Rolle der Kommunisten im Lager. Beim Überdenken dieser Rolle und ihrer ethischen Implikationen spricht Semprún aus seiner eigenen Erfahrung als langjähriges und auch führendes Mitglied der spanischen kommunistischen Partei, aus seiner allmählich wachsenden Distanzierung von deren Richtlinien bis hin zu seinem Ausschluss aus der Partei 1964 und seinem Bewusstwerden der stalinistischen Diktatur. In dieser Hinsicht kann er die Erinnerung an beide Buchenwald-Lager miteinander verbinden und kann von Deutschland sagen, dass es die europäische Nation sei, die beide Erinnerun-

29 Augstein, Von Treue und Verrat, S. 129. 30 Zum Funktionieren der Verwaltung im Lager siehe: Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974 – zur Rolle der Abteilung Arbeitsstatistik S. 87 f., zu den D.I.K.A.L. („Darf-In-Kein-Anderes-Lager-Häftlingen“) S. 341. Kogon unterrichtet auch ausführlich über die Rolle der Kommunisten in der internen Verwaltungsstruktur des Lagers (S. 329– 335), über die Bedeutung der Einlieferungsakte (S. 96 f.) und das Instrument der Transportzusammenstellung (S. 340 f.). 31 Jorge Semprún, „Weimar – Buchenwald. 9. April 1945 – 9. April 1995“, in: Ders., Blick auf Deutschland, aus d. Span. u. Franz. v. Michi Strausfeld u.a., Frankfurt a.M. 2003, S. 75–87, hier: S. 76.

4.2 Semprún und seine Zeit

163

gen trage, „das einzige Volk Europas, das sich mit den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muss: dem NazismusFaschismus und dem Stalinismus“32. In diesem Kontext stehen seine Gedanken zur Arbeit der Kommunisten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus; sie spielen eine wichtige Rolle in seinen Romanen, hauptsächlich in Was für ein schöner Sonntag, aber auch in Der weiße Berg und natürlich in seiner Autobiographie Schreiben oder Leben. In der Rede zur fünfzigjährigen Feier der Befreiung Buchenwalds argumentiert er pragmatisch: An erster Stelle müsse man die Notwendigkeit des antifaschistischen Widerstands bekräftigen. Und dies nicht nur allgemein, als moralischen Imperativ, sondern auch unter den konkreten Bedingungen von Buchenwald, innerhalb des engen gegebenen Spielraums: „Daher kann man den von den deutschen Kommunisten organisierten antifaschistischen Widerstand in Buchenwald als moralisch legitim und politisch positiv beurteilen“33. Dennoch müsse dieser Widerstand kritisch untersucht werden, „um die erzielten Ergebnisse und den Preis an Menschen, den sie erforderten, objektiv zu beurteilen“34. Das Maß für die jeweiligen Entscheidungen ist letzten Endes individuell; dies gilt auch für die Freiheit zum radikal Bösen und zum Guten. Semprún beschäftigt sich in seinen autofiktionalen Werken, in denen immer das Lager vorkommt, mit der Erfahrung des radikal Bösen als menschlicher Fähigkeit und der ihr entgegengesetzten Fähigkeit, den Entschluss zum Guten, zur Brüderlichkeit, zur Solidarität treffen zu können. Und so schreibt er auch in der Rede: Innerhalb des geheimen Apparats des kollektiven Widerstands wandelte sich das individuelle Bewusstsein eines jeden Militanten, der eine verantwortliche Position innehatte oder Macht ausübte – so begrenzt sie auch sein gewesen sein mag –, und wurde zum Schiedsrichter der Quelle von gerechten oder ungerechten Entscheidungen.35

Die Analyse der Handlungsweisen der Kommunisten im Lager wird diesen aber nur gerecht werden können „wenn sie von einem Geist voller Verständnis und Achtung getragen wird. Sogar von Mitleid, meine ich“36. Zu seinem Überleben sagt Semprún an anderer Stelle: „Ich habe überlebt. Aus Zufall. Ich war kräftig und ausdauernd genug. Ich blieb an der Grenze der Erschöpfung, blieb diesseits der Grenze – gegen Ende nur so gerade eben. Noch ein paar Monate länger, und ich weiß nicht, was mit mir passiert wäre.“37 Zum

32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 86. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd., S. 83. Ebd. Augstein, Von Treue und Verrat, S. 134.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Überleben habe ihm auch die Erfahrung der Brüderlichkeit und Solidarität seiner Freunde verholfen, einer von der Literatur auf das Leben bezogenen Brüderlichkeit, wie er sie in L’Espoir und im Maquis kennen gelernt hat. Sowohl Jean Améry wie Victor Frankl betonen in ihren Essays, dass in den Lagern diejenigen am besten überlebten, die einen festen Glauben hatten, religiös oder politisch, und in ihm eine Gemeinschaft Gleichgesinnter fanden. Semprún betont: „Die Idee der Brüderlichkeit: Sie kam von der Lektüre. Ihre Wirklichkeit: das war Buchenwald.“38 Als er 1992 zum ersten Mal nach Buchenwald zurückkehrt, in Begleitung des Filmemachers Peter Merseburger, sagt er diesem vor laufender Kamera, dass es ihm vorkomme, als sei er nach Hause zurückgekehrt. Dieser Gedanke kommt auch in seinen Werken immer wieder vor. Anders als Kertész, der das Lager als Vernichtungsinstitution sieht, an der er fast zugrunde gegangen ist, erlebt Semprún das Lager als politische Konsequenz seiner Widerstandsarbeit und als Herausforderung, als Weiterführung, die dann auch in den Widerstand gegen das Franco-Regime führt. Semprún kann bei der Befreiung des Lagers mitmachen, er kann die Offiziere und die Befreiungsarmee bewaffnet empfangen. Auch das ist eine Erfahrung der Gruppe und der gemeinsamen Aktion. In dieser Hinsicht ist auch bezeichnend, dass er seine Autobiographie Schreiben oder Leben mit dem Moment der Befreiung beginnen lässt und sich dabei als aktives Mitglied des geheimen Widerstands vorstellt, mit einem Gewehr, als handelndes Subjekt und nicht als Objekt der Geschichte. Am 23. April 1945 kann er einen Lastwagen besteigen und wird etappenweise nach Paris gebracht. In das Franco-Spanien kann er nicht zurückkehren; er ist vaterlandslos; das Exil geht weiter. Den Herbst 1945 verbringt er im Tessin bei seiner Schwester und deren Familie, er bemüht sich, ein Buch über seine Lagerzeit zu schreiben, und muss entdecken, dass er dazu nicht imstande ist. Er sei wieder zu sehr in den Tod hineingezogen worden, so sagt er später. Er entscheidet sich für das Leben und das Vergessen und braucht siebzehn Jahre, bis er wieder zur Erinnerung und zum Schreiben kommt. So stellt er seine weitere Entwicklung in Schreiben oder Leben dar, dessen Titel schon den Gegensatz zwischen beidem ausdrückt. In Paris arbeitet er als Übersetzer für die UNESCO und koordiniert ab 1953 im Auftrag der spanischen kommunistischen Partei (PCE) den Widerstand gegen Franco. Er wird zum Mitglied des Zentralkomitees ernannt, ab 1956 sogar des Politbüros, und leitet zwischen 1957 und 1962 die Untergrundarbeit im Franco-Spanien. In Federico Sánchez. Eine Autobiographie schreibt er, dass er in der Illegalität seine „wahre Identität“ gefunden habe.39 Auf seinen

38 Ebd., S. 135. 39 Jorge Semprún, Federico Sánchez. Eine Autobiographie, Berlin 1981, S. 117.

4.2 Semprún und seine Zeit

165

Reisen trägt er verschiedene falsche Namen, die er manchmal aus Schriftstellernamen zusammensetzt; zum Beispiel nennt er sich Agustín Larrea nach einem avantgardistischen Dichter baskischer Herkunft aus dem Umfeld der 27er Generation, Juan Larrea. Später gibt er autofiktionalen Figuren seiner Romane oft seine eigenen Untergrundnamen. Sein wichtigster Deckname, unter dem er von der spanischen Polizei gesucht wird, ist Federico Sánchez. Er reist oft nach Madrid; seine geheime Arbeit ist äußerst gefährlich und von dem Risiko der Festnahme und Folter geprägt. In seiner politischen Praxis wird ihm langsam die Irrealität der politischen Ideen der exilierten älteren Mitglieder des Zentralkomitees bewusst. Sein Abstand gegenüber der offiziellen Parteilinie wächst, er entwickelt Positionen, die man später in eine Linie mit denen des Eurokommunismus setzen kann. Allmählich ist seine Position nicht mehr mit der der Partei vereinbar. Er wird zuerst von seinen Aufgaben in Spanien entbunden und schließlich, zusammen mit Fernando Claudín, der ebenfalls eine kritische Position vertritt, 1964 aus der Partei ausgeschlossen. Seine Erinnerungen an die Untergrundarbeit in Spanien, seine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und mit der Parteipolitik, ganz konkret und hauptsächlich mit Santiago Carrillo, schildert er viele Jahre später in der Autobiografía de Federico Sánchez (Federico Sánchez: Eine Autobiographie) (1977). Die Zeit seines Ausschlusses aus der Partei fällt zusammen mit dem Erscheinungsdatum seines ersten Romans, Die große Reise. Er schreibt ihn nach eigenen Angaben fast in einem Zuge in Madrid, zu einer Zeit, in der die Festnahme einiger Kameraden ihn zwingt, die Wohnung nicht zu verlassen und alle Untergrundtätigkeit abzubrechen. Dies schildert er sowohl in Schreiben oder Leben wie auch in Was für ein schöner Sonntag. Semprún stellt die Anfänge seines Schreibens in geradezu mythischer Überhöhung dar. Zum einen erzählt er selbstironisch eine Anekdote aus seiner Kindheit: Seine früh verstorbene Mutter habe ihm vorhergesagt, dass er entweder Schriftsteller oder Regierungspräsident werden würde. Zum anderen setzt er den Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn mit dem Ausschluss aus der Partei in Beziehung: Nach der Befreiung aus dem Lager habe er den Versuch, ein Buch über das Lager zu schreiben, aufgeben müssen; die Erinnerung hätte ihn das Leben gekostet. Er musste sich dem Leben, der Zukunft widmen. Und was für eine radikalere Beschäftigung mit der Zukunft gebe es als die Politik, den Widerstand gegen das Franco-Regime? Mit der Zeit habe ihn aber die Vergangenheit eingeholt, und dies sei der Anfang des nun möglichen Schreibens gewesen. Grundlage des Schreibens ist die Erinnerung; aus der Erinnerung heraus kann schreibend die Gegenwart erklärt, die Zukunft entworfen werden. In gewisser Weise also ist Schreiben das bessere Leben oder steht zumindest im Dienst des Lebens. Im gleichen Jahr 1963, in dem Die große Reise erscheint, erscheinen auch Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissovitsch und Primo

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Levis La treva. Nach seiner Trennung von der kommunistischen Partei beeindruckt Solschenizyns Roman Semprún ganz besonders. Im Nachhinein führt dieses Wissen um die Lager des GULAG zu dem Bewusstsein, die eigene Geschichte neu schreiben zu müssen. Er tut dies in gewisser Weise in Was für ein schöner Sonntag (1980). Hier schreibt er über seinen Ausschluss aus der Partei: „Der tiefe Unsinn des Marxismus, der konzipiert wurde als Theorie einer universalen revolutionären Praxis, ist unser Lebenssinn gewesen. Meiner jedenfalls. Ich habe also keinen Lebenssinn mehr. Ich lebe ohne Sinn.“40 1963 erhält er den von einer internationalen Verlegergruppe verliehenen Formentor-Preis für seinen Roman Die große Reise. Zur Verleihung des Preises erscheint dann das Buch gleichzeitig in den Übersetzungen der verschiedenen Verlagssprachen, darunter auch Deutsch, vermittelt durch den Verleger LedigRowohlt. Da die spanische Version wegen der Zensur nicht in Spanien erscheinen kann, in Lateinamerika gedruckt werden muss und zur Preisverleihung noch nicht fertig ist, erhält Semprún von seinem Verleger Carlos Barral ein gebundenes Exemplar mit weißen Seiten. Er interpretiert dies als Metapher seines immer neu zu wiederholenden Schreibens. Ab den sechziger Jahren lebt Semprún in Paris und widmet sich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Er schreibt Romane, Drehbücher für Filme von Alain Resnais und Constantin Costa-Gavras, Essays, eine Biographie seines guten Freundes Yves Montand und kehrt sogar zeitweilig in die Politik zurück. Von 1988 bis 1991 ist er Kulturminister in Spanien in der Regierung von Felipe González. In Federico Sánchez verabschiedet sich verarbeitet er diese Zeit und seine polemische Auseinandersetzung mit dem Vizepräsidenten Alfonso Guerra, die ihm schließlich sein Amt verleidet. In Deutschland ist er sehr bekannt: 1987 ist er am Wissenschaftskolleg in Berlin eingeladen, 1994 erhält er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und den „Femina-Vacaresco“-Preis, 1995 den „Literaturpreis der Menschenrechte“ und den „Weimar-Preis“ der Stadt Weimar. 2012 stirbt er in Paris. Ein Verzeichnis seiner Werke, die vorwiegend biographische Inhalte verarbeiten und teilweise autofiktional sind, findet sich im bibliographischen Anhang.

4.3 Sprache und Heimat Semprún schreibt die meisten seiner Werke auf Französisch, spricht Französisch in Frankreich und Spanisch während seiner Untergrundarbeit in Spanien. Er benutzt

40 Jorge Semprún, Was für ein schöner Sonntag, aus d. Franz. v. Johannes Piron, Frankfurt a.M. 1999, S. 155.

4.3 Sprache und Heimat

167

problemlos verschiedene Sprachen, darunter auch die deutsche. Er kennt die deutsche Philosophie, die französische und englische, übernimmt als Exil- und Schreibsprache das Französische. Das Exil sei auch ein babylonisches Exil der Vielsprachigkeit, schreibt er. In einem Interview, das er der Zeitung El País am 19. Mai 2001 gibt, erzählt er, wie er in Frankreich mit seinen Geschwistern sofort angefangen habe, Französisch zu sprechen, um sich besser einzuleben, und wie er in Buchenwald, als ‚Rotspanier‘ klassifiziert, wieder zum Spanischen zurückgekehrt sei: „Ein einziger, innerer, geheimnisvoller Faden verband die Sprache meiner Kindheit noch mit meinem wirklichen Leben, der Faden der Poesie. […] Und so wird das Spanische immer die Sprache meines illegalen Lebens gewesen sein.“41 Im Unterschied zu den anderen hier behandelten Autoren macht das Exil Semprún zum bilingualen Autor. Das Trauma des Exils bestimmt seinen Bilingualismus: In Unsre allzu kurzen Sommer schildert Semprún den Tag, an dem er in einer Bäckerei wegen seines Akzentes als Spanier identifiziert und wegen der Situation in Spanien verspottet wird. Am gleichen Tag liest er in der Zeitung, dass Madrid an die Franco-Truppen gefallen ist. Die Rückkehr nach Spanien wird nun unmöglich, er ist als Fremder und als Exilierter gezeichnet. Sein Entschluss, einwandfreies Französisch zu sprechen, so dass ihn niemand als Fremden erkennt, entspringt aus Trotz und Stolz, Assimilationswillen, aber auch einer geheimen Identitätsaneignung. Später bekennt er sich zu seinem Rotspaniertum: „Roter Spanier für immer und ewig.“42 Das liest sich wie ein pathetischer Schwur eines Pubertierenden; ihm ist Semprún aber bis zu seinem Tod treu geblieben. Sowohl die heimliche Fremdheit, die man seinem Französischen nicht anmerkt, wie sein Rotspaniertum, das die Nichtzugehörigkeit zum real existierenden Spanien markiert, bestimmen seine Identität, die ihre Heimat nicht in einer konkreten Sprache, sondern in der Sprache im Sinne von langage, lenguaje findet. So lässt er einen seiner Protagonisten, Lorenzo, der wie Semprún viel und in Übersetzungen gelesen hat, unter anderem den Quijote auf Deutsch, sagen: „Für mich ist die Heimat des Schriftstellers nicht die Sprache, sondern der Sprachstil“43, wobei der Unterschied, der im Spanischen zwischen „lengua“ und „lenguaje“ existiert, in der deutschen Übersetzung verlorengeht: „La patria del escritor no creo que sea la lengua, sino el lenguaje.“44 Nicht eine konkrete Sprache, sondern das, was in

41 Jorge Semprún, Der Tote mit meinem Namen, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2002, S. 83. 42 Semprún, Unsre allzu kurzen Sommer, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1999, S. 77. 43 Semprún, Zwanzig Jahre und ein Tag, aus d. Span. v. Elke Wehr, Frankfurt a.M. 2005, S. 291. 44 Semprún, Veinte años y un día, Barcelona 2003, S. 287.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

ihr gesagt wird, letzten Endes die Literatur, die breite, kosmopolitische Kulturtradition, wird ihm zur Heimat. Er kann sogar die deutsche Sprache und die deutsche Literatur als heimliche Überlebenswaffe gegen die SS einsetzen. Bei den Märschen zum Beispiel: In diesen Augenblicken musste ich dieser kehligen, primitiven Sprache der SS-Leute, die sich auf wenige unflätige Beschimpfungen oder Drohungen beschränkte (Los, los! Schnell! Schnell! Schwein! Scheißkerl!), innerlich, in meinem Gedächtnis, augenblicklich die Musik der deutschen Sprache entgegensetzen, ihre komplexe, schillernde Genauigkeit. […] Dann konnte ich ohne weiteres, mitten im kehligen Gebrüll des SSler, stumm die deutsche Sprache heraufbeschwören. „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind […]“ Oder: „Ich weiß nicht was soll es bedeuten […]“ Oder: „Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Kommunismus […]“.45

In Die Ohnmacht und in Schreiben oder Leben wird eine Szene geschildert, welche die fragile Identitätsfindung zu Sprache, Tod und Lager in Beziehung setzt. Kurz nach der Befreiung stürzt der Icherzähler Semprún aus einem Pariser Vorortzug, er fällt in Ohnmacht und aus dem Zug. Es ist unklar, ob es sich dabei um einen Selbstmordversuch handelt; der Text lässt dies offen. Das Erwachen aus der Ohnmacht in der Bahnhofsapotheke ist zugleich ein Erlebnis der Sprache, der Zweisprachigkeit und der Ichfindung. Da er nicht wagt, zu fragen, wer er eigentlich ist – „[A]ber die Ungeheuerlichkeit dessen, wonach ich fragen mußte, ließ mich zögern. ‚Wer bin ich?‘ hätte ich fragen müssen“46, – versucht er sich in der Zeit zurechtzufinden und fragt nach dem Datum. Die Information, die ihm der Apotheker auf Französisch gibt, lässt ihn sofort die spanischen Worte assoziieren, août führt ihn zu agosto, und so entsteht eine Kette von Wörtern: „Immer gab es zwei Wörter für jeden Gegenstand, jede Farbe, jedes Gefühl. Ein anderes Wort für ‚Himmel‘, für ‚Wolke‘, für ‚Traurigkeit‘: Cielo, nube, tristeza.“47 Das Erwachen ist ein Erwachen in die Sprache hinein, in die beiden Sprachen, die sein Leben ausmachen, und führt zu einem Glücksgefühl, dass er die Worte versteht und sich selbst äußern kann: „Es gab keinen Grund dafür, dass der Sprache Grenzen gesetzt wären. Vielleicht konnte man alles sagen.“48 Ichfindung geht zusammen mit Sprachfindung. Aber dies ist ein äußerst labiler Prozess. Er geschieht im Zusammenhang mit einem Todeserlebnis und führt wieder in den Tod, nämlich in das Erinnern zurück. In der Kette von Worten taucht plötzlich, von einer dumpfen Sorge begleitet, das Wort nieve (Schnee) auf, auf Spanisch bezeichnenderweise, 45 46 47 48

Semprún, Der Tote mit meinem Namen, S. 45 (Kursivierung im Original). Semprún, Schreiben oder Leben, S. 257. Ebd., S. 258. Ebd., S. 255.

4.3 Sprache und Heimat

169

ohne französische Entsprechung, und führt schlagartig in die Erinnerung an das Lager zurück, an die Ankunft im Lager: „Wir standen vor einer nächtlichen, verschneiten Landschaft.“49 Die Erinnerung bringt das „Ich“ zurück, die eigene Identität: Und so kam es, dass ich im Licht dieser brutal emporgetauchten Erinnerung wieder wusste, wer ich war, woher ich kam, wohin ich ging. Genau aus dieser Erinnerung speiste sich mein wiedergefundenes Leben, als es aus dem Nichts erwachte. […] Dort hatte alles angefangen. Dort fing alles wieder von neuem an.50

Ichfindung steht im Zusammenhang mit Sprachfindung und mit Erinnerung an das Lager und den Tod. In diesem Kontext ist auch Semprúns Bilingualismus zu sehen. Thomas Klinkert zeigt in der Analyse von Semprúns Roman Algarabía, wie die „algarabía“, etymologisch Bezeichnung für die arabische Sprache, inzwischen für Kauderwelsch, gleichzeitig zum linguistischen Symbol und zum Symbol des Todes wird.51 Der Protagonist Rafael Artigas arbeitet an einem Roman, der den Titel Algarabía trägt. Das Wort, das Artigas aus einer spanischen Romanze kennt, evoziert in ihm Kindheitserinnerungen und das Bewusstsein der Vergänglichkeit und damit des Todes. Denn die Assonanzen des Gedichtes, die laut Artigas „um eine Folge von m gebildet wurden, yo me era mora Moraima – morilla […], schienen nur da zu sein, um analogisch und phonetisch den weichen Ton des morir, die eisige Feuchtigkeit des Todes heraufzubeschwören“52. Derjenige, der im Konzentrationslager war, kann seine wahre Herkunft nur mehr dort suchen. Monika Neuhofer zeigt darüber hinaus, dass mit Semprúns Rotspaniertum seine Absage an eine einzige Nation und an eine einzige Muttersprache zusammengeht: Es bedeutet, zwischen zwei Sprachen zu leben, es bedeutet, wie Semprún sagt, „fidelité à l’exil“, Affirmation der Fremde. Dabei wirkt die Sprache, die Literaturtradition, integrativ.53

49 Ebd., S. 260. 50 Ebd., S. 260. Vgl.: Thomas Klinkert, „Quand la ‚neige d’antan‘ efface la ‚langue originaire‘. À propos du bilinguisme de Jorge Semprún“, in: Jeanne Bem (Hrsg.), Écrire aux confins des langues. Creliana 1/2001, S. 128–137. 51 Ebd., S. 135–137. 52 Semprún, Algarabía, S. 158. 53 Monika Neuhofer, „Literatur als Heimat. Zum Verhältnis von Nationalität, Sprache und Kultur bei Jorge Semprún“, in: Regina Schleicher/Almut Wilske (Hrsg.), Konzepte der Nation: Eingrenzung, Ausgrenzung, Entgrenzung, Bonn 2002, S. 135–144, hier: S. 139 f.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

4.4 Schreiben oder Leben: Schreiben und Leben in der Literatur Als Semprún bei der Preisverleihung des Formentor-Preises sein spanisches Exemplar von Die große Reise als Buch mit weißen, nicht bedruckten Blättern in Empfang nimmt, deutet er dies metaphorisch: Er muss das Buch neu schreiben; Schreiben ist ein immerwährender Prozess; es wird von der Erinnerung bestimmt; das Leben wird vom Vergessen bestimmt. Semprún brauchte siebzehn Jahre, bis er über das Lager schreiben konnte; er musste den Versuch, gleich nach der Befreiung ein Buch darüber zu schreiben, zunächst aufgeben. In Schreiben oder Leben expliziert er dies folgendermaßen: Gleich einem gleißendem Krebs zerfraß der Bericht, den ich Brocken für Brocken, Satz für Satz meinem Gedächtnis entriss, mein Leben. Zumindest meine Lebenslust, mein Verlangen, in dieser armseligen Freude zu verharren. Ich wusste mit Sicherheit, dass ich an einen Punkt kommen würde, wo ich mein Scheitern zur Kenntnis nehmen müsste. Nicht, weil es mir nicht gelang, zu schreiben: vielmehr, weil es mir nicht gelang, das Schreiben zu überleben. Nur ein Selbstmord könnte diese unvollendete endlose Trauerarbeit besiegeln, ihr willentlich ein Ende setzen. Oder aber das Unvollendete selbst würde ihr selbst, willkürlich, ein Ende setzen, durch den Verzicht auf das Buch, an dem ich schrieb.54

So ist Literatur Erinnerung, Memoria, Leben ist Vergessen. Aber Semprún wird das Vergessen, das Leben nicht durchhalten können; er wird zum Schreiben, zur Memoria, zurückkehren und indem er zur Literatur zurückkehrt, kehrt er zur Erinnerung, zur Angst, zum Horror zurück. Den Preis, den er dafür zahlt, das Buch zu schreiben, das er siebzehn Jahre früher aufgegeben hat, nennt er selbst: „[S]o bezahlte ich diesen Erfolg, der mein Leben verändern sollte, mit der massiven Wiederkehr der alten Ängste.“55 Zentral in der Konzeption von Schreiben oder Leben ist der Traum am Ende von Levis La treva (Die Atempause), der die Wirklichkeit des Lebens außerhalb des Lagers infrage stellt und den Semprún explicit erwähnt. (Er wurde weiter oben im Zusammenhang mit dem Wiedergängertum besprochen.56) Aber er zeigt weitere Traumatisierungen an. Er stellt die allgegenwärtige Präsenz des Lagers dar, stellt invasiv das Präsens in Frage und wirft den Überlebenden in den Horror

54 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 232. 55 Ebd., S. 269. Zum Verhältnis von Biographie, Erinnerung und Literatur bei Semprún, vgl.: Mechtild Gilzmer, „Jorge Semprún, ‚erinnerndes Bewusstsein‘ und Autobiographie“, in: Reinhard Krüger (Hrsg.), Grenzgänge, Hybride & Fusionen: romanistische Beiträge zu polykulturellen Kommunikationsprozessen, Berlin 2008, S. 161–176. 56 Siehe den Kommentar dazu im ersten Kapitel, 1.2.3: „Traumatische Erinnerungen. Vergangenheit als Gespenst und als Zeitloch“.

4.4 Schreiben oder Leben: Schreiben und Leben in der Literatur

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zurück. Der Versuch zu vergessen scheitert, der Wille zur Amnesie wird von der unwillkürlichen Erinnerung durchbrochen. Semprún nimmt das Ende von La treva auf – „[S]ono di nuovo in Lager, e nulla era vero all’infuori del Lager“: Man weiß, dass man es immer gewusst hat. Immer, unter der schillernden Oberfläche des Alltags, dieses entsetzliche Wissen. In Reichweite, diese Gewissheit: nichts ist wirklich außer dem Lager, alles andere seitdem wird nur ein Traum gewesen sein. Nichts ist wirklich außer dem Rauch des Krematoriums von Buchenwald, dem Geruch von verbranntem Fleisch, dem Hunger, den Appellen im Schnee, den Prügeln, dem Tod von Maurice Halbwachs und Diego Morales, dem brüderlichen Gestank der Latrinen im Kleinen Lager.57

Der Traum und die unwillkürliche Erinnerung stehen am Beginn von Semprúns Schreiben. Er liest Levis La treva (Die Atempause) im Herbst 1963. In diesem Herbst ist auch seine „Zeit des Schweigens und Vergessens“ vorbei. Semprún erzählt in Schreiben oder Leben, wie in eben diesem gleichen Herbst, in Madrid zu einer Zeit der Untätigkeit im Untergrund, Die große Reise entsteht. Er ist in der Wohnung von Kameraden untergebracht, die nichts von seiner Biographie wissen. Der Kamerad Manuel hat das Lager Mauthausen überlebt und erzählt immerfort davon. Sein Erzählen erscheint Semprún unangemessen, hilflos, anekdotisch, am Wichtigsten vorbeiredend, er kann sich aber nicht dazu äußern. Das Thema des inadäquaten Erzählens erscheint in Was für ein schöner Sonntag wieder. Dort erzählt nicht nur Manuel inadäquat von Mauthausen, sondern auch Fernand Barizon, ein ehemaliger Kamerad des Protagonisten Gérard, der selbst Alter Ego Semprúns ist, von Buchenwald. Ist das eigentliche Problem nun das Erzählen oder das Überleben? Oder geht es darum, dass das Erzählen sich mit der Zerbrechlichkeit des Überlebens beschäftigen und dafür eine eigene Sprache finden muss? Wieder und wieder taucht in den Texten Semprúns die Frage nach dem adäquaten Erzählen auf. Zur Zeit der unangemessenen Erzählungen Manuels schneit es in Semprúns Traum, und der Schnee verweist als Bild der unwillkürlichen Erinnerung auf das Lager: Ein jähes Schneegestöber. Es war auf einem Platz, auf dem Avenuen mündeten. Ein nicht sofort identifizierter, aber vertrauter Ort. Jedenfalls herrschte, verschwommen, die Gewissheit vor, dass der Träumer diese Traumlandschaft identifizieren könnte. […] Ein Platz, Avenuen, die Menschenmenge, ein Umzug. Der Schnee wirbelte in den Strahlen einer untergehenden, bald verdunkelten Sonne. Dann, anderswo, scheinbar übergangslos, jedoch in einem anderen Traum, lag tiefer Schnee, das Geräusch der Schritte zwischen den Buchen des Waldes dämpfend.58

57 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 280. 58 Ebd., S. 281.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Semprún lässt Levis Traum der Allgegenwart des Lagers auf seinen eigenen verweisen, um die Grunderfahrung zu schildern, die am Anfang seines Schreibens steht: die Omnipräsenz der Erinnerung an das Lager, der Erfahrung des Todes. In Semprúns Traum geht es um eine doppelt gestufte Erinnerung. Zuerst taucht die Erinnerung an eine Demonstration in Paris auf, am 1. Mai nach Kriegsende, die Semprún mitmacht und wo ein Zug von Ex-Deportierten in dem Moment zu dem Zug stößt, als es zu schneien anfängt. Der Schnee löst eine mémoire involontaire aus und versetzt ihn sofort in das Lager. Diese Szene wiederholt sich in verschiedenen Werken Semprúns. In Was für ein schöner Sonntag spielt sie eine zentrale Rolle. Der wirbelnde Schnee unter dem Licht von Scheinwerfern oder Lampen macht das Lager sofort präsent. Schon das Wort Schnee löst diese Erinnerung aus: Beim Erwachen aus der Ohnmacht, nachdem er aus dem Zug gefallen ist, führt das Wort nieve, bezeichnenderweise auf Spanisch, in der Sprache, die er im Lager wieder für sich gewonnen hat, dazu, dass er sein Ich im Zusammenhang mit seiner tödlichen Erinnerung wiederfindet. Levis La treva wird im Zusammenhang der Entstehung von Die große Reise erwähnt. Der Tag des Todes von Primo Levi bestimmt die Entstehung von Schreiben oder Leben. Der dritte und letzte Teil der Autobiographie ist überschrieben mit: „Der Tag, an dem Primo Levi starb“. Es geht dort um einen 11. April, den Tag der Befreiung, einen Tag, an dem Semprún, wie er sagt, immer schlagartig und beängstigend von der Erinnerung heimgesucht wird. Er hört am 11. April 1987 die Nachricht von Primo Levis Tod im Radio, und daraufhin verändert er schlagartig die Szene, an der er gerade schreibt, eine Szene von Netschajew kehrt zurück, in der einer der Protagonisten, Roger Marroux, der auch Züge Semprúns trägt, am 12. April 1945 in Buchenwald ankommt, auf der Suche nach Michel Laurençon, seinem Freund und Kameraden aus der Résistance. Diese Szene wird unter dem Eindruck von Levis Tod direkt autobiographisch gewendet; das jährliche Unwohlsein am 11. April, das jährliche Zurückkehren in die Erinnerung werden jetzt zum Beginn einer Autobiographie: „Wieder einmal, ohne es beabsichtigt zu haben, zumindest dem Anschein nach, war ich dem Stelldichein des Monats April treu. Oder vielmehr: ein herber und tiefer Teil von mir war gegen meinen Willen dem Stelldichein treu, das das Gedächtnis und der Tod sich gaben.“59 Die Szene um Roger Marroux wird zu einer Szene, in der Semprún selbst in die Erzählung hinein gerät: „Klammheimlich, durch den Zufall einer Seite der Fiktion, die anfangs meine Anwesenheit nicht zu erfordern schien, tauchte ich in der Romanerzählung auf, mit dem verwüsteten Schatten dieses Gedächtnisses als einzigem Gepäck.“60

59 Ebd., S. 276. 60 Ebd., S. 271.

4.4 Schreiben oder Leben: Schreiben und Leben in der Literatur

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Damit wird die Erzählung auch zu einer individuellen Erzählung, und ihr wird sowohl die Unsagbarkeit wie auch die Notwendigkeit des Sagens eingeschrieben: „Ich überwucherte den Bericht sogar. Denn in eben diesem Augenblick war er in die erste Person Singular umgeschlagen. In die äußerste Singularität einer nur schwer zu teilenden Erfahrung.“61 Damit entstehen die ersten Seiten von Schreiben oder Leben, die Eingangsszene, die zugleich die Notwendigkeit des Erzählens wie dessen Unmöglichkeit thematisiert und die die Erzählperspektive auf den Blick festlegt. Der letzte Teil der Autobiographie erzählt das Entstehen des Textes und stellt es damit in den Kontext der Lagererinnerung, aber auch der durch die Literatur vermittelten Erinnerung, der Erinnerung der Texte, durch den zentralen Verweis auf Primo Levi. Eines der Hauptmerkmale der Erinnerungstexte Semprúns ist, dass in ihnen die Literatur, der Verweis auf die Literatur, also die Erinnerung der Texte im Text eine grundlegende Rolle spielt, um die eigene Erinnerung zu formulieren. Man könnte einwenden, dass diese konstanten Verweise auf die Literatur im Gegensatz zum Anspruch auf Authentizität und Lebensnähe stehen, der ja ein fundamentales Requisit der Gattung der Autobiographie ist. Doch zum einen hat diese Gattung schon immer eine literarische Tradition für sich ausgewertet. Schon am Anfang der modernen Autobiographien, in den Confessions von Rousseau, wird der Anspruch der Authentizität und Natürlichkeit und damit der Einzigartigkeit gestellt: „Je forme une entreprise qui n’eut jamais d’exemple et dont l’exécution n’aura point d’imitateur. Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; et cet homme ce sera moi.“62 Dabei wird aber verschwiegen, dass die Confessions in der Tradition von Augustinus, Petrarca, der heiligen Theresa und Montaigne stehen. Zum anderen erfüllt für Semprún die Literatur eine grundlegende Funktion im Leben und Schreiben: Um seine Erfahrung auszudrücken, um seiner Erinnerung Form zu geben, spielt die literarische Tradition, das schon gesagte Wort der Anderen, eine besonders wichtige Rolle. Sie wird ihm zu einer eigenen Heimat. Um eine Idee von der Fülle der kosmopolitischen Literatur- und Kulturtradition zu gewinnen, in die Semprún sich hineinstellt, braucht man nur auf die lange Liste der Autoren zu verweisen, die er im Laufe von Schreiben oder Leben erwähnt: Über achtzig Namen sind es, von der Antike mit Augustinus bis hin zu Zeitgenossen wie Celan und Calvino.

61 Ebd. 62 Jean-Jacques Rousseau, Les Confessions, L’Académie Française (Hrsg.), Tome I, Paris 1963, S. 21.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

4.5 Literatur und Identität, Literatur und Überleben: Intertexte, Zitate Man kann in Semprúns Werk verschiedene Funktionen der literarischen Tradition identifizieren. Zuerst eine buchstäblich identitätsbildende: Schon in seinem ersten autofiktionalen Roman, Die große Reise, schreibt er von sich selbst, dem Icherzähler, dass er dem Krieg seiner Kindheit entkommen sei, um sich im Krieg seiner Jugend zu verstricken, mit einem kurzen Halt mitten auf einem Bücherberg.63 Dieser Bücherberg bestimmt seine Initiation ins Leben. Die Vorbereitungsklasse im Lycée Henri IV. bereitet ihn nicht, wie geplant, für die École Normale supérieure vor, in der er nie studieren kann, sondern für das weitere Leben, in dem er den „Bücherberg“ besteigt. Der Pubertierende, der ins Lycee Henry IV. geht, wird wortwörtlich mit Literatur „vollgestopft“, bis zur Pedanterie, bis zum Versuch, die Literatur im Leben zu verwenden, die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen zu verwischen. Die Literatur dient ihm als Selbstdarstellungsmedium im Leben, um sich zu profilieren, um in Gesellschaft zu glänzen, um Frauen zu verführen, aber auch um in Buchenwald zu überleben. Man spricht dort in den wenigen Ruhemomenten am Sonntagnachmittag über Literatur; es werden Brecht und García Lorca rezitiert, Aragon und Breton, Rimbaud, Mallarmé, Apollinaire und andere. Das erste Thema in Semprúns Gespräch mit einem französischen Offizier nach der Befreiung des Lagers sind die französischen literarischen Neuigkeiten; zumindest beschreibt er es so in Schreiben oder Leben.64 Semprún entdeckt durch den Offizier den Dichter René Char und brüllt dessen Gedicht „La liberté“ durch das ganze Lager. Der Band Seuls demeurent, aus dem das Gedicht stammt, wird zu einem weiteren wichtigen Begleiter seines Lebens, er gehört zu seiner Erinnerung an die Befreiung. Die Literatur verleiht dem Ich eine Vergewisserung seiner Identität; die Literatur wird gewissermaßen aus den Büchern herausgerissen und in das Leben hineingenommen.65 In diesem Sinne dient sie auch ganz konkret zum Überleben. Literarische Texte sind Bezugspunkt und Trost, sind Hilfsmittel zum Ausdruck der Verzweiflung und beim Versuch, in einer konkreten Situation die Sprachlosigkeit zu überwinden. In zwei schrecklichen Momenten im Lager, beim Sterben zweier Freunde, Maurice Halbwachs und Diego Morales, spricht ihnen Semprún jeweils ein Gedicht vor, von Baudelaire und César Vallejo, um die

63 Jorge Semprún, Le grand voyage, Paris 1963, S. 103. 64 Ders., Schreiben oder Leben, S. 88–89. 65 Vgl. dazu: Andrés Soria Olmedo, „Vida y razones de Jorge Semprún“, in: Boletín de la Unidad de Estudios Biográficos, 1/1996, S. 69–77. Diesem Aufsatz habe ich wertvolle Anregungen entnommen.

4.5 Literatur und Identität, Literatur und Überleben: Intertexte, Zitate

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eigene Sprachlosigkeit zu überwinden.66 Dabei erfüllt die Literatur auch eine transzendierende Funktion. Der Tod des Soziologen Maurice Halbwachs (März 1877 – März 1945) ist ein besonders wichtiger Moment in Schreiben oder Leben. Halbwachs ist eine der zentralen Figuren der Sonntagnachmittage im Lager, an denen diskutiert und rezitiert wird; sein langsamer Niedergang wird von Sonntag zu Sonntag beschrieben. Als er im Sterben liegt und schon die Stimme verloren hat, rezitiert ihm der verzweifelte und hilflose Semprún die letzte Strophe von Le Voyage, dem letzten Gedicht der Fleurs du mal. Das Gedicht nimmt eine religiöse Funktion ein, wie ein laienhaftes Gebet, ein Todesgesang oder ein Kaddisch. Er lässt die letzten zwei Verse dieser Strophe weg; aber dieses nicht ausgesprochene Ende des Gedichts spielt als Abwesenheit, als Ungesagtes hinein, das die Wirklichkeit transzendiert, wenn es auch den Tod nicht bannen kann. Die zwei Verse lauten: Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu’importe? / Au fond de l’inconnu pour trouver du nouveau!67 Es ist die gleiche Art der ‚Benutzung‘ von Literatur, die auch Primo Levi in Ist das ein Mensch? beschreibt, als er sich bemüht, den Gesang des Odysseus aus Dantes Inferno einem Gefährten aufzusagen, der ihn gebeten hat, ihm Italienisch beizubringen.68 Der Gefährte versteht kein Wort davon, ist aber erschüttert von Levis Versuch. Die Literatur wird als Überlebenshilfe benutzt, aber auch als Kommunikationsinstrument zwischen den Personen. Sie hat dabei ähnliche Funktionen wie die gesprochene Sprache im Alltag, und sie wird als gemeinsame Tradition benutzt, um die Sprachlosigkeit des Individuums in extremen Situationen zu überwinden. Das Ungesagte des Zitats verweist, wie in Levis Szene in Ist das ein Mensch?, auf den menschlichen Willen, auf die immerwährende Suche nach Sinn, trotz der sicheren Vernichtung, trotz der Unmöglichkeit, einer Situation wie der geschilderten einen Sinn zu geben. In Der Tote mit meinem Namen ist diese Funktion noch deutlicher erkennbar. Im Mai 2001 erschienen, ganz aus der Erzählperspektive einer ersten Person geschrieben, verarbeitet dieser Roman narrativ erneut einen Identitätskonflikt des Icherzählers. Er erzählt, wie in Buchenwald, auf eine Anfrage der Gestapo nach Semprún hin, seine kommunistischen Kameraden einen gleichaltrigen Sterbenden suchen, um ihrer beider Namen in den Karteikarten der Verwaltung zu vertauschen, Semprún dann für tot zu erklären und ihn unter dem Namen des Anderen weiterleben lassen. Das Ganze erweist sich am Schluss als unnötig, so dass Semprún letzten Endes doch mit seinem eigenen Namen weiterleben kann. 66 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 33 f., 229 f. 67 Charles Baudelaire, „Fleurs du mal“ in Ders., Poesía completa (ed.bilingüe de Javier del Prado y José A. Millán Alba), Bibliteca de Literatura Universal, Madrid, 2000, S. 357–411, hier S. 408. 68 Die Szene habe ich im ersten Kapitel besprochen.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Eigentlich stammt die Geschichte zum Teil aus der Biographie Stéphane Hessels. Darüber hinaus ist dies ein Verfahren, das wiederholt eingesetzt wurde, um Häftlingen das Leben zu retten. Im Falle von Kertész wurde Ähnliches inszeniert, wobei die konkrete Situation heute nicht mehr klar zu ermitteln ist.69 Das Zusammenleben mit dem gleichaltrigen Sterbenden, die Frage nach der Identität und nach den zufälligen Gründen des Überlebens des Einen, des Sterbens des Anderen machen den Kern der Erzählung aus. Der Sterbende, den der Icherzähler kennenlernt und dessen Namen er tragen soll, ein gleichaltriger französischer Student, ist mit demselben Transport angekommen. Er ist einer der ‚Muselmänner‘ – so werden im Lager diejenigen genannt, die nur noch dahinsiechen, schon unfähig sind zu sprechen. Semprún sucht ihn bei den Latrinen auf. Dieser Bau hat bei ihm schon beim ersten Anblick Rimbauds „Bethsaïda, la piscine des cinq galeries“ evoziert; er braucht Rimbauds Text, um die Wirklichkeit zu fassen: Beth-Saïda, la piscine des cinq galeries, était un point d’ennui. Il semblait que ce fût un sinistre lavoir, toujours accablé de la pluie et noir […]. („Bethsaïda, der Fischteich mit den fünf Hallen, war eine Stätte des Ekels. Wie ein Zuber des Unheils lag er da, randvoll von Regen und Dunkel. […]“) Weder Fischteich noch Hallen, gewiß. Dennoch traf die poetische Beschwörung zu: es war durchaus ein „Zuber des Unheils“. Auch andere Worte des Texts von Rimbaud schienen mir zu beschreiben, was ich sah […]. Les mendiants s’agitant sur les marches intérieures, les linges blancs ou bleus dont s’entouraient leurs moignons. Ô buanderie militaire, ô bain populaire […]. („Die Bettler krochen innen über die Stufen, die weißblauen Lappen, mit denen jeder jedweden Stumpf seiner Glieder umwickelt. O Waschhaus der Krieger und Krüppel, o Bad du des Volkes“) […].70

Die Sprache der Literatur dient ihm aber nicht nur dazu die Wirklichkeit zu beschreiben. Sie erzeugt Kommunikation. Semprún gelingt es am Schluss, durch Rimbauds Verse den ‚Muselmann‘ aus seiner kachektischen Verfassung zu retten. Als Semprún nicht mehr weiter rezitieren kann, weil er die letzten Verse vergessen hat, tut es der Franzose mit wiedererlangter Stimme: In einem Zug, einem einzigen Atemzug, als hätte er mit seiner Stimme gleichzeitig sein Gedächtnis, sein Selbst wiedergefunden, hatte er die Fortsetzung rezitiert. […] die über die blauen blinden Augen zuckten und die weißblauen Lappen, mit denen jeder jedweden Stumpf seiner Glieder umwickelt. O Waschhaus der Krieger und Krüppel, o Bad du des Volkes […]. Er lachte Tränen. Das Gespräch wurde möglich.71

69 Siehe dazu das Kapitel über Imre Kertész. 70 Semprún, Der Tote mit meinem Namen, S. 35. 71 Ebd., S. 43.

4.5 Literatur und Identität, Literatur und Überleben: Intertexte, Zitate

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Die erinnerte Literatur trägt zur Ich-Konstruktion bei, verweist auf die Wirklichkeit, gibt dem jungen Franzosen seine Erinnerung und damit seine Identität zurück. Und sie verweist auch auf sich selbst. Denn das Ende von Bethsaïda, das Semprún nicht mehr zitiert, lautet: „Le Paralytique se leva, qui était resté couché sur le flanc, franchit la galerie et ce fut d’un pas singulièrement assuré qu’ils le virent franchir la galerie et disparaitre dans la ville, les Damnés.“72 Die Literatur schildert ein Wunder, der Verweis auf sie vollbringt es. Der ‚Muselmann‘ findet den Weg zu sich selbst als Subjekt wieder, so wie der Gelähmte das Gehen erlernt hat. Er stirbt wenig später; seine letzten Worte, die der Icherzähler erst viel später identifiziert, sind ein Zitat von Seneca. Man könnte sagen: Er stirbt mit Bewusstsein von sich selbst als Subjekt; die Literatur bannt den Tod zwar nicht, aber sie dient dem Versuch, ihn zu transzendieren. Und sie fungiert kommunikativ, indem sie Worte, die andere schon gesagt haben, erinnert und wieder zitiert. So wird das Geschriebene zum gesprochenen Wort, und das zitierte literarische Wort wird in eine dialogische Situation überführt, in der es einen Sprecher und einen Hörer gibt und der Sprecher durch sein Sprechen auf den Hörer einwirkt. Eine solche erlösende Funktion der Literatur wird von Améry, wie ich schon gezeigt habe, ausdrücklich verneint. Die Kultur, sagt Améry, ist im Lager zu nichts nütze. Denn sie hilft nicht dabei, durchzukommen, zusätzliches Essen zu erringen, Waren zu tauschen, die überlebensnotwendigen Dinge zu erlangen.73 Schon Levi hat gegen Améry diesbezüglich polemisiert; Semprún erwähnt ihn seltsamerweise in diesem Zusammenhang nicht. Bei dieser Einschätzung muss man aber die unterschiedlichen Lagersituationen von Semprún und Améry berücksichtigen. Die Lage Amérys in Auschwitz ist schlimmer als die Semprúns in Buchenwald. Eine Anzahl von Häftlingen aus der Widerstandsbewegung mit einem ähnlichen kulturellen Hintergrund bildet für Semprún ein Kollektiv, in dem er zumindest zeitweise vergangene gemeinsame Erfahrungen besprechen kann, Gedichte rezitiert, Jazzmusik hört, sich am Aufbau einer geheimen Verteidigungsstruktur beteiligt, die am Ende des Krieges zur Befreiung des Lagers beiträgt. Semprún erlebt Möglichkeiten der Zusammenarbeit, der Handlung, der Zukunftsperspektive und des Kollektivs, die Améry, der als Jude zur Auslöschung bestimmt ist, in Auschwitz nicht hat. Und als deutschsprachiger Jude fühlt Améry sich aus einer Tradition ausgeschlossen, die nun in den Besitz der Feinde übergegangen ist: „Von den Merseburger Zaubersprüchen bis Gottfried Benn, von Buxte-

72 Arthur Rimbaud, „Proses évangéliques“, in: Œuvres complètes, Antoine Adam (Hrsg.), Paris 1972, S. 162–164, hier: S. 163 f. 73 Vgl. Améry, „An den Grenzen des Geistes“, S. 22.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

hude bis Richard Strauss war das geistige und ästhetische Gut in den unbestrittenen und unbestreitbaren Besitz des Feindes übergegangen.“74 Unter diesen Bedingungen, schreibt Améry, sei die Literatur kein Instrument, das ermöglichen könne, die Realität zu transzendieren. Nicht einmal die Verse Hölderlins, an die er sich eines Tages beim Rückmarsch ins Lager erinnert, eröffnen eine solche Möglichkeit.75 In Semprúns Werk dagegen erscheint außerdem noch eine Art von Metafunktion der Literatur: Sie wird als Instrument benutzt, um über die erzählte Realität und über den eigenen Erzählprozess zu reflektieren. Es werden zum Beispiel Literaten als Figuren in die Romane hineingenommen; ihre Überlegungen sind ins Erzählpräsens gesetzt. So wird Goethe zu einer fast obsessiven Figur in dem Roman Was für ein schöner Sonntag, aber auch in Schreiben oder Leben. In Was für ein schöner Sonntag lässt Semprún Goethe mit Eckermann auf dem Ettersberg spazieren gehen, wo das Konzentrationslager errichtet worden ist. Der argumentative Faden, der dies zulässt, ist Léon Blums Anwesenheit in Buchenwald, der auch dort inhaftiert war und der 1901 die Essais Nouvelles conversations de Goethe avec Eckermann (1897–1900) verfasst hatte. Semprúns fiktional unsterblicher Goethe hätte als Antwort auf Paul Valérys berühmten „Discours en l’honneur de Goethe“ vom 30. April 1932 eine Rede von jenseits des Grabes verfasst, die noch einmal, wie Semprúns Text uns versichert, „die Goethesche Synthese des klassischen Geistes und der Faustischen Dämonie“ zusammenfasste.76 Da dieses Dokument nun veraltet sei, will der von Semprún am Leben gehaltene Goethe ein neues Buch von Eckermann mit dem Titel Goethes Gespräche mit Léon Blum veröffentlichen. Dieses Buch Eckermanns wird bei Semprún eingeführt als eine Phantasie des auf dem Ettersberg inhaftierten wirklichen Léon Blum.77 In den von Semprún imaginierten Gesprächen werden die Themen der Kultur und des Verhältnisses der Intellektuellen zur Macht diskutiert. Zugrunde liegt die Frage, wie in Weimar eine Vergangenheit der aufgeklärten Klassik mit einem Konzentrationslager vereinbar ist. Goethe schaut sich das Lager aus der Distanz an. Als Beispiel dieser ‚Goethebenutzung‘, eigentlich einer polemischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kulturtradition, kann folgender Absatz gelten (die erste Person bezieht sich auf Eckermann):

74 Ebd., S. 27. 75 Vgl. Ebd., S. 269. 76 Vgl. dazu: Paul Valéry, „Discours en l’honneur de Goethe“, in: Œuvres de Paul Valéry, Bd. 5, Paris 1935, S. 85–114, besonders S. 96–98; sowie: Léon Blum, „Critique littéraire. Nouvelles conversations de Goethe avec Eckermann. Premiers Essais politiques. 1981–1905“, in: L’Œuvre de Léon Blum, Bd. 1, Paris 1954, S. 193–335. 77 Semprún, Was für ein schöner Sonntag, S. 289.

4.5 Literatur und Identität, Literatur und Überleben: Intertexte, Zitate

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Dann nahm Goethe mich wieder beim Arm und ließ mich einige Schritte auf das Lagertor zu machen. „Sehen Sie diese Inschrift?“ fragte er mich, „Jedem das Seine“. Ich weiß nicht, wer der Verfasser ist, wer die Initiative ergriffen hat. Aber ich finde es sehr bedeutungsvoll und sehr ermutigend, dass eine derartige Inschrift das Eingangstor zu einer Stätte der Freiheitsberaubung, der Umerziehung durch Zwangsarbeit ziert. Denn was bedeutet letztlich Jedem das Seine? Ist das nicht eine ausgezeichnete Definition einer Gesellschaft, die dazu gebildet worden ist, die Freiheit aller, die Freiheit der Allgemeinheit, wenn es sein muss, sogar auf Kosten einer übertriebenen und unseligen individuellen Freiheit zu verteidigen? Ich habe es Ihnen bereits vor mehr als einem Jahrhundert gesagt, und sie haben es in Ihren Gesprächen unter dem Datum Montag, den 9. Juli 1827, aufgezeichnet.78

Es folgt der bekannte Kommentar Goethes zur Zensur als geistfördernd. Aus der Perspektive der Realität des Lagers werden der gefährliche Weg einer mit Despotismus verbundenen Aufklärung und auch die Ambivalenz des Verhältnisses der Kultur zur Macht sichtbar. Die Figur Léon Blums führt zu ähnlichen Überlegungen über Sozialdemokratie und Macht. Goethes Kommentare wirken im Kontext der Realität des Lagers geradezu als Brechmittel. Sie lassen auch erkennen, dass Semprún mit Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung sowie mit Adornos Negativer Dialektik vertraut ist. Ein Zitat aus letzterer wird im Zusammenhang mit der Fragwürdigkeit des Überlebens, mit Wiedergängertum und Schuld in den eigenen Text übernommen, und zwar in Algarabía. Semprún zitiert wörtlich, wenn auch ohne Markierung, Punkt oder Komma, aus dem dritten Kapitel des dritten Teils, den Abschnitt Nach Auschwitz: „Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage ob nach Auschwitz noch sich leben lasse ob vollends es dürfe wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre drastische Schuld des Verschonten Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der dass er gar nicht mehr lebte sondern 1944 vergast worden wäre und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten.“ Soweit Adorno. Und von nun an kann ich Schweigen bewahren weil das gesagt worden ist Meine ganze Existenz ist vielleicht nur das von wildem Verlangen eines vor zwanzig Jahren Gestorbenen durchdrungene Imaginarium Zeit ist vergangen seit Adorno schrieb Dreißig Jahre schon Ein vor dreißig Jahren Gestorbener der der Lebende war der ich nicht mehr bin Dessen ungewisser Traum ich nur mehr bin79

78 Ebd., S. 290. 79 Semprún, Algarabía, S. 142. Kursivierung im Original.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

In diesem Zusammenhang ist weiterhin André Malraux ein bestimmender Autor, dem Semprún seine eigene Erfahrung gegenüberstellt. Schreiben oder Leben wird mit einem Malraux-Zitat eröffnet: „[I]ch suche die Region der Seele, wo das absolute Böse sich der Brüderlichkeit entgegenstellt.“80 Im Paratext wird so eines der fundamentalen Ziele dieses autobiographischen Textes eingeführt. Wenn Semprún in Die große Reise seine Lagererfahrung aus der Erinnerung erarbeitet, macht das Lesen von Ein Tag im Leben Iwan Denissowitschs und seine eigene Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ein neues Erschreiben der Erinnerung erforderlich. In Was für ein schöner Sonntag wird diese Erinnerung verarbeitet; dort wird das Lager auch aus der Perspektive des Wissens um den GULAG und der eigenen Verstrickung mit dem Kommunismus beschrieben. Beide Erinnerungen kommen in Buchenwald – in einer Szene von Schreiben oder Leben – auch räumlich zusammen: Am Tag nach der Befreiung Buchenwalds liest Semprún am Schwarzen Brett die Aufforderung, er solle seine aus der Lagerbibliothek entliehenen Bücher zurückgeben; es handelt sich um Werke von Hegel, Nietzsche und Schelling. Er geht zum verantwortlichen Bibliothekar, einem kommunistischen Mithäftling, und argumentiert, nach dem Ende des Faschismus sei wohl kein Lager und also auch keine Lagerbibliothek mehr nötig. Zu seinem Schrecken stößt er aber auf völliges Unverständnis. Solange es noch eine Klassengesellschaft gebe, entgegnet ihm der Bibliotheksverantwortliche, seien nach wie vor Umschulungslager notwendig. Bezeichnenderweise, und zum Entsetzen Semprúns, verwendet er genau das gleiche Vokabular, mit dem der Zweck des Lagers auch von der SS beschrieben worden war.81 Das Wissen um den GULAG mache einen neuen Erinnerungstext notwendig, in dem das parallele Existieren der beiden Lager problematisiert werde, in dem die Erinnerung an Buchenwald auch von den Reflektoren der Kolyma beleuchtet werde.82 Dieses Wissen ist auch in Was für ein schöner Sonntag durch Intertextualitäten und literarische Verweise erschließbar. Die Literatur bleibt bestimmend für das eigene Erleben und das Erschreiben des eigenen Erinnerns. Der Icherzähler Semprún überlegt, dass Schalamow ein passender Gesprächspartner für Goethe auf dem Ettersberg bei der Diskussion über das Motto „Jedem das Seine“ gewesen wäre, oder er fragt sich, was Marx zu Schalamow hätte sagen können. Er fügt sogar Zitate Schalamows in das eigene Erleben und Erinnern, in die eigene mémoire involontaire ein. Als er bei Schalamow liest, wie im Licht der Scheinwerfer Schneeflocken herumwirbeln, erinnert er sich schlagartig an die Schneeflo-

80 Semprún, Schreiben oder Leben, ohne Seitenangabe. 81 Vgl. Semprún, Schreiben oder Leben, S. 79 f. 82 Vgl. Semprún, Was für ein schöner Sonntag. S. 391–393.

4.5 Literatur und Identität, Literatur und Überleben: Intertexte, Zitate

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cken im Bahnhof von Lyon an einem Tag des Jahres 1963, die ihn, der gerade den Iwan Denissowitch gelesen hat, in den Schnee des erinnerten Lagers versetzten. Durch diese mise en abyme aus gelesenen und erlebten Schnee-Lagerszenen wird die Erinnerung an das Lager gewissermaßen universalisiert und führt dabei auch zur Frage nach der eigenen Schuld. Die Universalisierung der Erinnerung an Schnee und Lager der Ex-Deportierten macht aber nicht alle Lager und Lagererfahrungen gleich. Semprún unterscheidet durchaus zwischen nationalsozialistischen und stalinistischen Lagern – und zwischen der Erfahrung der zu Zwangsarbeit Deportierten und der zur Auslöschung bestimmten Juden. Die literarische Tradition wird weiterhin benutzt, um den eigenen Erzählprozess zu problematisieren und zu strukturieren. In diesem Sinne spielt die Konfrontation mit der „Lettre sur le pouvoir d’écrire“ der Literaturkritikerin Claude Edmonde Magny eine strukturierende Rolle im narrativen Verlauf von Schreiben oder Leben. Dieser 1946 publizierte, Semprún gewidmete Essay dient als Angelpunkt für dessen metanarrative Betrachtungen und für seine Erinnerung an die im Sommer 1945 geführten Gespräche über sein Schreiben: „Zweifellos ist das Ihr Weg als Schriftsteller, murmelt sie. Ihre Askese: schreiben bis ans Ende all diesen Todes […]. Wahrscheinlich hat sie Recht. Falls er nicht mit mir ein Ende macht.“83 Die polemisierende Auseinandersetzung mit Proust spielt ebenfalls eine Rolle in Semprúns Werk. Semprún hat ein schwieriges Verhältnis zu Proust; er sei ihm zu nahe, sagt er in Interviews.84 Bewundern würde er eigentlich mehr Gides Schreibweise. Und trotzdem: der mehr oder weniger verdeckte Bezug zu Proust und die Auseinandersetzung mit ihm sind seinem Text eingeschrieben. Die Bezugnahme auf Proust dient dazu, das eigene Erzählen im Zusammenhang mit der Erinnerung als Prozess zu problematisieren und den Erzähler als ordnende Instanz von Zeit und Raum der geschilderten Wirklichkeit in Frage zu stellen. In seiner Suche nach der verlorenen Zeit findet Proust die Zeit auf dem Wege über das Schreiben wieder, – ein Schreiben, das sich von der Erinnerung ausgehend durch das Erzählen realisiert. Das wirklich erlebte Leben, die wirklich erlebte Zeit ist letzten Endes das erzählte Leben, das literarisierte Leben. In einer konstanten Spannung zwischen der Literatur (dem Erinnern, der Memoria) und dem Leben (dem Vergessen), be-schreibt Semprún auch seine autobiographische Vergangenheit. Aber was für einen Sinn hat die Linearität der Zeit für denjenigen, der nicht mehr unterscheiden kann, was Wirklichkeit und was Traum ist, – während die chronologische Ordnung voraussetzt, dass man sehr genau weiß, was das Präsens, die Realität, und was die Vergangenheit, die Erinnerung sind? Ist die letzte

83 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 200. 84 Siehe zum Beispiel: Semprún, Écrire sa vie, S. 24.

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Wirklichkeit nicht doch die des Lagers, des Todes – und ist das, was wir für Wirklichkeit halten, nicht eigentlich nur ein Traum? Was sind Realität und Präsens, was Erinnerung und Vergangenheit für denjenigen, der dieVernichtung überlebt hat? Proust erlebt bekanntlich die Vergangenheit in der Gegenwart als Epiphanie, etwa beim Schmecken eines in Tee getunkten Gebäcks, einer Madeleine. In Semprúns Werk gibt es verschiedene ähnliche Erlebnisse. Vielleicht ist das häufigste der herumwirbelnde Schnee, die von Scheinwerfern oder Laternen beleuchteten Schneeflocken. Sie versetzen sowohl die Protagonisten seiner Werke wie Semprún selbst sofort ins Lager, versetzen ihn in den unter den Reflektoren leuchtenden Schnee. Im Laufe der verschiedenen Texte Semprúns wird der Schnee, der Auslöser der mémoire involontaire, zur Metonymie des Lagers. Aber dieses Erlebnis führt natürlich nicht zu einer glücklichen Vereinigung oder gar Aussöhnung mit der Vergangenheit und damit nicht zu einem erneuerten Zeitund Lebensgefühl. Es führt in eine Art von Zeitloch, das Epochen verbindet, die Wirklichkeit der Gegenwart in Frage stellt und den Protagonisten in den Horror zurückwirft. Es führt zur Auflösung des Ichs, des Individuums, das darum kämpft Zeit und Raum, Realität und Traum zu ordnen: Denn mein Leben gleicht keinem Fluss, vor allem keinem immer anderen, niemals gleichen Fluss, in dem man nicht zweimal baden könnte: mein Leben ist die gesamte Zeit des BereitsGeschehenen, des bereits Erlebten, der Wiederholung, des Gleichen bis zum Überdruss, bis es durch das Identische etwas Anderes, etwas Fremdes wird. Mein Leben ist kein zeitliches Fließen, keine fließende Dauerhaftigkeit, sondern etwas Strukturiertes oder schlimmer noch: etwas sich Strukturierendes, eine sich selbst strukturierende Struktur. Mein Leben ist unentwegt destrukturiert, ständig im Begriff, sich zu destrukturieren, sich zu verflüchtigen, in Rauch aufzugehen. […] Das Leben als Fluss, als Fließen ist eine romanhafte Erfindung. Eine erzählerische Beschwörung, ein Trick des Ego, um an sein ewiges, zeitloses Dasein glauben zu lassen – sogar in der perversen oder pervertierten Form der Zeit, die verfließt, verlorengeht und wiedergefunden wird – und um sich selbst davon zu überzeugen, indem man sein eigener Biograph, der Romancier seiner selbst wird.85

In Der weiße Berg sagt Antoine de Stermaria: „Mein Leben ist kein Fluss, in den man nicht zweimal steigen könnte: es ist immer derselbe Fluss, in dem ich mich ertränke. Derselbe Traum, in dem ich mich verliere.“86

85 Semprún, Was für eins schöner Sonntag, S. 330. 86 Semprún, Der weiße Berg, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1990, S. 89.

