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German Pages 300 Year 2003
Schlachtfelder
Schlachtfelder Codierung von Gewalt im medialen Wandel
Herausgegeben von Steffen Martus, Marina Münkler und Werner Röcke
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
ISBN 3-05-003587-0
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.
Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Münzer", Bad Langensalza Gedruckt in Deutschland
Inhalt
STEFFEN MARTUS/ MARINA MÜNKLER/WERNER RÖCKE
Schlachtfelder. Zur Codierung militärischer Gewalt im medialen Wandel
I.
Schlachtenrepräsentation
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VALENTIN GROEBNER
Menschenfett und falsche Zeichen. Identifikation und Schrecken auf den Schlachtfeldern des späten Mittelalters und der Renaissance
21
HERMANN DANUSER
Kriegsgetöse. Zur Semiotik musikalischer Battaglien
33
GODEHARD JANZING
Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Graphik. Krieg als Capricho bei Francisco de Goya
51
HERFRIED MÜNKLER
Clausewitz' Beschreibung und Analyse einer Schlacht: Borodino als Beispiel
67
MARTIN DÖNIKE
Antonio Canovas Herakles und Lichas oder die Unmöglichkeit des Schlachtendenkmals
93
ANTON KAES
Schlachtfelder im Kino und die Krise der Repräsentation
II. Die sozio-kulturelle Codierung des Schlachtfeldes
117
129
GERD ALTHOFF
„Besiegte finden selten oder nie Gnade", und wie man aus dieser Not eine Tugend macht
131
WOLFGANG SCHILD
Schlacht als Rechtsentscheid
147
6
Inhalt GERNOT KAMECKE
Zur Codierung kolonialer Schlachtfelder. Die heldenhafte Niederlage des Louis Delgrès in Matouba 1802
169
ULRICH BRÖCKLING
Schlachtfeldforschung. Die Soziologie im Krieg
189
BERND HÜPPAUF
Das Schlachtfeld als Raum im Kopf
207
RUTH SEIFERT
Im Tod und im Schmerz sind nicht alle gleich: Männliche und weibliche Körper in den kulturellen Anordnungen von Krieg und Nation
III. Die technisch-mediale Codierung des Schlachtfeldes
235
247
PHILIPP VON HILGERS
Räume taktischer Kriegsspiele
249
PETER BERZ
Die Schlacht im glatten und gekerbten Feld
265
STEFAN KAUFMANN
Der Soldat im Netz digitalisierter Gefechtsfelder. Zur Anthropologie des Kriegers im Zeichen des Network Centric Warfare
285
STEFFEN MARTUS/MARINA MÜNKLER/WERNER RÖCKE
Schlachtfelder. Zur Codierung militärischer Gewalt im medialen Wandel
Der Krieg übt als kulturelles Paradigma eine eigentümliche Anziehungskraft aus. Ob vom Krieg der Geschlechter, vom Krieg der Kulturen oder auch vom Krieg der Bücher, Gelehrten, Kritiker und Dichter die Rede ist, sein paradigmatisches Potential geht weit über die historisch je eingegrenzten Ereignisse „Krieg" hinaus. Daß hinter dieser entgrenzenden Verschiebung mehr als ein sorgloses Analogisieren stehen kann, das die Schrecklichkeit des Kriegs unangemessen verharmlost, zeigt beispielsweise die topische Begründung der Neuzeit nicht nur aus dem Geist der Neubestimmung von Politik oder Künsten, aus der Entdekkungslust oder Wißbegier, sondern auch aus der waffentechnischen Innovation, die einen strukturellen Wechsel in der Ordnung der Dinge in den Blick nimmt. „[...] die Buchdrukkerkunst", so Francis Bacon, „das Schießpulver und der Kompaß. Diese drei haben [...] die Gestalt und das Antlitz der Dinge auf der Erde verändert [...], und es scheint, daß kein Weltreich, keine Sekte, kein Gestirn eine größere Wirkung und größeren Einfluß auf die menschlichen Belange ausgeübt haben als diese mechanischen Dinge".1 Rund 200 Jahre später dreht Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Beeinflußungsverhältnisse um und geht in der kriegsorientierten Interpretation historischer Prozesse noch einen Schritt weiter als Bacon: Das Prinzip der modernen Welt, der Gedanke und das Allgemeine, hat der Tapferkeit die höhere Gestalt gegeben, daß ihre Äußerung mechanischer zu sein scheint und nicht als Tun dieser besonderen Person, sondern nur als Gliedes eines Ganzen, ebenso daß sie als nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen ein feindseliges Ganze überhaupt gekehrt, somit der persönliche Mut als ein nicht persönlicher erscheint. Jenes Prinzip hat darum das Feuergewehr erfunden, und nicht eine zufallige
1 Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch - deutsch. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Krohn. Teilbd.l. Hamburg 1990, S. 271.
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Steffen Marius/Marina Münkler/Werner Röcke Erfindung dieser Waffe hat die bloß persönliche Gestalt der Tapferkeit in die abstraktere verwandelt.2
Der Krieg wird zum „Prinzip der modernen Welt", zum zentralen kulturellen Paradigma der Neuzeit, weil er die Unangemessenheit der personalen Orientierung, wie sie für die Feudalsemantik und das entsprechende Repräsentationsdenken charakteristisch ist, versinnbildlicht - daß die Ependichter Ludovico Ariost und John Milton die Erfindung des Pulvers und damit die Depotenzierung des Helden dem Teufel in die Schuhe schieben, ist von hier aus gesehen verständlich.3 Seit die Erfindung des Schießpulvers das System der gegenseitigen Vernichtung von Grund auf verändert hat, erscheint auch die Kriegskunst in ganz anderer Gestalt. Körperkraft, das Hauptverdienst der alten Helden, gilt heute nichts mehr. List siegt jetzt über Gewalt, Kunst über Tapferkeit. Der Kopf des Heerführers hat mehr Einfluß auf den Erfolg eines Feldzuges als die Arme seiner Soldaten.4 Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der die Totalisierung des Krieges in konzertierten Aktionen von Politik, Wirtschaft und Militär entscheidend vorangetrieben hat, entsteht schließlich ein weiteres Jahrhundert später das Konzept der „totalen Mobilmachung", das den Krieg noch in den unscheinbarsten Erscheinungen der zivilisierten Welt entdeckt und den „Menschen" angesichts der waffentechnischen Verabschiedung vom Phantasma autonomer Handlungsfähigkeit zu einer bloßen „Schablone des Verstandes" erklärt.5 „Der Krieg ist das Ereignis, das unserer Zeit das Gesicht gegeben hat"6, behauptet Ernst Jünger, an ihm läßt sich nicht nur etwas über die Eskalation der Zivilisation lernen, sondern er wird zum Modellfall einer historischen Lage überhaupt. Ungeachtet der jeweils unterschiedlichen und gewiß bedenklichen politischen Programme, die hinter diesen willkürlich aus einem größeren Materialfundus herausgegriffenen Äußerungen stehen, muß man nach dem symptomatologischen Wert der Verschränkung von Krieg und Frieden fragen. Allgemeiner formuliert geht es dabei um die konzeptionelle Integration von Gewalt, wie sie in den Kultur- und Sozialwissenschaften in jüngerer Zeit projektiert wird. In Untersuchungen zur „Soziologie der Gewalt", zur „Historischen Anthropologie der Gewalt", zur Frage nach der „Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt", den „Kultu2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie. In der Textedition von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1995, S. 283 (§ 328). 3 Ludovico Ariost: Der rasende Roland. In der Übertragung von Johann Diederich Gries. Mit Zeittafel sowie Erläuterungen und einem Nachwort von Horst Rüdiger. Bd. I. München 1980, S. 203 (9, 90f.), 241 f. (11, 2Iff.); Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese; Der beygefüget ist Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in demselben Gedichte. Zürich 1740, S. 67f„ 71. 4 Friedrich der Große: Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII., Königs von Schweden. In: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Hg. von Johannes Kunisch. Frankfurt a. M. 1996, S. 547-587, S. 553 5 Emst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 8. Essays II. Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S. 38. 6 Ernst Jünger (Hg.): Krieg und Krieger. Berlin 1930, S. 5.
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ren der Gewalt" oder den „kulturellen Formen" von Gewalt wird deutlich, daß sich Gewalt nicht als Gegenteil oder als bloßer Unfall, sondern vielmehr als Teil der Kultur verstehen läßt.7 Das Graduiertenkolleg zur Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Ansätze 1998 aufgegriffen, sie zu einem interdisziplinären Forschungszusammenhang gebündelt und dabei den Aspekt der Vermitteltheit und Kulturalität von Gewalt insbesondere über historisch-anthropologische und medienhistorische Fragestellungen akzentuiert. Die vorliegenden Beiträge sind mit dieser Forschungsperspektive in einer ersten Fassung auf einer Tagung des Kollegs vorgestellt und diskutiert worden, die sich vom 31. Mai bis zum 3. Juni 2000 in Berlin mit „Schlachtfeldern" als einem spezifischen Ort kriegerischer Gewalt beschäftigt hat, um diese als Teil historischer Handlungsformen und Techniken zu entziffern. Die Beiträge wurden für die Publikation überarbeitet, so daß sie einen historischen und systematischen Überblick zum Thema bieten. Gegenüber der angesprochenen Ubiquität des Krieges soll damit ein konkreter Ausgangspunkt für die Analyse der Codierung von Gewalt dienen, um an den historischen Veränderungen des Schlachtfeldes und seiner Wahrnehmung sowohl Formen der Gewalt als auch das spezifische Imaginationspotential konkreter Räume des Krieges zu analysieren. Die Geschichte des Schlachtfeldes ist, auch wenn die Militärgeschichtsschreibung häufig die Darstellung von Krieg und Schlachtfeldern zusammenzufallen läßt8, nicht mit der Geschichte des Krieges identisch.9 Ab wann man in der menschlichen Geschichte Gewaltausübung als Kriege bezeichnen kann, ist unter Anthropologen, Vor- und Frühhistorikern umstritten, als wahrscheinlich gilt aber, daß mit der Entstehung von Ackerwirtschaft die Entstehung von Kriegen einherging, weil einerseits fruchtbare Gegenden zu immer wieder umkämpften Gebieten wurden und weil andererseits die Arbeitsteilung einen Teil der männlichen Bevölkerung für das Führen von Auseinandersetzungen freistellte.10 Während Clausewitz seine berühmte Definition des Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln vor dem Hintergrund des ausgebildeten neuzeitlichen Staates entwirft, weswegen diese Bestimmung erst auf relativ späte Formen der Kriegführung anwendbar ist,
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Vgl. Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1996; Soziologie der Gewalt. Hg. von Trutz von Trotha. Opladen / Wiesbaden 1997; Die Gegenwart des Krieges. Staatliche Gewalt in der Moderne. Hg. von Wolfgang Knöbl und Gunnar Schmidt. Frankfurt a. M. 2000; Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. von Markus Meumann und Dirk Niefanger. Göttingen 1997; Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte. Hg. von Rolf Peter Sieferle und Helga Breuninger. Frankfurt a. M. / New York 1998; Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Paul Hugger und Ulrich Stadler. Zürich 1995; Das zivilisierte Tier. Zur Historischen Anthropologie der Gewalt. Hg. von Michael Wimmer u. a. Frankfurt a. M. 1996; Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen. Hg. von Mihran Dabag u. a. München 2000. 8 Vgl. etwa das monumentale, nach wie vor gültige Werk von Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. 4 Bdd. Berlin / New York 2000 (zuerst Berlin 1920). Siehe auch Feldmarschall Viscount Montgomery of Alamein: Kriegsgeschichte. Weltgeschichte der Schlachten und Kriegszüge. Aus dem Engl, von Hans Jürgen Baron von Koskull. Frechen o. J.; John Keegan: Die Schlacht. Azincourt 1415 - Waterloo 1815 - Somme 1916. Aus dem Engl. Von Hermann Kusterer. München 1981. 9 Vgl. John Keegan: Die Kultur des Krieges. Aus dem Englischen von Karl A. Kiewer. Berlin 1995. 10 Keegan [wie Anm. 9], S. 161.
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läßt sich seine zweite, originellere, aber weniger bekannte Definition des Krieges, wonach der Krieg nicht mit dem Angriff, sondern mit der Verteidigung beginnt, auf die frühgeschichtlichen Anfänge der Kriegführung anwenden." Kriege wurden gefuhrt, als Stämme oder Völker bestimmte Gebiete ausschließlich fur sich reklamierten und gegen Eindringlinge verteidigten. Aufgrund dieser ursprünglichen Territorialität mag es naheliegend erscheinen, Krieg und Schlacht gleichzusetzen. Wenn indes die Entstehung des Schlachtfeldes an das Zusammentreffen einer größeren Zahl von Kriegern an einem bestimmten Ort gebunden ist, müssen weitere topographische, technische und organisatorische Voraussetzungen erfüllt sein, um von einer Schlacht sprechen zu können. Dabei ist es keineswegs erforderlich, daß die Schlacht den Charakter des Abschlachtens trägt und in ihr möglichst viele Gegner zu Tode gebracht werden - bei der ersten dokumentierten Streitwagenschlacht zwischen Pharao Thutmosis III. und einer Allianz unter Führung der Hyksos bei Magiddo im Norden Palästinas wurde beispielsweise so gut wie kein Blut vergossen.12 Die Figur des Schlachtfeldes als flaches, überschaubares Terrain ohne nennenswerte Hindernisse wurde zunächst von den Kriegskulturen Assyriens geprägt, deren Streitwagen in unebenem Gelände nahezu unbrauchbar waren.13 Der Wechselbezug von geographischen Voraussetzungen und technischen Möglichkeiten macht nachvollziehbar, warum innerhalb Europas bestimmte Gebiete immer wieder Schlachtfelder wurden, wie etwa in der Poebene im Städteviereck zwischen Mantua, Verona, Peschiera und Legnano oder in Flandern, das auch als „Europas Hahnenkampfplatz" bezeichnet worden ist. Über lange Zeiträume in der Geschichte werden am selben Ort wiederholt Schlachten geschlagen - bei dem in der Türkei gelegene Adrianopel (heute Edirne) sind fünfzehn Schlachten verzeichnet, von denen die erste 223 n. Chr. und die letzte im Juni 1913 stattgefunden hat. Die Vorstellung des Schlachtfeldes wurde jedoch nicht nur vom Gelände und den technologischen Bedingungen geprägt, sondern auch von bestimmten militärischen Organisationsformen und Kampfformationen. Die Form der Schlacht, die mit dem Begriff Schlachtfeld als einem Ereignis auf begrenztem Raum, das eine Entscheidung des Krieges herbeiführte, konnotiert ist, entstand daher erst in den antiken griechischen Poleis.14 Die Schlachten früherer Völker [...] waren stets von Taktiken bestimmt gewesen, die den Krieg seit seinen Anfangen gekennzeichnet hatten: man kämpfte vorsichtig und am liebsten auf Distanz, verließ sich auf Wurfgeschosse und mied den Nahkampf, bis man sich des Sieges sicher glaubte. Die Griechen verwarfen diese Bedenken und schufen eine neue Art des Krieges, bei der die Schlacht zur entscheidenden Auseinandersetzung wurde: in den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung mit dem Ziel
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Vgl. Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hg. von Werner Hahlweg. 19. Aufl. Bonn 1980, S. 210 (Fortsetzung der Politik) sowie S. 644 (Krieg beginnt mit der Verteidigung). Keegan [wie Anm. 9], S. 262. Keegan [wie Anm. 9], S. 320ff. Was unter Entscheidung zu verstehen ist, differiert freilich in Geschichte wie Theorie der Kriegführung nicht unerheblich. Entscheidung kann sowohl in der bloßen Demonstration der eigenen Überlegenheit als auch in der vollständigen Vernichtung der gegnerischen Kräfte bestehen. Vgl. Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkung in zwei Weltkriegen. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Baron von Koskull. Frankfurt a. M. 1967.
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ausgetragen, in einem einzigen risikoreichen Aufeinanderprall von Geschicklichkeit den Sieg zu erringen.15 Die griechischen Poleis bildeten mit der Phalanx als erster ausgebildeter Infanterieformation eine Aufstellung aus, die auf einem eng begrenzten Feld eine solche Kampfkraft konzentrierte und sich gleichzeitig so unverwundbar machte, daß sie eine Entscheidung erzwingen konnte.16 Wesentlich für die Phalanx war die durch den Marschtakt der Pfeifer vorgegebene Gleichförmigkeit der Bewegung der Hopliten, denn die Aufrechterhaltung der Schlachtordnung war ausschlaggebend für den Verlauf der Kämpfe. Die Römer formierten die Phalanx zur Taktik flexibler Treffen um, bei denen nicht mehr alle Soldaten gleichzeitig das Schlachtfeld betraten, sondern in denen kleinere Einheiten in flexibler Aufstellung gebildet wurden, von denen ein Teil als Reserve fungierte: Das Wesen der Phalanx beruht [...] darauf, daß [...] nur die ersten oder gar nur das erste Glied eigentlich kämpft, also höchstens ein Viertel, vielleicht nur ein Fünftel, Dreißigstel oder noch weniger der Bewaffneten. Der Wert dieser ganzen Masse besteht ausschließlich darin, daß sie die Gefallenen ersetzen, den Zusammenhang de[r] Linie erhalten und von hinten einen physischen und moralischen Druck ausüben. Wird nun die hintere Hälfte losgelöst und in einiger Entfernung von der vorderen aufgestellt, so geht von allen diesen Vorteilen viel verloren; namentlich der physische Druck ist völlig aufgehoben. Dafür aber ist das zweite Treffen in der Lage, selbständige Bewegungen machen zu können, also einen etwaigen Flanken- oder Rükkenangriff abzuwehren und selber, sich herausziehend, Flanken-Angriffe zu machen.17 Aus diesen einzelnen Treffen entwickelten die Römer schließlich die Kohortentaktik. Die Römer haben die Phalanx erst mit Gelenken versehen, sie dann in Treffen unterteilt, endlich in eine Vielzahl kleiner taktischer Körper aufgelöst, die imstande sind, bald zu einer kompakten, undurchdringlichen Einheit zusammenzuschließen, bald mit vollendeter Schmiegsamkeit die Form zu wechseln, sich zu teilen, sich nach dieser oder jener Seite zu wenden.18 Um solche taktischen Körper einzusetzen, bedurfte es freilich einer militärischen Hierarchie und Disziplin, für die im Kriegsfall zusammentretende Bürgerheere nicht mehr taugten. Insofern ist die Einführung der Kohortentaktik bei den Römern eng mit der Einführung des 15 16
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Keegan [wie Anm. 9], S. 353. Aufgekommen sein dürfte die Phalanx etwa seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. Sie hat vermutlich innerhalb des 6. Jahrhunderts die Heere einzeln kämpfender adliger Elitekrieger abgelöst. In den messenischen Kriegen hat Sparta mit seiner Phalanx die einstmalige militärische Überlegenheit des zu Pferd oder mit dem Streitwagen kämpfenden Adels gebrochen. Vgl. Fritz Schachermeyr: Griechische Geschichte. München 1978, S. 133f. Zur Aufstellung und Kampftaktik der Hoplitenphalangen vgl. Delbrück [wie Anm. 8]. Bd.l, S. 34-45; vgl. außerdem Victor Hanson (Hg.): Hoplites. London 1991. Delbrück [wie Anm. 8]. Bd. 1, S. 440. Delbrück [wie Anm. 8]. Bd.l, S. 499.
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Berufsheeres verbunden. Erst exerzierte und disziplinierte Heere konnten in unterschiedlichen taktischen Formationen zwischen Defensive und Offensive hin und her wechseln. Für das Erscheinungsbild des Schlachtfeldes war das entscheidend, weil sich damit der Heerführer in den Feldherrn verwandelte, dessen Blick nun das Schlachtfeld definiert. Die Möglichkeit des operativen Wechseins von der Defensive zur Offensive war von ausschlaggebender Bedeutung für die neue militärische Funktion des Feldherrn - ja sie hat den Heerführer erst in den Feldherrn verwandelt. Definiert sich der Heerführer im Hinblick auf die Krieger, an deren Spitze er steht, so der Feldherr im Hinblick auf das Gelände, in dem er seine Truppen aufstellt und bewegt. Nicht mehr physische Stärke und Waffengewandtheit, sondern die Fähigkeit, den richtigen Augenblick für den Übergang von der Defensive in die Offensive zu erkennen, war nunmehr von schlachtentscheidender Bedeutung.19 Feldherren, die nicht an der Spitze des Heeres kämpften, sondern sich im Hintergrund hielten, hatte es zwar auch bei den Griechen seit der Einführung der Hopliten-Phalanx und der Treffen-Formation schon gegeben, aber erst die komplexen taktischen Operationen, die sich mit Kohorten durchführen ließen, sorgten dafür, daß der Feldherr sich relativ weit weg vom Kampfgeschehen auf einer Anhöhe aufhielt, um sich die Übersicht über das gesamte Kampfgeschehen zu erhalten und seine taktischen Entscheidungen von dort aus zu treffen. Diese taktische Notwendigkeit blieb nicht folgenlos für die Auswahl von Schlachtfeldern, die von da an nicht mehr nur danach gewählt wurden, ob sie für die Durchführung einer Schlacht, die Aufstellung von Truppen und den Kampf geeignet waren, sondern auch danach, ob sie einen nahegelegenen Feldherrnhügel zu bieten hatten. Nur in ganz wenigen Fällen haben antike Feldherren selbst in die Schlacht eingegriffen, weil sie sich besonderen Ruhm auch als Kämpfer erwerben wollten oder weil sie die wankenden eigenen Reihen durch Anfeuerung oder Vorbild zum Stehen zu bringen versuchten. Die taktischen und organisatorischen Veränderungen und die entsprechende Position des Feldherrn bestimmen auch die Memorialkultur des Schlachtfeldes. Während Heerführer und adlige Einzelkämpfer in Liedern ob ihrer Heldentaten auf dem Schlachtfeld besungen wurden, war der Feldherr für diese Form der Erinnerungsstiftung ungeeignet. Sein strategisches Geschick und seine taktischen Finessen konnten nur in der Historiographie gepriesen werden, die es ermöglichte, einen - wie auch immer fiktiven - Blick hinter die Kulissen des Schlachtfeldes zu werfen. Von dem den Kampf beobachtenden und aus der Entfernung steuernden Feldherrn ließen sich ja keine Heldentaten singen, vielmehr kam es darauf an, seine Voraussicht und seine kühle Beobachtungsgabe zu rühmen.20 Es ist deshalb nur konsequent, daß Rom kein Heldenlied hervorgebracht hat, aber eine Historiographie, die zum großen 19 20
Herfried Münkler: Das Blickfeld des Helden. Zur Darstellung des Römischen Reiches in der germanisch-deutschen Heldendichtung. Göppingen 1983, S. 78f. Zum Problem der Darstellung des Feldherm in der Kriegsgeschichtsschreibung hat Hans Delbrück scharfsinnig bemerkt: „Die bequemste Art dem Publikum das Genie des Feldherrn einleuchtend zu machen, ist immer, ihm zu zeigen, wie er alles vorausgesehen und vorausberechnet hat" (Delbrück [wie Anm. 8], Bd.l, S. 252). Zur Darstellung des Feldherrn vgl. auch John Keegan: Die Maske des Feldherrn. Alexander der Große, Wellington, Grant, Hitler. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Weinheim und Berlin 1997.
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Teil Kriegsgeschichtsschreibung gewesen ist, teilweise, wie bei Caesar, von den Feldherrn selbst verfaßt. Die Sichtbarkeit des Schlachtfeldes wird also nicht zuletzt von militärischen Organisationsformen und der darauf reagierenden Memorialkultur bestimmt. So gerät beispielsweise die Konfrontation zwischen dem römischen Reich und den germanischen Stämmen in ihrer Verarbeitung in römischer Historiographie und germanisch-deutscher Heldendichtung in eine eigenartige Schieflage, weil die Schlachtordnung der Germanen auf den Heerführer, die der Römer hingegen auf den Feldherm ausgerichtet war. Während die römischen Historiker die Germanen und ihre Kampfweise in der Schlacht eingehend beschrieben haben, fehlen vergleichbare Beschreibungen in der germanisch-deutschen Heldendichtung, obwohl die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den germanischen Stämmen und dem römischen Reich dafür hinreichend Stoff geboten hätten. Die römische Kohortentaktik mit ihrem dem Blick entzogenen Feldherrn bot, im Gegensatz zur germanischen, ganz auf dem Gefolgschaftsprinzip beruhenden Kampfordnung des Keils, bei der der Heerführer an der Spitze kämpfte, keinen Anknüpfungspunkt für das „heroic pattern", das auf den charismatischen Heerführer ausgerichtet war. Von daher erklärt sich das Fehlen des römischen Gegners in der germanisch-deutschen Heldendichtung. Das „Blickfeld des Helden" Schloß die gesichtslosen Legionäre ebenso aus wie den ihm entzogenen Feldherrn.21 Die Geschichte des Schlachtfeldes, und das zeigen die Beiträge dieses Bandes an vielen Beispielen, ist also keineswegs identisch mit der Geschichte des Krieges, vielmehr müssen bestimmte Bedingungen einer Memorialkultur, der militärischen Organisation und der entsprechenden technischen Voraussetzungen gegeben sein, um von einem Schlachtfeld sprechen zu können. Erst dann kann das Schlachtfeld sowohl seine konkrete Funktion erfüllen als auch seine imaginative Faszination und seinen Schrecken entfalten. Ist das Schlachtfeld einerseits Ort extremer Gewalt wie seine etymologische Herkunft von .Schlachten', .Abschlachten' bereits belegt, so markiert es zugleich deren Begrenzung auf einen klar definierten Raum sowie auf eine bestimmte Zeit, weil es den Mythos der Entscheidung birgt, der darauf beruht, daß mit Schlachten Kriege entschieden und damit zugleich beendet werden können oder daß sie doch zumindest eine entscheidende Etappe auf dem Weg dorthin bilden. Schlachtfelder sind damit aber nicht nur konkrete Orte, sondern auch imaginierte Räume, Räume der Veranschaulichung und der Ästhetisierung des Krieges, sie sind Schlachtfelder „als Raum im Kopf' (BERND HÜPPAUF). Als imaginärer Raum nimmt das Schlachtfeld auch einen bestimmten Platz innerhalb der rechtlichen Betrachtung des Krieges ein, wenngleich ihm historisch nur selten und unter bestimmten Bedingungen der Status eines Ortes zugestanden wurde, der Sieg und Niederlage unter dem Aspekt des Rechts verteilt (WOLFGANG SCHILD).
Als sehr viel zentraler erweist sich das Schlachtfeld für die Memorialkultur von Kriegen, weil es die Erinnerung in einer Weise strukturiert, die den Krieg erzählbar macht. Die zugleich entgrenzende wie begrenzende Gewaltcodierung etabliert spezifische Schlachtfelder als Chronotopoi, die dem Krieg seinen Raum und seine Zeit geben und ihn somit als Ereignis greifbar machen. Schlachtfelder können auf diese Weise zum Symbol eines ganzen Kriegs werden, wie etwa Sedan für den deutsch-französischen Krieg oder Verdun für den
21 Vgl. Münkler [wie Anm. 17],
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Ersten Weltkrieg. Diese konzeptionelle Begrenzung des Krieges macht Schlachtfelder zu einem bevorzugten Ort der Kriegsrepräsentation, und zwar in unterschiedlichen Medien von der Schlachtenmusik bis zur Schlachtbeschreibung in Historiographie und Literatur, vom Schlachtengemälde bis zur Kriegsfotografie und dem Kriegsfilm. Nicht nur wegen der erwähnten topographischen Bedingungen, sondern auch aus repräsentationspolitischen Gründen wurden Schlachten häufig an Orten geschlagen, die durch frühere Schlachten positiv oder negativ besetzt waren, weil an ihnen entweder mythisch an frühere Siege erinnert oder die Schmach vergangener Niederlagen getilgt werden sollte. Schlachtfelder übernehmen damit zugleich eine identitätsstiftende Funktion (wie etwa im Falle des Amselfeldes). Vergangene Schlachtfelder können ebenso als Memorialorte für Siege wie für Niederlagen fungieren, als Gedenkorte nicht nur für vergangene, sondern auch für künftige Kriege. Als Erinnerungsort ist das Schlachtfeld auch Orientierungspunkt und Rettung vor der Namen- und Gesichtslosigkeit des Todes im Krieg. Das Schlachtfeld verortet den Tod des Soldaten, macht diesen für die Hinterbliebenen im wörtlichen Sinne anschaulich: Es gibt dem Toten zumindest den Namen des Ortes, an dem er „gefallen" ist und verleiht seinem Sterben zugleich einen Sinn, wenn der Tod innerhalb des unübersichtlichen Kriegsgeschehens mit einer Schlacht und deren Funktion verbunden werden kann. Das Schlachtfeld überträgt in dieser Konstruktion dem Gefallenen gewissermaßen seine historische Energie. So berichtet Thukydides davon, daß die in der Schlacht von Marathon gefallenen Krieger nicht - wie nach anderen Schlachten üblich - zu Hause beigesetzt, sondern um der besonderen Ehre willen an Ort und Stelle bestattet worden seien.22 Einen entscheidenden Beitrag zur Memorialkultur leistet das Schlachtendenkmal. Solche Denkmale folgten traditionell bestimmten Regeln. Zu diesen gehörte, daß der Sieg auch dort, wo die große Zahl der Verluste im Kampf keineswegs verschwiegen, sondern vielmehr als heroisches Opfer in die Darstellung aufgenommen wurden, als nachhaltig erscheinen und der Sieger im Gestus des Triumphes erkennbar sein mußte. Wie nachhaltig dieses Muster auch im 19. Jahrhundert noch fortwirkte, zeigt das Beispiel des gescheiterten Versuchs des italienischen Bildhauers Antonio Canova, der Stadt Verona eine bereits gefertigte Skulptur zur Erinnerung an die Schlacht von Magnano zu verkaufen, die zwar einen Kampf, aber keinen Sieger repräsentierte (MARTIN DöNIKE). Grundsätzlich gehören auch die Namen von Schlachtfeldern zu deren Codierung, denn sie ermöglichen Lokalisierbarkeit und gewährleisten Anschlußfähigkeit für die Stiftung einer Memorialkultur der Schlacht, und zwar durchaus im Sinne willkürlicher Sinngebung. So nannten die Engländer die letzte große Schlacht gegen Napoleon die Schlacht von Waterloo (eine Bezeichnung, die sich letztlich durchsetzte), während die Preußen dieselbe Schlacht als die Schlacht von Belle Alliance bezeichneten. Tatsächlich markiert der klingende Name Belle Alliance (der natürlich auch die europäische Vereinigung gegen den französischen Okkupator symbolisierte) den Ort der Schlacht genauer, während Waterloo jener Ort war, an dem der englische General Wellington sein Lager aufgeschlagen hatte und von wo aus er seine Truppen befehligte.
22
Thukydides, Peleponnesischer Krieg, II, 34. Die Grabstätte ist heute noch zu sehen. In der Ebene von Marathon erhebt sich ein künstlicher Hügel von 12 Metern Höhe, der »Soros«, das Grabmal der in der Schlacht gefallenen Athener.
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Das Imaginationspotential der Schlachtfelder als Chronotopoi macht den , Kriegsschauplatz' zu einem bevorzugten Ort der Kriegsrepräsentation. Die unterschiedlichen Medien korrelieren dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihren Verfahren und Techniken der Geschichte des Schlachtfeldes. So bestand die Kriegsbeschreibung bis ins 19. Jahrhundert weitgehend aus der Beschreibung von Schlachtfeldern, die von einem imaginären Feldherrnhügel aus, der den Blick über das ganze Schlachtfeld ermöglichte, die Entscheidung von Kriegen auf eng umgrenzten Raum suggerierten. Wie weit dieses Paradigma im 19. Jahrhundert einerseits bereits an seine Grenzen gestoßen war und warum es Carl von Clausewitz ausnahmsweise noch einmal gelingen konnte, eine Schlacht aus einer solchen Perspektive zu schildern, zeigt sich in der Analyse von Clausewitz' Beschreibung der Schlacht von Borodino (HERFRIED MÜNKLER). Andere Auflösungserscheinungen verarbeitet der .Krieg als Capricho bei Francisco de Goya', weil Goya in einer Art historischer Parallelaktion die Entregelung des Kriegs durch das von akademischen Konventionen befreite Inventionsmodell seiner „capriccesken Ästhetik" begleitet und auf diese Weise die Auflösung des Schlachtfelds im spanischen Partisanenkampf in der Dekomposition der Ordnung des traditionellen Schlachtbilds genau nachvollziehen kann bis hin zur Verwandlung der Druckplatte selbst in ein Schlachtfeld (GODEHARD JANZING). Auflösungserscheinungen zeigen sich auch in der musikalischen Schlachtenrepräsentation, indem einerseits die Gattung der Battaglien schon in der frühen Neuzeit Geräuschwelten, die erst im 20. Jahrhundert als .musikalisch' akzeptiert werden, integrieren und indem andererseits um 1800 die repräsentative Funktion der ,Semiotik musikalischer Battaglien' in der amimetischen Welt des autonomen Kunstwerks aufgeht (HERMANN DANUSER). Die Erfahrung des Krieges und insbesondere der Verheerungen eines räumlich und zeitlich nicht mehr klar umgrenzbaren Schlachtfeldes, das nur noch durch die Linien zwischen Front, Etappe und Heimat gekennzeichnet ist, kann sich allerdings auch dort mitteilen, wo es gerade nicht um seine Repräsentation geht, wie im Fall der unsichtbaren und doch greifbaren Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs im Film der Weimarer Republik (ANTON KAES). Die Repräsentation von Schlachtfeldern betraf indes nicht lediglich ihre Darstellung post festum als Orte vergangener Schlachten, sondern auch ihre Planung. In die , Räume taktischer Kriegsspiele' versuchte so der preußische Kriegsrat Leopold von Reiswitz die auf dem Schlachtfeld herrschenden Friktionen in eine Spielanleitung aufzunehmen. Die Differenz zwischen der Spielsituation und dem Ernst der Schlacht sollte verkleinert und das Spiel dadurch zu einer ernsthaften Schule des Krieges werden (PHILIPP VON HILGERS). Das Schlachtfeld selbst inspiriert und produziert also nicht nur den technisch-medialen Apparat einer Kultur, es ist selbst als raumzeitliches Gebilde ein Effekt von Medien (z. B. des Telegraphen), von Notationssystemen (z. B. der Kartographie) und von waffentechnischen Entwicklungen. Seit den napoleonischen Kriegen perforiert die Auslagerung von Befehls· und Kontrollstrukturen zunehmend die Rahmung des Kriegs, so daß die Ränder des Schlachtfeldes die Ereignisse auf dem Schlachtfeld bestimmen oder sich als Gewaltgrenze auflösen. Der Krieg wird im zeitgenössischen Szenario von information warfare ortlos. Bereits das Modell der .totalen Mobilmachung' reagiert dabei auf die Okkupation ziviler Belange durch militärische Interessen im Ersten Weltkrieg, wobei sich zwei für das 20. Jahrhundert strukturbildende Muster etablieren: Während nämlich auf deutscher Seite die
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Allianz von Verwaltung und Technik den „bürokratischen und technokratischen Mythos" vom „absoluten Plan" hervorbringt, entwickeln französische und englische Strategen das „Prinzip absoluter Bewegung" über Panzerschlachten und Verkehrsregelungsverfahren beides erlaubt nicht mehr, sich ein entfaltetes „Bild" vom Schlachtfeld zu machen (PETER BERZ).