4.6 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder

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4.6 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder Die Erinnerung an Deportation und Lager bestimmt die Erinnerung vieler Protagonisten in Semprúns Werken und zugleich seine eigene Perspektive auf die Gegenwart; sie verwandelt sich in obsessive Erinnerungsbilder, die sein Schreiben leitmotivartig durchziehen und mit denen eine eigene Metaphernwelt konstruiert wird. Der Schnee bildet eines der Erinnerungsbilder, die als mémoire involontaire fungieren und schlagartig das Lager in der Gegenwart präsent machen, die ein Zeitloch aufreißen. Aber es gibt weitere: Rauchende Schornsteine verweisen auf das Krematorium, und so gibt es zum Beispiel in Der weiße Berg eine Fahrt, auf der die Schornsteine des Kraftwerks von Porcheville die Erinnerung an das Lager schlagartig präsent machen und den Protagonisten in die Erinnerung an den Tod zurückwerfen, aus der er die Zeichen seiner Identität gewinnt. Es verbinden sich dabei zwei sinnliche Erinnerungen. Denn die Sicht des Kraftwerkes verweist auf den Geruch des Krematoriums: „Ich habe gedacht, fuhr Juan fort, dass meine persönlichste, am wenigsten geteilte Erinnerung […] diejenige, die bewirkt, dass ich das bin, was ich bin […] dass es die beharrliche, hartnäckige Erinnerung an den Geruch des Krematoriums ist.“87 Sein Identitätsmerkmal geht zusammen mit der Erinnerung an den Tod: „Was ich wiege, Odysseus? Ich wiege das Gewicht des Rauchs aller meiner toten Kameraden, die in Rauch aufgegangen sind. Ich wiege das winzige, unendlich schwere Gewicht meines eigenen Rauchs.“88 Mit dieser Erinnerung wird jeder Rauch, auch derjenige, der über einer friedlichen Ebene von den Häusern und Hütten aufsteigt, zu einem Phantasma der Allgegenwart des Todes: „In Richtung Freneuse stieg ein ruhiger, leichter, häuslicher Rauch auf: Rauch von Holzfeuer, Fee des Heims, flockiges Phantasma des heimischen Herdes.“89 Die vom Rauch beschworene Erinnerung an das Lager zieht sich in verschiedenen Sequenzen über den gesamten Roman hin, fungiert als Leitmotiv für die Präsenz des Lagers, für die Allgegenwart der Erinnerung daran, auch für die Unterscheidung zwischen deutschen nationalsozialistischen und russischen stalinistischen Lagern. Am letzten Tag seines Lebens, einem 25. April und Gedenktag der Deportierten, erzählt der Protagonist Juan Larrea vom Lager, von dem der Rauch der Krematorien aufsteigt: Er begann mit dem Rauch des Krematoriums, mit dem Rauchgeruch über dem Ettersberg. […] Mit jener Erinnerung, die er mit keinem teilen konnte, der nicht dabei gewesen war, es nicht überlebt hatte. Sogar die ehemaligen Deportierten des sowjetischen Gulag, sagte Juan,

87 Ebd., S. 105. 88 Ebd. 89 Ebd.

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deren Gedächtnis die gleichen grausigen Schätze birgt […], sogar sie kennen den Rauchgeruch der Krematorien über den Landschaften Europas nicht. Das ist unser Hab’ und Gut, die Essenz unseren Lebens!90

Aber auch reale Bilder lösen Erinnerungsbilder aus, Kunstwerke, die Semprún im Laufe seines Lebens gesehen hat und die sich ihm eingeprägt haben. Sie geraten durch die Erinnerung in metaphorische Zusammenhänge und konstituieren so den Sinn des Romans. In Der weiße Berg ist diese Funktion besonders ausgeprägt. Dieser Roman, der verschiedene autofiktionale Figuren mit Zügen von Semprún selbst enthält, ist um fünf Bilder herum aufgebaut: zwei reale, erinnerte, die Überfahrt über die Lagune Styx von Patinir aus dem Prado und die Dialektik des Veronese aus der Sala del Collegio im Dogenpalast in Venedig, und drei fiktive, die Gemälde eines der Protagonisten, des Malers Antoine de Stermaria, Helles Seestück, Blauer Akt von hinten, und Rote Landschaft. Die Farben blau und rot stehen im Zentrum der realen wie der fiktiven Bilder; sie erhalten im Laufe des Romans metaphorischen, sogar symbolischen Inhalt. So konstruiert sich Sinn durch Metaphorik und Bildlichkeit und nicht so sehr durch direkte Argumentation. Der Roman schildert den Besuch, den Juan Larrea und seine junge Freundin Nadine bei seinem Freund Antoine de Stermaria und dessen Frau Franca machen. Larrea war einer der Decknamen Semprúns im Untergrund; er verweist auf den avantgardistischen Dichter Juan Larrea. Larrea teilt Erinnerungen mit Semprún, hauptsächlich das Überleben Buchenwalds und die Teilnahme an der Résistance. Auch der Maler Antoine de Stermaria hat Züge, die ihn mit Semprún verbinden, unter anderem seine Leidenschaft für die Malerei. Ein weiterer Freund Larreas gesellt sich zu dem Treffen: Karel Kepela, tschechischer Theaterregisseur und Opfer des Stalinismus, exiliert im Zuge der Unterdrückung des Prager Frühlings. In die Erinnerungen aller Beteiligten spielen Semprúns Erinnerungen an das Filmfestival in Karlovy Vary hinein, wo es nicht gelang, den mit Costa-Gavras gedrehten Film La confession zu zeigen. Auch die Schauprozesse des Stalinismus werden evoziert. So ist schon durch die Personenstruktur des Romans die Erinnerung an Nationalsozialismus und Lager und an Stalinismus vorgegeben. Die friedliche Landschaft um Freneuse, wo Antoine lebt, wird von Rauch durchzogen, der an die Krematorien im Lager erinnert, eine Erinnerung, von der Larrea sich nicht lösen kann, die Erinnerung an die Zeit eines „früheren Tod(es)“91. Der von Levi und Adorno erwähnte Traum, in dem der Überlebende eigentlich schon

90 Ebd., S. 259. 91 Ebd., S. 32.

4.6 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder

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gestorben, in Rauch aufgegangen ist, beherrscht Larrea und führt schließlich zu seinem Tod; er zieht sich durch den ganzen Roman. Der Verweis auf das Lager bringt aber auch bezeichnende Verwechslungen mit sich. Larrea vermeint, Forcheville (statt Porcheville) auf dem Kraftwerk zu lesen,92 den Namen von Gilberte Swann aus Prousts Recherche – ein ironischer Verweis auf Erinnerung und die Möglichkeit, die Zeit wiederzufinden – in diesem Fall ist es eine Zeit des Todes –, aber auch ein Verweis auf Erotik. Und als er zum erstenmal Nadines Namen hört, missversteht er „Feuerabend“ statt „Feierabend“. Nadine ist Jüdin, sie hat ihrer Dissertation über die Ausrottung der Juden den Titel Die Weißwäscher der Verwesung geschrieben. Der Besuch findet im April statt, der Jahreszeit der Befreiung der Lager, einer für Semprún und für Larrea besonders erinnerungsträchtigen Zeit. Der Roman schildert das Treffen der fünf Personen und gibt ihre verschlungenen Beziehungen wieder. Larreas und Stermarias Liebe zu Franca steht im Mittelpunkt; die Darstellung wird durchbrochen von Erinnerungen, die zum Teil gemeinsam sind, aber individuell ausgeleuchtet werden. Wie bei Semprún üblich gibt es keinen linearen zeitlichen Strang, die Erzählung entwickelt sich vielmehr aus Assoziationen, aus Zeitsprüngen, die so etwas wie Zeitlöcher im Roman aufreißen. Die Erinnerung führt schlagartig in andere Zeiten und Räume, welche die Gegenwart des Erzählten aufheben, und zeigt eine Kontinuität von Gewalt und Tod, aber auch von Lust und Liebe, die sich vergeblich dagegen zu behaupten versuchen. Der Titel verweist auf den Weißen Berg in Prag, auf dem durch eine Kirche und ein Denkmal an die böhmische Niederlage gegen Habsburg im Jahre 1620 erinnert wird; er erscheint als Fluchtpunkt für die Geschichte der Protagonisten. Parallel dazu wird die Geschichte des Prager Aufstandes gegen die Sowjetunion erzählt. Die individuelle Erinnerung der Protagonisten bedingt die Darstellung der historischen Ereignisse. Dafür werden kulturell kodierte Texte und Bilder instrumentalisiert, die die Erzählung bestimmen. Rolf Renner zeigt detailliert, dass Semprúns Perspektive vorwiegend intermedial ist, dass die Korrespondenz von Erinnerung, Erfahrung und Wahrnehmung sich am Beispiel von Bildern entfaltet und dass Aspekte von Kulturgeschichte und Lebensgeschichte semiotisch eng miteinander verknüpft werden.93

92 Ebd., S. 26. 93 Siehe dazu: Rolf Günter Renner, „Transformationen des Eigenen ins Fremde: Interkulturelle Strategien der Moderne am Beispiel von Jorge Semprún“, in: Ders./Marisa Siguan (Hrsg.), Selbstbild und Fremdbild. Aspekte wechselseitiger Perzeption in der Literatur Deutschland und Spaniens, Barcelona 1999, S. 198–208; und: Ders., Das Erinnern der Katastrophe bei Semprún und Sebald, in: Thomas Klinkert/Günter Oesterle (Hrsg.), Katastrophe und Gedächtnis. Berlin/Boston 2013,

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Auch in Der weiße Berg enthält das Leben der Protagonisten Bezüge zur literarischen Tradition. Hier ist es Kafka, auf dessen Leben und Werk ständig verwiesen wird, vor allem auf seine Trennung von Felice, die jedoch nur vermittelt in den Romantext eingeht, nämlich als Thema des von Larrea geschriebenen Theaterstücks über den Askanischen Hof.94 Damit wird sowohl auf das Thema der Schuld wie auch auf das Verhältnis Kafkas zu Frauen Bezug genommen; Larrea erfährt seine eigenen Beziehungen zu Frauen in diesem Bezug. Doch zentral für die Sinnkonstruktion des Romans sind wie gesagt die Bilder. Bei den beiden real existierenden Bildern von Patinir und Veronese handelt es sich um erinnerte Bilder, die im Leben der Protagonisten eine wichtige Rolle spielen; sie verweisen auf die beiden geschichtlichen Erinnerungskomplexe des Romans: Das Bild von Patinir gehört zur persönlichen Erinnerung Larreas und wird im Laufe des Romans in Beziehung zur Lagererinnerung gesetzt; Larrea ertränkt sich in der Seine und letztendlich in dem Styx des Bildes. Die Dialektik des Bildes von Veronese steht hingegen im Kontext des geschichtlichen Missbrauchs der Dialektik durch den Kommunismus. Beide Bilder werden aus der Erinnerung zur Interpretation der individuellen Lebensgeschichte eingesetzt; sie werden zu Metaphern der individuellen und geschichtlichen Entwicklung. Patinirs Bild im Prado hat sowohl für Larrea wie auch für Semprún, der es schon als Kind kannte, besondere Bedeutung. In ihm herrscht das Blau vor, es beleuchtet Himmel und Styx, die Landschaft ist verfremdet und dominiert die christlichen und mythologischen Themen. In das Bild ist auch ein Detail eingezeichnet, das versteckt ist und entdeckt werden muss: ein in das Laubwerk hinein gemalter Hase. Das Gespräch der Protagonisten kreist zunächst um das Blau, das Patinir berühmt gemacht hat. Larrea hat Stermaria eine Postkarte des Bildes aus dem Prado geschickt; sie löst Stermarias Eifersucht aus, weil er eine Begegnung Larreas mit Franca in Madrid ahnt. Der Roman entwickelt die Geschichte dieser Liebe, aber die Postkarte ist auch der Auslöser des Gesprächs über das Blau, das wiederum die im Roman erwähnten fiktiven Bilder verbindet. Sowohl Helles Seestück wie auch Blauer Akt von hinten und Roter Akt, alles Bilder von Stermaria, über die sich die Protagonisten unterhalten und in denen sich das Auf und Ab ihrer Beziehungen spiegelt, nehmen Bezug auf Patinirs Blau in der Überfahrt.95 Gleichzeitig aber wird die Farbe Blau zur Metapher für die Erinnerung selbst. Denn in das Gespräch über Patinirs Blau im Zusammenhang mit Antoines Blau im

S. 241–256. Im gleichen Band auch: Marisa Siguan, Literatur und Überleben. Die literarische Memoria bei Klüger, Améry, Semprún und Levi. S. 276–292. 94 Semprún, Der weiße Berg, S. 95. 95 Vgl. Renner, „Transformationen des Eigenen ins Fremde“, S. 205.

4.6 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder

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Hellen Seestück wird eine andere Beschreibung eingeblendet. Antoine rezitiert Prousts Beschreibung eines der Seestücke des Malers Elstir: Der Himmel, rezitierte er sofort, mit klarer, volltönender Stimme, bestand ganz und gar aus dem strahlenden, blassen Blau, wie ihn ein Spaziergänger, der sich in einem Feld lagert, manchmal über seinem Haupte sieht, aber so einheitlich und so tief, dass man spürte, wie das Blau, aus dem er gemacht war, ohne jede Beimischung verwendet worden war und dabei in so unerschöpflicher Verschwendung, dass man immer tiefer in seine Substanz hätte eindringen können, ohne auch nur auf ein Atom von etwas anderem zu stoßen als immer auf dieses gleiche Blau….96

So wird das Blau mit dem Thema der Erinnerung aufgeladen, die im Zusammenhang mit der Erfahrung des Todes steht; zum einen durch das Thema des Bildes von Patinir, zum anderen, weil die metaphorische Bedeutung des Bildes in die Handlung des Romans einbezogen wird. Der Roman endet mit dem Freitod von Juan Larrea, der sich im April (dem Monat der Befreiung der Lager, dem Monat von Primo Levis Tod) in der Seine ertränkt (wie Paul Celan). Am frühen Morgen von Larreas Tod erscheint die Seine in der Ferne bläulich, irisierend, die Sonne legt eine azurblaue Patina auf die Landschaft. Die Beschreibung der Landschaft nimmt in Larreas Augen patinirhafte Farben an, die Erinnerung führt in die Kindheit und in die Sprache, die Larrea mit Semprún teilt: „Intensiv blauer Himmel auf den abschüssigen Straßen zum Park in Madrid. Indigofluß, heute, am gedämpften, aber herzzerreißenden Lärm der Wörter, wiedergekehrt wie der Schrei der Scherenschleifer einst.“97 Im Moment des Versinkens taucht eine weitere Erinnerung Semprúns auf: an die Badewanne, in der Semprún/Larrea von der Gestapo bei der Gefangennahme durch Untertauchen und Erstickungsgefahr gefoltert wurde: „[Er] dachte im Feuer seines Gedächtnisses, dass es damals darum ging, zu überleben, Kräfte zu bewahren, dass es heute darum ging, zu sterben[.]“98 Die Erinnerung an die Folter ist auch bei Semprún dem Körper eingeschrieben, sie taucht in verschiedenen seiner Werke auf (Die große Reise, Schreiben oder Leben) und sie bestimmt sein problematisches Verhältnis zum Wasser,

96 Semprún, Der weiße Berg, S. 165. Kursivierung im Original. – Vgl. dazu: „[L]e ciel était tout entier fait de ce bleu radieux et un peu pâle comme le promeneur couché dans un champ le voit parfois au-dessus de sa tête, mais tellement uni, tellement profond, qu’on sent que le bleu dont il est fait a été employé sans aucun alliage et avec une si inépuisable richesse qu’on pourrait approfondir de plus en plus sa substance sans rencontrer un atome d’autre chose que de ce même bleu“ (Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Jean-Yves Tadié (Hrsg.), Bd. 3, Paris 1987, S. 906 f.). 97 Semprún, Der weiße Berg, S. 267. 98 Ebd.

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wie Franziska Augstein in ihrer Biographie berichtet. Insofern könnte man auch den Tod Larreas im Wasser als eine Spätfolge der Folter interpretieren. Aber auch hier unterscheidet sich Semprún von Jean Améry, dessen Essay über die Tortur er kennt. Laut Augstein kann er nicht begreifen, warum Améry dem „ersten Schlag“ so große Bedeutung beimesse.99 Améry behauptet, mit dem ersten Schlag des Gefolterten gehe sein Weltvertrauen unwiderruflich zugrunde. Auch diese Behauptung ist womöglich mit den unterschiedlichen Situationen von Améry und Semprún im Lager zu erklären: Bei beiden ist die Folter der erste Schritt, der zum Lager führt, bei beiden wird die Folter durch das Lager hindurch erinnert. Für Semprún gehört die Lagererfahrung zu den Konsequenzen seines Kampfes, seiner politischen Aktion. Die Folter ist, wie das Lager, in eine Region der menschlichen Seele einzufügen, in der das „radikal Böse“ sich der Brüderlichkeit entgegenstellt und die er erforschen möchte. Er kann Folter, Lager und Gewalt in eine geschichtliche Ordnung einfügen, in deren Kämpfen er eine Rolle gespielt hat, auch wenn diese Ordnung im Laufe des 20. Jahrhunderts von der Vorherrschaft der Gewalt in den verschiedenen politischen Systemen gekennzeichnet ist. Der Roman endet mit dem Satz: „Das Wasser des Flusses Styx trug ihn fort in seinen Fluten.“ Larrea ertrinkt in Patinirs Bild; der Styx ist zum Symbol von Tod, Traum, Vergessen, Wasser und Schnee geworden. Die biographische Erfahrung des Lagers und der Allgegenwart des Todes und die Erinnerung daran werden über kulturell kodierte Zeichen erschrieben und vermittelt. Literatur und Malerei stehen in diesem Zusammenhang. Dass Erinnerung und Tod zusammengehen, wird durch den Rekurs auf die Mythologie und die künstlerische Tradition plausibel gemacht und im Roman verarbeitet. Die Bilder und Textverweise bauen eine metaphorische Sinnstruktur auf, durch die die Geschichte der Romanfiguren interpretierbar wird. Rolf Renner weist nach, dass die Schreibweise Semprúns auf Bildern und Intertextualitäten beruht und die literarische Memoria in seinen Texten auf diese Weise neu bestimmt wird: „Denn das ästhetische Bild, das visualisierte wie das imaginierte, das ihm zuarbeitet, entfernt sich von den authentischen Bildern der Erinnerung. Es eröffnet einen Raum der Phantasie, der die Gesetze des Sehens ebenso überwindet, wie die Gebundenheit der Erfahrung an Zeit.“100 Also sind die kulturell und intertextuell codierten Bilder in Semprúns Text immer ikonographische und metaphorische Zeichen zugleich. Sie führen die bewusste, die körperliche, die unbewusste Erinnerung und das kulturelle Gedächtnis zusammen.

99 Augstein, Von Treue und Verrat, S. 107. 100 Renner, Das Erinnern der Katastrophe, S. 250.

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Die Werke von Semprún, die sich direkt mit dem Lager auseinandersetzen, wechseln zwischen Autofiktion und Autobiographie. Die große Reise ist die erste Erschreibung der Erinnerung; sie schildert die Vorgeschichte des Lagers und das Lager selbst aus der Perspektive der Reise dorthin; der Icherzähler gesellt sich zu einem Kameraden und Doppelgänger, der dann stirbt. In Was für ein schöner Sonntag erzählt Semprún seine Erinnerung an das Lager und spiegelt seine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in diese Geschichte hinein. Das Gleiche ist auch das Thema seiner Autobiographie Schreiben oder Leben. In Algarabía wird die Geschichte des Konzentrationslagers in die Utopie einer linken Republik in Paris verwandelt, deren Binnenstruktur die internen Machtverhältnisse des Konzentrationslagers reproduziert. Der Roman trägt den Untertitel Die neuen Geheimnisse von Paris und stellt sich so in die Tradition der Trivialromane des 19. Jahrhunderts.101 Der weiße Berg benutzt die Intermedialität und das kulturelle Zitatenspiel am radikalsten, um das Lagerthema als Erinnerung wieder aufzunehmen; diese literarischen Kunstgriffe sind aber auch in Algarabía als Zitatenspiel präsent.102 So können an einer bestimmten Stelle zum Beispiel die Erinnerung an die spanische Zarzuela (Operette) La Corte del Faraón, an die Beschreibung eines DelacroixFreskos und an die gleichzeitige Paraphrase des Baudelaire’schen Kommentars zu diesem Fresko im Bewusstsein des Protagonisten ebenso ineinander übergehen, wie die miteinander verschränkten Geschichten der Protagonisten es tun.103 Der Wechsel in der Benutzung von Figuren, die mit Semprún verwandte Züge haben, und die Alternanz verschiedener grammatischer Personen, die auch in der dritten Person autobiographische Erlebnisse mit Semprún teilen können, sind weitere Aspekte der Gratwanderung zwischen Autobiographie und Autofiktion. In ihnen allen sind die Namensänderungen, die Identitätsänderungen Themen des Erzählens. In dem Roman Was für ein schöner Sonntag zum Beispiel wechselt die Erzählstimme in der ersten Person mit einer dritten Person ab, die Gérard beschreibt, einen der Doppelgänger von Semprún, dessen Erlebnisse und Biographie mit denen der ersten Person zusammenfallen. In Algarabía trägt der Protagonist Rafael Artigas autobiographische Züge von Semprún und auch einen seiner Decknamen aus dem Untergrund. Artigas ist es, der den oben zitierten Monolog über Primo Levi und Adorno hält. Aber es gibt eine andere Figur in dem Roman, Carlos Bustamante, der Erinnerungen hat, die nicht aus seinem eigenen Leben, sondern aus der Biographie von Artigas stammen, bis hin zu Gedichten, die jener geschrieben hat (und die Semprúns Jugendgedichte sind). Es scheint so, als ob 101 Vgl. Semprún, Algarabía, S. 287, 356 f. 102 Zur „postmodernen“ Erzählhaltung von Algarabía vgl. Rolf Günter Renner, Die postmoderne Konstellation. Text, Theorie und Kunst im Ausgang der Moderne, Freiburg 1988, S. 330–352. 103 Vgl. Semprún, Algarabía, S. 79, 116 f., 186 f.

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sich Artigas’ Ich auf verschiedene Figuren verteilte oder als ob alle Figuren eigentlich Artigas wären; und als ob die Unterscheidung von Leben, Erinnerung, Traum und Wirklichkeit grundsätzlich gestört wäre. Die Erzählstimme benutzt verschiedene Stimmen; sie ist polyphonisch. Lukas Hénaff sieht darin auch eine Opposition gegenüber der Einheitssprache der Partei, der Semprún angehörte: dieser stellt ihr sein eigenes, allem Monolithischen feindliches Schreiben entgegen. Seine Sprache „tâtonne et laisse voir ce tâtonnement“, ist voller „je veux dire“, „du moins“, „ou plutôt“; Hénaff spricht von der „mauvaise foi des narrateurs sempruniens“.104 Der letzte Roman Semprúns, Veinte años y un día (Zwanzig Jahre und ein Tag), nimmt die Thematik des spanischen Bürgerkriegs auf, der sein gesamtes Leben geprägt hat, den er aber nur in seinen Auswirkungen erlebt hat. Seine Verankerung im „Rotspaniertum“ wurde schon besprochen; inwiefern dieses auch auf einem individuellen Trauma beruht, lässt sich anhand eines in Der Tote mit meinem Namen geschilderten Erinnerungsbildes sehen: Semprún schildert dort wieder einmal, wie in seiner Erinnerung seine Mutter an dem Tag, an dem die Republik proklamiert wird, eine republikanische Flagge auf dem Balkon des Hauses hisst. Die unwirschen Nachbarn aus dem großbürgerlichen Wohngebiet schließen darauf hin mit lautem Knall demonstrativ protestierend ihre Fensterläden. Jetzt wird aber die Erinnerung in einen Traum verlagert, und darin wird der Knall der zuschlagenden Fensterläden mit dem hämmernden Verschließen des Sarges der Mutter assoziiert. Monika Neuhofer sieht in diesem Traum Parallelen zwischen dem Tod der Mutter, dem Verlust der Heimat und dem Tod der Republik; das Land der Kindheit wird damit zur Kindheit selbst, der Verlust von Mutter, Kindheit und Land wird zum Initialereignis stilisiert.105 Die Kindheitserinnerung und die Erinnerung an das Lager kommen im Was für ein schöner Sonntag in einer Sonnenuntergangsstimmung zusammen: Aber die Sonne ist gerade da drüben hinter der Bergkette des Thüringischen Waldes untergegangen. Die Dunkelheit senkt sich plötzlich wie eine Haube aus Blei oder Eis darauf. In Lekeito, in meiner Kindheit, sah man zu, wie die Sonne im Ozean unterging. Man stand am Rand der Felsen, am Fuß des Leuchtturms von Lekeito. Man betrachtete mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit, wie die rötliche Scheibe der Sonne im Ozean versank.106

104 Lukas Hénaff, „La littérature ou la vie: l’obsession de la litterarité chez Jorge Semprún“, in: www.revue-analyses.org, vol.6/automne 2010, 3, S. 115–148, hier: S. 133. 105 Monika Neuhofer, „Die literarische Aneignung versäumter Geschichte. Jorge Semprún und der spanische Bürgerkrieg“, in: Anja Bandau/Albrecht Buschmann/Isabella von Treskow (Hrsg.), Literaturen des Bürgerkrieges, Berlin 2008, S. 234–250, hier: S. 244 f. – Neuhofer setzt die „Rückbesinnung“ auf die Kindheit von Adieu vive clarté aus an. 106 Semprún, Was für ein schöner Sonntag, S. 394.

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Von Lekeitio im Baskenland aus emigrierte Semprúns Familie; der Sonnenuntergang verbindet Exil, antifaschistisches Engagement und Lager und steht für die Identität des Sich-Erinnernden.107 Auch in Zwanzig Jahre und ein Tag strukturiert sich die Erinnerungsarbeit in einer komplexen Organisation kultureller Zitate. Die Literatur spielt eine fundamentale Rolle im Leben der Protagonisten; sie wird in ihrem Leben verwendet, aber auch zitiert; sie dient zur Reflexion über den Erzählprozess. Auch diese Erzählung ist um ein Bild herum strukturiert, Judith und Holofernes, von Artemisa Gentileschi. Es gewinnt symbolische Bedeutung, verweist auf die Verhältnisse der Protagonisten zueinander und wird für ihre Entwicklung bestimmend. Es verbindet auch die verschiedenen Zeitebenen der Erzählung und ist in ihnen allen präsent; es führt von einer Zeitebene in die andere und eröffnet die Zeitlöcher, welche die Erzählung zwischen den Zeiten hin und her wandern lassen. Im Zentrum der erzählten Zeit stehen die späten fünfziger Jahre in Spanien und eine makabre Feier, die jedes Jahr seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs von der Großgrundbesitzerfamilie Avendaño inszeniert wird und die den als Bußritual theatralisch inszenierten Tod des jüngsten Sohnes, José María, durch die Schüsse der revoltierenden Landarbeiter zum Thema hat. Der Erzählplot dreht sich um den Besuch des amerikanischen Historikers Michael Leidner im Jahr 1956 auf dem Landgut der Familie Avendaño, um diesem Bußritual beizuwohnen; er schreibt ein Buch über den Bürgerkrieg. Die Absurdität dieses „alten Todes“ („muerte antigua“) des Jahres 1936 wird im Laufe der Erzählung klar: Der junge Sohn war der Republikaner der Familie, und die Landarbeiter wollten eigentlich niemanden töten, sondern nur das Land zum kollektiven Eigentum machen. Der Aufstand und der Tod werden jedes Jahr durch Befehl des ältesten Sohns der Familie, José Manuel, eines Frankisten, der auf Grund seiner politischen Orientierung ein großes Vermögen gemacht hat, theatralisch inszeniert. Die Landarbeiter werden damit jedes Jahr durch die Sieger an ihre Schuld erinnert und dadurch gleichsam erneut besiegt. 1956 soll diese Inszenierung zum letzten Mal stattfinden. Die Witwe des Verstorbenen hat außerdem angeordnet, dass ihr Mann in eine neue Familienkrypta überführt und dort zusammen mit einem der Anführer der Landarbeiter, Chema el Refilón, der später Guerrillaführer in den Bergen war und gerade in dem Gefängnis von Burgos gestorben ist, begraben werden soll. Dieses doppelte Begräbnis soll das Ende der alljährlichen Inszenierung bedeuten.108 Man könnte dies als Akt der Versöhnung deuten; es ist aber eher eine groteske 107 Vgl. Neuhofer, „Die literarische Aneignung versäumter Geschichte“, S. 243. 108 Der Titel des Romans, Zwanzig Jahre und ein Tag, verweist sowohl auf die seit dem Anfang des Bürgerkrieges verflossene Zeit wie auf die übliche Gefängnisstrafe für Kommunisten im frankistischen Spanien.

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Satire auf den von Franco verordneten Bau des Valle de los Caídos, eines frankistischen Mahnmals des Krieges, bei dessen Bau tausende von gefangenen Republikanern ihr Leben lassen mussten, – so dass das Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen) letzten Endes die Kolonisierung der Erinnerung der Besiegten durch die Sieger bestätigt – und nicht einen Akt der Versöhnung. Darauf verweist der älteste Sohn der Familie, José Manuel, der die Inszenierung des Todes seines Bruders seinerzeit in Gang gesetzt hat: „Seien Sie nicht franquistischer als Franco, Kommissar […]. Wir machen hier nur ein Tal der Gefallenen in Familienmaßstab[.]“109 Und Semprún selbst sagt in einem Interview „Das ist eine ironische Metapher auf das Valle de los Caídos, das Tal der Gefallenen nahe Madrid.“110 Die verschiedenen Ebenen der Erzählung verweisen auf die fünfziger Jahre, auf den Bürgerkrieg und auf das Jahr 1985, das Jahr in dem die makabre Inszenierung vom Erzähler und von Michael Leidner erinnert und besprochen wird. Die erzählte Zeit um 1956 schildert das Ambiente der jungen kommunistischen Opposition in Madrid, in der sich auch Lorenzo, der Sohn des getöteten José María Avendaño, bewegt. Der Erzähler schildert dieses Ambiente und darin tauchen reale Figuren der kommunistischen Opposition auf wie Javier Pradera, Enrique Múgica oder der Stierkämpfer und Empresario Domingo Dominguín. Unter den Figuren ist Federico Sánchez, der manchmal auch unter dem Namen Agustín Larrea oder Rafael Artigas vorkommt. Der Erzähler erklärt sich gegen Ende des Textes sowohl mit Federico Sánchez wie mit Larrea und Artigas identisch und hat auch dieselbe Biographie wie Semprún; einzelne Sätze entlarven die verschiedenen Identitätsspiele der Semprún-Doppelgänger: „Wir sprachen noch eine Weile weiter, und ich schaffte es, Federico, berichtete Castillo dem Erzähler dieser Geschichte, dem Kommissar Jahre später noch ein paar Dinge mehr über dieses Phantom Sánchez aus der Nase zu ziehen“,111 „Larrea wusste es – das heißt ich, der Erzähler, wusste es ganz genau –.“112 Oder auch: „Doch jetzt, wo er sie [die Geschichte, M.S.] schreibt, sie niederschreibt, kann der Erzähler – der nicht mehr Larrea oder Artigas und natürlich nicht einmal mehr Federico Sánchez heißt […].“113 Im Roman erscheint der Kommissar Roberto Sabuesa, Chef der Brigada Político Social, der gefürchteten Geheimpolizei Francos. Er ist ein Doppel des

109 Jorge Semprún, Zwanzig Jahre und ein Tag, Frankfurt a.M. 2005, S. 38. 110 „Aufarbeitung des Franco Regimes: Die Kirche sieht den Bürgerkrieg immer noch als Kreuzzug. Interview mit Jorge Semprún“, in: Spiegel online Politik, 02.11.2008 (http://www.spiegel.de/ politik/ausland/aufarbeitung-des-franco-regimes-die-kirche-sieht-den-buergerkrieg-immernoch-als-kreuzzug-a-587669.html, Stand: 31.08.2013). 111 Semprún, Zwanzig Jahre und ein Tag, S. 126. 112 Ebd., S. 234. 113 Ebd., S. 236.

4.6 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder

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realen Roberto Conesa, dessen Name zu Sabuesa (Schweißhündin, Schnüfflerin) umgewandelt wird. Er ist Federico Sánchez auf der Spur, spürt ihn aber nie auf. Auch die Folter in den Kellern der Puerta del Sol wird thematisiert. Mit Sabuesa gönnt sich Semprún eine eigene literarische Rache. Eine von ihm gern erzählte Anekdote ist, dass Felipe González ihn überredete, das Kulturministeramt anzunehmen, indem er ihm nicht nur Argumente dafür nannte, sondern ihn auch fragte, ob es ihn nicht freuen würde, wenn die Polizei, die ihn jahrelang erfolglos verfolgt hatte, vor ihm salutieren müsse. Es werden Artikel in kommunistischen Zeitschriften zitiert, die Semprún – Federico Sánchez – geschrieben hat. Auch die Studentenproteste in der Universität, die ersten Zeichen wirklicher Opposition gegen das Regime, die von den Kommunisten mitgetragen wurden, werden erwähnt. In dieser Zeit entwickelt Semprún in Madrid mit seiner Gruppe eine politische Linie mit dem Ziel, die langsame Entwicklung einer Industrialisierung und einer neuen gesellschaftlichen Realität in Spanien auch in ihren legalen Möglichkeiten auszuschöpfen. Diese Linie führt letztendlich zu seinem Bruch mit der spanischen kommunistischen Partei, der PCE. In einer der Zeitschriften der PCE, für die Sánchez schreibt, wird auch für eine Politik der nationalen Aussöhnung plädiert. Wenn Mercedes, die Witwe von José María Avendaño und Mutter von Lorenzo, meint, dass die Zeremonie des Begräbnisses ja gerade diese Aussöhnung befolge, und wenn in der Predigt des Begräbnisses die Worte Frieden und Pietät fallen, der Text auf eine Rede von Azaña, dem Präsidenten der ehemaligen spanischen Republik, verweist, so erscheint dies wie ein Sarkasmus, an dem auch die Kommunisten einen Teil haben. Denn letzten Endes sind es die machthabenden Sieger, welche entscheiden, wann und wo die Toten ruhen sollen. Die Zeitebenen und die persönlichen Geschichten werden um das Bild Judith und Holofernes von Artemisa Gentilesschi herum strukturiert. Mercedes, die Witwe des José María, hat es auf ihrer Hochzeitsreise in Neapel gesehen und es ist ihr zu einer extremen sinnlichen Erfahrung geworden. Es hat die Leidenschaft und den Verlust ihrer Jungfräulichkeit begleitet, die erotischen Spiele mit ihrem Mann und einer weiteren Frau. Das Blut, das darin fließt, und die Geschichte der Malerin, die selbst vergewaltigt wurde, werden zu einen symbolischen Leitmotiv des Romans, in dem auch auf die verschiedenen literarischen Judiths (von Giraudoux, von Hebbel) verwiesen wird. Kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise bricht der Bürgerkrieg aus. Mercedes’ Mann wird ermordet. Später wird sie selbst vom Familienoberhaupt und Schwager, dem ältesten Bruder José Manuel, vergewaltigt und quasi auf Grund eines nachträglichen ‚Rechtes der ersten Nacht‘ als dessen Besitz angesehen. Die erotischen Spiele, die sie mit Männern und ihrer Dienerin und Freundin Raquel unternimmt – auch Leidner zieht sie in ihr Zimmer – stehen damit auch immer im Kontext von geflossenem Blut, das den

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4 Jorge Semprún: Erinnerung, Autobiographie und Autofiktion

Roman durchzieht. Blut fließt auch am Ende, als ihre Zwillingskinder den Freitod als einzigen Ausgang aus einem inzestuösen Verhältnis suchen. Das Bild von Artemisa Gentileschi wird aber auch in einen Literaturkontext gesetzt: Bei der Rückkehr von der Hochzeitsreise hören Mercedes und José María auf einer Abendgesellschaft, wo auch Semprúns Vater Semprún Gurrea und seine zweite, als blond und unscheinbar geschilderte Frau präsent sind, García Lorca seine Casa de Bernarda Alba vorlesen. Eine geschlossene Welt der jungfräulichen Frauen, der Gewalt und des Blutes wird damit konnotiert, welche die Zeit um den Bürgerkrieg symbolisch charakterisiert. Weitere literarische Texte spielen im Leben der Protagonisten eine Rolle. So ist Sankt Augustinus’ De bono conjugali der Leittext, an dem Mercedes und José María ihre eheliche Erotik zu orientieren trachten. Für die jüngere Generation der mehr oder weniger militanten Kommunisten sind Marx’ Grundrisse wichtig, aber auch die geheime Rede von Jruschov auf dem XX. Kongress der russischen KP, die an Stalins Figur zu rütteln beginnt. Es werden Gedichte von Rafael Alberti und Pedro Salinas rezitiert, die auf das politische und erotische Leben der Protagonisten verweisen; deren eigene Gefühle werden durch fremde Wörter ausgedrückt. Das Bild von Judith und Holofernes steht auch im Mittelpunkt der metaliterarischen Diskussion um die Entstehung des Romans. Diese findet am Ende des Romans statt: Der Erzähler sieht das Bild im späteren Thyssen-Museum bei einer Ausstellung im Jahre 1985, wo er den amerikanischen Historiker Michael Leidner trifft. Das Gespräch führt sie zu einem Essen im Jahr 1956 zurück, bei dem auch Hemingway präsent war und während dem die Geschichte der seltsamen und makabren Todesinszenierung erzählt wird, der dann Leidner beiwohnt. Dabei wird eine mise en abyme des Erzählten inszeniert: Der Roman kehrt zu seinem Anfang zurück, zum schon Erzählten, und erzählt jetzt eine weitere Version des Erzählten, nämlich die der alten Köchin Saturnina, deren Erzählung von Leidner aufgenommen worden war und die den Tod der Zwillinge hinzufügt. Auch Mercedes kommt jetzt durch Leidner nochmals zu Wort. Und am Ende macht Semprún selbst als Erzähler den autobiographisch-autofiktionalen Charakter der Erzählung deutlich: Er zeigt Leidner seine ehemalige Kindheitswohnung in Madrid und erklärt, dass er alle Protagonisten der Erzählung gekannt hat. Ein letzter Verweis auf Faulkner zeigt metaliterarisch nochmals die Erzählstrategie des Romans und verweist auf die Vielstimmigkeit der erzählten Geschichten mit Hilfe der erzählenden Köchin Saturnina: „Sie würde die Rolle der Rosa Coldfield in Faulkners Absalom, Absalom spielen[.]“114

114 Ebd., S. 243.

4.6 Erinnerungsbilder, erinnerte Bilder

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In Schreiben oder Leben stellt Semprún für das Schreiben über das Lager, für die Möglichkeit, das Substantielle zu vermitteln, die Forderung nach künstlerischer Bearbeitung auf: „Zu dieser Substanz, dieser transparenten Dichte werden nur diejenigen vordringen, die es verstehen, ihr Zeugnis in ein Kunstwerk, einen Raum der Schöpfung zu verwandeln.“115 Man kann diese Forderung auf Semprúns gesamtes Schreiben beziehen und dieses als ein Erschreiben der Erinnerung deuten. Sein Erzählen beschränkt sich nicht darauf, das Erlebte wiederaufzuzeichnen, den Tod zu verlängern. Er verwandelt seine Erinnerung in ein Schreiben, das die Phantasie an die Stelle der mimetischen Abbildung setzt, und erschreibt sie mit Hilfe von Texten und Bildern einer Kulturtradition, die ihm zur Heimat wird. So wird seine eigene Erfahrung auch zu einer Kritik an den geschichtlichen Ereignissen seiner Zeit. Und so gelingt es ihm ein literarisches Werk zu schaffen, das sich dem Tod widersetzt und ihn zugleich erzählbar macht.

115 Semprún, Schreiben oder Leben, S. 23.

5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument Der unendliche Archipel der Kolyma 5.1 Spur und Gedächtnis des Körpers Gedichte: Stigmata, Spur fremder Leiden; für alle Menschen, Dichter, übe Vergeltung. Ob man Errettung sucht oder ans Paradies glaubt, verzeiht oder vergisst – du darfst nicht vergessen. […] für alle Menschen, Dichter, musst du lieben und hassen.1

In diesem Gedicht, das Schalamow wenige Jahre nach seiner Rückkehr nach Moskau aus den Lagern an der Kolyma geschrieben hat, zeigt er programmatisch seine Grundkonzeption des Dichters als eines Mahners, menschliche Leiden nicht

1 Warlam Schalamow, Ankerplatz der Hölle: Erzählungen, Gedichte, Briefe, Fotos, Nadja Hess (Hrsg.), aus d. Russ. v. Barbara Heitkam, Berlin 1996, S. 234 (datiert auf 1959, Übertragung von Kay Borowsky in freien Versen). Russischer Originaltext (1959): Стихи – это стигматы, Чужих страданий след, Свидетельство расплаты За всех людей, поэт. Искать спасенья будут Или поверят в рай, Простят или забудут […] А ты – не забывай. Ты должен вечно видеть Чужих страданий свет, Любить и ненавидеть За всех людей, поэт.

5.1 Spur und Gedächtnis des Körpers

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zu vergessen. Dieser Konzeption ist das Verbot des Vergessens eingeschrieben. Wenn er Gedichte „Stigmata“ nennt, nimmt er damit eine Metaphorik des Körperlichen auf, die auch für seine Konzeption des Gedächtnisses gilt. Stigmata sind keine Narben: Sie öffnen sich und bluten, sie halten die Wunde präsent. Sie sind aber auch Zeichen einer Heiligung des Leidens und der Dichtung, die dieses thematisiert: Heilige sind stigmatisiert worden als Zeichen für ihr Mitleiden an der Passion Christi. Und „Spur“ ist nach Walter Benjamins Definition die „Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“.2 Spur ist mit Erinnerung verbunden – und mit Nähe des Erinnerten. Ich weiß es selbst, das ist kein Spiel, Das ist der Tod. Doch selbst um meines Lebens Preis Laß’ ich, dem Archimedes gleich, die Feder nicht, Zerknülle nicht das aufgeschlag’ne Heft.3

Diese Verse von Schalamow bezeugen sein geradezu besessenes Schreiben, ein Schreiben, dem er sein Leben widmet und das er als gefährliche Tätigkeit in einen Zusammenhang mit dem Tod stellt. Er weiß, wovon er spricht: Er verbrachte fast zwanzig Jahre in sowjetischen Zwangsarbeitslagern, davon siebzehn an der Kolyma, im extremen Nordosten Sibiriens, in den härtesten Lagern der Sowjetunion überhaupt. Dem Schreiben über die Lagererfahrung in seinen Erzählungen aus Kolyma widmet er sein Leben und erarbeitet dafür eine eigene Ästhetik des lakonischen, wiederholenden, obsessiv im Kreis führenden Schreibens. Dieses Schreiben ist von der Erinnerung an unermessliches Leiden bestimmt, die den Charakter einer Stigmatisierung hat, deren Spuren dem Text eingeschrieben sind. In seiner Schrift Über Prosa schreibt Schalamow: „Das

2 Benjamin, Das Passagen-Werk, S. 560. 3 Von Solschenitzyn in seinem Aufsatz über Schalamow zitierte Verse (Alexander Solschenitzyn, „Varlam Ŝalamov“, in: Das Lager schreiben. Varlam Ŝalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Osteuropa 57/2007, 6, S. 157–168, hier: S. 157). Russischer Originaltext: Как Архимед, ловящий на песке Стремительную тень воображенья, На смятом, на изорванном листке, Последнее черчу стихотворенье. Я знаю сам, что это не игра, Что это смерть[…] Но я и жизни ради, Как Архимед, не выроню пера, Не скомкаю развернутой тетради.

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5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

Gedächtnis schmerzt wie die erfrorene Hand beim ersten kalten Wind.“ Und: „Es gibt keinen Menschen, der aus der Haft zurückgekommen ist und auch nur einen einzigen Tag nicht an das Lager gedacht hätte, an die erniedrigende und schreckliche Arbeit im Lager.“4 Das Gedächtnis wird durch den Schmerz bestimmt, einen Schmerz, der immer präsent ist und nicht verschwinden kann. Denn die Spuren, die die Erfrierungen hinterlassen, bleiben für immer. Sie zeigen sich in dunklen Flecken auf der Haut und sie schmerzen bei jedem Anflug von Kälte. Das Gedächtnis wird vom körperlichen Schmerz bestimmt; der Körper ist der Träger der Erinnerung. Jeder Anflug von Kälte, also ein bestimmter, sinnlich wahrnehmbarer Reiz, verursacht körperlichen Schmerz, der zugleich das Gedächtnis berührt, zum Gedächtnisschmerz wird. Außerdem ist die Hand der Körperteil, der für das Schreiben benutzt wird: Im Schreibprozess selbst ist der rein physische Schmerz als Erinnerung präsent. In vielen Erzählungen aus Kolyma wird dargestellt, dass die Hand vom Halten der Schubkarrengriffe bei der Arbeit in den Bergwerkgruben bei 50 Grad Minus vollständig gekrümmt und steif geworden ist, dass man sie nur mit der Zeit durch Ruhe und Wärme langsam wieder aufbiegen kann, so dass es möglich wird, irgendein Instrument, also auch einen Stift zu halten, dass aber nach den Erfrierungen die Osteomyelitis der verkrümmten Knochen bleibt. Das Thema der Erzählung „Das Thermometer von Grischka Logun“ ist eine erste Erfahrung mit Schlägen im Kontext skrupelloser Machtausübung. Diese Erfahrung hat bezeichnenderweise mit dem Schreiben zu tun. Der Icherzähler wird von dem Vorarbeiter Sujew wegen seines früheren Jurastudiums gebeten, eine Eingabe für ihn zu schreiben, ein Gesuch um die Aufhebung einer Vorstrafe. Am heißen Ofen sitzend, was ein enormes Privileg ist, fällt ihm das Schreiben schwer. Zuerst einmal rein physisch, weil die Finger um den Stiel der Schaufel und der Spitzhacke gekrümmt waren „und es unwahrscheinlich schwer war, sie wieder gerade zu biegen. Mir blieb nur, den Bleistift und die Feder mit einem dickeren Lappen zu umwickeln, um den Stiel einer Spitzhacke, einer Schaufel nachzuahmen“5. Das Schreiben ist nur möglich, indem die Position der Zwangsarbeit wiederholt wird; der Schmerz und die Erinnerung sind ihm physisch eingeschrieben. Aber das ist nicht die einzige Schwierigkeit:

4 Warlam Schalamow, „Über Prosa“, in: Ders., Über Prosa, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2009, S. 7–31, hier: S. 14. 5 Warlam Schalamow, „Das Thermometer von Grischka Logun“, in: Ders., Die Auferweckung der Lärche. Erzählungen aus Kolyma 4, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2011, S. 40–49, hier: S. 46.

5.1 Spur und Gedächtnis des Körpers

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Es fiel mir schwer zu schreiben, weil mein Gehirn genauso grob geworden war wie die Hände, weil mein Gehirn genauso blutete wie die Hände. Die Worte, die schon aus meinem Leben verschwunden waren, und zwar, wie ich annahm, für immer, mussten wiederbelebt, auferweckt werden.6

Die Sprache des Schreibens verschwindet im Lager; sie wird von der Alltäglichkeit eines reduzierten Lebens und einer reduzierten Sprache, von der vorherrschenden „Ganovensprache“, so nennt sie Schalamow, verschlungen. Im Lager funktioniert diese Erinnerung an die „vorherige“ Sprache, an die Sprache der Normalität, nicht. Der Icherzähler beherrscht aber auch die Sprache nicht mehr, die für die Eingabe erforderlich wäre. Er kann seinem „Lagerhirn kein einziges überflüssiges Wort herauspressen“, denn „dort, wo die begeisterten Adjektive gespeichert waren – dort war nichts als Hass“.7 Er verweigert sich einer Sprache des Bittens. Die Eingabe wird von Sujew als ungenügend empfunden und der Icherzähler erhält seine ersten Schläge. Vor dem Hinfallen flüstert er noch: „Ich bin ein Mensch.“8 Der lapidare Schluss der Erzählung lautet: „Sujew trat mir ein paar Mal mit dem Filzstiefel in die Seite, aber es tat mir nicht weh.“9 Der Verweis auf das Menschsein hält sich die Waage mit der Situation des körperlichen Verfalls durch Hunger und Kälte, in der die Schläge angeblich nicht mehr wehtun. Immerhin aber hat sich das Hirn den gekrümmten Fingern widersetzt und auch eine bestimmte Sprache der Bitte verweigert. Menschsein und Stolz scheinen noch durch. „Ich bin stolz, dass ich bis 1955 keine Eingabe geschrieben habe“, schreibt Schalamow in dem Kapitel „Was ich im Lager gesehen und erkannt habe“.10 Den Verlust des Überflüssigen in der Sprache bezeichnet Schalamow als eines der Merkmale der Prosa seiner Erzählungen; er macht ihn geradezu zum Programm. Auf radikale und auch poetische Weise thematisiert Schalamow durch Bildungen körperlicher Metaphern das komplizierte Verhältnis zwischen Schreiben, Erinnern, Identität und Sprache. Auf besonders prägnante Weise geschieht es in der ersten Erzählung des sechsten und letzten Zyklus der Erzählungen aus Kolyma „Der Handschuh“. Sie nimmt eine zentrale Stelle in der Struktur des gesamten Zyklus ein, auf dessen Kompositionsprinzip später noch einzugehen sein wird.

6 Ebd., S. 47. 7 Ebd., S. 48. 8 Ebd. 9 Ebd. S. 49. 10 Warlam Schalamow, „Was ich im Lager gesehen und erkannt habe“, in: Ders., Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma 1, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2007, S. 289–293, hier: S. 291.

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5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

„Irgendwo im Eis liegen meine Ritterhandschuhe, die meine Finger ganze sechsunddreißig Jahre umschlossen haben, enger als Glacéhandschuhe[…].“11 Der erste Satz der Erzählung scheint die Frage nach dem Ort der Ritterhandschuhe aufzuwerfen, der nicht näher definiert werden kann. Später wird sich herausstellen, dass sie verloren gegangen sind. Die Handschuhe „leben im Museumseis – ein Zeugnis, ein Dokument, ein Exponat des phantastischen Realismus meiner damaligen Wirklichkeit, sie warten auf ihren Moment, wie ein Molch oder Quastenflosser, um die Latimeria unter den Quastenflossern zu werden“.12 Der LatimeriaQuastenflosser ist das bekannteste Beispiel eines lebenden Fossils. Bei den „lebenden“ Fossil-Ritterhandschuhen handelt es sich um die Haut, die sich von Schalamows Händen abgelöst hat, weil er Pellagra hatte, eine durch Mangelernährung verursachte extreme Avitaminose. Die Haut ist tot, sie ist abgefallen; aber die metaphorischen Haut-Handschuhe leben, sie haben die Existenz eines lebenden Fossils, sind Leben und Tod in einem und auch Spur und Hohlform von Gewesenem, von gewesenen Händen. Sie bekunden Abwesenheit und gleichzeitig Nähe des Abwesenden, damit auch Dauer. Diese Haut ist Zeugnis und Dokument; sie ist aber einstweilen verloren gegangen, wie auch die anderen Dokumente der Vergangenheit nicht mehr existieren: „[D]ie Wachtürme abgesägt, die Baracken dem Boden gleichgemacht, der rostige Stacheldraht aufgewickelt und an einen anderen Ort gebracht[.]“13 Dass die Haut verschwunden ist, rechtfertigt letzten Endes das Schreiben. Sie selbst ist das Dokument, die Spur des Verschwundenen, und ist selbst verschwunden. Und außerdem – und das macht ihre Qualität als einzigartiges Dokument aus – mit ihr kann man nicht schreiben: Jener Handschuh hätte diese Erzählung gar nicht mehr aufgeschrieben. Jene Finger lassen sich nicht mehr geradebiegen, um die Feder zu nehmen und über sich zu schreiben. […] Mit dem toten Handschuh konnte man keine guten Verse oder gute Prosa schreiben. Der Handschuh selbst war Prosa, Anklage, Dokument, Protokoll.14

Das Schreiben füllt die Leerstelle der verlorenen Hand, ist ein Ersatz für sie; es ist aber nur mit einer neuen Haut möglich, die sich dann auch noch rechtfertigen muss: Haben denn die nachgewachsene Haut, die neue Haut und die Muskeln um die Knochen das Recht zu schreiben? Wenn schon schreiben, dann dieselben Worte, die jener Handschuh

11 Warlam Schalamow, „Der Handschuh“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 4, S. 293–335, hier: S. 293. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 295, sowie S. 334.

5.1 Spur und Gedächtnis des Körpers

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von der Kolyma hätte aufschreiben können, der Arbeiter Handschuh, die schwielige Hand, blutig gerieben vom Brecheisen, mit um den Schaufelgriff gekrümmten Fingern.15

Das Schreiben der „neuen“ Hand muss gerechtfertigt werden, denn die Hand des Schreibenden ist nicht mehr dieselbe, die das zu Beschreibende erlebt hat. Diese Aufforderung zur Legitimierung ist paradox; es handelt sich um die gleiche und zugleich um eine andere, eine neue Hand. Luba Jurgenson schreibt von der Kluft, die sich auftut „zwischen dem Körper als Dokument und dem Körper als Vermittler des Dokuments“, von dem „Bruch in der Kontinuität des Ichs, der den Raum für eine ontologische Erkundung öffnet“.16 Das Dokument, die verlorene Hand, transzendiert die individuelle Geschichte: „Wird nicht in jenem Handschuh, der der Krankengeschichte beigelegt ist, die Geschichte nicht bloß meines Körpers, meines Schicksals und meiner Seele geschrieben, sondern die Geschichte eines Staates, einer Welt? In jenem Handschuh konnte man Geschichte schreiben.“17 Das Schreiben der neuen Hand muss eben diese Geschichte zum Thema machen – aus der Situation der alten Hand, die sie dokumentiert. Die Einheit des Subjekts, des Körpers der damaligen und der jetzigen Hand, wird durch den Schmerz, also wieder durch die körperliche Erinnerung hergestellt; sie ist sich aber des Bruches zwischen Damals und Jetzt durchaus bewusst: Jetzt betrachte ich – obwohl das daktyloskopische Muster dasselbe ist – im Licht eine feine rosa Haut und nicht schmutzig blutige Handflächen. […] Aber noch heute reagiert die Hand auf kaltes Wasser. Die Schäden der Erfrierungen sind unumkehrbar, ewig. Und doch ist meine Hand nicht die Hand des dochodjaga18 von der Kolyma. Jener Balg ist abgerissen von meinem Fleisch, abgelöst von den Muskeln wie ein Handschuh und der Krankengeschichte beigelegt.19

Dass es derselbe Körper ist, wird durch den Schmerz des kalten Wassers auf der (neuen) Haut bezeugt, mit einer Metapher, die dem gleichen Umfeld entstammt wie diejenige, mit der Schalamow den Schmerz des Gedächtnisses beschreibt. Und ironisch wird das wissenschaftliche Argument des daktyloskopischen Mus-

15 Ebd., S. 295. 16 Luba Jurgenson, „Spur, Dokument, Prothese. Varlam Ŝalamovs Erzählungen aus Kolyma“, in: Das Lager schreiben, Osteuropa 6/2007, 57, S. 169–182, hier: S. 173. 17 Schalamow, „Der Handschuh“, S. 295. 18 Dochodjaga: In der Lagersprache des GULAG Bezeichnung für einen ausgezehrten Menschen, der dem Tod näher ist als dem Leben. Mit der gebotenen Vorsicht kann man auf eine Ähnlichkeit mit dem Begriff „Muselmann“ im Lagerjargon der nationalsozialistischen Konzentrationslager hinweisen. 19 Schalamow, „Der Handschuh“, S. 295 f.

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ters herangezogen: „Aber der Handschuh kam um an der Kolyma – und darum auch wird diese Erzählung geschrieben. Der Autor verbürgt sich dafür, dass das daktyloskopische Muster an beiden Handschuhen dasselbe ist.“20 Das Schreiben der neuen Hand bezieht sich auf die Existenzbedingungen der alten Hand, auf die Geschichte, die diese dokumentieren würde; es versteht sich als Zeugnis und rechtfertigt dies mit der eigenen Person, mit dem eigenen Körper. Der Übergang vom Ich auf das Wir im „Handschuh“ bezeugt, dass die zu dokumentierende Geschichte eine kollektive ist, die der Hand eingeschrieben ist, und dass die Dokumentation auch eine Vergewisserung dieser dem Vergessen preisgegebenen Existenz ist: Ich vertraue der protokollierenden Aufzeichnung, bin selbst von Beruf Faktograph, Faktologe, aber was tun, wenn es diese Aufzeichnungen nicht gibt. Es gibt keine Akten, keine Archive, keine Krankengeschichten […]. Die Dokumente unserer Vergangenheit sind vernichtet, die Wachtürme abgesägt, die Baracken dem Erdboden gleichgemacht, der rostige Stacheldraht aufgewickelt und an einen anderen Ort gebracht. Auf den Ruinen der Serpantinka21 blüht das Waldweidenröschen – die Feuerblume, Blume des Vergessens, der Feind der Archive und des menschlichen Gedächtnisses. Hat es uns gegeben? Ich antworte: „ja“ – mit der ganzen Beredsamkeit des Protokolls, mit der Haftung und Strenge des Dokuments.22

Die Episode um den Handschuh, die Metaphernbildung um Spur und Fossil, die Bestimmung von Dokument und Protokoll und der Verweis auf ein Kollektiv der Opfer bilden den Eingang, sozusagen die Eröffnung der Geschichte, die nun erzählt wird. Diese rechtfertigt die bejahende Antwort auf die Frage „Hat es uns gegeben?“ Nach vollzogener Legitimierung wird das Dokument selbst erläutert, erklärt, interpretiert. Die Geschichte, die nun erzählt wird, ist die Geschichte der abgestoßenen Haut, der Krankheit und der anschließenden Häutung und somit, letzten Endes, der Rettung: „Ich bin jetzt weiter vom Tod entfernt als 1943 oder 1938, als meine Finger die Finger eines Toten waren. Wie eine Schlange habe ich im Schnee meine alte Haut abgeworfen. Aber noch heute reagiert die neue Hand auf kaltes Wasser.“23

20 Ebd., S. 334. 21 Serpantinka: Bezeichnung für eine Baracke in der Nähe der Goldmine und Siedlung Chatynnach in der Kolyma-Region, die als Untersuchungsgefängnis diente; 1937/38 wurden hier Massenerschießungen durchgeführt. 22 Schalamow, „Der Handschuh“, S. 293. 23 Ebd., S. 295.

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Der Icherzähler der Geschichten aus Kolyma ist nicht immer gleichzusetzen mit dem Autor, denn Episoden, die von einem Icherzähler erzählt werden, wiederholen sich manchmal mit anderen Protagonisten, so dass eine in gewissem Sinne universale „Icherzählerposition“ entsteht. Aber im Falle des „Handschuhs“ sind die autobiographischen Verweise und auch die konkreten Zeitangaben nachvollziehbar und offensichtlich. Nachdem Schalamow 1943 zu zehn weiteren Jahren Haft verurteilt worden ist, wird er unter Verdacht auf Dysenterie (Ruhr) ins Lagerkrankenhaus eingeliefert; er erkämpft sich damit eine Ruhepause, die letzten Endes seine Rettung in die Wege leitet. Eigentlich ist seine Krankheit die Pellagra und nicht die Ruhr; aber nachdem er total ausgezehrt und als dochodjaga im Krankenhaus angekommen ist, kann er dort eine längere Zeit in einer gewissen Ruhe verbringen und erhält dadurch die Möglichkeit, sich zu erholen und langsam und ungewiss ins Leben zurückzukehren. Ein Arzt bietet ihm anschließend eine Ausbildung zum Feldscher, also zum medizinischen Helfer, an; dies bewahrt ihn definitiv vor den Bergwerken und ermöglicht ihm so, die letzten Jahre seiner Haft zwischen 1946 und 1953 zu überleben. Das Krankenhaus wird für ihn zu einem Rettungsring: Auf der „glücklichen Welle des offiziell gebilligten Kampfes gegen die Dysenterie“24 wird er an Land geschwemmt und aus dem Teufelskreis des von Krankenhausaufenthalten unterbrochenen Zugrundegehens in den Bergwerken herausgeholt: Ich war viele Male aufgelebt und wieder auf Grund gegangen, war viele Jahre, nicht Tage und nicht Monate, sondern Jahre, viele Kolyma-Jahre vom Krankenhaus ins Bergwerk gewandert. Man kurierte mich, bis ich selbst anfing zu kurieren, und dasselbe automatische Rad des Lebens warf mich aufs Große Land.25

In gewisser Weise wiederholt der Zyklus der Erzählungen aus Kolyma diesen Kreislauf des Zugrundegehens und des am-Tode-vorbei-Lebens bis zum Überleben. „Der Handschuh“ thematisiert die Zeit des Icherzählers im Krankenhaus und gibt einen Ausblick auf seine Tätigkeit als Feldscher. Die physischen Prozesse der Krankheit und der Umgang mit der Dysenterie werden detailliert und hemmungslos beschrieben. Der Körper ist der eindeutige Protagonist, das Subjekt der Wahr-

24 Ebd., S. 296. 25 Ebd., S. 297. – Die Kolyma-Region im extremen Nordosten der Sowjetunion war wegen ihrer geographischen Lage bis in die fünfziger Jahre nicht auf dem Landweg erreichbar; die Häftlinge wurden in Zügen nach Wladiwostok gebracht und dann per Schiff nach Magadan, dem (von Häftlingen erbauten) Hafen der Region transportiert. Deshalb wurde die Kolyma einer Insel gleichgesetzt und dem übrigen Territorium der Sowjetunion als dem Festland gegenübergestellt, das hier als das Große Land bezeichnet wird.

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nehmung („Alles Wichtigste hatte mir der Körper suggeriert“26). Die geläufigen Begriffe und Wertungen werden auf den Kopf gestellt: Das Krankenhaus ist gehalten, „nicht die Genesung, sondern den Betrug zu kontrollieren, den Diebstahl von Liegetagen vom Wohltäter Staat“27. Der Icherzähler bewegt sich, meist selbst am Rande des Todes, im Rahmen des massenhaften Sterbens durch Hunger und Auszehrung, das in den Todesurkunden nicht erwähnt werden darf. Mit der Auszehrung des Körpers geht die seelische Auszehrung einher, ein Leben am Rande des Todes. Mit der langsamen Rückkehr ins Leben kommt auch die geistige Aktivität zurück; der Lebenswille wird rein körperlich gespürt: Ich schrieb schon ein Gedicht, „Der Traum des Polyavitaminosekranken“ – als Pellagrakranken mochte ich mich nicht einmal in Gedichten bezeichnen. Im Übrigen wusste ich auch nicht richtig, was Pellagra ist. Ich spürte nur, dass meine Finger schreiben, Gereimtes und Ungereimtes, dass meine Finger ihr letztes Wort noch nicht gesagt hatten. Und in diesem Moment spürte ich, dass sich der Handschuh löst, von meiner Hand abfällt.28

Der Handschuh fällt ab, der Häutungsprozess vollzieht sich, zusammen mit dem Schreiben eines ersten Gedichtes; die Finger haben noch ihr letztes Wort nicht geschrieben. Das Gedicht wird noch mit der „alten“ Haut geschrieben, die neue hat sich aber schon gebildet, die neuen Finger schreiben weiter. Die Häutung der Hände, der Handschuh, ist auch ein Zeichen für das Überleben, das den Protagonisten von so vielen anderen Mithäftlingen unterscheidet. Den gefangenen Flüchtigen werden die Hände als Identifikationsmerkmal abgehackt – Es ist leichter, Hände zu transportieren als die ganze Leiche: Die abgehackten Hände kann man in der Aktentasche transportieren, in der Feldtasche, denn der Pass eines Menschen an der Kolyma – ob eines Freien oder eines flüchtigen Häftlings – ist das Muster seiner Finger. […] Und wo ist mein Handschuh? Wo wird er aufbewahrt? Meine Hand ist ja nicht abgehackt.29

Der Icherzähler ist nicht geflohen; im Unterschied zu so vielen anderen hat er überlebt. Das Schreiben, das die verlorene (aber nicht abgehackte) Hand ersetzt, wird auch zum Schreiben für die vielen Toten, deren Hände nicht haben schreiben können. Ein ganz konkretes Tun ermöglicht das Überleben des Protagonisten: die gute Tat einiger weniger Menschen. Sie haben ihm die Möglichkeit des Krankenhausaufenthaltes und der Feldscherausbildung verschafft. In einem Universum der 26 27 28 29

Ebd., S. 299. Ebd., S. 321. Ebd., S. 333. Ebd., S. 296.

5.1 Spur und Gedächtnis des Körpers

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Vernichtung, der totalen Macht, des Machtmissbrauchs, der Denunziation und Lüge tun sie das absolut Außergewöhnliche, das nicht Vorhergesehene, das Rettende. Mit seiner Erzählung bezeugt der Protagonist den Horror der Lager und setzt dem Guten ein Denkmal, den guten Menschen ein Memento: Lesnjak und Sawojewa, und auch Pantuchow, verdanke ich reale Hilfe in meinen schwersten Tagen und Nächten an der Kolyma. Verdanke ich mein Leben. Wenn man das Leben für einen Segen hält, was ich bezweifle, verdanke ich reale Hilfe, nicht Mitgefühl, nicht Mitleid, sondern reale Hilfe drei realen Menschen des Jahres 1943.30

Das Leben ist kein Segen und die Existenz des Guten gibt der Erfahrung des Lagers keinen Sinn, das Lager ist „eine Negativerfahrung für den Menschen von der ersten bis zur letzten Stunde. Der Mensch soll es nicht kennen, soll nicht einmal davon hören. Kein einziger Mensch wird nach dem Lager besser oder stärker“31. Und, ganz ähnlich formuliert, im ersten Band der Erzählungen aus Kolyma, „Durch den Schnee“: „Niemandem hat das Lager jemals etwas Positives gegeben und geben können. Auf alle – Häftlinge wie Freie – wirkt das Lager zersetzend.“32 Schalamows Folgerung ist radikal: Das Schreiben über das Lager und dessen Paradoxie der Unmöglichkeit gilt auch gegenüber dem Leser, der ja davon nicht hören (lesen) sollte. Die Existenz der Lager zwingt aber dazu. In seinem Essay Über Prosa aus dem Jahre 1965 rechtfertigt Schalamow dieses Schreiben moralisch: „Ist denn die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat?“33 Das Schreiben wird zu einem kategorischen, sittlichen Imperativ; es wird von der Realität erzwungen. Schalamow versteht sein Schreiben als Widerstand gegen die Realität – eine Realität, die vom Bösen bestimmt wird, in der das Schreiben die Ausnahme des Guten dokumentiert: In den Erzählungen aus Kolyma gibt es – wie der Autor meint – nichts, das nicht Überwindung des Bösen und Triumph des Guten wäre. Wenn ich anderes gewollt hätte, hätte ich einen völlig anderen Ton gefunden, andere Farben, bei Anwendung desselben literarischen Prinzips.34

Dieses literarische Prinzip gilt es jetzt herauszuarbeiten.

30 31 32 33 34

Ebd., S. 334. Schalamow, „Über Prosa“, S. 14. Schalamow, „Was ich im Lager gesehen und erkannt habe“, S. 292. Schalamow, „Über Prosa“, S. 30. Schalamow, S. 26.

206

5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

5.2 Das Lager erzählen: Schalamow und Améry Für Schalamow stellt sich die Frage, wie man das Lager erzählen kann, als Problem dar – in ähnlicher Weise wie für die in diesem Buch bisher besprochenen Autoren. Und auch er beantwortet sie, wie Kertész, indem er radikal den Bankrott des Humanismus und des Romans des 19. Jahrhunderts bezeugt und die Notwendigkeit einer ‚neuen Prosa‘ für sein Erzählen in Anspruch nimmt. Die Erzählung „Der Handschuh“ wird in dieser Hinsicht zu einer Erzählung über die Schwierigkeiten des Erzählens selbst, sie thematisiert das Erzählen metapoetisch. In seinem Aufsatz „Die Sprache“ formuliert Schalamow dieses Problem folgendermaßen: In welcher Sprache mit dem Leser sprechen? Wenn man nach Authentizität, nach Wahrheit strebt – wird die Sprache arm, dürftig. Das Metaphorische, das Komplexe der Rede entsteht auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und verschwindet, wenn diese Stufe in umgekehrter Richtung überschritten wird.35

Die Sprache des Lagers sei eine reduzierte Sprache gewesen; die Chefs und Kriminellen hätten sich über die „geschraubte“ Sprache der Intellektuellen geärgert, so dass diese allmählich ihren eigenen Sprachgebrauch reduziert hätten. Außerdem verursache der physische Verfall, der rein körperliche Versuch des Überlebens unter Extrembedingungen der Kälte, des Hungers, der Schläge und der physischen Arbeit eine Reduktion auf das Minimale, auch aus sprachlicher und intellektueller Perspektive. Die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Schreibens betreffe auch die Sprache. Denn in der verarmten Sprache des Lagers könne man das Lager nicht schildern. Schalamow berichtet von sich, dass er nicht ein einziges Mal einem langen Gedanken nachgegangen oder von einer Landschaft entzückt gewesen sei. Das Überleben habe alle seine Kräfte gefordert. Erst als seine Situation im Lager besser wurde, als er dank der Möglichkeit einer Ausbildung zum Feldscher eine eigene Baracke bekam und nicht mehr im Bergbau tätig sein musste, sei er langsam zur Sprache, zum Denken und Schreiben zurückgekehrt. Mit welcher Sprache ist dann diese Erfahrung zu schildern? Darzustellen ist ein Überleben am Rande des Todes, an ihm entlang, in konstanter Anwesenheit des Todes, in einer Zone des Miteinanders von Leben und Tod. Das Erzählen muss diese Allgemeingegenwart des Todes und der Verwischung und Verkehrung der Maßstäbe des Verhaltens der Menschen vergegenwärtigen. In dieser Situation kommt dem Intellektuellen nicht nur seine Sprache abhanden, sondern er verliert auch seine Denkmuster:

35 Schalamow, „Sprache“, in: Ders., Über Prosa, S. 36 f, hier: S. 36.

5.2 Das Lager erzählen: Schalamow und Améry

207

Geistige Überlegenheit verkehrte sich in ihr Gegenteil, Stärke verkehrte sich in Schwäche und wurde zur Quelle zusätzlicher moralischer Leiden – für jene im übrigen wenigen Intellektuellen, die außerstande waren, sich von der Zivilisation als einer unbequemen, ihre Bewegungsfreiheit einschränkenden Kleidung zu trennen. […] Der Intellektuelle konnte das Lager im Voraus nicht durchdenken, konnte es theoretisch nicht erfassen. Die gesamte persönliche Erfahrung des Intellektuellen ist reinster Empirismus in jedem Fall. Wie von diesen Schicksalen erzählen? Es sind ihrer Tausende, Zehntausende […]. Wie das Gesetz des Verfalls herleiten? Das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall?36

Mit ähnlicher Radikalität hat Jean Améry die geringe Überlebensfähigkeit der Intellektuellen im Lager angesprochen: Die Kultur sei im Lager keine Hilfe, sondern genau das Gegenteil. Sie transzendiere die horrende Wirklichkeit nicht und erfülle somit eine ihrer wichtigsten Funktionen nicht. Améry analysiert sogar noch radikaler als Schalamow, dass der Intellektuelle in dem Maße, in dem er seinen Verstand und seine Erfahrung einsetzt, um das Lager zu verstehen, seiner Überlebenskraft und seiner Widerstandsfähigkeit beraubt werde: Das Verstehen der Situation und des Zieles seiner Auslöschung führe ihn zur Einsicht der Unmöglichkeit des Überlebens. Amérys Situation ist in vieler Hinsicht anders als die Schalamows: Améry ist als Jude in Auschwitz zur Auslöschung bestimmt und empfindet sich als solcher von den Nationalsozialisten aus seiner Sprache und seiner Kultur vertrieben. Dies ist durchaus nicht Schalamows Situation. Ihm droht die Vernichtung durch Hunger, Kälte, Schläge und Zwangsarbeit, aber er ist nicht im Vorhinein zur Auslöschung bestimmt, und er ist nicht aus seiner Sprache und Kultur ausgeschlossen. Wohlgemerkt: Schalamow stellt die Kultur in Frage, die das Lager ermöglicht hat; er übt, wie später zu zeigen ist, gewichtige Kritik am Humanismus der russischen Autoren des neunzehnten Jahrhunderts. Er kann sich aber in eine bestimmte Richtung der russischen Avantgarde einordnen, kann in einer seiner Kolyma-Erzählungen dem Dichter Osip Mandelstam ein Denkmal setzen. Hingegen teilen Améry und Schalamow das radikale Bewusstsein der Nutzlosigkeit intellektueller Tätigkeit für das Überleben im Lager – und auch die Erfahrung, dass später, wenn es darum geht, die Realität des Lagers zu erzählen und davon Zeugnis abzulegen, nur die Sprache der Kultur, der Kunst, der Ästhetik in Frage kommt. Der Suche nach der diesem Paradox angemessenen Sprache widmen beide ihr Leben und Schreiben.

36 Schalamow, „Gedächtnis“, in: Ders., Über Prosa, S. 32–35, hier: S. 34 f.

208

5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

5.3 Siebzehneinhalb Jahre in den Lagern des GULAG Schalamow wird 1907 in Wologda als mit großem Abstand jüngstes von fünf Geschwistern geboren.37 Sein Vater ist orthodoxer Geistlicher; er hat zwölf Jahre als Missionar auf den Aleuten in Amerika verbracht und ist 1905 nach Wologda zurückgekehrt. Seine Mutter gibt ihren Lehrerberuf auf, um sich der großen Familie zu widmen. Wologda ist schon in den Zeiten der Zaren ein klassischer Ort der Verbannung von Oppositionellen, und das gibt der Stadt eine intellektuelle Atmosphäre, die das Umfeld prägt, in dem Schalamow aufwächst. Sie beeinflusst seinen Enthusiasmus für die russischen Sozialrevolutionäre und für die Sozialutopien. Warlam Schalamows Verhältnis zu seinem Vater ist schwierig, sein Interesse für Literatur wird vom Vater nicht geteilt. 1924 verlässt er seinen Geburtsort, den er als enge Provinzstadt empfindet, um in Moskau seinen Weg zu suchen. Dabei interessieren ihn die Literatur und das gesellschaftspolitische Engagement. Er frequentiert literarische Kreise um Osip Brik, Vladimir Maiakowsky und Sergej Tretjakov, den „LEV“ (Linken Kreis der Künste) und sucht vergeblich nach Antworten auf die Frage, ‚wie man Gedichte schreibt‘. Das Schmieden von Versen reiche nicht aus, um echte Gedichte zu schreiben, Dichtung sei Schicksal und kein Handwerk.38 1926 beginnt er Jura, ‚sowjetisches Recht‘, zu studieren. Von 1927 bis 1929 versteht er sich als Vertreter der politischen Opposition. Später, in seinen Erinnerungen, wird er von sich schreiben, dass er „an einer großen verlorenen Schlacht für eine wirkliche Erneuerung des Lebens teilgenommen“ habe.39 Im Februar 1929 wird er in einer illegalen Universitätsdruckerei verhaftet. Der Grund ist die Verbreitung von „Lenins Testament“, dem Brief Lenins an den 12. Parteitag, in dem dieser Zweifel an Stalins Befähigung für höchste Ämter äußert. Er wird der „konterrevolutionären Agitation und Organisation“ (nach dem berühmten Paragraphen 58) angeklagt und als „sozial gefährliches Element“ zu drei Jahren Lagerhaft und anschließend fünf Jahren Verbannung in den Norden verurteilt. Nach der Entlassung aus dem Lager an der Wischera 1931 arbeitet er auf einer Großbaustelle im Ural, darf aber bereits 1932 nach Moskau zurückkehren. Er versucht sich als Schriftsteller und Journalist zu etablieren, er heiratet und seine

37 Zu Schalamows Biographie siehe: Franziska Thun-Hohenstein, „Poetik der Unerbittlichkeit. Varlam Ŝalamov: Leben und Werk“, in: Osteuropa 6/2007, 57, S. 35–53; Leona Toker, Return from the Archipelago. Narratives of Gulag Survivers, Bloomington 2000, i.b. S. 143–150; Wolfgang Stephan Kissel, „Gulag und Autofiktion: Der Fall Varlam Ŝalamov“, in: Michael Grothe (Hrsg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschen Gegenwartsliteratur, München 2009, S. 49–70, hier: S. 50 f. 38 Erwähnt von Thun-Hohenstein, „Poetik der Unerbittlichkeit“, S. 40. 39 Ebd.