Zu den zentralen Verfahren der kriegerischen Gewalthegung gehören die Unterscheidung zwischen Freund und Feind sowie zwischen Kombattanten und Non-Kombattanten. Kulturelle Muster steuern auch diese zentralen binären Codierungen, denn die jeweiligen Grenzen werden nicht nur durch die Entortung des Krieges vor allem während des 20. Jahrhunderts problematisch, sie waren es bereits vor der Verregelung des Krieges durch uniformierte Soldaten, die erst im 17. Jahrhundert eine eindeutige Unterscheidung zwischen Kombattanten und Non-Kombattanten zuließ. Auch auf spätmittelalterlichen Schlachtfeldern war die Differenzierung zwischen Freund und Feind ein schwieriger Fall der Semiose, da die Vielzahl von Uniformen, Fahnen und Wappen eine klare Zeichenverteilung nicht erlaubte oder weil klare Unterscheidungen durch Täuschungsmanöver gezielt unterlaufen wurden. Dabei kreuzt sich die Entschiedenheit der militärischen Bezeichnungen mit der sozialen bzw. ökonomischen Ordnung, weil Identifizierbarkeit, Lösegeldtauglichkeit und Überlebensfähigkeit einander bedingten (VALENTIN GROEBNER). Die Ordnung des Schlachtfelds wird nicht nur durch die zentralen binären Codierungen von Freund und Feind sowie von Kombattant und Non-Kombattant bestimmt, sondern auch durch andere, teils quer dazu laufende Unterscheidungen, etwa im Rahmen einer stratifikatorischen Semantik von der Differenzierung zwischen .gleich' und ,ungleich' und den sich daran anschließenden Asymmetrien der Ehre und des Rechts, kurzum: der .Ritterlichkeit'. Kampfordnungen sind auch Sozial- und Moralordnungen, die fein austarierten Vorgaben folgen. So wird Gewalteskalation in der mittelalterlichen Konflikkontrolle gegenüber religiös abweichenden (also nicht-christlichen) oder gesellschaftlich ungleichen (also nichtadligen) Gruppen wahrscheinlicher als im Rahmen einer christlich-adligen Kriegergesellschaft - hier ging es darum, den komplizierten Schlichtungsregeln zu folgen, um nach Möglichkeit Gewalt zu minimieren und das Schlachtfeld zu einem Feld gütlicher Einigung zu m a c h e n (GERD ALTHOFF).
Gewalthegung und Gewalteskalation auf dem Schlachtfeld hängen neben den binären Codierungen von Freund und Feind, von Kombattanten und Non-Kombattanten oder von .gleich' und .ungleich' daher auch von der Differenzierung zwischen .eigen' und .fremd' ab, die auf die identitätsstiftende Funktion von Gewalt hinweist. Das gilt zumal für das koloniale Schlachtfeld, einen vielfach besetzbaren Erinnerungsort. So verwandelt die Deutungsgeschichte den Sieg der französischen Armee über eine aufständische Kolonie in Matouba im Jahr 1802, bei der sich deren Anführer, Louis Delgrès, unter ungeklärten Umständen mit seinen Männern in die Luft sprengt, zum heldenhaften Selbstmord einer karibischen Widerstandsbewegung, indem sich historiographische .Fakten' und romaneske .Fiktionen' zu einer Imagination eigener Provenienz verdichten und damit ein mythisches Schlachtfeld erschaffen, das seinerseits zum Gegenstand einer erneuten Reinterpretation werden kann, nun als Exempel der Deutungsmacht sowohl das kolonialen wie des antikolonialen Diskurses (GERNOT KAMECKE).
Schlachtfelder. Zur Codierung militärischer Gewalt im medialen Wandel
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Die Codierung des Schlachtfeldes bestimmt die Konstruktion des Kämpfers nach Maßgabe der jeweiligen diskursiven und technischen Ordnungen. Für diese Konstruktion war seit dem 17. Jahrhundert in erster Linie das System der Disziplinierung durch Drill kennzeichnend, das aus dem Soldaten ein perfekt funktionierendes Teil innerhalb einer Maschinerie des Krieges machen und die Friktionen in der Schlacht aufgrund von unbeherrschtem Verhalten des einzelnen weitgehend ausschließen sollte. Es ging um die Fähigkeit, auch unter höchstem Druck und in Todesangst Befehle befolgen und ausführen zu können. Wieweit solche Annahmen jedoch überhaupt funktionierten und welche Voraussetzungen unter Kampfbedingungen tatsächlich dazu beitrugen, daß Soldaten die Situation des Schlachtfeldes auszuhalten vermochten, untersuchten im Auftrag der Armee erstmals amerikanische Soziologen während des Zweiten Weltkriegs (ULRICH BRÖCKLING). Die Vorbereitung auf den Kampf und die Zurichtung des Kriegers im Erlernen seines .Handwerks' fuhren zu bestimmten Körperkonstruktionen vor dem Hintergrund ihrer Destruktion, wie sie beispielsweise die groteske Literatur oder die Weltkriegsfotografie festhält. Diese Formierung und Deformierung erzählt dabei nicht nur Körpergeschichten über die Zeichen der Verwundung von der Verstümmelung bis zur Narbe, sondern deutet auch auf seelische .Wunden' und Traumata hin, teils individueller, teils kollektiver Art. Die Unversehrtheit des soldatischen Körpers wird zumal in Zeiten der massenmedialen Präsenz des Kriegs für die politische Tragfähigkeit von militärischer Gewalt bedeutend. Freilich wird mit der Entgrenzung des Schlachtfelds auch die Funktion des Kämpfers unsicher, und die Planungen zum information warfare gehen vom weitgehenden Verzicht auf Streitkräfte aus. Dennoch soll auf die künftigen Schlachtfelder eine traditionelle Figur zurückkehren: der Infanterist. Seine neue Formierung zielt darauf, die Verbindungslosigkeit zwischen Soldat und Führung sowie die Diskrepanz zwischen Waffentechnik und menschlicher Handlungsmöglichkeit, die den modernen Krieg charakterisiert, zu überwinden, indem der Kämpfer elektronisch angeschlossen, das Gefechtsfeld digitalisiert und die Militärorganisation netzwerkartig ausgebaut wird (STEFAN KAUFMANN). Traditionell formieren sich die Körper der Krieger als ,männliche Körper'. Über weite historische Strecken fällt die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Non-Kombattanten mit der Unterscheidung von Männern und Frauen zusammen, so daß Virilitätskonzepte fur das Konzept vom Soldaten zentral sind. Auch diese Trennlinie ist allerdings brüchig, denkt man etwa an die Funktion von Frauen an den Rändern des Schlachtfelds (etwa im Kriegstroß), an die Imaginationen weiblicher Kämpferschaft (von den Amazonen über Jeanne d'Arc bis zu Gustav Adolfs Page) oder an die Beteiligung von Frauen im Partisanenkampf. In der Regel gelten bis heute Frauen aber quer durch die Kulturen weitgehend als diejenigen, die beschützt und daher von Kampfhandlungen fern gehalten werden müssen. Gerade dieser Status macht Frauen jedoch zu einem spezifischen Angriffsziel, weil sie solcherart das eigene, zu verteidigende Territorium symbolisieren, dessen Verletzung besonders demütigt. Zugespitzt formuliert wird der weibliche Körper damit selbst zu einem Schlachtfeld ( R U T H SEIFERT). Schlachtfelder haben ihren je spezifischen historischen Ort; sie sind eingesponnen in ein feines Netz kultureller Beziehungen, das die Codierung von Gewalt bestimmt. Die Aufsätze dieses Bandes verfolgen im Spannungsfeld der derzeitigen Diskussion in den Geistes- und
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Kulturwissenschaften einige dieser Fäden. Sie versuchen damit einen Beitrag zur interdisziplinären Verständigung zu leisten und eine spezifische Kulturleistung, auf die wir sicher alle gern verzichten würden, als Gegenstand zu konturieren. Ohne vielfache Unterstützung wäre das nicht möglich gewesen: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat das Diskussionsforum des Graduiertenkollegs Codierung von Gewalt im medialen Wandel und der Schlacht/eWer-Tagung in weitem internationalen und interdisziplinären Rahmen gestiftet und das Erscheinen dieses Bandes durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß unterstützt - ihr gilt vor allem unser Dank. In besonderer Weise sind wir Elisabeth Wagner verpflichtet. Ihr Organisationsgenie hat maßgeblich zum Gelingen der Tagung beigetragen. Danken möchten wir weiterhin den Sektionsleitern sowie den Respondenten, deren Beiträge aus Platzgründen leider nicht aufgenommen werden konnten: Matthias Bohlender, Werner Busch, Albrecht Dümling, Knut Ebeling, Susanne von Falkenhausen, Heiko Fiedler, Eric Hörl, Manuel Koppen, Wolfgang Mühl-Benninghaus, Uwe Peschka, Gerhard Scharbert, Klaus R. Scherpe, Flora Veit-Wild, Thomas Weitin, Burckhardt Wolf.
I.
Schlachtenrepräsentation
VALENTÍN GROEBNER
Menschenfett und falsche Zeichen. Identifikation und Schrecken auf den Schlachtfeldern des späten Mittelalters und der Renaissance1
Das Schlachtfeld ist Ort von Identifikation im wörtlichen Sinn. Ist doch jeder Bericht vom Schlachtfeld eingerahmt von der Verortung des Erzählers - Wo bin ich eigentlich? - und der Einteilung der Protagonisten: Hier und Dort, Freund und Feind. Gleichzeitig unterlaufen Schlachtberichte sehr rasch diesen selbstgesetzten Rahmen, wenn sie das Geschehen in der Schlacht als blutiges Getümmel, also als rasche Bewegung von Ununterscheidbarem wiedergeben. Die Schlacht, die in der Aufstellung ihre Teilnehmer nach Zeichen sortiert und positioniert hat, setzt diese Signa im Geschehen selbst wieder außer Kraft und bringt am Ende im Wortsinn entstellte (also nicht mehr verortbare) und von physischer Gewalt homogenisierte Körper hervor. Die Wirkung von Schlachtberichten basiert auf Narrativen vom Schrecken als der Aufhebung von visueller Unterscheidbarkeit. Diese Art von Gewalt hat nicht nur kein Gesicht, sondern bringt auch Gesichter zum Verschwinden: Diese Homogenisierung heißt Horror. Das Folgende handelt von Berichten von Schrecken und „unmenschlicher" Gewalt auf Schlachtfeldern des 15. und 16. Jahrhunderts in der Schweiz und in Oberitalien. Jede Menge Gewalt also: Aber aus der Nähe besehen erweisen sich gerade die vermeintlich ungeregelten und exzessiven Formen physischer Gewalt in den Schlachtberichten als Teil eines Codes blutiger Markierung und Visualisierung sozialer Ordnung und Unordnung. In den Berichten von Greueltaten des Gegners werden in den italienischen Kriegen zwischen der Eidgenossenschaft, Frankreich und dem Reich am Beginn des 16. Jahrhunderts verschiedene Narrative vom Preis des Körpers, von kannibalistischer Transgression und außerchristlicher „Unmenschlichkeit" verdichtet, in denen teuflische Täuschungsstrategien des Gegners und
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Das Folgende ist Teil eines umfangreicheren Forschungsprojekts beim Schweizerischen Nationalfonds zu Personenbeschreibungen und Identifizierungspraktiken im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Ihre Ergebnisse werden als eigenständige Monographie publiziert. Zu Identifikation und Gewalt ausfuhrlicher bei Valentin Groebner: Ungestalt. Die visuelle Kultur der Gewalt am Ende des Mittelalters. München 2003 (i. Dr.). Die Form des Vortrage auf dem Berliner Kolloquium wurde für diese Fassung so weit wie möglich beibehalten. Für Kritik, Hilfen und Hinweise danken möchte ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Berliner Treffens sowie Claudius Sieber-Lehmann, Doris Klee und Wolfram SchneiderLastin.
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zeichenhafte Gewalt in besonderer Weise miteinander verknüpft werden. Praktiken der Identifikation - Woran erkennt man wen? - spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie traditionelle Topoi des Barbarischen und ihre Adaption in politischer und konfessioneller Polemik.
I. Am 27. April 1487 kommt es bei Domodossola nordöstlich von Mailand, auf der italienischen Seite des Simplón, zur Schlacht zwischen einem eidgenössischen Heer und Truppen des Herzogs von Mailand, die den Schweizern eine vernichtende Niederlage zufügen. In den Wochen darauf läßt der Rat von Luzera offiziell Berichte von Zeugen dieser Schlacht sammeln: „kuntschafften von des Walsser kriegs wegen", wie das erhaltene Dokument überschrieben ist. Es ist keine sehr angenehme Lektüre. Ein gewißer Mangold Schoch sagt neben anderem aus, „do der stritt zugangen, do haben die walchen [die Italiener, V. G.] den Tütschen die vinger abgehowen", sich an die Hüte gesteckt und seien so in der Stadt herumgegangen. Ihm sei weiter von Mailändern erzählt worden, „daz sy den tütschen daz schmer [den Bauchspeck, V. G.] usgehowen und daz gan Meilland getragen und daz da in die appenteg [Apotheken, V. G.] verkouft." Einzelnen Schweizern sei deshalb sogar bei lebendigem Leib der Bauch aufgeschnitten worden; andere seien umgebracht worden, nachdem sie sich ergeben hätten. Manchen hätte man die Gurgel, anderen, „die hüpsch har hetten", wie ein Zeuge präzisiert, die Köpfe abgeschnitten, auf Spieße gesteckt und in der Stadt umhergetragen. Eine Reihe weiterer Zeugen bestätigen die Vorfälle. Über den Schweizer Bauchspeck weiß zum Beispiel ein gewisser Hans Rietmann, er habe gehört, daß ein Italiener 20 Dukaten beim Verkauf solches Menschenfetts verdient habe. Bei den ebenfalls vernommenen Schweizern Hans am Achers und Hans Röisch steigt die Summe sogar auf 25 Dukaten. Röisch, den die Quelle als „der rosstäuscherknecht", also als Pferdehändler, vorstellt, gibt zu Protokoll, er habe selber gesehen, „daz die walchen die schmer veil getragen" und um diesen Preis angeboten hätten. Wieviel sie aber wirklich dafür bekommen hätten, fügt er hinzu (hier spricht ein Mann der ökonomischen Praxis), das wisse er allerdings nicht.2 Das Grauen steckt hier im Detail: in der Beschreibung der „schönen Haare" einzelner Opfer, in der Auflistung der abgeschnittenen Körperteile und in den angeblich präzisen Preisangaben. Aber wie lassen sich die Funktionen solcher Berichte beschreiben? Auf welche Kategorie von Unsagbarem, aber offenbar umso Wirksamerem beziehen sich die hier verwendeten Motive von Zerstückelung und Verkauf menschlicher Körper? Der Rat von Luzern fertigt aus den oben zitierten Aussagen eine Klageschrift gegen Mailand, die an verbündete Eidgenossen und an den Mailänder Regenten Lodovico il Moro geschickt wird. Im Luzerner Archiv hat sich auch die deutsche Übersetzung von Lodovicos offizieller Antwort erhalten, die im Luzerner Rat verlesen wurde. Sie klingt bemerkenswert distanziert. „Item die finger abgehüwen und in die baretten gesteckt", heißt es darin zu diesem Vorwurf, „mog sin", das möge schon sein, aber das sei „von unnützen lütten, an denen nit vil geleggen", ge2
Ernst Gagliardi (Hg.): Dokumente zur Geschichte des Bürgermeisters Hans Waldmann. Bd. 1. Basel 1911, S. 372, 375, 377.
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tan worden; er, der Herzog, habe eben fromme und weniger fromme Untertanen. Es sei durchaus möglich, daß gegnerischen Soldaten die Finger abgeschnitten worden seien; aber das „sig in eim scherz beschechen und by inen also gewonlich." Die beschriebenen Vorfälle seien nicht das Werk regulärer Mailänder Soldaten, sondern von Personen, „die gern guot gewünnen und aliso die dotten, nackend und uszogen, ungestalt, als wund lüt werden, die sinen und die unsern under einander gelegen." Es sei deshalb möglich, daß „unnütz lütt beden teilen daz schmer usgeschnitten und darab gelt gelöst; dann by inen alsso die usantz und der bruch."3 Der Herzog beschreibt in dieser Replik das Zerstückeln der Toten und die groteske Zurschaustellung ihrer Körperteile ungerührt einerseits als Scherz, andererseits als lokalen Brauch „unnützer" Personen, für deren Handlungen er nicht verantwortlich zu machen sei. Blutige und spektakuläre Demütigungen des Gegners und seine möglichst theatralische Erniedrigung in effigie und in corpore sind allerdings vielfach überlieferter Bestandteil kriegerischer Auseinandersetzungen im Italien des 15. Jahrhunderts.4 Eine Formulierung des Schreibens soll uns hier beschäftigen: „ungestalt, als wund lütt werden" - die Verwundeten und Toten am Boden des Schlachtfeldes werden in diesem Text ununterscheidbar, weil sie nackt ausgezogen werden. Das Folgende ist ein Versuch über diesen Begriff „ungestalt" und darüber, was er mit Grauen und mit den Zeichensystemen auf den Schlachtfeldern in den hundert Jahren zwischen 1440 und 1540 zu tun hat. Von den Zeichen reden, heißt immer von der Ordnung reden. Aber dieses Reden ist immer ein klein wenig hilflos - die Schlacht ist das Außerkraftsetzen verbindlicher Zeichen - , oder es geschieht nachträglich. Woran erkennen Teilnehmer in der Schlacht sich gegenseitig? Wie funktioniert das „who is who" auf dem Schlachtfeld und hinterher?
II. Spätmittelalterliche Schlachtberichte und ihre modernen Fortsetzer heben aus dem blutigen Chaos des Zusammenpralls zwei privilegierte Narrative hervor; sie sind allerdings beide auf der Beletage der Schlacht, im ersten Stock sozusagen, angesiedelt. Das erste ist die Identifizierung einzelner Teilnehmer durch ihre Schilde oder Wappen; die literarischen Bearbeitungen dieses Motivs sind außerordentlich zahlreich. In der ausgeprägten Lösegeldökonomie spätmittelalterlicher Kriegsführung ist dieses rechtzeitige Erkennen auch außerhalb literarischer Topoi ein außerordentlich wichtiger Aspekt. Das Erkanntwerden ebenfalls, weil es ei-
3 Gagliardi [wie Anm. 2], S. 372; StA Luzern, U 245/3870, 5; ebenfalls zitiert in Walter Schaufelberger: Der Alte Schweizer und sein Krieg. Zürich 1952, S. 243. Siehe dazu auch: Amtliche Sammlung der älteren eidgenössischen Abscheide III/l, S. 270, Nr. 300, i: Während das Schreiben des Herzogs die Ereignisse teilweise zugibt, bestreitet der mailändische Vogt in Como die Anklagen. 4 Siehe etwa die Beispiele in Richard Trexler: Correre la Terra. Collective Insults in the late Middle Ages. In: Mélanges de l'École française de Rome (Moyen Age / Temps Modernes) 96 (1984), S. 845-901, und die dort angegebene Literatur.
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nem das Schicksal Rangniedrigerer erspart, die kein Lösegeld bringen und deshalb nicht gefangengenommen, sondern schlicht umgebracht werden. 5 Soweit die Erzählung vom individuellen Erkennen. Geht es dagegen um die kämpfenden Kollektive, steigt die Erzählung noch ein wenig höher, zu den Fahnen bzw. Bannerträgern, die die Fahne mit ihrem Leben verteidigen und in der literarischen Darstellung von Schlachten eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist die Einzahl - eine Fahne für ein Kollektiv - bis zu einem bestimmten Grad (moderne) Fiktion. Es gibt sehr viele unterschiedliche Fahnen auf vormodernen Schlachtfeldern, und zwar neben dem oder den „houbtbannem": Die Schweizer erbeuten z. B. 1477 bei ihrem Sieg über Karl den Kühnen in Grandson zusammen mit der berühmten Burgunderbeute auch „gar vil köstlicher panem und venli [...] me dann sechshundert" 6 , die durchaus nicht alle einheitliche burgundische Zeichen oder Farben gezeigt haben, sondern diejenigen flämischer Städte, hennegauischer Adeliger, italienischer Kontingente und so fort, eine vielfältige Zeichenlandschaft, der eine ebenso heterogene Mischung aus eidgenössischen Feldzeichen verschiedener Städte, Orte und Korporationen gegenübergestanden hat. Die Teilnehmer in Schlachten des 15. und 16. Jahrhunderts tragen keine Uniformen. Einheitlich gekleidete Livrierte spielen zwar in städtischen Auseinandersetzungen eine prominente Rolle, aber in den Renaissancearmeen nur als kleine, besonders herausgehobene Elite-Kontingente; die Teilnehmer der Schlacht bewegen sich unter einer Menge unterschiedlicher und kaum überblickbarer Feldzeichen, einem heraldischen Overkill, ist man versucht zu sagen. Hier kann es deswegen nicht um hochfliegende Fahnen und Wappen im ersten Stock der Schlacht gehen, sondern um die Narrative im Erdgeschoß. Woran erkennt man eigentlich, wer wer ist? In Leon Battista Albertis Traktat über die Malerei von 1435 gibt es eine schöne Definition von „signum". „Ich nenne alles das ein Zeichen", schreibt er, „was sich auf einer Oberfläche befindet und mit dem Auge wahrgenommen werden kann." 7 Solche auf der Kleidung oder auf dem Hut getragene zaichen aus verschiedenen Materialien - farbigem Stoff, Leder, Pergament, Papier, Metall - sind spätmittelalterlichen Zeitgenossen etwas sehr Vertrautes: als Pilgerzeichen, die Wallfahrer an ihrer Kleidung oder am Hut tragen und nach ihrer Rückkehr, wenn es noblere Pilger sind, in ihre Gebet- oder Familienbücher einkleben; als Ausweise für Bettler, denen für eine begrenzte Zeit der Aufenthalt und das Betteln in der Stadt erlaubt wird, ebenso wie als Abzeichen städtischer Amtsleute, etwa Stadtknechte oder Boten, die sie auf oder an ihren Kleidern tragen, unter anderem als direkte Vorläufer der heutigen Dienstmarke. 8 Alle diese Zeichen stecken demonstrativ außen, am Hut, an der
5 Jan-Dirk Müller: Woran erkennt man einander im Heldenepos? In: Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag. Hg. von Gertrud Blaschitz u. a. Graz 1992, S. 87-111. Vgl. Maurice Keen: The Laws of War in the Later Middle Ages. Oxford 1965, und die Bemerkungen bei Maurice Keen: Das Rittertum. Reinbek 1991, S. 338f. 6 Zitiert nach Werner Meyer: „Der stier von Ure treib ein grob gesang". Fahnen und andere Feldzeichen in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft. In: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden. Hg. von Alfred Haverkamp. München 1998, S. 201-235, S. 211. 7 „Signum hoc loco appello quicquid in superficie ita insit ut possit ocula conspici" (Leon Battista Alberti: On painting and On sculpture. Hg. und übers, von Cecil Grayson. London 1972, S. 37). 8 Zu einem Überblick über diese Zeichenkultur und ihre Veränderung um 1500 siehe meine Skizze: Trügerische Zeichen. Practick und das politische Unsichtbare am Beginn der Neuzeit". In: Geschichtszeichen. Hg. von Heinz-Dieter Kittsteiner. Köln / Wien / Weimar 1998, S. 49-66.
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Kleidung, „in superficie", wie Alberti schreibt. So werden sie auch in den Bildern von Schlachtfeldern in den aufwendig hergestellten Schweizer Bilderchroniken des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts dargestellt. Sie erscheinen als einheitliche weiße Kreuze auf den bunten und heterogenen Kleidern der Soldaten, mit denen für die Betrachter der Bilderchroniken die einen als Eidgenossen (unter einer Masse sehr unterschiedlicher Fahnen und Feldzeichen), die anderen als mit roten Kreuzen gekennzeichnete Gegner kenntlich gemacht werden. Die weißen Kreuze wandern dabei nicht unbedingt von den Fahnen auf die Ärmel hinunter, sondern nehmen eher den umgekehrten Weg. Die „uniformen" weißen Kreuze erscheinen zuerst auf den Kleidern und dann (als Zusatz) auf den verschiedenen Kriegsfahnen der eidgenössischen Orte; und erst im 16. Jahrhundert werden sie von einem ursprünglich dem Römischen Reich zugeordneten zu einem festen eidgenössischen Zeichen.9 Dabei stehen in den Bilderchroniken die weißen Kreuze der Schweizer immer den roten ihrer Gegner gegenüber, und zwar gleichgültig, ob die Gegner Burgunder oder Österreicher sind und welche heraldischen Zeichen sie führen. Als sich die Stadt Zürich in den 1440er Jahren mit den Österreichern gegen die Eidgenossen verbündet, tragen ihre Soldaten dementsprechend rote Kreuze - „mit dem zeichen, damit sich die herschaft von Österrich all ir tage, so sy mit der eidgnoschaft krieg hat, bezeichnet", weiß ein Schweizer Chronist.10 Diese narrative Gegenüberstellung von weißen versus roten Kreuzen ist keine oberdeutsche Spezialität. Sie läßt sich in den französischen Bürgerkriegen des frühen 15. Jahrhunderts - Orleans gegen Burgund, in blutigen Details beschrieben im Tagebuch des Bürgers von Paris - ebenso wiederfinden wie in den Kämpfen der rot gekennzeichneten Ghibellinen gegen die weißbekreuzten Guelfen im hochmittelalterlichen Italien bis hin zur Belagerung der Republik Florenz durch kaiserliche Truppen 1530, in denen die republikanischen Milizen ein weißes Kreuz auf ihren Kleidern tragen. Weiß und rot sind, so scheint es, ziemlich alte politische Komplementärfarben, wenn es darum geht, den Freund/Feind-Gegensatz zu visualisieren. Oder eben anzudeuten: Pontormos im Jahr der Belagerung von Florenz gemalter Hellebardier trägt, ambivalentes politisches Porträt, rote und weiße Kleider, aber eben keine Kreuze in einer der beiden Farben, die eine eindeutige Zuordnung zu Angreifern oder Verteidigern der Republik erlauben würde." Die Chroniken des 16. Jahrhunderts berichten dementsprechend über die Koalition zwischen Eidgenossen und dem Haus Österreich in den Kriegen gegen Burgund in den 1470er Jahren, der österreichische Herzog hätte den Schweizern „rotte crütz angemacht han" wollen; die Eidgenossen hätten sich dagegen mit Hinweis auf ihre althergebrachten weißen 9
Das weiße Kreuz auf eidgenössischen Feldzeichen erscheint im 14. Jahrhundert auf Fahnen nur in Verbindung mit religiösen Symbolen, dem Kruzifix oder den Arma Christi: In Chroniken des 15. Jahrhunderts wird es als vom Kaiser verliehenes Fahnenprivileg hervorgehoben. Im eigentlichen Sinn eidgenössisch wird es erst im 16. Jahrhundert und wird nachträglich auf älteren Feldzeichen und Bannern aufgebracht (Meyer [wie Anm. 6], S. 224f. 10 Leo Zehnder: Volkskundliches aus der älteren Schweizer Chronistik. Basel 1978, S. 140f. 11 G. Bascape / M. del Piazzo: Insegne e simboli: Araldica pubblica e privata medievale e moderna. Roma 1983, S. 242, 247, 257; C. C. Bayley: War and Society in Renaissance Florence. Toronto 1961; John Hale: Artists and Warfare in the Renaissance. London / New Haven 1990; zu Kreuzen als Abzeichen der Florentiner Miliz und zur politischen Zuordnung der Farben 1529/30 siehe Elizabeth Cropper: Pontormo: Portrait of a Hellebardier. Los Angeles 1997, S. 42 und 67.
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Kreuze geweigert: als Kompromiß „machte man jnnen wiss und rot strich vmm die ermel zu einem zeichen."12 Die Anekdote dient deutlich vor allem dazu, das Schweizerische am weißen Schweizerkreuz hervorzuheben, für das es im 15. Jahrhundert schließlich eine ganze Reihe weiterer konkurrierender heraldischer Zuordnungen gibt: Es ist ja ebenso Bestandteil des Wappens der benachbarten Herzöge von Savoyen.13 Von den angeblichen kombinierten Kompromisszeichen an der Kleidung gibt es bezeichnenderweise keine offiziellen Bilddokumente, während die aufwendigen, am Ende des 15. und am Beginn des 16. Jahrhunderts hergestellten Schweizer Bilderchroniken jeweils sorgfältig das weiße Schweizerkreuz in Kontrast zu seinen roten Gegenstücken präsentieren.
III. Die Ordnung, die in diese Zeichenwelt hier gebracht wird, ist freilich nachträglich hergestellt: Was die Illustrationen der Bilderchroniken nicht zeigen, sind ebenfalls belegte, aber weit weniger strikt geregelte - oder regelbare - improvisierte Erkennungszeichen unterhalb der offiziellen heraldischen Ebene. Die eidgenössische Soldaten, die in der Schlacht von St. Jakob an der Birs 1444 vor den Toren von Basel einem zahlenmäßig weit überlegenen französischen Heer gegenübertreten, tragen als Zeichen hellgrüne Tannentriebe in ihre Gürtel gesteckt. Als die Zünfte von Basel (damals kaiserliche Reichsstadt) in einer tumulthaften Ratssitzung beschließen, den Eidgenossen zu Hilfe zu kommen und einen bewaffneten Ausfall versuchen, ordnet der Basler Rat an, daß alle Teilnehmer sich einen „strowisch hinden under sinen gürtel" stecken sollen „zu einem Wortzeichen". Die Strohwische sind sozusagen die improvisierte städtische Anverwandlung der grünen Tannenzweige an den Gürteln der Eidgenossen.14 Ob das Erkennungsmerkmal wirklich praktikabel war, ist ungewiß: Die Basler Abteilung machte nicht weit von den Stadtmauern wieder kehrt; die mit Tannenästen gekennzeichneten eidgenössischen Krieger wurden eingekesselt und von der französischen Übermacht niedergemacht. Wie gut solche ad hoc improvisierten Zeichen funktionieren können, bleibt dabei offen. Die Zeichen müssen allen Beteiligten vorher bekannt sein; zeichentechnisch gesprochen kann es in der Schlacht „Nichtzugehörigkeit" nur bedingt geben, und in einem riesigen blutigen Knäuel schreiender Bewaffneter kann man nur schlecht Semiosis diskutieren. Als während der Schlacht von Nancy gegen die Burgunder 1477 die Verteidiger der Stadt einen Ausfall machen und sich den siegreichen Schweizern gegen die burgundischen Truppen anschließen wollen, „hatten [sie] kein crütz an sich gemacht", bemerkt dieselbe Berner Chronik, die von dem Kompromißzeichen berichtet, „und konden ouch kein tütsch und wurden 12
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Zitiert nach Zehnder [wie Anm. 10], S. 140, berichtet bei Edlibach, Brennwald und in der Berner Schilling-Chronik: „daz woltend der eignossen kriecht niit gestatten vnd meintend, es were jren altforderen gar fil und dick mit den wissen krützen gangen" - der Gegensatz weiße versus rote Kreuze wird hier implizit vorausgesetzt. Derselbe Chronist berichtet drei Jahre später, als die Stadt Fribourg nominell unabhängig vom Herzogtum Savoyen wird, Fribourg „wart ledig von dem huse von Savoye und tet die wisen crütz ab, und kam an das heilig Römisch rieh." - zitiert nach Zehnder [wie Anm. 10], S. 141. Zehnder [wie Anm. 10], S. 142 und 144.