5.3 Siebzehneinhalb Jahre in den Lagern des GULAG

209

Tochter wird geboren. Aber im Januar 1937 wird er wieder verhaftet, jetzt „wegen konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“; das Urteil lautet diesmal fünf Jahre „Arbeitsbesserungslager“. Er wird zunächst mit zahlreichen anderen Verurteilten in Viehwaggons nach Wladiwostok transportiert und von dort aus per Schiff in die Bucht Nagaewo und nach Magadan gebracht. Wie schon in 4.1. erwähnt, ist diese von Häftlingen erbaute Hafenstadt der einzige Zugang zur Region um den Fluss Kolyma im fernsten Nordosten Sibiriens; diese Region wird deshalb als „Insel“ bezeichnet und dem übrigen „Festland“ der Sowjetunion gegenübergestellt.40 Schalamow verbringt insgesamt siebzehneinhalb Jahre in den Lagern des Gulags, davon vierzehn in der Kolyma.41 1937 trifft er in der Mine „Partisan“ ein; er erlebt die radikale Verschlechterung und Verschärfung des Lager-Regimes, die Massen-

40 Information dazu unter anderem in: Karoline Thaidigsmann, Lagererfahrung und Identität: Literarische Spiegelungen sowjetischer Lagerhaft in Texten von Varlam Ŝalamov, Naum Nim und Andrej Sinjavskij, Heidelberg 2009; Das Lager schreiben, Osteuropa 57/2007, 6; Toker, Return from the Archipelago. Narratives of Gulag Survivers, Bloomington 2000. 41 Das Lagersystem der Sowjetunion hatte unterschiedliche und eigene Züge gegenüber den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus. Als Hintergrund für Schalamows Biographie mögen folgende Stichworte genügen: Ab der zweiten Hälfte der 20er Jahre werden besonders in den schwer zugänglichen Gebieten des Norden und Nordostens große Lagerkomplexe errichtet, mit dem Ziel, die extrem unwirtlichen, unter extremen Klimabedingungen stehenden Landstriche zu erschließen und ihre reichen Bodenschätze auszubeuten. Die Infrastruktur muss meistens von den Verurteilten selbst aufgebaut werden. Die Gefangenen werden in allen Bereichen industrieller, landwirtschaftlicher und bauwirtschaftlicher Produktion eingesetzt: Sie holzen Wälder ab, arbeiten unter schwersten Bedingungen im Kohle-, Metall- und Goldabbau, legen Straßen, Eisenbahnnetze und Wasserwege an, errichten sogar ganze Städte. Besonders hart sind die Bedingungen in den Lagern am Fluss Kolyma im Nordosten Sibiriens, wo es Goldminen gibt, zu denen auch Schalamow geschickt wird. 1930 wird eine zentrale Einrichtung der Lagerverwaltung errichtet, mit dem Akronym GULAG. Das gesamte sowjetische Lager- und Zwangsarbeitsystem gerät mehr und mehr unter die Kontrolle der Geheimpolizei. Die zunehmende Wirtschaftstätigkeit erhöht ständig den Bedarf an Häftlingen und Zwangsarbeitern. Die Verschärfung der Strafbestimmungen, die Praxis von Verbannung, Zwangsumsiedelung und immer neuen Verhaftungswellen kommt ihr entgegen. 1937/38 erfolgt eine große Verhaftungswelle, die als ‚Großer Terror‘ bekannt ist und der auch Schalamow zum Opfer fällt. Innerhalb der politischen Führung kommt es zu massenhaften Liquidierungen. Es beginnt die Zeit der Schauprozesse. In der ganzen Sowjetunion und in allen Schichten der Bevölkerung kommt es zu Denunziantentum, zu durch Folter erzwungenen Geständnissen, zu Verhaftungen nach Listen, die bis zur Erfüllung vorgegebener Verhaftungsquoten abgearbeitet werden. Während des Zweiten Weltkrieges werden die Bedingungen weiter verschärft, insbesondere für politische Häftlinge, die nicht entlassen werden; Strafverlängerungen und Wiederverurteilungen werden vorgenommen. Kurz vor Stalins Tod erfolgt eine weitere Welle der Verhaftungen von Juden und Ärzten. 1953, nach Stalins Tod, ist der „Zenit“ des Lagersystems überschritten; auch deren wirtschaftliche Funktion wird in Frage gestellt.

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5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

erschießungen. Im Dezember 1938 wird er nach Magadan gebracht; in der Folge des sogenannten „Juristenprozesses“ steht er kurz davor, zur Todesstrafe verurteilt zu werden; sein Ankläger wird aber selbst Opfer der Säuberungen. 1942 wird seine Strafe bis zum Ende des Krieges verlängert; 1943 wird im Straflager Djelgala erneut Anklage gegen ihn erhoben, weil er Bunin öffentlich einen großen russischen Schriftsteller genannt habe, was die Konsequenz hat, dass er nun „antisowjetischer Propaganda“ bezichtigt wird, was immerhin etwas besser als „konterrevolutionäre Propaganda“ ist; er wird aber zu zehn Jahren weiterer Lagerhaft verurteilt. Durch die Feldscherausbildung gelangt er aus dem vernichtenden, beständig schwächenden Zyklus von Krankenhausaufenthalten und Arbeit in den Bergwerken heraus; dies ermöglicht ihm das Überleben – eine reine Glückssache, wie er betont. Ab 1949 kann er allein in der Hütte eines provisorischen Ambulatoriums leben; in dieser Situation kehren der Wunsch und die Fähigkeit zum Dichten zurück. In der autobiographisch getönten Erzählung „Jakob Owsejewitsch Sawodnik“ beschreibt Schalamow, welche Befreiung es für ihn bedeutet, allein wohnen zu können: Mehr als zehn Jahre war ich weder nachts noch am Tag allein gewesen, und mit meinem ganzen Wesen empfand ich dieses Glück, auch noch getränkt mit dem feinen Duft der grünen Lärchen, der unzähligen, stürmisch blühenden Gräser. Ein Hermelin lief über den letzten Schnee, Bären kamen vorbei, aus den Höhlen gekrochen, und rüttelten an den Bäumen. […] Hier fing ich an, Gedichte zu schreiben. Diese Hefte haben sich erhalten.42

Die Lebensbedingungen in den Lagern variieren je nach der Zeit, der Region, dem Typ und der Leitung des Lagers. Der übliche Weg der Häftlinge führt sie nach einer längeren Untersuchungshaft in ein Durchgangslager, dann werden sie weiter transportiert bis zum Haftort. Weitere Verurteilungen im Laufe der Haftstrafe oder kurz vor Beendigung derselben sind durchaus üblich. Der Wert der Gefangenen besteht in ihrer Arbeitskraft; sie werden aufs Schlimmste ausgebeutet. Da das Ziel die Steigerung der Produktion ist, hängt die Größe der Essensration von der Erfüllung der Arbeitsnorm ab; dies bringt die Häftlinge in einen Teufelskreis der Schwächung: Je schwächer sie sind, desto weniger bekommen sie und umso schwächer werden sie. Die Häftlinge gliedern sich in politische Häftlinge und Kriminelle. Die politischen Häftlinge werden in die unterste Kategorie der Lagerhierarchie verwiesen; sie werden bevorzugt für die schwersten Arbeiten eingesetzt. Bei den Kriminellen gibt es sowohl Berufsverbrecher wie auch Gelegenheitsverbrecher; sie organisieren sich in Gruppen mit eigenen Regeln und Riten. Während die Kriminellen als sozial nahestehende Elemente und insofern als umerziehbar kategorisiert werden, werden die politischen Häftlinge als nur schwer umerziehbar angesehen. Die Strukturen der Lagerverwaltung geraten zum Teil in die Hände von Berufskriminellen. Schalamow dokumentiert die Herrschaft der Kriminellen im unmittelbaren, alltäglichen Lagerleben; er widmet ihrer Tätigkeit einen Zyklus der Geschichten aus Kolyma, „Skizzen der Verbrecherwelt“; dieser ist Teil des dritten Bandes der deutschen Ausgabe. 42 Warlam Schalamow, „Jakow Owsejewitsch Sawodnik“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 4, S. 446–462, hier: S. 452.

5.3 Siebzehneinhalb Jahre in den Lagern des GULAG

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Diese geradezu paradiesisch anmutende Beschreibung der Schreibsituation steht im krassen Kontrast zur zuvor dargestellten Realität des Lagers. Die Schönheit der Natur taucht in Schalamows Erzählungen dann und wann schlagartig auf und deutet immer auf einen symbolischen Gehalt, der die Situation transzendiert. Schreiben ist jetzt wieder möglich, ist aber im Kontext des Straflagers und der Denunziationen auch besonders gefährlich. Es entsteht Lyrik, keine Prosa: Das Gedicht mit der Schlusszeile „Manchmal friert es im Paradies“ ist an der gefrorenen Mündung der Duskanja-Quelle entstanden, krakelig in ein Rezepturenheft geschrieben. Und gedruckt erst fünfzehn Jahre später in der „Literaturzeitung“. […] Für Prosa war das Territorium an der Kolyma zu gefährlich, Gedichte konnte man riskieren, aber nicht Prosaaufzeichnungen. Das ist der Hauptgrund, warum ich an der Kolyma nur Gedichte schrieb. […] [M]ein Häftlingsinstinkt gab mir einfach ein, was gut ist und was schlecht, wo es warm ist und wo kalt im Blindekuhspiel mit dem Schicksal.43

Dass schon der physische Akt des Schreibens mit den verbogenen Fingern mühselig ist, wird von Schalamow oft thematisiert. Unter diesen Umständen ist auch die Beschaffung von Papier mühselig; Gedichte entstehen eben auf Rezepturheften oder auf Einschlagpapier, aus dem Schalamow Hefte herstellt: „Ein Teil der Hefte ist aus Einschlagpapier, weißem, von bester Qualität. Dieses Papier, zwei oder drei Rollen des wunderbarsten Papiers der Welt, hat mir der Zuträger Grischa Barkan geschenkt.“44 Er schreibt in jeder freien Minute. Das Schreiben von Gedichten ist nach Schalamows Einschätzung „ungefährlicher“ in einer von Denunzianten beherrschten Welt; aber es ist auch unmittelbarer als das Schreiben von Prosa; dieser Prozess ist langwieriger, Zusammenhänge müssen hergestellt, auch persönliche Namen müssen gegeben werden. Um das Lager darzustellen, wählt Schalamow später die Prosaform. Aber in den letzten Lager- und Verbannungsjahren hat das Schreiben von Gedichten für ihn eine lebenswichtige Funktion. Dies dokumentiert ein Brief an Boris Pasternak vom 24. Dezember 1952 aus Kjubjuma, dem Ort in der Kolyma-Region, wo Schalamow nach der Entlassung aus der Lagerhaft 1951 bis 1953 als Feldscher arbeitet. Schalamow hat Pasternak durch Vermittlung von Bekannten eine Sammlung seiner Gedichte geschickt, die dieser dann in einem langen Brief ausführlich bespricht. Schalamow schreibt daraufhin: „Ich bin dafür bei Frösten von über 50° mehr als 1.500 Kilometer gefahren und erst vorgestern wieder nach Hause gekommen.“45 Er bedankt sich überschwänglich bei Pasternak und gibt in seinem

43 Ebd., S. 459. 44 Schalamow, „Jakow Owsejewitsch Sawodnik“, S. 452. 45 Schalamow, „Brief an Boris Pasternak“, in: Ders., Über Prosa, S. 41–48, hier: S. 41.

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5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

Antwortbrief geradezu ein Glaubensbekenntnis für die Kunst ab: „Außerdem glaube ich seit Langem an die ungeheure Kraft der Kunst, eine Kraft, die sich niemals vermessen lässt, und doch eine mächtige, mit nichts zu vergleichende Kraft.“ Und noch radikaler spricht er von der Fähigkeit der Kunst, die Wirklichkeit zu transzendieren und weiterleben zu lassen: „Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Kunst – die Unsterblichkeit des Lebens ist. Das, was die Kunst nicht berührt hat, wird früher oder später sterben.“46 Das heißt letzten Endes auch, dass die Erinnerung an die Wirklichkeit der Lager nur durch die Kunst zu ermöglichen ist. In diesem Brief wird auch die Macht der Gedichte als Hilfe zum Überleben thematisiert: Schalamow wendet sich dagegen, dass Pasternak sich von seinen früheren Gedichten distanzierte. Er schätze die Haltung eines Meisters, der sich selbst kritisch sieht, erinnert aber daran, dass diese Gedichte einigen ihrer Leser halfen, zu überleben: „Denn ich kenne Menschen, die gelebt, überlebt haben dank Ihrer Gedichte, dank jenem Weltempfinden, das von Ihren Gedichten vermittelt wurde. […] Diese Gedichte wurden gelesen wie Gebete.“47 Vielleicht spricht Schalamow dabei auch von sich selbst. Er relativiert damit aber auch seine radikalen Äußerungen über die Unmöglichkeit des Denkens im Lager; doch gilt dies wohl nicht für die schlimmste Zeit im Lager. Das Schreiben beginnt erst wieder mit seiner verbesserten Situation als Feldscher. In einem Brief an Natalja Stoljarowa schreibt er über das Verhältnis zwischen Kultur und Alltag: In seiner eigenen Situation „war kein Platz für Verse als Lebenskraft, dort gab es nur gewöhnliches Blut und gewöhnlichen Dreck. Aber […] die Verse haben mich nicht verlassen. Eine Art [Mittel], mir einen Platz für die liebste Arbeit zu verteidigen, anstelle des ‚frontalen‘ Kontakts zum Leben“48. 1951 wird Schalamow aus der Lagerhaft entlassen, 1953 darf er die KolymaRegion verlassen, muss aber als Arztgehilfe seinen Dienst in einem Krankenhaus in Debin bestreiten; erst 1956, nach nur teilweise erfolgter Rehabilitierung, kann er nach Moskau zurückkehren. Erst posthum im Jahre 2000 wird er vollständig rehabilitiert. Die Rückkehr nach Moskau gestaltet sich schwierig. Schalamow widmet sich kompromisslos dem Schreiben über das Lager. Seine persönlichen Beziehungen leiden unter seinem Rigorismus und darunter, dass er feste Bindungen ablehnt, möglicherweise bedingt durch die erzwungene Nähe und fehlende Privatheit im Lager. Das Gefühl, seine Individualität sei gefährdet, verlässt ihn nicht. Außerdem hat er beträchtliche gesundheitliche Probleme, bedingt durch die akute

46 Ebd., S. 43 f. 47 Ebd., S. 43, 45. 48 Schalamow, „Brief an Natalja Stoljarowa“, in: Ders., Über Prosa, S. 72–85, hier: S. 76.

5.3 Siebzehneinhalb Jahre in den Lagern des GULAG

213

Unterernährung, die klimatischen Umstände und die physischen Misshandlungen im Lager. Schwindelanfälle und zunehmende Schwerhörigkeit machen sein soziales Leben immer schwieriger. In den 60er und den 70er Jahren schreibt er unter schwierigen Umständen an seinem Kolyma-Zyklus. Seine Erzählungen können in der Sowjetunion erst in der Perestroika-Zeit der 80er Jahre erscheinen und werden deshalb kaum rezipiert. Ende der 60er Jahre kursieren in den internen, illegalen Kommunikationskreisen des selbstverlegenden Samisdat einige der Erzählungen. Sie gelangen in den Westen und erscheinen in Zeitschriften der russischen Emigration. Es entstehen erste Übersetzungen ins Englische und Deutsche. 1972 druckt die sowjetische Zeitschrift Literaturnaja Gazeta einen von Schalamow unterzeichneten Brief, in dem er sich von den – von ihm nicht autorisierten – Drucken der russischen Emigrantenzeitschriften distanziert: Schalamow protestiert dagegen, der Welt als „antisowjetischer Untergrundautor“ vorgestellt zu werden. Sein literarisch wichtigstes Argument ist, seine Geschichten würden durch die isolierte Präsentation aus dem Kontext gerissen; dadurch werde das innere Kompositionsprinzip des Zyklus, in den sie hineingehörten, entstellt und damit auch seine Intention als Autor missachtet. In diesem Sinne äußert er sich auch später noch. Von der Dissidenz wird ihm dieser Brief sehr übel genommen und als Zeichen von Schwäche gedeutet. Schalamow wird zwar zugute gehalten, dass er sich in einer sehr schwierigen Lage befinde und möglicherweise mit gängigen Argumenten und Argumentationsfloskeln seine Loyalität gegenüber der sowjetischen Regierung habe bezeugen wollen, aber das sei keine ausreichende Begründung. Tatsächlich besteht Schalamow immer und radikal darauf, dass sein Erzählzyklus nach einem klaren Kompositionsprinzip aufgebaut sei. Andererseits ist seine persönliche Situation in der Tat erdrückend schwer. Er weiß, dass die Publikation seiner Geschichten im Westen weitere Publikationen in der Sowjetunion unmöglich machen. Obwohl die Erzählungen aus Kolyma verboten sind und bleiben, kann er doch einige Gedichte veröffentlichen. Und sein Wunsch zur Publikation gründet nicht allein auf dem Bedürfnis nach öffentlicher Aufmerksamkeit, sondern hat auch reine Überlebensgründe: Seine niedrige Rente reicht kaum zum Überleben. 1979 kommt er mit Hilfe des Litfond, der Sozialorganisation des sowjetischen Schriftstellerverbandes, in ein Altersheim. Wenige Menschen kümmern sich nun noch um ihn. Am 17. Januar 1982 stirbt er in einer Moskauer Nervenheilanstalt, in die er einige Tage zuvor gegen seinen Willen überführt worden ist.

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5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

5.4 Die ‚neue Prosa‘ als durchlittenes Dokument In den 60er und 70er Jahren, zeitweise parallel zum Schreiben der Geschichten aus Kolyma, formuliert Schalamow in verschiedenen Texten und Briefen die poetologischen Ideen, auf denen sein Schreiben basiert. Man kann beide Textsorten, die Erzählungen und die poetologischen Überlegungen, aufeinander beziehen und gegeneinander ausleuchten. Bei der Suche nach einer adäquaten Sprache für die Zustände des Horrors im Lager stellt sich ihm die Frage nach dem Verhältnis von Erinnerung und Gegenwart in einer physischen Metapher, dem Bild des Gedächtnisses, das wie eine erfrorene Hand schmerzt; eine Sprache der Vergangenheit wird durch eine Sprache abgelöst, die der Gegenwart des Schreibens angemessen ist. Darüber hinaus muss das Verhältnis zwischen Autobiographie und Fiktion für die Beschreibung des Lagers geklärt werden. Aus der Notwendigkeit des Dokumentierens heraus begründet Schalamow in radikaler Weise die Unmöglichkeit des Romans, somit auch des autofiktionalen Romans. Als Erbe der Moderne49 bekundet er in manifestartigen-Ton: „Der Roman ist tot. Und keine Kraft auf der Welt wird diese literarische Form wiedererwecken. Menschen, die durch Revolutionen, Kriege und Konzentrationslager gegangen sind, lässt der Roman gleichgültig.“50 Für seine Argumentation dient ihm Faulkner als Beispiel, von dem er sagt, dass er „die beste literarische Prosa der Gegenwart“ schreibe. Mit „dem Roman“ sind die Romane und das Menschenbild des 19. Jahrhunderts gemeint; Tolstoj und seine humanistischen Ideale und Belehrungen erscheinen angesichts der Realität der Lager als radikal gescheitert. In einem Brief an Alexander Kremenskij aus dem Jahr 1972 schreibt Schalamow: Man hat kein Recht, den Menschen zu belehren, der Mensch kann und er soll auch den Menschen nicht belehren. Denn die gesamte Literatur des 19. Jahrhunderts tritt in der Rolle gerade der Lehrer auf, deren ganze Erfahrung zu den Lagern geführt hat, die zwar schon immer bestanden, wie wir von P. Ovidius Naso wissen, doch im 20. Jahrhundert erwiesen sie sich als der Kern des menschlichen Seins.51

Diese radikal-kritische Haltung gegenüber dem Menschenbild des 19. Jahrhunderts, der belehrenden humanistischen Literaturtradition, das Bewusstsein des Bankrotts ihrer Werte stehen letzten Endes auch im Grunde von Schalamows

49 In seinen Notizheften steht der Eintrag: „Ich halte mich auch für einen Erben, aber nicht der humanen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, sondern der Moderne vom Jahrhundertbeginn.“ (Schalamow, „Aus den Notizbüchern“, in: Ders., Über Prosa, S. 109–117, hier: S. 113). 50 Schalamow, „Über Prosa“, S. 7. 51 Schalamow, „Brief an Alexandr Kremenskij“, in: Ders., Über Prosa, S. 97–108, hier: S. 100.

5.4 Die ‚neue Prosa‘ als durchlittenes Dokument

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endgültiger Distanzierung von Solschenizyn. Im November 1962 liest Schalamow Einen Tag im Leben Iwan Denisowitchs und schreibt Solschenizyn einen begeisterten Brief. Er stimmt mit ihm überein, dass über die Lager geschrieben werden muss, beschreibt den Roman als lakonisch, klug, fein und subtil, hat zwei Nächte nicht geschlafen, um ihn zu lesen. Und doch mischen sich in seine Begeisterung schon einige kritische Bemerkungen, unter anderem der Verweis auf Ungenauigkeiten der Beschreibung, die der Realität nicht gerecht werden, diese gewissermaßen idealisieren: Ihr Lager ist ohne Läuse. Der Wachdienst ist nicht verantwortlich für den Plan, prügelt ihn nicht mit dem Gewehrkolben durch. Ein Kater! Man wird nicht nach der Arbeit fünf Kilometer weit in den Wald geschickt. Es wird nicht geschlagen. […] Das Brot wird zu Hause gelassen! Man isst mit Löffeln! Wo ist dieses wunderbare Lager? Hätte ich zu meiner Zeit auch nur ein Jährchen darin sitzen können! Man sieht gleich, dass Schujows Hände nicht erfroren sind, wenn er die Finger ins kalte Wasser steckt. Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen und ich kann die Finger nicht in Eiswasser tauchen.52

Es kommt zu keiner wirklichen Annäherung der beiden Schriftsteller, und die Distanz wird letztendlich unüberwindbar. Schalamow wirft Solschenizyn vor, das belehrende Prinzip Tolstojs und der Romane des 19. Jahrhunderts beizubehalten, nicht zu erkennen, dass eine solche Ästhetik überlebt und obsolet sei, dass sie nicht die Wahrheit der Gesellschaft, des Horrors der Lager treffen könne, ihre de-zivilisierenden Folgen. Die humanistische Hoffnung sei durch das Lager zunichte gemacht worden. In dieser analytischen Folgerung ist Schalamow mit Kertész zu vergleichen, der Auschwitz als Skandal unserer Tradition bezeichnet. Die Frage, wie das Lager überhaupt erzählt werden kann, gewinnt damit eine neue Radikalität. Die Leser suchen immer noch in der Literatur Antworten auf die, wie Schalamow schreibt, „ewigen Fragen“, aber sie suchen sie in der Memoirenliteratur, in der Literatur, die aus Gelebtem besteht. Insofern sollte die Literatur nicht nur zum Dokument werden, sondern zu etwas mehr. Und dieses „mehr“ besteht gerade in der Authentizität, die der Schriftsteller dem Dokument verleiht: „Man muss und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument nicht zu unterscheiden ist. Nur muss der Autor sein Material mit der eigenen Haut erforschen – nicht nur mit dem Geist, nicht nur mit dem Herzen, sondern mit jeder Pore der Haut, mit jedem Nerv.“53 Es geht nicht darum, dass der Autor sein Material kennenlernt,

52 Schalamow, „Brief an Aleksander Solschenizyn“, in: Ders., Über Prosa, S. 49–71, hier: S. 62 f. 53 Schalamow, „Über Prosa“, S. 15.

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5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

beobachtet, studiert, sondern um das, was er selbst erlebt hat. Und wieder ist der Verweis auf die Haut da, in die Schmerz und Narben eingezeichnet sind, die sowohl Träger der Erinnerung als auch Grenze des Körpers ist. Die Haut bestimmt auch die Grenzen des Individuums und legt dessen Privatheit fest, Grenzen, die nicht unerlaubt überschritten werden können, ohne dass Gewalt ins Spiel kommt. Erleben ist physisches Erleben, Erinnern auch. Erst durch das Körperliche wird es zum geistigen Erleben, und gerade das Körperliche, die Spuren im Körper, garantieren die Authentizität. In dem zitierten Brief an Kremenskij schreibt Schalamow, dass alles an der Seele und ihren Wunden überprüft werde – und damit am eigenen Körper, „an seinem Gedächtnis, das in den Muskeln, in den Armen sitzt und manche Episoden wieder auferweckt. Ein Leben, an das man sich mit dem ganzen Körper erinnert, nicht nur mit dem Gehirn“54. Die von Schalamow angestrebte Prosa ist keine Memoirenprosa, die er letzten Endes für unglaubwürdig hält, und auch kein Essay. Wieder sagt er programmatisch: „Diese Prosa ist kein Essay, sondern ein künstlerisches Urteil über die Welt, abgegeben von einer Autorität des Authentischen.“55 Es ist bezeichnend, dass dabei ein „Urteil“ abgegeben wird. Das im Körper eingebrannte Leiden garantiert Authentizität und begründet gleichzeitig die ethische Legitimität des Urteilens. Schalamow wendet sich gegen die Belehrung in der Kunst, weil er die belehrende Kunst für gescheitert hält, aber er spricht sich durchaus für eine beurteilende Kunst aus, der ein ethischer Imperativ zugrunde liegt. In seinen Notizen befindet sich auch ein Eintrag zu der Frage „Warum ich Erzählungen schreibe“: 1.

Ich glaube nicht an die Literatur. Ich glaube nicht an ihr Vermögen, den Menschen besser zu machen. Die Erfahrung der humanistischen russischen Literatur hat vor meinen Augen zu den blutigen Hinrichtungen des 20. Jahrhunderts geführt.

2.

Ich glaube auch nicht an ihr Vermögen, irgendjemanden zu warnen, vor der Wiederholung zu bewahren. Die Geschichte wiederholt sich, und jede Erschießung des Jahres siebenunddreißig lässt sich wiederholen.

3.

Warum schreibe ich trotzdem? Ich schreibe, damit der Leser in meiner von jeder Lüge sehr fernen Prosa, wenn er meine Erzählungen liest, sein Leben so [gestalten] kann, dass er etwas Gutes tut, wenigstens irgendetwas [Positives]. Der Mensch muss etwas tun.56

54 Schalamow, „Brief an Alexandr Kremenskij“, S. 105. 55 Ebd., S. 110. 56 Ebd., S. 115.

5.4 Die ‚neue Prosa‘ als durchlittenes Dokument

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An zwei Stellen seines Essays über Prosa wiederholt Schalamow, dass es in den Erzählungen aus Kolyma nichts gibt, „das nicht Überwindung des Bösen und Triumph des Guten wäre“, und betont, dass er, wenn er ein anderes Ziel gehabt hätte, einen völlig anderen Ton gefunden hätte.57 In seinen Notizen formuliert er lapidar: „Die Ästhetisierung des Bösen bedeutet ein Lob auf Stalin.“58 Um eine Prosa schreiben zu können, die „keine Prosa des Dokuments, sondern eine Prosa, die durchlitten ist wie ein Dokument“, wie Schalamow seine programmatische Schrift Über Prosa abschließt,59 muss sowohl der traditionelle Roman verworfen werden wie auch der Schriftsteller, der ihn schreibt, der „draußen“, „darüber“ oder „abseits“ vom Erzählten steht. Zu verwerfen ist das, was Schalamow als „touristisches Prinzip“ ansieht. Der Schriftsteller ist nicht Beobachter, sondern Teilnehmer am Drama des Lebens. Er ist „Pluto, der der Hölle entsteigt; und nicht Orpheus, der in die Hölle hinabsteigt“60. Dabei ist Schreiben erst außerhalb der Hölle möglich: „Das am eigenen Blut durchlittene erscheint auf dem Papier als Dokument der Seele, umgewandelt und beleuchtet vom Licht des Talents.“61 Das Schreiben, das dieser Forderung adäquat ist, ist durch Lakonie ausgezeichnet, durch Kürze, Schlichtheit und Klarheit; es vermeidet „Wortgerassel“, so Schalamow; es legt Lebenswichtiges dar. In ihm spielen Einzelheiten, Details eine große Rolle: „Das Treffende, das Genaue dieser Einzelheiten lässt den Leser ganz von selbst der Erzählung und allem Übrigen glauben, nicht wie einer Information, sondern wie einer offenen Herzenswunde.“62 Wieder benutzt Schalamow ein physisches Bild, um die Authentizität zu bekunden und zu legitimieren: der Text als offene Herzenswunde. Auch hier soll sich die Wunde nicht schließen, sondern sie soll offen bleiben, die Wunde der Erinnerung, die Wunde des Leidens, das in die Gegenwart weiterwirkt und auf das Bewusstsein des Lesers übertragen werden soll. Es geht weder um Information noch um Reportage, Daten und Berichte. Es geht um Details, die Emotionen auslösen und zum Glauben bewegen. Die Details werden zu Symbolen, sie zeigen und verdecken gleichzeitig, sie verweisen auf Sinn und verlangen Interpretation: „Es ist immer das Detail als Symbol, das Detail als Zeichen, das die gesamte Erzählung auf eine andere Ebene

57 58 59 60 61 62

Schalamow, „Über Prosa“, S. 15, vgl. ebd., S. 26. Schalamow, „Aus den Notizbüchern“, S. 112. Schalamow, „Über Prosa“, S. 31. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22.

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5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

überführt, ihr einen ‚Hintersinn‘ verleiht, ein wichtiges Element der literarischen Lösung, der literarischen Methode.“63 Die extreme Kargheit der Beschreibung und die Symbolwerdung bestimmter Details zeigt die Nähe Schalamows zur Ästhetik der Akmeisten, die die Klarheit der Aussage zum Programm machen, die Mehrdeutigkeit und Symbolismus zurückweisen und sich auch gegen die Futuristen absetzen. Sie gruppieren sich um Nikolai Gumiljow, Anna Achmatova und Osip Mandelstam; Schalamow widmet dem Tod Mandelstams im Durchgangslager bei Wladiwostock die Erzählung „Cherry Brandy“ und setzt ihm damit ein Grabmal. Avantgardistische Momente finden sich in Schalamows Technik der Reihung und Wiederholung. Er benutzt sie bewusst. Auch in seinem Essay Über Prosa werden Abschnitte gereiht und an verschiedenen Stellen in anderer Reihung wiederholt. In einen neuen Kontext gesetzt, erhalten sie etwas Schillerndes; sie werden hervorgehoben und aus verschiedenen Winkeln beleuchtet; ihre Wichtigkeit wird unterstrichen. Die folgenden drei weiter oben schon einzeln zitierten Abschnitte werden auf diese Weise als ethische Zentralbegriffe seines Schreibens ausgewiesen: In den Erzählungen aus Kolyma gibt es nichts, das nicht Überwindung des Bösen und Triumph des Guten wäre – wenn man die Frage im großen Rahmen, im Rahmen der Kunst betrachtet. Wenn ich ein anderes Ziel gehabt hätte, hätte ich einen völlig anderen Ton gefunden, andere Farben, bei demselben künstlerischen Prinzip. Die Erzählungen aus Kolyma – das ist das Schicksal von Märtyrern, die keine Helden waren, sein konnten und wurden.64

Die Erzählungen werden deutlich als Darstellungen eines kollektiven Schicksals gekennzeichnet. An anderer Stelle schreibt Schalamow: „[I]ch habe kein Recht, für andere zu sprechen (außer vielleicht für die Toten der Kolyma).“65 Dass aber die Protagonisten als Märtyrer bezeichnet werden, heiligt ihr Leiden, gibt ihm einen posthumen Sinn, setzt ihnen gewissermaßen ein Denkmal im Dienste einer Idee. Die Bezeichnung als Märtyrer stellt einen grundlegenden Unterschied zu Autoren wie Kertész oder Améry dar, die den Holocaust überlebt haben, die sich aber der Sinngebung des Leidens als Martyrium im Falle des Holocausts widersetzen. Es war ein sinnloses Leiden, vom radikal Bösen bestimmt, das Überleben ein Glücksfall, ein Zufall, eigentlich eine „Betriebspanne“, kein Martyrium. Kertész 63 Ebd. 64 Ebd., S. 15. Auf Seite 26 werden dieselben Abschnitte in einer anderen Reihenfolge wiederholt. 65 Schalamow, „Brief an Julij Schrejder“, in: Über Prosa, S. 90–96, hier: S. 94.

5.4 Die ‚neue Prosa‘ als durchlittenes Dokument

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bezeichnet Améry als Heiligen des Holocausts, aber nicht als Märtyrer. Die Opfer des Holocausts als Märtyrer zu bezeichnen bringt die Gefahr mit sich, dem Holocaust letzten Endes einen Sinn zu geben. Schalamow hat seine Erzählungen aus Kolyma in sechs Zyklen strukturiert. In der deutschen Übersetzung sind sie folgendermaßen aufgeteilt: Durch den Schnee (Band 1), Linkes Ufer (Band 2), Der Spatenkünstler, Skizzen der Verbrecherwelt (Band 3), Die Auferstehung der Lärche und Der Handschuh (Band 4). Sie sind über einen langen Zeitraum entstanden, zwischen 1954 und 1973, wurden aber als ästhetische Einheit konzipiert. Schalamow hat das wiederholt betont und sich auch, wie schon erwähnt, gegen ihre vereinzelte Publikation gewandt: „Alle Erzählungen haben eine einheitliche, dem Autor vertraute musikalische Stimmung. Die synonymen Substantive, synonymen Verben sollen den gewünschten Eindruck verstärken. Die Komposition des Zyklus ist vom Autor durchdacht.“66 Die Gravitationszentren der Erzählungen sind das Sterben und der Tod der Häftlinge,67 sie erzählen die Gratwanderung der Häftlinge zwischen Leben und Tod in Extremen, zwischen Verlust und Festhalten des Lebens, sie schildern ein Leben am Tod entlang, Sterben und Überleben, den Verlust des Lebens zu Lebenszeiten, die Reduktion auf Minimales. Schalamow schildert den Verfall und das Festhalten am Leben, am Wenigen, was im Menschen erhalten bleibt, als rein instinktiven, als körperlichen Vorfall. Wolfgang Stephan Kissel spricht in diesem Zusammenhang von Manifestationen der Vita minima als Überlebensformen, von Überlebenswissen als Epistemologie der Vita minima.68 Dabei bezieht sich Vita minima auf „Zustände des Noch-Lebens, Schwundstufen, Extremformen kurz vor dem Verschwinden“69. In den Erzählungen aus Kolyma geht es um die Bewahrung und Entfaltung, um die Vermittlung dieses Überlebenswissens, eines Wissens um Tod, Sterben und Rückkehr zum Leben. Diese Vita minima ist im dochodjaga verkörpert, dem Protagonisten der Erzählung, der auf die eigene Erfahrung Schalamows hinweist. Auch die einzelnen Bände haben eine zyklische Struktur. Die erste und letzte Erzählung haben jeweils besonderes Gewicht: In der ersten führt eine Erinnerung in das Lager ein, sie bildet den Auftakt und fungiert gewissermaßen als Wegweiser. In der letzten werden verschiedene Situationen und Arten der Rückkehr zum Leben geschildert. Das Verhältnis der Bände zueinander lässt sich durch die

66 Schalamow, „Über Prosa“, S. 17. 67 Vgl. dazu: Kissel, „Gulag und Autofiktion“. 68 Ebd., S. 51 f.; vgl. auch:. Wolfgang Stephan Kissel, „Überlebenswissen in Varlam Ŝalamovs Erzählungen aus Kolyma: Zur Epistemologie der Vita minima“, in: Poetica. Zeitschrift für Sprachund Literaturwissenschaft, 41/2009, S. 169–187. 69 Kissel, „Gulag und Autofiktion“, S. 51.

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Figur einer Spirale illustrieren, denn der Zyklus schließt sich nicht in sich selbst wie ein Kreis. Im Laufe der Bände wird langsam die Rückkehr zum Leben und zum Festland anvisiert, der letzte Band endet mit der Rückkehr. Aber es handelt sich nicht um einen zeitlich linear, als Progression geschilderten Prozess, sondern um ein loses Mosaik von Erzählungen, die durch Motive, Assoziationen und Erzählfiguren verknüpft und oft gar nicht zeitlich lokalisiert werden können. Nur dann und wann gibt es Markierungen, die Zeitzuschreibungen erlauben, oder Ortsmarkierungen, denen man folgen kann. Die letzten Bände der Erzählungen werden interpretativer, selbstreflexiver; parallel dazu entstehen Schalamows theoretische Texte. Nach Luba Jurgenson ist der Autor „sich selbst zum Gegenstand der Sondierung geworden, nicht nur, weil Zeit verstrichen ist, die ihn von seiner Erfahrung trennt, sondern auch kraft des zeugnisgebenden Textes selbst“70. Eine solche distanzierende Entwicklung ist auch bei anderen in diesem Buch besprochenen Autoren zu beobachten. Imre Kertész formuliert das Problem, dass ein Text auf die Erinnerung rückwirken und sich vor diese ‚schieben‘ kann, in Fiasko meta-poetisch, indem er vom „Roman vor dem Roman“ spricht. Primo Levi spricht von der „Gedächtnisprothese“, die Ist das ein Mensch für ihn geworden ist.71

5.5 Körperliches Erzählen als Wegbahnung: Erzählen als mäandernde Navigation Der erste Band der Erzählungen aus Kolyma, Durch den Schnee, beginnt mit einem eineinhalbseitigen Text unter demselben Titel. Er beantwortet die am Anfang gestellte Frage: „Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?“ Den Text kann man schwerlich als Erzählung einstufen; es wird nicht erzählt, sondern ein mühseliger, physischer Arbeitsprozess wird beschrieben. Der erste Mann einer Gruppe (von Häftlingen, nimmt man an, aber es wird nicht gesagt) läuft weit vor, stapft mühsam, tief einsinkend, einen Weg in den frischen Schnee. Manchmal muss er ausruhen. Seine physische Arbeit wird beschrieben; das Stapfen, aber auch die Bestimmung der Richtung des Weges. In der Unendlichkeit des Schnees sucht der Mann die Punkte, an denen er sich orientiert, um den Weg zu bahnen: ein Baum, ein Fels; er lenkt seinen Körper zu ihnen hin wie ein Steuermann sein Boot, so dass auch das Einschlagen der Richtung als körperliche Arbeit dar-

70 Jurgenson, „Spur, Dokument, Prothese“, S. 171. 71 Levi, „Worte, Erinnerung, Hoffnung“, S. 225. – Dazu auch: Jurgenson, „Spur, Dokument, Prothese“, S. 171.

5.5 Körperliches Erzählen als Wegbahnung: Erzählen als mäandernde Navigation

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gestellt wird. Die Männer, die ihm folgen, dürfen nicht in seine Fußstapfen treten. Um einen neuen Weg zu bahnen, müssen sie sich zwar an seine Spuren halten, aber um sie herum, an ihnen entlang weitertreten, weiterbahnen. Der letzte Satz enthüllt, mit Schalamow zu sprechen, den „Hintersinn“ dieser detaillierten Beschreibung: „Auf Traktoren und Pferden kommen nicht die Schriftsteller, sondern die Leser.“72 Mit diesem letzten Satz wird die Erzählung schlagartig neu erhellt und erweist sich als Metapher des Erzählprozesses. Die Erzählungen aus Kolyma werden mit einer metaphorischen Beschreibung der Arbeit des Schriftstellers, des Schreibens, eingeleitet. Das Schreiben wird vom Körper aus erfasst, wie die Erinnerung, die ebenfalls in den Körper eingeschrieben ist. Das Schreiben bahnt einen Weg, hinterlässt selbst eine Spur in der weißen Unendlichkeit des Schnees oder der Papierseite, der dann die Leser folgen. Die Leser erhalten somit eine bequeme, souveräne und gewissermaßen voyeuristische Position: Sie folgen auf Pferden oder Traktoren. Damit geraten sie in eine fragwürdige Situation. Lesen folgt den Spuren des Leidens, ohne selbst zu leiden. Für die Schreibenden ist die neue Prosa ein erlittenes Dokument.73 Im Unterschied zu den genau abgegrenzten und eingezäunten nationalsozialistischen Lagern ist es an der Kolyma unter extremen Kältebedingungen in einer riesigen und unwirtlichen Natur nicht immer notwendig, Lagergebiete konkret abzugrenzen. Die Abgrenzungen werden unterschiedlich markiert; die vielen Lager sind in der Kolyma-Region weit verstreut wie Inseln um die Bergwerke herum. Solschenizyn hat die inzwischen klassisch gewordene Metapher für die sowjetischen Lager geprägt, den Archipel GULAG. Dieser hat keine genauen geographischen Umrisse, sondern besteht in der Vorstellung der Häftlinge aus einer Ansammlung unzähliger über das Land verstreuter, voneinander isolierter Lager. Die riesigen Dimensionen des Raums, die riesigen Zahlen der Häftlinge und der Haftjahre, zu der sie verurteilt sind und die jederzeit willkürlich erhöht werden können, finden ein Korrelat in der scheinbaren Endlosigkeit der Erzählungen aus Kolyma, ihrer sich obsessiv wiederholenden Thematik und ihrer Moti-

72 Schalamow, „Durch den Schnee“, S. 8. 73 Laut Ulrich Schmid (Ders., „Nicht-Literatur ohne Moral“, in: Das Lager schreiben. Osteuropa 57/2007, 6, S. 87–106, hier: S. 94) wird damit der Leser auch zum Ausbeuter, zum Peiniger. Das würde aber voraussetzen, dass diejenigen, die auf Pferden oder Traktoren kommen, keine Häftlinge, sondern deren Ausbeuter sind, was eine mögliche, aber nicht sichere Lesart ist. Die Häftlinge sind in wechselnde Gruppierungen eingeteilt. Auch Häftlinge haben Traktoren gelenkt, wobei diese Häftlinge sicher auch Ausbeuter sein konnten. Die Gruppenzugehörigkeit derer, die auf Pferden oder Traktoren kommen, ist damit nicht eindeutig definiert. Mir erscheint es textangemessener, den Leser als Spurenleser, Spurenfolger anzusehen. Dass seine Position auch etwas Fragwürdiges, Dubioses hat, ist damit aber auch angesprochen. Ich würde bei Schalamow auch nicht von moralischem Nihilismus sprechen, wie Ulrich Schmid meint.

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ve, ihrem langsamen, zyklischen Mäandern in Richtung auf eine Rückkehr in die Freiheit. Die Unendlichkeit des Raumes steht im Kontrast zur Enge der Haft des Einzelnen, der als Gefangener unter extremem Druck steht und weder über den Raum noch über die Zeit frei verfügen kann. Schalamow hat den Roman für tot erklärt und hält dessen Ästhetik des Individuums für unangebracht, um die Realität der Lager darzustellen. Aber was setzt er an die Stelle des Individuums? In seinen Erzählungen gibt es Icherzähler und eine große Anzahl von Protagonisten. Manchmal wird die gleiche Geschichte von einer Ichfigur als selbst erlebt und in einer neuen Version über einen Protagonisten erzählt. Orts- und Datumsangaben sind selten, aber wie schon erwähnt, entsprechen sie, wenn sie vorkommen, wichtigen Ereignissen in Schalamows Biographie. Die Ichfigur kann autofiktional sein; sie muss dies aber nicht. Es gibt weiterhin eine Triade von Figurennamen, Andreew, Christ oder Golubew, die offensichtliche Doppelgänger von Schalamow sind, die also auch zu seinen Autofiktionen gehören. Damit werden die Erzählungen und das in ihnen dargestellte Leiden vom Individuum abgelöst; sie werden universalisiert. Es gibt keine Psychologisierungen, auch sie gehören dem unangebrachten, überholten Roman des 19. Jahrhunderts an. Die Motive, die Details, die lakonischen Erzählungen geben dem Leser das Material, das er bündeln, zusammenführen und interpretieren muss. Wenn man den Überschriften und Argumenten der Erzählungen nachgeht, ergibt sich so etwas wie eine Topographie des Lagers. Es erscheinen – geographische Beschreibungen, Ortsangaben wie „Goldene Tajga“, „Ankerplatz der Hölle“, „Der Pfad“, etc., – Fauna und Flora wie „Das Krummholz“, „Bären“, „Die Auferstehung der Lärche“, „Die Ente“ etc., – technische Objekte des Lagerlebens wie „Der Injektor“, Die „Diamantenkarte“, „Lend-Lease“, „Die Schubkarre I.“, „Die Schubkarre II.“ etc., – Funktionen in der Lagerorganisation und -hierarchie wie „Der Chefarzt“, „Der Leiter der politischen Verwaltung“, „Der Kriegskommissar“ etc., – exzentrische Figuren wie „Der Unbelehrte“, „Der Nachkomme des Dekabristen“, „Die „Armenkommittees“, „Der Krankenhaus-Chef“, „Der Schlangenbeschwörer“, „Iwan Fjodorowitsch“ etc., – Nahrungsmittel wie „Marschverpflegung“, „Beeren“, „Kondensmilch“, „Brot“, etc., – medizinische Termini wie „Schocktherapie“, „Das Aorten-Aneurisma“, „Typhusquarantäne“. Kissel spricht von der Iteration, der reihenden Wiederholung als narrativer Strategie für die zyklische Struktur der Erzählungen. Den Wiederholungen der Erzäh-

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lungen entspricht die Wiederholung des Sterbens im Lager.74 Die Wiederholung in verschiedenen Formen und Funktionen ist als eine Grundstruktur des Erzählens anzusehen, die für das Erzählen des Lagers angemessen sein kann, indem wiederholend in Aufschüben erzählt wird. Was die Erzählungen zum Thema machen, ist aber nicht das Sterben, sondern das Überleben am Sterben entlang, am Sterben der Anderen entlang, das eigene Fast-Sterben, ein Leben unter minimalen Bedingungen, ein Mit-dem-Tode-Leben. Wenn auch der große Bogen des Zyklus auf die Rückkehr aus dem Lager in die Freiheit ausgerichtet ist, gestaltet sich die zeitliche Ordnung innerhalb der Bände jedoch nicht linear und nicht nachvollziehbar progressiv. Die datierbaren Ereignisse, die geschildert werden, sind über die verschiedenen Bände verteilt. Jede Erzählung scheint alleine in einer unendlichen Zeit zu stehen, abgesondert, vereinzelt. Genauso wie der beschriebene Raum oder die vereinzelten Bäume, das Krummholz oder der Pfad. Der Unendlichkeit von Zeit und Raum stehen die Zwangsbedingungen gegenüber, unter denen die Häftlinge die unmenschlichen Bedingungen des Klimas ertragen und die Arbeiten des Tagesplans leisten müssen, während sie eigentlich Herren über Zeit und Raum sein müssten. Dieser Widerspruch bildet in jeder Erzählung den Rahmen, der das Sterben bestimmt und in dem das eigentlich unmögliche Überleben stattfindet. Das Lager selbst wird zu einem Chronotop der Unendlichkeit. Im ersten Band der Erzählungen aus Kolyma, Durch den Schnee, ist eine weitere Erzählung enthalten, die metaliterarisch zu deuten ist. Und zwar handelt es sich um „Cherry Brandy“, eine Erzählung, die, ohne ihn zu nennen, den Tod des Dichters Ossip Mandelstam im Transitlager bei Wladiwostok schildert. Schalamow sagt später, dass er sie als Grabrede eigener Art geschrieben hat. Die Erzählung nennt den Dichter zwar nicht, aber sie gibt mehr Hinweise auf seine Identität als viele andere Erzählungen über ihre Protagonisten. „Cherry Brandy“ ist der Titel eines Gedichts von Mandelstam.75 Über den Sterbenden wird gesagt: „Man nannte ihn den ersten russischen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, und oft dachte er, dass das tatsächlich so war.“76 Dass die Ästhetik des Minimalismus der Akmeisten für ihn eine große Rolle spielt und er sich als Erbe der russischen Avantgarde versteht, wurde schon erwähnt.

74 Kissel, „Überlebenswissen in Varlam Šalamovs Erzählungen aus Kolyma“, S. 166 f. 75 Das Gedicht ist auf März 1931 datiert und gehört dem Zyklus „Moskauer Gedichte“ an; vgl. dazu auch: Wolfgang Stephan Kissel, „Pluto, nicht Orpheus: Der Tod des Dichters in Varlam Šalamovs Erzählungen aus Kolyma“, in: Thanatologien, Thanatopoetik. Der Tod des Dichters, Dichter des Todes, Wiener Slawistischer Almanach 60/2007, S. 397–419. 76 Warlam Schalamow, „Cherry Brandy“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 1, S. 94–101, hier: S. 96.

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Die Erzählung schildert die letzten Stadien eines Hungertodes. Sie fängt mit einem durativen Satz an: „Der Dichter lag im Sterben.“ Dass sein Name nie genannt wird, lässt ihn über seine eigene Identität hinauswachsen; auch er wird gewissermaßen universalisiert. Er stirbt in einem Transitlager, in einem Gebiet des ‚Zwischen‘, einem Durchgangslager zwischen dem Transport und dem eigentlichen Lager, einem Gebiet relativer Freiheit. Der Dichter ist mit seinem Tod einverstanden; er weiß, dass ihn, falls er überlebt, im Lager viel Schlimmeres erwartet. Das Sterben wird als physischer Prozess beschrieben, bei dem die physischen Kräfte langsam schwinden, zeitweilig wiederkommen, als ein wellenartiges Auf und ab, Ein- und Ausatmen, kommendes und schwindendes Bewusstsein, ein- und aussetzende Herzschläge. Dieses Wellenförmige bestimmt auch das Mäandern der Erzählung, das Entstehen und Verschwinden von Gedankenfetzen des Sterbenden: Das Leben trat in ihn ein und trat aus, und er lag im Sterben. Doch das Leben kam wieder, die Augen öffneten sich, und es kamen Gedanken. […] Wieder spürte er eine kommende Kräfteflut, tatsächlich eine Flut wie im Meer. Eine vielstündige Flut. Und dann ein Abebben. Doch das Meer geht ja von uns nicht für immer fort. Es wird sich noch erholen.77

Die Gedankenfetzen des Dichters tauchen in diesen wellenförmigen Kräfteschwingungen unvermittelt auf und verschwinden wieder. Sie sind, wie das Gedächtnis des Dichters, vom Körper bedingt, von Haut, Schmerz, Hunger. So denkt er seine letzten Verse, und so erfährt er auch, dass das Leben in den Versen ist, in deren Rhythmus, der aus dem Leben, aus dem Körper wächst: „Die Verse waren jene lebensspendende Kraft, in der er lebte. Eben so war es. Nicht um der Verse willen lebte er, er lebte aus den Versen. Jetzt war so anschaulich, so fühlbar klar, dass die Inspiration das Leben war […].“78 Diese im Sterben gewonnene Erkenntnis stellt sich der Erinnerung an sein früheres Leben, an Ruhm und Mühen entgegen, die ihm jetzt wie „Mäusetritt im Vergleich zur üblen Schwere des Lebens“79 erscheinen. Der Mäusetritt verweist auf Puschkins Verse, nachts bei Schlaflosigkeit geschrieben (1830),80 der ganze Komplex von Einsamkeit, Inspiration, Schlaflosigkeit wird auch von Mandelstam bearbeitet. Kissel zeigt, wie der Lagertod des Dichters so mit Verweisen auf die lyrische Tradition der Moderne aufgeladen wird. Auch das Motiv der „trüben elektrischen Sonne“, von Fliegen verdreckt, unter der der Dichter liegt, kann als Verweis auf den verelendeten Sonnenmythos der Symbolisten gedeutet werden. 77 78 79 80

Ebd., S. 95, 100. Ebd., S. 97. Ebd. Vgl. Kissel, „Pluto, nicht Orpheus“, S. 409 f.

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Der Tod des Dichters im Lager ist die Negation des romantisch-modernen Todes des Dichters als Höhepunkt seines Werkes. Die Erzählung selbst verweist darauf: „Das Wichtigste war, dass er noch nicht gestorben war. Was heißt das übrigens, gestorben wie ein Dichter? Etwas kindlich Naives muß in diesem Tod sein. Oder etwas Mutwilliges, Theatralisches wie bei Jessenin, bei Maiakowskij.“81 Der Tod des Dichters im Lager wird von seinen Nachbarn erwartet, die mehr Platz auf der Pritsche haben wollen, die aber zwei Tage warten, den Tod zu melden, um inzwischen vom Brot des Toten zu profitieren, indem sie seine Hand wie die einer Marionette heben lassen, wenn das Brot verteilt wird. Den Dichter erwartet ein Massengrab und damit besteht die Gefahr des Verschwindens, des Vergessens. Dagegen wendet sich Schalamows Erzählung; sie ist eine Grabrede, ein Todesritual und auch eine Gegenrede gegen die moderne Mythisierung des Dichtertodes, die Mandelstam selbst in seinem frühen Essay Puschkin und Skrjabin (1915) thematisiert hatte.82 Dass Die Erzählungen aus Kolyma in vielerlei Hinsicht auch ein Todesritual, eine Grabrede für die sonst namenlos verschwundenen, in Massengräbern verscharrten Toten der Kolyma darstellen, wird in vielen Erzählungen deutlich. Neben „Cherry Brandy“ ist die schon besprochene Erzählung „Der Handschuh“ ein Beispiel dafür; sie eröffnet den vierten Band der Erzählungen. Alle Bände beginnen mit einer Erzählung, die in irgendeiner Form das Erinnern, das immer ein Erinnern an Sterben und Tod ist, zum Thema macht. Auch der zweite Band der Erzählungen aus Kolyma, Linkes Ufer, hebt mit einer Erinnerungssituation an. Die Erzählung „Der Statthalter von Judäa“ handelt von der Ankunft des mit Häftlingen vollbeladenen Dampfschiffs KIM, der letzten Ankunft der schiffbaren Saison 1947 im Hafen von Magadan bei minus 40 Grad. Ein Chirurg, Kubanzew, tritt seinen ersten Diensttag an und sieht sich mit unzähligen Amputationen von Erfrierungen konfrontiert. Lakonisch wird am Schluss darüber informiert, warum es so viele Tote und bei den Überlebenden so viele Erfrierungen gab. Die Häftlinge hatten während der Fahrt revoltiert und die Leitung hatte daraufhin beschlossen, alle Schiffsräume unter Wasser zu setzen. „Das alles musste man vergessen, und Kubanzew, ein disziplinierter und willensstarker Mann, tat das auch. Er zwang sich zu vergessen.“83 Nach siebzehn Jahren erinnert er sich an alles Mögliche, nur nicht an den Dampfer KIM mit dreitausend Häftlingen und ihren Erfrierungen. Lapidar schließt die Erzählung: „Bei Anatole 81 Schalamow, „Cherry Brandy“, S. 99. 82 Dazu weiterhin: Kissel, „Pluto, nicht Orpheus“, S. 413. 83 Warlam Schalamow, „Der Statthalter von Judäa“, in: Ders., Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2009, S. 9–12, hier: S. 12.

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France gibt es eine Erzählung ‚Der Statthalter von Judäa‘. Dort kann sich Pontius Pilatus nach siebzehn Jahren nicht an Christus erinnern.“84 Schalamow übernimmt den Titel von Anatole France, erklärt sich damit zu dessen Nachfolger und übernimmt dessen biblischen Bezug zu Leiden, Erinnerung und Vergessen der Täter wie auch der Dulder. Die Erzählung ist 1965 datiert, siebzehn Jahre nach der Begebenheit, die der Chirurg angeblich vergessen hat. Die Erzählung schreibt also gegen das Vergessen an. Während die erste Erzählung jedes Bandes von einer Situation der Erinnerung ausgeht, schließt jeder Band mit einer Erzählung, die ein langsames Rückkehren ins Leben andeutet. Die letzte Erzählung des ersten Bandes, „Typhusquarantäne“, stellt ein solches „Überlebenserlernen“ dar. Wie immer bei Schalamow wird ein körperliches Wissen erlernt. Der Protagonist, Andreew, ist völlig entkräftet und krank, eigentlich als dochodjaga, aus den Bergwerken ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die ‚gute Tat‘, die hier an den Anfang gestellt ist, wird sein Überleben in die Wege leiten. Zunächst wird er vom Feldscher angebrüllt, wieso er denn so verlaust sei, doch die Ärztin fällt dem Feldscher ins Wort: „‚Sind sie denn schuld?‘ sagte Lidija Iwanowna leise und vorwurfsvoll, mit Betonung auf dem Worte sie, und nahm das Stethoskop vom Tisch.“85 Diese menschliche Behandlung gibt Andreew seine Dignität zurück, richtet ihn auf: Sein Leben lang erinnerte sich Andreew an diese rotblonde Lidija Iwanowna, tausend Mal hat er sie gesegnet und immer voller Zärtlichkeit und Wärme an sie gedacht. Wofür? Dafür, dass sie in diesem Satz, dem einzigen, den Andreew von ihr hörte, das Wort sie betonte. Für ein gutes Wort im richtigen Moment. Ob diese Segenswünsche sie erreicht haben?86

Die Ärztin schreibt in Andreews Sträflingsakte „leichte körperliche Arbeit“, und das ermöglicht ihm erst einmal eine Pause; auch weil im Hafen, wohin er geschafft worden ist, Typhusquarantäne herrscht und die Häftlinge nicht wegtransportiert werden können. Er ist somit in einer ‚eingefrorenen‘ Durchgangsstation, einem Chronotop des Übergangs. Hier kehrt er langsam zum Leben zurück. Zu Beginn der Erzählung wird er explizit als zu den Toten gehörend beschrieben. Niemand von den neuen Häftlingen möchte etwas über die Taiga und die Bergwerke wissen, und Andrejew findet das richtig: „Hier waren noch Menschen – Andreew war ein Vertreter der Toten. Und sein Wissen, das Wissen eines Toten, konnte ihnen, den noch Lebendigen, nichts nützen.“87 Die Pause, die durch die Typhusquarantäne

84 Ebd. 85 Warlam Schalamow, „Typhusquarantäne“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 1, S. 261–284, hier: S. 261. 86 Ebd. 87 Ebd., S. 264.

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bedingt ist, gibt ihm langsam Gelegenheit, wieder zu Lebenswillen und Überlebenskraft zu kommen. Dies ist ein zunächst ein physischer Prozess: Ruhe und etwas Essen, langsames Genesen der Haut. Er lernt durchzukommen, er begreift zum ersten Mal, dass er nach dem, was er erlebt hat, keine Angst mehr hat und dass er nicht am Leben hängt. Gerade dieser Aspekt wird zu seinem Überlebenswillen beitragen. Er beschließt, die schreckliche Grubenerfahrung zum eigenen Nutzen zu verwenden, die erbärmlichen Möglichkeiten des freien Willens eines Häftlings zu nutzen: „Er wird nicht sterben, hat nicht vor zu sterben.“88 Auf diesem Weg ins Leben zurück wird Andreew vom Zuspruch der Ärztin ermutigt; er versteht, „dass er etwas wert ist, dass er sich selbst achten kann. Hier ist er, er lebt noch und hat niemanden verraten oder verkauft, weder im Untersuchungsverfahren noch im Lager“89. Die Erfahrung der Bergwerke bringt Andreew aber auch die Erkenntnis, dass Überleben für ihn unmöglich ist: „Zum Beispiel ist klar, dass Andrejew nicht überleben kann.“90 Er wird aber doch überleben, denn: [E]twas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt. Das hat Andreew begriffen, und nicht nur begriffen, sondern deutlich gespürt eben hier, im städtischen Durchgangslager, während der Zeit der Typhusquarantäne.91

Als erstes heilt seine Haut, „der Schildkrötenpanzer, in den sich die menschliche Haut in der Grube verwandelt hatte“92; die linke Hand biegt sich auf, später auch die rechte; die Instrumente des Gedächtnisses und des Schreibens sind wieder funktionsfähig. Der Überlebenswille geht vom Körper aus, Beobachtung und Analyse liegen dem Überleben zugrunde, sie eröffnen einen Erweckungs- und Lernprozess, der sich durch eine minimal günstigere Situation des Häftlings ergibt. Ein Selbsterkenntnisprozess, den der Protagonist durchläuft, bringt ihn dazu, Überlebensmöglichkeiten zu finden und zum Leben zurückzukehren.93 Nach Aufhebung der Quarantäne entwickelt Andrejew eine Strategie, um nicht wieder in die Gruben transportiert zu werden. Er simuliert keine Krankheit wie andere Häftlinge, sondern macht sich so unsichtbar wie möglich. Er entzieht sich den Kontrollen, nennt einmal sogar einen falschen Namen; – alles das ist nur für eine beschränkte Zeit in der völlig überfüllten Durchgangsstation möglich;

88 89 90 91 92 93

Ebd., S. 267 f. Ebd., S. 268. Ebd., S. 269. Ebd. Ebd. Vgl. Kissel, „Überlebenswissen in Varlam Shalamovs Erzählungen“, S. 179.

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aber für Andreew ist diese Zeit als Genesungszeit, als Genesungspause notwendig. Als nur mehr wenige Häftlinge zum Transport übrig sind, vermutet Andrejew, dass der Bedarf an Häftlingen für die Taiga nun gedeckt sein müsse und er vor den Goldbergwerken in Sicherheit sei. Aber die noch übrigen Häftlinge bekommen wider Erwarten Winterkleidung und werden abtransportiert – offensichtlich wieder in die weit entfernten Gruben in der Taiga. Der Schluss der Erzählung ist also negativ, Andreew kommt in die Gruben zurück. Aber sie schließt auch damit, dass Andreew seinen Überlebenswillen neu aufgebaut hat, dass er nun um seinen Instinkt weiß und neue Strategien gelernt hat. Er kehrt mit seinem Überlebenswissen in die Gruben zurück – die Tatsache, dass er sich noch viele Jahre später an die Anrede der Ärztin erinnert, ist ein sicherer Hinweis auf sein Überleben. Die letzte Erzählung des zweiten Bandes, „Sentenz“, schildert einen weiteren Verlauf der Rückkehr eines dochodjaga ins Leben. Diesmal ist es die Rückkehr in die Sprache. Die Erzählung ist Nadeshda Mandelstam gewidmet, der Witwe von Ossip Mandelstam, der Verfasserin von Memoiren, die Schalamow sehr schätzte und die auf Deutsch unter dem Titel Das Jahrhundert der Wölfe und Generation ohne Tränen erschienen sind. Schon diese Widmung würde genügen, um die Erzählung hervorzuheben: Schalamow hatte Mandelstam mit „Cherry Brandy“ eine Grabrede gewidmet und die Bedeutung der avantgardistischen Ästhetik der Akmeisten für ihn ist evident. Er versteht ihn auch als Leidensgefährten. Karoline Thaidigmann setzt Schalamows Erzählung in Parallele zu dem Gedicht „Das Wort vergaß ich, das ich sagen wollte“ aus Mandelstams Lethe-Zyklus: Die Idee zyklisch wiederkehrender Auferstehung wird dort im Verhältnis zum Tod zum Thema gemacht. Auch Schalamows eigene Poetik kommt dort zur Sprache.94 Wie schon in Typhusquarantäne zeigt sich auch hier in Wellen der Wechsel – oder besser der Übergang – vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben. Der völlig heruntergekommene und dem Tode nahe Icherzähler befindet sich in einer „Außenstelle“ der Taigawelt, wo er als Wassersieder zu arbeiten hat. Die zweihundert Meter bis zum Siedekessel, die er täglich zu gehen hat, bewältigt er kaum noch, auch schafft er es nicht, das Wasser zur Mittagszeit zum Kochen zu bringen. Die Lagerwelt erscheint als eine Welt der Halbtoten oder Toten; die Erzählung hebt mit einem Satz an, der die Häftlinge wie Gespenster erscheinen lässt: „Menschen tauchten auf aus dem Nichts – einer nach dem anderen.“95 Die Außenstelle ist demnach irgendwo in diesem Nichts.

94 Vgl. Thaidigsmann, Lagererfahrung und Identität, S. 72 f. 95 Warlam Schalamow, „Sentenz“, in: Erzählungen aus Kolyma 2, S. 285–294, hier: S. 285.

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Die Existenz des verbitterten Icherzählers ist aufs Äußerste bedroht. Aber er stirbt nicht; die leichtere Arbeit des Wassersieders ermöglicht eine minimale Pause, einen Zwischenzustand: Und mit dieser Erbitterung in mir dachte ich zu sterben. Doch der Tod, ganz kürzlich so nah, rückte allmählich von mir ab. Nicht durch Leben wurde der Tod ersetzt, sondern durch ein Halbbewußtsein, eine Existenz, für die es keine Formeln gibt und die man nicht Leben nennen kann. Jeder Tag, jeder Sonnenaufgang brachte die Gefahr eines neuen Todesstoßes. Doch der Stoß blieb aus.96

Der ausbleibende Tod, der Zwischenzustand des Häftlings, lässt ihn seine Arbeit wenigstens ansatzweise realisieren. Mit enormen Anstrengungen überwindet er die zweihundert Meter, der schwierige Boden gräbt sich in sein Körpergedächtnis ein, das wie immer bei Schalamow Überlebensfunktion und gleichzeitig Erinnerungsfunktion hat: „Ich erinnere mich noch heute an jede Vertiefung, jede Grube, jede tiefe Radspur auf diesem Todespfad.“97 Die anfängliche Bitterkeit des Häftlings, das Einzige, was noch in ihm lebt, wird von einer gewissen Gleichgültigkeit begleitet. Dann nimmt die Gleichgültigkeit überhand: „Immer gleichgültiger, ohne Erbitterung schaute ich auf die kalte rote Sonne.“98 Langsam erwachen die Sinne, er hört bewusst sein Stöhnen und Röcheln, empfindet Schmerz in den Muskeln: „Dann kam etwas anderes als Bitterkeit oder Erbitterung, etwas, was zusammen mit der Bitterkeit existierte. Es kamen Gleichgültigkeit – und Furchtlosigkeit. […] Mit dieser Gleichgültigkeit, mit dieser Furchtlosigkeit war eine kleine Brücke geschlagen hinaus aus dem Tod.“99 Die Furchtlosigkeit ist dadurch begründet, dass in der Außensiedlung nicht wie in den Bergwerken geschlagen wird; als paradoxe Konsequenz daraus kommt aber die Angst auf, wieder in die Grube geschickt zu werden. Überleben heißt, wieder physisch stärker zu werden, hat aber dann die erneute Gefahr der Grube, der Schläge und des Todes zur Folge – eben den Zyklus, auf den Andreew in Typhusquarantäne eingeht. Die Angst entwickelt sich zum Neid gegenüber den Toten, die diesen Zyklus endgültig verlassen haben, aber auch gegenüber den besser gestellten Mithäftlingen, die etwas zu kauen und zu rauchen haben. Kein Neid besteht hingegen gegenüber den Chefs, Einsatzleitern und Brigadieren. Diese leben in einer anderen Welt, die er für sich ausschließt. Die Liebe kommt nicht zurück: „Die Liebe kommt, wenn alle menschlichen Gefühle zurückgekehrt sind. Die Liebe kommt als letzte, kehrt als letztes zurück. – 96 97 98 99

Ebd., S. 286. Ebd. Ebd., S. 287. Ebd., S. 288 f.