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leider von den Eidgenossen und dem andern volk unerkannt erstochen."15 Das Argument mit der fehlenden Sprachkenntnis ist nicht vollständig überzeugend, schließlich kämpfen vor Nancy auch französische und lothringische Truppen zusammen mit den Schweizern. Aber um Sprache geht es offenbar ohnehin nicht. Der Berner Chronist Anshelm berichtet von der Schlacht von Dornach 1499 zwischen schwäbischen und eidgenössischen Truppen, es seien viele Schweizer umgekommen „ouch von fründen erstochen, von unachtbarer zeichen wegen, so da keine oder nur mit wissen nestlen, kriiz an sich, an d'hüet, die inen bald entfielen, oder an ein ermel oder hosen geknüpft waren."16 Das Schlachtfeld wird sehr leicht zum Ort, an dem die Zeichen auseinanderfallen, im Wortsinn, aus Unachtsamkeit oder als Täuschungsmanöver. Techniken der Dissimulation spielen in den Propagandakriegen des 15. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Schweizer und Österreicher werfen sich gegenseitig hundert Jahre lang vor, als Kriegslist die Zeichen zu vertauschen, rote Kreuze in weiße zu verwandeln oder umgekehrt. Im Krieg 1499 hätten österreichische Truppen sich mit weißen Kreuzen als Schweizer getarnt und so die Stadt Maienfeld erobert, klagen eidgenössische Chronisten; umgekehrt wendet ein im selben Jahr im Auftrag Maximilians gedrucktes Propagandagedicht Heinrich Bebels den selben Vorwurf gegen die Schweizer, sie hätten in der Schlacht von Frastanz die Österreicher mit roten Kreuzen getäuscht. Der Nürnberger Humanist Willibald Pirckheimer erweitert das Motiv in seinem „Schweizerkrieg" von der Schlacht von Dornach 1499 zu der Version, die Schweizer hätten rote Kreuze auf der Brust getragen, um von vorne als Österreicher zu erscheinen, auf dem Rücken aber weiße, um von ihren Mitkämpfern als Eidgenossen identifiziert zu werden, und mit dieser teuflischen List hätten sie die Schlacht gewonnen.17 Diese Version löst das Paradox auf, daß die als Feinde Verkleideten zwar den Feinden von vorne - als Kollegen erscheinen, für die eigene Seite - von hinten - aber als falsche Feinde kenntlich sein müssen, wenn sie auf dem Schlachtfeld nicht selbst „ungestalt" liegenbleiben wollen. Pirckheimer variiert aber nur ein Motiv, das gut sechzig Jahre älter ist. Ein österreichisches Schmählied über die Schlacht von St. Jakob an der Sihl im sogenannten Alten Zürichkrieg 1443 zwischen den Eidgenossen und dem mit Österreich verbündeten Zürich beschuldigt die „schnöden Schwizer", sie „truogend zweierlei cruezem [...] hinden wis und vornen rot."18 Zeitgenössische Chronisten berichten von dieser Schlacht vor den Toren von Zürich, 400 eidgenössische, aber mit dem roten Kreuz des mit Österreich verbündeten Zürich gekennzeichnete Bewaffnete hätten sich unter die Zürcher Truppen mischen wollen; als etliche skeptische Zürcher nicht glauben wollten, daß es sich bei den näherrückenden Einheiten um Verbündete handelte, habe der Zürcher Bürgermeister Rudolf Stüssi ihnen zugerufen, nicht zu schießen, „es sind fründ", es seien Freunde. Die falschen Freunde lösen daraufhin während des Angriffs der echten Feinde - der mit weißen Kreuzen gekennzeich15
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Zehnder [wie Anm. 10], S. 140. Siehe dazu Werner Meyer: „Also griffen die Eidgenossen das Volk an". Die Schlacht bei St. Jakob an der Birs. In: Werner Geiser (Hg.): Ereignis - Mythos - Deutung. 1444-1994. St. Jakob an der Birs / Basel 1994. Anshelm, 2, 223, zitiert nach Zehnder [wie Anm. 10], S. 141. Zehnder [wie Anm. 10], S. 141. Siehe dazu mit weiterer Literatur: In Helvetios - Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten von 1386 bis 1532. Hg. von Claudius Sieber-Lehmann und Thomas Wilhelmi. Bern 1998. Rochus von Liliencron: Historische Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Bd. 1. Leipzig 1865, S.393; neu abgedruckt in: In Helvetios [wie Anm. 17], S. 34.
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neten Eidgenossen - mit dem Ruf „fliehend, fliehend" eine Panik unter den Zürcher Einheiten aus. Sie erschlagen, wie der antieidgenössische Chronist Hemmerli einige Jahre später in seinem „Dialogus de nobilitate et rusticitate" erbittert schreibt, nichtsahnende Zürcher Bürger und Adelige und plündern nahegelegene Kapellen und Spitäler. Ihnen fällt auch der genannte Bürgermeister Stüssi zum Opfer - „ein äusserst kräftiger Krieger" schreibt Hemmerli, „von auffallend schöner Gestalt, mit einem stämmigen Körper, eine herausragende Person, der wie König Saul alle überragte." Diese Beschreibung hebt nicht zufällig auf die Identifizierung des Bürgermeisters auf dem Schlachtfeld ab: Getäuscht von den falschen Feldzeichen sei dieser quasi biblische Held überwältigt worden, fährt Hemmerli fort, „und die Schwyzer rissen ihm, während er noch halb am Leben war, die Brust auf und das Herz heraus. Unter Missachtung jeder Menschlichkeit rieben sie mit seinem Fett, gleichsam wie mit der Speckschwarte von Schweinen, dann ihre Beinschienen und ihr Schuhwerk ein."19 Das Vertauschen der Zeichen als teuflische „imitatio" erscheint hier als Teil eines noch viel schlimmeren transgressiven Akts. „Dass sie" - die Schweizer - „mit christen lüten schmer schmirwend ire schu", wie das anonyme österreichische Schmählied es schon im Jahr der Schlacht auf den Punkt bringt, das sei eine „ketzerliche tat", „der Christenheit ein schmach."20 Der Beschwerdebrief der Luzerner an den Herzog von Mailand verwendet 34 Jahre später beinahe dieselben Worte. Zeichenvertauschen und kannibalistische Greuel - die Geschichte mit dem Bauchfett und den Schuhen - sind festes Versatzstück eines komplexeren Plots und dienen als Zeichen des außermenschlichen Barbarischen schlechthin. Das Motiv ist das von Täuschung und Verkehrung, von Verrat und Käuflichkeit im wörtlichen Sinn: Der menschliche Körper wird drastisch reduziert auf seine stoffliche Verwertung als in der mittelalterlichen Mangelgesellschaft kostbares Schmalz bzw. als Speck, fette Essenz stofflicher Warenform. Im Zerstückeln (und Verkaufen, können wir ergänzen) toter Gegner schwingt das Motiv des Kannibalismus mit. In der gelehrten Kultur des Mittelalters ist das ein vertrauter und geläufiger Topos. Er findet sich von Tertullian und Isidor von Sevilla über die hochmittelalterliche Berichten von den Tataren, für die in Essig eingelegte menschliche Ohren angeblich eine besondere Spezialität darstellen, bis zu Mandeville und seinen Kommentatoren und Fortsetzern. Der körperzerstückelnde Barbar mit Appetit auf Menschenfleisch ist in der Imagination des mittelalterlichen Europa ständig präsent.21 Wie in der Schweiz sind Berichte über zerstückelte und aufgegessene Gegner im Italien des 15. Jahrhunderts alles andere als selten. Sie erscheinen zusammen mit aus dem Körper geschnittenen und an Stangen herumgetragenen Organen in den Erinnerungen des Papstes Pius II. (Enea Silvio Piccolomini), in Villanis Chronik von Florenz, in Chroniken aus Modena und Ferrara, in Berichten von Rachefehden im Friul und vom Sturz des Gian Galeazzo Sforza in Mailand 1476, der von einer wütenden Menge zerstückelt und teilweise aufgeges19
20 21
Felix Hemmerli: „De Suitensibus", aus: „Dialogus de nobilitate et rusticitate", 1451. Eine vollständige Neuedition ist in Vorbereitung; hier zitiert nach dem Teilabdruck aus In Helvetios [wie Anm. 17], S. 68f. In Helvetios [wie Anm. 17], S. 35f. Siehe die Beiträge von Hedwig Röckelein und Charles Zika in: Hedwig Röckelein (Hg.): Kannibalismus und europäische Kultur. Tübingen 1996; John Block Friedman: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge MA 1981; Gregory Guzman: Reports of Mongol Cannibalism in the Thirteenth Century: Oriental Facts or Western Fiction? In: Scott Westrem (Hg.): Discovering New Worlds. Essays o n Medieval Exploration and Imagination. N e w Y o r k / L o n d o n 1991, S. 31—68.
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sen wird.22 Derartige „unmenschliche" kannibalistische Zerstückelungen werden allerdings umso ausführlicher beschrieben, je weiter das Ereignis räumlich und zeitlich entfernt liegt. Und so wandern die schweizerisch-italienischen Rachegreuel in der Schlacht schließlich buchstäblich in die Neue Welt und wieder zurück: Der Spanier Alvaro Nunez Cabeza de Vaca, Teilnehmer an den italienischen Feldzügen 1511 und 1512, liefert 1537 an Kaiser Karl V. eine Beschreibung der gescheiterten Expedition von Florida 1527 und seiner achtjährigen Reise als Wunderheiler unter den Indianern von Texas, Arizona, New Mexiko und des nordwestlichen Mexiko. Diese Stämme, schreibt er von den Indianern des heutigen Arizona, seien die aufmerksamsten Krieger der Welt, Meister der Tarnung, ständig auf Täuschung, Racheakte und Grausamkeiten gefaßt - „als ob sie", so der Veteran Nunez, „in Italien aufgewachsen wären."23
IV. Aber kehren wir noch einmal zum Begriff des „ungestalt" zurück. Wenn die Toten und Halbtoten auf dem Schlachtfeld nackt sind, wessen Bauchfett wird dann eigentlich verkauft und wessen Finger wandern als neue Zeichen - rot und weiß auch sie - auf die Hüte der Sieger? Die Zeichen sind offenbar nicht unbedingt das, was sie zu sein vorgeben. Die Erzählung von der Verkehrung der Ordnung und von den Greueln macht aus dem Schlachtfeld den Ort dieses namenlosen Schreckens, in dem Bezeichnetes und Bezeichnendes auseinanderfallen. Ein Zeitgenosse von Cabeza de Vaca, der Berner Chronist Valerius Anshelm Rüd, wie Vaca Veteran der italienischen Kriege, im Gegensatz zu dem Spanier allerdings begeisterter Anhänger der Reformation, schreibt zur selben Zeit - am Ende der 1530er Jahre - seine große Chronik der Stadt Bern. In Anshelms Beschreibung der fatalen Niederlage der Eidgenossen in Marignano 1515 läßt er - entsprechend dem Stereotyp barbarischer Transgression - die siegreichen Feinde einem prominenten Schweizer Toten, dem Amman von Uri, den Bauch aufschneiden und mit seinem Bauchspeck (er sei „ein feist man" gewesen, fugt er hinzu) ihre Stiefel einfetten. Aber die Bilder der Greuel funktionieren dadurch, daß sie nicht einfach übernommen, sondern jeweils neu passend gemacht werden. Und auch hier sollen die Details die besondere Natur des Schrecklichen verdeutlichen. Die Feinde der Schweizer, 22
23
Trevor Dean: Marriage and Mutilation: Vendetta in Late Medieval Italy. In: Past & Present 157 (1997), S. 3-36; Edward Muir: The Cannibals of Renaissance Italy. In: Syracuse Scholar 5 (1984), S. 5-14, und ders.: Mad Blood Stirring. Vendetta and Factions in Friuli during the Renaissance. Baltimore / London 1993, S. 236f.; Giovanni Ianziti: Humanistic Historiography under the Sforzas: Politics and Propaganda in Fifteenth-Century Milan. Oxford 1988; Anthony Pagden: Cannibalismo e contagio: Sull' importanza dell' Antropofagia nelF Europa preindustriale. In: Quaderni storici 50 (1982), S. 533-550, und jetzt in: The Uncertainties of Empire. Hg. von Anthony Pagden. Aldershot 1994. Alvara Nunez Cabeza de Vaca: Adventures in the Unknown Interior of America. Hg. und übers, von Cyclone Covey. Albuquerque 1983, S. 95; siehe dazu Rolena Adorno: The Negotiation of Fear in Cabeza de Vaca's „Naufragios". In: Representations 33 (1991), S. 163-199. In Cabeza's Bericht essen allerdings nur Spanier andere Spanier auf - „the Indians were so shocked at this cannibalism that, if they had seen it some time earlier, they would surely have killed every one of us" (Nunez: Adventures, S. 60).
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so Anshelm, hätten ihre Rösser Hafer „uss sinem buch (Bauch) fressen" lassen. In dieser Verschiebung werden sozusagen die Pferde zu Menschenfressern, während umgekehrt die siegreichen Feinde der Schweizer im Wortsinn zu Zeichenfressern werden, und zwar vegetarischen: Eine grüne Fahne der Schweizer, so Anshelm, hätten die barbarischen Soldaten kleingehackt „in eim salat" gegessen. 24 Womit am Schluß sich die Zeichen des Greuels in einer absurden Pointe aufzulösen scheinen - aber in ihr spielt der reformierte Berner Chronist auf ganz andere Zeichen an, und die haben mit den historischen Ereignissen von Marignano wenig, mit denen der reformierten Politik Berns in den späten 1530er Jahren aber umso mehr zu tun. Grün steht in der konfessionell gespaltenen Schweiz für die grünen Tannenäste, die die katholischen Innerschweizer von 1528 an und vor allem in den 1530er Jahren zusätzlich zum eidgenössischen weißen Kreuz als altgläubiges Erkennungs- und Parteizeichen tragen. 25 Der von den Landsknechten verzehrte Salat bei Anshelm ist aber kein Gericht, sondern eine Person, und zwar niemand anderes als ein anderer Schlachtberichterstatter, nämlich der katholische Luzerner Chronist Hans Salat. Nach dem Sieg der katholischen Innerschweizer über die Reformierten und dem Tod Zwingiis in der Schlacht von Kappel 1531 hatte Salat eine Reihe von polemischen Liedern drucken lassen, in denen er den Tod Zwingiis als gerechte Strafe eines „kätzers" und gottgegebenen Triumph der katholischen grünen Abzeichen - der Tannenäste rühmte. 26 Die darauf gedruckten refomierten Flugschriften der 1530er Jahre nehmen genau die Wortspiele um Salats Namen und die Abzeichen der Altgläubigen auf: Sie reichen von der Schrift „Salz zum Salat", die Zwingiis Nachfolger Bullinger 1532 erscheinen läßt, bis eben zu der absurden kannibalistischen Pointe in Anshelms Chronik. 27 In den reformierten Polemiken erscheint schließlich eine letzte Anspielung auf die Paradoxa der Identifikation auf dem Schlachtfeld und der Zerstückelung. Das Schicksal von Zwingiis Leichnam auf dem Schlachtfeld wird zum Gegenstand wütender Auseinandersetzungen zwischen den Glaubensgegnern. Einig sind sich katholische und reformierte Chronisten nur darüber, daß er durch „sundern wortzeychen an sim leyb" identifiziert werden konnte. Hans Salats „Lied vom Zwinglin" von 1532 beschreibt ausführlich, wie der Luzerner Henker mit dem auf dem Schlachtfeld gefundenen Leichnam des Reformators Zwingli verfährt: „vier teil thet er us im machen; / er trug vil schmalz im bachen (Schinken) / doch warf s der henker hin / als ob's ein lötschen (Hund) wer gsin"; dann sei er auf auf einem Scheiterhaufen „verbrennet" worden, wie es das „kaiserlich recht" für Aufrührer und Ketzer vorsehe. Bullinger hebt in seiner Antwort vom selben Jahr dagegen gerade die Schändung von Zwingiis Leiche hervor, die die Katholischen „wider alles menschlich ouch keiserlich
24
Valerius Anshelm: Berner Chronik. Hg. vom Historischen Verein des Kantons Bern. Bd.4. Bern 1893, S. 142f. Vgl. Meyer [wie Anm. 6], S. 223. Zum historischen Kontext der Niederlage Emil Usteri: Marignano. Die Schicksalsjahre 1515/16 im Blickfeld der historischen Quellen. Zürich 1974.
25
Zu den „grünen thännlein" [wie Anm. 10], S. 142f.; zu Abzeichen einzuschränken, Helmut Meyer: Der Zweite S. 121.
26
Hans Salat: „Der spruch heiszt der Tanngrotz" und „Das lid vom krig". In: Hans Salat. Sein Leben und seine Schriften. Hg. von Jacob Baechtold. Solothum 1876 (Repr. 1986), S. 9 0 - 1 2 0 . Heinrich Bullinger: Salz zum Salat. In: Salat [wie Anm. 26], S. 223-258.
27
als katholisches Parteizeichen siehe die zahlreichen Beispiele bei Zehnder den Versuchen der altgläubigen Obrigkeiten, das ungeregelte Tragen dieser und ihrer besondere Rolle bei den sogenannten „freien hauffen" siehe auch Kappeler Krieg. Die Krise der Schweizerischen Reformation. Zürich 1976,
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recht" begangen hätten.28 Die Verweise auf Schmalz und den Reformator als Tierkadaver in Salats Gedicht sind einigermaßen unklar. Auf welche Motive wird hier angespielt? Die Greuel sind jedenfalls immer die Greuel der anderen: Der Umgang mit Zwingiis Leichnam ist rechtlich geregeltes Strafritual für die einen, das die verletzte juristische Ordnung der Dinge wiederherstellt, barbarische Transgression für die anderen, das eben diese Ordnung verkehrt.
V. Der Schrecken droht mit Desorientierung: Er etabliert dystopische Orte, in denen alle Zugehörigkeiten verlorenzugehen drohen. Aber gleichzeitig beruht die erzählerische Wirkung der Beschreibung unerhörter feindlicher Grausamkeit und Verschlagenheit, der Greuel und der falschen Zeichen auf der Variation von Narrativen, die die Zuhörer oder Leser der spätmittelalterlichen Schlachtenberichte und Chroniken bereits kennen. Die Beschreibung des Unsagbaren und der feindlichen Greuel auf dem Schlachtfeld kommt nie ohne die Präsentation der Details dieses Unbeschreiblichen aus. Wie die Identifikation steckt der Effekt des Grauens - der Verlust jeder Ordnung - im Detail. Hier sollte gezeigt werden, daß sich die Beschäftigung mit diesen vermeintlich paradoxen oder absurden Einzelheiten (Menschenfett, mit dem Schuhe eingerieben werden; eine grüne Fahne als Salat) lohnt, um mehr über die Intentionen der Autoren und über die Wahmehmungsmuster ihrer intendierten Leser zu erfahren. Die topischen Beschreibungen des Schreckens und der physischer Gewalt fordern Historiker als Authentifikatoren in besonderer Weise heraus. Diese Gewalt ist aber weder „reiner Text" (die Körper lösen sich durchaus nicht in literarischen Anspielungen und bloßen sprachlichen Signifikantenketten auf, im 15. so wenig wie im 20. Jahrhundert), noch ist sie „anthropologische Konstante" oder archaische ahistorische „magische Praxis". Vielmehr geschieht ihre sprachliche Fixierung an einem konkreten politischen Ort, und der ist ebenso beschreibbar wie die Techniken, die dabei verwendet werden. Gerade in Schilderungen exzessiver Gewalt waren mittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren fähig, traditionelle Motive des Barbarischen als Transgression und Verkehrung mit sehr konkreten Praktiken der Identifikation (und ihrem Gegenteil, der Tarnung und Vertauschung der Zeichen) in komplexen Assoziationen zu verknüpfen. Erst eine solche Lektüre wird den aktuellen Aufschreibebedingungen und dem politische Eigengewicht dieser Texte gerecht. Jede Beschreibung der unbeschreiblichen feindlichen Greuel sagt mindestens ebenso viel über den Berichterstatter und sein intendiertes Publikum aus wie über die Geschehnisse selbst. Transgressive „sprechende" Gewalt sucht, die Distanzierung von ihr so schwierig wie möglich zu machen: Darauf beruht ihre Wirkung auf Leser und Zuschauer, in der Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart. Die Politik des Greuels hat wenig von ihrer Wirksam-
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Lied vom Zwinglin (Salat [wie Anm. 26], S. 114-120, hier S. 117); Bullinger [wie Anm. 27], S. 245. Über die verschiedenen Polemiken siehe ausführlich Meyer [wie Anm. 25], S. 62, S. 393. Vielen Dank für bibliographische Hinweise an Doris Klee, Zürich, die zur Zeit eine Publikation über die zeitgenössische Wahrnehmung von Zwingiis Tod vorbereitet.
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keit eingebüßt. Die abgeschnittenen Finger, Ohren und die kannibalistischen Metaphern der Türkenkriege haben, den hier beschriebenen erzählerischen Versatzstücken der Schlachtengreuel des 15. und 16. Jahrhunderts nicht unähnlich, in der Propaganda der Balkankriege der 1990er Jahre weiterhin sehr erfolgreich öffentliche Meinungen mobilisiert. Wenn nicht die Krieger, dann doch die Berichterstatter nehmen die Versatzstücke dieser blutigen Heterologien im Gepäck sozusagen stets mit aufs Schlachtfeld. Und damit sind wir endgültig wieder bei der Schlachtplatte als Repetition angelangt: Geschichte ist ein Zeichensalat, der aufgegessen werden muß.
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Kriegsgetöse. Zur Semiotik musikalischer Battaglieri
Seit jeher fungierte Musik als Mittel zu Kriegsertüchtigung, Kriegsvorbereitung und Kriegsführung. Mit gutem Grund rechnen Militärkapellen daher zu den wichtigen Teilen von Heeresformationen. Piaton, der keine Verselbständigung des Ästhetischen gegenüber Erkenntnis und moralischem Handeln duldet, befürwortet Gesänge in dorischer Tonart, weil sie die Kampf- und Kriegstauglichkeit erhöhten.1 Und in der Lehre von den Wirkungen der Musik, die seit der Antike fortgeschrieben wurde, figurierte immer auch die These: „Musica ánimos ad praelium incitât", so Tinctoris in seinem Complexas effectuum musices.2 Soweit die Musik nicht von den Kämpfern selbst gesungen oder gespielt wurde, gehörte sie zu den Aufgaben der Kapelle als non-kombattantem Truppenteil. (Der Geiger Walter Levin berichtet, sein Vater habe, als sie auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Palestina immigriert waren, darauf bestanden, daß er außer seinem Hauptinstrument auch ein Blasinstrument lerne, weil nur dieses ihn musikalisch truppentauglich mache und so vor einer Einberufung in die kombattante Truppe schützen könne.3) Neben dieser primären Funktionalisierung der Musik als Instrument der Kriegsführung, welche mit Fanfaren und Trommeln unmittelbar bis in die Wirklichkeit des Schlachtgeschehens hineinreichte, existierte ein zweiter, nur mittelbar in diesem Funktionsbezug stehender Bereich: die Präsentation von Schlachtereignissen innerhalb von Musik selbst. Hier herrscht ein umgekehrtes Mittel-Zweck-Verhältnis, indem die kriegskonnotierten musikalischen Elemente Mittel zu einem künstlerischen Zweck sind und nicht einem militärischen Zweck dienen.4 Im folgenden suche ich in fünf Stücken an einigen Beispielen, die alle einen Kollektiv-
1 Piaton: Politela. Der Staat. In: ders.: Werke in acht Bänden. Hg. v. Gunther Eigler. Sonderausgabe. Vierter Band. Darmstadt 2 1990, 399a-c, S. 218-221. 2 Johannis Tinctoris: Opera Theoretica II. Ed. Albertus Seay (Corpus scriptorum de musica 22), S. 159177, hier S. 174-175. Vgl. bibliographisch insgesamt Ben Arnold: Music and War. A Research and Information Guide. New York/London 1993. 3 Mündlich gegenüber dem Verfasser im Frühling 2000 in Basel. 4 Den Gegensatz zwischen ästhetischem und militärischem Weltbezug belegt vorzüglich eine italienische Anekdote aus dem Ersten Weltkrieg; vgl. Verf.: „Wer hören will, muss fllhlen - Anti-Kunst oder Die
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konflikt betreffen, zu zeigen, wie „Schlachtfelder", Ereignisorte des Kampfes, musikalisch repräsentiert wurden.
I. Onomatopoetische Textreferenz Am Anfang der musikalischen Gattung Battaglia steht Clément Jannequins vierstimmige Chanson mit dem Titel La guerre. 1528 gedruckt, nimmt sie auf die Schlacht von Marignano im Jahre 1515 Bezug, bei welcher Frankreich unter seinem König François I. ein aus Schweizer Söldnern formiertes Heer des Mailänder Herzogs Ercole Massimiliano Sforza besiegte. Werner Braun schreibt hierzu: „Der zweite [Teil der Komposition] schildert mit kurzen Ausrufen und reiner Onomatopoesie den Kampfverlauf: In den zwölf Abschnitten der Vertonung fuhrt die Handlung vom Aufbruch bis zum Sieg. Im Mittelteil (Nr. 6) erklingt die für den Kampfausgang entscheidende Kanonade, nach der das Fußvolk erscheint und der Nahkampf beginnt." 5 Dabei werden die stilistischen Grundlagen der Chanson-Gattung weder erweitert noch gesprengt, sondern ausgeschöpft; die Tonmalerei von La Guerre ähnelt der
von Le Chant des oiseaux oder La Chasse. Der Dichtung liegen hier zum Teil Gefechtslärm malende „Wörter" und Phoneme zugrunde, so daß sich die Sprachsemantik bereits auf der Textebene - dadaistische Klangpoesie avant la lettre - in „Musik" auflöst. Die musikalische Gestaltung starker rhythmischer Bewegtheit innerhalb eines wohlregulierten mehrstimmigen Satzes ist für eine Chanson dieses Typs, wie ein Vergleich mit La Chasse erwiese, charakteristisch. Ein Lobpreis des Königs („victoire au noble roy Françoys!" 6 ) fuhrt nach einem turbulenten Mittelteil, darin ein aufgewühltes Kampfgeschehen „imitiert" wird, La Guerre zu einem „harmonischen" Ende, das mit der Lösung des Streites den Sieger rühmt - eine für die weitere Gattungsentwicklung grundlegende Disposition. Obwohl die Chanson auch ohne entsprechende Notation im Regelfall mit Instrumentalbegleitung aufgeführt wurde, ist das mimetische Verhältnis der Musik zum „Schlachtgeschehen" hier doch spezifisch vermittelt über den Text, ist „textakustisch". Die Vokalisten werden zu Streitern, die eine concordia discors virtuos entfalten, einen Agon innerhalb übergreifender Harmonie. Der musikhistorische Epochenwandel um 1600 ergänzte den bisherigen polyphonen Stil durch einen neuartigen, expressiv-monodischen, die „seconda pratica". Zu ihr hinzu trat mit dem „stile concitato" eine erregte dramatische Tonrede, die für die Battaglia besonders geeignet war. Gleichzeitig rückte durch das Prinzip des Konzertierens, hergeleitet von lat. „concertare" (streiten, kämpfen), die Idee eines musikalischen Kampfes zwischen gegensätzlichen Kräften (Mehrchörigkeit, Tutti vs. Concertino, Ensemble vs. Solist etc.) in den Vordergrund. Kunst des Skandals". In: Der musikalische Futurismus. Hg. v. Dietrich Kämper. Laaber 1999, S. 95-110, hierS. 104-106. 5 Werner Braun: [Art.] „Battaglia". In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Ausgabe. Hg. v. Ludwig Finscher. Sachteil 1. Kassel / Stuttgart u.a. 1994, Sp. 1294-1306, hier Sp. 1297. 6
Les Maîtres Musiciens de la renaissance [wie A b b i l d u n g 1], S. 60—61.
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Abb. /: Clément Jannequin, La Guerre, aus: Les Maîtres Musiciens de la Renaissance Française. Hg. von M. Henry Expert, Vol. 7: Chansons de maistre Clément Jannequin (Attaignant 1529 [?]), Paris 1898, Partitur S. 60.
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II. Instrumentale Grenzüberschreitungen Heinrich Bibers 1673 in Salzburg komponierte Battalia7 kann, was die Tonmalerei anbetrifft, als instrumentales Gegenstück zu La Guerre gelten, ein Werk fiir Streicher und Cembalo mit dem Untertitel: „Das liederliche Schwirmen der Musquetier, Mars, die Schlacht und Lamento der Verwundeten, mit Arien imitiert und Baccho dedicirt". Möglicherweise für Karnevalsfestlichkeiten entstand dieser humoristische Beitrag mit moralischer Zielsetzung. Nicht der Kriegsgott Mars sitzt hier auf der Anklagebank, weil er Zerstörung und Tod bringt, vielmehr werden Musketiere durch Niederlage und Verwundung bestraft, da sie einem ausschweifenden Lebenswandel frönen. Damit wird die narratio des Stückes allegorisch lesbar als moralisches Lehrstück für das Leben. Bibers Battalia transgrediert die zeitgenössischen Kompositionsnormen durch harmonisch-tonale Unordnung und die Geräuschhaftigkeit eines tonmalerischen Concitato-Stils, der das Klangideal der Streicher um der Schlachtmimesis willen martialisch verfremdet. Der Autor erläutert die Spielweisen wie folgt: „NB wo die streich seindt [rhythmische Figur] mues man anstadt des geigen mit dem bogen klopfen auf die geigen; / es mues wohl probirt werden; der Mars ist schon bekannt, aber ich hab ihn nicht bösser [seil, besser] / wissen zu verendern; wo der Druml geth im Bass, mues man an die seiten ein papier machen das es / einen strepitum gibt, in Mars aber nur allein." 8 Am Ende des Violone I-Partes vermerkt er: „die Schlacht wie oben [...] mues nit mit dem bogen sondern mit der rechten handt geschneit werden wie die stuck", bzw. am Ende des Violone II-Partes: „N. die Schlacht mues nit mit dem bogen gestrichen werden, sondern mit der recht handt die seiten geschneit wie die stuck und starck." 9 Während (harmlose) Tonrepetitionen „Aufgeregtheit" abbilden, eröffnen einerseits Klangverfremdungen die Perspektive zur Geräuschwelt einer normalerweise aus dem Kunstwerk ausgeschlossenen Alltagsästhetik, welche systematisch erst im 20. Jahrhundert für Musik erschlossen wurde. Der verstärkte Geräuschklang ahmt den im Schlachtgeschehen durch Waffen und Geräte erhöhten, seit Homers Ilias auch bewußt zur Einschüchterung des Gegners eingesetzten Geräuschpegel nach, und zugleich symbolisiert das durch den „Strepitus" der aufschlagenden Saiten „vergewaltigte" Pizzicatospiel die Herrschaft der Gewalt im musikalisch dargestellten Kampf. Im Unterschied zur „Textakustik" bei Jannequin bildet diese Gegensphäre zur Tonordnung hier eine „Klangakustik" aus, ein gattungsgeschichtlich bedeutsamer neuer Faktor. Die harmonisch-tonale Unordnung andererseits ist keine Allegorie des Schlachtgeschehens. Innerhalb der Erzählstationen der Biberschen Geschichte hat sie ihren Platz vor der „Schlacht". Wüsste man nicht aus Angaben der Partitur, daß hier eine betrunkene Gesellschaft von Musketieren instrumentalmusikalisch repräsentiert werden soll, so müßte man annehmen, der Komponist habe das Stück selbst in trunkenem Zustand notiert. Es handelt
7
Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704): Instrumentalwerke handschriftlicher Überlieferung. Hg. v. Jiri Sehnal. Graz 1997, S. 79-94. 8 So Biber in einer autographen Quelle am unteren Rand des Titelblattes, zit. nach Biber: „Revisionsbericht" [wie Anm. 7], S. 115. 9 Ebd.
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Allegro
Abb. 2: Heinrich Ignaz Franz Biber, Battalia - Die Schlacht: Allegro - Die liederliche gesellschaft von alierley Humor [wie Anm. 7], Partitur S. 82.
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sich um ein Quodlibet zu nicht weniger als acht Stimmen mit sukzessivem Stimmeneinsatz in den Takten 1 bis 8: Einsatzfolge 1 2 3 4 5 6 7 8 V:
Instrument V. 2 Via. 1 V. 3 Via. 2 Via. 3 V. 1 Vio. 1 Vlo. 2
Takt 1 2 3 4 5 6 7 8
Tonart D-Dur d-Moll C-Dur D-Dur D-Dur D-Dur G-Dur e-Moll
Endton A G F E D D G E
Violini I-III; Via.: Viole I-IV; Vlo.: Violoni I und II
Das Quodlibet offenbart eine drastische Polytonalität, indem, wie aus der Übersicht hervorgeht, nicht weniger als vier verschiedene Tonarten - darunter das dominante D-Dur - simultan gegenwärtig sind. Resultat ist keine durchhörbare Polytonalität, bei welcher die unterschiedlichen Schichten wahrgenommen werden können, sondern ein „wüstes" Zusammenklingen, eine Kakophonie. Am Ende der Sektion erklingt ein jenseits eines tonalen Akkordaufbaus strukturierter Fünfklang. Eine frühe Atonalität also, zugleich ein Ausflug ins Reich jener undomestizierter Klangwelten, die im 20. Jahrhundert dann so reich exploriert wurden. Solcher Frevel am Ideal der „Harmonía" kann, selbst im humoristischen Kontext, nicht ohne Strafe bleiben: Am Ende des Werkes tragen die Musketiere programmatisch ein Lamento wegen ihren Wunden vor, die sie in der vorangehenden Schlacht erlitten haben.
III. Allegorische Schlachtdiskurse Wie bereits am „Konzert"-Begriff angedeutet, wurde die Idee eines Agons - nach Heraklits Einsicht, daß der „Konflikt Vater aller Dinge" sei 10 - auch in Metaphern zweiten und dritten Grades für musikalische Semiotik bedeutsam, so beim Liebes- und Kunstdiskurs. In Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi e Clorinda (Venedig 1624) bzw. in seinen Madrigali guerrieri et amorosi des achten Madrigalbuchs (Venedig 1638) ist der Liebesdiskurs im Kampf der Geschlechter agonal geprägt - ein uraltes Gender-Thema - , in Richard Wagners
Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg (uraufgeführt 1845) bzw. in Die Meistersinger von Nürnberg (uraufgeführt 1868) prallen Künstler und Kunstideale in einer agonalen
10
Diels-Kranz (Hg.): Fragmente der Vorsokratiker, Heraklit, Fragment B53. „Krieg [besser: Konflikt] ist Vater von allem, König über alles [...]." Zit. nach: Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen. Ausgewählt und erläutert von Klaus Bartels. Darmstadt 9 1992, S. 27.
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Konkurrenzsituation aufeinander. Im 18. Jahrhundert wurde die Musik indes auch selbst militärisch bzw. schlachtenmäßig allegorisiert. In der „Dritten Anzeige: Vom Lehr-Meister" seiner Kleinen General-Baß-Schulen, die von den Pflichten der Lehrenden handelt, vergleicht Johann Mattheson musikkulturelle Funktionsdifferenzen mit akademischen und militärischen Hierarchien. Die Paragraphen 7 und 8 lauten: § 7: „Gleichwie nun in den andern Orden der Gelehrsamkeit verschiedene a) Stuffen oder Würden der Lehrenden zu finden sind, da z. E. [Exempel] der eine ein Baccalaureus, der andre ein Magister; der dritte ein Licentiat, und der vierte gar ein Doctor ist: also befinden sich, zwar nicht eben dem Nahmen, jedoch der Bedeutung nach, auch in dem musicalischen Orden dergleichen Stuffen, wenn man die Sache beym Lichte besiehet." § 8: „Da will jemand z. E. eine Flöte oder eine Oboe blasen lernen: dem kann es ein blosser Student, der Collegia hält, oder höchstens ein Baccalaureus recht machen. Ein andrer will singen lernen: da muß schon ein Magister her. Der dritte will das Ciavier und den General-Baß treiben: der kann es mit nicht weniger, als mit einen Licentiaten, bestellen. Wer aber endlich die Composition selbst zum Zweck seines Fleisses erkieset, der muß den Doctor, oder einen Doctor-mäßigen Professorem, holen lassen."12 Und in einer Fußnote zu der in § 7 dieses Kapitels erwähnten Gliederung der „Orden der Gelehrsamkeit" zitiert Mattheson eine Analogie zwischen den Ämtern „im Felde und in der Capelle": Der kuriose Vergleich spiegelt ein soziales Wertegefälle in der damaligen Musikkultur wider: Leitungs- und Führungsfunktionen (1-9), Gesangssolisten (10-14), Oboen, Streicher, Pauken/Trompeten (15-23), Tutti-, Ausbildungs- und Hilfskräfte (24-28) - säuberlich gestuft vom Gipfel Capitaine General (Surintendant de la Musique) bis hinunter zur Bagage (les Garçons et Valets de Chapelle). Viel weiter noch treibt Johann Beer die Allegorese in seiner Erzählung Der Musicalische Krieg, die er im Anhang seiner Musicalischen Diskurse 1719 in Nürnberg publizierte.13 Berichtet wird von einem (Familien-)Streit zwischen der Königin Compositio und ihrer Tochter Harmonía, der sich nur durch einen Feldzug schlichten ließ. „Die Harmonía hatte zu ihrer assistenz erstlich die Riesen aus Choralia 10 000 Mann, über diese war Canto fermo, ein tapferer Kriegs-Mann, Obrister [etc. ...]." 14 Die Truppenzusammensetzung wird so eingehend geschildert, daß kein Element der musikalischen Notation (Rhythmus, Tonhöhe,
11
12 13 14
Johann Mattheson: Kleine Generalbaß-Schule. Hamburg 1735, S. 55-57. Den Hinweis auf die beiden Quellen von Mattheson und Beer (s. u.) verdankt der Verf. seinem Freund Tobias Plebuch (Stanford University). Mattheson: Kleine General-Baß-Schule [wie Anm. 11]. Johann Beer: Musikalische Diskurse. Reprint der Ausgabe Nürnberg 1719. Leipzig 1982, S. 203-116 [recte: 216]. Beer [wie Anm. 13], S. 205.
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. 6: Ludwig van Beethoven, Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria, op. 91: Erste Abteilung - Aufforderung und Schlachtbeginn. In: Ludwig van Beethoven: Werke. Vollständige kritisch durchgesehene Ausgabe, Serie 2, Nr. 10. Leipzig o. J., Partitur, S. 12.
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Auf welchen musikalischen Prinzipien gründet die Mimesis der „Schlacht"? Das große Opernorchester, nicht das klassische Symphonieorchester, ist verstärkt durch Ratschen und große Trommeln auf beiden Seiten, welche in teils regelmäßigem, teils irregulärem Rhythmus Kanonenschüsse zu simulieren haben. Mit Tremoli, Synkopen und Streicherkaskaden realisiert das Orchestertutti einen Topos des Tumultes, wie er für Gewitterszenen in Opernwerken zur Verfugung stand. Harmonische Instabilität ist lesbar als Durchführung ohne Exposition, verwandt mit der Gewitterszene der Pastorale. Der Sieg der englischen Seite wird aus dem Partiturbild ersichtlich, insofern von einem bestimmten Zeitpunkt an nur noch Symbole für englische Kanonenschüsse, keine französischen mehr zu sehen und hören sind, der abbröckelnde Schluß in fis-Moll wirkt gleichwohl „beklemmend".21 Die „SiegesSymphonie" der zweiten Abteilung beruht auf dem Hymnus „God save the King", doch bleibt deren Monumentalität hinter der inneren Differenziertheit von Beethovens „wirklicher" Symphonik weit zurück. Während solche Monumentalität das Erhabene einer älteren Ästhetik repräsentiert, kündigt die Extension der musikalischen Form22 der Dritten Symphonie das Narrative einer nacherzählbaren Mimesis auf. An deren Stelle tritt in frei deutbarer Imaginationsfülle ein neuer, nicht-referentieller symphonischer Zusammenhang. In der ausgedehnten Durchführung des ersten Satzes fuhrt der Ansatz eines Fugato (T. 236ff.) bald zu einer Synkopenpartie, die in der symphonischen Literatur ihresgleichen sucht. Ein vom Fugato-Material abgespaltenes punktiertes Motiv wird absorbiert vom Gesamtklangkörper des Orchestertutti. Der Dreivierteltakt wird - mit Synkopierung auf der zweiten Zählzeit - zum Teil gewahrt, zum Teil hemiolisch umgedeutet in einen Zweierrhythmus, der sich über Doppeltakte spannt. Diese Verkettung von Synkopen verleiht dem symphonischen Körper eine ungeheure Energiefülle und macht ihn so zu einem Agens musikalischer Gewalt, das noch den Pulverdampf der französischen Revolution ahnen läßt. Wie immer wir diese Musik auch deuten, sie bleibt semiotisch nicht referentiell angelegt und entfaltet sich jenseits des alten Mimesis-Ideals zu jenem von E. T. A. Hoffmann an Beethovens Fünfter Symphonie gerühmten Reich des Absoluten, dessen hermeneutische Rezeptionsgeschichte die von Nietzsche allgemein postulierte Freiheit metaphorischen Sprechens exemplifiziert. Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß man auch die Eroica in deutsch-nationalem Sinne deutete, ausgerechnet dieses vom Autor einst Napoleon Bonaparte zugedachte Werk. Aber solche Deutungen bleiben Etappen der Rezeptionsgeschichte und werden von weiteren abgelöst. Adolf Bernhard Marx etwa deutet im mittleren 19. Jahrhundert den ersten Satz des Werkes als eine „Ideal-Schlacht", einen „Inbegriff des Heldenlebens": „Jetzt schaart sich Alles dichter, tritt Alles munterer hervor, fasst unter Blitzen und Klirren der Waffen festen Fuss und schliesst an einander Mann an Mann, und Schaar an Schaar, von hohem Muthe das Ganze, wie Ein Körper von Einem machtvollen Willen
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Vgl. Albrecht Riethmüller: Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria op. 91. In: Beethoven. Interpretationen seiner Werke. Hg. von Albrecht Riethmüller u.a.. Bd. 2. Laaber 1994, S. 34-45, hier S. 41. Vgl. hierzu Carl Dahlhaus: Ludwig van Beethoven und seine Zeit. Laaber 1987, S. 4 8 - 5 9 (insbes. S. 56).
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Abb. 7: Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 3 Es-Dur, op. 55, Eroica: 1. Satz, Durchführung Synkopenpartie. Nach dem Manuskript und den Originalausgaben revidiert. Leipzig o. J., Partitur S. 24 [Taschenpartitur].
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beseelt."23 Solch bellikoser Phantasmagorien zum Trotz zeigt sich hier, lange bevor in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch ständige Modernisierung der Kriegführung die Kategorie Schlacht selbst - und damit die Schlachtfeld-Topographie - obsolet wurde, die Battaglia als Gattung aufgelöst in eine Symphonik, die Elemente davon wohl bewahrt, das Entscheidende aber - die semiotische Bestimmtheit und die funktionelle Indienstnahme einer Schwarz-Weiß-Ästhetik - um eines musiksprachlich autonomen Kunstcharakters willen preisgegeben hat.
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Zit. nach Martin Geck und Peter Schleuning: Geschrieben auf Bonaparte. Beethovens „Eroica": Revolution, Reaktion, Rezeption. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 270.
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Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Graphik. Krieg als Capricho bei Francisco de Goya
I.
Die Auflösung des Schlachtfeldes
Das klassische, künstlerische Thema der Schlacht hat Francisco de Goya nicht interessiert. Sucht man in seiner den „fatalen Folgen des Krieges gegen Bonaparte" gewidmeten Serie von Radierungen' nach Motiven, die an bekannte Traditionen der künstlerischen Schlachtenrepräsentation anknüpfen, so wird man enttäuscht. Anstelle kunstvoll kombinierter, alle Variationen denkbarer Bewegungsmotive ausschöpfender Battaglien sehen wir Folter, Vergewaltigung, Hunger und Tod, dargestellt in einer ungewohnten Drastik und Nahsicht, bei Ausreizung der technisch und formal zur Verfügung stehenden Möglichkeiten druckgraphischer Gestaltung.2 Berühmte, historisch markante Orte der Schlacht fehlen gänzlich. An die Stelle der sogenannten „Felder der Ehre" treten leichengesäumte Landschaftszüge, die keinerlei topographische Bestimmung ermöglichen. Der mythische Ort des Schlachtfeldes wird von ortlosen Anhäufungen anonymer Leichen ersetzt, deren verstümmelte Überreste die blutgetränkte Landschaft des Krieges selbst erst zu formen scheinen.3 Diese thematische
1 Francisco de Goya schuf die Radierungen ab 1810 während und nach dem Peninsularkrieg. Der genaue Entstehungszeitraum der Blätter ist umstritten. Erst posthum, im Jahre 1863, wurden sie als eine Folge von 80 Blatt unter dem Titel „Los Desastres de la guerra" von der königlichen „Academia de San Fernando" in Madrid veröffentlicht. Eine Zusammenfassung der umfangreichen Interpretationsgeschichte bietet Javier Blas Benito: Los Desastres de la Guerra y su fortuna crítica. In: Misera humanidad la culpa es tuya. Estampas de la Guerra de la Independencia. Kat. Madrid 1996 und Jesusa Vega: Fatales consecuencias de la Guerra. Francisco de Goya pintor. In: Francisco de Goya. Grabador. Instantáneas. Bd. 2 . Kat. Madrid 1992, S. 17-48. Zur Datierung der Serie: Jesusa Vega: The Dating and Interpretation of Goya's Disasters of War. In: Print Quarterly XI/1 (1994), S. 3-17. Einführend zur Biographie des Künstlers vgl. Jutta Held: Francisco de Goya. Reinbek bei Hamburg 1980. 2 Zu Goyas technischen Neuerungen: Jesusa Vega: The Modernity of Los Desastres de la Guerra. In: Goya. Neue Forschungen. Das internationale Symposium 1991 in Osnabrück. Hg. von Jutta Held. Berlin 1994, S. 113-123. 3 So v.a. in den Blättern 18, 23 und 27 der Desastres.
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Verschiebung geht einher mit einer Dekomposition überkommener Bildformulare der Schlacht. Nur ein einziges Blatt der Kriegsserie erinnert an die Tradition klassischer Schlachtendarstellungen, wie wir sie aus der Barockzeit kennen.4 Es trägt die Nummer 17 und zeigt zwei berittene Offiziere vor dem Hintergrund einer Schlachtfeldszenerie [Abb. 1], Der Titel des Blattes ist „No se convienen" (Sie sind sich nicht einig, oder: Sie kommen nicht überein). Übereinstimmend ist die Ablehnung dieses Blattes in der Kritik. Man gesteht ihm nur eine mindere graphische Qualität zu, ja, hält es bisweilen schlicht für mißlungen. Grund genug, sich diesem Blatt intensiver zu widmen. Wenn Goyas einziger Versuch, sich dem klassischen Thema des Schlachtfeldes anzunehmen, scheitert, so passiert dies kaum zufällig. Das vordergründig gestalterische Mißlingen ist vielmehr das Resultat einer bewußten, formalen Sabotage. Gegenstand des Scheitems ist nicht die Bildidee Goyas, sondern die traditionelle Ordnung des Schlachtenbilds, und damit das System des Schlachtfeldes, das hier eine gezielt vorgeführte Auflösung erfährt. Inhaltlich ist das Blatt recht schnell zu erfassen: Zwei Offiziere hoch zu Roß diskutieren mit einem Soldaten des Fußtrupps. Während der vordere von ihnen den Arm zum Befehl erhebt, scheint es in der Führungsriege Unstimmigkeiten zu geben. Das Kampfgeschehen im Hintergrund läuft unabhängig davon weiter. Durch diese inhaltliche Umschreibung ist die Vielzahl formaler Unstimmigkeiten aber noch nicht bezeichnet, geschweige denn erklärt. Widmen wir uns zunächst dem dominanten Motiv: der Figur des vorderen Reiters mit seinem Pferd. Bildparallel im Vordergrund platziert, steht das Tier unbeweglich und kerzengerade aufgerichtet, vom brodelnden Kampfgeschehen unbeeindruckt. Das Fell des Tiers ist in seiner Stofflichkeit präzise charakterisiert. Dichte Strichlagen, die sich zum Hinterteil des Tieres zu runden Bögen aufschwingen, vermitteln sogar etwas von dessen seidigem Glanz. Doch die Schwärze des Fells tritt kaum aus den dichten, horizontalen Strichlagen des Bildhintergrundes hervor. Vermag der Hintergrund die Suggestion eines Tiefenraumes zu erzeugen, so wird diese dunkle Weite, durch die noch dunklere Nähe des Pferdekörpers sogleich wieder großflächig verstellt. Als gäbe es der Schwärze nicht genug, sind auch noch Sattel, Hose und Stiefel des Offiziers zwar durch unterschiedliche Anlage der Schraffuren, nicht aber durch unterscheidbare Helligkeitswerte bezeichnet. Das Bein des Reiters verschwindet auf diese Weise im Rumpf des Pferdekörpers, der sich wiederum kaum gegenüber dem Bildhintergrund abhebt. Grundlegende gestalterische Regeln werden souverän mißachtet. Eine harmonisch geregelte Aufteilung von Hell- und Dunkelwerten mit dem Ziel einer besseren Lesbarkeit des 4 Eine Gegenüberstellung von zeitgenössischen Schlachtendarstellungen und Goyas „moderner", „pathosgeladener" Ästhetik versucht Valeriano Bozal: Goya y el gusto moderno. Madrid 1994, S. 135-177, hier v.a. Kapitel 4-6. Ein detaillierter Vergleich von Goyas Repräsentation des Kriegsgeschehens und der zeitgleichen, von Napoleon geförderten Militärmalerei in Frankreich steht noch aus. Ansatzpunkte hierzu bietet Claudette Derozier: La Campagne d'Espagne. Lithographies de Bacler et Langlois. Paris 1971. Zur napoleonischen Schlachtenmalerei vgl. die präzise Darstellung von Christopher Prendergast: Napoleon and History Painting. Antoine-Jean Gros's La Bataille d'Eylau. Oxford 1997 und Susan Locke Siegfried: Naked History. The Rhetoric of Military painting in Postrevolutionary France. In: Art Bulletin 75 (1993), S. 235-258.
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Bildes ist bewußt unterlassen worden. Vergleichbares trifft auf die Darstellung der Oberkörper der Soldaten sowie der Köpfe der Pferde zu. Diese stechen zwar durch ihren Weißton aus dem Dunkel der Umgebung hervor. Durch ihre formale Verschränkung und den gemeinsamen Helligkeitswert werden sie jedoch optisch wieder aneinandergekettet. So scheint der Kopf des hinteren Offiziers seinem Vordermann auf den Schultern zu sitzen und bildet mit diesem ein janusköpfiges Wesen.5 Der erhobene Arm des vorderen Offiziers wiederum wirkt, als würde er gegen den Kopf des hinteren Pferdes gepreßt. Diese Geste scheint letzterem nicht allein den Weg zu versperren. Zielgerade weist der erhobene Degen des vorderen Offiziers in die rechte obere Bildecke und damit auf die augenfällige, diagonale Zweiteilung des Bildfeldes, welche die Problematik der Hell- und Dunkelverteilung auf die Spitze treibt. Während sich in der linken Bildhälfte sowie am unteren Bildrand das Geschehen drängt, verbleibt ein nicht unbeträchtlicher Teil der Platte weitestgehend unbearbeitet.6 Die Souveränität, mit def Goya sich in diesem Blatt über gestalterische Konventionen und Gesetzmäßigkeiten hinwegsetzt, ist Teil einer kompositorischen Strategie, die erst in der Gegenüberstellung mit traditionellen Schlachtendarstellungen erkennbar wird. Aus der Fülle möglicher Vergleichsbeispiele sei hier eine Tapisserie aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum gezeigt, die die Schlacht am Kahlenberg zum Thema hat [Abb. 2]. Goya, der zu Beginn seiner Karriere selbst Entwürfe für die königliche Teppichmanufaktur geliefert hat, waren solcherart Bildformulare geläufig. Das Prinzip dieser Schlachtendarstellungen ist die Kombination aus fürstlichem Befehlshaber und Schlachtfeld.7 Auf einem Feldherrnhügel herausgehoben sieht man im Vordergrund das Reiterportrait des kaiserlichen Feldherrn als Kommandanten der Armee. Diese Darstellung wird mit einer Überschaulandschaft im Hintergrund kombiniert, auf der das Schlachtgeschehen sowie Teile der umkämpften Städte und Landschaften zu sehen sind. Das bildstrategische Ziel dieser Kombination ist offensichtlich. Betont wird die lenkende Rolle des militärischen Führers im siegreichen Schlachtgeschehen. Der Darstellungstypus formuliert somit ein klares Machtverhältnis. Der prononciert vorgetragene Befehlsgestus des Fürsten ist Ursache und hierarchisches Zentrum des Geschehens. Seine Person bestimmt den Verlauf der Schlacht und erweist sich als uneingeschränkter Herr, nicht nur über die in seinem Dienst angetretenen Soldaten, sondern ebenfalls über die in breitem Panorama sich entfaltende Landschaft im Hintergrund. Ein direkter Vergleich der Reitergruppen verdeutlicht, wie direkt sich Goya mit solchen motivischen Vorbildern auseinandersetzt und mit welch einfachen Mitteln er deren Rhetorik untergräbt. Nichts bleibt mehr von dem dynamischen Bewegungsmotiv des Pferdes, wie wir es aus der Tradition königlicher Reiterportraits kennen. Auch jeglicher Sockeleindruck, bewirkt durch den schmalen Vordergrundstreifen, der dem Reiterbild einen respektheischen5 Zu solchen formalen Verschmelzungseffekten in Goyas Folge der „Caprichos" vgl. Werner Busch: Goya und die Tradition des „capriccio". In: Wie eindeutig ist ein Kunstwerk? Hg. von Max Imdahl. Köln 1986, S. 41-73, hier v. a. S. 69ff. 6 Zur Bedeutung leer verbleibender Bildräume bei Goya vgl. Victor I. Stoichita / Anna Maria Coderch: Goya. The Last Carnival. London 1999, S. 83f. 7 Zur Geschichte der Schlachtenmalerei s. Thomas Kirchner: Paradigma der Gegenwärtigkeit: Schlachtenmalerei als Gattung ohne Darstellungskonventionen. In: Bilder der Macht - Macht der Bilder. Hg. von Stefan Germer. München 1997, S. 107-124. Matthias Pfaffenbichler: Das barocke Schlachtenbild: Versuch einer Typologie. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 91 (1995), S. 37110.
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Godehard Janzing
den Auftritt erlaubt, wird verweigert. Mehr noch: Die Hufe des Pferdes werden überhaupt nicht mehr vom Bildfeld erfaßt, wodurch das Tier geradezu an den Boden geklebt erscheint. Auch das ausponderierte Zusammenspiel von Pferd und Reiter mit ihren gegensätzlichen Körperdrehungen, wie wir es in der Tapisserie so kunstvoll vorgeführt bekommen, wird von Goya verkehrt. Gegen jegliche Konvention wendet sich der Reiter vom Betrachter ab, dafür jedoch das Pferd zu uns hin. Aus der Mitte des Bildfelds blickt uns dessen fahler Schädel mit leer-glotzendem Blick an.8 Die Idee des Schlachtfeldes, wie es das absolutistische Idealbild entwirft, erfährt bei Goya eine klare Dekomposition. Wo zuvor Dynamik, Zusammenspiel und Entschlußkraft herrschten, kontert Goya mit Stillstand, Hindernis und Zwietracht. Die bekannte Motivkoppelung der Befehlsgewalt des militärischen Führers im Bildvordergrund mit einem Ausblick auf das Geschehen der Schlacht wird von Goya aufgegriffen, jedoch in wesentlichen Bestandteilen auf den Kopf gestellt. Der in dem herkömmlichen Bildschema für Ordnung und Befehlsgewalt stehende Körper des Herrschers wird durch die kompositorische Verklammerung der beiden Offiziere auf geradezu groteske Weise entstellt. Die zentrale Gewalt erscheint optisch in zwei Köpfe gespalten. Und der klassische Befehlsgestus weist nicht allein ins Leere, er wird darüber hinaus noch im amorphen Formenspiel der Wolken ironisierend fortgeführt und damit demonstrativ jeglicher Macht beraubt. Die Überschauperspektive auf geordnete Schlachtformationen, die traditionell in Fortfuhrung dieser Geste erscheint, fehlt schließlich gänzlich. Der Betrachter erlangt keinen Überblick mehr über das Kampfgeschehen. Er nimmt es von unten, am Boden liegend, aus der Perspektive der Opfer wahr. Bevor wir uns einem weiterem Blatt der Serie zuwenden, sei ein kleines Fazit erlaubt: Die formalen Unstimmigkeiten, die in dieser Graphik festgestellt werden konnten, erwiesen sich als bewußte Interventionen in ein überkommenes Darstellungsmuster des Schlachtfeldes mit der Absicht, die darüber suggerierten Grundregeln formalisierter Kabinettskriege in Frage zu stellen. Befehl und Gehorsam, Ordnung und Disziplin als zentrale Funktionen des herkömmlichen Kriegsgeschehens sind in der von Goya dargestellten Schlacht offensichtlich nicht mehr wirksam. Die Idee des Schlachtfeldes erfährt eine formale wie inhaltliche Auflösung und weicht dem Bild einer freieren, unübersichtlicheren Form der Gewaltausübung, die am Rande der Dunkelheit operiert.
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Diese zentrale Position und die Art der Darstellung vor dunklem Hintergrund, die den Kopf des Pferdes wie den Schädel eines Kadavers wirken läßt, mag als Hinweis auf die Hinfälligkeit kriegerischen Ruhms zu deuten sein. In diesem Sinne findet sich das Motiv des Pferdeschädels bereits in dem Schlußblatt „Des Reiters Ende" der Folge von Kampfszenen aus dem Dreißigjährigen Krieg von. Hans-Ulrich Franckh (1656) (vgl. F. W. H. Hollstein: German Engravings, Etchings and Woodcuts ca. 1400.1700. Amsterdam 1954f., Nr. 28) und taucht bei Goya in dem wohl ebenfalls zunächst als fatalistischem Endpunkt der Serie vorgesehenen Blatt Nr. 69 der Desastres „Nada. Ello dirá" als vage Andeutung im linken Hintergrund wieder auf.
Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Graphik
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II. Die Geburt des Partisanen Im Kampf gegen die Napoleonische Invasion der spanischen Halbinsel betrat ein Akteur die historische Bühne, dessen strategische Ausrichtung dem Krieg einen Aktionsraum zuwies, der weit über die Schauplätze kriegsentscheidender Schlachtfelder hinauswies. Nachdem die reguläre spanische Armee verlustreich geschlagen war, rief man die gesamte Bevölkerung dazu auf, mit allen nur denkbaren Mitteln Widerstand zu leisten. Ausdrücklich warnte die junta suprema vor der Feldschlacht, in der die Franzosen immer überlegen seien und empfahl statt dessen eine „guerra de partidas", den Partisanenkampf.9 Egal ob mit Beilen, Heugabeln, Sensen und Schrotflinten - mit Waffen jeglicher Art sollten die Einwohner sich dem eindringenden Feind in den Weg stellen, wo immer man auf ihn traf. Die kriegerische Gewalt fand damit keine „Einhegung" mehr auf einem begrenzten Schlachtfeld, sondern konnte überall auftreten, unerwartet und in den verschiedensten Formen.10 Die Phantasie war gefordert. „Con razón ó sin ella" (Mit Recht oder zu Unrecht, oder: Mit Vernunft oder ohne) betitelt Goya das zweite Blatt der Serie [Abb. 3]. Es zeigt keine reale, im Kriegsgeschehen gesehene Situation, sondern eine kompositorisch ausgefeilte Gegenüberstellung der kategorischen Gegensätze, die den Peninsularkrieg bestimmten. Exemplarisch wird hier das Prinzip des Partisanen gegen das Prinzip der Armee gestellt." Es stehen Irregularität gegen Regularität, Zivilisten gegen Uniformierte, Individuen gegen eine anonyme Masse, eine dynamische, kreative Gewaltanwendung gegen die rationale Verwendung militärischer Technik. Auf der linken Seite blicken wir auf zwei Vertreter der spanischen Landbevölkerung, welche wutentbrannt die zur Verfugung stehenden Waffen ergreifen, um den französischen Invasoren entgegenzutreten. Auf wessen Seite Goya steht, vermeint man auf den ersten Blick festzustellen, da die Partisanen mit viel aufwendigeren graphischen Mitteln gestaltet sind und eine dramatischere Bewegungskonfiguration bieten. So erhält die Drehbewegung des vorderen Partisanen in den Schraffuren seines linken Beins einen formalen Nachhall ebenso wie die Schnelligkeit, mit der der rechte Partisan seinen Ausfallschritt vollzieht, welche durch die Parallelschraffur seiner Hose optisch hervorgehoben wird. Die französischen Soldaten gestaltet Goya dahingegen wesentlich monotoner, als gesichtslos-uniformer und uniformierter Block. In einer strengen Reihung formiert, scheinen
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„Reglamento de Partidas y Cuadrillas" oder „Corso Terrestre" vom 17. April 1809; vgl. Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen. Berlin 1975, S. 47. Zum Begriff der „Hegung" des Krieges durch die Völkerrechtsordung vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Köln 1950, S. 112. Die von mir verwendete Begrifflichkeit in der Charakterisierung des Partisanen geht zurück auf Schmitt [wie Anm. 9], Gerade der von Schmitt herausgearbeitete Idealtypus, der sich nicht zwangsläufig mit der realen historischen Komplexität deckt, weist starke Parallelen mit dem Bild des Partisanen auf, wie es Goya kreiert und möglicherweise der Selbstwahmehmung seiner Zeitgenossen entspricht. Zum Idealtypus des Partisanen bei Schmitt vgl. Marcus Llanque: Ein Träger des Politischen nach dem Ende der Staatlichkeit. In: Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt. Hg. von Herfried Münkler. Opladen 1990, S. 61-80. Zur historischen Genese des Partisanen: Herfried Münkler: Die Gestalt des Partisanen. Herkunft und Zukunft. In: ebda., S. 14-41. Eine präzise Charakterisierung dieser Prizipien findet sich bei Herfried Münkler: Der Partisan. Politische Theorie und historische Gestalt. In: ders.: Gewalt und Ordnung. Frankfurt a. M. 1992, S. 111-126.
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die graduell geneigten Oberkörper einem übergeordneten, maschinenhaften Takt zu folgen, der einem strikt vorgegebenen Reglement gehorcht. Nicht von ungefähr spielt Goya in der Reihung der Soldaten auf eine der Ikonen der französischen Revolution an, den „Schwur der Horazier" Jacques-Louis Davids.12 Kein anderes Gemälde schuf eine solcherart einprägsame und künstlerisch hochrangige Idealisierung des zeitgenössischen militärreformerischen Ideenguts sowie der rigiden körperlichen Disziplinierungsmechanismen des Exerzierplatzes.13 Der Titel des Blatts scheint sich demnach nicht allein auf die fragliche Rechtmäßigkeit der hier gezeigten Gewaltausübung zu beziehen, sondern ebenfalls auf die strategische Differenz der beiden charakterisierten Formen von Kriegführung. „Con razón" steht dabei für die rationelle, nach präzise eingeübten Regeln funktionierende Armee der Franzosen. „Sin ella" kämpfen dagegen die spanischen Partisanen, mit unüblichen, zusammengesuchten Waffen, ohne System, bar jeglichen Reglements, aus sich heraus und - wie sich auf den zweiten Blick erst offenbart - bisweilen auch gegeneinander. Das winzige Messer, das als kleine weiße Spitze gegen den dunkeln Arm des Partisanen absticht, steht in der direkten Konfrontation mit der Übermacht der Gewehre und ihren aufgepflanzten Bajonetten symbolisch für die Asymmetrie der Konfliktsituation. Doch auch wenn man den beiden Spaniern keine realistische Chance in dieser Auseinandersetzung zugestehen würde, versieht Goya die Kämpfer kompositorisch mit einer unübersehbaren Sprengkraft. Von eben jenem Messer und dem zurückgesetzten Bein des vorderen Partisanen gehen zwei Kompositionslinien aus, die im Winkel der französischen Gewehre zusammenlaufen. Der Bewegungsimpuls des Partisanen wird damit zum Ausgangspunkt einer spitzen Keilform, die frontal in die Gruppe der Franzosen vorstößt und den dichten Block der Soldaten optisch zu brechen droht. Die waffentechnische Unterlegenheit wird von Goya mit kompositorischen Mitteln in ihr Gegenteil verkehrt.14 Vielleicht mag Goya den Erfolg der Guerrillataktik geahnt haben, auch wenn diese ohne den Beistand der regulären Armee unter Führung Wellingtons und ohne die umfangreichen britischen Waffenlieferung zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Der erstaunlichste Erfolg der Partisanen war aber ihre hohe Popularität. Scharenweise desertierten junge Spanier aus der eigenen Armee, um sich als Fahnenflüchtige den „partidas" anzuschließen.15 Vom Reglement der Armee verdrossen, genossen sie als Guerillakämpfer eine ungeahnte Freiheit in den Möglichkeiten ihrer Gewaltanwendung. Der Partisan agierte aus dem Hinterhalt, spontan und flexibel. Im Unterschied zum regulären Soldaten kämpfte er vor Ort für die
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Öl auf Leinwand (1784-85); 330 χ 425 cm; Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 3692. Zur Inversion des Horazier-Motivs: Albert Boime: Art in an Age of Bonapartism. 1800-1815. Chicago/London 1990, S. 21 Off. Zur Übertragung des militärischen in einen ästhetischen Code bei David vgl. die bahnbrechende Studie von Elmar Stolpe: Klassizismus und Krieg. Über den Historienmaler Jacques-Loius David. Frankfurt a. M . / N e w York 1985. Goya erreicht hier mit kompositorischen Mitteln, was er in seinem Gemälde „Tres de Mayo" von 1814 (Madrid, Prado) ikonographisch durch die christusähnliche Geste der Erschießungsopfer versucht. Zu Mythos und historischer Realität des Partisanen in Spanien vgl. Caries J. Esdaile: The Wars of Napoleon. London / New York 1995, S. 108-142 sowie ders.: Heroes or Villains? The spanish guerrillas and the peninsular war. In: History Today XXXVIII/4 (1988), S. 29-35 und G. Lovett: The Spanish Guerrillas and Napoleon. In: Consortium on Revolutionary Europe Proceedings 4 (1975), S. 80-90.
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Verteidigung seines Dorfes und nicht auf entlegenen Schlachtfeldern fur das Abstraktum der Nation. Mit der Auflösung der Regularität des Krieges ging die Zerstörung sozialer Strukturen sowie der öffentlichen Ordnung einher, die Terror, Unsicherheit, Angst und Mißtrauen allgegenwärtig werden ließ. Als vagabundierende Banden waren die Partisanen ebenso gefurchtet. Nach Wellington gehorchten sie keinem Gesetz, verachteten jegliche Autorität, fühlten keine Dankbarkeit fur Gaben oder Geschenke und hatten immer ihr Messer oder Gewehr bei der Hand, um zu töten.16 Ein näherer Blick auf die Physiognomien der von Goya gezeigten Kämpfer läßt auch in diesen Gesichtern etwas von der ambivalenten Rolle der gefurchtet-beliebten Partisanen erkennen. Goyas Partisanen sind nun wahrlich nicht als vernunftbegabte Zeitgenossen dargestellt. Die Augen weit aufgerissen, Blut aus dem offen Mund quellend, sind sie von Haß derart besessen, daß die Grenze zum Wahnsinn längst überschritten scheint. Auch in dieser Hinsicht kämpfen die Spanier „sin razon". Von einer uneingeschränkten Parteinahme Goyas für die Sache der Partisanen kann kaum die Rede sein. Dennoch bleibt eine auffällige Disproportionalität in der graphischen Aufmerksamkeit, die Goya den beiden feindlichen Parteien zukommen läßt. Erschrocken und fasziniert zugleich, bietet die Darstellung der Partisanen ihm das künstlerisch reizvollere Motiv.
III. Krieg als „Capricho" In goldgefaßten Lettern ziert das Wort „CAPRICHO" das einzige zu Goyas Lebzeiten gebundene Exemplar seiner Kriegsgraphiken, das er seinem Freund, dem Kunsthistoriker Céan Bermudez überließ.17 Die Serie von radierten Kriegsgreueln bekam damit einen Titel zugewiesen, der nicht nur für eine spezifische graphische Gattung, sondern vielmehr für ein Kunstprinzip steht. „Capriccio" - zu übersetzen als „Einfall" oder „Laune" - bezeichnet seit dem frühen 17. Jahrhundert einen künstlerischen Freiraum der Gestaltung, der sich bewußt einer klassischen Kunstordnung entzog.18 In Goyas Oeuvre erreichte diese Gattung einen letzten Höhepunkt und ihr Ende. Der spanische Künstler sprengte die in den Gattungshierarchien angelegte Dialektik von Regel und Verstoß und räumte der im Capriccio geforderten Freisetzung künstlerischer Subjektivität das uneingeschränkte Primat ein. Auch der ausfuhrlichere Titel der Kriegsserie „Fatale Konsequenzen des blutigen Krieges in Spanien gegen Bonaparte. Und andere emphatische Caprichos" enthält die Gattungs-
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David G. Chandler: The Coordination of Regular and Irregular Warfare in the Peninsular War or Wellington and the Guerrillas (Vortrag auf dem XII. International Colloquium on military History 1987 - unveröffentlichtes Manuskript). Das Exemplar ist Bestandteil der Tomás Harris Collection und befindet sich heute im British Museum (Inv. Nr. 1975-10-25-421). Juliet Wilson-Bareau: Goya's Prints. The Tomás Harris Collection in the British Museum. London 1981, S. 44. - Abb. 43 zeigt den Umschlag. Das Capriccio als Kunstprinzip. Hg. von Ekkehard Mai. Kat. Mailand 1996, hier v.a. Werner Busch: Die graphische Gattung Capriccio - der letztlich vergebliche Versuch, die Phantasie zu kontrollieren, S. 55-81.