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und kehrt sie überhaupt zurück?“100 Was aber zunächst zurückkehrt, ist das Mitleid mit den Tieren – situationsbedingt schneller als das mit den Menschen. Der Icherzähler ist mit dem Topographen unterwegs, sie haben sich zum Ausruhen auf eine Lichtung gesetzt und ein Dompfaff fliegt herbei, möglicherweise um das Weibchen zu beschützen, das Eier ausbrütet. Als der Topograph ihn erschießen will, schiebt der Icherzähler den Lauf zur Seite und macht sich nichts aus den Drohungen des Topographen: „Ich begriff: etwas Wichtiges war zu mir zurückgekehrt.“101 Nach diesem ethischen Ansatz wird die Wiederkehr der Sprache beschrieben, und zwar eines höheren Registers, einer höheren, reicheren Sprache, nicht der Sprache des Lagers und der Gruben.102 Seine Sprache war arm geworden, „arm wie die Gefühle, die um die Knochen noch lebten.“ „[M]it zwei Dutzend Wörtern kam ich schon seit Jahren aus. Die Hälfte dieser Wörter waren Flüche. […] Ich war glücklich, nicht nach irgendwelchen anderen Wörtern suchen zu müssen.“103 Und nun, schlagartig, wie eine Erleuchtung, entsteht in ihm ein neues Wort, ein Wort, das er selbst nicht versteht, genauso wenig wie seine Kameraden es verstehen, und das er hinausbrüllt, hinauslacht: „Sentenz! Sentenz!“104 So wie vorher vom Topographen wird er jetzt von allen als Verrückter, als Spinner angesehen. Die Rückkehr des Icherzählers ins Leben wird gekrönt durch einen Sprechakt, in dem ein Wort durchbricht, das aus einer ganz anderen Welt als der Lagerwelt kommt, aus einer kaum erinnerten Welt, zu der der Erzähler wieder zurückzufinden beginnt. Schalamow selbst prägte den Satz, der Autor solle nicht Orpheus sein, der in die Hölle hinabsteigt, sondern Pluto, der der Hölle entsteigt. Sprache wird als ein physisches Erlebnis gezeigt, sie wird geschrien und gelacht, sie entsteht fühlbar im Gehirn, „unter dem rechten Scheitelbein“105, sie erwacht zusammen mit dem ethischen Bewusstsein. Sie bricht hervor, nachdem der Häftling den Vogel wider allen Hunger gerettet hat. Und sie entsteht zusammen mit der Erinnerung; sie ist ein Neugeboren-Werden, ein Schöpfungsakt. Denn nachdem er dieses Wort aus der früheren, anderen Welt gefunden hat, ändert sich seine Perzeption der Welt und auch der Duktus der Erzählung. Der Fluss wird zum

100 Ebd., S. 289. 101 Ebd., S. 290. 102 Karoline Thaidigsmann beschreibt die Etappen der Rükkehr zum Leben und zur Sprache als parallell zum biblischen Schöpfungsbericht (Genesis 1, 1–2, 4a) in sieben Etappen und als Prozess, in dem Leben entsteht (Dies., Lagererfahrung und Identität, S. 79 f.). 103 Schalamow „Sentenz“, S. 291. 104 Ebd. 105 Ebd.

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Symbol des Lebens, zum Leben selbst; die lyrische Sprache erzeugt Symbolik der Natur und schafft Bezüge zum eigenen Leben: Der Fluß, der das von der Sonne ausgetrocknete, entblößte Bett verlässt und sich als kaum erkennbares Wasserfädchen irgendwo durch die Steine den Weg bahnt, seiner ewigen Pflicht gehorchend, als schmaler Bach, der schon keine Hoffnung mehr hat auf die Hilfe des Himmels – auf den rettenden Regen. Das erste Gewitter, der erste Regenguss – und das Wasser kehrt zurück in sein Bett, reißt Felsen nieder, wirft Bäume empor und stürmt rasend bergabwärts auf seinem ewigen Weg.106

Claudio Guillén hat auf die wichtige Funktion der Natur für die Exilierten hingewiesen. Wenn ein Exil die Vertreibung aus dem Raum und aus der Zeit bedeutet, könne man zwei Grundhaltungen der Exilierten definieren: die Nostalgie, die alles auf die Rückkehr setzt, wofür Ovids Haltung paradigmatisch sei, und der Versuch, Trost in der Natur zu finden, metaphorisch gesprochen in der Sonne, in der allumfassenden Natur Halt zu suchen; dafür sei Plutarch paradigmatisch.107 Die Situation der Exilierten der modernen Diktaturen, insbesondere die der Häftlinge der Lager im entferntesten Nordosten der Sowjetunion, ist offensichtlich unvergleichlich härter und macht die Möglichkeit des Zurückkehrens fraglich bis unmöglich, aber die Natur, bestimmte Elemente der Natur des hohen Nordens, die Flüsse und Pflanzen erfüllen auch in Schalamows Erzählungen die Funktion des Trostes: Sie werden symbolisch aufgeladen und haben lebensspendende Kräfte. Sie verweisen auf die Prinzipien des Lebens, die auch Prinzipien des menschlichen Lebens und Überlebens sind. Das Krummholz, für den Icherzähler der Erzählung gleichen Namens dessen liebster Baum im Norden, wird als Symbol für die Hoffnung angesehen. Es ist ein Baum besonderer Sensibilität für die Witterung, es ahnt den Schnee: „Die Natur hat feinere Empfindungen als der Mensch.“108 Wenn es noch Herbst ist und keine Spur von dem kommenden Winter zeugt, beugt es sich über den Boden, schmiegt sich an ihn und wird bald vom Schnee bedeckt. Wenn der Schnee noch drei Meter hoch liegt und noch nichts den Frühling spüren lässt, richtet es sich wieder auf und zeigt das Ende des Winters an: „Und da erhebt sich auf einmal aus dem unendlichen Weiß des Schnees, aus völliger Hoffnungslosigkeit das Krummholz.“109 Damit wird der Baum von einem Wetterpropheten zu einem Symbol der

106 Ebd., S. 292 f. 107 Vgl. Claudio Guillén, „El sol de los desterrados: literatura y exilio“, in: Ders. (Hrsg.), Múltiples moradas. Ensayo de literatura comparada, Barcelona 1998, S. 31–86. 108 Warlam Schalamow, „Das Krummholz“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 1, S. 222–224, hier: S. 223. 109 Ebd.

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Hoffnung: „Das Krummholz ist der Baum der Hoffnungen, der einzig immergrüne Baum des Hohen Nordens. Mitten im Schneegeglitzer sprechen seine mattgrünen Nadeltatzen vom Süden, von der Wärme, vom Leben.“110 Dass seine Nadeln zu Tatzen werden, gibt ihm lebendig-animierten Charakter. Schalamows Metaphern und Symbole gehen vom Körperlichen, vom Sinnlichen aus. In Über Prosa schreibt er, wie wichtig in seiner Prosa die Details sind, die symbolischen Charakter erhalten und auf einen Hintersinn verweisen. Und über die Erzählung schreibt er: „Das Krummholz ist nicht notwendig als Information zur Landschaft, sondern als Seelenzustand, den man für den Kampf in ‚Schocktherapie‘, in ‚Juristenverschwörung‘, in ‚Typhusquarantäne‘ braucht.“111 Damit drückt er aus, dass ihm Flora und Fauna als Übertragungsflächen für Emotionen dienen, und betont gleichzeitig deren Rolle in der Komposition und der Strukturierung des Zyklus der Erzählungen. Der Zustand der Häftlinge selbst ist hoffnungslos; Hoffnung erweist sich sogar als schädlich für das Überleben; Hoffnung wird auf die Natur übertragen. Wohlgemerkt aber: Die Natur erfüllt diese verweisende Funktion, offenbart ihren symbolischen Charakter nur dann, wenn der Häftling selbst schon begonnen hat, wieder im Leben zu stehen, wenn seine körperlichen Bedürfnisse wenigstens minimal erfüllt werden. So wird es in Sentenz dargestellt. Der Icherzähler in Sentenz hat bei der Rückkehr des Wortes sofort Angst, dieses Wort wieder zu vergessen. Als dies nicht der Fall ist, schlägt er selbst einen Schöpfungsakt vor, nämlich das Flüsschen, das er als Symbol des Lebens erfahren hat, in Sentenz umzubenennen. Mit diesem Wort ist im Laufe einer Woche seine Erinnerung an eine andere Welt zurückgekehrt. Sentenz verweist auf „etwas Römisches, Festes, Lateinisches“. Das antike Rom ist für ihn seit der Kindheit der Ort politischer Kämpfe, das antike Griechenland das Land der Kunst. Beide Perspektiven treffen auf die individuelle Situation des Häftlings im Lager zu: Der Kampf verweist auf die Gegenwart, die Kunst auf die Zukunft; sie wird durch die neu gewonnene Sprache möglich gemacht werden. Damit knüpft der Häftling an kulturelle Bezüge an und gewinnt eine gewisse Zeitordnung wieder, die ihn aus der allgegenwärtigen Präsenz des Lagers hinausführt und damit auch eine Perspektive auf die Zukunft hin entwirft. Die Rückkehr ins Leben und in die Sprache ist mit Freude, aber auch mit Angst besetzt: „Vor Angst, weil ich mich fürchtete vor der Rückkehr in jene Welt, in die es für mich kein Zurück gab. Vor Freude, weil ich sah, dass das Leben zu mir zurückkehrte, ganz ohne mein Zutun.“112 Es braucht eine längere

110 Ebd., S. 224. 111 Schalamow, „Über Prosa“, S. 27. 112 Schalamow, „Sentenz“, S. 293 f.

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Zeit, bis die Wörter wieder da sind, und auch dieser Prozess der kreativen Erinnerung ist körperlich: „Gedanken und Worte kehrten nicht als Strom zurück. Jedes kehrte einzeln zurück, ohne die Begleitung anderer bekannter Wörter und entstand zuerst auf der Zunge und dann – im Gehirn.“113 Der Schluss der Erzählung bringt eine weitere Steigerung der Lebenskraft, nämlich den Zugang zur Musik: [Der] Chef der Außenstelle ist aus Magadan angereist und hat ein Koffergrammophon auf einen Lärchenstumpf gestellt; daraus tönt symphonische Musik, und alle Bewohner der Außensiedlung, Mörder, Pferdediebe, Arbeiter, Aufseher […] laufen heran, um der Musik zu lauschen. Die Schellackplatte drehte sich und knisterte, und es drehte sich der Baumstumpf selbst, angekurbelt mit all seinen dreihundert Ringen, wie eine fest gespannte Feder, aufgezogen für ganze dreihundert Jahre[.]114

Die Bewegung hin zur Musik wird mit viel Dynamik beschrieben: Alle stürzen herbei. Der Icherzähler, noch nicht ganz fest auf den Beinen, muss humpeln und sich auf dem Weg den Berg hinab mit den Händen abstützen. Das Erlebnis der Musik schafft eine Gemeinsamkeit der Lauschenden, während die Benutzung einer Sprache, in der „Sentenz“ vorkommt, oder das Mitleid mit dem Vogel den Erzähler isolieren und ihn für seine Umwelt gar verrückt erscheinen lassen. Auf diese Weise endet der zweite Band mit einer Atempause; die Entwicklung hat vielleicht eine etwas höhere Stufe erreicht als bei „Typhusquarantäne“ am Ende des ersten Bandes. Sentenz thematisiert mit der Rückkehr zum Leben auch die Rückkehr der Sprache. Die dreihundert Ringe der Lärche, ihre dreihundert Jahre verweisen auf Zeiteinheiten, die ein Menschenleben übersteigen, und auf den immer rotierenden Zyklus der Natur, eine Struktur, an der sich auch die Erzählungen Schalamows orientieren. Die rotierenden Ringe der Schallplatte werden durch die Nadel zum Klingen gebracht. Wie aber kommen die Ringe der Lärche zum Klingen? Durch das Schreiben in der wiedergefundenen, wieder geschaffenen Sprache? Schalamows Zyklus scheint dies zu bestätigen. Die Lärche hat dort die symbolische Funktion des Überlebens der Erinnerung weit über die Lebenszeit des Menschen hinaus; sie steht als ein Zeichen des Überdauerns in der Natur, ist aber in dieser Erzählung ein Baumstumpf, ist also gebrochen. Der vierte und letzte Band der Erzählungen heißt in der deutschen Ausgabe Die Auferweckung der Lärche. Er besteht aus zwei Teilen; der erste endet mit der Erzählung, die dem Band den Titel gibt. Diese Erzählung schildert, wie ein

113 Ebd., S. 294. 114 Ebd.

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Lärchenzweig – von einem Mann, der im hohen Norden lebt und dessen Empfindsamkeit „nicht zerstört, nicht verdorben wurde durch Jahrzehnte Leben an der Kolyma“115, – nach Moskau an die Witwe des Dichters (Mandelstam) geschickt wird. Am Jahrestag seines Todes wird er in ein Glas mit Leitungswasser gesteckt, fängt wieder an zu grünen und Nadeln zu bekommen und wird somit zum Zeichen des Wiederauflebens der Erinnerung an den Norden. Der Zweig wird zu einem Symbol der Erinnerung; er verkörpert die Erinnerung an Jahrhunderte altes Leiden, weil die Lärche, von der er stammt, dreihundert Jahre alt ist und als Zeitgenossin von diesem Leiden zeugen kann: „[U]nd sie sieht, und sie schreit, dass sich nichts geändert hat in Russland – nicht die Schicksale, nicht die menschliche Bosheit, nicht die Gleichgültigkeit.“116 Die Lärche atmete in der Moskauer Wohnung, um die Menschen an ihre menschliche Pflicht zu erinnern, damit die Menschen die Millionen Leichen nicht vergessen – jene Menschen, die an der Kolyma umkamen. Der schwache, nachdrückliche Duft – das waren die Stimmen der Toten. Im Namen dieser Toten auch wagte es die Lärche zu atmen, zu sprechen und zu leben. Für die Auferweckung braucht es Kraft und Zuversicht. Auch ich habe einen Lärchenzweig in ein Glas mit Wasser gestellt: der Zweig ist vertrocknet, ist leblos, spröde, zerbrechlich geworden – das Leben hat sich daraus verflüchtigt. […] In der Wohnung des Dichters aber ist die Lärche im Glas mit Wasser aufgelebt.117

Die Lärche kann nur durch den Dichter zum Symbol der Erinnerung werden, nur durch ihn zum Sprechen gebracht werden; Erinnerung und Kunst hängen unwiderruflich miteinander zusammen. Dieser Zusammenhang von Erinnerung als menschlicher Pflicht und Kunst als Zeugnis für die Toten ist ein durchgehendes Grundmotiv von Schalamows Poetik. In dieser Erzählung erscheint die Lärche als direktes Symbol für Dichtertum und Erinnerung und enthält die Botschaft eines Wiederauflebens, einer Rückkehr. Der „Auferweckung der Lärche“ folgt als erste Erzählung des letzten Halbbandes Der Handschuh, der das Erinnern mittels der Hautmetaphorik aufgreift und zugleich eine Grabrede an die Helfer Schalamows darstellt. Der Band endet mit der Rückkehr nach Moskau. Die erste Erzählung, „Der Pfad“, handelt von einem Naturerlebnis, das man in den Kontext der Auferweckung der Lärche stellen kann. Dieses Ereignis ist sozusagen der Ausgangspunkt für die Möglichkeit der „Auferweckung der Lärche“. 115 Warlam Schalamow, „Die Auferweckung der Lärche“, in: Erzählungen aus Kolyma 4, S. 284–289, hier: S. 284. 116 Ebd., S. 286. 117 Ebd., S. 287.

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Geschildert wird der Pfad, den sich der Icherzähler von seiner einsamen Hütte aus zum Holzholen gebahnt hat. Er geht dabei sowohl an Krummholz wie auch an jungen, etwa hundertjährigen Lärchen entlang. Im Sommer wachsen eine Vielzahl von riesigen Blumen an dem Pfad, deren Wuchern er morgens beobachten kann. Im Unterschied zu den langlebigen Bäumen sind die Blumen vergänglich, nicht anders als Mensch und Technik: „Ein anderes Maiglöckchen ist schon für immer zerdrückt und liegt da wie ein umgekippter Telegraphenmast mit Porzellan-Isolatoren, und die zerrissenen Spinnweben hängen daran wie zerfaserte Leitungen.“118 Der Pfad lebt mit den Jahreszeiten, er wird nur vom Icherzähler und von Tieren benutzt, von blauen Eichhörnchen, Rebhühnern, Hasen, Vögeln … Der Erzähler bezeichnet ihn als Arbeitskabinett, weil er auf ihm Gedichte schreibt. Drei Jahre lang benutzt er ihn, und auch der Pfad gerät mit dem Vergehen der Zeit in den Prozess der Erinnerung. Der Icherzähler hinterlässt Spuren, die vom Schnee bedeckt und im nächsten Frühjahr wiedergefunden werden. Der Erzähler ist kein Häftling und kein dochodjaga mehr; er hat Bewusstsein vom Vergehen der Zeit und ist Herr über seinen Raum geworden. In dieser Situation ist Dichten möglich, und die lyrische Sprache der Dichtung kann auch in die Erzählprosa eindringen. Der Pfad wird zum Zauberpfad, weil er zum Dichten inspiriert: „[D]as Krummholz, die Lärchen und die Heckenrosenbüsche brachten stets ein Gedicht, und wenn mir nicht fremde Gedichte von entsprechender Stimmung einfielen, dann murmelte ich ein eigenes, das ich, zurück in der Hütte, aufschrieb.“119 Krummholz und Hoffnung, Lärche und Erinnerung, fremde Gedichte in der Erinnerung – Schreiben ist erst in diesem Kontext realisierbar, weil die physischen Bedingungen dafür erfüllt sind. Nach so vielen Jahren der gezwungenen Einengung in der Masse und der fehlenden Intimität findet der Erzähler seine Inspiration nur in der Einsamkeit. Als er nach drei Jahren Spuren eines Menschen auf dem Pfad entdeckt, ist dessen Zauberkraft vorbei, er kann dort keine Gedichte mehr schreiben: „Die fremde Spur war im Frühjahr hinterlassen worden, und den ganzen Sommer schrieb ich auf diesem Pfad keine einzige Zeile. Zum Winter wurde ich an einen anderen Ort versetzt, und es tat mir auch nicht leid – der Pfad war hoffnungslos verdorben.“120 In der ersten Erzählung des Zyklus, Durch den Schnee, treten Häftlinge mit großer Mühe einen Pfad in den Schnee; sie leisten eine schwere physische Arbeit; erst am Schluss stellt sich heraus, dass dies eine Metapher für den Schreibprozess ist. Auch der Pfad ist eine solche Metapher. Aber hier murmelt ein Icherzähler, der

118 Warlam Schalamow, „Der Pfad“, in: Erzählungen aus Kolyma 4, S. 11–13, hier: S. 12. 119 Ebd., S. 13. 120 Ebd.

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offensichtlich kein Häftling ist, Gedichte vor sich hin und braucht dafür die Einsamkeit. Über diesen Prozess schreibt er dann eine Erzählung, kein Gedicht. Aber eine Erzählung in der Sprache eines Gedichts. Ein weiteres Element aus der Natur ist der Graphit, Thema und Titel der nächsten Erzählung des Bandes. Auch er verbindet Erinnerung, Tod, Leben und Schreiben. Er ist das einzige Instrument, mit dem man in der Taiga schreiben kann; er wahrt die Erinnerung, weil in ihm die Lagerakten mit Daten geschrieben werden; er ist der Herr des Raumes, weil Topographen mit ihm die Karten malen. Letzten Endes werden aber die Karten gemacht, um die Herrschaft über den Raum zu dokumentieren, und diese Herrschaft hat letzten Endes den Zweck, Lager und Bergwerke zu bauen, die Natur auszubeuten, aus ihr Reichtum zu gewinnen um den Preis der Sklavenarbeit und ihrer unzähligen Toten. Die Vermesser der Taiga („die Vermessung der Kolyma, die Vermessung des Gefängnisses“121) schneiden Kerben in die Bäume um ihre Karten zu zeichnen, schlagen ihnen Wunden ein, die Narben, also körperliche Erinnerung hinterlassen. Baum, Diamant, Graphit: Diese Triade steht für Leben und Tod, Erinnern und Schrift. Auch für Leben, denn die Kerben in der Lärche weisen Wege auf, die letzten Endes in die weite Welt führen. Und für Tod, denn die Täfelchen an den Füßen der Toten sind mit Graphitstift beschrieben.

5.6 Wachtürme des Lagers: Moskauer Hochhäuser Technik hingegen wird im Lager für die Ausbeutung der Natur und des Menschen benutzt. In „Lend-Lease“ wird ein riesiger Traktor beschrieben, Geschenk der amerikanischen Regierung mit Lend-Lease-Technik, der zusammen mit allerlei gebrauchten Kleidungsgenständen und Konserven an die Lagerverwaltung gerät. Um die Kleidungsstücke zanken sich die Generalsgattinen, die Konservenbüchsen werden gestohlen und geraten nur in winzigsten Portionen in die Kochtöpfe für die Lagerhäftlinge. Die Technik, die ankommt, wird ausnahmslos nicht für die Erleichterung der Arbeit, sondern für eine massivere Ausbeutung benutzt. Genauso die Instrumente der Arbeit: Die Schaufeln werden mit handlichen kurzen Stielen plattgedrückt damit sie mehr Erde fassen können, die kurzen Stiele durch lange ausgewechselt. Der gelieferte Bulldozer wird als die Möglichkeit einer großen Erleichterung beim Rücken und Schleppen der riesigen Stämme angesehen für das sogar die Pferde auf Dauer zu schwach sind. Doch die Häftlinge gehen davon aus, dass ihnen diese Erleichterung mit einer Erhöhung der Norm beim

121 Warlam Schalamow, „Graphit“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 4, S. 14–20, hier: S. 15.

5.6 Wachtürme des Lagers: Moskauer Hochhäuser

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Holzfällen oder mit sonstigen Verschärfungen vergolten wird. Der geschenkte Bulldozer deutet auf die unmittelbare Nachkriegszeit und „Lend-Lease“ ist somit eine der Erzählungen, in denen die historische Zeit festzumachen ist. Er ist „ein Symbol des Sieges, der Freundschaft und von noch etwas anderem“122. Dieses andere ist es, was die Erzählung an ‚Hintersinn‘ verdeutlicht. Der Bulldozer wird tatsächlich eingesetzt. Er wird erst animalisiert: Seine Spuren sind die eines prähistorischen Tieres, es ächzt und hustet im Frost, es ist böse. Der Bulldozer wird von einem Häftling gefahren, aber von einem Kriminellen, einem Vatermörder. Die dreihundert zuschauenden Häftlinge sind neidisch auf ihn, unter ihnen sind bessere Traktorfahrer; aber sie sind alles „Achtundfünziger oder Kürzelträger“123, also politisch Verdächtige, die besonders hart bestraft werden. Die Vorherrschaft der Kriminellen in den Lagerstrukturen, die Tatsache, dass ihnen immer weitere Macht- und Organisationspositionen abgegeben werden in dem Maße, in dem die Situation der „Achtundfünfziger“ schlimmer wird, weil diese im Unterschied zu den Kriminellen und im Rahmen der Stalinschen ‚Säuberungsaktionen‘ nicht mehr als ‚umerziehbar‘ gelten, dass auf der anderen Seite die angeblich sozial umerziehbaren Kriminellen eigene mafiose Handels-, Raub-, Folter und Mordstrukturen entwickeln – dieser harte Kontrast ist eines der wichtigsten Elemente in Schalamows Analyse der Lager und hat weitreichende Konsequenzen für jene der politischen und gesellschaftlichen Situation der Sowjetunion zu seiner Zeit. Er widmet den vierten Teil der Erzählungen aus Kolyma (der zweite Teil des dritten Bandes in der deutschen Ausgabe) einer Analyse dieser Verbrecherwelt in der Kolyma: Skizzen der Verbrecherwelt. In „Lend-Lease“ ist es ein Vatermörder, der den Bulldozer fährt. Er fährt den Traktor zum Holzeinschlag. Aber zu seiner ersten Fahrt wird ihm eine andere Aufgabe zuteil. Die riesige Steingrube, die als Massengrab für tausende von im Dauerfrostboden der Kolyma erstarrten unverweslichen Leichen diente, ist aufgebrochen, die Leichen kriechen über den Hang, „vielleicht in der Absicht aufzuerstehen. […] Jetzt war der Berg entblößt und sein Geheimnis enthüllt“124. Auch die Steinbruchhöhle, der Dauerfrostboden ist in dieser Hinsicht ein Symbol für die Erinnerung. Er behält seine Geheimnisse: Der Stein, gewichen, besiegt und erniedrigt, versprach, nichts zu vergessen, versprach zu warten und das Geheimnis zu hüten. Die harten Winter, die heißen Sommer, Winde und Regen – hatten dem Stein in sechs Jahren die Toten genommen. Die Erde hatte sich aufgetan

122 Warlam Schalamow, „Lend-Lease“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 2, S. 273–284, hier: S. 278. 123 Ebd., S. 284. 124 Ebd., S. 282.

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und zeigte ihre unterirdischen Kammern, denn die unterirdischen Kammern der Kolyma bergen nicht nur Gold, nicht nur Zinn, nicht nur Wolfram, nicht nur Uran, sondern auch unverwesliche menschliche Körper.125

Und er gibt die Toten dann preis, ruft sie wieder in die Gegenwart zurück. Der Tod hat im Lager seine Aura verloren, ist von allen Ritualen entblößt worden. Der Icherzähler hat die Toten aus der Ferne mit Baumstümpfen und Holz verwechselt: Er hat „diese wandernden, an den Baumstümpfen, den Stämmen hängenden Gegenstände gesehen, sie durch den schütteren ausgeholzten Wald gesehen und für Stämme gehalten, noch nicht gerückte Stämme“126. Die Toten, dem Holz der Lärche ähnlich, werden vom Stein aufbewahrt und kehren zurück, sie kehren regelrecht und wörtlich zurück, sie lassen sich nicht vergessen. Im Unterschied zu den Blüten des Sommers, zum Gras und zu den lebenden Menschen vergessen der Permafrostboden, der Stein, die Lärche nicht. Ein riesiges neues Massengrab ist aufgeworfen worden, für tausende von Leichen. Die Arbeit des Bulldozers ist es, die Leichen zusammenzuschieben und dorthin zu bringen. Die industrielle Technik steht also im Dienst der Optimierung der Ressourcen, das heißt in diesem Fall der Verscharrung der Vernichteten; damit auch ihr Vergessen. Von einem Mörder gefahren, werden der Bulldozer und der Mörder zu Komplizen des Unterdrückungsapparates, in dessen Dienst sie stehen, der Lagerverwaltung und letzten Endes der politischen Kräfte in Moskau, die für die Lager verantwortlich sind. Der lapidare letzte Paragraph der Erzählung stellt es klar und konstatiert die Verquickung von Staatsapparat und Verbrechermilieu:127 Die Arbeit ist getan, Steine und Schotter sind auf das neue Grab geschaufelt, und die Toten waren unter den Steinen verborgen. Aber nicht verschwunden. Der Bulldozer näherte sich uns. Grinja Lebedjew, bytowik, Vatermörder, schaute uns – die Kürzelträger, die Achtundfünfziger – nicht an. Grinja Lebedjew hatte einen staatlichen

125 Ebd. 126 Ebd. 127 Dazu Michail Ryklin, „Lager und Krieg. Die Geschichte der Besiegten nach Warlam Schalamow“, in: Schalamow, Künstler der Schaufel, Erzählungen aus Kolyma 3, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), Berlin 2010, S. 535–549, hier: S. 542: „Die Ganoven wurden von umerziehungsbedürftigen Verbrechern zu Verbündeten des neuen Gesetzes. Eben mit Hilfe dieser Handlanger, so Schalamow immer wieder, machte der NKWD 1938 seine Abrechnung mit den ‚Trotzkisten‘, der letzten organisierten Opposition gegen Stalins Regime. Anders gesagt, hatten die Ganoven ihr Mandat für die Herrschaft über die Welt des Lagers von Stalins Führung erhalten, die sie zu ‚sozial nahestehenden‘ erklärte.“ In diesem Sinne ist die Ganovenwelt der Lager spezifisch neuartig und perverser als die alte Verbrecherwelt der Romane aus dem 19. Jahrhundert, als die Figuren Dostoievskys und Tolstois, die Schalamow als romantisch und unangebracht für die Realität der stalinschen Lager kritisiert.

5.6 Wachtürme des Lagers: Moskauer Hochhäuser

239

Auftrag übertragen bekommen, und er hatte diesen Auftrag gemeistert. Dem steinernen Gesicht Grinja Lebedjews war der Stolz eingemeißelt, das Bewußtsein einer erfüllten Pflicht. Der Bulldozer donnerte an uns vorüber – auf dem Spiegelschild war kein einziger Kratzer, kein einziger Fleck.128

Die Technik steht im Dienst der Rationalisierung der Vernichtung und ihres Vergessens; kein einziger Kratzer, kein einziges Zeichen deutet auf die gerade realisierte Arbeit, auf die industrielle Verscharrung im Massengrab. Aber die Toten sind weiterhin da, im Stein bewahrt, durch das Schreiben mit Hilfe des Steins, der Lärche, des Dauerfrostbodens wieder in die Erinnerung gebracht. Die Erzählung selbst rechtfertigt das prägnante Urteil, das in ihr gefällt wird. Die Stacheldrahtzone mit Wachtürmen, die die Lager umzäunen, erinnern an die Moskauer Architektur, die Realität der historischen Zeit wird von den Türmen der Lager bewacht. In ihnen hat die Welt der Ganoven, der Kriminellen, einen bevorzugten Stand: Die Moskauer Hochhäuser sind die Wachtürme, die die Moskauer Häftlinge bewachen – so sehen diese Gebäude aus. Und was war zuerst da – die Kreml-Wachtürme oder die Lagertürme, die der Moskauer Architektur als Vorbild dienten? Der Turm der Lagerzone – das war die zentrale Idee der Zeit, von der Bausymbolik glänzend ausgedrückt.129

Dass die Technik (mit Ausnahme der medizinischen) zur Ausbeutung dient, wird in verschiedenen Erzählungen zu Wort gebracht. Es zeigt sich darin auch eine spezifische Ambivalenz zwischen dem Archaismus der Umstände und den Arbeitsbedingungen, die der Sklavenarbeit an den ägyptischen Pyramidenbauten verglichen werden können, auf der einen Seite,130 und der modernen Technik auf der anderen. In „Ingenieur Kisseljow“131 wird ein parteiloser, kultivierter und belesener Ingenieur beschrieben, der freiwillig in den fernen Osten zu einem dreijährigen Dienst gekommen ist und noch in verschiedenen anderen Erzählungen auftritt. Er übertrifft Häftlinge und Aufseher an Sadismus, erweist sich als ein Menschenschinder und stirbt schließlich von eigener Hand, indem er sich bei der Verfolgung eines Diebes versehentlich selbst einen Bauchschuss zufügt. In der Erzählung wird eine Hydraulik beschrieben, die schon beim Pyramidenbau benutzt wurde. Im alten Ägypten wurden dabei Pferde zum Transport schwerer Lasten benutzt. In der Kolyma werden Menschen eingesetzt, weil Pferde dabei

128 Schalamow, „Lend-Lease“, S. 284. 129 Ebd., S. 283. 130 Zum „ägyptischen Themenkomplex“ in der modernen russischen Literatur und den Verweisen dazu bei Schalamow vgl.: Kissel, „Pluto, nicht Orpheus“, S. 416–419. 131 Warlam Schalamow, „Ingenieur Kisseljow“, in: Ders., Erzählungen aus Kolyma 3, S. 98–111.

240

5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenes Dokument

zugrunde gehen. Und es geht dabei nicht um Pyramidenbau, sondern um die Gewinnung von Gold oder Uran. Den Toten der Massengräber widmet Schalamow mit seinen Erzählungen eine eigene Grabrede. Viele der Erzählungen können als Grabreden fungieren. Eine hat sogar diesen Titel und den direkten Anspruch, es zu sein. Es handelt sich um die zweite Erzählung des dritten Bandes, „Der Künstler der Schaufel: Grabrede“. Sie ist gleichzeitig Rede und Grab, in ihr werden viele Häftlinge mit Namen und kurzer Biographie aufgelistet; individuell und in der Erinnerung aufgehoben, im Schreiben vom Massengrab befreit. Jeden von ihnen verbindet etwas mit dem Icherzähler, meistens eine Hilfsgeste, die dem Erzähler das Überleben ermöglicht hat. Die Verschüttung der Erinnerung an die Lager in der Zeit des Schreibens, den 60er und 70er Jahren, wird auch in der Erzählung „Das Akademiemitglied“ lakonisch und anscheinend beiläufig zum Thema gemacht. In ihr wird ein Interview beschrieben, das ein Journalist mit einem bedeutenden Akademiemitglied, augenscheinlich der Akademie der Wissenschaften, in Bezug zur Raumschifffahrt macht. Vom Journalisten wird erwähnt, dass er zwanzig Jahre früher ein besonders guter gewesen sei, und auch seine körperliche Gebrechlichkeit wird genannt. Er habe zum Beispiel Drehschwindel – wie Schalamow selbst. Die Erzählung offenbart die Komplikationen und Verzweigungen der Zensur und der Bürokratisierung des wissenschaftlichen Lebens, Ironie und sogar Groteske spielen eine Rolle. Das namenlose Akademiemitglied betreibt Wissenschaft offenbar mit politischen Interessen, ist wendig in seinen Theorien. Vor Jahren hat es gegen die Kybernetik gewütet, jetzt betont es ihre Wichtigkeit. Das Interview steht im Zusammenhang mit dem Start des Sputniks. Vergleiche werden gezogen zwischen dem Journalisten, Golubew, und dem gleichaltrigen Akademiemitglied: der gealterte Golubew und das jugendlich dynamische Akademiemitglied, die jünger blitzenden Augen Golubews, die blanken und lebhaften des Akademiemitglieds. Unter den vielen Nippes und Porzellanfiguren hat das Akademiemitglied bezeichnenderweise einen Mephisto-Kopf als Aschenbecher. Als er fragt, ob Golubew der gleiche Golubew sei, der in den 30er Jahren viel gelesen und bekannt war, verneint Golubew dies: Dieser sei im Jahre 38 gestorben. Beim Abschied hat Golubew Mühe, seinen linken Arm in den Mantelärmel zu stecken und errötet. Die Erzählung endet lapidar mit der teilnahmsvollen Frage des Akademiemitglieds: „‚Der Krieg?‘ ‚Nicht ganz‘, sagte Golubew. ‚Nicht ganz‘. Und er trat hinaus auf die Marmortreppe. Die Schultergelenke hatte man Golubew bei Verhören im Jahr achtunddreissig zerrissen.“132

132 Schalamow, „Das Akademiemitglied“ in Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2, S. 65–76, hier S. 76.

5.6 Wachtürme des Lagers: Moskauer Hochhäuser

241

Die – unbequeme – Erinnerung an die Lager wird durch die Erinnerung an den – heroischen – Krieg bedeckt, verschüttet. In den Erzählungen aus Kolyma spielt der Krieg keine weitere Rolle, außer dass er die Umstände in den Lagern noch weiter verschlechtert. Auch das Ende des Krieges, der Sieg, wird nicht weiter beachtet. In den Erzählungen „Juni“ und „Mai“ im Künstler der Schaufel werden der Ausbruch und das Ende des Krieges beiläufig angesprochen: Niemand interessiert sich dafür, die Häftlinge sind mit dem nackten Überleben beschäftigt. Schalamow selbst hat in Über Prosa zur Bedeutung des Lagerthemas und seinem Verhältnis zum Krieg geschrieben: Ist denn die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat? Diese Frage ist viel wichtiger als die Frage des Krieges. Der Krieg spielt hier in gewissem Sinn die Rolle einer psychologischen Tarnung (wir wissen aus der Geschichte, dass der Tyrann sich während des Krieges dem Volk annähert). Hinter der Kriegsstatistik, jeder Art von Statistik, will man das Lagerthema verstecken.133

Und in einen Brief an Natalja Stoljarowa schreibt er: „Die Bemerkung ist sehr präzise und richtig, dass es für die Statistik günstig war, den Lagertod und den Tod an der Front zusammenzumischen, in den Lagern gab es viel mehr Tote.“134 Die offizielle, heroische und siegreiche Erinnerung an den Krieg verdeckt die Erinnerung an die Toten der Lager. Auch deshalb schreibt Schalamow die Geschichte der Besiegten, erinnert an sie. Es geht auch bei ihm um Zeugnisliteratur, die eine Extremsituation behandelt und die gegen das Vergessen kämpft. Sein Schreiben steht zwischen Dokumentation und ästhetischer Verarbeitung, zwischen Autobiographie und (Auto)Fiktion, zwischen dem Jetzt des Schreibens und dem Damals des Erlebens, zwischen dem Körper und der Sprache des Schreibens und dem Körper und der Sprache des vergangenen Erlebens. Lakonie und aus den Details gewonnene Symbole bestimmen das Erschreiben seiner Diktatur- und Lagererfahrung.

133 Schalamow, „Über Prosa“, S. 30. 134 Schalamow, „Brief an Natalja Stoljarowa“, S. 82.

6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung Diktaturen nach 45 6.1 Vergangenwart der Gegenheit: Das Nachthemd der Inge Wenzel Das Nachhinein schert sich nicht um die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart. Die erinnerte Zeit von damals und die heutige, die ja an jedem nächsten Tag schon erinnerte ist, streunt nicht chronologisch durchs Gedächtnis, sondern als Facetten von Dingen. Es treffen immer neue Details aufeinander, sie paaren sich neu, sehen in jeder Paarung anders aus. Im Kopf marodiert das unterste Ausmaß der Dinge. Das Nachhinein ist angesichts dessen, was man darüber zu wissen glaubte, unverschämt neu. Das unterste Ausmaß feilscht mit der Gegenwart genau um das, was seinerzeit des Tuns nicht nötig und der Rede nicht wert gewesen ist. Die Mischung mit der Gegenwart legt hämisch die dritte, fünfte oder zwanzigste Facette der früheren Zeit frei, das unscheinbar versteckte Fadenzeug, welches damals zu weit hinter oder zu weit vor den Augen lag. Das Erinnern hat seinen eigenen Kalender: Lange Zurückliegendes kann kürzere Vergangenheit als gestern Geschehenes sein. Ich könnte sagen: Ich treffe meine Vergangenwart in der Gegenheit im Hin und Her von Anfassen und Loslassen.1

Mit den neuen und in Form eines Chiasmus gebildeten Wortkomposita Vergangenwart und Gegenheit bezieht sich Herta Müller auf die Erinnerung im komplexen Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, spielt auf die Konstruktion der Erinnerung aus der Gegenwart an, aber hält dabei an der Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart fest. Sie beschreibt diese Konstruktion im spielerischen Bild von Anfassen und Loslassen. Als Beispiel erzählt sie die Geschichte des Bildes, das als Werbung für Urlaubsreisen in den Abteilen vieler Züge der Bundesbahn in den 90er Jahren hing: Es zeigte eine schlafende Frau im Schlafwagen mit dem Untertitel „Inge Wenzel auf dem Weg nach Rimini“. Inge Wenzel trug ein weißes Nachthemd mit Trägern; ein ähnliches hatte die Großmutter für Herta Müller genäht, als sie zum Studium in die Stadt ging. Die drei Finger breiten und am Rande gehäkelten Träger kamen dadurch zustande, dass der Stoff für ein längeres Nachthemd nicht reichte und ein kurzes als unanständig galt. Herta Müller hatte dieses als dörflich und verkrampft empfundene Nachthemd nie angezogen und trifft nun auf Inge Wenzel mit banatschwäbischem Nachthemd in

1 Herta Müller, „Einmal anfassen – zweimal loslassen“, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, Frankfurt a.M. 2009, S. 107.

6.1 Vergangenwart der Gegenheit: Das Nachthemd der Inge Wenzel

243

bundesdeutschen Zügen. Ein solches Nachthemd hatte aber auch auf einer traumatischen, lebensbedrohlichen Zugreise zwischen Temeswar und Bukarest eine Rolle gespielt, und das bundesdeutsche Bild erweckt schlagartig die Erinnerung daran. In Bukarest sollte sich Herta Müller damals mit ihrer Westberliner Lektorin treffen; ein Buchmanuskript und Briefe an Amnesty International waren im Spiel. Der Geheimdienst versuchte die Reise zu verhindern, indem zwei Männer sie auf dem Bahnsteig terrorisierten, ihre Tasche durchsuchen wollten, in der zwar kein Manuskript lag – dieses war schon einen Tag früher durch einen Freund befördert worden –, aber doch die Briefe, und versuchten ihr das Einsteigen handgreiflich zu erschweren, sogar zu verhindern, indem sie sie schubsten und zu Fall brachten, wobei sie sie aber letztlich, nachdem Herta Müller unbeirrt weiter auf das Abteil zuging, doch einsteigen ließen und ihr sowohl die Fahrkarte als auch den Personalausweis zurückgaben. Die Undurchschaubarkeit und Willkür der ganzen Aktion terrorisierten Herta Müller; der Gedanke, dass sie in der Nacht heimlich aus dem Zug geworfen und das ganze als Suizid inszeniert werden könnte, war für sie naheliegend. In dieser Verfassung gelangte sie in ihr Schlafwagenabteil. Dort hielt sich schon eine Frau mit einer hohen Haarknotenfrisur auf, die sich nicht weiter um sie kümmerte und gerade ein solches weißes Nachthemd mit Trägern anzog. Mit der Metonymie „Teekannenfrisur“ wird die Frau im Text distanziert und zum lächerlich-harmlosen Objekt gemacht, – im Nachhinein, als es sich erwiesen hat, dass sie harmlos war. Trotzdem hat sie eine drohende Präsenz, die Überlegung, ob sie eine Gehilfin der Geheimdienstler für einen inszenierten ‚Suizid‘ sei, hält Herta Müller wach. Die Todesängste, die sie während der Reise aussteht, bleiben ihr in Erinnerung: „Wegen des weißen Nachthemds der INGE WENZEL AUF DEM WEG NACH RIMINI ging mir auf der Fahrt nach Marburg die Nachtreise mit der Todesangst durch den Kopf.“2 Damit beschreibt Herta Müller einen Vorgang der unwillkürlichen Erinnerung, der mémoire involontaire, der von einer traumatischen Erfahrung ausgelöst wird. Die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart wird von einem Erinnerungsbild erzeugt, das sich an einem Objekt, einem weißen Nachthemd mit gestickten Trägern, festgesetzt hat. Es handelt sich damit gleichzeitig um ein reales Bild, um ein Erinnerungsbild und um ein Erinnerungsobjekt, um einen (privaten) Erinnerungsort, der die traumatische Vergangenheit in die Gegenwart versetzt und sie radikal präsent macht. Das Nachthemd von Inge Wenzel verweist im Laufe des Betrachtens auf verschiedene ähnliche Nachthemden, die alle mit der Unterdrückung in der Vergangenheit zu tun haben: Vor ihrer Auswanderung verkauft Herta Müller sowohl das großmütterliche banatschwäbische als auch ein

2 Ebd., S. 119.

244

6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

kurzes, spitzenbesetztes, genauso ungetragenes, geschenktes, horrendes Nylonnachthemd mit Hilfe eines Freundes auf dem Flohmarkt. Der Freund wird zwei Jahre danach und ein halbes Jahr vor dem Sturz Ceauşescus erhängt in seiner Wohnung gefunden, die Autopsie wird verweigert, die offizielle Todesursache ist Suizid. Auch dieser Tod baut sich als Erinnerung in das weiße Nachthemd der Inge Wenzel ein: Inge Wenzel, die auf dem Weg nach Rimini an der Abteilwand über den Sitzen im Auftrag der Deutschen Bahn schlief, wusste nicht, dass man im Auftrag aus dem Schlaf geholt und gestorben werden kann. Dass dies in dem Land, aus dem ich kam, eine gängige Variante des inszenierten Selbstmords war.3

So bestimmen die Dinge das Aufkommen der Erinnerung, ihr mehr oder weniger zufälliges Auftreten bestimmt das Aufblitzen der Vergangenheit. Sie füllen sich mit Inhalt und erhalten ein eigenes Leben, sie werden zu Metaphern oder gar Symbolen der Vergangenheit, die aus dem eigenen Erleben stammen. Ohne Inge Wenzels Nachthemd hätte Herta Müller sich (vielleicht) auf dieser Reise nicht an die anderen Nachthemden erinnert, und ihre Betrachtung von Inge Wenzels Nachthemd wird durch die vorherigen Nachthemden bestimmt. Das Nachthemd wird zu einem persönlichen Symbol von Spießertum und missratener Erotik, Lebensunterdrückung und Todesangst. Es greift über die Zeiten hinweg, es überrumpelt: „Frappierend wie Überfälle schleppen die Gegenstände von jetzt meine Geschichten von damals herbei. […] Nur ohne Gegenwart könnte ich im Kopf ohne Vergangenheit sein.“4 In einem Kolloquium an der Universität Barcelona im Juni 2012 bejahte Herta Müller die Frage, ob sich die Erinnerung in den Dingen festsetzt, ob die Gegenstände die Vergangenheit durchscheinen lassen, und erzählte die gleiche Geschichte, nun direkt als Erzählung einer traumatischen Vergangenheit, die sich in der Gegenwart präsent macht. Dabei schlich sich aber auch ein gewissermaßen erlösendes Element in das Nachthemd ein. Die Erzählung, nun, viele Jahre später, vor Publikum gesprochen statt geschrieben, weist einige Varianten auf: Die Unheimlichkeit und das Bedrohliche der Situation sind weiterhin präsent. Dass die Fahrkarte ihr vom Schaffner statt von den Geheimdienstlern zurückgegeben wird, macht keinen großen Unterschied an undurchschaubar Bedrohlichem aus; es wirkt möglicherweise sogar noch bedrohlicher. Die Todesangst vor einem inszenierten Suizid steht im Vordergrund, aber die Bedrohlichkeit des Nachthemdes ist verschwunden. Das Spießige des Kleidungsstücks schließt aus, dass

3 Ebd., S. 121. 4 Ebd., S. 122.

6.2 Die Wahrheit der erschriebenen Erinnerung

245

die Frau zum Geheimdienst gehören könne.5 Die beunruhigende Wirkung des Bildes ist entsprechend ‚exorzisiert‘ worden, indem Herta Müller es von einem Bahnabteil abgenommen und in ihre Wohnung mitgenommen hat. So hat sie das Erinnerungsbild sozusagen ‚gezähmt‘, in den Griff bekommen – mit einer Handlung und mit dem Vergehen der Zeit. Vielleicht sollte aber beachtet werden, dass es die Handlung ist, die das Erinnerungsbild ‚zähmt‘, nicht der geschriebene, in der Zeit festgehaltene Text! Im Text bleibt das beunruhigende Potential bestehen. Im Text wird das Nachthemd metaphorisiert und dient als Konstruktionselement für die Erinnerung: für die Beschreibung der Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, für die Katapultierung des Einen in das traumatisierte Andere.

6.2 Die Wahrheit der erschriebenen Erinnerung Es ist seltsam mit der Erinnerung. Am seltsamsten mit der eigenen. Sie versucht, was gewesen ist, so genau wie nur möglich zu rekonstruieren, aber mit der Genauigkeit der Tatsachen hat dies nichts zu tun. Die Wahrheit der geschriebenen Erinnerung muss erfunden werden, schreibt Jorge Semprún. Und Georges-Arthur Goldschmidt nennt seine Bücher „autofiktional“. Erinnerung setzt sich anders zusammen als die Tatsachen von damals. Manches ist beiläufig, anderes jedoch schwerer und wichtiger, stellt sich deutlicher heraus als damals, während es geschah. Das Gewicht der Einzelheiten und ihre Aufeinanderfolge gehen eigene Wege durch den Verstand.6

Herta Müller bringt die Wahrheit der Erinnerung mit ihrem Erschreiben, nicht mit der Rekonstruktion der Vergangenheit in Zusammenhang. Wenn sie dabei vom „Erfinden“ spricht, betont sie damit die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, von Erleben und Nachdenken, betont die Wichtigkeit des Poetischen, des Künstlerischen, aber auch das Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Erfahrungswelt, verweist auf ihr Prinzip der ‚erfundenen Wahrnehmung‘7, das man auch in Verbindung mit der Erinnerung setzen kann. Schon sehr früh schreibt sie:

5 Vgl. Kolloquium mit Herta Müller, Aula Magna der Universitat de Barcelona, 27.06.2012. Abrufbar unter: http://www.ub.edu/ubtv/video/colloqui-amb-la-premi-nobel-de-literatura-herta-muller (Stand: 30.08.2013). 6 Herta Müller, In der Falle, Göttingen 1990, S. 21. 7 Herta Müller kreiert diesen Begriff für sich in: „Wie Wahrnehmung sich erfindet“ in: Dies., Der Teufel sitzt im Spiegel, Berlin 1991, S. 9–32.

246

6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

Ich merke an mir, dass nicht das am stärksten im Gedächtnis bleibt, was außen war, was man Fakten nennt. Stärker, weil wieder erlebbar im Gedächtnis, ist das, was von innen kam, angesichts des Äußeren, der Fakten. Denn das, was von innen kam, hat unter den Rippen gedrückt, hat die Kehle geschnürt, hat den Puls gehetzt. Es ist seine Wege gegangen. Es hat seine Spuren gelassen.8

Somit bleibt in unserem Gedächtnis eher das, was von den Fakten ausgelöst wird, und zwar ganz konkrete physische Empfindungen, die auf Gefühle wie zum Beispiel Angst verweisen. Es sind die körperlichen Spuren, die im Gedächtnis bleiben, sie machen das Erlebte wiedererlebbar, nicht als abstraktes Gefühl, sondern konkret als ‚Wiedererleben‘. Das Gedächtnis ist auch hier physisch präsent; der Körper ist untrennbar mit dem Akt des Erinnerns und damit des Schreibens, des Denkens und Nachdenkens verbunden. Es behindert das Reden; das, was von innen kommt, schnürt bezeichnenderweise die Kehle zu.9 Und in Diktaturen darf man ohnedies nicht (frei) darüber reden. Reden geht zusammen mit Erleben; Schreiben ist ein späterer Prozess, der sozusagen von der verschnürten Kehle ausgeht. Das Schreiben zielt bei Herta Müller nicht auf eine Simulation, sondern auf eine sprachliche Bearbeitung der (vergangenen) Wirklichkeit – eben eine solche, die dieser Wirklichkeit gerecht wird. Es geht dabei um Literatur und um Wahrheit, um eine Konstruktion, in der das künstlerische Verfahren hervorgehoben wird. Ein Verfahren, dessen Sprache von erlebten Traumata ausgeht, sowohl in den Bildern wie auch in den narrativen Strategien. Schreiben ist zwar das Gegenteil von Leben, aber nicht das Gegenteil von Denken, von Nachdenken. Herta Müller benutzt den Begriff „autofiktional“, um ihre Werke zu charakterisieren. Dabei nimmt sie den Begriff ganz wörtlich; in Barcelona erklärte sie ihn folgendermaßen: Also das ist für mich genau das Wort, was die Dinge wirklich beschreibt. Es geht natürlich um eigenes Erleben, aber es funktioniert nicht eins zu eins. Ich glaube, das, was man erlebt hat, lässt sich nicht eins zu eins in Sprache übertragen, weil die Sprache ein völlig künstliches Metier ist und Sprache etwas ganz anderes ist als das Erlebte. Außerdem ist es zeitlich versetzt: Man schreibt ja nicht, während man etwas erlebt, sondern man schreibt es danach; egal wie spät danach oder wie schnell danach. Es ist immer danach. Also muss es immer rekonstruiert werden, und zwar durch Sprache; oder vielleicht sogar konstruiert durch Sprache. […] Ich habe öfter schon gesagt: Ich habe vielleicht Dutzende Verhöre erlebt beim Geheimdienst. Ich habe aber nie ein Verhör aufgeschrieben, wie es wirklich war… sondern…

8 Ebd., S. 10. 9 Dazu und zur Sprache des Traumas: Lyn Marven, Body and Narrative in Contemporary Literatures in German. Herta Müller, Libuše Moníková, and Kerstin Hensel, Oxford University Press, 2005, S. 59 f.

6.2 Die Wahrheit der erschriebenen Erinnerung

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Weil ich die erlebten Verhöre kenne, traue ich mich Verhöre zu erfinden. Weil ich die Gewissheit habe, dass ich das in der Sprache nicht falsch mache, auf Grund des Erlebten, was ich im Kopf habe.10

Autofiktion heißt für Herta Müller ganz konkret Fiktion, die aus dem eigenen Erleben hervorgeht, danach Handlung und Figuren in den Romanen entwirft und auch Metaphern für sie schafft. Mit „autofiktional“ kann man ein Schreiben definieren, das weitgehend aus der eigenen Biographie entsteht, aber sich von der Autobiographie unterscheidet, indem es die Lebensgeschichte als etwas behandelt, was zu erfinden ist, und ihren Wahrheitsanspruch nicht aus einer Rekonstruktion des angeblich Gewesenen bezieht, sondern, jenseits davon, aus den – von der Wiederlebbarkeit des Erinnerten bestimmten – literarischen Verfahren.11 Diese Wiedererlebbarkeit wird durch den Körper, die Bilder, die Dinge bestimmt, die die Erinnerung aufrufen, sie geradezu katapultieren. Bezeichnend ist für Herta Müller, dass sie neben ihren Romanen und Erzählungen ein sehr reiches essayistisches Werk vorgelegt hat, in dem sie auf ihre Poetik und auch auf Autoren, die ihr wichtig sind, eingeht. In ihrer Bonner Poetik-Vorlesung, die in dem Band In der Falle veröffentlicht ist, geht sie auf Werke von Theodor Kramer, Inge Müller und Ruth Klüger ein, alles Autoren, die sich im Kampf ums Überleben unter Diktatur und Gewalt, im Lager und im Krieg auf die Literatur gestützt haben und die versucht haben, Bedrohung, Schmerz und Beschädigung auszudrücken. Die Überlegungen, die Herta Müller auf deren Werke bezieht, können in großem Maße auch auf ihre eigenen Texte und auf ihre Konzeption von Literatur projiziert werden. Eine fundamentale Rolle spielen darin der ethische Anspruch der Erinnerung, ihre Notwendigkeit und auch die Gefährdung, die Beschädigung durch sie. Denn die Erinnerung macht das Trauma wieder präsent, erlebt es wieder. Die Gefahr, daran zu zerbrechen, bleibt und wird durch die Literatur nicht gebannt. Auch in Müllers Texten geht es darum, eine Sprache für Schmerz, Bedrohung, Erleiden von Gewalt und Beschädigung, für das unsäglich (Un)Sagbare zu finden. Der ethische Anspruch der Erinnerung geht zusammen mit dem ethischen Anspruch des Widerstandes, der Opposition, der Freiheit als Gegenteil von Willkür, als individuelle Option gegenüber dem Kollektiv. Auch das Lesen ist für Herta Müller durch die eigene Biographie bestimmt.

10 Kolloquium mit Herta Müller, Aula Magna der Universitat de Barcelona, 27.06.2012. Abrufbar in: http://www.ub.edu/ubtv/video/colloqui-amb-la-premi-nobel-de-literatura-herta-muller (Stand: 30.08.2013) 11 Zur Autofiktionalität bei Herta Müller vgl.: Barbara Breysach, „Räume der Gewalt – Poesie der kleinen Räume. Herta Müller in der frühen Prosa und neueren Essayistik“, in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, 2 (56), München 2007, S. 144–158.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

Lesen geschieht im Zusammenhang mit dem Leben; sie liest, wie sie sagt, von der Hand in den Mund, im Versuch, leben zu lernen. Wenn man aber liest, was sie über die Autoren schreibt, die für sie wichtig sind, bemerkt man auch, wie sie an ihnen eigene Verfahrensmuster analysiert: „In meinem Fall könnte man statt LESEN immer LEBEN sagen, es ändert sich sowieso nur ein Buchstabe. So wie vom SCHREIEN zum SCHREIBEN nur einer dazukommt.“12

6.3 Leben unter Diktaturen Herta Müller wird 1953 im banatschwäbischen Nitzkydorf in Rumänien geboren. Der deutschsprachigen Minderheit angehörend, wächst sie in einem sehr bewusst traditionsgebundenen, von ihr als extrem bedrückend empfundenen landwirtschaftlichen Umfeld auf. Der Großvater war Getreidehändler und betrieb einen Kolonialwarenladen; sein Landbesitz und sein Laden wurden von der kommunistischen Regierung konfisziert bzw. kollektiviert. Der Vater, der den Krieg als Mitglied der Waffen SS mitmachte, arbeitet nach dem Krieg als Lastwagenfahrer. Er trinkt und trauert im Suff der Kriegszeit mit militärischen Liedern nach. Die Mutter wurde im Januar 1945 für fünf Jahre in Zwangsarbeitslager in die Ukraine deportiert und überlebt mit Mühe den Hunger und die Schwerstarbeit dort. Als im Sommer 1944 die Rote Armee nach Rumänien vorgerückt war, wurde der faschistische Diktator Antonescu gestürzt, verhaftet und hingerichtet. Rumänien kapitulierte und erklärte dem bis dahin verbündeten Nazideutschland den Krieg. Ab Januar 1945 wurden die in Rumänien lebenden Deutschen – Männer und Frauen im Alter von 17 bis 45 Jahren – zum Wiederaufbau in die Sowjetunion zwangsverschleppt. Die meisten Frauen im Dorf, unter ihnen auch die Mutter von Herta Müller, wurden deportiert. Über die Lagerjahre herrschte im Dorf ein totales Schweigen. Deutschsprachig aufgewachsen, lernt Herta Müller erst Rumänisch, als sie auf die Sekundarschule in der Stadt Temesvar kommt. An der dortigen Universität studiert sie später Germanistik und Romanistik und arbeitet danach als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, anschließend als Deutschlehrerin, sogar kurz als Kindergärtnerin. Ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz sinken auf Null, als sie sich weigert, als Informantin mit dem rumänischen Geheimdienst, der Securitate, zu kooperieren. Diese Weigerung, weiterhin ihre Freundschaft mit den oppositionellen Schriftstellern der 1975 aufgelösten „Aktionsgruppe Banat“, schließlich die Entwicklung ihres eigenen Schreibens in Opposition zu der erstickenden banat-

12 Herta Müller, Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, München 2011, S. 80.

6.4 Metaphernsprache und Argumentation: Augenhunger und Worthunger

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schwäbischen Tradition einerseits, zu Ceauşescus Diktatur andererseits, – all dies macht sie zum Opfer zunehmender Repression und Bedrohung. Ihr erster Prosaband Niederungen, ihr literarisches Debüt, erscheint in einer stark zensierten Version 1982 in Bukarest. 1984 kann das Buch im Westberliner Rotbuch Verlag unzensiert erscheinen; eine vollständige endgültige Version erscheint erst 2010. 1987 reist Herta Müller aus Rumänien aus und lebt seither in Berlin. Ihr Werk erhält zahlreiche Preise, unter ihnen 1994 den Kleist-Preis, 1998 den IMPAC Dublin Literary Award, 2004 den Preis der Konrad-Adenauer Stiftung und 2009 den Nobelpreis für Literatur. Ihre Erzählungen und Romane behandeln die banatschwäbische, als erdrückend empfundene Realität, in Niederungen und Barfüßiger Februar (1986) aus der Perspektive der Kindheitserinnerungen. Das bedrohte Leben unter der Diktatur steht im Zentrum von Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (1986), Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), Herztier, der Roman, der ihren internationalen Ruf begründete (1994), und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997). Die Protagonistin von Reisende auf einem Bein (1989) erfährt das Durchgangslager als einen Ort, wo sie nicht mehr flieht, aber auch noch nicht angekommen ist, weder im Heimweh noch im Exil. Ihr bis jetzt letzter Roman, Atemschaukel (2009), behandelt die Erfahrung der Deportation in die ukrainischen Lager anhand der Erinnerungen ihres Freundes, des Dichters Oskar Pastior, und ihrer eigenen Mutter. Sie hat zahlreiche Essaysammlungen veröffentlicht wie Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet (1991), Hunger und Seide (1995), In der Falle. Bonner Poetik Vorlesungen (1996), Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in die Laterne (1999), Der König verneigt sich und tötet (2003), Cristina und ihre Attrappe oder was (nicht) in den Akten der Securitate steht (2009), oder ihr bisher letzter Band Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel (2011). Herta Müller setzt auch lyrische Collagen zusammen, in denen ausgeschnittene Worte zusammengeklebt zu Gedichtbildern komponiert werden, zum Beispiel Im Haarknoten wohnt eine Dame (2000) und Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005). Sie nimmt Gastdozenturen an zahlreichen Universitäten wahr und hält dabei Poetikvorlesungen. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

6.4 Metaphernsprache und Argumentation: Augenhunger und Worthunger In ihrer Definition von Autofiktion bestimmt Herta Müller den Unterschied zwischen Essay und Romanwerk in der Weise, dass in den Essays trotz poetischer Verfahren ihr Nachdenken und Schreiben im Verhältnis „eins zu eins“ zum Leben steht, im Unterschied zu ihrem Romanwerk, in dem die Wahrheit literarisch kon-

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

struiert und vermittelt werde.13 Die Poetik, die beiden zugrunde liegt, ist aber dieselbe. Die Essays sind, wie man es auch bei Améry oder Kertész beobachten kann, von autobiographischen Elementen durchdrungen; sie benutzen die eigene Biographie zum Nachdenken. Herta Müller entwickelt eine eigene Poiesis der Metaphernsprache, der von der Erinnerung drangsalierten Bildlichkeit, die ihre Argumentation und ihre Beweisführung unterstützt. Auch ihre Essays sind – im Laufe der Zeit immer mehr – ästhetisch konstruierte literarische Dokumente. In gewisser Weise verhalten sie sich zu ihren fiktionalen literarischen Werken so, als ob sie deren Wahrhaftigkeit untermauerten, genauso wie in umgekehrter Weise die literarischen Werke die Bildlichkeit vorführen, über die in den Essays nachgedacht wird. Beispiele dafür sind ihre Nobelpreisrede wie auch der Titelessay ihres letzten Bandes: Immer derselbe Schnee, immer derselbe Onkel. Erlebtes verschwindet in der Zeit und taucht wieder auf in der Literatur. Aber nie hab ich eins zu eins über Erlebtes geschrieben, sondern nur auf Umwegen. Dabei hab ich immer prüfen müssen, ob das unwirklich Erfundene sich das wirklich Geschehene vorstellen kann.14

Das Hauptgewicht wird auf das unwirklich Erfundene gelegt, das sich die Realität vorstellen muss. Die Literatur muss der Realität gerecht werden; ihr Wahrheitsanspruch liegt jenseits der Mimesis. Literatur macht das Erlebte durchsichtiger, zeigt das, was im Erleben undurchschaubar war, ist mit Nachdenken verbunden. Wenn Herta Müller in Immer derselbe Schnee, immer derselbe Onkel schreibt, dass beim Schreiben Augenhunger im Spiel ist, schafft sie eine Wortkomposition und eine Metapher, in der wieder vom Körper aus, von der Mangelerscheinung Hunger aus der Wunsch nach Sehen und damit nach Erkennen dem Schreiben einverleibt

13 „Wenn es dann um den Unterschied geht von den fiktionalen Büchern, Romanen, Erzählungen, oder Essays: In den Essays gehe ich eins zu eins auf die Dinge ein, sonst wäre es Betrug. Dort steht ja Essay und dort erwartet man eine Realität. Ich nutze vielleicht die sprachlichen Tricks, die ich habe, weil ich keine anderen kenne, also die Art des Schreibens, aber ich würde dort nicht etwas erfinden, was gar nicht stattgefunden hat. Wenn ich dann etwas beschreibe, ist es so gewesen; dann habe ich es sprachlich rekonstruiert, aber nicht erfunden. Das sind natürlich Unterschiede. Bei den Essays brauche ich auch immer dieselbe Sprache, ich brauche meine Metaphorik, weil ich es sonst nicht aushalten würde. […] Nur: ich erfinde nichts in den Essays, und darum schreibe ich sie vielleicht auch: Weil in den Texten oft Dinge vorkommen, die nicht stattgefunden haben oder nicht so. In dem Buch Herztier sind zwar die Freunde, aber das sind nicht die Freunde, die ich kenne, sondern es sind zusammengebaute Personen, literarische. Das würde ich in einem Essay nicht machen.“ Kolloquium mit Herta Müller, Aula Magna der Universitat de Barcelona, 27.06.2012. 14 Herta Müller, „So ein groβer Körper und so ein kleiner Motor“, in: Dies., Immer derselbe Schnee, S. 84.

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wird. Auch der Schreibprozess wird damit physisch vermittelt. Wenn die Sprache aber mit Augenhunger gespeist wird, wird sie bis in alle Einzelheiten durchleuchtet, Gier steckt in der Metapher und Akribie, aber auch Entdeckungslust. Ein hungriges Sehen möchte das Gesehene bis in den verstecktesten Winkel ausleuchten, es möchte auch das Gesehene in sich einverleiben, es enthält auch eine gewisse lebensnotwendige Aggressivität. Der Begriff schillert; Augenhunger wird auch mit Aggression und Machtausübung in Verbindung gesetzt. Herta Müller schildert, wie einmal im Jahr das neugeborene Kalb dem paralysierten, im Bett liegenden und leidenden Großvater ins Zimmer getragen und auf einen Diwan gelegt wird, damit er es sehen kann, und wie entzückt und gierig sein Blick an dem Kalb hängt. Der Augenhunger belässt zwar das Gesehene, aber dieses wird von der gierigen Betrachtung geradezu monströs aufgebläht. Als Herta Müller im Durchgangslager Nürnberg wiederholt von einem Beamten verhört wird, unter anderem weil sie der Zusammenarbeit mit der Securitate verdächtigt wird, identifiziert sie sich mit dem Kalb, das dem Augenhunger des Beamten ausgesetzt ist. Augenhunger kann also das Gegenüber auch missbrauchen: „Der Augenhunger gibt den Wörtern überraschend Intimität, zieht sie in eine Nähe, die das Gelebte durchsichtiger macht, als es beim Erleben war. Durchs Erfinden wird die erlebte Wirklichkeit auf eine damals verpasste Wahrheit zurückgezwungen.“15 Ein hungriges Schauen ermöglicht ein Sehen, das Wahrheit findet. Schreiben steht mit Sehen und mit Wahrheit in Verbindung; es wird – wie auch die Erinnerung – vom Körper getragen. Der Augenhunger, der das Schreiben bestimmt, ist verbunden mit der Suche nach Sprache, nach Worten, die ausgeleuchtet werden. Dies verweist auf eine extrem sprachkritische Haltung. Es kommt hinzu, dass Hunger nie gesättigt wird; sonst wäre er ja kein Hunger mehr. Die Metapher verweist damit auch auf das Schreiben als immerwährenden Prozess. Bis zu welchem Punkt entspricht aber die Sprache der Welt, den Dingen, die sie benennt? Da Herta Müller in einer Diktatur aufgewachsen ist, ist ihr Misstrauen gegenüber der Sprache auch biographisch bedingt: Sie hat den Missbrauch der Sprache erlitten, und sie hat das Fehlen der Sprache in bedrohlichen Situationen erlebt.16 Sie hat die Sprache der Unterdrücker erlitten als genormte

15 Herta Müller, „Die Anwendung der dünnen Straβen“, in: Dies., Immer derselbe Schnee, S. 115. 16 In Barcelona hat Herta Müller, nach ihrem Misstrauen gegenüber der Sprache gefragt, folgende Antwort gegeben: „Ich weiß, dass man mit Sprache alles machen kann: Man kann mit Sprache gar nichts sagen, auch wenn man immer und lange redet. Man kann sehr deutlich sein, man kann drohen, man kann trösten; man kann mit Sprache sogar töten. In Diktaturen wird Sprache unglaublich missbraucht, verschandelt. Ideologie ist eine einzige Sprachverschandelung, – egal in welcher Art von Diktatur, egal ob es jetzt eine rechte, eine linke oder eine Gottesdiktatur ist. Ich habe immer den Eindruck gehabt, Sprache gibt es gar nicht. Sprache ist das, was mit Menschen

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Sprache eines manipulierten Kollektivs, in der jede individuelle Äußerung als Kritik gedeutet wurde; sie hat sich Verhören stellen müssen, in denen sie eine Sprache für ihre Antworten finden musste. Um zu schreiben, hat sie eine Sprache suchen müssen, die nicht die Sprache der Unterdrücker war. Sie hat empfunden, dass die Sprache manipulierbar war und für das, was zu sagen war, nicht genügte. In dem Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen schreibt sie: Es ist nicht wahr, dass es für alles Wörter gibt. Auch dass man immer in Worten denkt, ist nicht wahr. Bis heute denke ich vieles nicht in Worten, habe keine gefunden, nicht im Dorfdeutschen, nicht im Stadtdeutschen, nicht im Rumänischen, nicht im Ost- oder Westdeutschen. Und in keinem Buch. Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können. […] Ich hab die Worte abstürzen sehen, die ich hatte. […] Dennoch der Wunsch: „Es sagen können“.17

Dieser Versuch bestimmt ihr gesamtes Werk. Es geht um die Suche nach einer Sprache, die das Leiden und den Schmerz von Protagonisten schildern kann, die fast immer Opfer der Realität einer Diktatur sind. Zwischen Augenhunger und Abstürzen der Wörter schafft sie eine erfundene Wirklichkeit, die die Wahrheit der Realität schaut. Wenn sie auf den Augenhunger verweist und ihn mit dem Schreiben in Verbindung bringt, wenn sie die Augen und die Sinnlichkeit des Sehens in den Vordergrund stellt, bleibt auch zu erwägen, dass die Bilder ein fundamentales Instrument der Erinnerung sind, ganz besonders der unwillkürlichen Erinnerung, die durch alle Sinne ausgelöst und von allen Sinnen schlagartig beschworen werden kann. Die Bildlichkeit ist für Herta Müller ein wesentliches Instrument ihres Schreibens – und zwar sowohl in metaphorischen Sinne als auch rein physisch, so wie es mit dem Bild der Inge Wenzel geschehen ist. Man könnte sagen, dass Herta Müller mit den Augen schreibt. Das gilt auch für ihre Collagen, in denen die Bildlichkeit der Schrift und konkrete in den Text eingefügte Bilder das Gesamtbild bestimmen. Bilder und Metaphern geben ihren Texten die individuelle Sprache, die sie braucht, und fungieren in ihren Verflechtungen als sinngebender Argumentationsdiskurs, indem sie auf seinen Sinn verweisen und Kohärenz schaffen.

geschieht oder nicht geschieht. Es ist ja nur eine Verdoppelung dessen, was man tut oder nicht tut. Sprache an und für sich ist gar nichts, darum ist sie ja so künstlich, wenn ich sie brauche, um eine Realität zu schreiben, weil sie an und für sich gar nichts ist, sondern nur durch das, was geschieht.“ Kolloquium mit Herta Müller, Aula Magna der Universität Barcelona, 27.06.2012. 17 Herta Müller, „In jeder Sprache sitzen andere Augen“, in: Dies, Der König verneigt sich und tötet, S. 14 f.

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Kreativität der Vergleiche, also Metaphorik, und Kognition gehen zusammen. Herta Müller benutzt Metaphern als Bausteine ihres Schreibprozesses, als Knoten im Netz von Bedeutungen, die der Text entfaltet. Metaphorisch beschreibt Herta Müller den Prozess der Metaphernbildung: Um in der Nähe der Realien zu bleiben, braucht man im Text Vergleiche mit etwas Unverhofftem. Jeder dieser Vergleiche resultiert aus dem Gespräch mit den realen Gegenständen. Am besten findet der Vergleich gar nicht mehr statt. Man lässt nur die äußerste Spitze des Gesprächs mit den Gegenständen im geschriebenen Satz, man katapultiert den Vergleich in ein einziges Wort, stutzt das Gespräch zur Metapher. Und die transportiert das Weggelassene als Gefühl, das viel weiter geht als das Gespräch mit den realen Gegenständen.18

Ich verwende hier Metapher in einem weiten Sinn, der Bildlichkeit umfasst und auch Metonymie mit einschließt. Es geht mir um das Gemeinsame dieser Tropen, und zwar ganz allgemein darum, dass in ihnen verschiedene Bedeutungsbereiche aufeinander bezogen werden, sowohl durch Ähnlichkeit als durch Kontiguität. Herta Müller konstruiert dabei neue Übertragungen, neue Verhältnisse. Sie variiert verschiedene Arten, Metaphern zu konstruieren, also Vergleiche zu schaffen: durch Wortkomposita, die im Laufe des Textes gebildet und erklärt werden, durch Objekte, die im Laufe des Textes einen eigenen Symbolwert erlangen, durch Erinnerungsbilder, die, wie im Falle des Nachthemds der Inge Wenzel, Gegenwart und Vergangenheit ineinander blenden. Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sich durch die unvermuteten, neu geschaffenen Vergleiche eine neue Sicht auf die Wirklichkeit eröffnen, die eine implizite Analyse und Bewertung enthält. Metaphern sind vielschichtig; sie öffnen den Bezug zu neuen Bedeutungen, Assoziationen und Konnotationen. Sie entstehen aber im Laufe eines Diskurses, der sie bündelt; insofern schaffen sie einen neuen – natürlich kontextbedingten – Sinn. Im Hintergrund von Herta Müllers Texten steht die eigene Biographie; die Texte selbst bestehen in hohem Maße aus Erinnerungsbildern, die von Objekten der Erinnerung bestimmt sind; deshalb steht ihre Bedeutung in Beziehung mit dem Nachdenken und dem Wieder-Erleben. Über den Metaphernreichtum von Herta Müllers Texten zu reden, ist geradezu zu einem Topos der Literaturkritik geworden. Man sollte die Metaphern in Zusammenhang mit der Parataxe als vorherrschender Konstruktion ihrer Syntax sehen: Die Entwicklung der Texte, der Argumentation, der fragmentierten Handlung entsteht nicht so sehr durch Subordination, durch Entwicklung einer Logik der Zusammenhänge, sondern durch die Verknüpfung von Metaphern, durch die

18 Herta Müller, „Gelber Mais und keine Zeit“, in: Dies, Immer derselbe Schnee, S. 133.

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Komposition von Textabschnitten, die durch die übergreifende Metaphernkonstruktion ihre durchgehende Kohärenz und ihren Sinn erhalten und dabei auch eine eigene, persönliche Symbolik konstituieren, so dass die Metaphern letzten Endes den Schlüssel zum Verständnis des Textes enthalten. Die Logik der Vergleiche, die Neuartigkeit der Assoziationen, Verbindungen und Ähnlichkeiten bilden die Grundelemente von Herta Müllers Schreiben, in dem Bemühen, es „sagen [zu] können“ und im Bewusstsein des Abstürzens der Worte. In einem Interview in der Zeit sagt Herta Müller gleich nach der Verleihung des Nobelpreises: Sprache an sich gibt es nicht, oder es gibt sie in der Literatur so, wie es sie im Alltag auch gibt. Das Erlebte ist ja nicht in der Sprache erlebt, sondern an Orten, an Tagen, mit bestimmten Menschen, und das alles muss ich in Sprache auflösen. Das ist künstlich, wie eine Pantomime des Geschehenen. Und ich kann nur versuchen, es hinzukriegen, dass es in die Nähe des Eigentlichen kommt.19

Mit einer Pantomime vergleicht Müller ihr Schreiben oft. Dieser Begriff verweist auf die Konstruktion der Wirklichkeit im Theater, auf ein bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit. Wenn sie im Zusammenhang mit ihrer Beschreibung der Autofiktionalität sagt, dass sie zwanzig Verhöre erlebt haben muss, bevor sie eins erfinden kann, verweist sie auch auf eine gewissermaßen theatralische Situation, auf die Konstruktion eines Dialogs, der nicht der reale ist, aber doch der Realität entspricht. Aber der Dialog geht weiter und führt zur Metaphorisierung ihres Schreibprozesses. Sie definiert das Schreiben auch als einen Prozess, der ein erstes Gespräch mit den realen Gegenständen des Lebens ist – und dann „ein zweites Gespräch der in diesem ersten Gespräch ausgehandelten Zustände mit dem Papier.“20 In dieser Hinsicht ist ihr Schreiben eine doppelte Pantomime. Der zweite Teil dieses Prozesses wird bedingt durch den sprachlichen Blick und den sprachlichen Trick, wie sie es nennt. Darunter kann man bestimmte literarische Verfahren verstehen: „Im Gespräch mit den realen Gegenständen wird ihr Alltagsinhalt gegen einen selbst aufgehetzt. Die Normalität wird irritiert, aus der Fassung gebracht.“21 Daraus entsteht die angebliche Surrealität vieler Bilder in ihren Werken. Es geht dabei aber nicht um Surrealität; die Wirkung ist das Ergebnis der Assoziationen, die die Normalität irritieren, sehr oft mit Hilfe eines sprachkritischen Blicks auf den wörtlichen Sinn der Worte. Wenn in Atemschaukel im Lager den Häftlingen der Befehl gegeben wird, Zement zu sparen, aber dieser aus dem

19 Interview mit Herta Müller, Die Zeit, 15.10.2009, S. 49. 20 Herta Müller, „Gelber Mais und keine Zeit“, S. 135. 21 Ebd., S. 136.

6.4 Metaphernsprache und Argumentation: Augenhunger und Worthunger

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dünnen Papier der Säcke herausfällt oder am nassen Papier kleben bleibt, lautet am Ende das Fazit: „Man kann es nicht ändern, je mehr man Zement spart, umso mehr verausgabt sich der Zement.“22 Am Schluss wird der Zement sogar zum Betrug, und der Protagonist wird in seiner lebensbedrohenden Schwerstarbeit zementkrank und sieht alles nur noch aus Zement bestehend. Der metaphorisierte Zement wird letzten Endes mit dem Tod in Zusammenhang gebracht. Herta Müllers Nobelpreisrede, die in dem Band Immer derselbe Schnee, immer derselbe Onkel abgedruckt ist, beginnt mit der Frage, die ihre Mutter ihr jeden Morgen stellte, bevor sie aus dem Haus in die Schule ging: „Hast du ein Taschentuch?“ Die Frage ist das Zeichen einer Komplizenschaft zwischen den beiden, ein Zeichen der mütterlichen Fürsorge als indirekte Zärtlichkeit. Das Taschentuch ist der Beweis der Behütung. Zwanzig Jahre später wird Herta Müller in der Fabrik, wo sie als Übersetzerin arbeitet, wegen ihrer Weigerung, als Informantin mit der Securitate zusammenzuarbeiten, aus ihrem Büro hinausgeworfen und sie versucht, sich nicht hinausekeln zu lassen. Das Taschentuch wird hier zur rettenden Instanz: Sie installiert sich mit ihren Wörterbüchern auf der Treppe und setzt sich dabei auf ihr Taschentuch, das damit zu einer Art Behausung wird. So wird das Taschentuch zu einem Artefakt der Erinnerung. Es wird in den vielen nützlichen und konkreten Funktionen erinnert, die es im Leben erfüllt: als Sonntag- und Werktagstaschentuch, zu den Kleidern passend, zum Putzen und zum TränenAbwischen, zum Abschied-Winken, beim Tragen einer schweren Tasche, um sich vor der Sonne zu schützen; es wird den Toten um das Kinn gebunden oder es wird ihnen damit das Gesicht zugedeckt; es hängt mit Freude und mit Trauer zusammen, mit Leben. Müller erzählt, wie der Dichter und Freund Oskar Pastior von einer alten Frau einen Teller Suppe und ein feines Batisttaschentuch bekam, in der Hoffnung, dass ihrem eigenen Sohn, der auch Lagerhäftling und weit weg von zu Hause war, von einer anderen Frau das gleiche widerfahre. Im Laufe dieser Aufzählung füllt sich das Taschentuch langsam mit einem eigenen symbolischen Inhalt: Es wird zum Symbol der Hinwendung zum Mitmenschen; die Frage „Hast du ein Taschentuch?“ steht letzten Endes für die – überlebensnotwendige – Solidarität unter den Menschen. Die kleinen Gegenstände, die Objekte, die von den Menschen benutzt werden, die ihnen gehören und denen sie etwas von der eigenen Geschichte einverleiben, binden die disparaten Elemente der Wirklichkeit, des Lebens zusammen. Sie schaffen zwar keinen Sinn, aber doch Kohärenz und tragen insofern zu einer eigenen Argumentation bei, mit dem Ergebnis, dass zwischenmenschliche Ethik eine Notwendigkeit ist. Herta Müllers Poetik ist auch eine Poetik der kleinen

22 Müller, Atemschaukel, S. 137.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

Dinge, der Lakonie. Sie gründet in der konkret erfahrbaren Realität, die körperlich, von den Sinnen aus, erfahren wird. Und sie spricht über den Schmerz und die Beschädigung in Details.

6.5 Metaphorik und Genauigkeit: Die vagabundierenden Eigenschaften Die Frisuren der Frauen waren von hinten gesehen sitzende Katzen. Warum muss ich sitzende Katzen sagen, um die Haare zu beschreiben. Alles wurde immer etwas anderes. Zuerst unauffällig etwas anderes, wenn man es nur für sich ansah. Dann aber nachweislich etwas anderes, wenn man Worte dafür finden musste, weil man darüber sprach. Wenn man im Beschreiben genau sein will, muss man im Satz etwas finden, das ganz anders ist, damit man genau sein kann.23

Durch diesen Vergleich mit einer Katze beschreibt Herta Müller die Haartracht der banatschwäbischen Frauen, die einen langen dicken Zopf senkrecht nach oben auf den Hinterkopf geführt mit einem halbrunden Hornkamm aufsteckten. Die herausragenden Spitzen des Kamms erinnern an Katzenohren, das Ganze an eine kerzengerade sitzende Katze. Der Vergleich wird von den Augen bestimmt. Aber im Akt des Vergleichens zeigt sich auch, dass die Realität andere Möglichkeiten aufweist, auf die man über den Vergleich kommen muss. Das Bild der Haartracht als sitzender Katze ist Herta Müller wichtig: In einer ersten Version des Textes erscheint es in der Dankrede zur Verleihung des Fünften Würth Preises für Europäische Literatur;24 es taucht auch in der Beschreibung der Haartracht der Siebenbürger Frauen aus der Kleinstadt des Protagonisten in Atemschaukel auf. Die Haartracht der Frauen ist ein sichtbares Zeichen der Tradition, in der sie leben; sie zeigt auch das zwingende, individuellen Anspruch Verneinende in ihr. In Atemschaukel verweist die Haartracht auf die Angst, die der Protagonist vor der Entdeckung seiner Homosexualität durch seine Familie, ganz besonders durch die Mutter, empfindet. Die Haartracht ihrerseits verweist auf eine Katze. Katzen tauchen im Frühwerk Herta Müllers als doppeldeutige, auch drohende Tiere auf. In Niederungen streunen sie im Dorf herum. Auch auf dem Hof der Fabrik, die sowohl in Der Fuchs war damals schon der Jäger wie in Herztier vorkommt, gibt es eine Katze, die alles sieht, die also auch als unheimliche Kontrollinstanz fungiert. 23 Müller, Immer derselbe Schnee, S. 96. 24 Herta Müller, Es ist immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. Dankesrede zur Verleihung des Fünften Würth Preises für Europäische Literatur an Herta Müller, Künzelsau-Gaisbach 2006. S. 29.

6.5 Metaphorik und Genauigkeit: Die vagabundierenden Eigenschaften

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Die Kontrolle ist insofern drohend, als sie die Information weitergibt: Man kann in den Augen der Katze die Bilder lesen, die sie gesehen hat. In Der Fuchs war damals schon der Jäger wissen zum Beispiel alle von der eiligen Liebe, die im Stehen oder Liegen in der Fabrik praktiziert wird, und um die Vorteile der Liebe mit dem Verwalter Grigore, dem alle Kinder der Frauen der Fabrik ähneln.25 Grigore kann Wattejacken im Winter verteilen oder Gold verkaufen. Dass er danach den Käufer anzeigt und das Gold zurück erhält, scheint dem kein Ende zu setzen. Die Ereignisse werden als Bilder in den Augen der Katze geschildert, zusammenhanglos, so dass dem Leser die Interpretation überlassen bleibt, ob die Kinder, wie die Pförtnerin behauptet, Grigore ähneln, weil sie alle seine Kinder sind und/oder (auch) weil in dem verelendeten Kollektiv, in dem man für alles Lebensnotwendige, inklusive Kleidung und Nahrung, mit allen Mitteln kämpfen muss, sich alle Wesen letztlich ähneln müssen. Die Katze sieht auch den Biss des Direktors in Maras Schenkel. Und sie sieht den Unfall des Arbeiters, dessen Hand von der Presse abgerissen wird. Sie wird weggejagt, bevor der Direktor und der Verwalter den Arbeiter in die Garderobe fortschleppen und ihn dort mit Schnaps übergießen. Die offizielle Version des Unfalls ist, dass der Mann, Crizu, am Arbeitsplatz betrunken war. Somit steht die Katze eher für die Kontrolle des Kollektivs als für die Kontrolle der Diktatur. Erzählt wird aus der Perspektive der Bilder, die in den Augen der Katze zu lesen sind, nicht aus der Perspektive der Katze: „In den Augen der Katze steht ein Bild. Alle sehen, was geschehen ist. Und alle reden davon, von der letzten, im Stehen, im Liegen in Eile gestoßenen Liebe in der Fabrik. Auch das Reden über diese Liebe ist in Eile.“26 Dabei geht es um Sehen, um Wissen. Denn wenn die Katze nicht auf die Liebe sieht, wenn es keine Bilder in ihren Augen gibt, zum Beispiel in den Wochen, in denen sie Junge bekommt und sich zurückzieht, bleibt das eilige Lieben, das immerhin gesehen wird, ein Gerücht. Dass die Haartracht eine kerzengerade, also nicht eine entspannte, sondern eher eine in höchster Aufmerksamkeit sitzende Katze evoziert, ist ein aus den Sinnen, aus den Augen erfahrenes Bild. Aber die Assoziation ist nicht nur rein sinnlich; sie bekommt einen eigenen Inhalt, wenn die Katze selbst ein eigenes Assoziationsfeld bekommt. So entsteht aus dem Vergleich etwas Neues – etwas anderes. Und auch etwas Genaueres, schreibt Herta Müller. Genauer ist es, weil es auf eine Analyse und Bewertung der Realität zielt. Sehen geschieht nicht nur mit den Augen, sondern über sie hinweg, es ist mehr als Schauen, es ist Deuten, ist Erkennen.

25 Vgl.: Herta Müller, Der Fuchs war damals schon der Jäger, München 2009, S. 97–124. 26 Ebd., S. 98.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

Jeder Diskurs zielt auf Bedeutung, ist ein Apparat für die Produktion von Bedeutung,27 insofern ist Narration auch von einer moralischen Perspektive bestimmt. Sie wird bei Herta Müller durch die Konstruktion ihrer Metaphern, ihrer Vergleiche sichtbar. Diese sind auch Verständnishilfen; sie helfen, die Realität genauer zu sehen. Den Vergleich von Haartracht und Katze kommentierend, spricht sie von den vagabundierenden Eigenschaften, die einen Gegenstand in einen anderen verwandeln, die die Wahrnehmung verzerren. Als Beispiel nennt sie die schwimmenden Äste im Wasser, die Schlangen gleichen und die ihre Angst vor dem Wasser rechtfertigen. Die weiteren Bilder, die sie nennt, sind bedrohlich, und wenn sie meint, dass diese bedrohlichen Bilder nicht trösten und deshalb nicht zerbrechen, geht es um Bilder, die aus einer traumatisierten Wirklichkeitserfahrung sprechen, aus ihr gebildet werden. Sie entstehen aus der Erfahrung von Schmerz und Unterdrückung: Zuerst in der Kindheit, die in Niederungen narrativ erscheint, Unterdrückung durch ein traditionsgebundenes Kollektiv, das keinen Raum für das Individuelle zulässt und in dem alles Ausbrechende, an erster Stelle aber die eigene Vergangenheit, totgeschwiegen wird, später durch die Diktatur. Zur Konstruktion ihrer Vergleiche schreibt sie: Erst durchs Erfinden entsteht die Überraschung, und es beweist sich immer wieder, dass erst mit der erfundenen Überraschung im Satz die Nähe zur Wirklichkeit beginnt. Erst wenn eine Wahrnehmung die anderer ausraubt, ein Gegenstand das Material des anderen an sich reißt und benutzt – erst wenn das, was sich in Wirklichkeit ausschließt, im Satz plausibel geworden ist, kann sich der Satz vor der Realität behaupten als eigene, wie ins Wort geratene, aber wortgültige Realität.28

Herta Müller beschreibt hier einen traditionsreichen Zugang zur Konstruktion von Metaphern und hält dabei ein Plädoyer für deren Prägnanz bei der Erschaffung von Realität, einer Realität, die sich vor der Wirklichkeit zu behaupten hat, also nicht wirklichkeitsfern ist. Wenn die Metapher durch Überraschung, also durch Neuartigkeit, ihre Nähe zur Wirklichkeit gewinnt, ist das ein Argument, das in der Tradition der klassischen Moderne, der Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts und der Literaturtheorie der russischen Formalisten und der Avantgarde steht. Ganz allgemein ist dabei die Kunst ein Verfahren, um die Perzeption der Wirklichkeit zu desautomatisieren, um zu einer neuen, bewussteren Perzeption zu führen.

27 Vgl. dazu: Hayden White, The Content of Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore, London 1992, S. 42: „[A] discourse is regarded as an apparatus for the production of meaning rather than as only a vehicle for the transmission of information about an extrinsic referent.“ 28 Müller, Immer derselbe Schnee, S. 98.

6.6 Der Blick und die Dinge: Der Verlust der Selbstverständlichkeit

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Der Unterschied besteht aber darin, dass die Konstruktion der Vergleiche bei Müller nicht so sehr als ein Verfahren angesehen werden kann, sondern das Ergebnis der Versprachlichung der Erinnerung an Verfolgung, Schmerz, Gewalt und Diktatur ist. Die sprachkritische Erfahrung, die dahintersteckt, lässt sich auch in die sprachkritische Tradition der Wiener Moderne einfügen. Diese Tradition reicht aber nicht aus, um sie zu erklären. Hinter Herta Müllers Misstrauen der Sprache gegenüber steht auch die Erfahrung der Diktatur und der Misshandlung des Individuums durch die Sprache des Kollektivs. Doch auch dies reicht nicht aus, um ihr stark ausgeprägtes Sprachbewusstsein, ihre Sprachsensibilität zu erklären. Diese wird noch verstärkt durch ihre späte Zweisprachigkeit, das Zusammenleben des Rumänischen und des Deutschen. Aber darüber wird noch zu sprechen sein.

6.6 Der Blick und die Dinge: Der Verlust der Selbstverständlichkeit Der Blick, der die vagabundierenden Eigenschaften der Gegenstände beobachtet, der also Vergleiche schafft, die zu Metaphern werden, wird von Herta Müller als Resultat der Erfahrung der Diktatur und des Verlustes der Selbstverständlichkeit gewisser Dinge erklärt. Die ‚Fremdheit‘ dieses Blickes ist kein bloßes Verfahren; sie ist auch nicht durch die Fremdheit einer Rumäniendeutschen in Deutschland, sondern durch die eigene Biographie bedingt: Sie hat den „fremden Blick“ schon aus Rumänien mitgebracht. In dem Essay Der fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in die Laterne erklärt sie dies. ‚Fremd‘ ist für sie nicht das Gegenteil von ‚bekannt‘, sondern das Gegenteil von ‚vertraut‘. Sie erklärt den Verlust der Selbstverständlichkeit des Vertrauten als Erfahrung der Verfolgung unter der Diktatur. Wenn man ständig unter Beobachtung steht und in Gefahr ist, muss man sich angewöhnen, selbst alles zu beobachten. Wenn die Beobachtung durch Verfolger im Dienste des Staates geschieht, muss sich der Verfolgte dadurch verteidigen, dass er selbst akkurat beobachtet und interpretiert. Er erlebt dabei, dass Dinge und Situationen lebensbedrohend werden, weil sie die Zeichen der Bedrohung durch den Geheimdienst tragen. Bei einem Verhör wird Herta Müller beiläufig gesagt, dass es Verkehrsunfälle gebe. Wenige Tage später wird sie auf ihrem Fahrrad von einem Lastwagen angefahren. Beim nächsten Verhör sagt man ihr: „Ja, ja, es gibt wirklich Verkehrsunfälle.“ Damit wird das Fahrrad zu einem bedrohlichen Objekt und die Unfälle geraten unter Verdacht; besonders wenn am nächsten Tag die Friseurin, die nicht wissen kann, dass Herta Müller ein Fahrrad hat, nach diesem fragt. Die Haartönung, die sie ihr aufträgt, macht ihre gesamte Kopfhaut wund, was die Friseurin aber nicht weiter zu stören scheint. Anschlie-

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

ßend bietet sie ihr französische Parfums zum Verkauf an. Beim vorherigen Verhör war Herta Müller des Schwarzhandels mit Kleidern, Kosmetika und Devisen beschuldigt worden; man hatte ihr mit Gefängnis gedroht. Der Geheimdienst hat auch Spuren bei seinen Besuchen in ihrer Wohnung hinterlassen: Ein Stuhl stand in einem anderen Zimmer; ein von einer Freundin an der Türklinke hinterlassener Zettel wanderte in eine Schüssel über dem Eisschrank. Der Eisschrank selbst musste seine Funktion wechseln und wurde zum Ort, in den das Telefon hineingesteckt wurde, um im Zusammenspiel mit laut aufgedrehter Musik das Abhören der Gespräche zu verhindern; er wurde zum Ort der kaltgestellten Kommunikation.29 Damit werden die privaten Gegenstände des Verfolgten zur Personifizierung des Verfolgers oder zumindest zu Zeichen für die Verfolgung; sie werden zu drohenden Gegenständen. Und gerade deshalb müssen sie umso genauer, umso misstrauischer beobachtet werden. Sie verlieren ihre Vertrautheit, ihre Selbstverständlichkeit, und diese Beschädigung des Verfolgten, der Verlust des Gefühls der Selbstverständlichkeit, ist nicht mehr wiedergutzumachen.30 In Der Fuchs war damals schon der Jäger hat die Hauptperson Adine, eine Lehrerin, die auch vom Geheimdienst bespitzelt und verfolgt wird, ein Fuchsfell in der Wohnung liegen. Eines Tages bemerkt sie, dass der Schwanz zwar an seinem Platz, aber abgetrennt ist. Sie hält dies für einen Zerfall infolge der Zeit. Aber nach und nach sind die Pfoten abgetrennt und wieder an ihre alte Stelle gelegt; das ganze Fell ist anderswohin gelegt; es erweist sich, dass es sich um ein terrorisierendes Zeichen der Besuche des Geheimdienstes handelt. Am Ende ist auch der Kopf abgetrennt – eine offensichtliche Todesdrohung. Wenn Herta Müller dem Roman den Titel Der Fuchs war damals schon der Jäger31 gibt, zeigt sie im Paratext das Fazit der – autobiographischen – Erfahrung mit dem Fuchsfell, in diesen „fremden Blick“ gekleidet, der mit Hilfe der Sprache die Selbstverständlichkeiten auf den Kopf stellt, um die Realität zu zeigen. Der Paratext wird zu einer Metapher für den ganzen Roman, der bis zum Fall Ceauşescus reicht und

29 Herta Müller, Der Fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in die Laterne, Göttingen 2009, S. 7 f. 30 In Theodor Kramers Gedichten hat Herta Müller den Raub der Selbstverständlichkeit durch den Nationalsozialismus und die Notwendigkeit des Exils analysiert: seine Gedichte sind „eine Verbeugung vor dem Gewöhnlichen und die Beschwörung der Selbstverständlichkeit“ gegenüber der Welt, die er verloren hat. Sie sieht darin den ersten Skandal des Nationalsozialismus, bei dem alle gefügigen Nichtverfolgten mitgemacht haben, in Cafés, Strassenbahnen, Läden oder Parks, auf deren Bänken Juden nicht sitzten durften: „Dass so viele wie nie davor und nirgends sonst Politik machten, weil der Bäcker, der Milchmann, Briefträger, Nachbar oder Passant dem Verfolgten zur leibhaftigen Politik werden mussten, weil sie ihm Angst machten.“ Herta Müller, „Die Angst kann nicht schlafen. Zu den Gedichten Theodor Kramers“, in: Dies., Immer derselbe Schnee, S. 225 u. S. 229. 31 Zum Fuchsfell siehe Müller, Der Fuchs, S. 141, 159, et passim, bes. S. 283 f.

6.6 Der Blick und die Dinge: Der Verlust der Selbstverständlichkeit

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darüber hinaus das Bestehen der gleichen Geheimdienststrukturen evoziert. Herta Müller schildert die Erfahrung mit dem Fuchsfell in Cristina und ihre Attrappe, oder: Was (nicht) in den Securitate-Akten steht.32 In diesem autobiographischen Text wird am Ende der Kopf auf den Bauch des Fuchses gelegt, womit die Todesdrohung metaphorisch bereits realisiert ist; im Roman ist sie zwar präsent, aber etwas abgeschwächt. Die Bildlichkeit des „fremden Blickes“ hat mit Beschädigung zu tun, mit dem Verlust der Selbstverständlichkeit. Manchmal werden auch Bilder der traumatischen mémoire involontaire evoziert, die die immerwährende Präsenz des Traumas signalisieren. Als ein Beispiel des „fremdem Blicks“ zitiert Herta Müller Semprún, bei dem das Schneien unter den brennenden Laternen des Pariser Boulevards das Todesgelände Buchenwalds spiegelt. Bei diesem Anblick fühlt sich Semprún schlagartig nach Buchenwald versetzt. Wie schon im SemprúnKapitel besprochen, ist dieses Bild eines der strukturierenden Elemente in Semprúns Was für ein schöner Sonntag und zeigt die immerwährende Präsenz des Lagers. Der Schnee ist auch bei Herta Müller ein Erinnerungsbild. In Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel schildert sie seine Präsenz in der Erinnerung ihrer Mutter an ihre Deportation und bei ihrer eigenen Auswanderung aus Rumänien. Der Essay zeigt auf eine geradezu paradigmatische Art und Weise, wie bei Herta Müller Essay und Literatur ineinander übergehen, wie aus autobiographischen Elementen das Material für die Analyse der Wirklichkeit entsteht und in literarisches Schaffen übergeht, das die Welt erschreibt. Nach den Überlegungen zu den vagabundierenden Eigenschaften der Dinge, zu Vergleich und Genauigkeit, zum Sehen im Verhältnis zur Sprache leitet der Essay zu einem Bild der unwillkürlichen Erinnerung über: Herta Müller sieht im Fernsehen den hellen Holzsarg des gerade verstorbenen Papstes auf dem Petersplatz; dies ruft in ihr die Erinnerung an ihre Auswanderungskiste hervor. Die Auswanderer aus Rumänien durften bis zu 70 Kilo Gepäck in einer Kiste mit vorgeschriebenen Maßen mitnehmen oder vorausschicken; Herta Müller lässt eine solche vom Dorftischler aus hellem Akazienholz bauen. Der Sarg des Papstes sieht genauso aus wie diese Kiste. Mit ihrer Mutter zusammen fährt Herta Müller auf einem Lastwagen in einer kalten Nacht mitten im Winter durch den Schnee, auf dem Anhänger im Windschatten der Kiste sitzend. Der Schnee ist hell, wie ein Abglanz des Tageslichtes. Und dieser Schnee evoziert wiederum eine Erinnerung der Mutter an ihre Deportation im Jahre 1945. Der Schnee fungiert also wie eine

32 Herta Müller, „Cristina und ihre Attrappe oder: Was (nicht) in den Securitate-Akten steht“ in: Dies., Immer derselbe Schnee, S. 56 f.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

mise en abyme von Erinnerungen. Der Satz „Es ist doch immer derselbe Schnee“ verbindet Deportation und Auswanderung, beides Schicksalsschläge im Winter. Die Mutter hatte 1945 versucht, sich vor der Verschleppung zu schützen, indem sie sich in einem Erdloch im Nachbargarten versteckte und dort einige Tage ausharrte. Als aber dann Schnee fiel, wurden die Spuren der Schritte zum Versteck sichtbar und der Schnee wurde zum Denunzianten vieler Verstecke im ganzen Dorf. Diese Geschichte hatte die Mutter erzählt; die Großmutter hatte hinzugefügt, dass man frisch gefallenen Schnee nicht so nachmachen könnte, dass er unberührt aussähe. Im Gegensatz zu Sand, Erde oder Gras lassen sich im frisch gefallenen Schnee die Spuren nicht verwischen, ohne weitere Spuren zu hinterlassen. Schnee ist somit, trotz seiner Fragilität und Vergänglichkeit, ein Träger von Erinnerung, er erzeugt auch ein Erinnerungsbild. Die Mutter gibt dem Schnee die Schuld an ihrer Verschleppung, und laut Herta Müller liegt hinter ihrem Satz über immer denselben Schnee die Überzeugung, dass der Schnee ein Verräter ist. Die Mutter hat aber nie das Wort Verrat benutzt; sie erzählte ihre Geschichte, die immer mehr aus gestanzten Formulierungen besteht, unter Vermeidung dieses Wortes, das gerade wegen seiner Auslassung immer bedeutsamer wird. Das Erlebte hat eine solche Macht, dass nur gewöhnliche Wörter für das Erzählen taugen, keine Abstrakta, schreibt Herta Müller und gibt damit eine Begründung für ihre Lakonie. Anders als ihre Mutter findet sie das Kompositum Schneeverrat, in dem der ganze Sinn der Geschichte kondensiert ist, so dass es zu einer Art von Metapher für die gesamte Geschichte wird. Sie geht dann auf die Unterschiede zwischen beiden Schneesituationen ein. Das Wort Verrat führt nun zu einer weiteren Erinnerung, einer traumatischen Kindheitserinnerung, einem Verrat, den sie selbst begangen hat gegenüber der – ungerechten – Erwachsenenwelt. Daraus ergibt sich auch die Erklärung für das Kompositum „Augenhunger“. Beide kondensierten Metaphern projiziert sie auf ihre Ankunft im Nürnberger Übergangsheim Langwasser und auf die Verhöre, denen sie dort ausgesetzt wird. Die Haltung des Verhörenden lässt sich als Augenhunger bezeichnen, Herta Müller ist ihr Opfer. Als der Verhörende ihre Oppositionshaltung gegenüber der Diktatur kommentiert, das sei Schnee von gestern, wird der Satz der Mutter, es sei immer derselbe Schnee, zu einem Plädoyer gegen das Vergessen. Da im Rumänischen Schnee ein Homonym zu Onkel ist, kann der Satz auf verfremdete Weise redundant und gleichzeitig überraschend als Paratext zur gesamten Argumentation gebraucht werden: Es ist immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. Verfremdet, weil hier wieder ein unvermuteter – aber nachvollziehbarer! – Vergleich stattfindet. Worte werden etwas Anderes, um genau zu sein. Herta Müller spricht vom Trick mit der Sprache, um Worte wie Schneeverrat zu erklären. Auch von einer Pantomime der Worte:

6.6 Der Blick und die Dinge: Der Verlust der Selbstverständlichkeit

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Wer weiß: Was ich schreib, muss ich essen, was ich nicht schreib – frisst mich. Davon, dass ich es esse, verschwindet es nicht. Und davon, dass es mich frisst, verschwinde ich auch nicht. Es passiert immer dasselbe, wenn Worte beim Schreiben etwas anderes werden, um genau zu sein, wenn sich Gegenstände selbständig machen und Sprachbilder sich diebisch nehmen, was ihnen nicht gehört. Gerade beim Schreiben, wenn Worte etwas anderes werden, um genau zu sein, wirkt vielleicht immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel.33

Am Schluss wird der Essay zu einer Reflexion über das eigene Schreiben, über die Konstruktion der Bildlichkeit aus der eigenen Biographie und über deren argumentative Funktion, über das Sehen aus dem Erinnern heraus und über das Körperliche des Schreibens. Was die mise en abyme der Erinnerung durch den Schnee betrifft, könnte man hinzufügen, dass in Herztier auch Schnee fällt, als der Vater der Erzählerin an Leberversagen als Konsequenz seines Alkoholismus stirbt. Herta Müller bringt die Anfänge ihres Schreibens mit dem Tod ihres Vaters in Zusammenhang. Die Geschichte mit dem Schnee, der die Verstecke verrät, wird mit nahezu dem gleichen Wortlaut in Atemschaukel einer der Romanfiguren, Trudi Pelikan, in den Mund gelegt. Die Erinnerung der Mutter wird zur Erinnerung einer Romanfigur, sie wird kollektiviert, sie wird zur erfundenen realen Erinnerung. Aber in der Erzählung der Trudi Pelikan taucht das Wort Schneeverrat als Fazit der Erzählung auf. Im Unterschied zur Mutter kann die Romanfigur abstrahieren, reflektieren. Ihre Erzählung geht aber nicht darüber hinaus. Im Sprachgebrauch von Herta Müller spielt auch das Rumänische eine wichtige Rolle. Sie ist deutschsprachig aufgewachsen, das Rumänische ist als Zweitsprache in der Sekundarschule hinzugekommen. Sie empfindet diese Zweisprachigkeit als eine Bereicherung ihres sprachkritischen Blickes: [E]s ist so, dass beide Sprachen sich in den Kopf stellen und ihre Selbstverständlichkeit für sich bekommen, aber sich auch immer in Frage stellen, die eine die andere. Es läuft immer parallel. Und als Schriftstellerin profitiert man unglaublich davon; das ist das Beste, was einem passieren kann. […] Dieses Romanisch ist in seiner Sinnlichkeit und in seiner Art, auf die Welt zu blicken, völlig anders, und mir war diese Art, die Welt anzuschauen, immer näher. […] Wenn das Selbstverständnis allein in der Sprache da ist, entsteht diese Distanz nicht, und es wird einem gar nicht bewusst, wie schön ein Bild oder eine Redewendung ist.34

33 Müller, Immer derselbe Schnee, S. 109. 34 Brigid Haines/Margaret Littler, „Gespräch mit Herta Müller“ in: Brigid Haines (Hrsg.), Contemporary German writers. Herta Müller, Cardiff 1998, S. 16 f. Zu dem Thema auch: Herta Müller, „In jeder Sprache sitzen andere Augen“, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 25.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

So kann sie auch Redewendungen ineinander übertragen. Zum Beispiel empfindet sie den deutschen Fasan als einen Prahler, als ein Bild für einen selbstsicheren, arroganten Menschen, während der rumänische Fasan ein Verlierer ist, der seinem Leben nicht gewachsen ist, ein Vogel, der nicht fliegen kann. Sie bevorzugt das rumänische Bild des Fasans und gibt einem ihrer Romane den Titel Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Darin erzählt sie, wie eine Familie auf die Erlaubnis zur Auswanderung wartet; die verschiedenen Papiere können letztendlich nur durch Bestechung und durch sexuelle Dienste der Tochter für die zuständigen Beamten errungen werden. Der Paratext in der rumänischen Lesart bringt auch hier eine bildliche Metaphorisierung der Erzählung.

6.7 Autofiktion und Unsagbarkeit: Die Sprache der Opfer im Roman (Herztier) „Das Gesagte muss behutsam sein mit dem, was nicht gesagt wird“, schreibt Herta Müller schon sehr früh.35 Ihre Sprachbilder sind auch ein Instrument, in der Sprache das Paradox der Notwendigkeit und zugleich der Unmöglichkeit des Sagens zu signalisieren. Sie verweisen auf das Ungesagte, auf das, was hinter den Wörtern auf die Realität verweist – auf die letztendlich doch sagbare Unsagbarkeit. So schreibt sie in ihrer Nobelreisrede: Ich reagierte auf die Todesangst mit Lebenshunger. Der war ein Worthunger. Nur der Wortwirbel konnte meinen Zustand fassen. Er buchstabierte, was sich mit dem Mund nicht sagen ließ. Ich lief dem Gelebten im Teufelskreis der Wörter hinterher, bis etwas so auftauchte, wie ich es vorher nicht kannte.36

In Herztier, dem Roman, der Herta Müller international bekannt machte, zeigt sich in vorzüglicher Weise, wie die Autofiktionalität im Roman fungiert. Dort wird die Aporie, eine Sprache für das Nichtgesagte, für die Opfer der Diktatur zu finden, durch eine Erzählinstanz gelöst, die den Text als Metaphernkonstellation aufbaut, in welcher die Visualität eine führende Rolle spielt und die Augen als fundamentales Instrument der Erinnerung eingesetzt werden. Die Bildersprache des Textes erzeugt ein dichtes Metaphernnetz mit symbolischem Charakter. Herztier schildert, mit vielen Rückblenden auf die eigene Kindheit der Erzählerin, das Leben von vier Jugendlichen unter der Ceauşescu-Diktatur. Am Ende

35 Müller, „Wie Wahrnehmung sich erfindet“, S. 19. 36 Müller, „JedesWort weiss etwas vom Teufelskreis“, in Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, München 2011, S. 7–41, hier 38.

6.7 Autofiktion und Unsagbarkeit: Die Sprache der Opfer im Roman (Herztier)

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des Romans steht für die meisten Protagonisten der Tod. Der Roman ist durch die Aktionsgruppe Banat inspiriert, eine Gruppe junger Dissidenten, mit denen Herta Müller befreundet war; die autobiographischen Verweise auf die Autorin sind offensichtlich. Der Roman beginnt mit der Erinnerung an Lola, eine junge Frau, die vom Lande in die Stadt gekommen ist; sie versucht über die Partei und über die Sexualität eine bessere gesellschaftliche Stellung zu erlangen und wird schließlich mit ihrem Freitod ein Opfer von beidem. Ganz konkret ist sie das Opfer der Doppelmoral eines Parteifunktionärs, des Turnlehrers ihrer Hochschule, von dem sie schwanger wird und der sie anzeigt, um sie loszuwerden. Die Erzählerin hat Lola immer mit einer gewissen Geringschätzung, sogar Verachtung betrachtet. Nach ihrem Freitod wird Lola aber zu einer wichtigen und der Erzählerin nahestehenden Figur, weil sie ihr Tagebuch in deren Koffer versteckt hat. Dieses versteckte und heimliche Tagebuch wird zum verbindenden Glied zwischen der Erzählerin und ihren Freunden Edgar, Georg und Kurt, die wie sie studieren, ihr Studium beenden und ihre Arbeit in verschiedenen Betrieben beginnen. Keiner von ihnen kann sich in seiner Umgebung einleben. Alle weigern sich, bei bestimmten Aktivitäten mitzumachen, bis sie schließlich von der Geheimpolizei verfolgt werden. Komplementär zu der solidarischen posthumen Freundschaft mit Lola ergibt sich für die Erzählerin die Freundschaft mit Therese, eine enge Freundschaft zwischen zwei Frauen aus sehr unterschiedlichem Umfeld, die aber nicht verhindert, dass Therese ihre Freundin bei der Geheimpolizei anzeigt. Freitod, wahrscheinlicher Mord, Krebstod, Wahnsinn, Flucht und Emigration werden in Herztier als Endstationen des Lebens im totalitären Rumänien gezeigt. Der Roman wird durch einen Dialog eingeleitet, ein Gespräch der Erzählerin mit ihrem Freund Edgar. In diesem Dialog zeigt sich das Thema des Romans in konzentrierter Form, nämlich die nahezu unlösbare Schwierigkeit, über die Opfer einer Diktatur zu schreiben: „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, sagte Edgar, wenn wir reden werden wir lächerlich.“37 Der gleiche Satz beendet den Roman, so dass wir uns fragen müssen, ob der Roman dieses ‚Reden‘ erreicht hat und wie er es erreicht hat, ob er die Bedingungen aufgezeigt hat, unter denen diese Aporie sich entwickelt. Beide Handlungsalternativen haben negative Konsequenzen. Die Stille, das Schweigen ist, wenn es unangenehm wirkt, nicht unbedingt passiv, sondern kann durchaus aktiv sein. Und das Sprechen ist offensichtlich aktiv. In beiden Fällen hat aber das Individuum keine Möglichkeit des angemessenen, richtigen Handelns, eines Handelns, das weder unangenehm noch lächerlich in seiner Wirkung ist. Es kann aber schwerlich darauf verzichten, zu handeln.

37 Herta Müller, Herztier, Frankfurt a.M. 2009, S. 7.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

Dieses Problem durchdringt die Erzählung. Und es bestimmt auch die Suche nach einer angemessenen Sprache, um das Leben der Protagonisten zu schildern. Herta Müller hat diesem Satz einen ganzen Essay gewidmet. Das Schweigen wird darin durchaus als Aktivität angesehen, es ist voll Ungesagtem, ein stabiler Zustand, der interpretiert werden muss. Es steht in Zusammenhang mit ihrer Dorfkindheit und dem Leben der Bauern. Reden hingegen ist ein Prozess, der immer neu begonnen und an Vergangenes angeknüpft werden muss. Beides ist auch von Beschädigung und Angst geprägt. Reden wird in den Verhören des Geheimdienstes zu einer schmerzhaften Aktivität; es muss eine eigene Logik entwickeln und auf die Sprache des Verhörenden eingehen. Die Verhöre erzwingen ein quälendes Reden, der Folterer zwingt dem Gefolterten seine Sprache auf, wie von Elaine Scarry38 betont. Herta Müller schildert, wie sie zum Beispiel auf dem Heimweg ihre Gefühle auf Pflanzen und Blumen übertragen und durch deren Präsenz zu sich selbst kommen konnte. Aber wenn sie auf die Fragen ihrer besten Freundin nach den Verhören antworten wollte, habe sie nur die Fakten wiedergeben und nichts über die Pflanzen sagen können, die sie auf dem Heimweg an Gärten entlang wieder in ein inneres Gleichgewicht gebracht hätten. Diese Erfahrung zeigt die Schwierigkeit des Sprechens über die Opfer der Diktatur: „Wo das Schweigen von der Freundin falsch verstanden worden wäre, musste ich reden, wo das Reden mich in die Nähe der Irren gestellt hätte, musste ich schweigen. Ich wollte nicht unheimlich oder lächerlich werden.“39 Man kann aus verschiedenen Gründen lächerlich werden: Hier scheint sich die Angst vor der Lächerlichkeit auf die Intimität der Gefühle zu beziehen, auf die Art, wie die Pflanzen einen Gemütszustand rekonstruieren helfen können. Aber es kann auch sein, dass das, was erzählt wird, nicht geglaubt, als Übertreibung oder gar Verrücktheit angesehen wird. Zum Reden braucht man einen Zuhörer, der bereit ist auf das Gesagte einzugehen – auch daran misst sich das Sagbare: „Ich erinnere mich an die Zeit der Diktatur als ein Leben am dünnen Faden, an dem ich immer mehr wusste, was man mit Worten nicht sagen kann.“40 Zwischen dem Schweigen und dem Reden steht aber das Schreiben. Es hat mit Alleinsein und Nachdenken, mit Erinnerung zu tun. Nicht die Mimesis, sondern die Poiesis wird hervorgehoben. Die Realität deckt sich nicht eins zu eins mit den Sätzen, sondern sie muss neu erfunden werden, damit etwas über sie gesagt werden kann. Wenn der Anfang des Romans das Unangenehme des

38 Vgl. das schon erwähnte Werk von Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz, Frankfurt a.M. 1992, S. 57, 58, 59. 39 Herta Müller, „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich“, in: Dies., Der König verneigt sich und tötet, S. 74. 40 Ebd., S. 104.

6.7 Autofiktion und Unsagbarkeit: Die Sprache der Opfer im Roman (Herztier)

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Schweigens und das Lächerliche des Redens konstatiert und der Schluss des Romans diesen Satz wiederholt, kann man dies als eine geschlossene Struktur ansehen, in der das Schreiben sich dem Problem stellen muss, das eine und das andere zu überwinden, indem es aber beides thematisiert und auch bestehen lässt. Es kann jedoch auch als Hinweis auf einen Prozess interpretiert werden, der nie zu Ende geht, auf einen immerwährenden Versuch, der immer von Neuem anfängt. Wenn der Essay mit dem gleichen Satz endet, der ihm auch den Titel gibt, ist das ein weiteres Zeichen für diesen immerwährenden Prozess. Darin kommt gerade dem Schweigen eine fundamentale und durchaus aktive Rolle zu, weil es auf das Ausgelassene hinweist: Mir kommt das Schreiben immer als Gratwanderung vor zwischen dem Preisgeben und Geheimhalten. […] Die Hälfte von dem, was der Satz beim Lesen verursacht, ist nicht formuliert. Diese nichtformulierte Hälfte macht den Irrlauf im Kopf möglich, sie öffnet den poetischen Schock, den man als Denken ohne Worte gelten lassen muss.41

Im Schreiben Herta Müllers beeindrucken der außerordentlich lakonische Stil, die kurzen Sätze, die unerbittlich aufeinander folgen, die Parataxen, der Mangel an Subordination. Wie werden die Dinge aufeinander bezogen, wie werden Argumentationen entwickelt, wie wird die Erzählung gebaut, wenn es kaum Hypotaxen gibt? Hauptsächlich durch die Konstruktion von Metaphern, von Bildern, die sich in dem Maße, in dem sich die Erzählung entfaltet, mit immer komplexerem Inhalt auffüllen, so dass sie die Erzählung durch immer komplexere Konnotationen strukturieren. In den Essays wird die Metaphorisierung, die Bildlichkeit, zum Faden, an dem sich die Argumentation entwickelt. Im Roman bildet sich die Sinnstruktur durch die Konstruktion des Metaphernnetzes in kurzen, lakonischen, fragmentartigen Erzähleinheiten. In dem Dialog, der den Roman einleitet, sagt die Erzählerin: Ich kann mir heute noch kein Grab vorstellen. Nur einen Gürtel, ein Fenster, eine Nuss und einen Strick. Jeder Tod ist für mich wie ein Sack. Wenn das jemand hört, sagte Edgar, hält man dich für verrückt. Und wenn ich mir das denke, dann ist mir, als ob jeder Tote einen Sack mit Wörtern hinter sich läßt. Mir fallen immer der Frisör und die Nagelschere ein, weil Tote sie nicht mehr brauchen. Und, dass Tote nie mehr einen Knopf verlieren. Sie spürten vielleicht anders als wir, dass der Diktator ein Fehler ist, sagte Edgar. Sie hatten den Beweis, weil auch wir für uns selber ein Fehler waren. Weil wir in diesem Land gehen, essen, schlafen und jemanden lieben mußten in Angst, bis wir wieder den Frisör und die Nagelschere brauchten.42

41 Ebd., S. 87 f. 42 Müller, Herztier, S. 7.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

In diesem Anfang zeigt sich schon eine Reihe von Dingen, von Objekten, die für die Entwicklung der Erzählung bestimmend sein werden. Sie erscheinen zunächst als Serie völlig beziehungsloser Bilder, die fast surreal wirkt. Aber im Fluss der Erzählung werden diese Objekte in Beziehung zueinander gesetzt, mit Bedeutung gefüllt, wird mit ihrer Hilfe durch und für die Erzählung Sinn konstruiert. Der Gürtel, das Fenster, die Nuss und die Schnur evozieren letztendlich vier Todesarten, vier Tote. Der Tod von Lola, die sich mit dem Gürtel der Erzählerin im Studentenheim erhängt, der Tod eines ihrer Freunde, Georg, der sich aus dem Fenster auf die Straße wirft, der Tod Theresas, deren Tumor sich gleich einer immer größer werdenden Nuss an der Achselhöhle zeigt, und der wahrscheinliche Mord an Kurt, dem anderen Freund der Erzählerin, der sich angeblich mit einer Schnur erhängt hat. Alle Objekte verweisen auf Todesarten, die der Roman anspricht. Jeder Tod ist für die Erzählerin wie ein Sack. Ein Sack ist normalerweise alles andere als ein erhabener Gegenstand, er wird eher für bäuerliche, triviale Zwecke verwendet und für den Transport von allerlei Alltagsutensilien benutzt. Das negative, schäbige Bild verändert sich aber schlagartig, mit dem Zusatz, dass jeder Tote einen Sack voller Wörter hinterlässt. Von jedem Toten bleibt ein Nachlass: Dokumente, Texte, Wörter, aber geschriebene Wörter. Vielleicht sind sie genau das, was zwischen dem unangenehmen Schweigen und dem lächerlichen Reden bleibt, von dem im ersten und letzten Satz des Romans die Rede ist. In der Tat hinterlässt jeder Tote Dokumente, die als weitere Texte in den Roman eingewoben sind: das Tagebuch von Lola, die Dokumente der Unterdrückung, die Kurt gesammelt hat und die in einem Leinensack an einem Haken in einem Brunnen versteckt werden, schließlich die Briefe, die die Freunde untereinander wechseln. Darin teilen sie einander in einer vereinbarten Chiffreschrift mit, ob sie überwacht, verfolgt oder verhört wurden; sie verweisen auch auf die erinnerten Gespräche. Alle diese Dokumente werden von der Erzählerin evoziert; sie bilden damit eine polyphone Erzählstruktur und dokumentieren den Versuch, das Leben der Opfer zu beschreiben, ohne dass dieses Reden die Opfer der Lächerlichkeit preisgibt. Außerdem erscheinen schon in diesem ersten Dialog die Figuren des Friseurs und der Nagelschere. Obwohl sie zunächst beliebig und fast surreal wirken, füllen auch sie sich im Laufe der Erzählung mit kohärentem Inhalt. Sowohl der Friseur wie die Nagelschere fungieren als Bilder der Sozialisierung, der Verortung des Individuums in der Gesellschaft. Die einzigen, die sie nicht brauchen, sind die Toten. Sie sind die einzigen, die nicht mehr das ungeordnete Wachsen, das Wuchern ihres Körpers beschneiden müssen. Die Lebenden müssen dieses Wuchern kontrollieren: Lange Haare und lange Nägel sind in unserer Gesellschaft geradezu paradigmatische Zeichen von Unordnung und Verwahrlosung.

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Sowohl die Friseure wie auch die Nagelscheren gehören zur Ordnung und Sozialisierung der Lebenden. Sowohl die einen wie die anderen tauchen leitmotivisch im Laufe der Erzählung auf. In der Kindheit der Erzählerin, während der ersten Stufe ihrer Sozialisierung, sagt der Friseur des Großvaters dem kleinen Mädchen: „Wenn man die Haare nicht schneidet, wird der Kopf zum Gestrüpp.“43 Dass der Kopf zum Gestrüpp wird, kann zweierlei meinen: Zum einen, dass die Haare wirr und unkämmbar, also nicht in Ordnung zu bringen sind; zum anderen kann sich der Satz aber auch auf den Inhalt des Kopfes beziehen, weil das Wort „Kopf“ sowohl auf das Äußere wie auf das Innere verweisen kann.44 Es geht um eine repressive, gewalttätige Ordnung und Sozialisation. Denn das Mädchen bekommt diesen Satz des Friseurs zu einem Zeitpunkt zu hören, als man es mit einem Gürtel an einen Stuhl festgebunden hat, um ihm die Nägel zu schneiden, die es sich nicht schneiden lassen will. Das Mädchen phantasiert und verwandelt die Szene in einen Alptraum. Es träumt, dass ihm die Mutter nicht die Nägel, sondern die Finger abschneidet, um sie nachher zu essen. Indem die Mutter das tut, fließt das rote Blut auf den grünen Gürtel, der das Mädchen an dem Stuhl festbindet. Und das Mädchen weiß, dass man stirbt, wenn man blutet. Wenn man bedenkt, dass sich später Lola mit dem grünen Gürtel der Erzählerin aufhängt, wird ersichtlich, dass sowohl der Friseur wie die Nagelschere wie der Gürtel Elemente darstellen, die auf die Verortung des Individuums in der bestehenden Gesellschaft, in der etablierten – repressiven – Ordnung verweisen. Dabei wird auch die Gefahr deutlich, dass man die Verweigerung dieser Ordnung mit dem Tod bezahlt. In einem der Essays des Bandes Der König verneigt sich und tötet schreibt Herta Müller, dass alle Männer, die der Staat besonders überwachte, radikal kurzgeschorene Haare hatten: die Soldaten, die Gefangenen, die Kinder in den Waisenhäusern. Und sowohl in der Schule als auch in der Universität mussten die Haare vorschriftsmäßig kurz geschnitten sein. Die geheimdienstlerische Aktivität der Friseure ist auch eine biographische Erfahrung Herta Müllers; sie wird wie schon erwähnt in verschiedenen ihrer Essays beschrieben und erscheint auch in Der Fuchs war damals schon der Jäger. Die grüne Farbe gehört ebenfalls zu diesem Konglomerat symbolischer Verweise, die im Text auf Unterdrückung hinweisen. Der Gürtel ist grün. Nach Lolas Tod verwendet die Polizei giftgrünes Pulver, um Spuren zu suchen und zu sichern. Nägelschneiden, der Gürtel und die Farbe Grün stehen somit für die 43 Müller, Herztier, S. 17. 44 Die Analyse der Metaphern in Herztier von Ricarda Schmidt ist nach wie vor wegweisend. Ricarda Schmidt, „Metapher, Metonymie und Moral. Herta Müllers Herztier“, in: Haines (Hrsg.), Herta Müller, S. 57–75, hier: S. 65 f.

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Fesselung des Individuums in der Gesellschaft. Später, als die Freunde eine Geheimsprache für ihre Briefe ausarbeiten, vereinbaren sie, dass ein Satz, in dem die Nagelschere vorkommt, für ein erlittenes Verhör stehen soll. Mit dem Bild der Nagelschere wird damit ganz offensichtlich die unterdrückende Ordnung konnotiert. Die einzige Figur in der Erzählung, die dieser Nagelscherenordnung zu entfliehen scheint, ist Lola, die ihre Nägel immer in der Straßenbahn und mit einer fremden Nagelschere schneidet; damit demonstriert sie gewissermaßen eine alternative, vagabundierende Ordnung. Aber Lola bezahlt ihre Unordnung mit dem Tod. Sowohl der Friseur wie das Nagelschneiden zeigen die Deformationen, die das eigene, private Leben in einer Diktatur prägen, die Bereiche des Lebens, die angeblich am Rande der Politik stehen. Auf diese Weise wird der Friseur zu einem Teil der exekutiven Gewalt der Diktatur; er wird zu einer Symbolfigur dieser Gewalt. Das Individuum zahlt in den Diktaturen für seinen Ort in der Gesellschaft mit einer brutalen Beschränkung jeglichen Zeichens von Individualität, mit einer strikten Regelung aller Ebenen des persönlichen Lebens – das ist es, was diese Bilder zeigen. Die brutale Beschränkung des Individuums geschieht auch auf familiärer Ebene. In diesen Bildern wird auch die Unterdrückung durch die geschlossene Gesellschaft und die Traditionen des Dorflebens in Herta Müllers Kindheit deutlich, wie sie in den Erzählungen in Niederungen vorkommen; die oppressive Erfahrung des Dorflebens ist eine Vorstufe der Erfahrung der Diktatur und steht schon unter deren Zeichen. Eine weitere wichtige Gruppe von Dingen, die sich im Laufe des Romans mit symbolischem Gehalt auffüllen, sind landwirtschaftliche Produkte oder Gegenstände. Die jungen Leute ziehen zum Studieren oder zum Arbeiten vom Lande in die Stadt. Das Land ist in den Werken Herta Müllers immer eine außerordentlich harte und desolate Umgebung, die das Leben seiner Bewohner verschlingt. Die Autorin betrachtet die Natur, die uferlosen Maisfelder ihrer Kindheit, auf denen sie manchmal ihrer Mutter helfen musste, als einen enormen Organismus, der das Leben frisst: Ich hasste das sture Feld, das wilde Pflanzen und Tiere fraß, um gezüchtete Pflanzen und Tiere zu füttern. Jeder Acker war das randlos ausgebreitete Panoptikum der Todesarten, ein blühender Leichenschmaus. Jede Landschaft übte den Tod. […] Ich sah immer, dass das Feld mich nur ernährt, weil es mich später fressen will.45

Herta Müller schildert die weiten Landschaften ihrer Kindheit später auch als die erste Erfahrung der Vergänglichkeit: „Kindheitslandschaften sind die ersten gro-

45 Müller, Der König verneigt sich und tötet, S. 12.

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ßen Bilder, die uns mit unserem Körper konfrontieren. Wir sind winzig und spüren, dass unser Fleisch ein vergängliches Material ist.“46 Die Stadt bedeutet eine Alternative zum Land und ist im Prinzip eine positiv konnotierte Umgebung. Die Menschen fliehen das Land, um ein neues Leben in der Stadt aufzubauen. Das ist der Fall bei Lola und der Erzählerin selbst. Mit den Immigranten kommen auch ihre Träume und Wünsche in die Stadt und bevölkern diese. Im Roman steht dafür das Bild der Maulbeerbäume, die die Menschen aus ihrem Dorf mitbringen, um sie in die Höfe ihrer neuen Häuser zu verpflanzen. Diese Maulbeerbäume werden im Laufe des Romans zum Leitmotiv. Sie sind Zeichen des Landes in der Stadt und auch der Wünsche, die mit ihnen gekommen sind. Sie werden zu Symbolen dieser Wünsche. Sie bleiben als Zeugen der Vergangenheit, wachsen aber nicht; sie verfaulen langsam in den Höfen, wo die Menschen sitzen, die sie mitgebracht haben und die immer einsamer werden. In Lolas Tagebuch wird das Land als karg und trocken beschrieben, als ein Ort, wo die Dürre alles frisst „außer den Schafen, den Melonen und den Maulbeerbäumen“47. Die Schafe und die Melonen werden im Laufe der Erzählung zu Metaphern der Armut. Die Maulbeerbäume bleiben Metaphern der Träume von einem besseren Leben, die vom Land in die Stadt mitgebracht wurden und die die Gesichter der Menschen prägen: „In Lolas Heft las ich später: Was man aus der Gegend herausträgt, trägt man hinein in sein Gesicht.“48 Die Alten haben Maulbeerbäume vom Land in die Stadt gebracht und sitzen nun allein in ihrem Schatten. Die Männer, die Lola nachts unter den Bäumen im Park liebten, waren Bauern, die vom Land in die Stadt geflohen waren, um in den Fabriken zu arbeiten: „Nie wieder Schafe, hatten auch sie gesagt, nie wieder Melonen.“49 Aber die Erzählung entlarvt diese Hoffnung als gescheitert: Die Männer wußten, daß ihr Eisen, ihr Holz, ihr Waschpulver nichts zählten. Deshalb blieben ihre Hände klobig, sie machten Klötze und Klumpen statt Industrie. Alles, was groß und eckig sein sollte, wurde in ihren Händen ein Schaf aus Blech. Was klein und rund sein sollte, wurde in ihren Händen eine Melone aus Holz.50

Als Edgar zur Arbeit in eine Industriestadt geschickt wird, beschreibt die Erzählerin die Stadt mit dem Kommentar: „Alle in dieser Stadt machten Blechschafe und nannten sie Metallurgie.“51 Und über die Industriestadt, in der Georg Lehrer

46 47 48 49 50 51

Müller, Immer derselbe Schnee, S. 128. Müller, Herztier, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 93.

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wird, heißt es, dass dort „alle Holzmelonen machten. Die Holzmelonen hießen holzverarbeitende Industrie“52. Mit diesen Bildern schafft die Erzählung Metaphern für eine grundsätzlich landwirtschaftliche Gesellschaft, für eine Agrarwirtschaft, in der die Industrialisierung gescheitert ist; eine degradierte Gesellschaft, in der die Industrialisierung nicht als Fortschritt gesehen werden kann. Statt Schafe werden jetzt Blechschafe produziert, statt realer Melonen Holzmelonen. Man kann schwerlich sagen, dass dies ein großer Fortschritt sei. Die Stadtlandschaft wird von Fabriken und Arbeitern beherrscht. Aber diese Arbeiter treten als Masse auf; es gibt dort keine differenzierten Individuen. Die Arbeiter sind völlig funktional, Verlängerungen ihrer Berufe, die alle Bereiche ihres Lebens beherrschen. Sie leben von der Fabrik, und da es kaum Dinge gibt, die sie kaufen könnten, um ihre Häuser bewohnbar zu machen, benutzen sie das, was sie aus der Fabrik mitnehmen können, um ihre Wohnungen zu möblieren. Diejenigen, die mit Pelzen arbeiten, haben ihre Wohnungen mit Pelzen ausgestattet. Die Kissen und Sofabezüge, die Decken, Teppiche, Hausschuhe und Topflappen sind aus Pelzresten genäht und gebastelt. Bei den Holzarbeitern gibt es Parkett bis hinauf zu den Zimmerdecken. Die Arbeiter des Schlachthauses nehmen die Kuhschwänze nach Hause, um aus ihnen Besen zu basteln; sie nehmen die Innereien mit, um sie zu essen, und sie trinken das Blut der geschlachteten Tiere. Die Bilderwelt, die der Roman entfaltet, um Sinn aufzubauen, enthält noch viele weitere Bilder. Ich möchte noch zwei hier erwähnen; sie sind weitere Beispiele für die Komplexität der vom Text aufgebauten Bedeutungen, für die Konstruktion der Bildersymbolik als Bauprinzip: die grünen Pflaumen und das Bild, das dem Roman den Titel gibt – das Herztier. Beide haben in der Kindheit der Erzählerin ihren Ursprung. Die grünen Pflaumen sind gefährlich: Der Vater hat das kleine Mädchen davor gewarnt, sie zu essen; es könne sterben. Da der Vater eine negative und erschreckende Gestalt ist, (er ist ein ehemaliger SS-Mann), glaubt das Mädchen, dass der Vater eigentlich den Tod der Tochter will, und isst große Mengen davon. Das Essen von grünen Pflaumen erhält also eine selbstzerstörerische Konnotation: „Ein Kind hat Angst vor dem Sterben und ißt noch mehr grüne Pflaumen und weiß nicht warum.“53 Aber auch die Polizisten der Diktatur essen sie in Mengen, so dass das Essen grüner Pflaumen zu einem Sinnkomplex wird, der die Schrecken zweier Diktaturen miteinander verbindet – der nationalsozialistischen und der kommunistischen. Außerdem ist „Pflaumenfresser“ auf Rumänisch ein

52 Ebd., S. 97. 53 Ebd., S. 90.

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Schimpfwort, das einen skrupellosen Menschen bezeichnet, der über Leichen gehen kann. Der Ausdruck „Friedhöfe machen“ verbindet ebenfalls beide Diktaturen. Die Erzählerin bezieht dieses „Friedhöfe machen“ sowohl auf ihren Vater und seine Saufkumpane als auch auf den Diktator Ceauşescu. Das Herztier, das dem Roman den Titel gibt, ist wie die grünen Pflaumen ein Bild aus der Kindheit der Erzählerin. Wenn ihre Großmutter sie zu Bett brachte, sang sie ihr ein Wiegenlied: „Ruh dein Herztier aus, du hast heute so viel gespielt.“54 Das klingt zunächst positiv; aber es ist wiederum nicht klar, ob es auch positiv gemeint ist. Die Großmutter selbst ist eine ambivalente Figur, ihre Lieder sind es auch. Als der alkoholisierte und gewalttätige Vater stirbt, der, wenn er betrunken war, immer Lieder aus seiner „Friedhöfe machenden“ Soldatenzeit sang, geht sein Herztier in die immer singende Großmutter über. Das Herztier scheint eine Metapher für die Lebenskraft der Menschen zu sein, und wie diese ist es auch ambivalent. Im Roman gibt es viele Verweise auf das Herztier der Figuren. Die jungen Freunde und Dissidenten empfinden ihr Herztier als schwach: Aus jedem Mund kroch der Atem in die kalte Luft. Vor unseren Gesichtern zog ein Rudel fliehender Tiere. Ich sagte zu Georg: Schau, dein Herztier zieht aus. Georg hob mein Kinn mit dem Daumen hoch: Du mit deinem schwäbischen Herztier, lachte er. […] Ich sagte, um mir zu helfen: Du bist aus Holz. Unsere Herztiere flohen wie Mäuse. Sie warfen das Fell hinter sich ab und verschwanden wie nichts. Wenn wir kurz nacheinander viel redeten, blieben sie länger in der Luft.55

Die Freunde sind schon in Gefahr und sind gerade dabei, eine Geheimsprache für ihre Briefe zu erarbeiten, um die Zensur zu umgehen. In dieser Gefahr sind ihre Lebenskräfte gering. Immerhin wird hier aber auch auf die Kommunikation unter den Freunden verwiesen, die das Herztier stärkt: Je mehr sie reden, desto länger bleibt der Atem, das Herztier in der Luft bestehen. Dabei ist nur wichtig, dass sie überhaupt reden und dass sie viel reden; der Inhalt scheint nebensächlich. Das Herztier der Erzählerin ist immerhin stark genug, um dem Impuls zum Freitod zu widerstehen: Ein Buch aus dem Sommerhaus hieß: Hand an sich legen. Darin stand, daß nur eine Todesart in einen Kopf paßt. Ich aber lief im kalten Kreis zwischen Fenster und Fluß hin und her. Der Tod pfiff mir von weitem, ich mußte Anlauf nehmen zu ihm. Ich hatte mich fast in der Hand, nur ein winziges Teil machte nicht mit. Vielleicht war es das Herztier.56

54 Ebd., S. 40. 55 Ebd., S. 89 f. 56 Ebd., S. 111.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

Der Verweis auf Jean Amérys Hand an sich legen zeugt von dem Ernst der Absicht, aber auch von der Widerstandskraft der Erzählerin. Jean Améry verteidigt in seinem Essay den Freitod als Akt der absoluten Freiheit; doch er hat sich im Lager nicht getötet. Er hat es erst viele Jahre später getan. Im Lager wäre der Freitod kein Akt der Freiheit, sondern der Sieg der Henkersknechte gewesen. Das Herztier der Erzählfigur Herta Müllers hat noch Kraft genug, um den Henkersknechten zu widerstehen. Als sie im Verhör mit dem Tod durch Ertränken bedroht wird, reagiert sie mit Lebenswillen: „Der Fluß ist nicht mein Sack. Dich stecken wir ins Wasser gelingt dem Hauptmann Pjele nicht.“57 Mit Hilfe dieser Bildstruktur und der Fokussierung des Alltagslebens der Protagonisten stellt der Roman Kausalbezüge her und zieht Konsequenzen, die im Text nicht direkt ausgedrückt werden und die den von der Diktatur ausgeübten zerstörerischen Druck auf das Individuum bekunden. Im Roman kommt ein Junge vor, der Fahrkartenkontrolleur spielt und der abwechselnd Passagier und Kontrolleur ist. Als ein Nachbar ihm anbietet, als Passagier mitzuspielen, damit er nicht dauernd die Rolle zu wechseln habe, antwortet der Junge: „Ich bin lieber alles zusammen […], dann weiß ich, wer seine Karte nicht findet.“58 Dieser Junge hat die Kontrollwut der Diktatur perfekt verinnerlicht. Das Verhalten des Jungen ist nicht das einzige Zeichen der Beschädigung der Menschen durch die Diktatur. Schon im Eingangsdialog wird der Diktator selbst von den toten Freunden als ein Fehler angesehen. Selbst „ein Fehler“ zu sein wird aber auch auf die noch lebenden Freunde übertragen: „Sie hatten den Beweis, weil auch wir für uns selber ein Fehler waren. Weil wir in diesem Land gehen, essen, schlafen und jemanden lieben mußten in Angst, bis wir wieder den Frisör und die Nagelschere brauchten.“59 Das reine Überleben wird zu einem Fehler gemacht, die Freunde selbst halten sich für beschädigt, für kontaminiert. Das führt auch zu autodestruktivem Verhalten: Georg schneidet sich vor seiner Ausreise nach Deutschland so radikal die Haare, dass einige Stellen kahl sind und seine Kopfhaut beschädigt ist. In Deutschland bringt er sich wenig später um. Das Kind, das als „das Kind“ im Roman auftaucht und Szenen aus der Dorfkindheit Herta Müllers erlebt, schneidet sich selbst die Haare, bis sie schief sind und die Frisur kaputt ist. Dies bringt die Erwachsenen auf; auf die Frage, warum es das getan habe, antwortet es: „Weil ich mich nicht leiden kann“, und weint.60 Das Haarschneiden des Friseurs als Verortung des Individuums in der diktatorischen Gesellschaft wird autodestruktiv von den Figuren selbst übernommen.

57 Ebd., S. 112. Auch das ist autobiographisch, Herta Müller thematisiert es in dem Essay Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich. 58 Müller, Herztier, S. 194. 59 Ebd., S. 7. 60 Ebd., S. 231.