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bezeichnung „Capriccio". Diese bezieht sich nicht, wie bisher angenommen, allein auf ein kleinen Teil späterer Motive der Serie. Der Nachsatz „und andere emphatische Caprichos" ist vielmehr im Sinne von „und weitere" zu lesen.19 Damit bezöge er sich auf die gesamte Folge der Radierungen. Und in der Tat gibt es eine Tradition graphischer Capriccios kriegerischen Inhalts,20 die wohl kaum zufällig nahezu ausnahmslos während des von vergleichbaren Ausbrüchen irregulärer Gewalt gekennzeichneten Dreißigjährigen Krieges entstanden. Der Terminus „Capricho" bezeichnet im Zusammenhang mit dem hier dargestellten Inhalt wohl weniger „Launen" oder „witzige Einfalle" als ein ästhetisches Produktionsprinzip, das die autonome Erfindungskraft des Künstlers gegen eine zu Regeln erstarrte akademische Tradition zu setzen sucht.21 Als Goya 1792 von der Academia de San Fernando in Madrid um ein Gutachten in Bezug auf die Reform der Künstlerausbildung gebeten wurde, fiel seine Antwort unerwartet harsch aus. Unverblümt rechnet der Künstler mit der Akademie und ihren „mechanischen Vorschriften" ab, die seiner Meinung nach nichts anderes als „sklavische Unterwürfigkeit" produzieren würden.22 Man solle die Schüler nicht zwingen, Perspektive zu erlernen oder die immer gleichen griechischen Skulpturen nachzuzeichnen. In der Malerei gebe es keine Regeln, daher gebe es seiner Meinung nach auch kein wirksameres Mittel, die Künste zu fördern, als den Genius der Schüler sich in voller Freiheit entfalten zu lassen, ohne ihn zu unterdrücken. Für seine eigene künstlerische Tätigkeit hieß dies eine teilweise Abkehr von Auftragswerken, so schreibt Goya in einem berühmten Brief an seinen Dichter-Freund Iriarte, da „Auftragswerke keine Gelegenheit bieten, da in ihnen Laune (capricho) und Erfindung (invención) sich nicht verbreiten können."23 Die kleinen Kabinettbilder, die Goya im selben Brief als erste Resultate dieser freien Phantasieausübung benennt und die damit paradigmatisch für seine neue Kunstauffassung stehen können, behandeln nicht irgendwelche Themen. Die als Ideal beschworenen „capricho" und „invención" meint Goya am besten in Motiven, wie Raubüberfall, Schiffsuntergang, Gefängnis und Irrenhaus gestalten zu können.24 Die Auseinandersetzung zwischen akademischer Tradition und künstlerischer Erfindungskraft fuhrt Goya auch in der Serie der Desastres. Und zwar ausgerechnet in einem der brutalsten Blätter der Serie. Im Blatt 37 „Esto es peor" (Dies ist schlimmer) sehen wir die Rückenansicht eines gepfählten Mannes [Abb. 4], Tief bohrt sich der spitze Ast eines Baumes vom Gesäß bis hin zur Schulter durch den Körper dieser Gestalt. Diese machtvolle anale Penetration weist auf den kulturell denkbar schlimmsten Verlust männlicher Würde hin.
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Ich folge hier André Stoll: Die Barbarei der Moderne. Zur ästhetischen Figuration des Grauens durch Goya und Daumier. In: Die Rückkehr der Barbaren. Europäer und ,Wilde' in der Karikatur Honoré Daumiers. Kat. Bielefeld. Hamburg 1985, S. 27-51. Busch [wie Anm.18], S. 65ff. und S. 360ff. Zum spanischen Begriff des „capricho" vgl. Werner Hofmann: Unending Shipwreck. In: Goya. Truth and Fantasy. The Small Paintings. Kat. London 1994, S. 48ff. Zit. n. Jutta Held: Goyas Akademiekritik. In: Münchener Jahrbuch der Bildenden Kunst (1966), S. 214-224, hier S. 215. Zit. n. Busch [wie Anm. 5], S. 60. Vgl. Goya [wie Anm. 21 ], S. 48ff.
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Gezeigt wird die Demontage eines männlich imaginierten Heldentums durch das In-Fragestellen der entsprechenden sexuellen Identität.25 Wieder bildet Goya kein konkret gesehenes Kriegserlebnis ab, sondern schöpft bei der Gestaltfindung aus dem Fundus seines kunsthistorischen Bildgedächtnisses. Im gedrehten Körper des Gepfählten zitiert er eines der berühmtesten antiken Statuenfragmente, den Torso vom Belvedere [Abb. 5].26 Diese Skulptur galt zu Goyas Zeit als das Sinnbild künstlerischer Tätigkeit schlechthin.27 Allegorien der Kunst erkannte man wie selbstverständlich an einem beigefugten Modell dieser Statue, und auch in der Künstlerausbildung kam kein Schüler umhin, nach dem Torso vom Belvedere zu arbeiten - Goya selbst hat ihn in jungen Jahren auf einer Romreise gleich mehrfach gezeichnet.28 In seiner Graphik schafft Goya einen gänzlich neuartigen Blick auf den Torso, indem er die Verstümmelung des berühmten Mamorfragments als reale körperliche Verletzung inszeniert; er verlebendigt die Skulptur, indem er ihr Kopf und Beine anfügt, nicht ohne ihr Bild im gleichen Moment als ein in brutalster Weise Geschändetes zu zeigen. Der Gegensatz zwischen dem Kunstprinzip der imitatio und dem der „invención" bzw. des „capricho" könnte kaum deutlicher auf den Punkt gebracht werden. Das anerkannte Idealbild jener an der Nachahmung der Antike orientierten Kunstauffassung erscheint aufgespießt und auf gewaltsamste Art erniedrigt.29 Es bleibt zu fragen, was diese kunsttheoretische Auseinandersetzung inmitten der Schilderung des spanischen Partisanenkampfes zu suchen hat. Die Affinitäten zwischen der neuartigen Kriegführung des Partisanenkampfes „fuera las reglas" und seiner eigenen capriccesken Ästhetik, die keinerlei Regeln mehr akzeptiert („no hay reglas")30 werden Goya nicht entgangen sein. Und es gibt zumindest einen strukturellen, wenn auch nicht kausalen Zusammenhang zwischen Goyas Versuch, den in der Gattung des Capriccio geschaffenen Freiraum des Irregulären und der Invention auf alle Gebiete der Kunst auszuweiten, zu der Irregularität des Partisanenkrieges und dessen absoluter Freisetzung destruktiver Phantasie. 25 26
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Gerlinde Volland: Männermacht und Frauenopfer. Sexualität und Gewalt bei Goya. Berlin 1994. Zur geschlechtsspezifischen Konzeption des Opfers in den Desastres, v.a. Kapitel 4.3, S. 166-177. Auf dieses Zitat machte zuerst Hans Holländer 1989 aufmerksam; wiederabgedruckt in: ders.: Die Disparates und die Giganten. Goyas Phantasiestücke. Tübingen 1995, S. 121-123. Das erst 1994 aufgetauchte sogenannte „italienische Skizzenbuch" Goyas [s. Anm. 28], das eine bewusste Bezugnahme nahe legt, konnte er noch nicht kennen. Vgl. die Gegenüberstellung bei Stoichita / Coderch [wie Anm. 6], S. 94f. Der Torso. Ruhm und Rätsel. Hg. von Raimund Wünsche. Kat. München 1998. Vergleichbare kunsttheoretische Implikationen des Torso-Zitats im Wandbild des „Saturn" diskutiert Sabine Poeschel: II Saturno di Goya come critica all'accademismo. Un paragone inaspettato. In: Storia dell'arte 91 (1997), S. 432-446. „Italienisches Skizzenbuch" , Madrid, Museo del Prado; folio. 26 verso, 27 recto und 61 recto, abgebildet in: Goya [wie Anm. 21], Fig. 66, S. 96. S. a. den Reprint des Skizzenbuchs: Goya. El cuaderno italiano. 1770-1778: Los orígenes del arte de Goya. Madrid 1994. Dieser innerbildliche Angriff gilt wohl mehr Antikenparaphrasen des Neoklassizismus als der antiken Skulptur selbst, deren Vorbildcharakter Goya hier auf eigene Weise zu reaktivieren sucht. Diese letztlich positive Bezugnahme auf den Torso findet sich auch in Goyas Aquatinta des sitzenden Giganten (Berlin, Kupferstichkabinett), mit der der Autor sich im Rahmen seines Dissertationsvohabens zum Thema „Antikenrezeption und Militäireform. Strategien künstlerischer Visualisierung kollektiver Gewalt am Beispiel von Schadow, David und Goya" beschäftigt. Zit. n. Held [wie Anm. 22], S. 214.
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Vielleicht war Goya gerade deshalb als einziger unter seinen zeitgenössischen Künstlerkollegen dazu befähigt, den epochalen Bruch, den der Partisanenkrieg bedeutete, in all seinen Facetten zu charakterisieren, weil seine eigene capricceske Ästhetik schon Jahre zuvor den jenseits aller traditionellen Konventionen liegenden Freiraum des Irregulären für sich erobert hatte, in den ihm nun die Realität des Partisanen mit erschreckender Vehemenz folgte. Daß Goyas Kriegsserie erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht werden konnte, zeigt, wie weit entfernt von der zeitgenössischen Verständnisfähigkeit er an diesem Ort der künstlerischen Freiheit war. Die Analyse des Blattes 17 aus der Folge der Desastres hat gezeigt, wie Goya souverän gegen Konvention und Regeln künstlerischer Tradition verstößt. Das System des Schlachtfeldes als klar umgrenztem Raum gewaltsamer Auseinandersetzung, der dem Reglement von Befehl und Gehorsam unterstellt ist, löst sich hier in die Weite des Raumes auf. Der Befehlsgestus des Offiziers als markantestes Relikt der herkömmlichen symbolischen Ordnung des Schlachtfeldes weist dabei geradewegs in das Nichts einer unbearbeitet belassenen Partie der Druckplatte. Goya beraubt diesen Gestus nicht allein seiner Ordnung stiftenden Macht, sondern konterkariert ihn zusätzlich mit dem freien Formenspiel der Phantasie, wie es in den Schattenfiguren der Wolken zum Ausdruck kommt. Hat man den gestalterischtechnischen Prozeß der Radierung im Kopf, bei dem die „Verletzungen" der Plattenoberfläche die Grundlage der später im Druckbild erscheinenden Gestaltung bilden, so erhält der im Zentrum des Blattes hochgereckte Degen des Offiziers plötzlich Ähnlichkeit mit der Radiernadel des Künstlers. Fast könnte man denken, es sei dieser selbst gewesen, der soeben die Schraffuren der Schattenbilder in den frei gebliebenen Teil der Kupferplatte geritzt habe. Die Geste der Ordnung stiftenden Macht läuft ins Leere, die formbildende Kraft der künstlerischen Freiheit trägt den Sieg davon. Es ist die freie Ausübung der Phantasie und nicht das Regelwerk der Konvention, das an der Schwelle zwischen Gestaltung und Leere die neue Form hervortreten läßt. Man meint, aus den konturlosen Gestaltfetzen der Wolken eine Paraphrase des Pferdekopfes herauszulesen oder dahinter heranstürmende Figuren wahrzunehmen. Diese kunstvollen Zerrbilder der Phantasie läßt Goya gegen den rechten unteren Bildrand nahezu bruchlos in die Schattenrisse kämpfender Figuren übergehen, deren Körper er ebenso konturlos mit Hilfe paralleler Strichlagen aus dem Leerraum der Platte herausarbeitet. Ausgerechnet an diesem Punkt scheint das Prinzip des Partisanen noch einmal eine motivische Verdichtung zu erfahren. Indem sich das Karussell ihrer Bewegung um einen kopfüber zum Betrachter gekippten Soldaten dreht, von dem nicht mehr als seine Uniform zu erkennen ist, scheinen die Degenhiebe der nur chimärenhaft am Horizont auftauchenden Kämpfer vor allem dieser Uniformierung als dem Sinnbild jedes regulären Kombattanten zu gelten. Verfolgt man schließlich die Formentwicklung entlang des ungestaltet belassenen Plattenteilstücks, so quillt dieses Sinnbild partisanenhafter Gewaltausübung in einer direkten Linie aus dem freien Formspiel künstlerischer Phantasie, wie sie sich im Spiel der Wolken abzeichnen, hervor. Anders formuliert: Der Geist der Graphik gebiert die Idee des Partisanen.31
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Wie schon im Titel des Kleist-Buchs von Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Freiburg im Breisgau 1987, ist die Geburtsmetapher hier nicht in einem exakt chronologischen, sondern einem genealogischen Sinne gemeint.
Abb.l·. Francisco Goya: Desastres 17 „No se convienen", nach 1810, Radierung (Foto: Archiv des Autors).
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Abb. 2: Manufaktur des Charles Mité (Nancy) nach Jean-Baptiste Martin u. a.: Karl von Lothringen in der Schlacht am Kahlenberg bei Wien. 1709-1718, Tapisserie, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, Wien (Foto aus: Stefan Germer u. a.: Bilder der Macht. München/Berlin 1997, S. 169).
Abb. 3: Francisco Goya: Desastres 2 „Con razón ó sin ella", nach 1810, Radierung (Foto: Archiv des Autors).
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Abb. 4\ Francisco Goya· Desastres 37 „Esto es peor", nach 1810, Radierung (Foto: Archiv des Au-
Abb. 5: Francisco Goya: Zeichnung nach dem Torso vom Belvedere, italienisches Skizzenbuch (1770-1778); (Foto aus: Goya. El quaderno italiano, Madrid 1994 [Facsimile]).
HERFRIED MÜNKLER
Clausewitz' Beschreibung und Analyse einer Schlacht: Borodino als Beispiel1
I.
Wer ist der Sieger? In dieser Lage sahen wir der Schlacht zu, und es ist mir immer merkwürdig geblieben wie sie nach und nach den Charakter der Ermüdung und Erschöpfung annahm. Die Infanterie Massen waren so zusammengeschmolzen, daß vielleicht kein Drittheil der ursprünglichen Massen mehr im Gefecht war; die übrigen waren todt, verwundet, brachten Verwundete zurük öder sammelten sich hinten; kurz es waren überall weite Leeren entstanden. Die ungeheure Artillerie die von beiden Zeiten [sie!] über 600 Kanonen ins Gefecht gebracht hatte, ließ sich nur in einzelnen Schüssen noch hören, und selbst diese Schüsse schienen nicht mehr den ursprünglichen donnernden kräftigen Ton zu haben sondern ganz matt und heiser zu klingen. Die Kavallerie hatte fast überall die Plätze und die Stellen der Infanterie eingenommen und machte ihre Anfälle in einem müden Trab indem sie sich hin und her trieb und sich wechselweise Schanzen abjagte. Nachmittags um 3 Uhr ungefähr sah man, daß die Schlacht in den letzten Zügen lag und daß also, wie meistens, die Entscheidung der ganzen Frage noch davon abhänge wer noch den letzten Trumpf in der Hand, die stärksten Reserven zurückbehalten habe.2
Clausewitz' Beschreibung der Schlacht von Borodino, wo sich am 7. September 1812 (nach dem julianischen Kalender der Russen am 26. August) die russische Armee unter General Michail Illarionowitsch Kutusow dem Vormarsch der Grande Armée Napoleons auf Moskau entgegenstellte, ist ein Meisterstück der Schlachtbeschreibung. Die ungeheuren Verlu1 Für Hinweise und Anregungen danke ich Marcus Llanque, Steffen Marius und Andreas Herberg-Rothe. 2 Carl von Clausewitz: Feldzug von 1812 in Rußland. In: ders.: Schriften - Aufsätze - Studien - Briefe. Hg. v. Wemer Hahlweg. II. Bd. 2. Teilband. Göttingen 1990, S. 850f.; zur Bedeutung des Rußlandfeldzugs für Clausewitz' intellektuelle Entwicklung eingehend Peter Paret: Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit. Bonn 1993, S. 273ff. sowie Wilhelm von Schramm: Clausewitz. Leben und Werk. Esslingen 1976, S. 343-401.
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ste, die beide Seiten an diesem Tag erlitten - etwa 80 000 Gefallene und Verwundete - , werden aus den wenigen Zeilen ebenso deutlich wie der Umstand, daß beide Seiten, Kutusow wie Napoleon, nach der Schlacht glaubten, den Sieg für sich in Anspruch nehmen zu können. „Unsere Batterien wurden eingenommen, wiedererobert, aber am Ende hatte der Feind keinen Fußbreit an Boden gewonnen", schrieb Kutusow an seinen Zaren,3 und Napoleon berichtete am Tag danach an seine Frau Marie-Louise: Ich habe gestern die Russen geschlagen; ihre ganze Armee in einer Stärke von 120 000 Mann war hier. Die Schlacht war heiß. Um zwei Uhr nachmittags war der Sieg unser. Ich habe ihnen mehrere Tausend Gefangene und sechzig Geschütze abgenommen. Ihre Verluste lassen sich auf 30 000 Mann schätzen. Ich selbst habe viele Tote und Verwundete. Ich bin bei guter Gesundheit, das Wetter ist etwas kühl.4 Es sind immer wieder solche auf wenige Sätze komprimierte Berichte von Seiten beteiligter Heerführer gewesen, durch die die Erinnerung an große Schlachten im kollektiven Gedächtnis viel stärker geprägt worden ist als durch die umfänglichen Schlachtbeschreibungen in der offiziellen Kriegshistoriographie - von Wellingtons „Unser Plan ist ganz einfach: die Preußen oder die Nacht. Aushalten bis auf den letzten Mann!" 5 am frühen Nachmittag der
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Zit. nach Nigel Nicolson: Napoleon in Rußland. Zürich / Köln 1987, S. 115.
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Zit. nach Nicolson [wie Anm. 3], S. 115. Bemerkungen zum Gesundheitszustand des Kaisers
sind ein
Topos napoleonischer Schlachtbeschreibungen. S o endet das 29. Bulletin der Grande Armée, das über deren furchtbare Verluste während des Rückzugs von Moskau berichtet, mit der berühmten Wendung: „Die Gesundheit Sr. Majestät war nie besser" (zit. nach Eckart Kleßmann / Karl-Heinz Jürgens: Napoleon. Lebensbilder. Bergisch Gladbach 1988, S. 100). Auch Blüchers (durch seine eigenwillige Rechtschreibung bekannter) B r i e f an seine Frau nach der Schlacht an der Katzbach endet mit einem B l i c k auf das Wetter und den eigenen Gesundheitszustand: „heute wahr der T a g den ich so sehnlich gewünscht habe, wir haben den Feind völlig geschlagen, ville Kanonen erobert und gefangene gemagt, morgen denke ich noch ville Gefangene zu machen, da ich den Feind mit meiner gantzen Cavallerie verfollge, es war den ganzen T a g ein Regen so daß ich nicht einen trockenen Bissen behillte, gesund bin ich auch meine umgebung [...] gott mit dich in Eill, und mühde und matt. B l ü c h e r " (zit. nach 1 8 1 3 - 1 8 1 5 . D i e deutschen Befreiungskriege in zeitgenössischer Schilderung. Mit einer Einführung hg. von Fr. Schulze. Leipzig 1912, S. 124f. 5
Zit. nach 1 8 1 3 - 1 8 1 5 [wie Anm. 4 ] , S. 3 0 1 ; Wellingtons Äußerung ist in verschiedenen Varianten überliefert, u.a. auch der sehr viel dramatischeren: „Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen k ä m e n ! " Die oben zitierte bezüglich des Schlachtplans bezieht sich auf Blüchers Zusage vom Vortag der Schlacht, zumindest zwei seiner Korps in Richtung Waterloo in Marsch zu setzen, um Napoleons Angriffe abzuwehren oder ihn am darauffolgenden Tag selbst anzugreifen. Blüchers IV. Korps ( B ü l o w ) hatte seit dem späten Vormittag Kontakt mit Napoleons rechtem Flügel und umgehend mit dem Angriff begonnen. Napoleon hatte infolgedessen seinen rechten Flügel verstärken und dem Zentrum Reserven entziehen müssen. Dennoch war es Marschall Ney am späten Nachmittag gelungen, Wellingtons linken Flügel schwer zu erschüttern. In dieser Situation, a u f dem Höhepunkt der .Krise der Schlacht', wie die Kriegsgeschichtsschreibung dies nennt, soll Wellington den berühmten Ausspruch, er wollte, es werde Nacht oder die Preußen kämen, getan haben. Das bezog sich nicht mehr a u f die Preußen insgesamt, die mit zwei Korps längst im Gefecht standen, sondern auf das I. Korps (Ziethen), das als letztes eintraf und aufgrund unklarer Dispositionen erst verspätet zur Stützung von Wellingtons schwer erschüttertem Flügel eingreifen konnte. Das war dann aufgrund des entschlossenen Eingreifens von General Müffling, Blüchers Verbindungsoffizier bei Wellington, gegen 18 Uhr der Fall, und damit war die Schlacht endgültig zugunsten
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Schlacht von Waterloo bis zu Ferdinand Fochs legendärem Funkspruch auf dem Höhepunkt der Marneschlacht: „Mein Zentrum gibt nach, mein rechter Flügel ist auf dem Rückzug. Lage hervorragend. Ich greife an."6 Selbstverständlich sind die Briefe Kutusows wie Napoleons ebenfalls Schlachtbeschreibungen, wenngleich weniger am Verlauf des Kampfgeschehens selbst orientiert, als vielmehr in Summe dessen Ergebnisse zusammenfassend - wobei sich Napoleon übrigens getäuscht hat: Nicht mehrere Tausend, sondern nur 700 Gefangene hatte die Grande Armée gemacht, und ihm waren auch nicht um die sechzig, sondern nur zwanzig Geschütze in die Hände gefallen, und die waren allesamt zerstört. Beides war von größter Bedeutung hinsichtlich der Beurteilung der Schlacht und der Beantwortung der Frage, was der Sieg auf dem Schlachtfeld für den weiteren Fortgang des Krieges bedeutete. Doch auch Kutusow hatte sich getäuscht, als er in seiner offiziellen Depesche nach Sankt Petersburg von „der Niederlage Bonapartes in einer großen Schlacht" berichtete.7 Zwar hatten sich die Russen am Tag der Schlacht knapp behauptet, aber ihre Positionen waren schwer erschüttert, die Frontlinie war überdehnt, die Munition knapp und der Proviant verzehrt, so daß Kutusow gar nichts anderes übrigblieb, als sich weiter zurückzuziehen. Dieser Rückzug erfolgte jedoch in geordneter Form und ohne Zurücklassung von Material und Menschen, was die typischen Begleiterscheinungen einer Niederlage sind, durch die diese für den Kriegsverlauf in der Regel erst folgenreich wird. In Clausewitz' Bericht liest sich dies wie folgt: Die Russische Armee zog sich in der Nacht vom 7ten auf den 8ten September zurük und zwar wie wir schon gesagt haben auf einer Straße in vier neben einander marschirenden Colonnen. Sie ging nur eine Meile weit nehmlich bis hinter Moschaisk, welches hinreichend beweist, daß sie in einer Ordnung und Schlachtfertigkeit war, die nach einer verlohraen Schlacht nicht gewöhnlich ist, auch kann der Verfasser versichern, daß ihm keine Spur der Auflösung vorgekommen ist welche von einem sonst sehr unparteiischen französischen Schriftsteller behauptet worden ist. Die Zahl der Gefangenen mag einige Tausend, die Zahl der verlohrnen Geschütze zwischen 20 und 30 betragen haben. Die Trophäen waren also nicht bedeutend.8
der Alliierten entschieden (zum Schlachtverlauf detailliert David G. Chandler: The Campaigns of Napoleon. London 1967, S. 1064-1093). 6 Zit. nach John Keegan: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 177. 7 Zit. nach Nicolson [wie Anm. 3], S. 114. Zum Verlauf der Schlacht von Borodino aus der Perspektive der modernen Kriegsgeschichtsschreibung vgl. Chandler [wie Anm. 5], S. 790-807. 8 Clausewitz [wie Anm. 2], S. 856. Clausewitz' Urteil wird durch den Bericht Ségurs, der als einer der Adjutanten Napoleons an der Schlacht teilgenommen hat, weitgehend bestätigt: „Die französischen Soldaten, die einen richtigen Takt haben, sahen mit Befremden, daß der getöteten und verwundeten Feinde so viele, der Gefangenen so wenige, gar nur achthundert waren. Sie waren gewöhnt, die Größe des Erfolgs nach der Zahl der Gefangenen zu berechnen, denn durch die Toten wurde mehr der Mut der Besiegten als der Sieg selbst bekundet" (Philippe Paul Graf von Ségur: Napoleon und die Große Armee in Rußland. Hg. und eingel. von Peter Berglar. Birsfelden-Basel o. J., S. 175). Und: „Während dieser traurigen Musterung ließ der Kaiser die wenigen Gefangenen mehr als einmal zählen und alle Kanonen, die auf dem Schlachtfelde lagen, zusammenbringen, hoffend, daß sich ein tröstlicheres Resultat ergeben würde: al-
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Andererseits war es Napoleon gelungen, die Russen im Zentrum ihrer Front aus ihren wichtigsten Befestigungen, der sog. Großen Redoute und der langgestreckten Artilleriestellung der flèches, hinauszuwerfen und damit ihre Verteidigung aus den Angeln zu heben. Aber er hatte zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, als in einem kombinierten Infanterie- und Kavallerieangriff die Große Redoute gestürmt worden war, sich nicht entschließen können, die bislang zurückgehaltene kaiserliche Garde einzusetzen, um die russische Front in ihrem Zentrum zu zertrümmern und ihre Reste nach der in vielen vorangegangenen Schlachten bewährten Taktik der überholenden Verfolgung durch die Kavallerie zu vernichten. Als er dann am späten Nachmittag die Junge Garde einsetzen, die Alte Garde aber weiterhin zurückhalten wollte, hatte Murat entschieden dagegen protestiert: Die vorgesehenen Kräfte seien für die ihnen zugedachte Aufgabe zu schwach, der Zeitpunkt für den entscheidenden Stoß zu spät - und so war dieser Stoß schließlich unterblieben. Auf dem Schlachtfeld selbst hatte zweifellos Napoleon gesiegt, aber im Hinblick auf den Krieg hatte ihm der Sieg von Borodino wenig gebracht: Kutusows Armee war zwar geschwächt (sie hatte etwa die Hälfte ihres Bestandes verloren), aber nach wie vor handlungsfähig, und der entscheidende Sieg, der den Zaren zur Kapitulation zwingen sollte, war nicht gelungen. So war Borodino fur Napoleon ein taktischer Sieg, der strategisch einer Niederlage gleichkam - und zwar ganz in dem Sinne, wie Clausewitz später Taktik und Strategie voneinander unterschieden hat: Die Taktik bestehe darin, die „Gefechte in sich anzuordnen und zu führen", die Strategie hingegen darin, „sie unter sich zum Zwecke des Krieges zu verbinden". 9 Und so definiert er: „Es ist also nach unserer Einteilung die Taktik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges". 10 Clausewitz war am frühen Mittag zur Kavallerieabteilung des Generals Uwarow kommandiert worden, der mit einer überraschenden Attacke den Franzosen in die Flanke fallen und so den ständig wachsenden Druck auf das Zentrum der russischen Front vermindern sollte; aber der Angriff war mißlungen - Ségur spricht mit Blick auf Uwarows Attacke von einem „mehr lärmenden als gefährlichen Feind"' 1 - , Uwarow hatte sich zurückgezogen und, wie Clausewitz mit Unwillen vermerkte, in sicherem Abstand zum Kampfgeschehen nahe dem Dorf Borodino Position bezogen. Wenigstens hatte der im Frühjahr 1812 in russische Dienste übergewechselte Clausewitz von hier aus einen vorzüglichen Blick über das Kampfgeschehen. Was er von seiner Position aus sehen konnte, war vor allem jene Phase der Schlacht, in der Kutusow über keine größeren Reserven mehr verfügte, weswegen er sie auch nicht in die Schlacht werfen konnte, um sie zu seinen Gunsten zu entscheiden, während auf der anderen Seite Napoleon immer noch zögerte, seine bislang zurückgehaltene Garde einzusetzen, um nach der bewährten Manier von Austerlitz und Wagram durch einen massiven Stoß zurückgehaltener Reserven die Entscheidung herbeizufuhren. In der militärhistorischen Literatur ist über Napoleons Zaudern bei Borodino - eine fur die von ihm sonst
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lein, sieben- bis achthundert Gefangene und etwa zwanzig beschädigte Kanonen waren die einzigen Trophäen dieses unvollständigen Sieges" (ebd., S. 176). Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hg. von Werner Hahlweg. 19. Aufl. Bonn 1980, S. 270f. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 271; vgl. hierzu Herfried Münkler: Carl von Clausewitz. In: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Hg. von Iring Fetscher und Herfried Münkler. Bd. 4. München 1986, S. 9 2 103, hier S. 99. Ségur [wie Anm. 8], S. 169.
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praktizierte Art des Einsatzes der Kräfte gänzlich untypische Verhaltensweise12 - viel gerätselt worden, und dabei sind neben seinem bereits fortgeschrittenen Alter und den nervenaufreibenden Belastungen der zurückliegenden Jahre vor allem eine Blasenentzündung und eine schwere Erkältung, an denen er während der Tage der Schlacht von Borodino litt, als Erklärung angeführt worden.13 „Um 1810", so leitet Georges Lefebvre in seiner großen Napoleon-Biographie die Schilderung des Zusammenbruchs des Kaiserreichs ein, beginnt das Alter den Kaiser leicht zu zeichnen: Das Gesicht wird fett, der Teint grau, der Körper plump und dick. Gewisse Zeichen lassen darauf schließen, daß das Kaiserreich, maßlos ausgeweitet, wie es ist, von ihm einen übergroßen Kraftaufwand fordert [...]. Noch merklicher ist der Einfluß seiner Allmacht auf die moralische Physiognomie: das Selbstvertrauen schlägt in Starrsinn um: ,.Meine italienischen Völker kennen mich gut genug, um nicht vergessen zu dürfen, daß ich mehr im kleinen Finger weiß, als sie in allen ihren Köpfen zusammen." Der Pessimismus wird brutal: „Ich habe immer beobachtet, daß die anständigen Leute nichts taugen." Der Kult der Macht und des Erfolgs läßt ihn zynisch werden: „Es gibt nur ein Geheimnis, die Welt zu fuhren: stark sein; weil es in der Stärke keinen Irrtum und keine Illusionen gibt; das ist die nackte Wahrheit".14 Kann man den Schlachtverlauf von Borodino angemessen beschreiben, ohne auf Napoleons physische und moralische Konstitution einzugehen? Kaum. Ségur berichtet, in französischen Offizierskreisen sei nach der Schlacht von Borodino bemängelt worden, es habe „dieser Schlacht an Einheit" gefehlt „und der Sieg sei mehr ein Sieg der Soldaten als des Feldherrn".15 Clausewitz hat, auch wenn er in seiner Schilderung von Borodino auf Napoleons physisch-psychischen Zustand nicht unmittelbar eingeht, das Problem der gesundheitlichen Verfassung und der seelischen Befindlichkeit des Feldherrn zu einem zentralen Punkt seiner Kriegsanalysen gemacht, und so bemerkt er in Vom Kriege unter der Kapitelüberschrift „Der kriegerische Genius": Wenn wir nun einen Gesamtblick auf die vier Bestandteile werfen, aus denen die Atmosphäre zusammengesetzt ist, in welcher sich der Krieg bewegt, auf die Gefahr, die körperliche Anstrengung, die Ungewißheit und den Zufall, so wird es leicht begreiflich, daß eine große Kraft des Gemütes und des Verstandes erforderlich ist, um in diesem erschwerenden Element mit Sicherheit und Erfolg vorzuschreiten, eine
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Berühmt ist in diesem Zusammenhang die nach dem ersten italienischen Feldzug gemachte Bemerkung Napoleons: „Es gibt in Europa viele gute Generale, aber sie sehen zu viele Dinge auf einmal; ich sehe nur eins; das sind die Massen. Ich versuche, sie zu vernichten, sicher, daß die Nebensachen dann von selbst fallen werden" (zit. nach 1813-1815 [wie Anm. 4], S. 119). Eine Zusammenstellung von Schlachtentscheidungen, bei denen der Gesundheitszustand eines der beteiligten Feldherrn eine entscheidende Rolle spielte, findet sich bei Geoffrey Regan: Narren, Nulpen, Niedermacher. Militärische Blindgänger und ihre größten Schlachten. Aus dem Engl, von M. Haupt. Lüneburg 1998, S. 22ff. Georges Lefebvre: Napoleon. Autorisierte Übersetzung aus dem Franz., bearb. von Peter Schöttler. Stuttgart 1989, S. 406. Ségur [wie Anm. 8], S. 173.