6.7 Autofiktion und Unsagbarkeit: Die Sprache der Opfer im Roman (Herztier)

275

Ein Beispiel der Beschädigung durch die Diktatur und der gleichzeitigen Komplizenschaft mit ihr ist Theresa, deren Freundschaft mit der Erzählerin sie nicht daran hindert, diese nach der Auswanderung im Westen zu besuchen und im Auftrag des Geheimdienstes auszuspionieren; unter dieser Bedingung hat die Todkranke ihr Ausreisevisum bekommen. Die Krebserkrankung scheint geradezu ein Ausdruck psychischer Spannungen unter der Diktatur zu sein. Auch diese Freundschaft beruht auf einer traumatisierenden autobiographischen Erfahrung der Autorin. Der Wunsch nach Gerechtigkeit bleibt in der Schwebe, wird nicht erfüllt: Ich wünschte mir, dass der Hauptmann Pjele einen Sack mit allen seinen Toten trägt. Dass sein geschnittenes Haar nach frischgemähtem Friedhof riecht, wenn er sich nach der Arbeit zu seinem Enkel an den Tisch setzt. Dass dieses Kind sich vor den Fingern ekelt, die ihm den Kuchen geben.61

Er kann nicht erfüllt werden, denn auch die Kinder sind von der Diktatur kontaminiert: „Kurt hat einmal gesagt, diese Kinder sind schon Komplizen. Die riechen, wenn sie abends geküsst werden, dass ihre Väter im Schlachthaus Blut saufen und wollen dorthin.“62 Die Gesellschaft scheint ein Kollektiv aus vampirischen Eltern und Kindern zu sein. Sowohl das Schweigen wie das Wissen um die Lächerlichkeit zeigen sich im Schreiben. Im Eingangsdialog der Freunde heißt es: „Mit den Wörtern im Mund zertreten wir so viel wie mit den Füßen im Gras. Aber auch mit dem Schweigen.“63 Das Gras verweist auf das, was unter ihm ist, auf den Friedhof, auf dem es wuchert. Die Freunde reden über ihre toten Freunde und haben deren Bilder vor sich; ihr Gespräch ist ein Totengedenken. Es geht auch darum, dass sie um den Armenfriedhof wissen, wo die Opfer der Diktatur verscharrt werden, um die Bedrohung mit dem Tode. Das Gras kann mit dem geheimen Friedhof und mit gewalttätigem Tod assoziiert werden. Nach dem Abschied von der Freundin, die sich als Spitzel erwiesen hat, sagt die Erzählerin: „Ich wollte, dass die Liebe nachwächst wie das gemähte Gras. Soll sie anders wachsen, wie Zähne bei den Kindern, wie Haare, wie Fingernägel. Soll sie wachsen, wie sie will.“64 Das ist ein Ausbruchsschrei aus der Ordnung der Friseure und des – ungenannten, aber allgegenwärtigen – Todes.

61 62 63 64

Ebd., S. 252. Ebd. Ebd. S. 7. Ebd., S. 161.

276

6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

6.8 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel Der 2009 erschienene Roman Atemschaukel ist der bisher letzte Roman der Autorin. Er handelt von der Deportation der in Rumänien lebenden Deutschen in die Zwangsarbeitslager der Ukraine und ist mit Hilfe der Erinnerungen Oskar Pastiors und mit dem Wissen um die Deportation ihrer Mutter entstanden. So behandelt er die Vorgeschichte der rumänischen Diktatur und fügt sich in den Themenkomplex der Werke von Herta Müller ein. Er handelt aber nicht von direkten persönlichen Erinnerungen der Autorin an selbsterfahrenes Leid, sondern von Erinnerungen zweier ihr nahe stehenden Personen. Während Herztier oder Der Fuchs war damals schon der Jäger den eigenen Erinnerungskomplex Herta Müllers bearbeiten und insofern durchaus den Werken der anderen in dieser Studie behandelten Autoren gegenüber zu stellen sind, ist Atemschaukel ein Roman über die Lager, der nicht aus der eigenen Erfahrung einer Überlebenden geschrieben ist, sondern diese aus der Perspektive der nächsten Generation vermittelt. Er wurde von Anfang an kontrovers rezipiert. In Die Zeit erschienen parallel gesetzt zwei gegensätzliche Rezensionen unter dem provokativen Titel Kitsch oder Weltliteratur?. Michael Naumann preist darin den Roman als „atemberaubendes Meisterwerk“, Iris Radisch kritisiert ihn als „parfümiert und kulissenhaft“.65 Sie findet Müllers Art, in dem Roman mit dem Terror umzugehen, völlig ungeeignet, ihren Metaphernreichtum als zur Sprache des 19. Jahrhunderts gehörend. Es handele sich um eine Sprache, die schon sowohl von Kertész wie auch von Schalamow als ungeeignet für die Beschreibung der Lager kritisiert worden sei. Die Kontroverse wurde mit der Verleihung des Nobelpreises einige Wochen nach Erscheinung des Werkes abrupt beendet. Mir geht es hier nicht darum, Atemschaukel den Werken von Kertész oder Schalamow gegenüberzustellen; ich finde den Vergleich unpassend. Es handelt sich nicht um das Schreiben einer Überlebenden, sondern um einen Roman, der aus der Sicht einer nächsten Generation eine tabuisierte Erinnerung bearbeitet und der aus der Perspektive dieser Generation weiterhin nach einer adäquaten Sprache für die Erinnerung an die Lager sucht. Auch sind die Realitäten, die die verschiedenen Autoren schildern, nur zum Teil vergleichbar; die Lager selbst waren anders und die Situation der Häftlinge auch. Ich möchte lediglich den Roman im Zusammenhang mit den früheren und autofiktionalen Werken Herta Müllers betrachten und auch im Zusammenhang mit den literarischen Verfahren, die sie dort entwickelt hat.

65 Michael Nauman/Iris Radisch, „Kitsch oder Weltliteratur?“ in: Zeit Online, 06.09.2009.

6.8 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel

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Herta Müller markiert ganz klar im Paratext den fiktionalen Aspekt von Atemschaukel, indem sie das Werk im Untertitel als Roman definiert und ihm ein Nachwort gibt, in dem sie das Entstehen beschreibt und die Erinnerungen benennt, auf denen der Roman beruht: die verschwiegene Erinnerung der Mutter und die in Gesprächen notierten Erinnerungen Oskar Pastiors, mit dem sie ein gemeinsames Buch plante. Mit ihm machte sie auch 2004 eine Reise nach Kriwoi Rog und Gorlowka, den Lagern in der Ukraine, wohin er deportiert worden war. Es geht um einen Besuch der zum Teil zu Ruinen gewordenen Erinnerungsorte. Die Dokumentation ihrer Reise wurde in Text und Kritik publiziert.66 Der Text ist die Mitschrift einer Lesung aus dem Jahr 2005 von Oskar Pastior, Herta Müller und dem Fotografen Ernst Wichner im Literaturhaus Stuttgart, bei der die Reise und die dabei entstandenen Bilder erklärt und kommentiert, also als Erinnerungsdokumente vorgestellt wurden. Im Todesjahr Pastiors, 2006, besaß Herta Müller vier vollgeschriebene Hefte mit Notizen, zum Teil auch Zeichnungen, sowie Entwürfe zu verschiedenen Kapiteln. Das Projekt, mit Pastior ein gemeinsames Buch zu schreiben, kann nicht mehr realisiert werden, und nach einem Jahr entscheidet sich Herta Müller, das ‚wir‘ zu verabschieden und nun selbst einen Roman zu schreiben, Pastiors Hintergrund im Roman als Quelle bekundend. Der Roman ist insofern auch eine Hommage an den verstorbenen Freund; er wird damit eindeutig aus dem Bereich des Autofiktionalen herausgenommen und im Bereich der fiktionalen Erinnerungsliteratur angesiedelt.67 Allerdings ist in die Fiktion des Romans auch eigenes Erleben eingegangen. Herta Müllers Interesse an der Geschichte der Deportierten ist schon in ihrer Kindheit angelegt, als in ihrem Dorfe Schweigen über die Deportationen herrschte, das sie erst später als Zeichen deuten konnte: Seit ich denken kann, sagt meine Mutter: Kälte ist schlimmer als Hunger. Oder: Wind ist stärker als Schnee. Oder: eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Von meiner Kindheit bis heute, seit über fünfzig Jahren, hat meine Mutter diese Sätze um kein Wort geändert. Sie werden immer einzeln gesagt, weil jeder dieser Sätze für sich genommen fünf Jahre Arbeitslager beinhaltet. Es ist ihre geraffte Sprache, die das Erzählen vom Lager ersetzt.

66 In: Text und Kritik, Heft 186: Oskar Pastior, April 2010, S. 3–15. 67 Michael Braun stellt den Roman in den Rahmen der Interpretation des kulturellen Gedächtnisses in Ders., „Die Erfindung der Erinnerung: H. Müllers Atemschaukel“, in: Paul Michael Lützeler/Erin McGlothlin (Hrsg.), Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 10/2011, Schwerpunkt: Herta Müller, S. 35.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

Ich hatte diese kryptischen Sätze ziemlich satt. Ihr Sinn war versteinert, sie klangen schon so unerschütterlich leer wie dreimaldreiistneun. Ich wollte endlich wissen, was hinter diesen Sätzen steht. Ich wußte zwar, dass im Dorf alle Frauen im Alter meiner Mutter „nach Russland verschleppt“ waren und alle Männer, die damals zu jung oder zu alt für den Krieg waren. Aber geredet wurde über die Lager nur im Flüsterton.68

Den Satz „Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett“ wählt Herta Müller schon 1991 als Titel für einen kurzen Text, der von dem Bericht eines Rumäniendeutschen über seine Deportation handelt. Der Satz stammt von diesem Deportierten; Hunger, Kälte und Schnee sind die zentralen Elemente seiner Beschreibung, wie auch in Atemschaukel;69 dies entspricht im Kontext von Schwerstarbeit der Realität der Situation. Wenn Herta Müller sich dem Thema zuwendet, geht es ihr um die Überwindung eines Schweigens, des Schweigens der Mutter, das sich in ihre eigene Kindheit gefressen hat. Sie hat sich immer über das Verhältnis der Mutter zur Kartoffel gewundert, über die Beharrlichkeit, mit der sie ihr extrem sparsames und akkurates Kartoffelschälen beibrachte, als ob dies das Maß aller Tugenden wäre. Sie spricht von Komplizenschaft der Mutter mit der Kartoffel: Von meiner Mutter kenne ich das Schweigen in der Beschädigung und die Komplizenschaft mit der Kartoffel, die im chronischen Hunger das Grundnahrungsstück war. […] Meine Mutter ließ mich im Schatten ihrer Handgriffe nur rätseln über das Lager. Die verkniffene Normalität und das verstörte Schweigen waren immer da und wurden mit der Zeit monströs[.]70

Im Roman geht es auch um die Suche nach einer Sprache für die Bekundung dieses Leides, nicht nur um die Dokumentierung der Deportation und der Lager, – eine Sprache zwischen dem unangenehmen Schweigen und dem lächerlichen Reden. Herta Müller schreibt über die Deportation – und damit über die Vorgeschichte der rumänischen Diktatur. Der Unterschied zwischen ihrem eigenen Erleben der Diktatur und Pastiors Erleben des Lagers ist ihr klar: Sie lebte unter einem Regime, das sich ausschließlich durch Repression definierte und das jeden, der Individualität für sich in Anspruch nahm, zum Staatsfeind erklärte; dieses Regime war dabei aber im Alltag einer Stadt, eines Hauses, einer Gruppe von Freunden präsent; der Schrecken kam schrittweise. Für Oskar Pastior „war ja schon der allererste Tag im Lager ein Sturz aus jeglicher Zivilisation, ein Schlag auf den Schädel: aus der Welt hinaus, hinter das Ende der Welt. Da läuft der Riss dann nicht mehr um einen herum, sondern mitten durch die Person.“ Und: „Also 68 Müller, Immer derselbe Schnee, S. 125. 69 Hartmut Steinecke, „Herta Müller: Atemschaukel. Ein Roman vom ‚Nullpunkt der Existenz‘“ in: Lützeler/McGlothlin (Hrsg.), Gegenwartsliteratur, S. 17. 70 Müller, Immer derselbe Schnee, S. 129.

6.8 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel

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mir hat es die Existenz und die Sprache täglich geschüttelt – aber Oskar Pastior hat es die Sprache und die Existenz täglich zerbrochen.“71 Die Suche nach einer angemessenen Sprache muss sich den gleichen Problemen stellen wie das Schreiben über die Opfer der Diktatur und ist den gleichen Aporien ausgeliefert. Den Einleitungs- und Schlusssatz von Herztier kann man mit einem weiteren Satz aus Atemschaukel weiterführen: „Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen. Man übertreibt im Einen wie im Anderen, aber DA WAR ICH gibt es in beidem nicht. Und es gibt auch kein richtiges Maß.“72 Der Vorsatz, die Realität der Lager präsent zu machen, aber dabei die Opfer aus einer Perspektive zu schildern, die nicht zu ihrer weiteren Entwürdigung beiträgt, ist auch hier ein ethisches und ästhetisches Problem; insofern ist die sprachkritische Haltung Herta Müllers wiederum in Zusammenhang mit der Diktatur und ihrer Sprache zu setzen, ebenso ihr Plädoyer für Genauigkeit mit Hilfe der individuellen Sprache der Metaphorik. In Lebenshunger und Wortangst fügt sie hinzu, Genauigkeit sei Selbstschutz, indem man sich soviel wie möglich bewusst mache. Und um zur Genauigkeit zu kommen, sei eine individuelle Sprache, seien der Vergleich und die Metapher notwendig: Ich kann nicht sagen, wie ich heute schreiben würde, wenn ich diese Jahre in Rumänien nicht gelebt hätte. Ob ich anders geschrieben hätte? Hat diese tagtägliche Angst oder diese Anspannung das Schreiben verändert? Ist der Widerwille gegen diese verfluchte ideologische Sprache, die ja das ganze Land eingesponnen hat, als Widerwille ins Schreiben gelangt? Wurde Genauigkeit notwendig, die Metapher, der Vergleich, um diesen Überdruss zu beschreiben?73

Das Schweigen der Mutter, ihre plakativen Sätze, stehen im Kontrast zu dem Erzählen Pastiors: Er raffte die Sprache anders als meine Mutter. Er redete vom „Nullpunkt der Existenz“. Sein Erinnern lebte von den Einzelheiten, war kompliziert, denn seine lebenslange Beschädigung bekannte sich zu einer lebenslangen Nähe zum Lager. Er sagte, ohne zu erschrecken: „Meine Sozialisation ist das Lager.“ Den gerafftesten Satz aller Sätze hat er als nackte Rechnung formuliert: 1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.74

71 Herta Müller, „Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz“ in: Leipziger Poetikvorlesung 2009, München 2010, S. 17 u. 15. 72 Herta Müller, Atemschaukel, München 2009, S. 294. 73 Müller, „Lebensangst und Worthunger“, S. 13 f. 74 Müller, Immer derselbe Schnee, S. 126.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

In den Gesprächen mit Pastior seien sie sehr schnell zum „flunkern“ gekommen: „[W]ir gingen, je besser wir uns kannten, immer ein Stückchen weiter von den Realitäten ins Erfinden – wir schrieben, als wir es endlich merkten, schon längst miteinander erfundene Realitäten.“75 Die Prämissen der erfundenen Wahrnehmung sind auch die der erfundenen Erinnerung. Ausgelöst wurde das Erfinden von den Wörtern, die im Lager eine Rolle spielten. Zum Erfinden musste Herta Müller immer tiefer ins Lager hinein und Pastior immer weiter aus diesem heraus – so beschreibt Herta Müller den gemeinsamen Prozess. Bei diesem Erfinden um der Genauigkeit willen spielt die Metaphorik weiterhin eine fundamentale Rolle. Für den Roman, den sie schließlich allein zu schreiben hat, findet Herta Müller eine Form, die das Fiktionale im Paratext markiert und die als Erinnerungsdiskurs aufgebaut ist. Dort trägt die Erzählinstanz, der Icherzähler Leo Auberg, viele Züge Pastiors; die Herkunft und das Alter, die Homosexualität, das Lager, in das er deportiert wird, das spätere Sich-Absetzen nach Österreich. Aber es gibt auch kleine Unterschiede: Er bleibt die ganzen fünf Jahre im gleichen Lager, er setzt sich nach Graz und nicht nach Wien ab. Strukturiert ist der Erinnerungsdiskurs aus der Ichperspektive; er verfolgt die Chronologie des Geschehens nur in großen Zügen. Er beginnt mit dem Packen für die Deportation und endet mit dem Fazit des Protagonisten, der inzwischen schon längst in Graz lebt. Dabei gibt es oft Rückblenden in die Kindheit des Protagonisten und Prolepsen auf sein Leben nach dem Lager. Die Erzählung folgt aber nicht der Chronologie. Vielmehr ist die Zeit eher als eine immerwährende Wiederholung präsent, als eine Art von grauenerregender Ewigkeit des sich immer wiederholenden Alltags, die sich in eine ungewisse Zukunft erstrecken kann und die von der Absurdität einer Kuckucksuhr mehr markiert als gezählt wird: In der Baracke ist, niemand weiß wie, eine Kuckucksuhr geraten, mit einem versehrten Kuckuck, der zur Unzeit falsche Stunden ausruft. Jemand reißt den Kuckuck aus der Uhr; er wird durch ein Gummistück ersetzt, das nun zur Unzeit vibriert und scheppert. Leo mag die Uhr. Die beiden Gewichte erinnern ihn an die Tannenwälder zu Hause. Das Absurde an der Uhr ist, dass es im Lager gar nicht um die Messung der immer vom gleichen Tagesablauf gezeichneten Zeit geht, sondern um die Frage ‚Kuckuck, wie lange leb ich noch?‘ Die Uhr als traditionelles Zeichen für die Vergänglichkeit bekommt hier eine extreme Bedeutung. Im Titel des Kapitels, „Von den Phantomschmerzen der Kuckucksuhr“, wird die Kuckucksuhr mit Phantomschmerzen ausgestattet. Man kann die Phantomschmerzen des verlore-

75 Ebd., S. 129.

6.8 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel

281

nen Kuckucks auch mit denen der verlorenen Zeit, der drangsalierenden Erinnerung assoziieren. Der Erinnerungsdiskurs wird durch Alltagsbegebenheiten und Dinge des Lageralltags strukturiert. Dass Dinge zu Erinnerungsorten werden, ist zu Genüge erwähnt worden, die Erinnerung kann sich an sie heften und so können sie auch zu Ausgangspunkten der mémoire involontaire werden. In allen Werken Herta Müllers spielen Dinge eine große Rolle, sie dienen als Metaphern für menschliche Bedürfnisse, Träume und Eigenschaften. In der Lagersituation bestimmen sie die Situation des Häftlings. Pastiors Erinnerung hält sich an Details, an Objekte, und diese bestimmen die Narration eines Alltags, der von der übermenschlichen Arbeit in den Kommandos regiert wird, vom Appellstehen, vom chronischen, rabiaten Hunger. Man stirbt am Hunger oder an der Kälte, den Toten zieht man sofort die zerlumpte Kleidung aus, um sie selbst zu benutzen, bevor der rigor mortis das unmöglich machte. Die Feldscherin schneidet den toten Frauen die Haare ab, um damit Kissen zu stopfen, die man zum Abdichten vor die Fenster und Türen legt. Der Roman ist um Objekte und Handlungen strukturiert, die den Alltag des Lagers bestimmen und zu Erinnerungsobjekten, Erinnerungsbildern werden, die auf die Arbeit verweisen oder das minimale Eigentum der Häftlinge darstellen. Die Kapitelüberschriften verdeutlichen dies: Vom Kofferpacken; Zement; Vom Fahren; Eintropfenzuvielglück für Irma Pfeiffer; Von der Herzschaufel; Vom Hungerengel; Von der Kohle; Von den Tannen; Der weinrote Seidenschal; Vom Lagerglück usw. Die Arbeiten mit der Kohle, an den Öfen, beim Ab- und Aufladen werden detailliert beschrieben; daran hält sich die Erinnerung des Protagonisten fest; die schaukelnde Bewegung des Kohleschaufelns ist in den Körper eingeschrieben. Einige der zentralen Metaphern des Romans stammen von Oskar Pastior selbst, sie fügen sich aber perfekt in Herta Müllers Poetik der Metaphernbildung ein, denn sie gibt ihnen die Funktion der Beschreibung der Realität, die sie ihren eigenen Metaphern auch verleiht. Der Hunger, der Hungertod ist allgegenwärtig im Lager. Dieser Komplex wird in einem wiederholenden, umkreisenden Schreiben in mehreren Kapiteln behandelt; ihn zu beschreiben wird in vielen Ansätzen versucht: „Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat.“76 Oder bildlich – körperlich: „Wir trugen einen so hohen Gaumen, dass sich beim Gehen das Echo der Schritte im Mund überschlug. […] Bis man im Kopf kein Hirn, nur das Hungerecho hat. Es gibt keine passenden Wörter

76 Müller, Atemschaukel, S. 24.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

fürs Hungerleiden.“77 Oder seine Nachwirkungen: „Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. Ich esse buchstäblich das Leben selbst, seit ich nicht mehr hungern muss.“78 In vielen Kapiteln ist der Hunger der Antrieb zum Handeln; seinetwegen wird gestohlen, geschlagen bis hin zum Töten, getauscht, gebettelt und betrogen. Der Hunger phantasiert Festessen und löst erbitterte Diskussionen über Kochrezepte aus sowie Tauschmanöver nach der täglich einmaligen Brotverteilung.79 Der Hunger wird schließlich in einer metaphorischen Gestalt, der des Hungerengels, kristallisiert. Zwei Kapitel des Romans sind dem Hungerengel gewidmet. Das eine befindet sich im ersten Viertel des Romans, das zweite steht in der Mitte, also an zentraler Stelle. Die Metapher des Hungerengels stammt von Pastior. In beiden Kapiteln wird der Versuch gemacht, den Hunger zu beschreiben; dies geschieht mit einem Paradox: Das eine Kapitel endet mit dem Satz „Der Hunger ist kein Gegenstand“80, das zweite beginnt und endet mit dem Satz „Der Hunger ist ein Gegenstand“81. Der Hungerengel wird zum mythischen Gegenspieler der Häftlinge. Dabei ist die Figur des Engels höchst ambivalent. Engel sind im 20. Jahrhundert längst nicht mehr nur Beschützer oder Boten aus dem Jenseits; sie werden auch mit dem Grauen, dem Terror und dem Tod in Verbindung gebracht; man denke nur an Rafael Albertis Sobre los ángeles. Das Meldekraut, ein Kraut, das man mit Salz kochen und essen kann, solange es grün ist, das aber, wenn es spektakulär schön blüht, zunehmend ungenießbar wird, ist der Schmuck des Hungerengels. Es verhöhnt die Hungernden geradezu in seiner Schönheit. Bei der Metaphorik des Hungerengels und überhaupt bei der Beschreibung der Hungernden spielt, meine ich, erneut die Suche nach der adäquaten Sprache für die Beschreibung des Opfers eine Rolle, – einer Sprache, die sie nicht wieder in die Lage der Opfer bringt, die nicht die Perspektive der Diktatur wiederholt. In dem Essay „Die Anwendung der dünnen Straßen“ heißt es: Die Deportation von Oskar Pastior, wie die meiner Mutter, nenne ich beim Schreiben „die Anwendung der dünnen Straßen“. Die Anwendung ist ein Gebrauch gegen den Willen und ohne Wahl. Im Satz sollen die Straßen nicht ungewiss sein, sondern DÜNN, damit sie sinngemäß brechen, ohne dass es im Wort geschieht. Nicht Halbverhungerter soll der Deportierte im Satz heißen, sondern LÖFFELBIEGER.82

77 78 79 80 81 82

Ebd., S. 25. Ebd., S. 25. Vgl. Steinecke, „Atemschaukel“, S. 26 f. Müller, Atemschaukel, S. 91. Ebd., S. 144. Müller, Immer derselbe Schnee, S. 124.

6.8 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel

283

Die Herzschaufel ist ein zentrales Arbeitsinstrument im Roman; sie wird aber auch zu einer Metapher für die Hoffnung. Sie ist das Arbeitsinstrument, das Leo am liebsten ist: nur ihr hat er einen Namen gegeben (und ihn von Pastior übernommen). Ein ganzes Kapitel wird ihr gewidmet. Sie hat ein großes, herzförmiges Schaufelblatt, einen kurzen Stiel und dient zum Schaufeln lockerer Kohle. Der körperliche Vorgang des Schaufelns wird genau beschrieben, Pastior konnte sich daran noch genau körperlich erinnern und Herta Müller machte sich dazu Notizen. Das Gedächtnis hat sich in den Körper eingeschrieben; die schaukelnden Bewegungen verweisen gleichzeitig auf die entkräftende Schwerstarbeit und auf das Leben, die Hoffnung und den Hungerengel: Der Häftling erhält für seine Arbeit zwar minimal wenig, aber doch etwas Brot („1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot“83); der Hungerengel weiß: „[N]ichts wärmt den ganzen Körper mehr als das Schaufeln, das am ganzen Körper zehrt. Er weiß aber auch, dass der Hunger die ganze Artistik frisst.“84 Das Überleben ist unsicher, das Kapitel endet mit einem Bild der Verwahrlosung, es gibt nur verlassene Hungerengel, verlassene Herzschaufeln und verlassene Kohle. Für dieses Überleben aber ist die Herzschaufel ein Instrument der Hoffnung: Im Anfangskapitel wird erwähnt, wie die Großmutter Leo mit dem Satz verabschiedet „Ich weiß, du kommst wieder.“ Die Erinnerung an die Gewissheit dieses Satzes hat ihn begleitet: „ICH WEISS, DU KOMMST WIEDER wurde zum Komplizen der Herzschaufel und zum Kontrahenten des Hungerengels.“85 Im Verhältnis sowohl zur Herzschaufel als Hoffnungsträger wie auch zum Hungerengel steht auch die Atemschaukel, die Titelmetapher des Romans. Beim Kohleschaufeln hält Leo die Balance, „die Herzschaufel wird zur Schaufel in meiner Hand, wie die Atemschaukel in der Brust“86; der Hungerengel „lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium, und was für eins“87. Wenn vom Tod die Rede ist, heißt es „dass man im Kopf das Nest, im Atem die Schaukel, in der Brust die Pumpe, im Bauch den Wartesaal hergeben muss.“88 Die Atemschaukel deutet auf das fragile Gleichgewicht zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen Leben und Tod – zwischen Hungerengel und Herzschaufel. In Atemschaukel wird auch das Schweigen der Zurückgekehrten thematisiert, ihre Scham, die sie dazu führt, sich nicht einmal untereinander wiederzutreffen, die abwehrende Haltung der Umwelt, die sie empfängt. Leo und Trudi Pelikan

83 84 85 86 87 88

Müller, Atemschaukel, S. 91, 144, 249. Ebd., S. 84. Ebd., S. 14. Ebd., S. 82. Ebd., S. 87. Ebd., S. 248.

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6 Herta Müller: Autofiktion, Bildlichkeit und Erinnerung

sehen sich von weitem und meiden sich. Leos Familie ist Leos Rückkehr vor allem unheimlich. Mit dem jüngeren Bruder hat sie inzwischen ein Ersatzkind, so wird er von Leo genannt. Sein Schweigen und Nichthandeln wird durch die Metapher „der Nichtrührer“ ausgedrückt, seine Beschädigung geht sowohl auf ihn selbst wie auf die Umwelt zurück. Er hat die Selbstverständlichkeit des Verhaltens aber schon von Anfang an verloren. Als Homosexueller ist er sowohl vor seiner Deportation wie im Lager wie nach seiner Rückkehr in die Diktatur immer höchst gefährdet. Die Entdeckung hätte zur sofortigen Verhaftung und zu weiteren Terrormaßnahmen geführt. Die genaue Beobachtung der Umwelt ist für ihn deshalb von Anfang an ein Schutz vor der feindlichen Beobachtung; dasselbe gilt für die Sicherheitsmaßnahmen im Bereich der Sprache. So haben alle Männer, die sich im Park oder im Neptunbad treffen, andere Namen, die sich auf Objekte oder Tiere beziehen: der Schwan, der Hase, die Katze, die Perle… Das gibt der Wirklichkeit ein doppeltes Gesicht. Leo denkt schlagartig an das Neptunbad, wenn sein Vater das Wort Aquarell benutzt oder wenn seine Mutter Anweisungen zur Verwendung von Gabel und Messer gibt und das Wort Fleisch benutzt. Die Wörter haben ihr Verhältnis zur Wirklichkeit verloren, bzw. sie verweisen auf eine unheimliche und gefährliche Wirklichkeit. Nach der Rückkehr aus dem Lager mischt sich diese Wirklichkeit mit der verdrängten, aber präsenten Lagererinnerung. Als Leo schon längst verheiratet ist und mit seiner Frau im Restaurant sitzt, bemerkt der Kellner, dass das Klavier falsch klinge, dass aber der Spieler gefeuert worden sei. Der Satz seiner Frau „Immer erwischt es den Spieler, nie das Klavier“89 bringt die Doppeldeutigkeit und damit die Unheimlichkeit der Wirklichkeit im Verhältnis zur Sprache schlagartig zum Ausdruck: Zu dieser Zeit ist „der Spieler“ Leos Deckname, er ändert ihn sofort in „das Klavier“ um und setzt sich kurz darauf aus dem Land ab. Nach Pastiors Tod und nach der Veröffentlichung von Atemschaukel wurde bekannt, dass Pastior zeitweilig auch Informant der Securitate war. Dazu mag ihn seine Beschädigung geführt haben, die Angst vor Repression und nochmaliger Deportation. Diese Widersprüche finden sich im Ansatz auch beim fiktiven Leo, der sich zu Ende des Buches weiterhin als ein Klavier definiert, aber als eins, das nicht mehr spielt. So stellt er sich selbst im Bild eines Objekts dar, das für Gefahr und Verlust der Selbstverständlichkeit steht und das seine eigentliche Funktion nicht mehr realisiert, die ausgesprochen positiv war, nämlich das Spielen. Herta Müllers Schreiben ist in hohem Maße von der Erinnerung an ihr Leben unter Ceauşescus Diktatur bestimmt; sie hat sich schon immer an Autoren wie Kertész oder Semprún orientiert und hat auf diese Verwandschaft auch hingewie-

89 Ebd., S. 289.

6.8 Die erfundene Erinnerung: Atemschaukel

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sen.90 In ihren Texten ist die eigene Biographie mehr oder weniger hintergründig präsent, und das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird dort genauso ausgeleuchtet wie die Frage nach der Möglichkeit des Schreibens, der Sagbarkeit des Schmerzes und die Suche nach einer dafür adäquaten Sprache. Dass man den Tatsachen erst im Nachhinein durch Sprache einigermaßen gerecht werden kann, weil das Erleben von Angst machenden Situationen keine Worte hat, ist von Herta Müller in Lebensangst und Worthunger betont worden. Dabei wird aber immer auf die Grenzen des Sagbaren hingewiesen, auf das Ausgelassene, das durchscheint und durch Metaphorik und Lakonie vermittelt wird. Letzten Endes ist das Bewusstwerden der Unsagbarkeit ein Rezeptionseffekt: Es bringt den Leser zu dem, was hinter den Worten steht.

90 „Soweit ich mich in der Literatur orientiert habe, habe ich mir Autoren ausgesucht, bei denen das strikt biographische in der Literatur drin ist. (Semprún, Levi, Solchenitsyn, Klüger, Kertész, Celan). In der Person liegen die Dinge so schwer, dass das vorderste Bedürfnis das ist, mit dem was passiert ist, zurechtzukommen. Die staatliche Macht zwang diesen Autoren ihr Thema auf, und mir ging es genauso. Das Thema wurde mir aufgezwungen, ich habe es mir nicht gesucht. Sowie mir das Leben aufgezwungen wurde. Es ist keine freie Entscheidung, und das eine bedingt das andere.“ Haines/Littler, „Gespräch mit Herta Müller“, S. 16.

7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus Spanischer Bürgerkrieg, Deportation und Exil 7.1 Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben als Denken Ich schreibe, um nicht zu vergessen. (15. Oktober 1951) Ich schreibe, um zu erklären – und um mir selber zu erklären –, wie ich die Dinge sehe, in der Erwartung zu sehen, wie mich die Dinge ansehen. Ich empfinde keine Lust beim Schreiben, ich glaube, ich habe sie nie empfunden, aber doch die Lust zu versuchen, klarer zu sehen, sowohl in mir wie auch in meinen Figuren: alles einzig darum, um den anderen und mir die Zeit zu erklären, in der ich lebe.1

In diesen Tagebuchaufzeichnungen gibt Max Aub die Gründe seines Schreibens an. Er kämpft gegen das Vergessen, protestiert gegen die Vergänglichkeit. Sein Schreiben ist ein Versuch, die Welt und seine Zeit, konkreter die geschichtliche Entwicklung seiner Zeit, zu erklären; es ist ein heuristischer Versuch des Verstehens, des Denkens. „Ich schreibe, weil dies meine Art zu denken ist“, schreibt er am 17. April 1941.2 Es ist auch ein Versuch, sich selbst zu retten und er steht unter einem moralischen Imperativ, dem der eigenen Wahrheit: „Ich schreibe, um mich ein bisschen zu retten. Und man kann sich nur retten, indem man den geraden Weg verfolgt, den eigenen Weg: die Wahrheit, die mir das Leben hindurch gegeben ist, das ich nicht gewählt habe und das ich doch in jedem Moment gewählt habe.“3 Der Verweis auf das Schicksal und gleichzeitig auf die eigene Wahl der im Leben gegangenen Wege hat bei Max Aub besondere Prägnanz: Sein Exil nach dem spanischen Bürgerkrieg gibt er trotz seines Heimwehs nie auf; zwei Reisen nach Spanien in seinen letzten Lebensjahren verlaufen enttäuschend. So wie Jorge Semprún sich als Pubertierender als rouge espagnol à tout jamais definiert und diese Definition bis zum Ende aufrecht erhält, bleibt auch der ältere, 1903 geborene Max Aub seinem Republikanertum treu: „Ich wiederhole es: ich verstehe all diese Sterbenden nicht, die danach trachten trotz ihrer Ideen hier begraben zu werden. Solange Franco regiert, nicht einmal durch Zufall in Spanien

1 Max Aub, Diarios (1939–1972), Manuel Aznar Soler (Hrsg.), Barcelona 1998, S. 196 f. Weder die Tagebücher noch einige der hier zitierten Kurzgeschichten von Max Aub sind ins Deutsche übersetzt. Wenn in den Anmerkungen der spanische Text angegeben wird, sind die Übersetzungen von mir (M.S.). 2 Ebd., S. 16. 3 Ebd., S. 226 (2 de agosto de 1953).

7.1 Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben als Denken

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sterben!“4, schreibt er am 23. Mai 1972 auf seiner zweiten Spanienreise, wenige Monate vor seinem Tod im mexikanischen Exil. Als ihm vorgeschlagen wird, er könne sich in Madrid einrichten und auch seine Bibliothek mitbringen, sieht er dies als Erniedrigung an.5 Der Kampf gegen das Vergessen bezieht sich nicht nur auf sein eigenes Vergessen. Er sieht darin ein moralisches Gebot, um die Erinnerung an die Besiegten des Bürgerkriegs zu erhalten, die Erinnerung an die Republik und an ihre Geschichte, an den Kampf um sie und gegen die Diktatur. Eine Erinnerung, die von Franco und den offiziellen Geschichtsbüchern in Spanien gelöscht wird, die nur im heimlichen Familiengedächtnis der Besiegten und im Exil weiterlebt. Aubs Roman-Chronik Campo de los almendros (dt.: Bittere Mandeln), die das Ende des Bürgerkriegs beschreibt, endet mit mehreren Szenen, in denen die Republikaner in Alicante vergeblich auf die versprochenen Evakuierungsschiffe warten und die siegreiche Armee Francos anschließend Racheakte verübt. In einem Dialog zwischen einem Vater und seinem Sohn heißt es über die Besiegten: Alle, die du hier siehst, die geschlagen sind, geschunden, wütend, mutlos, unrasiert, ungewaschen, verschwitzt, verdreckt, mit zusammengebissenen Zähnen, auf den Hund gekommen, zerstört; sie sind dennoch, das darfst du nie vergessen, mein Junge, vergiß das nie, was auch immer passiert, sie sind das Beste von Spanien, die einzigen, die sich erhoben haben, wirklich erhoben, ohne alles, nur mit ihren Händen, gegen den Faschismus, gegen die Militärs, gegen die Mächtigen, einzig für die Gerechtigkeit; jeder auf seine Weise, seine Art, wie er konnte, ohne Rücksicht auf sein Wohlergehen, seine Familie, sein Geld. Die du hier siehst, gebrochene Menschen, Spanier, geschlagen, zusammengepfercht, zusammengetreten, halbtot, vor sich hindämmernd, noch immer auf die Flucht hoffend, sie sind, vergiß das nie, das Beste der Welt. Das ist nicht schön. Aber sie sind das Beste der Welt. Vergiß das nie, mein Junge, vergiß das nie.6

Die insistierende und dramatische Wiederholung des Gebots, nicht zu vergessen, bestimmt Max Aubs Schreiben, bestimmt seinen Romanzyklus El laberinto mágico über den spanischen Bürgerkrieg. Das magische Labyrinth besteht aus einer Serie von sechs Romanen, zu denen der gerade zitierte gehört. Er ist thematisch der vorletzte. Der letzte, Campo francés (dt.: Am Ende der Flucht), schildert die Anfänge des Exils, die Gefangenschaft der Republikaner in den französischen Lagern. Dabei ist aber schon die Bezeichnung Roman problematisch; denn es handelt sich um eine ganz eigene Sorte von Romanen. Sie stehen zwischen Roman und Geschichtschronik; sie sind praktiziertes Geschichtswissen und Lite4 Ebd. S. 529. 5 Ebd., S. 520 f. (8 de mayo de 1972). 6 Max Aub, Bittere Mandeln, aus d. Span. v. Albrecht Buschmann u. Stefanie Gerhold, in: Ders., Das Magische Labyrinth, Bd. 6, Mercedes Figueras (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2003, S. 541 f.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

ratur zugleich; sie malen ein großes Fresko der Zeit von den zwanziger bis zu den vierziger Jahren in Spanien und beleuchten ihren gesamteuropäischen Zusammenhang, darunter das Verhältnis zwischen dem spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg. Gegen das Vergessen und den Tod steht das Wort, die Schrift. Max Aub hatte schon vor dem Krieg angefangen, zu schreiben; er war ein angehender Theaterautor. Der Krieg macht ihn zum Prosaautor, und zwar durch die Notwendigkeit, den Krieg für die Erinnerung und gegen das Vergessen zu dokumentieren. Das geschieht bezeichnenderweise in dem Moment, als der Krieg verloren ist. Aubs Schreiben ist unausweichlich mit der Erinnerung der Besiegten und dem ethischen Gebot, sie zu erhalten, verflochten. Es geht auch bei ihm um Autobiographie und Geschichte, um persönliches und kulturelles Gedächtnis, um die Institutionalisierung eines gerechten Gedächtnisses in einem Kontext des verletzten Gedächtnisses, nämlich der Auslöschung der Erinnerung an die Besiegten. Und dabei geht es um einen Versuch des Verstehens, des Nachdenkens über die Geschichte. Insofern ist sein Schreiben über die Vergangenheit, sein Erinnern auch zukunftsorientiert. Eine der Figuren in Bittere Mandeln, Paco Ferrís, kommt in der schon kommentierten Szene an den Hafen von Alicante und stellt sich selbst die Aufgabe, die Tragödie zu schildern: „Aber es ist eine Tragödie, und ich werde überleben, um sie aufzuschreiben. Ich muß nur eines tun: mir Notizen machen, ab sofort.“7 Die Erzählstimme setzt hinzu: „Erschöpft und durchnässt sucht Ferrís sein Notizbuch, zückt und schraubt seinen Füllfederhalter auf, schaut sich um. Er weiß nicht, wo er anfangen soll. Dennoch schreibt er: ‚Dies ist der Ort der Tragödie, am Meer, von dem wir uns alles erhoffen.‘“8 Mit fast den gleichen Worten beginnt der Absatz, in den die Szene eingebaut ist: „Der Ort der Tragödie: am Meer, unter dem Himmel, am Land. Der Hafen von Alicante, am 30 März 1939.“9 Es ist als ob der Roman von seinen eigenen Figuren geschrieben würde, als ob die Erzählstimme durch sie hindurch spräche und damit dokumentierte. Aub begann seinen Zyklus über den Krieg gleich zu Beginn seines Exils, noch im Februar 1939 in Paris, bevor er in verschiedene französische Gefängnisse und Lager deportiert wurde. In den Lagern schrieb er dann auf allen möglichen Zetteln, Blättern und Heftchen weiter. Vieles ist verlorengegangen, aber vieles konnte er auch retten; ein ganzer Haufen Notizen lag jahrelang im Keller seiner Concierge in Paris. Diese Notizen konnten gerettet werden, weil die Polizei versehentlich eine Schublade der – von Tristan

7 Ebd., S. 362. 8 Ebd., S. 362 f. 9 Ebd., 362.

7.1 Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben als Denken

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Tzara geschenkten – Kommode, in denen sie lagen, nicht öffnete. Dass der Protagonist Ferrís später erschossen wird, weil er seinen Füllfederhalter nicht aus der Hand geben will, hat auch allegorische Bedeutung für die Exilsituation. Max Aub behandelt den spanischen Bürgerkrieg im Romanzyklus Das magische Labyrinth, der von den zwanziger Jahren ausgeht, um die problematische gesellschaftliche Situation zu zeichnen, die in den Krieg geführt hat, und thematisiert, wie schon erwähnt, im letzten Band auch die Folgen für die Republikaner in den französischen Lagern und die Anfänge des Exils. Aber er schrieb auch Kurzgeschichten, die sich mit konkreten Situationen aus der gleichen Zeit auseinandersetzen und die sozusagen die ausgetragene Problematik kondensieren. Sie stehen parallel zu den Romanen mit ihrer Figurenfülle und stellen punktuell eine kondensierte Handlung dar, die als symptomatisch, auch als exemplarisch gelten kann. Als Kurzgeschichten sind sie strukturiert und geschlossen, bewegen sich um eine oder zwei Figuren, bilden eine geschlossene Welt. Die Thematik von Exil und Lager bestimmt bezeichnenderweise die Sammlung Historias de mala muerte (wörtlich: Geschichten vom schlechten Tod, wobei aber de mala muerte auch ein Phraseologismus ist, der auf einen entlegenen, miserablen Ort verweist). Es sind Geschichten, die selbst als entlegen und miserabel gekennzeichnet werden und die von schlechten Toden, schlechten Todesarten handeln. Unter ihnen kann El remate als paradigmatisch für die Situation des Exilanten gelten. Remate bedeutet auf Spanisch sowohl Abschluss als auch Gnadenschuss, wobei der deutsche Gnadenschuss zu positiv konnotiert ist. In remate liegt das Wort matar, töten, es handelt sich also sowohl um Abschluss wie um Abtötung. In dieser noch nicht ins Deutsche übersetzten Geschichte zeigt sich auch, wie das Exil gleichzeitig, nach der von Claudio Guillén so prägnanten, von Max Aub selbst inspirierten Terminologie, ein destierro (aus dem Land) und ein destiempo (aus der Zeit) ist,10 der Exilant also gleichzeitig aus dem Raum und aus der Zeit gejagt wird. Indem er zu einer bestimmten Zeit aus einem geographischen Raum gejagt wird, wird er auch in diesem gleichen Raum aus der Zukunft ausgeschlossen: Die Zeit geht in diesem Raum ohne den Exilanten weiter. Sie geht weiter und fördert Entwicklungen zutage, aus denen er ausgeschlossen ist, an denen er nicht teilnehmen kann und in denen er vergessen wird, so dass eine Rückkehr eigentlich unmöglich ist. Der Icherzähler in El remate, selbst in Frankreich exiliert, schildert die Geschichte seines Freundes Remigio, eines in Mexiko exilierten Schriftstellers,

10 Vgl. dazu: Claudio Guillén, „El sol de los desterrados“, in: Ders., Múltiples moradas. Ensayo de literatura comparada, Barcelona 1998, S. 31–86, sowie Max Aub, La gallina ciega: diario español, Manuel Aznar Soler (Hrsg.), Mexiko 1971, S. 189 f.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

dessen Frau und Kinder in Spanien geblieben sind und der eine Reise nach Frankreich unternimmt. Dort besucht er 1963 seinen Freund, den Erzähler, und auch Remigios Sohn reist von Spanien an, um ihn zu sehen. Die Problematik des exilierten Schriftstellers weist autobiographische Züge von Max Aub selbst auf und zeigt exemplarisch die Tragödie, aus der Gegenwart des Heimatlandes verschwunden zu sein, das Publikum verloren zu haben, aus Raum und Zeit ausgeschlossen zu sein. Remigio stellt fest, dass sein Name und sein Werk den jungen Spaniern, auch den angehenden Schriftstellern, fast unbekannt sind. In Spanien ist er nicht präsent, in Mexiko ist er Ausländer: Keiner von diesen Jungen, die jetzt anfangen, hat etwas von mir gelesen, sie haben keine Ahnung von meinem Namen. Einigen sind die Namen derer bekannt, die vor 1936 publiziert haben. Wir anderen verfaulen, verschwinden. Denn natürlich sind wir auch in Méxiko nichts. Was mich betrifft, hat mich zum Glück Max in einem ziemlich oft zitierten Essay erwähnt, sonst, das kann ich dir versichern, wäre nicht das Geringste von mir bekannt. Es ist nicht ihre Schuld: sie wissen es einfach nicht. […] Ich rebelliere nicht gegen die Unwissenheit, sondern gegen die Fakten, die sie bedingen. […] Es ist nicht so, dass es eine Verschwörung gegen mich gäbe. Oder gegen sonst jemanden. Nein. Sondern […] die Dinge sind so, sie sind so geworden.11

In dem Text zeigt sich auch ein typisches Erzählmittel von Max Aub: Er führt sich selbst in die Erzählung ein, hier in einem Verweis auf sein Schreiben, um gegen das Vergessen der exilierten Schriftsteller anzukämpfen, bezieht sich also gerade auf das Problem, von dem die Kurzgeschichte handelt. Es entsteht so eine Art von mise en abyme der autobiographischen Problematik, die distanziert, aber als eigene ausgewiesen wird. In seinen Tagebüchern beschäftigt sich Max Aub wiederholt mit dem Verschwinden der Exilschriftsteller aus dem literarischen Panorama, um seiner Frustration darüber Ausdruck zu geben. Der fehlende Dialog mit den in Spanien wirkenden Schriftstellern macht ihm zu schaffen. In El Remate sagt Remigio: „Ich weiß nicht, warum wir gedacht haben, dass mit unserem Fehlen das Land einschlafen würde, unbewegt wie Dornröschen, auf uns wartend, als ob wir der unentbehrliche Prinz wären, um wieder gehen zu können[.]“12 Diese bittere Feststellung mussten auch die deutschen Exilschriftsteller machen; über den fehlenden Dialog in der Nachkriegszeit konnte sich Jean Améry nicht hinwegsetzen. Exil erweist sich als destiempo, als Ausgeschlossensein aus

11 Max Aub, „El Remate“, in: Ders., Historias de mala muerte, Joaquín Mortíz (Hrsg.), Mexiko Stadt 1965, S. 7–46, hier: S. 16. 12 Ebd., S. 19.

7.1 Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben als Denken

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der Zukunft. Im Falle der spanischen Schriftsteller, die wegen der langen Dauer des Franco-Regimes nicht zurückkehren können oder wollen und die der offiziellen systematischen Auslöschung der republikanischen Memoria zu Opfer fallen, ist die Situation besonders dramatisch, auch wenn sie die Sprache der Exilländer sprechen. Max Aubs Fall zeigt es besonders klar. Die fehlende Präsenz, das Vergessen stellen nämlich letzten Endes die eigene Position, die eigene Identität in Frage. Was für einen Sinn hat die Treue zu einer verlorenen Republik zwanzig Jahre später? Wem ist man eigentlich treu? Was heißt diese Treue überhaupt für das eigene Leben? – Die Zeit tötet uns. – Das kannst du wohl sagen. – Nein, auch im Leben. Sie versenkt uns. Wir verschwinden langsam in einem morastigen Land, in einem Sumpfboden, und sehen, wie die Anderen weitergehen. Es ist ungerecht. – Das ist es. – So war das, was wir gemacht haben, Blödsinn? – Wahrscheinlich. – Ich kann es nicht glauben. – Was beklagst du dann?13

In El Remate treten die wichtigsten autobiographisch gezeichneten Aub’schen Themen auf. Schon der Titel verweist auf die Situation der vergessenen Exilierten: Sie werden durch das Vergessen ein zweites Mal getötet. Es sei nicht so, dass man aus Angst nicht über sie spreche oder sie nicht lese, sie seien einfach vergessen: „[W]ir sind einfach ausradiert worden. Eine richtige Abtötung“14. Max Aub hat dies selbst erfahren müssen. In dem Tagebuch, das er über seine enttäuschende Spanienreise Ende der sechziger Jahre führt, schreibt er: „Wer bin ich für alle diejenigen, die diese Cafés im Zentrum Barcelonas und ihre riesigen Terrassen füllen? – Nein, niemand weiß, wer du bist.“15 Und etwas später im gleichen Tagebuch: „Du weinst über dich selber. Über deine eigene Beerdigung, über aller Unwissenheit von deinem herrenlosen Werk, das weder Haus noch Herd noch bekannten Herrn hat, unwissend und ungeschickt.“16 In El Remate erscheinen zwei Szenen, die das konfliktreiche Verhältnis zum Vergessen in der Konfrontation zwischen Siegern und Besiegten, Opfern und Henkern zeigen. Zum einen eine bittere Diskussion zwischen Remigio und einem angehenden spanischen Universitätsdozenten für Literatur. Dieser findet das Vergessen der Exilliteratur selbst13 14 15 16

Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Aub, La gallina ciega, S. 31 f. Ebd., S. 180.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

verständlich und zitiert schnippisch unter anderem, die Sieger hätten immer Recht.17 Zum anderen ein Artikel in einer spanischen Tageszeitung, der den zehn Jahre zurückliegenden Todestag des zusammen mit Franco aufständischen Generals Queipo de Llano zelebriert. Als Retter des Vaterlandes gefeiert, erweckt er beim Erzähler die Erinnerung an die unter Queipo de Llano ausgeführten Massaker in Sevilla, aus denen er selbst fliehen konnte, denen aber viele seiner Bekannten zum Opfer fielen, unter ihnen Carmela, seine große Liebe.18 Dass Queipo de Llano in der Kirche der immer noch in ganz Sevilla gefeierten Madonna La Macarena beigesetzt wurde, erwähnt auch Semprún wiederholt mit Erstaunen. Die Sätze des hagiographischen Artikels über Queipo de Llano werden von der Schilderung der Massaker unterbrochen. In der Konfrontation beider Texte zeigt sich das ‚verletzte Gedächtnis‘ der Geschichte geradezu paradigmatisch: Die Erinnerung an den General setzt das Vergessen der vielen Toten voraus und noch zehn Jahre nach Queipo de Llanos Tod wird daran festgehalten. Gerade deshalb aber wird das Schreiben notwendig, um diese Toten vor dem Vergessen zu retten und um das Gedächtnis zu korrigieren. Denn wenn auch die Toten vergessen werden – „[W]as mir nicht in den Kopf will, ist die Glorifizierung des Mörders. Nein! Man soll es wissen, und sei es nur einmal, […] dass Queipo ein Mörder war, ein Scheißmörder, ein Mörder[!]“19 Der Erzähler selbst sagt, dass er schreibt, um vergessen zu können. Auf eine kathartische Art möchte er sich von der Last der Erinnerung befreien, indem er sie aufschreibt. Etwas, was sein Autor nicht kann, dessen Schreiben immer wieder um die Erinnerung kreist. Wie das Schreiben seines Autors hat aber das Schreiben des Erzählers auch die Funktion, die Erinnerung für andere wachzuhalten. Denn bald wird sich niemand mehr an diese Toten, diese Opfer der Repression erinnern. Es folgt ein hoffnungsvoller Verweis auf die Geschichte und auf die menschliche Gemeinschaft, trotz allem: „Letzten Endes, und wie Jorge Guillén sagt: Die Welt ist mehr als der Mensch.“20 Dem ebenfalls exilierten Dichter Jorge Guillén, den Max Aub gekannt und mit dem er verkehrt hat, ist die gesamte Erzählung gewidmet. Damit wird überdies der Glaube an die Sprache, an das Schreiben gegen das Vergessen und an eine bessere Welt ausgedrückt, so dass der Erzähler sagen kann: „So glaube ich, mit etwas Rhetorik etwas gemacht zu haben.“21 Schreiben ist Handeln. Am Ende teilt

17 Aub, „El Remate“, S. 21. 18 Die Massaker werden auch von Arthur Koestler, der in Sevilla im Gefängnis zu Tode verurteilt wurde und nur durch eine internationale Aktion gerettet werden konnte, im Spanischen Testament geschildert. 19 Aub, „El Remate“, S. 44. 20 Ebd., S. 45. 21 Ebd.

7.1 Schreiben gegen das Vergessen, Schreiben als Denken

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der Erzähler noch lakonisch-distanziert den Tod Remigios mit. Dieser hat sich vor einen Zug geworfen, in dem Tunnel, der Port Bou mit Cerbére, Spanien mit Frankreich verbindet. Es ist der Ort, an dem Remigios Exil begann, wo er von Spanien ausgeschlossen und von den Franzosen nicht aufgenommen wurde. Ein weiteres Thema, das in der Erzählung über eine andere Figur kurz zur Sprache kommt und das sich für Max Aub selbst als besonders traumatisch erweist, ist die Tatsache, dass die angeblich demokratischen und antifaschistischen Franzosen die spanischen Antifaschisten in Lager sperrten, so wie es ihm auch selbst ergangen ist. Da er Sozialdemokrat war und sich den Kommunisten gegenüber kritisch verhielt, kam es ihm besonders absurd vor, dass er 1939 auf eine anonyme Anzeige hin, er sei Kommunist und Jude, aus Paris ins Lager deportiert wurde, zuerst nach Vernet in Südfrankreich und dann nach Djelfa in Algerien. Auf sein Judentum kommt er in diesem Zusammenhang nicht zu sprechen; das ist ein blinder Fleck. Eine weitere der Historias de mala muerte ist als ein Mahnmal für die Toten, als eine Erinnerung an sie konzipiert. Es handelt sich um El cementerio de Djelfa (Der Friedhof von Djelfa). Darin werden Ereignisse von 1961 geschildert. Die Geschichte ist auch in ihrem Aufbau typisch für viele der Aub’schen Texte in ihrem komplexen Verhältnis zwischen Fiktion und Geschichte, in den paratextuellen Markierungen der Authentizität, den Autorisierungsstrategien, mit denen die Fiktion versehen ist. Der Text wird durch eine Fußnote als ein zerrissener Brief ausgewiesen. Er stammt angeblich aus einem Postamt in Mexiko und trägt das Datum des 17. Mai 1961. Somit wird der fiktionale Text durch Paratexte mit allen Merkmalen einer dokumentierten Wirklichkeit versehen. Der zerrissene Brief ist an einen Exilanten gerichtet, der mit dem Autor des Briefes im Lager von Djelfa gewesen ist. Er beginnt ohne Anrede mit der Vermutung, dass sich der Adressat sicher nicht mehr an eine bestimmte Person, den Pardiña, erinnert, und beginnt von diesem zu erzählen. Im Laufe des Erzählens wird klar, dass der Icherzähler dieser Pardiña ist, ein exilierter republikanischer Lehrer, der, weil er nicht nach Spanien zurückkehren konnte, in Djelfa geblieben ist und dort als Schreiner arbeitet. Er erzählt von den Kämpfen und dem Unabhängigkeitskrieg in der Gegend und kommt auf eine blutige Schlacht zu sprechen, die sich in dem Dorf abgespielt hat und nach deren Ende die Toten auf dem Friedhof von Djelfa beigesetzt werden sollen. Ein Problem besteht mit den fellagas: Man kann sie nicht auf dem besetzten maurischen Friedhof bestatten, also müssen sie auf dem christlichen Friedhof in einer entlegenen Ecke beigesetzt werden. Dort sind die republikanischen Spanier bestattet, die zwanzig Jahre zuvor in dem Lager zugrunde gegangen sind. Und nun zeigt sich der wahre Grund des Briefes: Der Briefschreiber stellt fest, dass sich niemand mehr an sie erinnert, und teilt dem ehemaligen Lagergefährten seine Empörung darüber mit. Denn der französische

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Kommandant geht davon aus, dass man an ihrer Stelle die neuen Opfer der Gewalt verscharren kann. Sein Befehl lautet: „Sie sind schon ganz verfault. Wer erinnert sich an sie? Häuft sie auf oder schmeißt sie über die Abdeckung. Und werft mir diese Hunde (für die Eingeborenen) in dem Loch übereinander.“22 Und nun werden die spanischen Toten mit Namen aufgezählt, eine lange Liste; der Brief hält die Erinnerung an sie fest und gibt sie weiter, wird so zu einem Denkmal für sie: Der Madriles, der Abgemagerte, der irre wurde; Julián Castillo, der überreife Alte, […] Enrique Hernández, der damit angab, Sieger im Schachwettbewerb von Arganzuela zu sein, Luis Garrote, der Adjutant von Miaja gewesen war; Sebastián Morales, der Fahrer, der die Flucht versuchte und der den sieben Trachten Prügel von Gravela standgehalten hat; Luis Bueno, der am häufigsten an die Pfähle gebunden wurde, im Schnee, im Winter 1942, als unsere Hoffnungen noch grünten; Bernardo Bueno, der Arzt […].23

Der Erzähler kann das Vergessen bestätigen: „Der capitaine hatte Recht. Wer erinnert sich noch an sie? Wer dankt ihnen, dass sie hier starben, an den Grenzen des saharischen Afrikas, weil sie die spanische Freiheit verteidigt hatten? Niemand, absolut niemand.“24 Der Text, der Brief, tut beides. Er erinnert an sie und spricht die Anerkennung aus, die ihnen nicht zuteil geworden ist. Aber der Text markiert auch eine Distanz gegenüber dem Ausgesagten. Er tut es mit einer Technik der Erzählperspektive, die man einem unzuverlässigen Erzähler vergleichen könnte, die aber auch eine Technik der Montage ist. In Klammern wird nach dem zitierten Fragment darauf aufmerksam gemacht, dass die Wirklichkeit etwas anders ausgesehen habe. Es tritt also eine weitere Erzählinstanz auf, die aus einer allmächtigen Position die Wahrheit dokumentiert, eine Wahrheit, die viel trostloser aussieht. Der Briefschreiber habe sie sogar beschönigt. In Wirklichkeit habe der französische Offizier den Befehl zum Graben gegeben. Auf den Einwand der Soldaten, dort lägen schon Knochen, habe er geantwortet: „Schmeißt sie irgendwo hin. Schaufelt und vergrabt diese Hurensöhne.“25 Diese Montage der angeblichen Wirklichkeit, einem Dokument gleich, verweist auf die Tatsache, dass sogar die Erzählung des Augenzeugen, des Briefeschreibers, an der Härte der Wahrheit vorbeigeht, sie nicht ertragen kann. Der Schluss der Erzählung tritt schlagartig ein, und mit ihm ein weiterer Erzähler, jetzt der Adressat und Leser des Briefes, der den Schluss paraphrasiert: Pardiñas habe zum Schluss beiläufig erwähnt, dass er kurz nach dem Schreiben erschossen werden sollte, wohl als 22 23 24 25

Max Aub, „El cementerio de Djelfa“, in: Ders., Historias de mala muerte, S. 73–84, hier: S. 82. Ebd., S. 82 f. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84.

7.2 Leben im Exil als destierro und destiempo: Aus dem Land und aus der Zeit

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Revoltierender verdächtigt. Seine Hände hätten nach Pulver gerochen. Somit wird der Brief zu einem letzten Brief vor dem Tod, zu einem Nachlass, der einem Exilierten und ehemaligen Mitgefangenen übergeben wird. Mit ihm wird die Erinnerung an die Toten weitergegeben. Die fellagas haben sich im Grab mit den Überresten der Spanier vereinigt; als neue – jetzt aber unbekannte, namenlose – Opfer der Gewalt in einem neuen Kampf für die Freiheit. Die Montagetechnik verweist auf eine Wirklichkeit, die noch härter ist, als sie der Bericht des Augenzeugen und Opfers schildert. Die Erzählung gibt zudem einen metapoetischen Hinweis auf ihre Konstruktion, auf eine Filmtechnik der Montage, um dem Ungenügen der Wörter beizukommen: Die Worte sind so unzureichend gegenüber den Gefühlen, dass man auf tausend Tricks zurückgreifen muss, bis man den Reflex der Wirklichkeit erreicht. Wie im Film: man muss Bilder übereinander montieren, umgekehrt drehen, Einstellungen ändern, schneller oder langsamer drehen, als es die Realität ist. Wenn du die Kamera vor die Schauspieler stellst, der Sonne ausgesetzt, und hintereinander die ganze lange Szene drehst, wird sie kein Mensch ertragen können.26

Die Tatsache, dass der Adressat des Briefes am Schluss als Erzählinstanz auftritt, zeigt auch, dass der Brief angekommen, die Erinnerung weitergegeben ist. Der Zweck der Erzählung, des Nachlass-Briefes wird so erfüllt. Es geht nun darum, die Konstruktion der Aub’schen Werke als ein Schreiben gegen das Vergessen im Verhältnis von Autofiktion, Biographie, Geschichte und Dokumentation näher zu verfolgen, als Konstruktionen, die in der Tradition der Avantgarde und der klassischen Moderne stehen, in hohem Maße auf Montage beruhen und in sehr gezielter Weise intermedial arbeiten.

7.2 Leben im Exil als destierro und destiempo: Aus dem Land und aus der Zeit Max Aub Mohrenwitz wird 1903 in Paris als Kind jüdischer Eltern geboren, der Vater ist Deutscher, die Mutter Französin. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges plötzlich zu Landesfeinden geworden, suchen die Eltern Zuflucht in Spanien, in Valencia, und verlieren durch die Flucht all ihr Hab und Gut. Der junge Max Aub, deutsch- und französischsprachig aufgewachsen, muss schlagartig von seiner französischen Schule und Umwelt in eine ganz andere Sprache und Umwelt wechseln. Verfolgung und Exil sind ihm damit schon von klein auf

26 Ebd., S. 79 f.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

bekannt. Er lebt sich so gut in die spanische Sprache ein, dass er sie als seine eigene annimmt und sich als Spanier definiert. Als er mit 21 Jahren volljährig wird, nimmt er die spanische Staatsangehörigkeit an, die seine Eltern schon früher angenommen hatten. Er prägt die Wendung, dass man von dort stamme, wo man das Abitur gemacht, wo man zu leben gelernt habe. Sein Vaterland sei Spanien, sein Volk die Welt. Zeit seines Lebens versteht er sich als spanischer Schriftsteller und als spanischer Exilant. Dass er 1955 die mexikanische Staatsbürgerschaft annimmt, bestätigt sein Exil. 1914 in Spanien angekommen und 1939 aus Spanien ins Exil gegangen, macht er aus Spanien, dem Bürgerkrieg und dem Exil die fundamentalen Themen seines Schreibens. Als Wahlspanier empfindet er sich besonders intensiv als Exilspanier. Dass er von klein auf dem Nationalismus und der Intoleranz ausgesetzt ist, prägt sein Bewusstsein. In seinen Tagebüchern schreibt er Jahre später über die Erfahrung der Nichtzugehörigkeit: Wie sehr hat es mir in unserer geschlossenen Welt geschadet, von nirgendwo her zu sein! So zu heißen, wie ich heiße, mit Vor- und Nachnamen, die sowohl von einem wie von einem anderen Land sein können […]. In diesen Stunden des geschlossenen Nationalismus in Paris geboren und Spanier zu sein, einen in Deutschland geborenen spanischen Vater zu haben und eine Mutter aus Paris aber mit deutscher Herkunft und slawischem Namen, und mit diesem französischen Akzent zu sprechen, der mein Spanisch zerreißt, wie sehr hat es mir geschadet! Der Agnostizismus meiner Eltern – Freidenker – in einem katholischen Land wie Spanien, oder ihre jüdische Abstammung in einem antisemitischen Land wie Frankreich, wieviel Kummer, wie viele Demütigungen hat es mir verursacht! Wie viel Schande! Etwas von meiner Kraft – von meinen Kräften – habe ich mir abgepresst, um gegen so viel Schmach zu ringen.27

In Valencia geht er in die Schule, macht Abitur, lernt viele seiner Freunde kennen; einige teilen später mit ihm das mexikanische Exil. Statt ein Studium an der Universität anzufangen, entscheidet er sich für die praktische Arbeit, die auch sein Vater ihm vormacht und die ihm eine gute Kenntnis des Landes einbringt. Er arbeitet mit seinem Vater zusammen als Handelsreisender für Galanteriewaren und reist so durch ganz Spanien, um seine Muster zu zeigen und zu verkaufen. Gleichzeitig schreibt er mit Leidenschaft und lernt in den verschiedenen Städten, die er bereist, sehr bald die literarischen Kreise kennen. Er kommt in das Umfeld der spanischen Avantgarde, die dabei ist, neue Wege für die Kunst zu bahnen. Eine „deshumanisierte“ Ästhetik (Ortega) in der Kunst und die ersten republikanischen Verschwörungen gegen die Monarchie und die Diktatur von Primo de Rivera bestimmen den intellektuellen und politischen Horizont der zwanziger

27 Aub, Diarios, S. 128.

7.2 Leben im Exil als destierro und destiempo: Aus dem Land und aus der Zeit

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Jahre.28 Aubs avantgardistischen Anfängen folgt sein Interesse für den Realismus und seine Mitgliedschaft im Partido Socialista Obrero Español. In dem Vorwort zu Buñuel, novela, der Biographie von Buñuel, an der Aub kurz vor seinem Tod schreibt und die er als Roman bezeichnet, heißt es: „Die Avantgarde berührte mich vor ihm und ich entfernte mich von ihr. Und dennoch haben wir beide Galdós angesteuert […].“29 Trotz dieser realismusfreundlichen Aussage bleibt sein Schreiben der Avantgarde verpflichtet, ganz besonders der Intermedialität und den Techniken von Collage und Montage, wie noch zu zeigen ist. Der Realismus brauchte neue Formen, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts und des Bürgerkrieges zu schildern, und in diesem Zusammenhang ist auch die Problematisierung des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit, Autobiographie und Autofiktion für Aub relevant und bestimmend für sein Schreiben. Von den zwanziger Jahren an publiziert Aub Gedichte, Theaterstücke und Erzählungen. Ab 1931 engagiert er sich wie die meisten Intellektuellen seiner Generation für die Programme der zweiten spanischen Republik, und während des Bürgerkrieges widmet er sich der Verteidigung der Kulturprogramme der Republik. Wahrscheinlich galt sein größeres Interesse dem Theater, zumindest bis ihm der Verlust des Krieges die Verpflichtung bewusst machte, das im Krieg Geschehene zu erzählen, die Erinnerung an die Verlierer wachzuhalten. Nach der Veröffentlichung der ersten seiner Campos in der Nachkriegszeit wurde er hauptsächlich als Romanschriftsteller bekannt. Aber er schrieb weiterhin sowohl Theaterstücke als auch Gedichte und Essays. Als Theaterautor und -direktor gewinnt er Erfahrungen, die ihm später im mexikanischen Exil zu Gute kommen. In ähnlicher Weise, wie García Lorca seine Theatergruppe La barraca führt, leitet Aub in den Jahren 1935/36 die Theatergruppe El búho, (die Eule), die aus der Studentenorganisation FUE (Federación Universitaria Española) in Valencia entsteht. Sie spielt Werke von Cervantes und Quevedo, Torres Villarroel, Alberti und von Aub selbst. Ende 1936 wird er zum Kulturattaché der spanischen Botschaft in Paris ernannt. Als solcher arbeitet er an der Organisation des spanischen Pavillons der Weltausstellung. Er ist es, der Picasso um ein Bild für die Ausstellung bittet. Es wird Guernica sein. Aub hält auch die Eröffnungsrede, in der er auf die in diesem Bild repräsentierte Wut zu sprechen kommt, die Verzweiflung und den Protest, die das Bild bedeutet. Wieder zurück in Valencia wird er im Sommer 1937 zum Sekretär des von der republikanischen Regierung gegründeten Consejo Central de

28 Ich folge den biographischen Daten, die Francisco Caudet in seiner sehr detaillierten Einführung zu seiner Edition von Campo de los almendros gibt (Ders., „Introducción Biográfica y crítica“, in: Max Aub, Campo de los almendros, Francisco Caudet [Hrsg.], Madrid 2000, S. 7–96). 29 Max Aub, Conversaciones con Buñuel: seguidas de 45 entrevistas con familiares, amigos y colaboradores del cineasta aragones, Madrid 1985, S. 23.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

Teatro (Zentralrat für Theater) ernannt, dessen Präsident Josep Renau ist; Antonio Machado und María Teresa León sind Vizepräsidenten. 1938 beginnt er zusammen mit André Malraux, den Film Sierra de Teruel zu drehen, die Verfilmung einer Episode aus Malraux’ Roman L’espoir.30 Die Erfahrung der Filmtechnik wird bestimmend für die Konstruktion seiner Romane über den Bürgerkrieg, in zunehmendem Maße für die letzten seiner Campos. Wichtig wird auch die Freundschaft mit Malraux als einem Mann des Handelns. Im Februar 1939 kommt er mit Malraux’ gesamtem Filmteam nach Frankreich. Dies wird sich als endgültiges Exil erweisen. Aub wohnt über ein Jahr in Paris. Er arbeitet mit Malraux am Schnitt und der Montage des nie ganz zu Ende gedrehten Films, schreibt den ersten Band seiner Campos über den Bürgerkrieg, Campo cerrado, lebt das mühselige Leben eines Flüchtlings, überlegt, ob er in Europa bleibt oder nach Amerika emigriert, und wird am 5. April 1940 von der Polizei als Folge einer anonymen Anzeige verhaftet. Fast zwei Jahre dauert sein persönlicher Leidensweg durch die französischen Lager, bis er sich am 10. September 1942 in Casablanca nach Veracruz einschiffen kann und dank der Hilfe des mexikanischen Konsuls Gilberto Bosques in Mexiko aufgenommen wird. Die anonyme Anzeige wird durch die spanische frankistische Botschaft dem Außenministerium Pétains vermittelt, sie ermutigt zu Maßnahmen gegen Aub. Der spanische Botschafter in Paris, Félix de Lequerica, informiert auch das spanische Außenministerium über die Anwesenheit in Frankreich des „súbdito alemán (judío) MAX AUB, nacionalizado español durante la guerra civil, notorio comunista y revolucionario de acción“31, des deutschen (jüdischen) Untertans MAX AUB, während des Bürgerkriegs als Spanier nationalisiert, als Kommunist und Aktionsrevolutionär bekannt. Er teilt auch mit, dass die spanischen Konsulate den Befehl haben, Aub keinerlei Papiere auszustellen.32 Da Max Aub schon viel früher als Spanier nationalisiert worden war, da er ein offizieller Repräsentant der spanischen Republik und weder Kommunist noch Revolutionär war und zu den Kommunisten sogar ein schwieriges Verhältnis hatte, trifft ihn diese Anzeige ganz besonders. Er kommt zuerst in das zum Auffanglager umfunktionalisierte Stadion Roland Garros. Von dort wird er in Fußmärschen in einer Gefangenenkette in das südfranzösische Lager Vernet geführt, wo er am 30. Mai eingeliefert wird. Am 30. November 1940 wird er entlassen und

30 Zur Verfilmung von Sierra de Teruel und zur Geschichte von Aubs Freundschaft mit Malraux und ihrer Entwicklung vgl. die genaue Dokumentation von Gérard Malgat: André Malraux y Max Aub. La República Española, crisol de una amistad. Cartas, notas y testimonios (1938–1972), Lleida 2010. 31 Caudet „Introducción“, S. 21. 32 Vgl. auch: Ignacio Soldevila Durante, El compromiso de la imaginación. Vida y obra de Max Aub, Segorbe 1999, S. 31 f.