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Herfried Münkler Kraft, die wir nach den verschiedenen Modifikationen, welche sie von den Umständen annimmt, als Energie, Festigkeit, Standhaftigkeit, Gemüts- und Charakterstärke in dem Munde der Erzähler und Berichterstatter kriegerischer Ereignisse finden. Man könnte alle diese Äußerungen der Heldennatur als eine und dieselbe Kraft des Willens betrachten, die sich nach den Umständen modifiziert; aber so nahe diese Dinge miteinander verwandt sind, so sind sie doch nicht ein und dasselbe, und es ist in unserem Interesse, das Spiel der Seelenkräfte dabei wenigstens um etwas genauer zu unterscheiden.16
Am Tag von Borodino scheint Napoleon das Spiel mit Ungewißheit und Zufall, das er früher so glänzend beherrscht hatte, gescheut zu haben. Es spricht manches dafür, daß Napoleon während der Schlacht von Borodino nicht auf der Höhe seiner taktischen Fähigkeiten war, daß er, um es mit Clausewitz zu formulieren, an diesem Tag nicht über die Kraft des Gemüts und des Verstandes verfugte, die ihn sonst auszeichnete, daß ihm insbesondere Energie und Gemütsstärke an diesem Tage abgingen,17 denn kaum eine seiner großen Schlachten hat er mit so wenig taktischer Kreativität und einer so geringen Ausnutzung der sich während des Kampfes ergebenden Möglichkeiten geführt wie Borodino: Seine Dispositionen drehten sich nur um eine einzige taktische Idee: den Gegner an seiner stärksten Stelle anzugreifen, ihn aus seinen Positionen zu werfen und seine Streitkräfte zu vernichten, um so den russischen Widerstandswillen zu brechen und den Krieg zu seinen Gunsten zu entscheiden. Auf dem Schlachtfeld von Borodino hat Napoleon die von ihm zuvor immer wieder mit durchschlagendem Erfolg praktizierte Strategie der Konzentration der Kräfte, das sog. Operieren auf der inneren Linie, auf eine Taktik der Kräftekonzentration reduziert: So hat er auf die aus seiner Sicht entscheidenden Punkte der russischen Stellungen, die Große Redoute und die flèches,Xi 45 000 Soldaten und 400 Geschütze konzentriert, und als gegen zwei Uhr die Redoute erobert war, war er davon überzeugt, die Schlacht sei zu seinen Gunsten entschieden. Vor allem die britische Militärgeschichtsschreibung, die dem napoleonischen Prinzip des Suchens der Entscheidungsschlacht anstelle eines langwierigen Manövrierens, der Massierung der Kräfte auf dem Schlachtfeld
16 Clausewitz [wie Anm. 9], S. 237f. 17 Als Napoleon Marschall Ney die von diesem geforderten Reserven verweigerte, mit denen er, nachdem er die russische Positionen beim Korps Bagration schwer erschüttert hatte, die russischen Hauptkräfte von der Flanke und im Rücken angreifen wollte, soll Ney gerufen haben: „ Sind wir denn darum so weit hergekommen, um uns mit einem Schlachtfeld zu begnügen? Was tut denn der Kaiser hinter der Armee? Dort kann er nichts recht beurteilen. Wenn er den Krieg nicht mehr selbst führen, nicht selbst General sein, überall nur den Kaiser machen will, so kehre er in die Tuilerien zurück und lasse uns fiir ihn das Kriegshandwerk treiben" (zit. nach Ségur [wie Anm. 8], S. 166). Und: „Murat sagte unverhohlen, er habe in dieser großen Schlacht das Genie Napoleons nicht mehr erkannt" (ebd., S. 173). 18 Die Große Redoute oder auch Rajewskischanze bildete das Zentrum der russischen Front; es handelte sich um einen mit Erdwerken befestigten Hügel; die auf ihn postierten Batterien beherrschten die Ebene und brachten einen französischen Angriff nach dem andern zum Scheitern. Bei den sog. flèches oder Bagrationsfleschen handelte es sich um eine drei kleinere Hügel verbindende Verschanzung, etwa eineinhalb Kilometer südlich der Rajewskischanze, die den Rückhalt lür das Korps von Bagration bildeten; vgl. Chandler [wie Anm. 5), S. 794ff.
Ciauserwitz ' Beschreibung
und Analyse
einer Schlacht:
Borodino
als
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und der Gefechtsführung nach der Doktrin der Vernichtung 1 9 ohnehin kritisch gegenübersteht, hat N a p o l e o n darob der Phantasielosigkeit geziehen. Im Gespräch mit s e i n e m langjährigen Adjutanten General Jean Rapp hat N a p o l e o n auf dessen am Vorabend der Schlacht gemachte Bemerkung hin, man sei aufgrund der strategischen Situation zu siegen g e z w u n gen und die Schlacht des kommenden Tages werde w o h l überaus blutig werden, noch einmal seinen Kriegsplan resümiert: „Ich weiß, aber ich habe 8 0 0 0 0 Mann. Ich werde 2 0 0 0 0 verlieren und mit 6 0 0 0 0 werde ich in Moskau einmarschieren. Dort werden die Nachzügler und die Reservebataillons aufschließen, und wir werden stärker sein als vor der Schlacht." U n d nach einer Pause fugte er hinzu: „Was ist der Krieg? Ein barbarisches Handwerk, dessen ganze Kunst darin besteht, an einem bestimmten Ort stärker zu sein." 2 0
II. Der Blick übers Schlachtfeld Es war also zunächst N a p o l e o n s einfaltslose Taktik, 21 die es Clausewitz erlaubte, v o n einem kleinen Hügel inmitten der sumpfigen Wiesen um Borodino aus das Schlachtgeschehen in seinen entscheidenden Phasen zu überblicken, 2 2 den Verbrauch der Kräfte zu beobachten,
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Vgl. hierzu Siegfried Fiedler: Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Revolutionskriege. Koblenz 1988, S. 174ff. In der Analyse der napoleonischen Strategie ist nach wie vor die von Hans Delbrück vorgenommene Gegenüberstellung von Ermattungs- und Niederwerfungsstrategie wichtig; Napoleon ist danach das Genie der Niederwerfungsstrategie; vgl. Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Bd. 4 (1920). Berlin / New York 2000, S. 550589. Zit. nach Nicolson [wie Anm. 3], S. 108. Im Unterschied hierzu war es Moltkes erfolgreiche Strategie, die den englischen Kriegsberichterstatter William Howard Russell am Tag der Schlacht von Königgrätz (bzw. Sadowa, wie sie in der österreichischen Kriegsgeschichte heißt) das Schlachtgeschehen bis in alle Einzelheiten hat überschauen lassen. Russell hatte sich auf einem hohen Turm unweit des Prager Tors von Königgrätz postiert und konnte von hier aus beobachten, wie die aus drei Richtungen konzentrisch auf die Stadt an der Elbe vorstoßenden Preußen die hier zusammengezogene österreichische Armee angriffen und die Schlacht am Nachmittag für sich entschieden. Russells Bericht folgt viel stärker als der von Clausewitz dem Hin und Her des Kampfgeschehens, Angriffen und Gegenangriffen, Vormarsch und Rückzug, während Clausewitz das Geschehen analytisch komprimiert (vgl. William Howard Russell: Meine sieben Kriege. Aus dem Engl, von Matthias Fienbork. Frankfurt/M. 2000, S. 263-283). Daß Russells guter Überblick vor allem an Moltkes Strategie - und nicht etwa allein an dem günstigen Platz auf dem Turm lag, zeigt sich vier Jahre später auf dem Schlachfeld von Sedan, wo Russell erneut das Geschehen gut zu übersehen vermochte. Moltkes strategische Devise des .Getrennt marschieren, vereint schlagen' erwies sich beide Male als ausgesprochen kriegsberichterstatterfreundlich. Clausewitz selbst hat in seinem Bericht über das Schlachtgeschehen freilich den Anspruch, alles mit eigenen Augen gesehen zu haben, relativiert, als er notierte: „Dieß so wie die eigentliche Lage beider Theile konnten wir nicht übersehen; die einzelnen Nachrichten welche uns zukamen waren nicht gerade beunruhigend, worüber der Verfasser sich indeß doch wunderte, da das Centrum offenbar schon etwas aus seinen Fugen gewichen war, woraus man auf den linken Flügel schließen konnte" (Clausewitz [wie Anm. 2], S. 851). Aber die von Clausewitz vorgenommene Einschränkung hinsichtlich des Gesehenen ist beschränkt auf die Frage, wer den letzten Trumpf besitze und wie exakt die Lage beider Seiten sei. Es handelt sich also nicht um eine Relativierung des Augenzeugenberichts, sondern der in ihn verwo-
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den er sukzessiv nach den Waffengattungen der Infanterie, Artillerie und Kavallerie geordnet hat, und schließlich festzuhalten, daß derjenige die Schlacht für sich entscheiden werde, der am Schluß die größeren Reserven ins Gefecht schicken könne. Daß diese auf der französischen Seite standen, hat Clausewitz von seinem Standort wohl sehen können: [...] die Russen fingen an die Sache mit anderen Augen anzusehen als am Morgen zwischen 8 und 9 Uhr. Sie merkten, daß nun erst das ganze Gewicht des Riesen auf sie zu lasten anfinge, und daß sie ihm doch wohl nicht gewachsen seyn würden. Die Corps von Bagovout und Ostermann welche den müßigen rechten Flügel gemacht hatten, waren bereits zur Unterstützung des linken und des Centrums verwendet, und auch die Garden hatten schon einen Theil ihrer Truppen ins Gefecht geschikt; die Reserve fing also an sehr klein zu werden, während die französischen Garden etwa 20,000 Mann in dichten Colonnen unbeweglich hielten wie eine schwarze Gewitterwolke. 23 Hätte Napoleon, wie von einigen seiner Marschälle angeraten, das Schlachtgeschehen stärker auf seinen rechten Flügel verlagert, wo die polnischen Verbände unter Marschall Poniatowski schon am frühen Morgen beträchtliche Erfolge erzielt hatten und gegen Utiza vorgerückt waren, so hätte der auf dem rechten russischen Flügel postierte Clausewitz den Verlauf der Schlacht kaum als Augenzeuge verfolgen können, sondern ihn sich aus dem, was an Kanonendonner und Schützenfeuer zu hören war, sowie anhand eintreffender Meldungen zusammenreimen müssen. Es wäre ihm dann so gegangen wie dem Philosophen Henrik Steffens, der 1813 dem Stabe Blüchers zugeteilt war und in dieser Rolle, auf den Kreckwitzer Höhen stehend, über die Schlacht bei Bautzen am 20./21. Mai 1813 berichtete: Der klare, helle Tag ließ uns das ganze weite Schlachtfeld übersehen. Bei Löbau und in der Umgegend sahen wir, obgleich in weiter Entfernung, den Kämpfen der Russen
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benen Schlußfolgerungen hinsichtlich des weiteren Fortgangs der Schlacht. Neben Tolstois berühmter Darstellung der Schlacht von Borodino in Krieg und Frieden hat auch Fontane in Vor dem Sturm die Schlacht von Borodino aus der Perspektive eines auf napoleonischer Seite kämpfenden Deutschen, des einem sächsischen Kürassierregiment angehörenden Herrn von Meerheimb geschildert. Auch diese Schilderung beginnt mit einem Blick über das Schlachtfeld: „Es war ein klarer Tag. Die Sonne, eben aufgegangen, hing wie eine rote Kugel über einem Waldstrich am Horizont und sah auf das kahle Plateau hinunter, das sich, halb Brache, halb Stoppelfeld, in bedeutender Tiefe, aber nur etwa in Breite einer halben Meile vor uns ausdehnte. [...] In tiefen Kolonnen stand der Feind, scheinbar endlos. Wir sahen weithin das Blitzen der Bajonette und in Front seiner Stellung, am Rande des Grundes hin, die dunklen Öffnungen seiner Geschütze" (Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 und 1813. München 1969, Bd. II., S. 375 [Kap. 47]). Clausewitz [wie Anm. 2], S. 849; Fontane, der Clausewitz' Bericht wohl kannte, läßt Herrn von Meerheimb berichten: „Aber schon begann es an den Kräften zu fehlen, wenigstens in der Front. Die Divisionen des Davoutschen Korps waren nur noch Schlacke, die des Neyschen nicht minder, [...] Der Sturmversuch war als gescheitert anzusehen, und in unserer ganzen Front, sowohl unmittelbar vor uns wie auch nach beiden Flügelpunkten hin, standen keine frischen Truppenkörper mehr, denen eine Wiederholung des Sturms zuzumuten gewesen wäre" (Fontane [wie Anm. 22], S. 376f.) Der Berichterstatter Meerheimb hatte nicht den Überblick, den Clausewitz besaß - daraus erwächst die unterschiedliche Beurteilung der Reserven.
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zu. Bautzen lag vor uns, aber hinter Hügeln versteckt, nur die Türme ragten hervor. Zwischen dieser Stadt und uns, an den Ufern der Spree, fanden die lebhaftesten Angriffe statt; aber diese waren uns verborgen, denn dieseits wie jenseits des Flusses erhoben sich die Hügel, nur hörten wir das Gewehrfeuer in großer Nähe.24 Da Steffens, wiewohl er, wie er ausdrücklich hervorhob, mit einem guten Fernglas versehen war, nur einzelne Gefechtsszenen zu erkennen vermochte - „Ich verlor mich ziemlich lange in die Betrachtung einzelner Gefechte; ich sah besonders nach Löbau hin die Russen mit dem Feind fechten; sah Kämpfende bald hier, bald da stürzen, die ringenden Massen von beiden Seiten bald vor- und zurückschreiten"25 - , diese aber nicht zu einem Gesamtbild des Schlachtverlaufs zusammenfugen konnte (schließlich war er Professor für Philosophie an der Universität Breslau und kein Stabsoffizier), versenkte er sich sehr bald in allgemeine Betrachtungen über den Zusammenhang zwischen Landschaft und Krieg: Wenn ich dann das Auge erhob, das ganze Schlachtfeld übersah, wie seltsam trat es mir entgegen! Wie verhängnisvoll erscheint überhaupt eine Landschaft während einer Schlacht! [...] Die Landschaft schien ihre ganze Physiognomie verändert zu haben; es ruhte ein tragischer Schleier auf allen Gegenständen, einen schicksalschwangeren Geist sah ich über Städten und Dörfern schweben. Es ist schwer, das Bild solcher Gegenden, wie sie uns erscheinen, wenn aus einem jeden Punkte die drohende Gefahr des Augenblicks uns entgegentritt, durch Worte klar zu machen.26 Wie anders dagegen liest sich die Schlachtbeschreibung von Clausewitz: Massen zusammengeschmolzen, Bewegungen verlangsamt; Reserven entscheidend. Das lag nicht nur daran, daß Clausewitz bei Borodino mit bloßem Auge mehr zu erkennen vermochte als Steffens bei Bautzen; die Differenz ist auch eine der kognitiven Verarbeitung der Informationen. Zunächst jedoch noch einmal zurück auf das Schlachtfeld von Borodino und zu Napoleons „einfallsloser" Taktik, die es Clausewitz ermöglichte, die entscheidenden Entwicklungen der Schlacht mit bloßem Auge zu sehen. Tatsächlich hatte Marschall Davout seinem Kaiser am Vorabend der Schlacht zu einer weitausholenden Umfassungsbewegung des rechten Flügels geraten, um den von Fürst Bagration kommandierten linken russischen Flügel im Rücken zu packen und zu vernichten.27 Napoleon jedoch hatte, wiewohl seine Armee auf 24 25
Zit. nach 1813-1815 [wie Anm. 4], S. 89f. Zit. nach 1813-1815 [wie Anm. 4], S. 90. Derlei Unübersichtlichkeit ist freilich kein alleiniges Problem von auf Schlachtfelder verschlagenen Zivilisten. Der englische Kriegsberichterstatter Russell etwa schreibt über die Schlacht von Inkerman während des Krimkriegs: „Unsere Generäle wußten nicht weiter. Sie konnten nicht erkennen, wo der Feind stand, aus welcher Richtung er kam, was sein Ziel war. In Dunkelheit, Düsternis und Regen mußten sie unsere Truppen durch dichtes, dorniges Gestrüpp führen, was unsere Reihen auseinanderriß und die Männer aufbrachte. Jeder Schritt war markiert von einem Gefallenen oder einem Verwundeten, getroffen von einem Feind, dessen Position sich nur durch den Lärm der Gewehre und umherschwirrende Kanonenkugeln verriet" (Russell [wie Anm. 21], S. 64).
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Zit. nach 1813-1815 [wie Anm. 4], S. 90; zum Schlachtverlauf vgl. Chandler [wie Anm. 5], S. 887ff. Ségur berichtet darüber: „Er (Davout) bittet den Kaiser, ihm seine fünf Divisionen zu lassen und auch noch das Korps von Poniatowsky zuzuteilen, indem dieses zu schwach sei, für sich allein den Feind zu umgehen. Er will am folgenden Morgen diese Masse in Bewegung setzen und, gedeckt durch die letzten Schatten der Nacht und den Wald, an den der linke russische Flügel sich lehnt, auf der alten Straße
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dem Schlachtfeld zahlenmäßig überlegen war, von einer gefährlichen Schwächung seines Zentrums gesprochen; vor allem aber scheint er gefurchtet zu haben, daß sich die Russen bei den ersten Anzeichen einer drohenden Umfassung zurückziehen würden und dann keine Entscheidungsschlacht vor den Toren Moskaus stattfinden würde. Auf diese Entscheidungsschlacht aber war seine ganze Strategie hin angelegt - und das war, jenseits von Blasenentzündung und Bronchitis, die Ségur fur Napoleons taktische Einfallslosigkeit verantwortlich macht,28 der entscheidende Grund, warum der Kaiser alle taktischen Finessen früherer Jahre fahren ließ und die Schlacht von Borodino als ein brutales Gefecht führte.
III. Die strategischen Dispositionen und der Kulminationspunkt des Angriffs Die Befürchtung Napoleons, die Russen könnten sich weiter zurückziehen, die Schlacht verweigern und den Krieg noch weiter in die Tiefe des Raumes verlagern, waren alles andere als unbegründet. Eine Reihe der das russische Oberkommando beratenden deutschen Stabsoffiziere, unter ihnen auch der Oberstleutnant Carl von Clausewitz, hatten dringlich zu einer solchen Kriegführung geraten. Jahre später schrieb Clausewitz bei der Abfassung von Vom Kriege dazu: Das russische Reich ist kein Land, was man formlich erobern, d. h. besetzt halten kann, wenigstens nicht mit den Kräften jetziger europäischer Staaten, und auch nicht mit den 500000 Mann, die Bonaparte dazu anführte. Ein solches Land kann nur bezwungen werden durch eigene Schwäche und durch die Wirkungen des inneren Zwiespalts. Um auf diese schwachen Stellen des politischen Daseins zu stoßen, ist eine bis ins Herz des Staates gehende Erschütterung notwendig. Nur wenn Bonaparte mit seinem kräftigen Stoß bis Moskau hineinreichte, durfte er hoffen, den Mut der Regierung und die Treue und Standhaftigkeit des Volkes zu erschüttern.29
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von Smolensk nach Moskau über diesen hinausgehen und dann durch ein rasches Manöver in der Flanke dieses Flügels und hinter demselben vierzigtausend Franzosen und Polen entwickeln. Während nun der Kaiser die Front der Moskowiten durch einen allgemeinen Angriff beschäftigt, gedenkt er, eine Redoute, eine Reserve nach der andern anzugreifen, vom linken nach dem rechten Flügel hin alles aufzurollen, auf die große Straße von Mojaisk zu drängen, dort der russischen Armee den Todesstoß zu geben und der Schlacht wie dem Krieg ein Ende zu machen." (Ségur [wie Anm. 8], S. 151). „Nur diejenigen, die ihn (Napoleon, H.M.) den ganzen Tag nicht verlassen hatten, wußten, daß der Besieger so vieler Nationen an diesem Tage von einem heftigen Fieber war besiegt worden" (Ségur [wie Anm. 8], S. 173). Clausewitz: [wie Anm. 9], S. 1024; ähnlich auch ders. [wie Anm. 2], S. 864. In der Clausewitzforschung sind diese und ähnliche Überlegungen immer wieder auf das .Unternehmen Barbarossa', Hitlers Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941, bezogen worden; vgl. etwa Schramm [wie Anm. 2], S. 354. Sicherlich läßt sich zwischen Clausewitz' Urteil, Rußland lasse sich nur durch innere Schwäche und politischen Zwiespalt bezwingen, und der Vorstellung, eine vernichtende Niederlage der Russen
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Clausewitz selbst berichtet, wie er während des russischen Feldzugs mit Karl Friedrich Graf von Toll, einem in russischen Diensten stehenden Oberst, diese Probleme besprochen habe: Nach der Schlacht von Borodino hatte Oberst Toll dem Verfasser ein Paar mal als er in Geschäften zu ihm geschikt worden war geäußert, daß nach seiner Meinung der Rükzug über Moskau hinaus nicht mehr in der alten Richtung genommen werden sondern daß man sich gegen den Süden wenden müßte. Der Verfasser stimmte mit der größten Lebhaftigkeit ein und bediente sich dabei des ihm schon zur Gewohnheit gewordenen Bildes, daß man sich in Rußland mit seinem Gegner Zeck jagen könne, und daß man also indem man immer im Rükzug bliebe am Ende wieder an der Grenze mit ihm ankommen könne. [...] Auch die jüngeren Offiziere des Generalstabs besprachen diesen Gegenstand häufig unter einander, so daß er wenn auch nicht zur völligen Klarheit erhoben doch wenigstens völlig durchgesprochen wurde.30 Die leitende Idee, die dem Vorschlag des strategischen Rückzugs in die Tiefe des Raumes zugrundelag, war folgende: Je tiefer die zahlenmäßig zunächst weit überlegene Armee Napoleons in den russischen Raum eindrang und je weiter sich die kräftemäßig zunächst unterlegenen Russen zurückzogen, desto mehr näherten sich beide Armeen dem Punkt ihres kräftemäßigen Gleichgewichts, und dementsprechend kam alles darauf an, Napoleon dazu zu verleiten, den Kulminationspunkt des Angriffs zu überschreiten, um ihn dann mit überlegenen Kräften anzugreifen, zurückzuwerfen oder gar zu vernichten. In Vom Kriege hat Clausewitz dazu folgende Überlegung angestellt: Der Erfolg im Angriff ist das Resultat einer vorhandenen Überlegenheit, wohlverstanden physische und moralische Kräfte zusammengenommen. Wir haben [...] gezeigt, daß sich die Kraft des Angriffs nach und nach erschöpft; möglicherweise kann die Überlegenheit dabei wachsen, aber in der großen Mehrheit der Fälle wird sie abnehmen. Der Angreifende kauft Friedensvorteile ein, die ihm bei den Unterhandlungen etwas gelten sollen, die er aber auf der Stelle bar mit seinen Streitkräften bezahlen muß. Führt dieses im Vorteil des Angriffs sich täglich vermindernde Übergewicht bis zum Frieden, so ist der Zweck erreicht.31
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bei Borodino hätte womöglich zu einem anderen Ausgang des Krieges geführt, ein Widerspruch sehen. Clausewitz selbst hätte diesen Widerspruch nicht gesehen, denn wenn die Russen nach der Vernichtung ihrer Hauptarmee bei Borodino in die ihnen von Napoleon diktierten Friedensbedingungen eingewilligt hätten, so wäre dies für ihn ein Zeichen politischer Schwäche, nämlich fehlenden Zutrauens in die eigene Durchhaltefähigkeit, gewesen. Clausewitz [wie Anm. 2], S. 863f. Bereits 1804 hatte Clausewitz in der Studie .Strategie' geschrieben: „Wenn Bonaparte einst nach Polen kommen sollte, so wird er leichter zu besiegen sein als in Italien, und in Rußland würde ich seinen Untergang für ausgemacht halten" (Clausewitz: Strategie aus dem Jahre 1804, mit Zusätzen von 1808 und 1809. Hg. von Eberhard Kessel. Hamburg 1937, S. 42). Clausewitz [wie Anm. 9], S. 879. In seiner Analyse des Feldzugs von 1812 hat Clausewitz das Agieren Napoleons sowie das seines Gegenspielers Zar Alexander unter diesem Aspekt analysiert: ,ßonapartes Rükzug war unvermeidlich und sein ganzer Feldzug verfehlt von dem Augenblick an wo der Kaiser Alexander den Frieden versagte - auf diesen Frieden war alles berechnet und Bonaparte hat sich darüber gewiß nicht einen Augenblik getäuscht" (Clausewitz [wie Anm. 2], S . 871).
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Napoleons Plan für den russischen Feldzug war nach diesem Kalkül aufgebaut, und in den Schlachten von Smolensk und Borodino war er bereit, mit Tod oder Verwundung seiner Soldaten dafür zu bezahlen, daß er dem Zaren in Moskau die Friedensbedingungen diktieren konnte. Das aber hatte zur Voraussetzung, daß die russische Seite überhaupt bereit war, sich zur Schlacht zu stellen und in ihr die physischen und moralischen Kräfte beider Seiten messen zu lassen. Gegen Napoleons offensive Strategie des Erkaufens von Friedensvorteilen wollte Clausewitz den strategischen Rückzug ins Landesinnere setzen, um Napoleon dazu zu nötigen, den Kulminationspunkt des Angriffs zu überschreiten: Es gibt strategische Angriffe, die unmittelbar zum Frieden geführt haben - aber die wenigsten sind von der Art, und die meisten führen nur bis zu einem Punkt, wo die Kräfte noch eben hinreichen, sich in der Verteidigung zu halten und den Frieden abzuwarten. - Jenseits dieses Punktes liegt der Umschwung, der Rückschlag; die Gewalt eines solchen Rückschlages ist gewöhnlich viel größer, als die Kraft des Stoßes war. Dies nennen wir den Kulminationspunkt des Angriffs.32 Dieser Kulminationspunkt aber war nach Clausewitz' Auffassung bei Borodino noch nicht erreicht, weswegen es seiner Auffassung nach falsch war, sich hier zum Kampf zu stellen.33 Sicherlich auch mit Blick auf die Schlacht Borodino hat Clausewitz seine strategischen Vorstellungen vom Sieg ohne Schlacht so zusammengefaßt: Wir haben den freiwilligen Rückzug in das Innere des Landes als eine eigene mittelbare Widerstandsart angesehen, bei welcher der Feind nicht sowohl durch das Schwert als durch seine eigenen Anstrengungen zugrunde gehen soll. Es wird also hierbei entweder gar keine Hauptschlacht vorausgesetzt oder der Zeitpunkt derselben so spät angenommen, daß die feindlichen Kräfte schon beträchtlich geschwächt sind.34 In Clausewitz' Sicht ist es strategisch also gänzlich überflüssig gewesen, daß Kutusow auf dem Rückzug nach Moskau bei Borodino die Schlacht angenommen hat, da er sein Ziel, die feindlichen Kräfte entscheidend zu schwächen, wenn nicht zu vernichten, auch durch den bloßen Rückzug hätte erreichen können. Zumindest die russischen Opfer von Borodino sind danach, so Clausewitz', überflüssig und sinnlos gewesen, und aus purem Nationalstolz und militärischer Eitelkeit hat Kutusow, indem er sich Napoleon bei Borodino zur Schlacht stellte, den sonst schon sicheren Sieg der Russen riskiert: Hätte Napoleon nämlich einen entscheidenden Sieg errungen und die russische Armee vernichtend geschlagen, so wäre der Durchhaltewillen der russischen Führung wohl dahin gewesen und Zar Alexander hätte sich
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Clausewitz [wie Anm. 9], S. 879. Clausewitz' Überlegungen zur russischen Kriegführung zeigen, wie falsch es ist, ihn als bedingungslosen Theoretiker der Entscheidungsschlacht zu begreifen, wie dies britische Militärhistoriker getan haben, als sie die Material- und Vernichtungsschlachten an der Somme und in Flandern auf Clausewitz' Einfluß zurückführten; hierzu kritisch Raymond Aron: Clausewitz. Den Krieg denken. Aus dem Franz. von I. Arnsperger. Frankfurt/M. u.a., S. 687ff. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 784.
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in Moskau von Napoleon die Bedingungen des Sieges diktieren lassen. Wie sehr der Ausgang des Krieges nach der Schlacht von Borodino auf der Kippe gestanden hat, glaubte Clausewitz beim Rückzug der Russen nach Moskau zu beobachten, als die Zuversicht unter den Soldaten immer tiefer sank und viele einen Friedensschluß zwischen Napoleon und Alexander erwarteten - „gleichwohl befanden wir uns doch schon nahe dem Culminations Punkt der französischen Offensive, nahe dem Punkt wo das ganze Gewicht der aufgehobenen und nicht überwältigten Last auf sie zurükschlagen sollte."35 Indem Clausewitz in seinem Bericht über den Feldzug von 1812 nicht nur die kriegsentscheidende Bedeutung der Schlacht von Borodino bestritt, die russischerseits vielfach betont wurde, sondern obendrein auch noch die Schlacht insgesamt für sinnlos und die eigenen Ziele unnötig gefährdend erklärte, mußte er unweigerlich den russischen Nationalstolz provozieren; man kann Tolstois Darstellung der Schlacht in Krieg und Frieden bis ins Detail hinein als eine Zurückweisung der Clausewitzschen Sicht - nicht der Darstellung des taktischen Geschehens der Schlacht, sondern insbesondere auch ihrer strategischen Bedeutung sehen, zumal Tolstoi, der Clausewitz' Bericht gekannt hat,36 Clausewitz zum Gegenstand seiner Darstellung gemacht hat: Die Offiziere standen auf, und Fürst Andrej verließ mit ihnen den Schuppen. Pierre folgte ihnen und wollte, nachdem die Offiziere sich verabschiedet hatten, mit dem Fürsten Andrej ein Gespräch beginnen, als auf dem Weg der Hufschlag von drei Pferden erscholl. Fürst Andrej erkannte Wolzogen und Clausewitz, von einem Kosaken begleitet. Da sie ziemlich nahe vorbeiritten, hörten Fürst Andrej und Pierre folgende Sätze in deutscher Sprache: ,Der Krieg muß in diesen Raum verlegt werden', sagte der eine. ,Ja', antwortete eine zweite Stimme. ,Es kommt nur darauf an, den Feind zu schwächen, deshalb kann man auf die Verluste von Privatpersonen keine Rücksicht nehmen.' ,Ganz richtig', erwiderte die erste Stimme. - ,Jawohl, in diesen Raum verlegen!' rief Fürst Andrej zornig, als sie vorübergeritten waren. ,In diesem Raum, da war mein Vater, mein Sohn und meine Schwester... Aber das ist ihm ganz gleich. Höre gut zu, was ich Dir sage, nicht diese deutschen Herren werden morgen die Schlacht gewinnen, sondern sie werden nur Schaden anrichten, soviel sie vermögen, weil sie in ihren deutschen Schädeln nur Gedanken haben, die keine leere Eierschale wert sind; ihren Herzen aber fehlt das, was morgen nötig ist. [...] Ganz Euro-
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Clausewitz [wie Anm. 2], S. 871. Clausewitz konzediert, daß das Erkennen des Kulminationspunktes eines Angriffs nicht leicht ist, zumal dann nicht, wenn der anempfohlene Rückzug einer ins Innere des eigenen Landes ist. - „Wir waren anderer Meinung; aber freilich waren wir Fremde, und dem Fremden war es leichter, einen unbefangenen Gesichtspunkt zu behalten. Wie groß auch der Antheil war den unser Gemüth an der Wendung des Krieges nahm, so waren wir doch nicht wie die Russen unmittelbar von dem Schmerz eines tief verwundeten leidenden in seiner Existenz bedroheten Vaterlandes ergriffen. Dergleichen hat immer Einfluß auf die Urtheilskraft" (ebd., S. 872). Clausewitz selbst hat drei Wochen nach der Schlacht von Borodino am 30. Sept. 1812 an seine Frau geschrieben: „Wir haben eine Schlacht verloren, aber mit Maß; unsere Kräfte ergänzen sich fast täglich, die feindlichen nicht. Schon jetzt sind wir fast überlegen, während der Feind es im Anfange des Feldzuges in hohem Maße war" (Karl und Marie von Clausewitz: Ein Lebensbild in Briefen und Tagebuchblättem. Hg. von Karl Linnebach. Berlin 1916, S. 297).
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Vgl. das Kapitel „Clausewitz und Leo Tolstoi" bei Aron [wie Anm. 33], S. 598-602.
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Herfried Münkler pa haben sie ,ihm' überlassen, und dann kommen sie her, um uns zu unterrichten! Prächtige Lehrmeister sind das!37
Tolstois Clausewitz-Kritik, die auf einer kataklysmischen Theorie des Krieges begründet ist, ist freilich ebenso ungerecht wie unzutreffend, denn daß der Rückzug ins Landesinnere hohe Anforderungen an die Moral des Heeres und die Opferbereitschaft der Bevölkerung stellte, daß der ,Krieg ohne Schlacht' keineswegs ein Vermeiden von Verlusten, sondern eine entsagungsreiche militärische Strategie war, hat Clausewitz nie bestritten. In Vom Kriege schreibt er dazu: Das Volk wird Mitleiden und Unwillen fühlen, wenn es das Schicksal der aufgeopferten Provinzen sieht, das Heer wird leicht sein Vertrauen zu seinem Führer oder gar zu sich selbst verlieren, und die beständigen Gefechte der Nachhut während des Rückzugs werden ihm eine immer erneuerte Bekräftigung seiner Befürchtungen werden. Über diese Folgen des Rückzugs darf man sich nicht täuschen. Und allerdings ist es an und für sich betrachtet natürlicher, einfacher, edler, dem moralischen Dasein des Volkes entsprechender, offen in die Schranken zu treten, damit der Angreifende die Grenzen eines Volkes nicht überschreiten könne, ohne seinem Genius zu begegnen, der ihm die blutige Rechenschaft abfordert.38 Ein solches Rechenschaft-Abfordem von Napoleon nach dessen Überschreiten des Njemen hätte die Russen wohl ihr Heer gekostet und dazu veranlaßt, sich Napoleons Willen zu unterwerfen. Daß sie sich Napoleon bei Smolensk und dann noch einmal bei Borodino entgegengestellt und ihm „blutige Rechenschaft" abgefordert haben, war eher psychologisch als strategisch begründet. Dementsprechend zurückhaltend hat Clausewitz dies beurteilt. Zurück zur Schlacht von Borodino: Was Napoleon, als er Murats Plan eines Flankenangriffs ablehnte, nicht wußte und auch nicht wissen konnte, war, daß Kutusow die Auffassung der deutschen Stabsoffiziere nicht teilte und die Schlacht gegen die Grande Armée vor den Toren Moskaus schlagen wollte, auch wenn er keineswegs von ihrer militärischen Notwendigkeit überzeugt war.39 Wäre Napoleon Davouts Vorschlägen einer weiträumigen Um37
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Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. Teil 9, Kap. 25; vgl. hierzu auch Anatol Rapoport: Tolstoi und Clausewitz. Zwei Konfliktmodelle und ihre Abwandlungen. In: Günter Dill (Hg.): Clausewitz in Perspektive. Frankfurt/M. u.a. 1980, S. 697-718. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 788. Clausewitz' Urteil über Kutusow ist für diesen alles andere als schmeichelhaft: Während der Schlacht sei er „fast eine Null" gewesen und als Oberkommandierender habe er eine Rolle gespielt, die „nichts weniger als glänzend" gewesen sei (Clausewitz [wie Anm. 2], S. 832). Er stellt aber auch fest: ,Jiutusof hätte gewiß die Schlacht von Borodino nicht geliefert, von der er doch wahrscheinlich keinen Sieg erwartete, wenn ihn nicht die Stimme des Hofes, des Heeres und ganz Rußlands dazu genöthigt hätte. Er sah sie vermuthlich nur wie ein nothwendiges Uebel an. Er kannte die Russen und verstand sie zu behandeln. Mit unerhörter Dreistigkeit betrachtete er sich als Sieger, verkündete überall den nahen Untergang des feindlichen Heeres, gab sich bis auf den letzten Augenblik das Ansehen als wolle er Moskau durch eine zweite Schlacht schützen und ließ es an Prahlerei keiner Art fehlen" (ebd., S. 833). Indem er so das Selbstvertrauen des Heeres wiederhergestellt habe, habe er durch Großspurigkeit mehr bewirkt, als dies sein eher ängstlicher und ehrlicher Vorgänger Barclay de Tolly vermocht habe. „[...] der einfache, ehrliche, an sich tüchtige aber ideenarme Barklay, unfähig diese großen Verhältnisse bis auf den
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fassung des linken russischen Flügels gefolgt, so hätte Kutusow aller Wahrscheinlichkeit nach seine dort stehenden, durch die vorangegangenen Gefechte bereits geschwächten Verbände verstärkt, Napoleon hätte die zahlenmäßige Überlegenheit seiner Armee zur Geltung bringen können, die flèches und die Große Redoute wären von der Flanke her aufgerollt und die russischen Armeekorps nach erbittertem Widerstand wohl zerschlagen worden.40 An einen geordneten Rückzug widerstandsfähiger Verbände wäre dann nicht mehr zu denken gewesen, und Murats Kavallerie hätte in überholender Verfolgung die Trümmer der geschlagenen Armee umzingelt und vernichtet oder zur Kapitulation gezwungen. Vor allem wäre unter diesen Umständen der Train und die Artillerie in die Hände der Franzosen gefallen. Kurzum: bei Borodino wäre das eingetreten, was Napoleon drei Jahre später bei Waterloo selbst widerfahren ist. Vielleicht hätte der Krieg unter diesen Umständen einen anderen Verlauf genommen, denn den Russen hätte dann keine handlungsfähige Armee mehr zur Verfügung gestanden.41
IV. Der Rückzug vom Schlachtfeld und die moralischen Faktoren In Vom Kriege ist Clausewitz ausfuhrlich auf das Problem der Verluste während und nach der Schlacht zu sprechen gekommen: Nun ist es eine bekannte Erfahrung, daß die Verluste an physischen Streitkräften im Laufe des Gefechts selten eine große Verschiedenheit zwischen Sieger und Besiegten geben, oft gar keine, zuweilen auch wohl eine sich verkehrt verhaltende, und daß die entscheidendsten Verluste fur den Besiegten erst mit dem Abzug eintreten, nämlich die, welche der Sieger nicht mit ihm teilt. Die schwachen Reste schon erschütterter Bataillone werden von der Reiterei zusammengeworfen, Ermüdete bleiben liegen, zerbrochene Geschütze und Pulverwagen bleiben stehen, andere können in schlechten Wegen nicht schnell genug fort und werden von feindlicher Reiterei erreicht; in der Nacht verirren sich einzelne Haufen und fallen dem Feinde wehrlos in die Hände, und so gewinnt der Sieg meistens erst Körper, nachdem er schon entschieden ist 42
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Grund zu durchblicken, wäre von den moralischen Potenzen des französischen Sieges erdrükt worden, während der leichtsinnige Kutusow ihnen eine dreiste Stirn und einen Haufen Prahlereien entgegensetzte und so glücklich in die ungeheure Lücke hineinsegelte, die sich bereits in der französischen Armada fand" (ebd., S. 833f.). Chandler ([wie Anm. 5], S. 798) weist in diesem Zusammenhang freilich darauf hin, daß ein solches Manöver angesichts der Kampfkraft und Unerschütterlichkeit der russischen Infanterie auch und gerade in Situationen äußerster Bedrängnis nicht ohne Risiko war, und er bemerkt, daß Napoleon mit den Erfahrungen, die Friedrich II. bei Zorndorf und Kunersdorf mit der russischen Infanterie gemacht hatte, vertraut war. Vgl. hier nochmals die in Anm. 29 gemachten Bemerkungen über militärische Vorgänge und politischen Willen. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 428.
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Bei der Niederschrift dieser Zeilen dürfte sich Clausewitz des von ihm selbst erlebten Untergangs der preußischen Armee nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt erinnert haben, als französische Kavallerie die zurückflutenden Verbände verfolgte, ihnen pausenlos zusetzte und sie so daran hinderte, sich neu zu formieren. Das Grenadierbataillon, dem Clausewitz im Rang eines Capitäns angehörte, wurde schließlich bei Prenzlau eingeschlossen und mußte kapitulieren.43 Und so resümiert er Schlachtverlauf und Verluste: „Die Verluste in der Schlacht bestehen mehr in Toten und Verwundeten, die nach der Schlacht mehr in verlorenem Geschütz und in Gefangenen."44 Borodino war für Napoleon also letzten Endes darum kein Sieg, weil er „die Ernte der Schlacht" nicht einzufahren vermochte, und seine von Ségur geschilderten Anstalten, die gefangenen Soldaten und erbeuteten Geschütze immer wieder nachzählen zu lassen, um zu prüfen, ob es nicht doch mehr seien, zeigen nur zu deutlich, wie sehr er sich dessen bewußt war. In der Schlacht bei Waterloo, die Clausewitz der preußischen Konvention gemäß als die von Belle-Alliance bezeichnet, hatte Napoleon dagegen auf dem Schlachtfeld alles riskiert und alles verloren. In der berühmtesten aller Schlachten, in der von Belle-Alliance, setzte Bonaparte seine letzten Kräfte daran, eine Schlacht zu wenden, die nicht mehr zu wenden war, er gab den letzten Heller aus und floh dann wie ein Bettler vom Schlachtfelde und aus dem Reiche 45 Der Bericht Gneisenaus, der die preußischen Truppen am Nachmittag der Schlacht in die rechte Flanke der die Engländer ununterbrochen angreifenden Franzosen geführt hatte, gibt von der Katastrophe der französischen Armee am späten Abend eine überaus anschauliche Vorstellung: Mit dem Rückzug des Feindes ging es noch so lange erträglich, bis das Dorf Plancenoit in seinem Rücken, das die Garden verteidigten, nach mehreren abgeschlagenen Angriffen und vielem Blutvergießen endlich mit Sturm genommen war. Nun wurde aus dem Rückzüge eine Flucht, die bald das ganze französische Heer ergriff und immer wilder und wilder alles mit sich fortriß. Es war 9 1/2 Uhr. Der Feldmarschall [Blücher, H. M.] versammelte jetzt die höheren Offiziere und befahl, daß der letzte Hauch von Mensch und Pferd zur Verfolgung aufgeboten werden sollte. Die Spitze der Armee beschleunigte ihre Schritte. Rastlos verfolgt, geriet das französische Heer bald in eine völlige Auflösung. Die Chaussee sah wie ein großer Schiffbruch aus. Sie war mit unzähligen Geschützen, Pulverwagen, Fahrzeugen, Gewehren und Trümmern aller Art wie besäet; aus mehr als 9 Biwaks wurden diejenigen, die sich einige
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Paret [wie Anm. 2], S. 160f.; Schramm [wie Anm. 2], S. 105ff.; allgemein Fiedler [wie Anm. 19], S. 226ff.; allgemein Chandler [wie Anm. 5], S. 497ff. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 430. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 459; Clausewitz meint damit, es sei Napoleons Fehler gewesen, die Schlacht, nachdem er um die Mittagszeit wußte, daß er es nicht nur mit Wellington, sondern auch mit Teilen der preußischen Armee Blüchers zu tun hatte, nicht abgebrochen, sondern weiter versucht zu haben, das englische Zentrum zu durchbrechen; vgl. Chandler [wie Anm. 5], S. 1073f.
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Ruhe hatten gönnen wollen und keine so schnelle Verfolgung erwartet hatten, vertrieben; in einigen Dörfern versuchten sie zu widerstehen; doch sowie sie die Trommeln und Flügelhömer hörten, flohen sie oder warfen sich in die Häuser, wo sie niedergemacht oder gefangen wurden. Der Mond schien hell und begünstigte ungemein die Verfolgung. Der ganze Marsch war ein stetes Aufstöbern des Feindes in den Dörfern und Getreidefeldern.46 Hatte Napoleon bei Borodino zu wenig, so hatte er bei Waterloo zu viel riskiert. Mit Blick auf die Ausgestaltung des Sieges nach der Schlacht hat Clausewitz die Analyse des Sieges nicht auf den Abgleich der physischen Verluste begrenzt wissen wollen, sondern ebenso in Betracht gezogen, daß im Verlaufe einer Schlacht auch die moralischen Kräfte verbraucht, erschüttert und gebrochen werden, und deswegen hat er neben den Verlust an Menschen und Material den an Ordnung und Zusammenhang, Mut und Vertrauen gestellt. „Jedes Gefecht", so resümiert er, „ist [...] die blutige und zerstörende Abgleichung der Kräfte, der physischen und moralischen. Wer am Schluß die größte Summe von beiden übrig hat, ist der Sieger."47 Wie hoch Clausewitz hierbei die Bedeutung der moralischen Faktoren eingeschätzt hat, zeigt seine Feststellung: „Der ganze Krieg setzt menschliche Schwäche voraus, und gegen diese ist er gerichtet."48 Das heißt, daß es zuletzt vor allem auf die moralischen Kräfte ankommt, auch wenn Clausewitz konzediert, daß „die Wirkungen der physischen Kräfte mit den Wirkungen der moralischen Kräfte ganz verschmolzen und nicht wie eine metallische Legierung durch einen chemischen Prozeß davon zu scheiden sind".49 Die Folgen eines überstürzten Rückzugs, wie ihn Kutusow nach der Schlacht von Borodino infolge der Standhaftigkeit seiner Truppen, aber auch infolge von Napoleons zögerlicher Unentschlossenheit hatte vermeiden können und wie er nach den Schlachten von Jena und Auerstedt bzw. Waterloo/Belle-Alliance zur Vernichtung der preußischen bzw. der französischen Armee gefuhrt hatte, hat Clausewitz eindrucksvoll geschildert. Diese Schilderung kann als Ergänzung zu Gneisenaus Bericht über die preußische Verfolgung der geschlagenen Franzosen nach der Schlacht von Waterloo/Belle-Alliance gelesen werden:50 Wer sich nie in einer großen verlorenen Schlacht befunden hat, wird Mühe haben, sich eine lebendige und folglich eine ganz wahre Vorstellung davon zu machen, und die abstrakten Vorstellungen von diesem oder jenen kleinen Verlust werden den ei-
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Zit. nach 1813-1815 [wie Anm. 4], S. 303. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 429. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 465. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 357; diesen Gedanken nimmt Clausewitz in seiner Definition der Entscheidungsschlacht wieder auf: „Die Hauptschlacht ist der blutigste Weg der Lösung; zwar ist sie kein bloßes gegenseitiges Morden und ihre Wirkung mehr ein Totschlagen des feindlichen Mutes als der feindlichen Krieger, [...], allein immer ist Blut ihr Preis und Hinschlachten ihr Charakter wie ihr Name; davor schaudert der Mensch im Feldherrn zurück" (ebd., S. 469). Ganz unverkennbar orientiert sich der in den Vorlesungen Johann Gottfried Kiesewetters an der Berliner Kriegsschule mit der Kantschen Philosophie in Berührung gekommene Clausewitz (vgl. Paret [wie Anm. 2], S. 95ff.; Aron [wie Anm. 33], S. 658ff.) hier an Kants Diktum, wonach Begriffe ohne Anschauungen leer, Anschauungen ohne Begriffe aber blind seien (vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: ders.: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1968, Bd. 3, S. 98).
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Herfried Münkler gentlichen Begriff einer verlorenen Schlacht niemals ausfüllen. Verweilen wir einen Augenblick bei dem Bilde. Das erste, was sich der Einbildungskraft, und man kann wohl auch sagen des Verstandes, in einer unglücklichen Schlacht bemächtigt, ist das Zusammenschmelzen der Massen, dann der Verlust des Bodens, welcher mehr oder weniger immer, und also auch bei dem Angreifenden, eintritt, wenn er nicht glücklich ist; dann die zerstörte ursprüngliche Ordnung, das Durcheinandergeraten der Teile, die Gefahren des Rückzugs, die mit wenig Ausnahmen immer bald schwächer, bald stärker eintreten; nun der Rückzug, der meist in der Nacht angetreten oder wenigstens die Nacht hindurch fortgesetzt wird. Gleich bei diesem ersten Marsch müssen wir eine Menge von Ermatteten und Zerstreuten zurücklassen, oft gerade die Bravsten, die sich am weitesten vorgewagt, die am längsten ausgeharrt haben; das Gefühl, besiegt zu sein, welches auf dem Schlachtfelde nur die höheren Offiziere ergriff, geht nun durch die Klassen bis zum Gemeinen über, verstärkt durch den abscheulichen Eindruck, soviel brave Gefährten, die gerade in der Schlacht uns erst recht wert geworden sind, in Feindes Händen zurücklassen zu müssen, und verstärkt durch das erwachende Mißtrauen gegen die Führung, der mehr oder weniger jeder Untergebene die Schuld seiner vergeblich gemachten Anstrengungen beimißt.51
Das Entscheidende ist nun, daß diese Eindrücke und Empfindungen in Clausewitz' Sicht nicht panische Reaktionen, sondern ein Einholen des objektiven Geschehens in der subjektiven Wahrnehmung der Beteiligten darstellen, weswegen er fortfährt: Und dieses Gefühl, besiegt zu sein, ist keine bloße Einbildung, über die man Herr werden könnte; es ist die evidente Wahrheit, daß der Gegner uns überlegen ist; eine Wahrheit, die in den Ursachen so versteckt sein konnte, daß sie vorher nicht zu übersehen war, die aber beim Ausgang immer klar und bündig hervortritt, die man auch vielleicht vorher erkannt hat, der man aber in Ermangelung von etwas Reellerem Hoffnung auf den Zufall, Vertrauen auf Glück und Vorsehung, mutiges Wagen entgegenstellen mußte. Nun hat sich dies alles unzulänglich erwiesen, und die erste Wahrheit tritt uns streng und gebieterisch entgegen.52 Dieses Bild der verlorenen Schlacht und ihrer Folgen für die Moral der Soldaten bezog sich freilich nicht auf Borodino, sondern auf Jena und Waterloo.53
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Clausewitz [Anm. 9], S. 462f. Clausewitz [wie Anm. 9], S. 463. Freilich ist die Grande Armée Napoleons wenige Wochen später in eine ähnliche Situation geraten, als sie auf dem Rückzug das Schlachtfeld von Borodino erneut überquerte. Ségur berichtet: „Von der Kologha zog man nachdenklich weiter fort, als plötzlich einige von uns einen Schrei des Entsetzens ausstießen und dadurch die Aufmerksamkeit eines jeden weckten. Ein eingestampftes, nacktes, verwüstetes Feld lag vor uns! Alle Bäume waren einige Schuh vom Boden abgehauen, die Kuppen der Hügel im Hintergrunde zum Teil abgestreift. Der höchste von allen schien am meisten entstellt und glich einem ausgebrannten, geborstenen Vulkan. In seinem Bereich war der Boden mit Stücken von Helmen und Kürassen, von Trommeln und Gewehrschäften, mit blutbefleckten Fetzen von Kriegsgewändern und Fahnen übersäet. Auf diesem verheerten Felde lagen dreißigtausend halbverweste Leichname. Einige Gerippe auf dem Geröll eines Hügels überragten das Ganze; der Tod schien dort seinen Herrschersitz
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V. Episodennarration oder Geschehensanalytik, sinnliche Erfassung oder kognitive Synthesen Clausewitz hat sich offenbar an die bei Borodino empfangenen Eindrücke des Schlachtverlaufs erinnert, als er in Vom Kriege die Hauptschlacht idealtypisch beschrieben hat: Man stellt sich in großen Massen neben- und hintereinander geordnet ruhig hin, entwickelt verhältnismäßig nur einen geringen Teil des Ganzen und läßt sich diesen ausringen in einem stundenlangen Feuergefecht, welches durch einzelne kleine Stöße von Sturmschritt, Bajonette und Kavallerieanfall hin und wieder unterbrochen und etwas hin und her geschoben wird. Hat dieser eine Teil sein kriegerisches Feuer auf diese Weise nach und nach ausgeströmt, und es bleiben nichts als Schlacken übrig, so wird er zurückgezogen und von einem anderen ersetzt. Auf diese Weise brennt die Schlacht mit gemäßigtem Element wie nasses Pulver langsam ab, und wenn der Schleier der Nacht Ruhe gebietet, weil niemand mehr sehen kann und sich niemand dem blinden Zufall preisgeben will, so wird geschätzt, was dem einen und dem anderen übrig bleiben mag an Massen, die noch brauchbar genannt werden können, d. h. die noch nicht ganz wie ausgebrannte Vulkane in sich zusammengefallen sind; es wird geschätzt, was man an Raum gewonnen oder verloren hat, und wie es mit der Sicherheit des Rückens steht; es ziehen sich diese Resultate mit den einzelnen Eindrücken von Mut und Feigheit, Klugheit und Dummheit, die man bei sich und seinem Gegner wahrgenommen zu haben glaubt, in einen einzigen Haupteindruck zusammen, aus welchem dann der Entschluß entspringt: das Schlachtfeld zu räumen oder das Gefecht am andern Morgen zu erneuern.54 Kutusow hat sich in der Nacht nach der Schlacht entschlossen, das Schlachtfeld zu räumen und das Gefecht am andern Tag nicht mehr aufzunehmen. Wäre Napoleon nun bei Borodino den Ratschlägen Marschall Davouts gefolgt, so hätte die Schlacht wahrscheinlich einen anderen Verlauf genommen, und Clausewitz hätte aufgrund der weitausgreifenden Umfassungsbewegung des rechten französischen Flügels das nicht nur verschwenkte, sondern hätte auch ein flächenmäßig viel größeres Schlachtfeld nicht mehr per Augenschein erfassen können; Clausewitz hätte sich dann aus Bruchstücken von Gesehenem und Gehörtem sowie verfügbaren Meldungen und Berichten ein nicht in
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aufgeschlagen zu haben. Es war dies jene furchtbare Redoute, die Eroberung und das Grabmal von Caulaincourt. Der Ruf, ,der Walplatz der großen Schlacht!' scholl jetzt in einem traurigen und langen Gemurmel. Der Kaiser sputete sich; von der Kälte, dem Hunger und dem Feinde getrieben, hielt sich niemand auf; im Gehen warf man noch einen letzten traurigen Blick rückwärts auf dieses ungeheure Grab so vieler Waffengefährten, die, zwecklos hingeopfert, zurückgelassen werden mußten" (Ségur [wie Anm. 8], S. 266). Clausewitz [wie Anm. 9], S. 420f; was in Clausewitz' idealtypischer Schlachtbeschreibung deutlich erkennbar wird, ist die Bildung taktischer Reserven, durch die sich die Schlachten der napoleonischen von denen der friederizianischen Kriege unterscheiden (vgl. Delbrück [wie Anm. 19], S. 556f.); dementsprechend traf Friedrich seine Dispositionen am Vorabend einer Schlacht und danach stellte er seine Truppen auf; Napoleon dagegen entschied während der Schlacht, nachdem er die Schwächen und Stärken seines Gegners herausgefunden hatte.
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seinen Grundzügen sinnlich erfaßtes, sondern ein wesentlich kognitiv synthetisiertes Bild des Geschehens zusammensetzen müssen. Auch wenn zahlreiche Schlachtenbilder der napoleonischen Kriege, die das Schlachtgeschehen aus einer leicht überhöhten Betrachterposition als ein buchstäblich überschaubares Ganzes darstellen, den Eindruck erwecken, man habe sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch mit eigenen Augen einen Überblick über den Gesamtverlauf einer Schlacht verschaffen können, so ist dies bei Borodino, nicht zuletzt aufgrund der taktischen Dispositionen Napoleons, eher ausnahmsweise der Fall gewesen.55 In der Regel waren Schlachten in ihrer Entwicklung, der Abfolge der Gefechtshandlungen im Zentrum und auf den Flügeln, der weitausholenden Bewegungen disziplinierter Kavallerieeinheiten usw. seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert infolge der dramatisch gewachsenen Zahlen eingesetzter Soldaten nicht mehr mit den Sinnesorganen zu erfassen. Es kam hinzu, daß der Sieger auf dem Schlachtfeld nun vermehrt dessen Früchte durch eine nachhaltige Verfolgung einholen wollte und sich das Schlachtfeld dadurch entlang der Rückzugsstraße der geschlagenen Seite weiter ausdehnte. Zur Beschreibung eines Schlachtverlaufs genügte darum in der Regel auch nicht mehr, an ihr teilgenommen oder gar in der Nähe des Feldhermhügels gestanden zu haben, sondern dazu waren nunmehr kognitive Modelle der Verarbeitung von Informationen erforderlich, deren Entwicklung und Anwendung einzuüben zu einem spezifischen Element der Stabsausbildung geworden war. Die verwirrende Vielfalt der vom Schlachtfeld empfangenen Eindrücke und Meldungen mußte innerhalb kürzester Zeit in ein Raster gebracht werden, das, als Vierecke symbolisiert, bereitgestellte und, als Pfeile gekennzeichnet, in Bewegung befindliche Truppenmassen anzeigte und obendrein noch den Schlachtverlauf erfaßte, indem es registrierte, ob sich ein Viereck in einen Pfeil verwandelte oder umgekehrt. An die Stelle eines sprachlich-narrativen Geschehensberichts, wie er hier noch einmal anhand der Texte von Clausewitz, Gneisenau und Steffens vorgeführt worden ist, trat mehr und mehr die mit Zeichen und Symbolen versehene Geländekarte, die von individuellen Geschehenseindrücken abstrahierte und sie durch konventionalisierte Zeichen ersetzte. Die Beschreibung der Schlacht wandelte sich damit in eine Analyse des Schlachtgeschehens. In dem neuen kognitiven Verarbeitungssystem komplexer Informationen, dessen sich die Stäbe nun zunehmend bedienten und vermittelst dessen sie die Entscheidungen des Oberbefehlshabers vorbereiteten wie umsetzten, spielten die am Geschehen beteiligten Menschen sowie das ihnen im Verlauf des Kampfes zuteil gewordene Leid und Elend infolge der entnarrativierten Symbolisierungsformen keine Rolle mehr. Clausewitz' Schlachtbeschreibungen freilich, mitsamt der für sie typischen sprachlichen Wendungen, wie Massen, Ausringen und übriggebliebene Schlacke, stellen eine Übergangsphase bzw. Zwischenetappe dar. So haben Clausewitz seinem Bericht über die Schlacht von Borodino oder Gneisenau seiner Schilderung der Verfolgung nach Waterloo noch einmal eine sinnliche Anschaulichkeit gegeben, wie sie den abstrahierenden Symbolisierungen der Stabsperspektive eigentlich abging. Vor allem Clausewitz hat in seinen Texten Schlachtbeschreibung und Schlachtanalyse miteinander verbunden.
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Die Entscheidung über den Ausgang der Schlacht im unmittelbaren Sinn fiel hier im Kampf um die Große Redoute bzw. Rajewskischanze, und insofern hat Fontane in Vor dem Sturm mit dem sicheren Gefühl eines erfahrenen Kriegsberichterstatters, der er nach seinen Büchern über die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 war, den Kampf um die Rajewskischanze in den Mittelpunkt seines Berichts gestellt.
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Was Clausewitz und auch Gneisenau lieferten, war eine Darstellung des Geschehens, die in mancher Hinsicht mit den Schlachtenbilder des Generals Louis-François Lejeune vergleichbar ist, der aus einer leicht überhöhten Perspektive den entscheidenden Augenblick einer Schlacht darzustellen versucht hat und darin die Mitte hielt zwischen den impressionistischen Schilderungen eines an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit unmittelbar am Kampfgeschehen Beteiligten und dem abstrakt-synthetischen Symbolsystem der Stäbe. Dabei bestand Lejeunes Stärke darin, daß er zahlreiche auf genauen Beobachtungen beruhende Detailszenen, die sich irgendwann im Verlauf der Schlacht zugetragen hatten, mit der Darstellung des in der Retrospektive erst erkennbaren Augenblicks kombinierte, in dem sich entschied, wer das Feld als Sieger und wer es als Verlierer verlassen würde. In seiner Darstellung der Schlacht von Marengo ist dies der von Napoleon persönlich geführte Angriff der Division des Generals Desaix, durch den die von Seiten der Franzosen bereits verloren geglaubte Schlacht noch gewendet und in einen Sieg verwandelt wurde.56 Und im Falle von Borodino ist es der Augenblick, in dem ein kombinierter Infanterie- und Kavallerieangriff zur Eroberung der großen Redoute führte, wobei er das entscheidende Ereignis in einer kleinen Episode in der unteren Bildmitte zusammengefaßt hat: General Auguste de Caulaincourt, der den entscheidenden Angriff des 5. Kürassierregiments auf die Große Redoute57 persönlich angeführt hatte, war unmittelbar nach deren Eroberung von einer Kugel tödlich getroffen worden. „Er hatte sich sein Grab erobert", kommentiert Ségur.58 Die Nachricht von seinem Tode trifft bei Napoleon zusammen mit der Meldung von der Eroberung der Großen Redoute ein. „Er ist als Held gefallen, nachdem er die Schlacht entschieden hat", sagt Napoleon. Mit Napoleon vernimmt auch der Bruder des Gefallenen General Armand de Caulaincourt, der Oberstallmeister des Heeres, die Nachricht, er „zeigte sich im ersten Augenblick betroffen, stemmte sich aber bald wieder gegen das Unglück, und ohne die Tränen, die ihm über die Wangen herabflossen, hätte man ihn für ganz unempfindlich halten müssen. Der Kaiser sagte zu ihm: ,Sie haben es gehört, wollen sie sich entfernen?', und begleitete diese Worte mit einem Ausdruck des Schmerzes; allein gerade in diesem Augenblick war unsere Linie im Vorrücken, der Großstallmeister antwortete nichts und blieb, seinen Dank und seine Weigerung dadurch bezeugend, daß er den Hut zog."59 Lejeune hat diese Szene leicht verändert und in der unteren Bildmitte dargestellt: Zwei Kürassiere stützen den Körper des tödlich verwundeten Caulaincourt, sein Bruder erfaßt den Arm des Sterbenden, tief ergriffen vom Schmerz über seinen Tod, während ein kaiserlicher Adjutant herbeieilt,
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Vgl. Chandler [wie Anm. 5], S. 295f. Fontane läßt seinen Berichterstatter Meerheimb an diesem Sturm persönlich teilnehmen: „Unserer Brigade Thielmann, bis auf die Hälfte zusammengeschmolzen, war dabei der Löwenanteil zugedacht; sie erhielt Order, die gefiirchtete Rajewskischanze, den festesten Punkt der feindlichen Zentrumsstellung, zu stürmen. Ein Schanzensturm mit Kavallerie!" (Fontane [wie Anm. 22], S. 381) Und: „Unsere vordersten Züge bogen unwillkürlich nach rechts hin aus und suchten durch eine im Halbkreis gehende Bewegung die Kehle der Schanze zu gewinnen; die nachfolgenden Rotten aber, als wäre die Schanzenböschung nur die Fortsetzung des eben im Fluge genommenen Flußbettabhanges, jagten die Redoute hinauf und sprengten von oben her mitten in die Schanze hinein. Ein Kampf Mann gegen Mann entspann sich; die Kanoniere, die nach Wischer und Hebebäumen griffen, wurden niedergehauen; was übrig blieb, warf die Waffen fort und gab sich zu Gefangenen" (ebd., S. 382).
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Ségur [wie Anm. 8], S. 170. Ségur [wie Anm. 8], S. 170.
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um den Helden mit einer hohen Auszeichnung zu dekorieren. Um die mit der Erstürmung der Großen Redoute eingetretene Entscheidung der Schlacht sinnfällig zu machen, hat Lejeune oberhalb der Sterbeszene einen von einem französischen Gardisten herbeigeführten russischen Offizier gemalt, der einem französischen Offizier, wohl Marschall Berthier, dem Generalstabschef Napoleons, seinen Degen überreicht. In diesen beiden Szenen hat er die Summe des sich über eine weitgestreckte Hügellandschaft hinziehenden militärisch unübersichtlichen Geschehens gezogen und dabei - wie Clausewitz in seinem Text - in seinem Gemälde die Darstellung der Ereignisse mit einer Analyse des Schlachtverlaufs verbunden. Im Prinzip jedoch waren Schlachtenbilder wie die Lejeunes als Darstellungen militärischer Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts inadäquat geworden: Sie griffen eine Phase des Geschehens in einem räumlich begrenzten Abschnitt heraus und bereiteten sie interpretativ als schlachtentscheidend auf, ohne die Gesamtheit des Geschehens erfassen zu können.60 Sie waren somit, wenn sie gut waren, eher Interpretationen als Darstellungen des Geschehens. Authentisch waren sie eigentlich nur noch dann, wenn sie sich als Episodennarration zu erkennen gaben, also als Berichte, die ausdrücklich die Kontingenz des dargestellten Zeitpunkts und der räumlichen Positionierung des Darstellenden eingestanden.61 Die impressionistische Berichterstattung unmittelbarer Augenzeugenschaft spaltete sich von der analytischen Darstellung der militärischen Stäbe ab, und seitdem sind beide voneinander getrennte Wege gegangen und haben hinsichtlich ihres Anspruchs auf Authentizität ein komplementäres, mitunter konkurrierendes Verhältnis eingenommen.62 Dies wird vor allem an den Darstellungen des Ersten Weltkriegs sinnfällig, in denen die berühmten literarischen Texte, von Arnold Zweigs Erziehung vor Verdun über Ludwig Renns Der Krieg bis zu Emst Jüngers In Stahlgewittern, die Authentizität begrenzter Augenzeugenschaft fur sich in Anspruch genommen haben, während die umfassenden Generalstabsdarstellungen solche Formen von Authentizität gemieden und statt dessen auf vom unmittelbaren Geschehen abstra-
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So ist Napoleon auch zum Vorwurf gemacht worden, daß er die Schlachtenbilder Lejeunes, Swebachs, Taunays, Thévenins, Vernets u.a. als Mittel politischer Propaganda nutze (zahlreiche dieser Schlachtengemälde in Eckart Kiessmann / Karl-Heinz Jürgens: Napoleon. Lebensbilder. Bergisch Gladbach 1988, passim.) Böse Zungen in Paris hätten behauptet, schreibt Delbrück (Kriegskunst. Bd. 4 [wie Anm. 19], S. 567), „daß der Sieg von Marengo im Grunde nicht ihm (Napoleon, H.M.), sondern dem auf dem Schlachtfelde gebliebenen Desaix zu verdanken sei. Dem zu begegnen, ließ der Kaiser einen amtlichen Bericht über den Feldzug ausarbeiten, den er selbst korrigierte und der gemäß diesen Korrekturen umgearbeitet werden mußte und die Wahrheit auf das gröblichste vergewaltigte, in dem Sinne, daß der Feldherr alles vorher gewußt und vorher berechnet habe, das zeitweilige Zurückweichen der Franzosen aber und die kritischen Momente der Schlacht unterdrückte." Eine ähnliche Funktion dürfte Lejeunes Gemälde der Schlacht von Marengo gehabt haben, das in den Salons von 1801 und 1802 ausgestellt und mehrfach ausgezeichnet wurde. In Krieg und Frieden hat Leo Tolstoi eine aus einem Patchwork von Episodennarrationen hergestellte Darstellung der Schlacht von Borodino gegeben, wobei der Perspektive Pierre Besuchows, der als „Schlachtenbummler" von Ereignis zu Ereignis eilt, eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Fontane hingegen hat eine bewußt persönliche Perspektive eingenommen, seinen Berichterstatter dafür im Zentrum der Entscheidung positioniert. Das Gegenteil hierzu ist Fabrizio del Dongo, den Stendhal in seiner Kartause von Parma orientierungslos über das Schlachtfeld von Waterloo reiten läßt. Vgl. dazu Herfried Münkler: Schlachtbeschreibung: Der Zweite Weltkrieg in der Wahrnehmung und Erinnerung der Deutschen. In: Leviathan 13 (1985), Heft 1, S. 129-146.
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hierende Begriffe und Schemata gesetzt haben.63 Aus dieser Sicht kommt Solschenizyns August vierzehn eine so herausgehobene Bedeutung unter den jüngeren literarischen Schlachtbeschreibungen zu, weil hier noch einmal der Versuch einer Zusammenführung der beiden sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts trennenden Prinzipien von Bericht und Analyse unternommen worden ist. Clausewitz' kurzer Bericht über die Schlacht von Borodino ist auch darum ein so herausragendes Beispiel der Schlachtbeschreibung, weil es hier einem professionellen Analytiker des Kriegsgeschehens gelungen ist, die kriegsgeschichtlich immer weiter auseinanderfallenden Perspektiven und Analyseebenen in knapper Form zusammenzubinden.
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Aus deutscher Sicht ist zu nennen Reichsarchiv (Hg.): Der Weltkrieg 1914 bis 1918. 14 Bde. Berlin 1925-1944.
Abb. 2: Plan de la Bataille de Borodino, aus: Carl von Clausewitz: Historical and Political Writings. Hrsg. von Peter Paret und Daniel Moran. Princeton N. J. 1992, S. 150f.