7.2 Leben im Exil als destierro und destiempo: Aus dem Land und aus der Zeit

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bleibt in Marseille. Die Freiheit ist von kurzer Dauer: Nach einer weiteren anonymen Anzeige wird er wieder festgenommen und kommt in das Gefängnis in Nizza, wo er vom 2. bis 22. Juni 1941 festgehalten wird, um dann wieder freizukommen. All das, was er in seiner Gefängniszelle auf allen möglichen Papierschnitzeln und Notizheftchen geschrieben hatte, verschwindet mit dem Koffer, in dem sie aufbewahrt wurden. Am 5. September 1941 wird er wiederum verhaftet, kommt nach einigen Tagen im Gefängnis von Marseille wieder ins Lager Vernet zurück und wird anschließend, am 24. November 1941, in das Lager Djelfa in Algerien transportiert. Die Fahrt von Port Vendrés aus, auf dem übervollen, für Viehtransporte bestimmten Schiff Sidi Aicha ist den Viehwaggontransporten in die deutschen Lager vergleichbar. Im Lager, das in der algerischen Sahara-Wüste liegt, herrschen extreme klimatische Bedingungen. Die Gefangenen müssen Schwerstarbeit in unterschiedlichen Branchen verrichten. Zunächst war das Lager für die Arbeit an einer trans-saharischen Eisenbahn vorgesehen; als Aub dort interniert wird, ist davon nicht mehr die Rede. Die Gefangenen müssen Zwangsarbeit in verschiedenen, für den Lagerkommandanten einträglichen Geschäften verrichten, unter anderem müssen sie Schuhe aus Esparto-Gras fertigen. Die zur Zeit von Aubs Haft etwa 1200 Gefangenen müssen hungern und leben abwechselnd in extremer Hitze, Schnee und Wind; sie haben zum Teil nur Zelte zum Schlafen, werden geschlagen, misshandelt und auf jede Weise gedemütigt. Euphemistisch wird das Lager als ‚Centre de séjour surveillé‘ bezeichnet. Auf Zetteln im Verborgenen schreibt Max Aub auch hier; jetzt die Gedichte, die sein Diario de Djelfa ausmachen. Schreiben ist für ihn eine Überlebenshilfe, und zwar sowohl das Schreiben im Lager wie auch das Schreiben nach dem Lager. Als er die Gedichte später herausgibt, nennt er im Vorwort seine Verse „versos-memorias o diario“ (VersErinnerungen oder Tagebuch). Damit weist er sie sowohl als Erinnerung wie auch als Tagebuch aus, gibt ihnen einen direkten Realitätsgehalt, der der Gattung Lyrik normalerweise nicht eignet. Auch hier zeigt sich, dass die verschiedenen Gattungen bei Aub eigentlich immer um ein Thema kreisen, um die eigene Biographie und deren gesellschaftliches Umfeld, also den Zusammenhang von Erinnerung und Realität. Er bezeichnet diese Gedichte als Kinder der Unruhe, der Kälte, des Hungers und der Hoffnung – oder der Verzweiflung. […] Diese Gedichte wurden im Konzentrationslager von Djelfa geschrieben, auf den Hochebenen des saharischen Atlas; ich verdanke ihnen vielleicht das Leben, denn indem ich sie gebar, gewann ich Kraft, um den nächsten Tag durchzuhalten; alles was in ihnen erzählt wird, ist real und geschehen. Nicht vorgestellte und unvorstellbare Verse könnte man sie nennen, ohne dass ich mich über sie täusche.33

33 Max Aub, Diario de Djelfa, Xelo Candel Vila (Hrsg.), Valencia 1998, S. 21.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

Es geht hier um ein Schreiben im Lager, um ein Schreiben als Überlebenshilfe – nicht um ein nachträgliches Schreiben über das Lager, als Erinnerung und Zeugnis, wie es im schon besprochenen Cementerio de Djelfa der Fall ist. In Mexiko bahnt Aub sich als Journalist und Übersetzer einen Weg. Er lehrt sowohl am Instituto Cinematográfico de Mexico wie auch Theatergeschichte an der UNAM (Universidad Autónoma de Mexico), wo er in deren Radio- und Fernsehstudio arbeitet, das er in seinen letzten Jahren von 1960 bis 1969 auch leitet; er arbeitet auch als Drehbuchautor für mexikanische Filme.34 Um diese Zeit gründet er außerdem die Zeitschrift Los sesenta, in der nur Schriftsteller mitarbeiten können, die älter als sechzig Jahre sind. Dass er als Kommunist denunziert worden war, bereitet ihm Schwierigkeiten für seine weiteren Reisen. Es erschwert ihm, ein Visum für Frankreich zu bekommen, das ihm zu seiner großen Entrüstung noch 1951 verweigert wird. Frankreich sei immer noch Vichy verhaftet, meint er. 1954 kann er mit einer Akkreditierung der mexikanischen Regierung nach Europa reisen, 1955 nimmt er auch die mexikanische Staatsbürgerschaft an. Die französische Regierung versucht schließlich doch noch eine Wiedergutmachung, besonders in der Zeit, in der Malraux Kulturminister unter Charles De Gaulle ist. Aub wird in die Jury des Filmfestivals von Cannes berufen und wird schließlich wenige Monate vor seinem Tod in einer Zeremonie in der französischen Botschaft in Mexiko zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt. Er äußert sich in seinen Tagebüchern nicht zu diesem späten Akt der Wiedergutmachung, der ihm in den fünfziger Jahren sicher viel bedeutet hätte. Ende 1966 schickt ihn die UNESCO nach Israel, um einen Kurs an der Hebräischen Universität in Jerusalem zu halten. Die Reise ermöglicht ihm eine Auseinandersetzung mit seinem Judentum, wird aber zu einem Fiasko, was sein Verhältnis zum Staat Israel betrifft. Aub schätzt aus seiner spanischen Perspektive heraus die gesamte sephardische Tradition, die er auch in seinem Kurs behandelt, und empfindet es als eine Selbstverstümmelung, dass der israelische Staat diese Tradition, angefangen mit der Sprache, außer Acht lasse. Nicht nur seine Tagebücher, sondern auch der Essayband Imposible Sinaí zeugen von seinen Eindrücken. Über die nicht zustande gekommene Begegnung mit Israel schreibt er im Tagebuch: Ich dachte, ich hätte etwas Jüdisches an mir, nicht wegen dem Blut (denn, das arme Blut, was weiß es schon davon?), sondern wegen der Religion meiner Vorfahren – meine Eltern hatten

34 Aub gibt an, in Mexiko um die 50 Drehbücher geschrieben zu haben, für Filme, die nach einem unveröffentlichten „Vorwort zum „Laberinto Mágico“, von dem Caudet in seiner biographischen Einführung berichtet, bar jeden Interesses gewesen seien (vgl. Francisco Caudet, „Introducción“, S. 23).

7.2 Leben im Exil als destierro und destiempo: Aus dem Land und aus der Zeit

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sie nicht – und kam hierher mit der Idee, dass ich etwas empfinden würde, ich weiß nicht, dass ich mich mit mir selber auseinandersetzen würde. Und es passierte nichts. Ich habe nichts anderes mit diesen Leuten zu tun, was ich nicht auch mit anderen Leuten hätte […].35

Die Erfahrung des Bürgerkriegs und der Lager gibt dem Leben und dem Schreiben Aubs eine radikale neue Richtung. Von nun an widmet er sein Schreiben dem Erzählen dieser Erfahrungen. Die eigene Erfahrung, die eigene Identitätssuche, das Labyrinth, das die Spannung ausmacht zwischen dem Spanien, das war, und dem, das nicht sein konnte, werden zu Denkobjekten seines Schreibens. Von 1938 an, als er die Kurzgeschichte El Cojo (Der Klumpfuß) schreibt, bis zu seinem Tod beschäftigt ihn dieses Thema, sein Lebensthema, so dass nicht nur die Campos zu seinem Lebensprojekt gehören, sondern auch die vielen Kurzgeschichten, die die gleiche Thematik in exemplarischen Einzelfällen behandeln. Mittels verschiedener Gattungen und aus verschiedenen Perspektiven versucht er, die Katastrophen des Krieges zu dokumentieren, die Geschichte zu überdenken, die Spannung zwischen dem subjektiven Erleben des Individuums und der chaotisierten Welt zu zeigen, die Erinnerung an die Besiegten wachzuhalten.36 Er versucht, für ein gerechtes Gedächtnis zu sorgen, aber auch gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus der Geschichte anzuschreiben: nämlich auch das, was hätte sein können, zu beschreiben. 1943 gibt er den ersten Band seines Laberinto mágico (Magisches Labyrinth) heraus, das in Paris geschriebene Campo Cerrado. Ignacio Mantecón, der in Vernet zusammen mit Max Aub interniert gewesen war, konnte, als er 1940 befreit wurde, das Manuskript mit nach Mexiko nehmen. Der ethische Ausgangspunkt des Projektes wird von Aub selbst angegeben: „Ich habe kein Recht das zu verschweigen, was ich gesehen habe, um das zu schreiben, was ich mir vorstelle.“37 Somit wird das Schreiben und Denken in Beziehung zu der Pflicht gesetzt, Zeugnis abzugeben. Aub sammelte Nachrichten und Bilder, Notizen, Aufzeichnungen, auf die er beim Schreiben jeweils zurückkam. In der Fundación Max Aub in Segorbe befindet sich die umfangreiche Dokumentation von Heften, Notizen, Zetteln und Archivmaterialien, die den Prozess des Schreibens und die Arbeitsmethode Aubs rekonstruieren lässt. Wenn man dieser Dokumentation, den Briefen und Tagebüchern folgt, sieht man, wie der Prozess des

35 Aub, Diarios, S. 387. 36 Javier Sánchez Zapatero hat eine Gesamtanalyse des Aub’schen Werk vorgelegt, er setzt es in die Tradition der Erinnerungskultur: Ders., El compromiso de la memoria. Un análisis comparatista. Max Aub en el contexto europeo de la literatura del exilio y de los campos de concentración, Salamanca 2009. Albrecht Buschmann setzt in seiner Gesamtanalyse Aub ins Verhältnis zur Avantgarde: Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil, Berlin/Boston 2012. 37 Aub, Diarios, S. 123.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

Schreibens der Bände sich über viele Jahre hinzog und wie er nicht nur durch die verschiedenen Belastungen seines Lebenslaufs, die Gefangenschaft, die Lager und das Exil bedingt gewesen ist, sondern auch durch das Fortschreiten der Zeit, durch die Distanz zum Geschehenen. Das Projekt der Campos besteht insgesamt aus sechs Bänden: Campo cerrado (1943 erschienen, auf Deutsch 1999, Nichts geht mehr, geschildert werden Ereignisse um den Militäraufstand am 18. Juli 1936), Campo abierto (1951, auf Deutsch 1962, Die bitteren Träume, später Theater der Hoffnung, 1999, über Ereignisse vom 18. Juli 1936 bis 8. November 1937), Campo de sangre (1945 erschienen, auf Deutsch 2000, Blutiges Spiel, über die Zeit zwischen Januar und März 1938), Campo del moro (1963 erschienen, auf Deutsch 2001, Die Stunde des Verrats, über die Zeit im März 1939), Campo francés (1965 erschienen, auf Deutsch 2002, Am Ende der Flucht, geschildert wird die Zeit in den Lagern von 1939 bis 1940) und Campo de los almendros (1968 erschienen, auf Deutsch 2003, Bittere Mandeln, über das Ende des Bürgerkriegs 1939). Als Aub 1970 eine komplette Ausgabe vom Laberinto mágico vorbereitet, die schließlich nicht realisiert wurde, verbindet er in einem Inhaltsverzeichnis die verschiedenen Campos mit all den in vereinzelten Bänden herausgegebenen Kurzgeschichten und verteilt das Ganze auf zwei Bände, die je um die 1300 Seiten haben sollten. Die schon besprochene Kurzgeschichte El remate (Die Abtötung) sollte, 1963 angesiedelt, der erzählende Abschluss sein. Sie zeigt auf beeindruckende Weise, wie der Exilierte aus dem Raum und aus der Zeit geworfen wird. Die 40 Kurzgeschichten von Max Aub wurden in verschiedenen Zeitschriften und Sammlungen zu seinen Lebzeiten publiziert: No son cuentos (Es sind keine Erzählungen38), Cuentos ciertos (Wahre Erzählungen), Algunas prosas (Etwas Prosa), La verdadera historia de la muerte de Francisco Franco (Die wahre Geschichte des Todes von Francisco Franco), Cuentos Mexicanos (Mexikanische Erzählungen), El Zopilote (Der Geier), Historias de mala muerte (Geschichten vom schlechten Tod), Los pies por delante (Zu Grabe getragen). Mit Ausnahme der Geschichte La llamada (Der Ruf) wurden alle in der Sammlung Enero sin nombre (Namenloser Januar) 1995 herausgegeben. Auf Deutsch ist nur ein Teil davon 1997 in dem Sammelband Der Mann aus Stroh erschienen. Max-Aub-Forscher wie Ignacio Soldevila Durante, Francisco Caudet oder José Antonio Pérez Bowie39 plädieren mit guten Gründen dafür, das ‚Feld‘ des Laberin-

38 Auf Deutsch bedeutet Cuento sowohl Erzählung wie auch Märchen. 39 Vgl. Durante, El compromiso de la imaginación; Caudet, „Introducción“; José Antonio Pérez Bowie, „Introducción“, in: Max Aub, La calle de Valverde, José Antonio Pérez Bowie (Hrsg.), Madrid 1985, S. 13–113. Manuel Aznar Soler hat auch das Verhältnis der Themen verschiedener Theaterstücke Max Aubs zum Laberinto Mágico erforscht: Ders., „Max Aub: teatro, historia y política“, in: Ders. (Hrsg.), Los laberintos del exilio. Diecisiete estudios sobre la obra literaria de

7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht

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to auf frühere Werke wie La calle de Valverde (1961) (Die Valverde Straße) auszudehnen, den Roman, der die intellektuelle Entwicklung von Aubs Generation erzählt, auch auf Las buenas intenciones (1954, auf Deutsch 1996, Die besten Absichten), die zu einem Drittel auch mit dem Bürgerkrieg zu tun haben, und auf das enttäuschte Tagebuch seiner Spanienreise 1969, La gallina ciega (Das blinde Huhn); alles Werke, die die Zeit vor und nach dem Laberinto behandeln. Erst 1969 wagt es Aub, nach Spanien zurückzukehren. La gallina ciega ist ein Zeugnis des destiempo des Exilierten, des Ausgeschlossenseins aus der Zeit als Zukunft der Vergangenheit, aus der er fliehen musste. In einem Gespräch heißt es dazu: „Du lebst in dem, was war. Du lebst im Falschen. Das Schlimme ist, dass du existierst und nicht leben kannst, indem du aber damit lebst. Und du lebst. Du lebst. – Ja, ungelegen, außerhalb der Zeit. – Einverstanden, aber ich dachte, ich wär ein Anderer.“40 Der Titel des Tagebuches verweist auf Goyas Stiche, aber auch auf die Blindheit des Landes wie auf die des Exilierten, der in der Gegenwart, aus der er ausgeschlossen wurde, als sie Zukunft war, nicht mehr zurechtkommt. Zu erforschen bleibt auch, inwiefern Aubs fiktive Biographien Luis Álvarez Petreña (1932–1934, 1965) oder seine bekannteste, Jusep Torres Campalans (1958, auf Deutsch 1995), mit dieser Thematik zusammenhängen. Im Sommer 1972 reist Aub wieder nach Spanien. Am 22. Juli 1972, wenige Tage nach seiner Rückkehr, stirbt er in seinem Haus in der Calle Euclides in Mexiko, eine Straße, die er durch sein Correo de Euclides bekannt machte, ein von ihm geschriebenes, einblättriges Nachrichtenblatt zu einer erfundenen Nachricht, das er jahrelang seinen Freunden als Neujahrsgruß schickte. Sein Gesamtwerk wird von der Fundación Max Aub in Segorbe herausgegeben.

7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht Der Begriff des Labyrinths als Metapher für die verworrene Situation Spaniens taucht schon sehr früh in Max Aubs Werk auf. Es ist auch sein eigenes Labyrinth. In Campo de los almendros steht eine Szene, die das Labyrinth kommentiert: Templado: Werden wir aus diesem Labyrinth herausfinden? Cuartero: Welches Labyrinth?

Max Aub. Sevilla 2003, S. 198–230. Eigentlich kann man sagen, dass bei Max Aub alle Gattungen im Dienste seiner obsessiven und systematischen Nachforschung der spanischen Realität aus der Perspektive des verlorenen Bürgerkriegs und seiner eigenen Erfahrung stehen. 40 Aub, La gallina ciega, S. 189 f.

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Templado: Das, in dem wir festsitzen. Cuartero: Niemals. Das Labyrinth ist Spanien. Zum Überleben reicht es uns, daß eine anständige Zahl junger Leute herbeigeschafft wird, jedes Jahr, als Sühneopfer. Templado: Dann sind wir nicht das Labyrinth, sondern das verirrte Monstrum. Cuartero: Wir sind im Labyrinth, wenn dir das lieber ist.41

Aus dem sehr umfangreichen Werk Aubs möchte ich hier zwei Prosawerke auswählen, die in direktem Zusammenhang mit der Thematik dieses Bandes stehen, weil sie seine Erinnerung an die Lager thematisieren: Campo Francés (Am Ende der Flucht) und Manuscrito Cuervo. Historia de Jacobo (1940–1950, 1999, auf Deutsch Das Rabenmanuskript, in: Der Mann aus Stroh, 1997). Sie zeigen ganz unterschiedliche narrative Strategien, um die Erinnerung als Literatur aufzubauen, um Zeugnis und literarisches Dokument zu sein, um über die Geschichte nachzudenken. Schließlich werde ich noch sein schwer zu klassifizierendes El teatro español sacado a la luz de las tinieblas de nuestro tiempo […] (Das spanische Theater, aus den Finsternissen unserer Zeit ins Licht gehoben […]) behandeln, seine fiktive Antrittsrede für die Academia de la Lengua Española. Die Rede baut eine autobiographische Fiktion auf, mit der Aub versucht, die von der Geschichte nicht realisierten Möglichkeiten der Vergangenheit zu imaginieren und wieder in ihr Recht zu setzen. Literatur als Utopie im wahrsten Sinne des Wortes. Die spanische Avantgarde hat ein sehr produktives Verhältnis zur Literaturtradition des spanischen Barock, des Siglo de Oro. Sowohl Cervantes als auch Quevedo oder Gracián werden schöpferisch weitergeführt. Góngora wird von der Generación del 27, zu der Federico García Lorca und Rafael Alberti gehören, in seinem Metaphernreichtum für die Lyrik wiederentdeckt.42 Max Aub führt seine bekannteste fiktive Biographie, Jusep Torres Campalans, mit einem Gracián-Zitat ein. Jusep Torres Campalans ist ein Maler, der angeblich Freund von Picasso ist. Die ausführlich dokumentierte Biographie enthält viele paratextuelle Realitätsmarkierungen, bis hin zu von Aub selbst gemalten, exakt beschriebenen Bildern, die in der Galería Excelsior in Mexiko (1958) oder in der Bodley Galery in New York (1962) ausgestellt wurden, sowie Kritiken zu diesen Ausstellungen, oder zu Fotografien, auf denen Jusep Torres Campalans zu sehen ist. Eine perfekte Simulation, die von Aubs Freunden unterstützt wurde; es wurde ein ganzes Heft mit Parodien von Kritiken unter dem Titel Galeras herausgegeben. Angeblich gab sogar Siqueiros an, er habe Campalans gekannt, so dass Campalans fast in die Kunstgeschichte eingegangen wäre, wenn sich seine Person nicht anlässlich der Übersetzung

41 Aub, Bittere Mandeln, S. 538. 42 Zum Verhältnis Aubs zur Tradition siehe auch: Buschmann, Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil, insbesondere das zweite Kapitel.

7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht

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des Romans ins Französische als Fiktion erwiesen hätte und das Spiel als solches aufgedeckt worden wäre. Der Autor hatte übrigens von Anfang an einen kleinen Hinweis auf sein Spiel gegeben: Im Klappentext des Romans sind am Ende „Weitere Werke von Max Aub“ aufgelistet.43 Das ganze Spiel steht aber nicht nur im Kontext des Experimentierens der avantgardistischen Aktionen, sondern auch in dem der Diskussion über das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Fiktion und Wahrheit. Diese Problematik wird angesichts der über den Bürgerkrieg zu schildernden Ereignisse zu einem bitterernsten Thema und führt zur Frage, wie die Wirklichkeit fiktional zu gestalten sei, um die Wahrheit zu zeigen. Das Gracián-Zitat, das die Biographie von Campalans einführt, schildert die Schwierigkeiten eines Malers, die Wahrheit und Schönheit des zu malenden Gesichts/Menschen von allen Seiten auf das Bild zu übertragen. Diese Aufgabe wird gelöst, indem im Hintergrund des Portraits ein Brunnen mit klarem Wasser abgebildet ist sowie ein Spiegel auf der einen Seite, ein glänzender Harnisch auf der anderen. Dank der Reflexe auf diesen spiegelnden Oberflächen sind alle Seiten des Kopfes gleichzeitig zu sehen.44 Es geht also letzten Endes darum, einen ästhetischen Weg zu finden, um die verschiedenen Perspektiven zu zeigen, die die verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit wiedergeben. Für Campalans macht diese Position seinen ästhetischen Weg zum Kubismus deutlich. Dessen Technik bestehe, nach Campalans Worten, in einem Schauen der Dinge aus der Perspektive Gottes, der tausend Augen habe. Seinem fiktiven Jusep Torres Campalans gibt Aub alle formalen Merkmale der Authentizität, alle Autorisierungsmerkmale. Die Biographie von Luis Buñuel aber, an der er bis zu seinem Tod schrieb und die unvollendet blieb, nennt er einen Roman. In den „Blauen Seiten“ in Bittere Mandeln, die metapoetische Reflexionen im Roman enthalten, wird sowohl das Thema des Schreibens als Erinnerung wie das Thema der Literatur als utopische Folie für die Wirklichkeit aufgegriffen. Dies

43 Vgl. u.a.: Rosa María Grillo, „Escritura de una vida. Autobiografía, Biografía, Novela“, in: Cecilio Alonso (Hrsg.), Max Aub y el laberinto español. Actas del congreso internacional, Valencia 1996, S. 161–170, hier: S. 165; und im gleichen Band: José Antonio Pérez Bowie, „Max Aub: los límites de la ficción“, S. 367–382. 44 „Er malte also die Erscheinung mit dem gehörigen Schwung und ersann hinter dem Rücken einen klaren Quell, in dessen kristallenem Glanz der entgegengesetzte Teil in all seiner liebenswürdigen Anmut zu sehen war. Auf die eine Seite setzte er nun einen großen, prächtigen Spiegel, in dessen Tiefe man das Profil zur rechten Hand sah, und auf die andere eine glänzende Rüstung, darin das linke Profil wiedergegeben war. Und vermittels dieser so schönen Erfindung konnte er dem Blick alles für die Schönheit Bedeutsame darbieten. Wo doch für gewöhnlich die Größe des Gegenstandes dem Mut des Conceptes vorausgeht“ (Max Aub, Jusep Torres Campalans, aus d. Span. v. Eugen Helmlé, Mercedes Figueras (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1997).

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

geschieht durch einen intertextuellen Verweis auf die Coplas a la muerte de su padre von Jorge Manrique. In den Coplas, die der aristokratische spätmittelalterliche Dichter dem Tod seines Vaters widmet, dokumentiert die Literatur sowohl die Vergänglichkeit des Lebens wie auch das Weiterleben in der Fama, letzten Endes in der Literatur: Was ist geschehen mit König Don Juan? […] Was wurde aus Largo Caballero? Aus Besteiro? Was wurde aus Sanjurjo? Was aus Azaña? Was wurde aus Mola? Was aus den Siegern, die für einige Zeit ihre Vor- und Nachnamen auf den Schildern an Straßen und Plätzen prangen sahen? Sie waren wichtig, zu ihrer Zeit. Die anderen verschwanden früher, aber nur früher. Fürst Kutusov und Prinz Andrej leben nebeneinander, gleichwertig; Don Quijote und „so viele Weise, wie es überhaupt gegeben hat“, zusammen mit den Philipps, die dank Velázquez körperlich überleben. Bei allen Unterschieden, Asunción ist für mich wirklicher als das Dutzend Politiker und Militärs, die sich mit ihren echten Namen in diesem Labyrinth verloren haben. (Echt wegen der Ausweispapiere, weil sie ihre Namen so ‚bekamen‘).45

Das Überleben in der Erinnerung wird durch die Kunst geleistet, nicht durch Namen auf Stadtplätzen. Darüber hinaus haben aber die durch die Kunst geschaffenen Figuren – wie zum Beispiel Asunción im Magischen Labyrinth – sogar mehr Gehalt an Wahrheit und Wirklichkeit. Wie Jean Améry weist Max Aub den literarischen Figuren mehr Wahrheits- bzw. Realitätsgehalt zu als realen Personen. Der Autor bürgt für ihre Wahrheit mit seiner eigenen Wirklichkeit, mit seiner eigenen Biographie. Denn der Grund dafür, dass Aub nicht aus dem Exil zurückkehren kann, ist gerade der, dass er diese Wahrheit geschrieben hat: „Sein Wunsch ist es, eines Tages wieder den Boden der Städte zu betreten, die er vor einem halben Jahrhundert gekannt hat. Aber sie lassen ihn nicht, weil er versucht hat, auf seine Weise – wie sonst? – die Wahrheit zu erzählen.“46 Implizit bleibt dabei, dass es ihm lieber wäre, zurückkehren zu können als – stattdessen – schreiben zu müssen. Schreiben ist an die Erinnerung gebunden und an die ethische Aufgabe, die verschwiegene und verletzte Erinnerung an die Besiegten zu erhalten. Dabei ist es aber auch ein Nachdenken über die Geschichte, über ihre Entwicklungen und verschütteten Möglichkeiten. Wie aber schreiben? Campo Francés (Am Ende der Flucht) wird seit seinem Erscheinen nur mit Zögern als Roman anerkannt, obwohl die Forschungen der letzten Zeit, vorwiegend die von Valeria de Marco,47 für diese Lesart plädieren,

45 Aub, Bittere Mandeln, S. 486. 46 Ebd., S. 487. 47 Der Einführung von Valeria de Marco zu ihrer Edition von Campo Francés habe ich wertvolle Anregungen entnommen (Dies., „Introducción biográfica y crítica“, in: Max Aub, Campo Francés, Valeria de Marco (Hrsg.), Madrid 2008, S. 7–58).

7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht

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indem sie den Text in die Tradition der Avantgarde und der Intermedialität stellen. Der Text wurde in der Forschung zunächst als „guión cinematográfico libre“ (freies Filmscript) und „novela nunca compuesta“ (nie durchkomponierter Roman) angesehen.48 In der Einführung zu Campo Francés schreibt Max Aub, dass er den Text – eigentlich die Notizen zum Text – in den 23 Tagen der Schiffsreise von Casablanca nach Veracruz im September 1942 geschrieben habe. Veröffentlicht hat er ihn erst 1965. Für die Veröffentlichung schreibt er ein Vorwort, in dem er auf sein Schreiben als Dokument der Erinnerung eingeht. Zwanzig Jahre sind vom Schreiben der Notizen bis zur Veröffentlichung vergangen. Zwischen 1943 und 1951 publiziert Aub die meisten seiner Erzählungen, die den vom Nationalsozialismus bzw. Faschismus verursachten Gewalt- und Terrormaßnahmen gewidmet sind. Aus den Notizen zu den Lagern, aus denen Am Ende der Flucht entsteht, schreibt er zur gleichen Zeit Morir por cerrar los ojos (Sterben, weil man die Augen verschließt), ein Theaterstück, das 1944 in Mexiko erscheint. Der Titel gibt die zentrale Idee der Geschichtsanalyse genau wieder, die Max Aub vornimmt. Die Protagonisten, genauso wie die europäischen Demokratien, sind gestorben, weil sie die Augen vor Nationalsozialismus und Faschismus geschlossen haben. Und das hat sich mit ihrer fehlenden Intervention im spanischen Bürgerkrieg schon angebahnt. 1944, noch mitten im Krieg, ist das Stück nicht nur ein Hinweis, sondern eine Mahnung, nicht darauf zu vertrauen, dass Demokratie eine automatische Garantie für Gerechtigkeit oder Solidarität sei. 1965, in einer durch den kalten Krieg polarisierten und angeblich verteilten Welt, scheint Aub wieder die Notwendigkeit zu verspüren, auf den Bürgerkrieg und den Verrat der Demokratien einzugehen. Die Akzeptanz des Franco-Regimes auf der internationalen Ebene als Alliiertem gegen den Kommunismus erscheint ihm wie ein neuer Verrat an der Demokratie. Mit seinem Werk zeigt er die Heuchelei der gefeierten 25 Friedensjahre des Franco-Regimes auf und die der Demokratien, die diesem helfen, an der Macht zu bleiben. Es ist sicher nicht von ungefähr, dass Aub das Vorwort (Nota) zu Am Ende der Flucht mit Februar 1964 datiert, obwohl der Band erst im Juni 1965 erscheint und Aub noch 1965 Korrekturen liest. Im diesem Vorwort sagt Aub, dass das Erzählte seinen Erinnerungen entspricht; er verbindet aber sein Erinnern mit einer reichen Bildlichkeit. Das hat auch biographische Gründe: Er war bei seiner Verhaftung mit der Montage von Sierra de Teruel beschäftigt. Die filmische Erzählung der Wirklichkeit bestimmte sowohl seine Erinnerung wie auch ihre narrative Struktur. So wie er es darstellt,

48 Vgl. Ignacio Soldevila Durante, La obra narrativa de Max Aub (1929–1969), Madrid 1973, S. 309 f.

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scheint es so, als habe zu dieser Zeit seine gesamte Wahrnehmung der Wirklichkeit geradezu in fotografischen Sequenzen stattgefunden. Diese Bilder bleiben dann in der Erinnerung haften: In dreiundzwanzig Tagen Überfahrt, von Casablanca nach Veracruz im September 1942, habe ich Am Ende der Flucht geschrieben. Jede Szene, jedes Detail habe ich selbst erlebt. […] Ereignisse wie Szenen sind authentisch, und ich glaube, dies sind die ersten in dieser Technik aufgeschriebenen Erinnerungen. Zwei Jahre (1938 bis 1939), in denen ich in Kategorien des Kinos – L’Espoir – dachte, brachten mich ganz von selbst dazu. Dabei wechselte ich direkten Weges vom Filmset ins Konzentrationslager. Die Notizen, die ich mir gemacht hatte, meine Erinnerungen, fügten sich auf der Leinwand aneinander. Ich erfand einen Handlungsstrang, um das Publikum für meine Dokumentation einnehmen zu können. Alle Personen, mit Ausnahme der Hauptfiguren, sind wirklich. […] Das folgende enthält nichts Persönliches, was eine merkwürdige Behauptung sein mag angesichts meiner Versicherung, dies seien Erinnerungen. Ich war Auge, ich sah alles, was ich darbiete, aber ich stelle mich selbst nicht dar; ich notiere lediglich die Dinge mit meinem Grips, und der ist nicht der schärfste; einmal mehr bin ich Chronist.49

Es geht um Memoiren, aber um eine andere, neue Art von Memoiren. Distanz, Fiktion und Perspektivenreichtum sind für das Erschreiben der Vergangenheit notwendig. Obwohl Bilder ein fundamentales Instrument der Erinnerung sind, geht es hier um die Bewertung eines neuen Mediums, das in den sechziger Jahren, als Aub sein Vorwort schreibt, nicht nur Nachrichten und Dokumentation über den Fernseher in die Haushalte bringt, sondern auch als narratives Mittel vollkommene Autonomie und in manchen Produkten die Qualität von Kunstwerken erreicht hat. In der Vorbemerkung (Nota) zu Am Ende der Flucht zeigt sich die Perspektive, die durch die zwischen dem Schreiben und der Veröffentlichung vergangenen Jahre gewonnen ist. Das Werk wird von der Erinnerung bestimmt. Das Vorwort beginnt jedoch mit einem Zitat aus dem Vorwort von Benito Pérez Galdós zu dessen Casandra, in dem dieser eine Kreuzung zwischen Roman und Theater befürwortet. Am Theater schätzt Galdós das Analytische und vom Roman verlangt er eine Beschleunigung der Handlung und dazu Zielstrebigkeit. In diesem Sinn sollen die Dialoge der Charakterisierung der Protagonisten und der Entwicklung der Handlung dienen. Aub schreibt dazu, dass er, wenn man das Theater durch den Film ersetze, mit Galdós einverstanden sei. Er befürwortet also etwas wie einen kinematographischen Roman. Aub meint in den sechziger Jahren, dass Film und Fernsehen schon zur literarischen Industrie gehörten und dass es ein

49 Max Aub, Am Ende der Flucht, aus d. Span. v. Albrecht Buschmann u. Stefanie Gold, in: Ders., Das magische Labyrinth, Bd. 5, Mercedes Figueras (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2002, S. 7 f.

7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht

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Publikum von Lesern gebe, das Bilder und Dialoge auf derselben Seite des Textes für eine Erleichterung beim Verfolgen der Geschichte hielte. Wenn Aub bei Galdós die Aktualisierung des Romans schätzt, unternimmt auch er eine Aktualisierung des Romans durch die Einbeziehung des Filmischen, der Bilder und, als direkte Konsequenz davon, durch die Eliminierung der Erzählfigur. Auch dies steht in Verbindung mit der Erinnerung. Wenn Aub im Vorwort schreibt, er habe das Erzählte alles selbst erlebt, stellt er es als eine Folge von encuadres und von cuadros vor: „Había vivido todos sus cuadros – todos sus encuadres –.“50 Leider wird in der Übersetzung dieser filmische Verweis abgeschwächt: „Jede Szene, jedes Detail habe ich selbst erlebt.“ Die eigene Position in der Erinnerung des Erlebten ist sowohl das Erlebte in eingerahmten, fokussierten Bildern (encuadres), also von außen aus der Perspektive des Filmregisseurs gesehen, als auch in Szenen, Bildern (cuadros), die er von innen her sieht (er hat sie erlebt, es handelt sich also um lebendige Bilder, in denen er selbst vorkommt). Dieser doppelten Position gegenüber der Erinnerung, von innen und von außen her, entspricht der Versuch, das erlebte Leiden aus der individuellen und der kollektiven Perspektive zu erzählen, die Epik in dieser Hinsicht zu erneuern und einen Weg zu finden, beides in ihr zu vereinbaren. Die Narrativität seiner Erinnerung erscheint bei Aub wie auf einem Bildschirm in einer Bilderfolge. Dem analytischen Aspekt aber, den er bei Pérez Galdós und im Roman schätzt, entspricht in Aubs eigenen Werken die Geschichtsanalyse, das Nachdenken über die historische Wirklichkeit, die das Leiden verursacht hat. Die neue Form des filmischen Romans, der mit Bildern durchwoben ist, ermöglicht ihm beides. Erklärend muss hinzugefügt werden, dass die deutsche Edition des Bandes alle Bilder auslässt, es sich also eigentlich nur um die eine Hälfte des Romans handelt. Die spanische Edition ist mit Bildern durchwoben; fast auf jeder zweiten Seite findet sich ein Bild. Die Erzählperspektive des Werkes ist von der Position gegenüber der Erinnerung bedingt: Aub spricht zwar von memorias, wählt für seinen filmischen Roman aber die Perspektive einer außenstehenden Kamera, eines Auges, das schaut und das das Gesehene schildert, aber nicht sich selbst. So bietet er das Paradox, nichts Persönliches, aber doch Memoiren zu schreiben, sehendes Auge zu sein, aber sich selbst nicht zu schildern, Erinnerungen zu notieren, ohne die erste Person Singular zu gebrauchen. Der autobiographische Pakt mit dem Leser gerät dabei in eine labile Position, bringt den Leser aber auch dazu, den vielen autobiographischen Aspekten, die Aub auf seine Figuren und auf deren gelebte Situationen verteilt, nachzuforschen.

50 Aub, Campo Francés, S. 88.

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Aub greift auf alle Gattungen zurück, um das erlebte Leiden, die eigene Geschichte schreibend zu vermitteln. Dem individuellen Leiden mögen die Kurzerzählungen gerechter werden, die sich auf Einzelschicksale beschränken. Aber auch im schon besprochenen Cementerio de Djelfa (Friedhof von Djelfa) verweist Aub auf die filmische Sprache, um die Unbeschreibbarkeit des Leidens zu überwinden, um das Leiden zu zeigen. Er spricht von trucos, Tricks, von der Überblendung von Bildern, von Rhythmen, von Inversionen. Die filmische Sprache ermöglicht auch eine Distanz zwischen Autor und Geschildertem, die sich durch die Position der Kamera und durch die Arbeit der Montage zeigt: Die Kunst des Kinos – die den Roman meiner Zeit sehr geprägt hat – besteht darin, die Entfernungen zwischen Objekt und Objektiv genau zu justieren, die Ferne oder Nähe eines Bildes zu messen; sie liegt in der Fähigkeit des Regisseurs, mit räumlichen und zeitlichen Dimensionen zu manövrieren. […] Zudem ist das Kino Bild, das heißt Literatur.51

Im Film verschwindet die Erzählfigur, sie wird omnipotent, sie montiert und distanziert oder nähert sich, sie fügt zusammen oder trennt, stellt sich in die Köpfe der Protagonisten oder beobachtet sie von außen. Es gibt keinen sichtbaren Erzähler; dieser agiert sozusagen als Demiurg. Max Aub redigiert sein erstes Manuskript zu Am Ende der Flucht als Filmskript, mit Angaben zu den Einstellungen und Abfolgen. In der Einführung zu ihrer Edition verfolgt Valeria de Marco genau die Entstehung des ‚hybriden‘ Romans und wie sich langsam narrative Einheiten herausbilden. Den argumentativen Leitfaden des Werkes bildet die Geschichte der Brüder Hoffmann, Julio und Juan. Juan ist ein politisch aktiver Revolutionär, der im Lager Vernet interniert wird. Sein Bruder Julio, der sich nie um Politik hat kümmern wollen und der mit seiner Frau María in Paris seiner Arbeit nachgeht, wird dennoch festgenommen, im Roland-Garros Stadion gefangen gehalten und dann ebenfalls nach Vernet deportiert. Seine Frau María, die alles versucht, um ihn befreien zu lassen, wird schließlich auch im Frauenlager in Vernet gefangen gehalten. Maria gelangt dadurch zum Bewusstsein der politischen Situation und beteiligt sich zuletzt mit anderen Frauen an einer Revolte. Julio wird zum paradigmatischen Opfer, gefangen und festgehalten, ohne zu wissen warum, zwischen Naivität, Verzweiflung und Irrsinn abwechselnd. Seine Haltung ist es, die den Leser mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens, nach dem Sinn von so viel Leiden konfrontiert. Juan hingegen muss seine politische Aktion seinen privaten Gefühlen, den Konsequenzen, die sie für Andere hat, gegenüberstellen. Das Schicksal der exilierten Republikaner im Umfeld des be-

51 Aub, Am Ende der Flucht, S. 8.

7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht

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ginnenden Zweiten Weltkriegs und der französischen Kollaborateure wird zum Thema des freskoartigen, dialogisierten, mit vielen Bildern durchsetzten Werkes, das Dokumentation und Fiktion vereint. Wie in den anderen Romanen des Zyklus ist die Erzählperspektive polyphonisch. Auch hier gilt Buschmanns Kommentar zu dem gesamten Zyklus: Er sei „auch ein polyphoner Zyklus, zum einen, indem er die Wirklichkeit aus der Summe einer Vielzahl von Figurenstimmen konstruiert, zum anderen im Bachtinschen Sinne, insofern eine Vielzahl von Intertexten eingeblendet werden“52. Im Laufe der Bearbeitung der Manuskripte von Am Ende der Flucht verschwinden die Anweisungen zu Kamerabewegung, Aufnahmen etc., und es konzentrieren sich die konkreten Räume, in denen die Handlung stattfindet: die Wohnung, die Polizeistation, das Stadion, das Lager usw., in denen dann die Handlung dialogisch dramatisiert wird. Dort kreuzen sich große Mengen von Figuren; es mischen sich reale, historisch zu identifizierende und fiktive Figuren, so wie es in allen Bänden des Labyrinths der Fall ist. Die fiktiven Figuren sind mit Details aus Aubs Biographie gespickt: Die Brüder Hoffmann zum Beispiel teilen mit ihm die komplizierte mitteleuropäisch-spanische Herkunft. Auch Hunger und Zwangsarbeit, eine bürokratische Maschinerie, die Ausweise und persönliche Dokumente und Papiere willkürlich verwaltet, im Lager das Schleppen von riesigen, mit Exkrementen aus den Latrinen gefüllten Behältern, Schwerstarbeit, Schläge, Tod und Selbstmord von Mitgefangenen – all das ist von Aub selbst in den Lagern erlitten worden und wird von ihm in verschiedenen Gattungen geschildert. Alles ist erlebt, wie er selbst sagt. Aub komponiert seinen Text als Collage. Die filmischen Anweisungen verschwinden im Laufe der Arbeit, werden durch Situationsbeschreibungen ersetzt, die den Regieanweisungen im Theater ähneln und die Raum, Zeit, Licht, Personen usw. angeben. Sie zeigen dem Leser mehr, als dass sie erzählen würden. Es wird nicht erzählt, es gibt keinen Erzähler, es geht um Deixis. Der Leser erfährt die Geschichte durch die Figuren selbst und durch die fotografischen Dokumente, über die noch zu sprechen sein wird, durch Zeitungen, die von den Protagonisten gelesen, oder Radionachrichten, die gehört werden und deren Schlagzeilen im Text auftauchen. Der Erzähler versteckt sich in der Montage, im Aufbau der Collage, den Lücken, in der Stille, in der Abwesenheit. Er kann gleichzeitig verschiedene Perspektiven derselben Szene zeigen, wie es zum Beispiel bei der Ankunft des Gefangenentransports nach Vernet geschieht:

52 Buschmann, Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil, S. 119.

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Sicht auf das Konzentrationslager Vernet d’Arège, von einem fahrenden Zug aus. Tag. Die alten, grauen Baracken, der Stacheldraht, die Wachhäuschen. Ringsum das Land, wunderschön. Im Hintergrund die Pyrenäen. Im Innern des Lagers. Eine lange Reihe Häftlinge, in der Nähe des Stacheldrahts, mit großen Steinen in den Händen, sie sehen den Zug vorüberfahren. Außerhalb des Lagers Der Zug aus der Sicht der Gefangenen, wie er im Bahnhof einfährt. Im Innern des Lagers Die Häftlinge, Meter um Meter, reichen sich Steinbrocken, einer dem anderen, in einer Kette.53

Die Erzählung entwickelt sich in Bildern, die zuerst, als Situationsbeschreibung, statisch sind. Dann kommt Bewegung hinein, indem die Schwerstarbeit der Gefangenen beschrieben wird und ein Bewacher dazukommt, um sie gewaltsam und willkürlich zu traktieren. Die sprachliche Knappheit bis hin zum Lakonismus charakterisiert dieses Nicht-Erzählen, dieses Zeigen. In dieser Abwesenheit versteckt sich der Erzähler. Er wählt für seine filmische Erzählart verschiedene Distanzen zwischen dem Auge, der Kamera und den Objekten, die er schildert: Totale für weite Flächen mit vielen Personen, wie gerade gezeigt, mittlere Distanz bei kleineren Gruppen von Figuren, zum Beispiel im Inneren des Lagers, oder minimale Distanz, Großaufnahme, bei der Verfolgung der Hauptprotagonisten auf ihrem Leidensweg. Der Zusammenbruch der französischen Demokratie, den Jean Améry im Debakel-Kapitel seiner Unmeisterlichen Wanderjahre beschreibt, steht im Zentrum des Geschehens. Der Text, in Dialogen und Aufzeichnungen aufgebaut, vermittelt die Geschichte der Hauptpersonen und unzähliger weiterer Figuren: Menschen, die individuelles Schicksal teilen, spanische Republikaner in Frankreich, der Repression ausgesetzt, Franzosen und andere, die vor den deutschen Armeen fliehen usw. Ein Kollektiv wird dem Leser über drei Hauptfiguren und viele Nebenfiguren vor Augen geführt. Der Text wird aber gleichzeitig von einer großen Menge von Bildern, von Fotographien und Radierungen durchzogen. Diese wiederum verweisen auf den historischen Prozess. Die Fotografien sind Reproduktionen, der Presse entnommen. Aub hat sie mit Hilfe seines Freundes, des ebenfalls exilierten Historikers Manuel Tuñón de Lara zusammengestellt. Sie zeigen wichtige Momente der katastrophalen europäischen Entwicklung von Januar 1939 an, über die VichyRegierung, den Krieg, die Lager bis 1940 – Dokumente der Zeit, die im Text wiedergegeben sind. Es handelt sich um Fotografien vom Exodus der spanischen

53 Ebd., S. 158 f. Kursivierung im Original.

7.3 Erinnerung als Kinematograph und als Kaleidoskop: Am Ende der Flucht

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Republikaner über die spanisch-französische Grenze, von Hitler, Mussolini, Pètain, Franco. Von bombardierten und zerstörten Städten, von triumphierenden deutschen und italienischen Soldaten. Das Lager wird durch Radierungen von Josep Bartolí, einem weiteren exilierten Republikaner, dokumentiert. In seinen Radierungen sind die menschlichen Züge auf die Gefangenen beschränkt, die mit immer schwächeren Linien gezeichnet werden; Soldaten und Kapos haben bestialische Züge. Beide Geschichten, von Text und Bild parallel erzählt, interagieren miteinander und sollten im Miteinander gelesen werden. Sie schildern die Komplexität eines historischen Prozesses, der eine soziale Ordnung zerstört und der vom Nationalsozialismus und Faschismus getragen wird. Der Erzähler zeigt eine ganze Welt von Figuren und deren Umfeld. In einem gewissermaßen kubistischen, collageartigen Aufbau seines Werkes gibt er eine immense Anzahl von Stimmen in vielen Registern, Komplexitäten und Dissonanzen wieder: Die ‚große‘ Staatsgeschichte und die Stimmen der Staatsmänner werden mit dem Leiden, dem Ehrgeiz, den Ängsten, aber auch Gräueltaten der einzelnen Individuen konfrontiert. Unter den Figuren, denen der Roman eine Stimme gibt, sind die Protagonisten und deren Nachbarn, Polizisten, Polizeikommissare, Individuen verschiedener Nationalitäten, Gendarmen und Lagerkapos, Folterer, xenophobe Franzosen, Lagerinsassen und andere. Die Vielzahl der Stimmen und die Verbindung von dialogisiertem Roman und Bildern schaffen eine Form, die sich dem linearen Erzählen einer geschlossenen Welt verweigert, einer Welt, die man analysieren und erzählen könnte. Aubs hybrider Roman verweist auf die Unmöglichkeit, das Geschehene in der Sprache eines humanistischen und aufgeklärten Diskurses sachgerecht zu analysieren und zu vermitteln, die hergebrachten Erzählformen der literarischen Tradition dafür zu mobilisieren. Aubs Roman zeigt damit gewissermaßen selbst die Labilität und Problematik seiner Form. Auch in den Fotografien zeigen sich verschiedene Fokussierungen und Distanzen, die von den Fotografen eingenommen werden und in denen der Erzähler sich in der Montage versteckt, einer Montage, die, wie sein ganzes Werk, von dem Versuch des Verstehens, der Parteinahme, des Zeugnisses getragen wird. Die Auswahl und Sequenz der Bilder werden von diesem Impuls getragen. Die Sequenz beginnt mit den langen Zügen der republikanischen Flüchtlinge über die französische Grenze, mit den Objekten, die ihnen abgenommen werden, mit den ersten Auffanglagern, wo sie von bewaffneten französischen Soldaten wie Gefangene gehalten werden. Es folgen Bilder, die die Konsolidierung der Macht der Diktatoren zeigen: Franco, Pétain, Hitler auf der Tribüne, Siegesfeldzüge, Siegesfeiern, Mussolini, Stalin, erhängte Polen, alte Juden in einer Schlange in Auschwitz; minimal sind Churchill und De Gaulle präsent. Für die französischen Lager sind, wie gesagt, die Skizzen von Bartolí abgedruckt.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

Die erzählte Zeit des Romans endet 1940. Aub verbindet in seinen Bildern die spanische Katastrophe mit der Schwäche der demokratischen Regierungen Europas: Diese seien mitverantwortlich sowohl für die spanische Katastrophe wie auch für das schnelle Aufkommen des Nationalsozialismus und des Faschismus – so Aubs Analyse. Dafür setzt er auch ein paar Fotos mit falschen Fußnoten ein, die als Satiren der Nichtintervention fungieren sollen. Zum Beispiel zeigt er nichtexistente finnische, belgische und dänische Kommandanten beim Bridgespielen in Vernet-les-Bains.54 Der Autor verzichtet darauf, zu erzählen, zu analysieren und zu erklären und beschränkt sich auf das deiktische Aufweisen der Evolution, die eine Welt ruiniert und sie praktisch zum Lager macht. Zuerst werden die ‚Rotspanier‘ in Lager gesperrt; im Zuge des Romans und im Laufe des Krieges kommen aber immer mehr Franzosen und Angehörige weiterer Völker in die Situation der Unterdrückung und des Exils. Der Roman zeigt damit den Untergang einer Utopie von Sozialismus und Demokratie.

7.4 Zur Unmöglichkeit der Erzählung über die Lager: Das Rabenmanuskript Die Lagererfahrung wird nicht nur in Kurzgeschichten und in Am Ende der Flucht, sondern auch in einer längeren und metaphorischen Erzählung thematisiert: Manuscrito Cuervo. Historia de Jacobo (Das Rabenmanuskript). Hier ist die gesamte Welt zum Lager geworden, insofern hat sich die in Campo Francés geschilderte Entwicklung verabsolutiert. Dazu schreibt Ottmar Ette, mit Verweis auf Giorgio Agamben: „Das Lager ist im Rabenmanuskript von Max Aub eher der Brennspiegel, der konzentrische und konzentrierende Reflektor der Gesellschaft dieser Zeit: ein Konzentrationslager.“55 Das komplizierte Verhältnis von Fiktionalisierung und Erzählung der Wirklichkeit wird schon im Titel angedeutet. Die Historia de Jacobo (Jacobos Geschichte) kann sowohl eine Geschichte sein, die Jacobo zum Thema hat und die somit in die Tradition der Tierfabeln gerät, wie auch Jacobo als Autor haben, was die gleich unter dem Titel angebrachte Radierung eines Raben im Profil andeutet.

54 Ebd., S. 115. 55 „El campo en el Manuscrito cuervo de Max Aub, más bien forma el espejo ustorio, el reflector concéntrico y concentrador de la sociedad de esa época en general: un campo de concentración.“ (Ottmar Ette, „Entre homo sacer y homo ludens: El Manuscrito cuervo de Max Aub“, in: Ottmar Ette/Mercedes Figueras/Joseph Jurt [Hrsg.], Max Aub – André Malraux. Guerra Civil, exilio y literatura. Guerre Civile, exil et littérature, Frankfurt a.M. 2005, S. 177–200, hier: S. 191). Diesem Aufsatz verdanke ich wichtige Anregungen.

7.4 Zur Unmöglichkeit der Erzählung über die Lager: Das Rabenmanuskript

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Letztere Annahme erweist sich als richtig; die Fiktionalisierung wird multipliziert, indem die Fiktion etabliert wird, der Erzähler sei ein Rabe namens Jacobo. Die Geschichte wird so in eine komplizierte Struktur eingebunden, die über paratextuelle Elemente ihre Fiktionalität auf verschiedenen Ebenen der Markierungen von Realität, auf verschiedenen Autorisierungsstrategien, aufbaut, und dabei zugleich verschiedene kommunikative Ebenen mit jeweils verschiedenen Sendern schafft.56 Jacobo ist die Erzählfigur; die Erzählung wird ihm in die Feder gelegt. Es gab ihn auch in der Realität; von dem zahmen Raben Jacobo im Lager Vernet berichten verschiedene Autoren, so Arthur Koestler oder Gustav Regler.57 Er beschreibt das Lager wie ein realer Beobachter und schreibt sein Werk in der Form eines wissenschaftlichen Traktats über das Benehmen und die Charakteristika der Menschen im Lager: „Um zu vermeiden, daß sich bei der ehrwürdigen Rabenrasse dieselben Mängel einschleichen, sowie um herauszufinden, ob es in ihrer unausgereiften Welt nicht doch etwas gibt, was zum besseren Verständnis des Rabenuniversums beitragen könnte.“58 Aus der Perspektive des Raben ist die gesamte Welt ein Konzentrationslager. Er versucht, aus der Beobachtung des Lagers die Menschen zu charakterisieren. Der didaktische Impuls wird dabei aufrechterhalten. Durch die Erzählung soll die Welt verbessert werden. Es geht also um Dokumentation und um Exemplarisches, das nach satirischem Muster verläuft. Nun gibt es eine zweite kommunikative Ebene, und zwar die des Übersetzers Aben Máximo Albarrón, dessen Name Aub’sche Züge trägt und der den Text aus der Rabensprache in die Menschensprache übersetzt hat. Diese Konstruktion zeigt mit ihrem arabisierenden Namen wiederum intertextuelle Verweise auf die Cervantes-Figur des Cide Hamete Benengeli, den angeblichen arabischen Autor des Manuskriptes, in dem die Geschichte von Don Quijote erzählt wird. Damit wird eine Anspielung auf die Konstruktion des Quijote gemacht. Der intertextuelle Verweis geht aber noch weiter, denn die dritte Ebene der kommunikativen Konstruktion besteht darin, dass dieses vom Raben geschriebene und von Aben Máximo Albarrón in die Menschensprache übersetzte Manuskript zufällig von J. R. Bululú gefunden wird, der dann den Text ediert und bekannt macht. Er erklärt sogar seine philologische Transkriptionsmethode. Damit wird auf die

56 Vgl. José Antonio Pérez Bowie, „Estudio Introductorio“, in: Max Aub, Manuscrito cuervo, José Antonio Pérez Bowie (Hrsg.), Alcalá de Henares 1999, S. 28–38. 57 Betreffs der Realität von Jacobo dokumentiert Ette auch, wie Jacobo in Das Ohr des Malchus. Eine Lebensgeschichte von Gustav Regler beschrieben wird, wie er also auch in der Erinnerungsliteratur eine Rolle spielt (vgl. Ette, „Entre homer sacer y homo ludens“, S. 181 f.). 58 Max Aub, „Das Rabenmanuskript“, in: Ders., Der Mann aus Stroh: Erzählungen, aus d. Span. v. Hildegart Baumgart u.a., Frankfurt a.M. 1997, S. 195–273, hier: S. 204.

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traditionelle Technik des gefundenen Manuskripts und auf die Realitätsmarkierung in der Konstruktion von Fiktion zurückgegriffen. Aber Bululú ist außerdem selbst ein Überlebender aus Vernet, so dass er die Authentizität auf doppelte Weise bestätigen kann. Er widmet den Text denjenigen, die Jacobo im Lager kennengelernt haben, „was nicht wenige sind“59. So wird auf doppelte Weise die Erinnerung an diejenigen aufgerufen, die mit ihm die Lagererfahrung geteilt haben. Dabei gerät jedoch der Text auch in ein kommunikatives Verhältnis zu seinem realen Autor, Max Aub, der im Lager interniert war und auf dessen eigenes Erleben der Text verweist. Bululú hat wie Aub Exkremente in riesigen Behältern zum Fluss schleppen müssen, wo sie ausgeleert wurden. Auf sie pflegte der Rabe sich zu setzen – so wie es Gustav Regler in Ohr des Malchus beschreibt. Die paratextuellen Verweise führen noch weiter. Denn Bululú, der Herausgeber, an dem auch die Editionsphilologie ironisiert wird, weist sich als „Chronist seiner Heimat und Besucher einiger anderer Länder“60 aus. Sein dem Manuskript vorangestelltes Zitat des Jesuiten José de Acosta aus der Historia Natural de las Indias lautet: „In der Tat tragen die Werke der göttlichen Künste als Rätsel und Geheimnis eine Vollkommenheit in sich, mit der sie ein ums andre Mal betrachtet Gefallen wecken.“61 Ottmar Ette sieht darin einen Verweis auf das Sinnliche und Rätselhafte der Kunst,62 das sich in kein Konzept einfügen lässt. Angesichts des Themas könnte das Zitat wohl eher zur Satire beitragen. Außerdem werden Bululú und Jacobo auch in die Tradition der Chroniken gestellt; dies ist ein weiterer Verweis auf die Realität ihrer Geschichten. Und der Verweis auf das Gefallen an der Kunst wirkt, angesichts des zu Schildernden, nochmals provokativ-distanziert, geradezu satirisch. Die Figuren erweisen sich als Chronisten, als Zeugen aus der Distanz. Aben Máximo Albarrón ist zuständig für Übersetzung und Fußnoten, die kommentieren und sogar entlarven. So wird Jacobo in einer Fußnote zum Beispiel als rassistisch bezeichnet. Die paratextuellen Figuren markieren sowohl Nähe als auch Distanz zur Realität als die einzig mögliche Art des Erzählens. Die Figur von J. R. Bululú zeigt noch weitere intertextuelle Verweise. Der ‚bululú‘ stammt aus dem Theater des Siglo de Oro; es handelt sich dabei um einen wandernden Schauspieler, der ganz alleine alle Rollen einer Komödie oder Farce spielte, indem er seine Stimme und Gestik den verschiedenen Rollen anpasste.63 Wieder gibt Aub einen Verweis auf die Tradition des Barock, um seine Fiktionalisierungsstrategien

59 Ebd., S. 196. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 197. 62 Vgl. Ette, „Entre homo sacer y homo ludens“, S. 191 f. 63 Nach dem Online-Wörterbuch der Real Academia de la Lengua Española (www.rae.es): „Farsante que antiguamente representaba él solo, en los pueblos por donde pasaba, una comedia, loa

7.4 Zur Unmöglichkeit der Erzählung über die Lager: Das Rabenmanuskript

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als Erzählstrategien zu begründen. Doch der Verweis geht weiter. Ein ‚bululú‘ wird auch von Ramón del Valle Inclán in seiner tragischen, satirisch verzerrten Dramaturgie der Groteske, in seinen ‚esperpentos‘ benutzt. In der ‚esperpentos‘-Trilogie Martes de carnaval 64 gibt es einen Prolog, in dem die Protagonisten über die Ästhetik der Groteske diskutieren, also den ‚esperpento‘ als Gattung begründen; sie schauen sich dann eine Aufführung eines ‚bululú‘ an, der seine Figuren unter seinem Umhang und über diesen hinausschauend spielen lässt. Es wird dabei eine Ästhetik vertreten, die Tragik mit Groteske vereint und die Verzweiflung aus einer Position der Distanz darstellt. Verzerrung, Verfremdung, Tragik, Tod und gequältes Lachen geraten so in eine Nachbarschaft, die sowohl das Erzählen wie auch die Unmöglichkeit des Erzählens aufweist. Dass mit dem ‚bululú‘ auch auf Valle Inclán verwiesen wird, scheint mir insofern gerechtfertigt, als Valle zu den von Aub besonders geschätzten Autoren gehört. In seiner fiktionalen Antrittsrede zur vorgeblichen Aufnahme in die spanische Sprachakademie, von der noch die Rede sein wird, macht Aub Valle-Inclán zum Mitglied der Akademie, in die dieser nie hineingewählt wurde, macht sich selbst zu dessen Nachfolger und setzt Valle Incláns Bedeutung mit der von Cervantes gleich: „[S]o wie er, war er, vielleicht ohne es zu wissen, immer auf der Höhe der zukünftigen Zeit […]. Von seiner eigenen Sprache wird zum Teil die spanische Literatur unserer Tage geboren.“65 Indem der Titel von Aubs Erzählung auf eine Geschichte verweist, die Geschichte von Jacobo, stellt er den Text in eine Tradition der Fiktion, zerstört den Verweis aber sofort. Es geht nicht um die Geschichte von Jacobo, sondern um ein wissenschaftliches Traktat. Doch die Wissenschaftlichkeit erweist sich als ziemlich defekt, denn Jacobo hält das Lager für die Welt, benutzt kein wissenschaftliches, sondern ein satirisches Sprachregister, hält sich nicht an seine eigene Inhaltsangabe, nach der er in seiner Analyse verfahren will und die sein Traktat gliedern soll. Also handelt es sich weder um die Geschichte von Jacobo noch um Wissenschaftlichkeit, stattdessen geht es um Fiktion mit Realitätsmarkierungen auf verschiedenen kommunikativen Ebenen, um satirisches bis groteskes Sprachregister und dabei auch um den Verweis auf die Erinnerung an die Opfer und auf die das eigene Erleben durchbrechende Tragik:  

o entremés, mudando la voz según la calidad de las personas que iban hablando.“ (bululú, http:// lema.rae.es/drae/?val=bulul%C3%BA, Stand: 31.08.2013). 64 Ramón del Valle-Inclán, Martes de Carnaval: esperpentos, Ricardo Senabre (Hrsg.), Madrid 1990. 65 Max Aub, „El teatro español sacado a la luz de las tinieblas de nuestro tiempo“, in: Max Aub u.a., Destierro y Destiempo. Dos discursos de ingreso en la Academia, Valencia 2004, S. 7–26, hier: S. 13.

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Alles, was ich beschreibe oder erzähle, habe ich mit eigenen Augen gesehen und beobachtet und noch am selben Tag auf meinen Zetteln notiert. Gänzlich aus dem Spiel gelassen habe ich die Phantasie – Feindin der Politik –, ebenso die Einbildung – Feindin der Kultur. Nichts steht hier so geschrieben, weil ich es so will, sondern weil sich die Ereignisse so zugetragen haben. Ich habe jeden Bericht abgelehnt, der mir irgendwie verdächtig vorkam, ungeachtet der Glaubwürdigkeit des Informanten. Ich wollte so strikt wie möglich vorgehen.66

Der Text erhält damit Markierungen einer Fiktion des gefundenen, aus der Rabensprache philologisch genau übersetzten Manuskripts, fordert aber gleichzeitig Authentizität und Glaubwürdigkeit, verweist auf die Wirklichkeit – auf den real existierenden Raben, der den Weg der Gefangenen und der Latrinenbehälter begleitete, auf die vielen, die den Raben gekannt haben, auf Aubs eigenes Erleben. Aubs Rabe verweist auch auf die Tradition der Tierfabel, ganz konkret auf Jean de La Fontaine, wenn er sich sträubt, von einer Füchsin etwas lernen zu können. Damit reiht er sich in eine Tradition der sprechenden Tiere und der moralisierenden Fabel ein. Die moralisierende Tendenz zeigt sich an verschiedenen Stellen im Laufe des Textes und schon in der gleich zu Anfang erwähnten Absicht, aus der Welt der Menschen für die Besserung der Raben zu lernen. Denn den Menschen prophezeit Jacobo in seinem schwarzen (Prediger?)Gewand, dass ihr Unglück kein Ende nehmen wird. Die distanzierte Perspektive des Raben ermöglicht es ihm, aus einer ‚rabenzentrierten‘ Perspektive die Menschen mit ihren Mängeln zu beschreiben: Sie haben keine Federn und können nicht fliegen, müssen sich mühselig am Boden fortbewegen, müssen sich durch Geburtsort, Genealogie und Nationalität bestimmen lassen. Jacobo weiß nicht, wo er geboren ist, und verweist damit darauf, dass es für Menschen wichtig ist, sich mit dem Boden zu identifizieren. Nationalitäten oder Grenzen als Identitätsdefinitionen verlieren durch Jacobos Perspektive ihre Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit, so wie es Max Aub in der eigenen Biographie traumatisch erlebt hat. Jacobos fiktive Rabenperspektive beschreibt anhand des Lagers die Mechanismen der Marginalisierung und der Gewaltstrukturierung. In dieser Hinsicht sehen Ottmar Ette und Albrecht Buschmann in Aubs Text eine Realisierung von Hanna Arendts Analyse des Lagers als Experimentierfeld für die Möglichkeiten der totalen Kontrolle.67 Die Perspektive Jacobos verweist auch auf die nationalsozialistischen Lager, wo, wie er erfahren hat, Kadaver

66 Aub, „Rabenmanuskript“, S. 205. 67 Vgl. Ette, „Entre homer sacer yhomo ludens“, S. 191, und Buschmann, Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil, S. 204–226.

7.4 Zur Unmöglichkeit der Erzählung über die Lager: Das Rabenmanuskript

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in Massen produziert werden. Jacobos Nicht-verstehen der Realität führt den Leser zum Verständnis: Der narrative Diskurs benutzt ähnliche Strategien, wie sie Kertész mit der vorgeblich kindlichen Perspektive in seinem Roman eines Schicksallosen benutzt. Der Verlust aller bürgerlichen Rechte bis auf die nackte Existenz, der der Internierung in den Lagern vorangeht, wird aus der Perspektive des Raben, der von Bürgerrechten nichts weiß, perfekt belegt. Denn Jacobo dokumentiert nicht nur ein Lager; er dokumentiert die Welt als Lager und damit den Prozess des Verlustes der bürgerlichen Rechte als etwas sehr einfach und schnell zu Realisierendes, eine Erfahrung, die Max Aub mit seiner Familie selbst gemacht hat. Wenn Jacobo konstatiert: „Einfach nur Mensch zu sein, bedeutet dem Menschen noch nicht viel“, weil der Mensch von Vielem bestimmt wird, „[v]on seiner Sprache, seinem Geburtsort, seinem Vermögen […]“, folgert er, dass bei den Menschen das rein Menschliche eigentlich verachtet wird.68 Darüber hinaus signalisiert Jacobo aber auch die Erinnerung an die Opfer des Lagers. Im letzten Kapitel wird eine Liste ihrer Namen erwähnt und lakonisch beschrieben, nicht kommentiert. Jacobos Text erweist sich als fragmentarisch; sein Erklärungsversuch der Menschen und der Welt als Lager erscheint ihm selbst als unbefriedigend. Die letzten Worte seines Textes scheinen seine Niederlage gegenüber dem zu Erklärenden zu bestätigen: „Es muß noch etwas anderes geben“, schließt er.69 Die letzten Wortes des Textes scheinen ein endloses Erzählen notwendig zu machen, um diesem ‚mehr‘, das es noch geben muss, näherzukommen. Aubs eigene Obsession, weiter und weiter zu schreiben, in verschiedenen Gattungen seine Thematik zu umschreiben, scheint hier anzuklingen. Valeria de Marco interpretiert das Rabenmanuskript als eine Allegorie der Unmöglichkeit des Schreibens über das Lager. In dieser Richtung interpretiert sie die komplexe paratextuelle Konstruktion des Textes und auch seine verschiedenen sowohl biblischen wie auf Tierfabeln beruhenden Verweise: „Nothing more“ und „nevermore“ aus Poes The Raven würden als Opposition zu „Es muß noch etwas anderes geben“ nachklingen:70 Auf jeden Fall kommt ein Verweis auf ein unendliches Erzählen, auf einen immer neuen Ansatz hinzu.

68 Max Aub, „Rabenmanuskript“, S. 252. 69 Ebd., S. 273. 70 Vgl. Valeria de Marco, „Historia de Jacobo: la imposibilidad de narrar“, in: Cecilio Alonso (Hrsg.), Max Aub y el laberinto español. Actas del congreso internacional, Valencia 1996, S. 559– 565, hier: S. 565.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

7.5 Gerechtes Gedächtnis und Geschichtsutopie: Die fiktive Antrittsrede zur Aufnahme in die Akademie In seinem Bemühen um ein gerechtes Gedächtnis, in seinem Schreiben als Denken über die Geschichte verfasst Max Aub einen faszinierenden Text, den man als autofiktionalen Entwurf ansehen kann, als autobiographisch grundierte Fiktion, die eine Wunschautobiographie impliziert. Es ist seine fiktive Antrittsrede zur Aufnahme in die Academia de la Lengua Española, die höchste Institution der spanischen Sprachpflege: El teatro español sacado a la luz de las tinieblas de nuestro tiempo. Por Max Aub. Discurso leído por su autor en el acto de su recepción académica el día 12 de diciembre de 1956. (Das spanische Theater, aus den Finsternissen unserer Zeit ans Licht gehoben. Von Max Aub. Von ihrem Autor bei der Aufnahme in die Akademie am 12. Dezember 1956 gehaltene Rede). Auch dieser Text von Max Aub ist bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Die Rede entsteht aus einer utopischen Projektion, aus dem Kampf gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus in der Interpretation der Geschichte. Als ob Aub Amérys kämpferisch-verzweifelte und fordernde Aussage kennen würde: Recht und Vorrecht des Menschen ist es, dass er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen. Also auch nicht mit dem biologischen Anwachsen der Zeit. Was geschehen ist, ist geschehen: der Satz ist ebenso wahr, wie er moral- und geistesfeindlich ist. Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist.71

Immerhin hatte Max Aub seine spanische Literaturgeschichte Manual de Literatura Española mit der radikalen Formulierung „La historia es futuro“, „Die Geschichte ist Zukunft“, eröffnet.72 Das Bemühen, die Vergangenheit zu analysieren, zu dokumentieren und zu erinnern, geht bei Aub auch zusammen mit dem Versuch, die Wirklichkeit zu beschreiben, wie sie hätte sein können: Erinnern heißt für ihn auch, den verschütteten Möglichkeiten der Geschichte nachzuspüren. Der Versuch, die intellektuelle Welt zu erzählen, die durch den Bürgerkrieg zerrissen wurde, impliziert auch die Überlegung, wie sie hätte weitergehen können, weitergehen sollen, welche Potenzialitäten wieder aufzunehmen wären. Aubs Text fungiert in dieser Hinsicht ganz im Sinne von Ricœurs Forderung der zukunftsgewandten Ver-

71 Améry, „Ressentiments“, S. 116. 72 Max Aub, Manual de Historia de la Literatura Española, Madrid 1974, S. 7.

7.5 Gerechtes Gedächtnis und Geschichtsutopie

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gangenheit, der Wiederbelebung der in der Vergangenheit entworfenen Vorsätze, Versprechungen und Wünsche.73 Laut Liliana Weinberg ist das treueste Portrait eines exilierten Künstlers wohl die imaginäre Zeichnung seines möglichen Lebens.74 Nur in der imaginierten Existenz, die die Literatur möglich macht, kann er einen neuen Pakt aus Erfindung, Erinnerung und Imagination aufbauen, eine neue Tradition, eine neue „genealogía de sentido“ (Sinngenealogie) für sich schaffen. Mit diesem Begriff begegnet Weinberg Max Aubs fiktionalen und realitätsmarkierten Konstruktionen. Der Begriff bietet sich als besonders passend für seine autofiktionale Antrittsrede in der Academia de la Lengua Española an. Autofiktional soll in diesem Kontext heißen, dass der Text sich durch verschiedene Markierungen dem Leser als referentiell und zugleich als fiktional zu erkennen gibt. Es geht bei Aubs Rede um viel mehr als um einen literarischen Scherz, obwohl sie oft als solche gedeutet wird. In Aubs Scherzen dient die Experimentierlust einem ernsten Vorhaben: Dort wird auch mit der eigenen Biographie experimentiert und diese wird neu geschaffen. Der Discurso entsteht 1971, er erscheint 1972 in Triunfo, einer für das intellektuell oppositionelle Leben der letzten Jahre der Franco-Zeit besonders wichtigen Zeitschrift. Wir, die damaligen spanischen Studierenden, haben ihn zur Zeit seiner Entstehung durchaus richtig gelesen, meine ich, und zwar als einen Versuch der Dokumentation dessen, was hätte sein können, als einen konstruktiv-provokativen Scherz, der weit über das Scherzhafte hinausging und als Utopie einen Seitenhieb auf die Realität schlug. Dass ein 1971 entstandener Text den Eintritt in die Akademie eines Exilschriftstellers im Jahre 1956, also noch zu den schlimmsten Zeiten der Franco-Diktatur, darstellt, ist an sich schon bedeutsam genug. Der Text trägt, wie auch Jusep Torres Campalans oder Manuscrito Cuervo, Kennzeichen der außerliterarischen Realität, die die Fiktion entstehen lässt, und auch Markierungen der Fiktion; er sendet Signale von beidem an den Leser. Insofern enthält der Text sowohl Autorisierungskennzeichen wie Ambiguitätsmarkierungen. Er ist auf dem gleichen Papier und im gleichen Satz gedruckt wie die Reden der Academia. Für einen spanischen Schriftsteller ist es die höchste Ehre, in die Academia, die höchste Instanz der spanischen Sprache und ihrer Normierung und Wahrung, aufgenommen zu werden. Deshalb stellt die Annahme, ein renommierter Exilschriftsteller hätte im Jahre 1956 aufgenommen werden können, eine absolute Unmöglichkeit dar. Aber hier fängt auch schon die Konstruktion dessen an, „was hätte sein können, sein

73 Vgl. dazu Kapitel 1.2. „Gedächtnis und Narration“. 74 Vgl. Liliana Weinberg, „Retrato del artista desterrado“, in: Ette/Figueras/Jurt (Hrsg.), Max Aub – André Malraux, S. 153–177, hier: S. 153.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

sollen“, die utopische Folie für die Wirklichkeit; denn die Academia, die Max Aub aufnimmt, ist eine republikanische Institution. Das „real“ (königliche) der wirklichen Real Academia de la Lengua Española ist getilgt, und in seiner Antrittsrede richtet sich der neue Akademiker an den Präsidenten der Republik, dessen Anwesenheit aus alter Freundschaft ihn ehrt. Auf der Titelseite der Publikation prangt das Wappen der Academia, aber wenn man genauer hinschaut, zeigt dieses Wappen nicht die Zacken einer königlichen Krone, sondern die republikanischen Zinnen. Paratextuell werden sowohl Realität wie Fiktion markiert: Realität wird simuliert und Fiktion signalisiert. „In der Literatur, im Unterschied zum Leben, gibt es keine obligatorischen Vergangenheiten“, schreibt Antonio Muñoz Molina,75 der den Diskurs Aubs 1996 in seiner eigenen Antrittsrede in die Real Academia behandelt, ihn zum Thema seiner Rede macht. Damit spricht er den utopischen Gehalt der Literatur an, die Möglichkeit, sie als Folie für die Wirklichkeit zu benutzen. So folgt er Aub, indem er nun selbst eine Rede über Aubs Rede macht und Aubs Fiktion so zu ihrem Recht bringt. Aub selbst ist zwar nie in die Akademie gelangt, aber über Muñoz Molina kommt sein Discurso indirekt nun tatsächlich in die Akademie, und die von Aub ernannten Akademiker, die nie Akademiker geworden sind, aber die es hätten werden sollen (wenn es so gekommen wäre, wie es hätte kommen sollen), kommen posthum zu ihrem Recht – wie Aub selbst. „No está el mañana, ni el ayer, escrito“ („Das Morgen ist so wenig wie das Gestern geschrieben“), lautet einer der Aphorismen von Antonio Machado, der zwar in die Akademie berufen wurde, aber noch vor seiner Antrittsrede in Collioure, das heißt auch im Exil, gleich nach dem Überqueren der Grenze starb. Bei Aub ist auch er Akademiemitglied. Aub bietet eine Fiktion, die den Leser, der um die Unmöglichkeit des Ganzen weiß, erschüttert. Er, der sein Magisches Labyrinth der Chronik des Geschehenen gewidmet hat, wird mit seiner Rede zum Chronisten dessen, was möglich gewesen wäre. In seiner fiktiven Geschichte regiert im Jahre 1956 nicht Franco, sondern Fernando de los Ríos, ein Reformer im Zuge des regeneracionismo; er ist nach Manuel Azaña Präsident einer demokratischen Republik. Der Rede des neuen Akademikers antwortet regelgerecht mit einer weiteren Rede Juan Chabás y Martí, auch ein exilierter, mit Max Aub befreundeter Schriftsteller, der zur Zeit des Discurso schon gestorben war. Er antwortet mit dem Aub gewidmeten Abschnitt aus Chabás’ 1952 publizierter Literatura española contemporánea (1898–1950). Damit wird weiterhin an der Konstruktion einer mit allen Markierungen des Realen versehenen Wirklichkeit gebaut und intertextuell dazu ein Erinnerungs-

75 Aub, „El teatro español“, S. 69.

7.5 Gerechtes Gedächtnis und Geschichtsutopie

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diskurs eingefügt: Nur der Leser, der die Wirklichkeit kennt, kann um die Unwirklichkeit wissen. Die radikale Prämisse, die Aubs Rede unterliegt, ist, dass es keinen Bürgerkrieg mit Francos Sieg gegeben habe. Nur so ist es möglich, dass eine Republik herrscht. Und nur so sind seine Akademiemitglieder möglich. Denn, wie in einer Publikation der Akademie üblich, steht auch in Aubs Publikation eine Liste der zurzeit ernannten Akademiker, inklusive des Datums ihres Akademieeintritts. Listen und genaue Daten gehören zu den Elementen, die besonders relevant für die Erzeugung referentieller Glaubwürdigkeit sind. Max Aub benutzt oft Listen, um eine höhere Glaubwürdigkeit zu erzielen, um die Illusion der Referenz zu kreieren. Federico García Lorca ist unter Aubs fiktiven Akademikern; er ist also nicht 1936 ermordet worden. Miguel Hernández ist nicht in einem frankistischen Gefängnis zugrunde gegangen, sondern sitzt auf seinem Akademikerstuhl und lauscht Max Aubs Worten. Weder Jorge Guillén noch Pedro Salinas noch Rafael Alberti noch Luis Cernuda haben ins Exil gehen müssen. Und da es keinen Krieg und weder Sieger noch Besiegte gegeben hat, sitzen sie dort, z.B. neben José María Pemán. Die Liste der angeblichen Akademiker verzeichnet auch das Datum ihrer Aufnahme in die Akademie. Auch das zeigt dem in der spanischen Literaturgeschichte kundigen Leser die Unmöglichkeit der Rede. In Aubs Akademie sitzen neben den Exilierten oder Toten auch Repräsentanten des ‚inneren‘ Exils wie Blas de Otero und auch wirkliche Mitglieder der Akademie wie Camilo José Cela oder Dámaso Alonso. Aub hat mit großem Gespür die wichtigsten Autoren der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts in seiner Akademie versammelt. Nur rund ein Drittel entspricht den im Jahr 1956 tatsächlich in der Akademie vertretenen Autoren. Das heißt, so muss es der Leser folgern, dass nur ein kleiner Teil der wirklich wichtigen Autoren zu dieser Zeit in Spanien lebte. Exilierte und Tote leben in Aubs Akademie wie in seinem Magischen Labyrinth weiter. Der Bruch des Bürgerkrieges ist nicht gewesen. Das ist die Prämisse, die seine Rede möglich und verständlich macht – und sie gleichzeitig als Fiktion ausweist. Sie bedingt auch Aubs eigene Vorstellung als Theaterautor. Denn abgesehen davon, dass ihn das Theater immer fasziniert hat und dass er sich auch als Theaterautor verstanden hat, war es ja gerade der Krieg, der ihn zum Prosaautor gemacht hat. Wenn es keinen Krieg gegeben hätte, hätte er sein ganzes Prosawerk nicht zu schreiben brauchen; insofern kommt dieses in seiner Rede überhaupt nicht vor, dafür aber sein Theater und damit auch ein intertextueller Verweis auf sich selbst. In die Rede von Juan Chabás ist der Text eingefügt, den Max Aub während seiner von 1937 bis 1939 währenden Amtszeit als Direktor des von der Republik gebildeten Consejo Central del Teatro schrieb, mit einem an den Präsidenten der Republik gerichteten Vorschlag zur Struktur eines Nationaltheaters und einer Ballett-Truppe. Dort schlägt Aub die Autoren und Regisseure vor, die er später in

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

seiner Rede würdigt. Insofern ist der Text auch als Erinnerungsdokument zu verstehen, als Erinnerung, Würdigung und Treueerklärung an die Kultur- und Theaterszene der Republik, die durch den Bürgerkrieg zerstört wurde. Indem Aub aber auch die Theaterszene der Gegenwart beschreibt, geht der Text weit über die Erinnerung hinaus und wird zum Entwurf einer Utopie. Rafael Alberti, Federico García Lorca und Miguel Hernández schreiben weiter; Aub erfindet Titel für ihre Werke. Sie gehören zu einem Panorama, in dem auch die Werke der vielversprechenden jungen Autoren der fingierten Gegenwart vorkommen. Einige seiner Akademiker werden Jahre später tatsächlich in die Akademie aufgenommen werden. Wenn er dann schlussfolgert, dass der jetzige Zustand des spanischen Theaters hoffnungsvoll für die jüngeren Autoren sei, und zwar „dank der Großzügigkeit eines wohlwollenden und die Kunst fördernden Staates, […] wissend, dass es keine bessere Politik für den Menschen und die Realität in Spanien gibt“,76 ist das, auf das Jahr 1956 bezogen, wie ein Hammerschlag auf die reale Situation. Eine ideale Akademie, eine ideale Geschichte, in der der Krieg nicht geschehen wäre, lassen die Realität noch schmerzlicher spüren und lassen noch 1971 die fehlenden Werke der verhinderten Autoren vermissen. Zur Autofiktion gehört, dass sich Aub als Nachfolger von Ramón del Valle Inclán in der Akademie und als Leiter des inzwischen gegründeten Nationaltheaters vorstellt. Indem er eine mimetisch reale Autofiktion über sich selbst aufbaut, die eine ganz andere Entwicklung der Geschichte voraussetzt, zeigt er auch die Geschichte als ein persönliches Erleben, das ganz anders hätte laufen können. Aub erwähnt in seiner Rede zum Beispiel seinen mexikanischen Aufenthalt, aber der wird nicht als Exil bezeichnet; das Exil wäre ja unnötig. Damit wirft der Bürgerkrieg seinen Schatten auf den gesamten Discurso, der auch ein Erinnerungsdiskurs ist. Dabei wird aber auch individuell an das erinnert, was eine Möglichkeit war und das imaginiert, was hätte geschehen können.77 Und wenn Aub die exilierten Schriftsteller zusammen mit nicht Exilierten und Jüngeren in seine Akademie hineinsetzt, nimmt er eine integrative Position ein, die das Exil als ein Problem aller Spanier und nicht nur der Exilanten erkennen und handhaben will. Gerade dieser Aspekt erklärt das Entstehungsjahr. Aub schreibt aus der Erfahrung seiner Spanienreise, die er in La Gallina Ciega dokumentiert, einer enttäuschten Erfahrung, einem „desencuentro“. Und mit seinem Text plä-

76 Ebd., S. 21. 77 Dirk Baecker beschreibt, wie bei der Rekonstruktion der eigenen Geschichte das Gedächtnis auch Möglichkeiten des Gewesenen vergegenwärtigt, und zwar, „die den Selektionen des Systems selbst oder der Umwelt zum Opfer gefallenen Möglichkeiten. Erinnert wird auch das, was hätte geschehen können.“ (Ders., „Überlegungen zur Form des Gedächtnisses“, in: Gedächtnis: Probleme und Perspektiven, Siegfried J. Schmidt [Hrsg.], Frankfurt a.M. 1991, S. 337–359, hier: S. 356).

7.5 Gerechtes Gedächtnis und Geschichtsutopie

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diert er für eine gemeinsame Erfassung des Exils. So wie es auch Francisco Ayala, der ehemals exilierte Schriftsteller, anschließend Akademiker und Freund Max Aubs, 2013 verstorben, befürwortet. Linda Maeding wendet in ihrer verständnisvollen Abhandlung über Exilliteratur78 den Begriff der Mimikry von Homi K. Bhabha79auf den Discurso an. Sie geht von einer täuschend echten Simulation von Wirklichkeit aus, die der Discurso aufbaut, von der literarischen Erfindung, die mit größter Genauigkeit gepaart sei und die mittels Mimikry die Wirklichkeit von innen her aushöhle und unterlaufe. So interpretiert sie zum Beispiel die Tatsache, dass Aub seine mexikanische Vergangenheit erwähnt, deren Erinnerung (wie die des Exils überhaupt) im Franco-Spanien unterdrückt wird, diese aber nicht als Exil ausweist, oder dass die Ausrufung der Republik 1931 erwähnt wird, Franco aber an keiner Stelle. Sie schreibt: „In Kombination mit einer poetischen Imagination verweist die Mimikry somit auf das Utopische als das in der Geschichte Ohne-Ort-Seiende. Erinnerung wird zum kreatürlichen Akt, der die Kontingenz des Seienden durch die Logik der Vorstellungskraft ersetzt.“80 Der Bezug zwischen dem Discurso und dem Tagebuch der Spanienreise La gallina ciega zeigt sich in einer von Aubs Aufzeichnungen aus der Gallina ciega: „Das was ich sehe, ist Wirklichkeit, oder das, was ich zu sehen glaube. […] Das, was ich sehe, ist Spanien, ist Wirklichkeit. Was ich denke, was Spanien ist, was es sein muss, ist keine Wirklichkeit.“81 Darin erweist sich auch die Verunsicherung des Tagebuchschreibers, was die Perzeption des Landes betrifft, des Landes, zu dem er nicht mehr zurückfindet, zurückfinden kann, dessen Realität er in unterschiedlichen Parametern schildern muss. Die Konstitution des Discurso ist alles andere als postmodernes Spiel. Aubs imaginierter Diskurs, seine fiktionale Neu-Erschreibung der Geschichte, ist kein Spiel, sondern Mittel der Erkenntnis. Mit dem Mittel der Imagination, mit der Fiktion zeigt Aub, so Muñoz Molinas schöne Metapher, „den Schatten des Realen, zeigt uns seinen Teil von blindem Zufall, von Lüge, von Blendwerk“82.

78 Vgl. Linda Maeding, Kompositionen der Erinnerungen: Gedächtnis und Poetik in deutschen und spanischen Exilautobiographien, Würzburg, 2013, S. 232. Maeding hat in ihrer Dissertation, die sie 2011 der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Universitat de Barcelona als Cotutelle vorgelegt hat, eine ausführliche und aufschlussreiche Analyse des Aub’schen Discurso vorgelegt, die ihn völlig aus dem Bereich des avantgardistischen Scherzes entfernt sieht. 79 Vgl. das Kapitel „Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses“ in: Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 125–136. 80 Maeding, Kompositionen, S. 234. 81 Aub, La gallina ciega, S. 122. 82 Aub, „El teatro español“, S. 74.

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7 Max Aub: Gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus

Bei Max Aubs Suche nach der angemessenen Sprache, um Krieg, Exil und Lager zu dokumentieren, um Fassungslosigkeit und Versehrtheit zu bekunden, steht Aub in der Tradition der modernen Avantgarde, der Intermedialität. Dabei geht es, durch seine eigene Erfahrung und Versehrtheit bedingt, nicht so sehr um Bewusstsein von Unsagbarkeit, um Präsenz des Verstummens der Sprache in der Sprache, sondern um Unbeschreibbarkeit, die es in vielen unterschiedlichen Gattungsversuchen und Konstruktionen zu überwinden gilt. Schreiben und Erinnern sind beide ein Protest gegen die Zeit, die Zeit, die angeblich heilt. Fiktion ist für Aub ein Mittel des Erkennens und des Wiederaufbaus der Welt; sie ersetzt diese nicht. Denn das geschehene Unrecht ist geschehen, die Toten bleiben tot. Er kann nur gegen die Distanz und das Vergehen der Zeit vorgehen, gegen das Vergessen. Und er kann in der Geschichte auch den verlorenen Möglichkeiten nachspüren und versuchen, den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen, indem das, was die Geschichte diskreditiert oder beiseite gelassen hat, in der Literatur weiterleben kann. Aub schreibt in einer Hommage an León Felipe: „Nichts geht verloren – und darin besteht die Gerechtigkeit.“83

83 Max Aub, „Homenaje a León Felipe“, in: Ders., Homenaje a León Felipe, Cuadernos Hispanoamericanos 1963, 22 (CXXXI), 6 (Nov.–Dez. 1963), S. 138–142, hier: S. 141.

8 Zum Schluss 8.1 Unsagbar sagbar Ein Blatt, baumlos für Bertolt Brecht: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch beinah ein Verbrechen ist, weil es soviel Gesagtes mit einschließt?1

Paul Celan antwortet im Jahr 1968 mit diesen Worten auf Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“, in dem die seither vielzitierte Frage steht: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“2 Celan reagiert damit auf das unangemessene, phrasenhafte Sprechen über die Lager und über das Leid, sowie auf die Ästhetisierung dieses Sprechens.3 Er nahm ja auch seine „Todesfuge“ zurück, die in seinen Augen nicht dagegen immun zu sein schien.4 Dem Alter Ego Jean Amérys, Eugen Althager, ist sein Schmerz, seine Lagererfahrung abhanden gekommen, gestohlen worden „durch Kino-Wochenschauen, welche einem fromm entsetzten Publikum die Greuel als Einleitung zu einem angenehmen Spielfilm zeigten, durch Zeitungsartikel, durch zahllose Höllen-Bücher […]“5. Jahre später spricht Kertész vom Holocaust-Kitsch aus Anlass von Spielbergs Film Schindlers Liste. Und Ruth Klüger erzählt in Weiterleben. Eine Jugend in Wien, wie sie bei einem Gespräch über klaustrophobische Situationen unentwegt an ihre Fahrt im Viehwagon ins Konzentrationlager denken muss, ohne diese im Ge-

1 Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, Barbara Wiedemann (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2005, S. 333. 2 Bertolt Brecht, Svendborger Gedichte, in: Ders., Gedichte in einem Band, Hg. v. Suhrkamp Verlag, in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a.M. 1997, S. 723. 3 Das Gedicht wird in der Celan-Forschung im Zusammenhang mit einer Ästhetik des Schweigens interpretiert, die Celans letzten Gedichte bestimmt. Es geht mir in diesem Kontext nur um seine Kritik an dem falschen, inadäquaten Sprechen, an dem phrasenhaft Gesagten; diese Kritik ist Voraussetzung für die Notwendigkeit des Schweigens. 4 Celan hat sie selbst nach ihrem unerwarteten Erfolg nie wieder öffentlich vorgetragen. Eine vielzitierte Aussage von ihm lautet, das Gedicht sei „lesebuchreif gedroschen“. Vgl. Hugo Huppert, „Spirituell. Ein Gespräch mit Paul Celan“, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, Frankfurt a. M. 1988. 5 Jean Améry, „Die Festung Derloven“, S. 593.

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8 Zum Schluss

spräch zu erwähnen, da sie fürchten muss, dieses Thema könne für nicht salonfähig gehalten werden. Das heißt aber, dass niemand es hören möchte, dass die anwesenden Deutschen nicht mit der Schuld konfrontiert werden wollen. In all diesen Aussagen wird aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Zeiten, zwischen der Nachkriegszeit und den neunziger Jahren, die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit zum Thema gemacht, über den Holocaust, über die nationalsozialistischen Lager zu sprechen. Die Begründungen für diese Schwierigkeit sind verschieden. Sie beinhalten sowohl das Bewusstsein über die Unsagbarkeit des unermesslichen Leidens, eine Grenzerfahrung, die als solche, als Erlebnis und Gefühl, jenseits der Sprache liegt, wie auch das Bewusstsein der Unbeschreibbarkeit, das heißt der Formulierungsschwierigkeit. Sie verweisen andererseits auf die fehlende Bereitschaft zum Zuhören: Das Unsagbare steht im Verhältnis zum Sagbaren und dieses wird in der Kommunikation aufgebaut, in Zusammenarbeit mit dem Anderen, mit demjenigen, der zuhört; es ist auch das Produkt einer Kommunikationssituation. Sprechen ist mit dem Hören verbunden, mit einer Bereitschaft zum Zuhören, die in der Nachkriegszeit nicht gegeben war. Sprechen steht aber auch in der Gefahr der Automatisierung, der unangemessenen, phrasenhaften Sprache, der Sprache, die das Opfer wieder zum Objekt macht. Insofern ist Celans Gedicht auch ein Appell für den Schutz der Opfer, gegen die Ästhetisierung oder die Trivialisierung des Gesagten. Ich hoffe in diesem Buch gezeigt zu haben, dass es den hier behandelten Autoren nicht darum geht, zu schweigen oder gar um das Ende der Repräsentation, sondern darum, ein angemessenes Sprechen zu finden und ihm die Unzulänglichkeit, die Unmöglichkeit des Sprechens einzuschreiben. Die in diesem Buch versammelten Autoren zeugen von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts und damit von unterschiedlichen Diktaturerfahrungen. Améry und Kertész überlebten die Todesmaschinerie der Konzentrationslager des Nationalsozialismus, die Auslöschung der europäischen Juden, sie bekunden ein gefährdetes und fragiles Überleben in einer Wirklichkeit der Allgegenwart des Todes, für den sie bestimmt waren und dem sie nur durch Zufall entkamen. Sie bekunden Auschwitz als Skandalon der europäischen Kultur, als Endstation des europäischen Menschen nach 2000 Jahren ethischer und moralischer Kultur. Semprún überlebte das nationalsozialistische Lager und den allgegenwärtigen Tod, er erfuhr das Lager als Konsequenz seiner politischen Tätigkeit im Widerstand, seines Kampfes in der Résistance, im Maquis. Schalamow überlebte den GULAG und das brutale Zwangsarbeitssystem des Stalinismus in seiner extremsten Form, die Lager an der Kolyma. Herta Müller erlebte die Diktatur Ceaucescus, eine sozialistische Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Und Max Aub dokumentiert den Verrat der europäischen Regierungen an der Demokratie, ihre Komplizenschaft beim Aufkommen der Diktaturen, in ihrem Verhalten gegenüber dem Spanischen Bürgerkrieg als

8.1 Unsagbar sagbar

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Vorfeld zum Zweiten Weltkrieg. Als spanischer Antifaschist wurde er in die französischen Lager gesperrt. Ihnen allen gemeinsam ist ein Schreiben, das dem Willen zum Bezeugen entstammt, dem die Notwendigkeit des Bezeugens innewohnt; sie alle sprechen auch für die Toten, für ihre Mithäftlinge und Freunde, die nicht überlebten. Sie suchen eine adäquate Sprache, die sowohl die Ästhetisierung wie den Automatismus vermeidet, die das Vergangene nicht als vergangen behandelt und somit beruhigend als überwunden vermittelt, sondern den Spuren und Narben nachgeht, die noch offene Wunden bloßlegt. Ihr Schreiben entsteht in der Spannung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungsnot, die von der zu beschreibenden Erfahrung herrührt; sie schreiben, indem sie der Erinnerung und ihrer schrecklichen Erfahrung ausgeliefert sind und gleichzeitig den Versuch unternehmen, sich in der Sprache zu behaupten, sich durch die Sprache der Kunst zu rekonstituieren, sozusagen mit und gegen alle Last der Sprache. Ihr Schreiben ist von Erinnerung und so von ihren Biographien bestimmt. Erinnern ist ein narrativer Prozess, er schafft eine Kontinuität, die auf die Zukunft projiziert wird. Den Platz der Narration beim Erinnern kann man als eine konstante Navigation zwischen dem, was verbleibt, und dem, was sich verändert hat, definieren. Darin spielen besonders Unterbrechungen und Diskontinuitäten eine Rolle, um die eigene Identität zu definieren. Narration ist Integration und Differenzierung; Narration, Erfahrung und Erinnerung bedingen einander. Die Erinnerung, die aber hier zum Thema des Schreibens wird, ist die Erinnerung an Gewalt, an unermesslichen Schmerz. Sie widersetzt sich den Wörtern und der Sinngebung; das Schreiben, das aus ihr hervorgeht, ist durch den Einbruch der Erinnerung gefährdet, muss eine eigene Perspektive schaffen, sowohl Identitätskonstitution in der Sprache betreiben wie auch die Versehrtheit des Subjekts bekunden. Notwendigkeit und auch Gefährdung der Erinnerung, Beschädigung durch sie, spielen beim Schreiben eine Rolle. Denn die Erinnerung macht das Trauma wieder präsent, erlebt es wieder. Die Gefahr, daran zu zerbrechen, bleibt, die Literatur bannt sie nicht. Es geht darum, eine Sprache für Schmerz, Bedrohung, Erleiden von Gewalt und Beschädigung zu finden. Sie muss das Geschehene glaubwürdig machen, um es für die Erinnerung aufzubewahren; zugleich muss sie versuchen, sich beim Bennennen von der Erinnerung zu erlösen, Subjekt und nicht Objekt des Erlebten zu werden. Schreiben ist die Suche nach einer adäquaten Sprache, die immer neu geschaffen werden muss. Es ist ein immerwährender Prozess, der mit der Stummheit zusammenlebt und sie mitträgt, um mit dem Leser einen Text zu teilen, der dem Vergessen standhält. Dabei wird aber immer auf die Grenzen des Sagbaren hingewiesen, auf das Ausgelassene, das dennoch durchscheint und durch Metaphorik und/oder Lakonie vermittelt wird. Letzten Endes ist das Bewusstwerden der Unsagbarkeit ein Effekt der Rezeption:

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8 Zum Schluss

Es bringt den Leser zu dem, was hinter den Worten steht, die zeigen und verdecken, Nähe und Distanz signalisieren. Das Schreiben steht, so wie Semprún es ausdrückt, zwischen dem „Versuch zu schweigen und diesem essentiell nicht endenden Versuch, alles so wahrheitsgetreu wie eben möglich zu sagen“.6

8.2 Fiktionalisierung, Erkenntnis und Wahrheit Es geht dabei nie um die Rekonstruktion des Gewesenen, um Mimesis, um Simulation der vergangenen Wirklichkeit. Alle Autoren bezeugen die Notwendigkeit der Fiktionalisierung, berufen sich auf die Rolle der Imagination, um die Wirklichkeit darzustellen. Die Authentizität des Gesagten, für die sie selbst mit ihrer Erfahrung bürgen, wird über Fiktionalisierung garantiert. Dokumentieren reicht nicht, ihm wohnt die Automatisierung oder auch die erneute Auslieferung der Opfer als Gefahr inne. Und auch die Subjektkonstitution braucht Imagination: „Ich verstand, wenn ich gegen mein vergängliches Ich und gegen die ständige Wandelbarkeit der Schauplätze ankämpfen wollte, musste ich mir, mich auf mein schöpferisches Gedächtnis verlassend, alles von Neuem erschaffen“, so formuliert es Kertész.7 Das Gedächtnis, und mit ihm das Wachhalten der Erinnerung, ist hier produktiv mit Imagination und Schöpfung verbunden. Fiktionalisierung ist ein Mittel, die Vergangenheit neu erstehen zu lassen und sie gleichzeitig in Distanz zu halten. Nach Kertész schafft Erinnern ein Stück Welt, ohne sie zu überschreiten. Das hingegen tut die Fiktion. Sie kann sich auf Dokumente stützen, authentisch sein, schafft aber eine eigene Welt. In diesem Überschreiten entsteht ein Verweis auf Utopie, auf Zukunft, auf gerechtes Gedächtnis. Auch Kritik an Verhaltensweisen gegenüber den geschichtlichen Situationen, die alle Autoren mit ihrem Werk letztendlich betreiben, wird auf diese Weise möglich. Diese Möglichkeit liegt gerade in der Fiktionalisierung; sie ist es, die über die Vergangenheit hinausweist. Sie weist auch über das Persönliche hinaus, gelangt ins Allgemeine. Von der Erinnerung entrückt, bemüht sie sich um das Vermitteln. Durch die Distanzierung legt sie sich vor die Erinnerung. Der neue Text wird zur Erinnerungsprothese, so definiert Levi die Rolle, die sein Buch Ist das ein Mensch? für ihn spielt; Kertész schreibt Fiasko als ‚Roman vor dem Roman‘ und beteuert, dass ihn nicht der im Roman vorkommende Zug, sondern ein realer Zug nach Auschwitz gebracht habe. Die Fiktion könne nie ein Substitut für die Wirklichkeit sein, man könne sich nicht selbst vermitteln. Auch Schalamow bekundet die Rolle

6 Semprún, „Weimar – Buchenwald. 9. April 1945 – 9. April 1995“, S. 76. 7 Kertész, Der Spurensucher (Nachwort), S. 127.

8.2 Fiktionalisierung, Erkenntnis und Wahrheit

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der Fiktionalität und der Authentizität seiner Prosa, indem er diese als „erlittenes Dokument“ bezeichnet. Dies gilt besonders für seine letzten Erzählungen, die immer interpretativer und selbstreflexiver werden und die vorherigen Erzählungen der Zyklen voraussetzen. Herta Müller versteht Autofiktion ganz konkret als Fiktion, die aus dem eigenen Erleben hervorgeht, danach entwirft sie Handlung und Figuren im Roman und schafft auch Metaphern für sie; ihr Begriff der „erfundenen Wahrnehmung“ reflektiert dies. Mit ‚autofiktional‘ kann man ein Schreiben definieren, das in großem Maße autobiographisch konnotiert ist und sich von der Autobiographie unterscheidet, indem es die Lebensgeschichte als etwas behandelt, was zu erfinden ist, und seinen Wahrheitsanspruch nicht aus einer Rekonstruktion des angeblich Gewesenen bezieht, sondern, jenseits davon, aus den – von der Wiederlebbarkeit des Erinnerten bestimmten – literarischen Verfahren. In diesem Sinn ist das fiktionale Werk der hier behandelten Autoren autofiktional. Dabei wird aber nicht unbedingt und nicht immer die Fiktionalisierung des Ichs realisiert, sondern vielmehr die Fiktionalisierung seiner Umwelt. Lebensgeschichte, Historiographie, kritische Geschichtsinterpretation und Fiktion gehen ineinander über. Die Fiktionalität wird aber nicht im postmodernen Sinne als konstitutiv für das autobiographische Schreiben angesehen, sondern als Instrument der Wahrheitssuche. Es handelt sich um Texte, die sich dem informierten Leser als referentiell und gleichzeitig als fiktional zu erkennen geben. Es geht dabei um Literatur und um Wahrheit, um eine Konstruktion, in der die Poiesis hervorgehoben wird. Die Literatur muss der Realität gerecht werden, ihr Wahrheitsanspruch liegt jenseits der Mimesis. Sie macht das Erlebte durchsichtiger, zeigt das, was im Erleben undurchschaubar war, ist mit Nach-Denken verbunden. Als Garant für die Wahrheit steht der Autor. Dass die Gattungsgrenzen der Autobiographie von denen der Fiktion durchbrochen werden, verbindet das Werk von Jorge Semprún und Max Aub, zeigt sich in den Essay-Romanen und Roman-Essays Jean Amérys wie auch in der Prosa als „durchlittenes Dokument“ Warlam Schalamows und ist bestimmend für Herta Müllers Schreiben. Damit stehen Schreiben und Fiktionalisierung im Zusammenhang mit Denken, mit Erkennen. Erkenntnis nimmt im Gedächtnis Form an und wird durch Schreiben und Fiktionalisierung freigesetzt. Damit gehen auch die Grenzen zwischen Fiktion und Essay verloren. Die Essays als denkendes Erkennen benutzen die eigene Biographie zum Nachdenken, sie sind von autobiographischen Elementen durchzogen und in ihnen werden literarische Verfahren benutzt, die denen entsprechen, die in den Romanen vorkommen. Insbesondere die Metaphorik, die konkrete Bildlichkeit wird übernommen. Das ist der Fall bei Herta Müller, deren Metaphernsprache der Argumentation Form gibt, bei Semprúns Benutzung der Bildlichkeit, bei Améry, der die Essays Jenseits von Schuld und Sühne, Über das

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8 Zum Schluss

Altern und Unmeisterliche Wanderjahre als essayistisch-autobiographische Romane ausweist, hingegen Lefeu oder der Abbruch und Charles Bovary Landarzt als Roman-Essays. Und so ist es auch bei Kertész mit seinen Essay-Bänden, Tagebüchern und dialogisierten Bänden wie Dossier K. Warlam Schalamow erarbeitet mit Über Prosa einen Text, der selbstreferentiell zu seinem eigenen Schreiben ist und der sich literarische Verfahren der russischen Avantgarde wie Reihung und Wiederholung zunutze macht. Max Aub baut essayistische und selbstreferentielle Texte in seine Romane ein; ein Bespiel dafür sind die „Blauen Seiten“ in Bittere Mandeln. Die Grenzen zwischen den Gattungen werden durchlässig, aber es geht auch dabei nicht um postmodernes Spiel, sondern um Erkenntnis und Subjektkonstituierung, die Versehrtheit bekunden, Erinnerungsarbeit und Zeugnis leisten. Die Werke aller Autoren sind insofern Beiträge zu einer Kultur des gerechten Gedächtnisses im Sinne Ricœurs, indem sie die Spuren der Opfer der Gewalt in der Geschichte bewahren und eine Erinnerungsarbeit leisten, die auch Trauerarbeit ist und die damit zu einer kritischen Funktion der Geschichtsschreibung beiträgt. Zu dieser Kultur des gerechten Gedächtnisses gehören auch die Wiederbelebung der Versprechungen und Wünsche, die in der Vergangenheit entworfen und nicht erfüllt wurden, und die Kritik am rückwärtsgewandten Fatalismus, an der retrospektiven Fatalitätsillusion in der Geschichtsinterpretation. Denn das, was gewesen ist, hätte auch anders sein können. Das, was geschah, ist durch eine Anzahl von Maßnahmen erfolgt, die auch anders hätten verlaufen können und die man sich bewusst machen muss. Kertész spricht von der Unzahl der nacheinander stattfindenden kleinen Schritte; seine Romanfigur Köves in Roman eines Schicksallosen weist auf diese kleinen Schritte hin, die zu der gegebenen Situation geführt haben, und streitet sich deswegen mit seinen ehemaligen Nachbarn, die das Geschehene als ein Geschick darstellen, das man möglichst schnell vergessen müsste. Dem widersetzt sich Köves und diese Widersetzung kann man durchaus in diesem geschichtskritischen Sinne lesen. In den revoltierenden Ressentiments Jean Amérys gegenüber dem Deutschland der Nachkriegszeit steckt sogar eine Auflehnung gegen den Verlauf der Geschichte. Einen Wundheilungsprozess könne und dürfe es nicht geben, Entwürdigung dürfe nicht als „unentrinnbares Schicksal“ gedacht werden. „Was geschah, geschah. Der Satz ist ebenso wahr wie er moral- und geistesfeindlich ist. Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig solange es moralisch ist.“8 Der radikal utopische Entwurf, der dem Satz innewohnt, zeigt sich, wenn Améry nach Umkehrung der Geschichte verlangt und diese über den Dialog zwischen

8 Améry, „Ressentiments“, S. 143.

8.3 Poetiken

333

Tätern und Opfern für erreichbar hält: die Zurücknahme Hitlers, die Auslöschung der Schande für Deutschland. Auch die fiktive Antrittsrede Max Aubs für die Spanische Sprachakademie ist als Rücknahme der Geschichte und als utopischer Entwurf der Potentialitäten der Geschichte der spanischen Republik zu deuten. Hier wird aus der Erinnerung das imaginiert, was hätte sein können, und sein utopisches Potential wird entwickelt. Immerhin hatte Max Aub seine spanische Literaturgeschichte, Manual de Historia de la Literatura Española, mit dem für eine Geschichte bemerkenswerten Satz: „La historia es futuro“, „Geschichte ist Zukunft“ begonnen.

8.3 Poetiken Die hier behandelten Autoren sind vergleichbar und gleichzeitig nicht vergleichbar, weil ihre persönlichen Lebensumstände und Diktaturerfahrungen jeweils andere sind. Améry und Kertész begründen einen Diskurs, der Auschwitz als Zivilisationsbruch bekundet; sie überlebten die Auslöschung der europäischen Juden und finden in ihrer Subjektkonstitution als Juden ex negativo, Améry als Nicht-Nichtjude, Kertész als Keinerlei-Jude, einen Fluchtpunkt für ihre Analysen. Sie verwandeln die Fremdbestimmung in Selbstbestimmung und machen ihr Judesein zu einer ethischen Aufgabe. Amérys Schreiben geht von der körperlichen Vernichtungserfahrung des Überlebenden aus, sein „Tortur“-Aufsatz bestimmt sein gesamtes Schreiben. In diesem Essay wird nicht die Folter vergegenwärtigt, sondern es wird Erkenntnis über sie gewonnen, die von dem unmittelbar Erlebten ausgeht. Der Verlust des Weltvertrauens als Konsequenz der Folter wird auch auf die Definition seines Nicht-Nichtjude-Seins übertragen. Von der eigenen Erfahrung, der Erinnerung bedingtes Schreiben und Denken wird bei ihm, wie bei den anderen behandelten Autoren, zu einem hermeneutischen Prozess der Wahrheitsfindung. Es handelt sich dabei um ein leidenschaftliches Schreiben, um leidenschaftliche Aufklärung: Es erweist sich als unmöglich, aus der Distanz von der Wunde Auschwitz zu schreiben. Der unermessliche Schmerz verweigert sich der Beschreibbarkeit, den Metaphern; dennoch benutzt Améry laufend Metaphern und Bilder, die um das zu Beschreibende kreisen, es nie als endgültig beschrieben fixieren. Unsagbarkeit wird gleichzeitig reflektiert und unterlaufen, das Schreiben geschieht innerhalb dieser Paradoxie. Der Verweis auf die literarische Tradition, auf das schon Gesagte, gewinnt dort eine grundlegende Rolle. Sie wird als Folie benutzt, die auf die Realität verweist; sie wird gewissermaßen metaliterarisch gebraucht, indem sie auf das Schreiben selbst verweist, auf die Konstruktion des Textes, auf die Möglichkeit, Realität durch Be-schreiben zu erzeugen. Damit bekommt sie eine

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8 Zum Schluss

wichtige utopische Dimension. Und auch die Konfrontation mit der literarischen Tradition geschieht in Beziehung zum Schreiben als Ichkonstituierung, als Aufarbeitung der eigenen Biographie. Diese Ichkonstituierung, die als Trümmerbewältigung und Spurensuche betrieben wird, bestätigt und fordert eine eigene subjektive Erfahrungsweise und deren Wahrheitsanspruch gegenüber jedem anderen; sie geht von der Tradition der Moderne aus. Gerade weil Améry den Strukturen der nationalsozialistischen Todesmaschinerie ausgesetzt, der radikalen Entpersönlichung ausgeliefert war, setzt er das existentielle Ich den Strukturen gegenüber und hält an der Aufklärungsutopie des mündigen Ichs fest. Seine an der Wiener Schule orientierte sprachkritische Haltung reibt sich an Wittgenstein wund, seine rassiermesserscharfe essayistische Sprache wird aber durch das Einbrechen der Erinnerung in seine Roman-Essays auch aufgelöst und unterlaufen. Kertész’ Schreiben radikalisiert die Auseinandersetzung mit der Tradition. Auschwitz als Zivilisationsbruch stellt die gesamte Tradition der Heldengeschichte des 19. Jahrhunderts und ihre Werte in Frage, inklusive die des deutschen Idealismus und der Weimarer Klassik. Er schreibt gegen den ‚Grundton der Tradition‘ an; zentrale Elemente sind dabei die Erfahrung des Verlustes der Individualität, die Erfahrung der Menschheit als Masse und des funktionalisierten Menschen. Erkenntnis ist für ihn ein Akt der Freiheit, des sich nicht Anpassens, der Schicksalsgewinnung und insofern der Subjektkonstituierung. Sie steht gegen das Vergessen und zeigt sich in der Metapher des Schritt-für-Schritt-Gehens. Diese ‚Poetik der Schritte‘ hat auch mit der Linearität zu tun, die das Erzählen regiert; man darf nichts überspringen, weil die Begebenheiten sich nur dann als implizit und notwendig zeigen. Der Roman eines Schicksallosen führt Schritt für Schritt zur Erkenntnis, er stellt sich dem Vergessen entgegen wie auch der Sinngebung der erzählten Geschichte vom Ende her. Vom Ende her, vom Überleben her zu erzählen läuft Gefahr, der Geschichte einen Sinn zu geben; die Sinngebung könnte letzten Endes die Vernichtung durch das nationalsozialistische Regime in gewisser Weise harmonisieren. Das Verstehen, um das es geht, darf kein beruhigendes Verstehen werden, das einen Sinn fixiert. Somit wird das Schreiben zu einem immerwährenden Vorgang des Umkreisens und der Annäherung und geschieht aus der paradoxen Überzeugung, dass es um Schreiben und Verstehen geht, aber dass man daraus nicht erfolgreich hervorgeht, gar nicht hervorgehen darf, es sei denn um den Preis der Lüge oder des Betrugs. So ist dem Schreiben der Verweis auf die Unmöglichkeit des Sagens, auf Unsagbarkeit und Unbeschreibbarkeit eingeschrieben. Das Verstummen der Sprache in der Sprache wird bei Kertész mit Hilfe von visionären Bildern bezeugt; sie sind sowohl Erinnerungsinstrumente – Kertész definiert sie als Requisiten, um seinen Schmerz wachzuhalten – als auch Erkenntnisinstrumente. Freiheit und Wiedergewinnung

8.3 Poetiken

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des eigenen Schicksals zeigen sich auch in Akten der Güte. Die Güte ist, wie am Beispiel des ‚Herrn Lehrers‘ in Liquidation zu sehen ist, ein Akt, der weder vernunftmäßig noch logisch ist, der sich insofern der Logik von Auschwitz entgegenstellt. Sie ist eine Manifestation des Geistes, der Freiheit, des Schicksals. Wie bei den anderen Autoren sind Kertész’ Schriften erzählendes Denken und denkendes Erzählen und es geht dabei um Erkenntnisgewinnung. Jorge Semprúns Schreiben geht von der Erinnerung an den allgegenwärtigen Tod in Buchenwald aus, die Lagererfahrung wird auch für ihn zur bestimmenden Erfahrung seiner Existenz. Er bezeichnet sie als die Erfahrung des radikal Bösen, ihr entgegengestellt ist die Erfahrung der Brüderlichkeit, die sowohl sein Leben im Maquis wie auch sein Überleben in seiner eigenen Gemeinschaft im Lager bestimmt. Sein schreibendes Erinnern führt in das Sterben zurück, in das Bewusstsein des Wiedergängertums, und damit in das Verstummen, das ihm innewohnt. In Semprúns Erinnerungstexten spielt die Literatur, der Verweis auf sie, also die Erinnerung der Texte im Text eine entscheidende Rolle, um die eigene Erinnerung zu formulieren; sie dient sowohl dem Überleben im Lager wie der Formulierung des Überlebens, sie dient metaliterarischen Überlegungen zur Möglichkeit des Schreibens und zur Strukturierung der Werke. Semprúns Schreiben beruht auf Erinnerungsarbeit, auf dem Exil als definitivem Zustand, auf Heimat in der Sprache und in einer abendländisch-kosmopolitischen Kulturtradition, auf der Annahme verschiedener Identitäten im realen Leben, bevor er diese in die Literatur übernimmt, um sie dort als autobiographische Maske zu benutzen. Er kann Folter, Lager und Gewalt in eine geschichtliche Ordnung einfügen, in deren Kämpfen er eine Rolle gespielt hat, auch wenn diese Ordnung im Laufe des 20. Jahrhunderts von dem Vorherrschen der Gewalt in den verschiedenen politischen Systemen gezeichnet ist. Sein Werk umfasst Memoiren, die wie Romane, und Romane, die voller autofiktionaler Elemente sind. Die Bildlichkeit ist in ihnen vorherrschend: Blicke bestimmen Erzählperspektiven, Erinnerungsbilder rufen schlagartig die tödliche Erinnerung auf, erinnerte Bilder werden zu strukturierenden Elementen der Erzählung und zu Garanten der Wahrheit, sie tragen die Wahrheit des Gesagten regelrecht zur Schau. Sein Erschreiben der Erinnerung beschränkt sich nicht darauf, das Erlebte wiederaufzuzeichnen, den Tod zu verlängern. Er erschreibt sie mit Hilfe von Texten und Bildern einer Kulturtradition, die ihm zur Heimat wird; so widersetzt er sich dem Tod und macht ihn zugleich erzählbar. Schalamows Schreiben wird von einem ethischen Gebot der Erinnerung und des Widerstandes gegen die Realität geleitet, einer Realität, die vom Bösen bestimmt wird, in der das Schreiben die Ausnahme des Guten bestimmt und dokumentiert. Auch für Schalamow ergibt sich die Frage, wie man vom Lager erzählen kann. Und auch er, wie Kertész, beantwortet sie, indem er den Bankrott des Humanismus und des Romans des 19. Jahrhunderts radikal bezeugt und die

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8 Zum Schluss

Notwendigkeit einer ‚neuen Prosa‘ für sein Erzählen in Anspruch nimmt. Es handelt sich auch bei ihm um Zeugnisliteratur, die eine Extremsituation behandelt und die gegen das Vergessen kämpft. In vieler Hinsicht sind seine Erzählungen aus Kolyma auch eine Gedenkschrift für die namenlos verschwundenen Toten der Kolyma. Sein Schreiben steht zwischen Dokumentation und ästhetischer Verarbeitung, zwischen dem Jetzt des Schreibens und dem Damals des Erlebens, zwischen dem Körper und der Sprache des Schreibens und dem Körper und der Sprache des vergangenen Erlebens. Denn die Erinnerung ist im Körper lokalisiert und von ihm geht auch das Schreiben aus, von den gebliebenen Narben. Das im Körper eingebrannte Leiden garantiert Authentizität und begründet die ethische Legitimität, urteilen zu dürfen. Das Schreiben schildert ein Überleben am Rande des Todes, an ihm entlang, in konstanter Anwesenheit des Todes, in Lagern, in denen Zeit und Raum der Verurteilung endlos sind. Das Schreiben vergegenwärtigt die Verwischung und Verkehrung der Maßstäbe des Verhaltens der Menschen und für den Intellektuellen den Verlust seiner Sprache und seiner Denkmuster. Auch Améry dokumentiert das Scheitern des Geistes im Lager. Die Situation der beiden aber ist unterschiedlich, wie es auch die Lager sind. Améry ist als Jude in Auschwitz zur Auslöschung bestimmt und empfindet sich als solcher von den Nationalsozialisten aus seiner Sprache und seiner Kultur vertrieben, etwas, was durchaus nicht Schalamows Situation ist, dem die Vernichtung durch Hunger, Kälte, Schläge und Zwangsarbeit droht, aber der nicht im Vornhinein zur Auslöschung bestimmt ist und der nicht aus seiner Sprache und Kultur ausgeschlossen ist. Schalamow stellt die Kultur in Frage, die das Lager ermöglicht hat, übt gewichtige Kritik am Humanismus der russischen Autoren des neunzehnten Jahrhunderts. Er kann sich aber in eine bestimmte Richtung der russischen Avantgarde einordnen, kann in einer seiner Kolyma-Erzählungen dem Dichter Osip Mandelstam ein Denkmal setzen. Das radikale Bewusstsein der Nutzlosigkeit intellektueller Tätigkeit für das Überleben im Lager teilen Améry und Schalamow – und auch die Erfahrung, dass später, für die Erzählung und das Zeugnis des Lagers, nur die Sprache der Kultur, der Kunst, der Ästhetik in Frage kommt. Diese Erfahrung haben sie mit den anderen hier behandelten Autoren gemeinsam. Schalamow definiert seine Prosa als „durchlittenes Dokument“, weil der Schriftsteller nicht Beobachter, sondern selbst Leidender ist. Die Ästhetik, die ihr gerecht wird, ist eine der Lakonie und der Details, die einen symbolischen Wert bekommen. Indem sie zeigt und zugleich verdeckt, dokumentiert sie Versehrtheit, verweist auf die Notwendigkeit einer Interpretation, auf einen Hintersinn. Sie kann nur durch den Dichter zum Symbol der Erinnerung werden; Erinnerung und Kunst sind unwiderruflich miteinander verbunden.

8.3 Poetiken

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Auch Herta Müller bringt die Wahrheit der Erinnerung mit ihrem Erschreiben, nicht mit der Rekonstruktion der Vergangenheit in Zusammenhang. Literatur macht das Erlebte durchsichtiger, zeigt das, was im Erleben undurchschaubar war, und ist auf diese Weise mit Nachdenken verbunden. Das Gedächtnis ist auch bei ihr im Körper lokalisiert, die körperlichen Spuren machen das Erlebte konkret wiedererlebbar. Und auch bei ihr verschwimmen die Grenzen zwischen Essay und Fiktion: Ihre Essays sind ausgesprochen ästhetisch konstruierte, beeindruckende literarische Dokumente. In gewisser Weise fungieren sie in Verbindung mit ihrem fiktionalen literarischen Werk, so als ob sie deren Wahrhaftigkeit untermauern würden, genauso wie in umgekehrter Weise die literarischen Werke das Funktionieren der Bildlichkeit zeigen, mit der in den Essays nachgedacht wird. In beiden geben die autobiographischen Elemente das Material für die Analyse der Wirklichkeit in Form des literarischen Werkes ab, das die Welt erschreibt. Die Bildlichkeit ist ein grundlegendes Instrument von Herta Müllers Schreiben. Bilder, Metaphern geben ihren Texten die individuelle Sprache, die sie braucht, und fungieren in ihren Verflechtungen als sinngebender Argumentationsdiskurs, in dem sie die Wahrheit des Geschriebenen gleichzeitig zur Schau tragen. Die Metaphern strukturieren letzten Endes die Argumentation des Diskurses, verweisen auf seinen Sinn, schaffen Kohärenz, beurteilen sogar. Sie füllen sich in dem Maße, in dem sich die Erzählung entfaltet, mit immer komplexerem Inhalt, so dass sie über immer komplexere Konnotationen die Erzählung strukturieren, die Erzählstimme bestimmen. In den Essays wird die Metaphorisierung, die Bildlichkeit, zum Faden, an dem sich die Argumentation entwickelt. Im Roman bildet sich die Sinnstruktur über die Konstruktion des Metaphernnetzes in kurzen, lakonischen, als Fragment konstituierten Einheiten. Die Konstruktion der Vergleiche bei Müller wird durch die Erinnerung an Verfolgung, Schmerz, Gewalt und Diktatur bestimmt. Hinter Herta Müllers Misstrauen gegenüber der Sprache steht auch die Erfahrung der Diktatur und der Misshandlung des Individuums durch die Sprache des Kollektivs. Die Bildlichkeit gibt ihr paradoxerweise sowohl die Möglichkeit der Genauigkeit, die sie in ihren parataktischen und lakonischen Sätzen sucht, wie die der Individualität, der Freiheit. Herta Müllers Poetik ist auch eine Poetik der kleinen Dinge, der Details, der Lakonie. Sie gründet in der konkret erfahrbaren Realität, die körperlich, von den Sinnen aus, erlebt wird. Und sie spricht über den Schmerz und die Beschädigung in Details. Ihre Sprachbilder sind auch ein Instrument, an der Sprache die Unmöglichkeit des Sagens zu signalisieren. Max Aubs Fassungslosigkeit gegenüber der Geschichte ist insofern verschieden von der Erfahrung der anderen hier behandelten Autoren, als seine Diktaturerfahrung eine andere ist. Er wurde eigentlich nicht von einer Diktatur ins Lager gebracht, vielmehr war seine Inhaftierung Folge eines verlorenen Krieges, der

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8 Zum Schluss

eine Diktatur an die Macht brachte. Und es war eine angeblich demokratische Regierung, die französische, die ihn verfolgte und die antifaschistischen exilierten Republikaner in Lager sperrte. Sein Schreiben ist eine Revolte gegen das Vergehen der Zeit und gegen die Vergänglichkeit, es entspricht einem moralischen Gebot, nämlich die Erinnerung an die Besiegten des Bürgerkriegs wachzuhalten. Es ist auch ein Versuch, die Welt und seine Zeit zu erklären, und ist insofern ein heuristischer Versuch des Verstehens, des Denkens. Die Erfahrung des Exils ist seinem Schreiben eingeschrieben, genauso wie die Erfahrung der Lager. Für die Erzählung stellt auch er die Tradition des Romans des 19. Jahrhunderts in Frage, und auch für ihn geht es nicht um Rekonstruktion des Vergangenen, sondern um Wiedererschaffung durch Fiktionalisierung; nur so besteht die Möglichkeit die Wahrheit zu erreichen. Aubs Sprache steht der Sprache der Avantgarde nahe. Die Intermedialität der Literatur und der filmischen Sprache wird ihm zu einem Instrument der Sprachfindung, und auch sie steht mit der Bildlichkeit im Zusammenhang. Seine Romane werden von der Absenz des Erzählers und von der Unmöglichkeit der Linearität getragen; das Thema verweigert sich dem linearen Erzählen einer geschlossenen Welt. Der Roman zeigt gleichzeitig Labilität und Ungenügen seiner Form; er ist vom Versuch des Verstehens, der Parteinahme, des Bezeugens getragen. Aub behandelt sein Thema anhand von verschiedenen Gattungen, deren Grenzen verschwimmen. Er erschließt eine Ästhetik der tragischen Groteske, lehnt sich gegen die Geschichte auf und appelliert an das utopische Potential der verlorenen spanischen Republik. Die unterschiedlichen Experimente der Fiktionalisierung, die er unternimmt, sind kein postmodernes Spiel; sie sind Mittel der Erkenntnis, zeugen von den Schatten des Realen. Er dokumentiert mit all dem auch, mit welcher Leichtigkeit in einer angeblichen Demokratie der Verlust der Rechte, die Praxis der gesellschaftlichen Exklusion und der Abschied von der Utopie einer solidarischen Gesellschaft erfolgen. Fiktion ist für Aub ein Mittel des Erkennens und des Wiederaufbaus der Welt, sie ersetzt sie aber nicht. Denn das geschehene Unrecht ist weiterhin geschehen, die Toten bleiben tot. In dieser Hinsicht ist auch die Unmöglichkeit des Sagens seinen Texten eingeschrieben. Er kann nur gegen die Distanz und das Vergehen der Zeit, gegen das Vergessen vorgehen – und in der Literatur die verlorenen Möglichkeiten der Geschichte weiterleben lassen.

8.4 „Es muss noch Weiteres geben…“ Die hier besprochenen Texte bezeugen unterschiedliche Diktaturerfahrungen; ihnen liegen unterschiedliche Fassungslosigkeiten und Versehrtheiten zugrunde.

8.4 „Es muss noch Weiteres geben…“

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Um ihnen gerecht zu werden, wurden sie einzeln gelesen und bearbeitet, aus ihrer eigenen Realität heraus interpretiert, so dass die einzelnen Kapitel praktisch zu Monographien über die Autoren wurden, über ihre jeweilige, aus der Erinnerungsthematik entstandene Poetik. In dem Vorhaben, den Texten gerecht zu werden, muss aber eine Analyse wie die hier vorgenommene verschiedenen Gefahren ausweichen. Die erste Gefahr ist, anhand der Analyse eine Normalisierung der Texte, eine Engführung und Sinngebung zu begünstigen, oder gar eine Versöhnung, die ihnen zuwiderlaufen würde. Sie sperren sich gegen den Versuch einer historischen Sinngebung, sie legen Wunden bloß, die offen gelassen bleiben sollen um eines gerechten Gedächtnisses willen; ihrer Sprache ist das Verstummen der Sprache eingeschrieben. Sie betreiben Subjektkonstitution, indem sie Versehrtheit bekunden. Sie bezeugen unermesslichen Schmerz. Sie dokumentieren auch das utopische Potential der Literatur und der verpassten Möglichkeiten der Geschichte. In dieser Hinsicht sind sie weiterhin provokativ und wehren sich gegen einen Automatismus der Perzeption. Meine Arbeit sollte diese Aspekte nicht glatt bügeln und normalisieren. Sie hatte sich vorgenommen, die Texte bewusst aufzuhellen, ohne sie analytisch wieder zum Objekt zu machen und sie damit der Erfahrung, gegen die sie anschreiben, wieder auszusetzen. Das, was in ihnen zum Thema wird, soll die Fassungslosigkeit der Leser nicht zunichte machen. In diesem Sinn soll meine analytische Arbeit als Zusammenarbeit mit den Texten verstanden werden. Die Feststellung Celans, dass ein „Gespräch beinah ein Verbrechen ist, weil es soviel Gesagtes mit einschließt“, ist auch auf die Analyse zu beziehen, die die Texte nicht wie eine Zwiebel tothäuten darf. In den Texten wird auf einen endlosen Prozess des Immer-neu-Schreibens verwiesen, einen Prozess, der nie endet, weil er auch die Unmöglichkeit der Darstellung selbstreferentiell zum Thema macht und andauernd eine neue Sprache dafür sucht. Es ist ein immerwährender Prozess, der aus verschiedenen Perspektiven realisiert wird und immer wieder das zu Erzählende umkreist. Ich möchte den Band mit diesem Verweis auf das andauernde Schreiben, auf die andauernde Sprachsuche beschließen. Max Aub lässt sein Rabenmanuskript mit der fragenden Feststellung des Raben enden: „Debe haber algo más…“ – „Es muss noch Weiteres geben…“. Das muss es.

Bibliographie Primärliteratur Améry, Jean, Die Schiffbrüchigen, Lefeu oder der Abbruch, Jean Améry. Werke in neun Bänden, Bd. 1, Irene-Heidelberger-Leonard (Hrsg.), Stuttgart 2007. –, Lefeu oder der Abbruch, S. 287–507. Mayer, Hans [Jean Améry], „Die Festung Derloven [1945?]“, in: Anhang zu Die Schiffbrüchigen, S. 582–608. –, „Jean Améry: Leufeu oder Der Abbruch. Konzept zu einem Roman-Essay (1972)“, in: Anhang zu Lefeu oder Der Abbruch, S. 649–659. –, Jenseits von Schuld und Sühne, Unmeisterliche Wanderjahre, Örtlichkeiten, Jean Améry. Werke in neun Bänden, Bd. 2, Gerhard Scheit (Hrsg.), Stuttgart 2002. –, „Vorwort zur Neuausgabe 1977“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, S. 11–19. –, „Vorwort zur ersten Ausgabe 1966“, in: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 20–22. –, „An den Grenzen des Geistes“, in: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 23–54. –, „Die Tortur“, in: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 55–85. –, „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, in: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 86–117. –, „Ressentiments“, in: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 118–148. –, „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, in: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 149–177. –, „I. Frühe Weigerung“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, S. 185–211. –, „II. Die scheinbaren Scheinfragen“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, S. 212–238. –, „III. Debakel“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, S. 239–267. –, „IV. Existenzsorgen“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, S. 268–294. –, „VI. Strukturen“, in: Unmeisterliche Wanderjahre, S. 322–349. –, „Zürich – London“, in: Örtlichkeiten, S. 423–444. Mayer, Hans [Améry, Jean], „Zur Psychologie des deutschen Volkes (1945)“, in: Anhang zu Jenseits von Schuld und Sühne, S. 500–534. –, „Jean Améry: Unmeisterliche Wanderjahre. Fragmente einer Biographie des Zeitalters (Exposé, 1969)“, in: Anhang zu Unmeisterliche Wanderjahre, S. 732–738. –, Über das Altern. Revolte und Resignation, Jean Améry. Werke in neun Bänden, Bd. 3, Monique Boussart (Hrsg.), Stuttgart 2005, S. 7–172. –, Charles Bovary, Landarzt, Jean Améry. Werke in neun Bänden, Bd. 4, Hanjo Kesting (Hrsg.), Stuttgart 2006. –, Charles Bovary, Landarzt, S. 7–185. –, Aufsätze zur Literatur und zum Film, Jean Améry. Werke in neun Bänden, Bd. 5, Hans Höller (Hrsg.), Stuttgart 2006. –, „Die Wörter Gustave Flauberts“, in: Aufsätze zu Flaubert und Sartre, S. 198–224. –, „Die Stunde des Romans“, in: Aufsätze zu Flaubert und Sartre, S. 225–237. –, „Charles Bovary, Landarzt. Exposé“, in: Anhang zu Charles Bovary, Landarzt, S. 279–294. –, Ein Leben mit Büchern, Nachlass Jean Améry im Marbacher Literaturarchiv, Mk 81.1275. –, „Rendezvouz in Oudenaarde“, in: Leben mit Büchern, S. 11–23. –, „Bergwanderung. Noch ein Wort zu Thomas Mann“, in: Leben mit Büchern, S. 24–51. –, „Zugang zu Marcel Proust“, in: Leben mit Büchern, S. 86–115. –, An den Grenzen von Sprache und Wirklichkeit. Zum 25. Todestag Ludwig Wittgensteins, Nachlass Jean Améry im Marbacher Literaturarchiv, Mk. 81.1227.

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Primärliteratur

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–, „Brief an Aleksandr Kremenskij“, S. 97–108. –, „Brief an Natalja Stoljarowa“, S. 72–85. –, „Brief an Julij Schrejder“, S. 90–96. –, „Aus den Notizbüchern“, S. 109–117. –, Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus. d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2009. –, „Cherry Brandy“, S. 94–101. –, „Das Krummholz“, S. 222–224. –, „Typhusquarantäne“, S. 261–284. –, „Was ich im Lager gesehen und erkannt habe“, S. 289–293. –, Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2009. –, „Der Statthalter von Judäa“, S. 9–12. –, „Lend-Lease“, S. 273–283. –, „Sentenz“, S. 285–294. –, „Ingenieur Kisseljow“, in: Ders., Künstler der Schaufel. Erzählungen aus Kolyma 3, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2010, S. 98–111. –, Die Auferweckung der Lärche. Erzählungen aus Kolyma 4, Franziska Thun-Hohenstein (Hrsg.), aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Berlin 2011. –, „Der Pfad“, S. 11–13. –, „Graphit“, S. 14–20. –, „Das Thermometer von Grischka Logun“, S. 40–49. –, „Die Auferweckung der Lärche“, S. 284–289. –, „Der Handschuh“, S. 293–335. –, „Jakow Owsejewitsch Sawodnik“, S. 446–452. Semprún, Jorge, „Weimar – Buchenwald. 9. April 1945 – 9. April 1995“, in: Ders., Blick auf Deutschland, aus d. Span. u. Franz. v. Michi Strausfeld u.a., Frankfurt a.M. 2003, S. 75–87. –, Le grand voyage, Paris 1963. –, Algarabía oder die neuen Geheimnisse von Paris, aus d. Franz. v. Traugott König, Frankfurt a.M. 1989. –, Der weiße Berg, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1990. –, „Écrire sa vie. Entretien avec Jorge Semprún“, in: Pôle Sud 1/1994, S. 23–34. –, Schreiben oder Leben, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1995. –/Wiesel, Elie, Schweigen ist unmöglich, aus d. Franz. v. Wolfram Bayer, Frankfurt a.M. 1997. –, Was für ein schöner Sonntag, aus d. Franz. v. Johannes Piron, Frankfurt a.M. 1999. –, Unsre allzu kurzen Sommer, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1999. –, Der Tote mit meinem Namen, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2002. –, Veinte años y un día, Barcelona 2003. –, Zwanzig Jahre und ein Tag, aus d. Span. v. Elke Wehr, Frankfurt a.M. 2005. –, „Unüberbietbar schlimm. Über Zerstörung, Leid und die Chance der Literatur“, in: Hans-Jürgen Heinrichs (Hrsg.), Schreiben ist das bessere Leben: Gespräche mit Schriftstellern, München 2006, S. 252–279.

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Weiterführend behandelte Forschung und Literatur

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Weiterführend behandelte Forschung und Literatur

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Weiterführend behandelte Forschung und Literatur

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Weiterführend behandelte Forschung und Literatur

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Dank Dieses Buch ist im Laufe von drei Forschungsaufenthalten am Freiburg Institute For Advanced Studies (FRIAS) entstanden, ich hätte ohne diese entscheidende Hilfe den Plan, es zu verwirklichen, kaum umsetzen können. Als „senior fellow“ konnte ich dort in einer Atmosphäre kollegialen Austausches, inspirierender Diskussionen und tatsächlicher praktischer Hilfe der Publikation alle Aufmerksamkeit und Kraft widmen. Dem damaligen Direktor des Hauses, Werner Frick, sei deshalb an erster und entscheidender Stelle dafür gedankt. Meinen Hilfskräften am FRIAS, Frauke Janzen und Jonas Gralle, bin ich für ihre logistische Hilfe dankbar, Frauke Janzen ganz besonders für ihre Hilfe bei der verlagskonformen Gestaltung des Manuskripts, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Kolleginnen und Kollegen in der School of Language and Literature, unter ihnen Gesa von Essen und Irmela von der Lühe, für so viele inspirierende Gespräche und Fragen. Anregungen und interdisziplinäre Bereicherung fand ich im FRIAS auch bei Gabriele Lucius-Höhne und Karl Scheit, bei Volkhard Knigge und Elisabeth Gülich. Im Rahmen des vom spanischen Ministerio de Economia y Competitividad geförderten Forschungsprojektes zu Literatur und Erinnerung (FFI 2010-18074) konnte ich meine Arbeit auch in Barcelona fortsetzten. Und last but not least gebührt mein Dank den germanistischen Kollegen und Freunden, die über die Geographie verteilt den Schreibprozess mit Diskussionen und Anregungen begleitet haben: Klaus Berghahn, Linda Maeding, Hartmut Melenk, Rosa Pérez Zancas, Helmut Pfotenhauer, Gerhard Stickel, Loreto Vilar, Karl Wagner.