MARTIN DÖNIKE
Antonio Canovas Herakles und Lichas oder die Unmöglichkeit des Schlachtendenkmals1
Seit Menschengedenken ist es üblich g e w e s e n , nach gefochtenen Kriegen und Schlachten Denkmäler zu errichten, mit denen die Sieger geehrt, die Besiegten j e d o c h gedemütigt und an ihre Niederlage erinnert werden sollten. 2 D i e räumliche und zeitliche A u s d e h n u n g der Schlacht und des Schlachtfeldes wird dabei in einer Darstellung z u s a m m e n g e z o g e n , die zumeist in der A p o t h e o s e des Herrschers beziehungsweise seiner Feldherren gipfelt. Konstitutiv für solche Denkmäler ist, daß Sieger und Besiegte dabei klar unterschieden sind. Während der Sieger in der R e g e l als überlegener Triumphator dargestellt wird, erscheinen die von ihm B e s i e g t e n o f t als Barbaren, deren Unterlegenheit sich nicht nur in Mimik, Gestik und Physiognomie, sondern auch in der Stellung der Figuren zueinander ausdrückt: der Sieger triumphiert über den Besiegten, er drückt ihn zu Boden, reitet über ihn h i n w e g oder tritt seine Insignien mit Füßen. 3 Z w e i f e l an der Berechtigung des Siegers, s o zu handeln, sind dabei e b e n s o w e n i g erwünscht w i e auch nur eine R e g u n g v o n Mitleid mit d e m Besiegten.
1 Für Hinweise und die kritische Lektüre des Textes danke ich Heiko Damm, Florenz, und Ulrike Tarnow, Rom. Erst nach Fertigstellung des Manuskripts (September 2000) ist der folgende Aufsatz erschienen, der sich ebenfalls mit Canovas Herakles-und-Lichas-Gmppe beschäftigt: Steffi Roettgen: Und so gross die Figur ist, so ist sie doch ohne Grösse. Canovas Carattere Forte im Spiegel der Kritik seiner Zeit. In: Ästhetische Probleme der Plastik im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Andrea M. Kluxen. Nürnberg 2001, S. 73-109. 2 Siehe dazu Alan Borg: War Memorials. From Antiquity to the Present. London 1991; vgl. auch Stephen Greenblatt: Bauernmorden: Status, Genre und Rebellion. In: ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin 1991, S. 55-87, bes. S. 55-67. - An traditionellen Formen des Schlachtenbzw. Kriegsdenkmals sind zu nennen: Siegessäule, Triumphbogen, Reiterstandbild, Feldherrenstandbild, Trophäen etc. Als Sonderformen können architektonische Siegesmale im folgenden nicht berücksichtigt werden. 3 So stellt beispielsweise auch das heute auf dem römischen Kapitolsplatz aufgestellte Reiterstandbild des Philosophenkaisers Marc Aurel ein solches Triumphieren über einen besiegten Gegner dar. Ob sich unter dem rechten Vorderhuf des Pferdes ursprünglich tatsächlich die Figur eines kauernden Barbaren befand, wie sie bei anderen römischen Reiterdarstellungen durchaus üblich ist, ist in der archäologischen Fachliteratur allerdings umstritten.
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Sieg und Niederlage sind - im Sinne des Siegers - gerecht verteilt, und das Denkmal soll anschaulicher Ausdruck dieses Verhältnisses sein. Im Jahre 1799 trat der Rat der Stadt Verona an den italienischen Bildhauer Antonio Canova mit der Bitte heran, ein Denkmal zu entwerfen, das an den Sieg österreichischer Truppen über die Franzosen in der .Schlacht von Magnano' erinnern sollte. Die Tatsache, daß die Stadtväter sich eine Porträtstatue des österreichisch-habsburgischen Herrschers Franz II. wünschten, zeigt, daß sie hierbei an ein konventionelles Schlachtendenkmal dachten und von Canova einen ebenso konventionellen Entwurf erwarteten. Was dieser ihnen aber anbot, war alles andere als konventionell, ja sogar im höchsten Grade ungewöhnlich: Canova schlug vor, statt des triumphierenden Franz II. den vor Schmerzen rasenden Herakles darzustellen, dessen Körper vom Gift des Nessushemdes zerfressen wird, und der den unwissenden Überbringer dieses Gewandes, den Boten Lichas, am Fußgelenk gepackt hat, um ihn mit todbringender Kraft ins Meer zu schleudern 4 (Abb. 1). Der locus classicus für diese Geschichte findet sich in Sophokles' Tragödie Die Trachinierinnen, in der die Folgen des fatalen Versuchs der Deianeira, ihren treuebrüchig gewordenen Gatten mittels eines vermeintlichen Liebeszaubers wieder an sich zu binden, wie folgt beschrieben werden: Als er ein großes Opferfest beginnen will, kommt der vertraute Lichas von daheim zu ihm, um dein Geschenk zu bringen: das tödliche Gewand. Er zieht es an, wie du es vorgeschrieben hast, [...] Zuerst nun freute sich der Ärmste seines Schmucks und Festgewands und betete mit heitrem Sinn. Doch als der hehren Weihehandlung Brand emporgelodert war blutrot aus harzigem Fichtenholz, quoll aus der Haut der Schweiß ihm, und es haftete am Leib ihm, wie von einem Künstler festgeleimt an jedes Glied, das Kleid; ein jähes Zucken fuhr ihm krampfhaft durchs Gebein, und dann durchwühlt' es ihn wie einer mörderisch feindseligen Schlange Gift. Und schließlich schrie er nach dem unglückseligen Lichas, der keine Schuld an deiner Untat trug: warum mit arger List er diesen Rock gebracht. Doch er, der Arme, wußte nichts: von dir nur sei die Gabe, sagt' er, wie ihm aufgetragen war. 4 Grundlegend für die Beschäftigung mit Canovas Vorschlag, Herakles und Lichas in Verona aufzustellen, ist die von Giuseppe Consolo zusammengestellte Briefsammlung: Ercole e Lica di Antonio Canova che Verona acquistava per eternare la memoria della battaglia di 5 aprile 1799. Padova 1839. Siehe darüber hinaus: Giampaolo Marchini: La battaglia di Magnano e un mancato monumento del Canova a Verona. In: Vita Veronese 28 (1975), S. 329-339; Vittori Malmani: Canova. Milano 1911, S. 68-70, 187f. sowie die zeitgenössische Quellenliteratur: Melchior Missirini: Della Vita di Antonio Canova Libri Quattro. Prato 1824, Libro Secondo, S. 131-141; Quatremère de Quincy: Canova et ses ouvrages ou mémoires historiques sur la vie et les travaux de ce célèbre artiste. Paris 1834, S. 381, 383; Antonio d'Esté: Memorie di Antonio Canova. Ed. Alessandro d'Esté. Firenze 1864, S. 81-85.
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Und er, da er es hörte, während wilder Schmerz sein ganzes Inneres durchschüttert und durchkrampft, packt ihn am Beine, dort wo das Gelenk sich krümmt, und schleudert bis zum meerumspülten Felsen ihn. Durchs Haupthaar spritzt ihm weißes Hirn heraus, nachdem blutüberströmt sein Schädel mittendurch zerbarst.5 Canovas Vorschlag, Herakles und Lichas als Schlachtendenkmal zu errichten, überrascht, insofern hier nicht ein Sieger und ein Besiegter, sondern zwei Besiegte dargestellt sind: Lichas ist das augenscheinliche Opfer von Herakles' Gewalttat, aber auch der Täter selbst ist ein Besiegter - und zwar durch das Gift der Hydra, mit dem er selbst einst den Kentauren Nessos getötet hatte und das nun, vermischt mit dem Blut des Kentauren, seinen eigenen Körper zerfrißt. Deutlicher als bei Sophokles findet sich diese Tatsache bei Ovid formuliert, der von dem durch Herakles Pfeil tödlich Getroffenen berichtet: „exstabat ferrum de pectore aduncum. / quod simul evulsum est, sanguis per utrumque foramen / emicuit mixtus Lernaei tabe veneni. / excipit hunc Nessus ,neque enim moriemur inulti' / secum ait et calido velamina tincta cruore / dat munus raptae velut inritamen amoris." („Der Brust entragt die hakige Spitze. / Als es herausgezogen, da spritzte das Blut aus den beiden / Löchern hervor, vermischt mit dem tödlichen Gifte der Hydra. / Nessus fing es auf. ,Denn nicht ungerächt werde ich sterben', / spricht er zu sich und schenkt der Geraubten das mit dem warmen / Blute getränkte Gewand als ein Mittel, Liebe zu wecken.")6 Aus dieser Perspektive betrachtet erinnert die Marmorgruppe nicht an ein Schlachtfeld, sondern stellt - pointiert formuliert - selbst eines dar. Unkonventionell erscheint darüber hinaus auch, daß Canova dieses Werk nicht erst für den aktuellen Anlaß, die .Schlacht von Magnano', sondern ursprünglich bereits 1795 für einen neapolitanischen Adligen entworfen hatte, der seine Kommission jedoch schon zwei Jahre später zurückzog, womit die Gruppe disponibel geworden war. Den Gedanken, Herakles und Lichas als Schlachtendenkmal in Verona aufzustellen, kann man
5 Sophokles: Die Trachinierinnen, Vers 756-782 (Übersetzung zitiert nach: Dramen. Hg. und übers, von Wilhelm Willige, Überarb. von Karl Bayer. München/Zürich 1985). Daß Canova bei der inventio seiner Skulptur auf Sophokles zurückgegriffen hat, ist in der Forschung allgemein anerkannt und wird zudem durch einen von Canova autorisierten Stich Fontanas belegt, siehe hierzu Fehl: Hercules and Lichas: Notes regarding a small bronze in the North Carolina Museum of Art. In: North Carolina Museum of Art Bulletin 8 (1968/69), S. 3-25, hier S. 22, Anm. 19. Künstlerische Darstellungen der Szene vor Canova sind eher selten, siehe die Auflistung der Werke in: Herakles/Herkules. 2 Bde. Hg. v. Ralph Kray/Stephan Oettermann. Bd. II: Medienhistorischer Aufriß. Repertorium zur intermedialen Stoff- und Motivgeschichte. Basel/Frankfurt a. M. 1994, Nr. 2171 (Bramantino), 2183 (Tempesta), 2192 (Tintoretto), 2846 (Domenichino), 3088 (Houasse), 3127 (Limborch), 3297 (Unterberger), 3358 (Géricault). Nur spekulieren läßt sich darüber, ob Canova die Stelle kannte, wo Plinius die Statue eines „mit dem Chiton bekleideten Herakles [...] mit wildem Blick, und das Todbringende des Chitons fühlend [torva facie sentiensque suprema tunicae]", erwähnt (Plinius: Historia Naturalis. Hg. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. Bd. 34. München 19xx, S. 68 [= Kap. XIX, § 93]). Lessings Laokoon zufolge war dieser „leidende Herkules" allerdings nicht der schreiende Sophokleische, sondern „mehr finster als wild" (Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt a. M. 1985-2000, hier Bd. 5.2, S. 30). 6 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Übers, von Erich Rösch. Hg. von Niklas Holzberg. Zürich/Düsseldorf 1996. Buch 9, Vers 128ff.
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also durchaus als eine Form künstlerischen Recyclings bezeichnen. Die Diskrepanz zwischen der konventionellen Darstellungsaufgabe und Canovas so unkonventioneller Lösung ließe sich somit aus der autonomen Genese des Werkes erklären. Unbeantwortet bliebe damit aber die Frage, wie es überhaupt möglich war, daß Canova eine so offensichtlich unpassende Skulpturengruppe als Schlachtendenkmal anbieten konnte, und was ihn hoffen ließ, daß die Auftraggeber seinen Vorschlag dennoch annehmen würden. Was beide Schlachtfelder, das reale von Magnano und das in Marmor gehauene von Canova, miteinander zu tun haben, was sie trennt, aber auch, was sie verbindet, und welche Schlüsse sich unter Umständen aus dem letztendlichen Scheitern des Projekts für die Geschichte des Schlachtendenkmals ziehen lassen, darum soll es auf den folgenden Seiten gehen.
I. Mit Ausnahme der beiden großen Inseln Sardinien und Sizilien sowie dem im Besitz Österreich-Habsburgs befindlichen Veneto stand zu Beginn des Jahres 1799 nahezu ganz Italien unter der Kontrolle des revolutionären Frankreich (Abb. 2). Nachdem der gerade erst siebenundzwanzigjährige Napoleon im März 1796 zum Führer der französischen Armee in Italien ernannt worden war, hatten seine Truppen binnen weniger Wochen nicht nur die an der Seite Sardiniens kämpfende Großmacht Österreich aus der Lombardei vertrieben, sondern darüber hinaus auch weite Teile Norditaliens besetzt. Nach dem Fall der österreichischen Festung Mantua drangen die Franzosen seit dem Februar 1797 auch auf das Gebiet der neutralen Republik Venedig vor, wo sie sich mit den Österreichern zahlreiche blutige Gefechte lieferten, aus denen sie letzten Endes jedoch siegreich hervorgingen. Mitte Mai 1797 kapitulierte Venedig kampflos. 7 Schon einige Monate zuvor, am 19. Februar 1797, hatte sich Papst Pius VI. gezwungen gesehen, den ihm von Napoleon diktierten ,Friedensvertrag von Tolentino' zu unterzeichnen, in dem der Kirchenstaat seinen Verzicht auf das Gebiet der Emilia-Romagna erklärte und sich zudem dazu verpflichtete, die berühmtesten antiken Statuen Roms, darunter den Laokoon und den Apollo von Belvedere, an Frankreich auszuliefern. 8 In den folgenden Monaten schlossen sich die ,befreiten' Gebiete Norditaliens zu der von den Franzosen kontrollierten Cisalpinischen Republik zusammen, die von den selbst in Bedrängnis geratenen Österreichern im .Frieden von Campo Formio' vom 17. Oktober 1797 notgedrungen anerkannt wurde. Zum Ausgleich und gleichsam als Entschädigung erhielt Österreich allerdings
7 Siehe hierzu u. a. Piero del Negro: Venezia e la terraferma nel 1796-1797. In: [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona, a cura di Gian Paolo Marchi e Paolo Marini. Venezia 1997, S. 34-38. Es sind übrigens genau diese kriegerischen Auseinandersetzungen auf norditalienischem Territorium, die Goethes lange vorbereitete zweite bzw. dritte Italienreise verhinderten. Siehe die diesbezüglichen Diskussionen in Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer. Hg. v. Max Hecker, 4 Bände, Bd. 1: Juli 1788 bis Juni 1797. Weimar 1917; Bd. 2: Juni 1797 bis December 1820. Weimar 1919. 8 Siehe Paul Wescher: Kunstraub unter Napoleon. Berlin 1976; Francis Haskell/Nicholas Penny: Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture 1500-1900. New Haven/London 1994, S. 108-116. - Bekanntlich ist es dem Ansehen und dem diplomatischen Geschick Canovas während des Wiener Kongresses zu verdanken, daß die meisten der geraubten Kunstwerke nach 1815 an den Kirchenstaat zurückgegeben wurden.
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Venedig und das ihm vorgelagerte Veneto einschließlich der östlich des Gardasees gelegenen Stadt Verona, wobei die Etsch als ungefähre Grenze gelten kann. In Reaktion auf die Besetzung Norditaliens sowie das sukzessive Ausgreifen der Franzosen auf den Süden des Landes, wo im Februar 1798 und im Januar 1799 die Römische und die Neapolitanische Republik ausgerufen wurden, bildeten Österreich, Rußland, England, Neapel und das ebenfalls in seinen Interessen berührte Osmanische Reich eine neue, die sogenannte .Zweite Koalition', die der französischen Expansion in Europa, aber auch in Ägypten, wohin Napoleon seine Truppen mittlerweile gelenkt hatte, entgegentreten sollte. An drei Fronten - in Deutschland und den Niederlanden, in der Schweiz und in Italien rückten die Alliierten gegen die Franzosen vor. Nach fast zweijähriger Waffenruhe war somit im März des Jahres 1799 der, wie es der preußische General Karl von Clausewitz in seinen hinterlassenen Werken formulieren sollte, „Augenblick eines großen europäischen Kampfes wieder erschienen."9
II. Während die Feindseligkeiten in der Schweiz und in Süddeutschland bereits Anfang bzw. Mitte März eröffnet wurden, dauerte es in Italien bis zum Ende des Monats bis Österreicher und Franzosen in der Nähe von Verona aufeinandertreffen sollten. Unter dem Befehl General Schérers rückten am 26. März 1799 ungefähr 46 000 Franzosen aus den Festungen Peschiera und Mantua gegen ungefähr 58 000 entlang der Etsch in Stellung gegangene Österreicher an. Das Resultat des Treffens war für beide Seiten ernüchternd: Zwar konnten die Franzosen bei Pastrengo und Verona vordringen, doch fugten die von General Kray befehligten Österreicher ihnen auf ihrem rechten Flügel eine völlige Niederlage bei. Keine der beiden Seiten konnte die erzielten Erfolge zu ihrem Vorteil nutzen. Nach eigenen Angaben verloren die Franzosen während dieses einen Tages ungefähr 4 000 Mann (darunter 800 Tote, 2 220 Verletzte und rund 1 000 Gefangene); die Österreicher bezifferten ihre Verluste auf 7 000 Mann (darunter ca. 700 Tote, mehr als 3 000 Verwundete und 3 000 Gefangene).10 Tage der Unentschlossenheit über das weitere Vorgehen vergingen, bis sich beide Parteien am 5. April südlich von Verona, auf der Ebene zwischen den Flüssen Mincio und Etsch, wieder gegenüberstanden. (Abb. 3) Geschwächt durch Verluste befanden sich auf der 9
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Hinterlassene Werke des Generals von Clausewitz über Krieg und Kriegsführung. Bd. 5: Die Feldzüge von 1799 in Italien und der Schweiz. Erster Theil. Berlin 1833, S. 13. Zu den historischen wie auch militärischen Ereignissen der Jahre 1796 bis 1800 vgl. auch Edgar R. Rosen: Italien im Französischen Zeitalter (1796-1815). In: Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Walter Bussmann, Stuttgart 1981, S. 778-827, insbes. S. 779-792. Ein hilfreicher Überblick findet sich bei R. Ernest Dupuy/Trevor N. Dupuy: The Encyclopedia of Military History from 3500 Β. C. to the present. New York 1970, S. 663-693. Zu den hier nur ungefähr angegebenen, von Autor zu Autor variierenden Angaben, siehe die in Anmerkung 11 genannten Quellen. - Zu Barthélemy-Louis-Joseph Schérer (1747-1804) siehe den entsprechenden Artikel in Pierre Larousse: Grand Dictionnaire universel. Paris 1865ff. Bd. 14, S. 346f., zu Paul Kray (1735-1804), der den eigentlichen österreichischen Befehlshaber, General Melas, vor Verona zu vertreten hatte, siehe den Eintrag in der Allgemeinen Deutschen Biographie. Bd. 17 (1883), S. 93-96 (mit weiterer Literatur).
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Seite der Franzosen nur noch etwas mehr als 40 000 Mann, auf der Seite der Österreicher, deren Hauptmacht Kray vor Verona zusammengezogen hatte, ungefähr 45 000 Mann. Den zeitgenössischen Quellen zufolge hatte die gesamte Front, zwischen Villafranca im Westen und Zevio im Osten, eine Ausdehnung von „beinahe vier Stunden", das Wetter war regnerisch, das Gelände zum Teil sumpfig. Die Schlacht, die sich die beiden gegnerischen Armeen an diesem Tag, dem 5. April 1799, liefern sollten, wurde unter den Zeitgenossen als die .Schlacht von Magnano' bekannt - benannt nach einem kleinen, unbedeutenden Dorf in der Mitte des Schlachtfelds, wo die Franzosen einen Wachtposten eingerichtet hatten." Übereinstimmend berichten die Quellen von einem „schrecklichen Blutbad", einer „sanglante journée" beziehungsweise einer „sanguinosa azione."12 Gegen elf Uhr stießen die ersten Kolonnen der beiden Gegner im Osten bei Pozzo aufeinander, noch um fünf Uhr nachmittags dauerten die Gefechte an, und erst die eintretende Dunkelheit machte den Kämpfen ein Ende. Während die österreichischen Truppen, „durch die langandauernde und mörderische Schlacht erschöpft", die Nacht auf dem Feld zubrachten, ließ der verunsicherte General Schérer die gesamte französische Armee gegen Mitternacht den Rückzug antreten. An Verlusten zählte man an diesem Tag auf Seiten der Österreicher 6 000, auf Seiten der Franzosen 8 000 Mann - insgesamt also 14 000 Soldaten, darunter ungefähr 8 000 Tote und Verwundete. Die Österreicher nutzten den voreiligen Rückzug der Franzosen als Ausgangspunkt einer großangelegten Gegenoffensive. Unter dem Kommando des wenige Tage nach der Schlacht in Verona eingetroffenen russischen Generals Suwarow gelang es den verbündeten Truppen, bis zum Ende des Jahres 1799 praktisch alle militärischen Eroberungen der Franzosen in Norditalien rückgängig zu machen. Schon am 28. April fiel Mailand, am 26. Mai
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Zur .Schlacht von Magnano' und den ihr vorausgehenden Gefechten siehe (in chronologischer Reihenfolge) u. a.: Collezione istorica di tutti i fatti d'arme ed altri avvenimenti di guerra avuto luogo in Italia fra le armate belligeranti nel corrente anno 1799. Dal esplosione dell'ostilità a tutto il dì 23. Luglio. Roma 1799, S. 4f; Henry de Jomini: Histoire critique et militaire des guerres de la révolution. Bd. 11: Campagne de 1799. Première Période. Paris 1822, S. 145-197; Carl von Clausewitz: Die Feldzüge von 1799 in Italien. In: Clausewitz [wie Anm. 9], S. 167-288; Geschichte des Fürsten Itaiiiski Grafen Suwaroff-Rimnikski, Generalissimus der russischen Armeen. Nach N. A. Polewoi. Hg. von J. de la Croix. Mitau 1851, S. 239-245; Alexander Iwanowitsch Michailowski-Danilewski/Dimitri Alexewitsch Milutin: Geschichte des Krieges Rußlands mit Frankreich unter der Regierung Kaiser Paul's I. im Jahre 1799. Bd. 1. München 1856, S. 186-205 (hier S. 201 die Angabe über die Ausdehnung der Front), S. 521-540 und Karten Nr. 9 bis Nr. 11; Alessandro Verri: Vicende Memorabili dal 1789 al 1801. Milano 1858, S. 443-447; Felice Turotti: Storia dell'Armi Italiane dal 1796 al 1814. Bd. 1. Milano 1858, S. 374-377; Guerres des Français en Italie depuis 1794 jusqu'à 1814. Bd. 1. Paris 1859, S. 403-419 (hier S. 417 der Hinweis, daß die Schlacht „von Magnano" heiße, „parce que le quartier général français avait établi la veille dans ce village"); Osvaldo Perini: Storia di Verona dal 1790 als 1822. Bd. 2. Verona 1874, S. 529-537; Edouard Gachot: Souvarow en Italie. Paris 1903, S. 86-89; Hermann Hüffer: Der Krieg des Jahres 1799 und die zweite Koalition. Bd. 1. Gotha 1904, S. 32-35: A. F. Trucco: Gallia contra omnes. L'anno 1799. Appunti storici e militari sugli avvenimenti d'Italia. Milano 1904, S. 159-177; Arturo Vacca Maggiolini: Da Valmy a Waterloo. Le guerre della rivoluzione de dell'impero. Bd. 1 (1792-1804). Bologna 1939, S. 301-308; Michel Vovelle: La Revolution Française. Images et récit. 1789-1799. Bd. 5. Paris 1986, S. 276ff.
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Siehe Biographien der ausgezeichnetesten Feldherren der k. k. österreichischen Armee, aus der Epoche der Feldzüge 1788-1821. Hg. v. Johann Ritter von Rittersberg. Prag 1829, S. 306; Jomini [wie Anm.l 1], S. 194; Collezione istorica [wie Anm.l 1], S. 5.
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Turin, im Juni und Juli dann endlich auch Modena und Mantua - Ereignisse von nicht nur militärischer, sondern auch literarischer Bedeutung, insofern sie aller Wahrscheinlichkeit nach den Hintergrund für Kleists Erzählung Die Marquise von O. abgeben.13 Doch sollten die Erfolge der Österreicher nicht von langer Dauer sein, die Sieger wieder zu Besiegten werden: Kaum aus Ägypten wieder in Frankreich eingetroffen, kehrte Napoleon im Mai des Jahres 1800 auf das italienische Schlachtfeld zurück. Nach der .Schlacht von Marengo' (14. Juni 1800), die die .Schlacht von Magnano' aus der historischen Erinnerung verdrängen sollte, mußten sich die Österreicher aus den von ihnen gerade erst eroberten Gebieten wieder zurückziehen. Mit einem Mal war sogar Wien selbst bedroht. Ganz Europa begann sich in ein Schlachtfeld zu verwandeln, das sich in den folgenden Jahren von Spanien bis England und von Frankreich bis nach Rußland erstrecken sollte.
III. Aber kehren wir in das Jahr 1799 und zu der .Schlacht von Magnano' zurück. Nachdem die französischen Truppen sich geschlagen gegeben und hinter ihre ursprüngliche Verteidigungslinie zurückgezogen hatten, hielten die Österreicher unter dem Jubel der Bevölkerung Einzug in Verona.14 Die Freude über den Sieg war so groß, daß der Rat der Stadt Verona schon bald den Entschluß faßte, ein „Monument zum ewigen Gedenken der siegreichen österreichischen Armee"15 zu errichten, mit dem zugleich der habsburgische Herrscher Kaiser Franz II. geehrt werden sollte. Als ausführenden Künstler wünschte man sich den berühmtesten italienischen Bildhauer der Zeit, den damals zweiundvierzigjährigen Antonio Canova, der sein Können bereits in zwei Papstgrabmälern sowie in mythologischen Gruppen wie zum Beispiel Amor und Psyche (heute Paris, Louvre) unter Beweis gestellt hatte. Als Sujet stellte man sich „la statua rappresentante Sua Maestà, con de' simboli significanti la battaglia de' 5, che assicurò lo Stato ex-veneto dalla incursione francese" vor - eine Porträtstatue Franz' II. also, der sich auf die .Schlacht von Magnano' beziehende Symbole oder Abzeichen beigegeben sein sollten.16 Allerdings wollte man an dieser „idea", falls sie Canova nicht zusagen würde, nicht
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Siehe Heinz Politzer: Der Fall der Frau Marquise. Beobachtungen zu Kleists .Marquise von Ο . . Λ In: DVjs 51 (1977), S. 98-128, hier S. 196f. Politzer schlägt vor, die „bekannte Stadt M..." (so Kleist) als Modena zu identifizieren. Verona hatte vor der Phase der französischen Okkupation (1. Juni 1796 bis 20. Januar 1798) zu Venedig gehört. Vom 17. bis zum 24. April 1797 war es in Verona zu Aufständen gegen die Franzosen, den sogenannten .Pasque Veronesi' gekommen. Siehe dazu neuerdings Francesco Vecchiato: La resistenza antigiacobina e le pasque veronesi. In: [Kat.] 1797 Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], S. 181-200. „II Generale Consiglio di Verona ha preso parte di erigere un monumento ad eterna memoria delle vittoriose armi austriache." (Brief Francesco Marco Cremas an Cav. Co. Giovanni de Lazara, 4. Mai 1799, zitiert nach Consolo [wie Anm. 4], S. 9). Francesco Marco Crema an Giovanni di Lazara, 4. Mai 1799, zitiert nach Consolo [wie Anm. 4], S. 10. Vgl. die Bezeichnung des geplanten Denkmals als „un monumento a trofeo che fosse degno di esprimere quelle insigni vittorie, che riportate dall'armi invitte dell'Augusto Sovrano sotto le sue [i. e. Verona, M. D.] mura" (Gaspare Co. Bevilacqua Lazzise an Canova, 31. Mai 1799, ebd., S. 19) bzw. als „trofeo
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unbedingt festhalten und war bereit, sich mit dem Künstler zu arrangieren: „[...] con lo scultore", so heißt es in dem bereits zitierten Brief vom 4. Mai 1799, „si combinerà tutto." Aufgestellt werden sollte das Monument auf der im Zentrum der Stadt vor dem antiken Amphitheater gelegenen Piazza Bra (Abb. 4), wo sich bis 1797 ein Denkmal befunden hatte, das in Form zweier allegorischer Frauengestalten die Städte Venedig und Verona darstellte, und das zwei Jahre zuvor von den damals noch französischen Besatzern als ein Symbol venezianischer Herrschaft auf der terra ferma zerstört worden war. An die Stelle des alten, venedigtreuen Denkmals sollte nun also ein neues Monument treten, mit dem man der siegreichen .Schlacht von Magnano' gedenken sowie vor allem der Loyalität der Stadt Verona gegenüber ihrem neuen Herrscher, dem Habsburger Franz II., öffentlich Ausdruck geben wollte. 17 Das Gesuch wurde über einen als Mittelsmann eingeschalteten Freund Canovas, Tiberio Roberti, am 7. Mai 1799 an den Künstler weitergeleitet, der sich zu diesem Zeitpunkt in seiner ebenfalls im Veneto gelegenen Heimatstadt Possagno aufhielt. Rom, wo Canova sein eigentliches Atelier unterhielt, war bereits im Februar 1798 von französischen Truppen besetzt worden und sollte dies auch noch bis zum Ende des Jahres 1799 bleiben. Als der Brief Robertis bei Canova eintraf, waren seit der ,Schlacht von Magnano' gerade einmal vier Wochen vergangen. Noch am selben Tag antwortete Canova, daß er sich durch das Gesuch des Rates der Stadt Verona geschmeichelt fühle, ihrer Bitte aber nicht entsprechen könne, da er schon zu viele Aufträge angenommen habe, die ihn noch auf Jahre beschäftigen würden.18 Seinem Freund Roberti stellte er jedoch anheim, den Veronesen als Ersatz eine mythologische Gruppe, darstellend Herakles und Lichas, anzubieten, die er zwar für Neapel entworfen habe, die nun aber die Stadt Verona erwerben könne.19
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a solenne ricordanza delle vittorie ultimamente riportate nel Veronese dalle II. RR. Truppe" (Baron Thugut an den Rat der Stadt Verona, 22. Juni 1799, ebd., S. 29). Das 1634 errichtete Monument war im Mai 1797 im Gefolge der Pasque Veronesi zerstört worden. Erhalten ist heute nur noch der Dogenhut, der die die Stadt Venedig repräsentierende Frauengestalt gekrönt hatte. Siehe [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], S. 263, Nr. 69 (mit Abbildung) und Marchini [wie Anm. 4], S. 333. Siehe den entsprechenden Brief bei Consolo [wie Anm. 4], S. 13. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu Canova seien hier nur die folgenden, seine Heraklesund-Lichas-Gnippe betreffenden Arbeiten und Anmerkungen genannt: Rudolf Zeitler: Klassizismus und Utopia. Interpretationen zu Werken von David, Canova, Carstens, Thorvaldsen, Koch. Stockholm 1954, S. 104-108, 127f.; Hugh Honour: Antonio Canova and the Anglo-Romans. Part II: The First Years in Rome. In: The Conoisseur 144 (1959), S. 230 (mit einem Vergleich der Herakles-und-LichasGruppe mit John Flaxmans The Fury of Athamas); Frederick Cummings: The Selection of „Style" in Neo-Classical Art as Exemplified in Antonio Canova's „Hercules and Lichas". In: Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes. Akten des 21. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964. Berlin 1967, S. 232-235; Hugh Honour: Neo-Classicism. Harmondsworth 1968, S. 77f.; Fehl [wie Anm. 5]; Mario Praz/Giuseppe Pavanello: L'Opera completa del Canova. Milano 1976, Nr. 131, S. 106f.; Ottorino Steffani: La Poetica e l'Arte del Canova. Tra Arcadia, neoclassicismo e romanticismo. Treviso 1980. S. 71-80; Fred Licht: Antonio Canova. Beginn der modernen Skulptur. München 1983. S. 189-191; [Kat.] Antonio Canova. Venezia 1992, S. 108; Barbara Steindl: Mäzenatentum im Rom des 19. Jahrhunderts: Die Familie Torlonia. Hildesheim/Zürich/New York 1993, S. 82-96; Werner Hofmann: Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830. München 1995, S. 85; [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], Nr. 209-213, S. 347-354; Franco Cardini: L'Ercole e Lica di Antonio Canova e la campagna bonapartista d'Italia ovvero l'eterogenesi dell'allegoria. In: [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], S. 201-202. Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Christopher M. S. Johns: Antonio Canova's Drawings for Hercules and Lichas. In: Master Dra-
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Canovas Argumentation, mit der er seine damals nur als Gipsmodell existierende Gruppe den potentiellen Auftraggebern schmackhaft zu machen versucht, ist für das Verständnis des Folgenden von solcher Bedeutung, daß sie hier in Gänze zitiert werden soll. Vor dem Hintergrund seiner Ablehnung des Gesuchs um eine Statue Franz II. schreibt Canova an Roberti: Sentite per altro la proposizione che fo a voi; e se mai non la trovaste da rigettare, fatene quell'uso che credete. / Voi già sapete, che a Roma io stava lavorando per certo signore di Napoli un gruppo rappresentante Ercole furioso che getta Lica nel mare, e questo della grandezza del celebre Ercole Farnese. Non so poi se io v'abbia mai raccontata la storiella di certi Francesi sopra di quel gruppo. Questi dicevano che tal'opera avrebbesi dovuto collocarla a Parigi; che l'Ercole sarebbe stato YErcole francese, che gettava la Monarchia al vento. / Voi ben sapete ancora se io per tutto l'oro del mondo avessi mai aderito a tale idea. Ma ora questo Ercole non potrebb'egli forse essere inverso della proposizione del Francese? Non potrebb'essere Lica la licenziosa libertà? Nel piedestallo poi del gruppo vi si potrebbe scolpire qualche fatto dei più interessanti. Cosa ne dite? In questo modo il monumento sarebbe di già avanzato, giacché il signore di Napoli, attese le accadute circostanze, mi lascia in libertà il lavoro, se il voglio. Quanto compatimento abbia poi riscosso il modello grande di quest'opera, voi anche questo lo sapete. Fate voi ora quello che credete.20 Auffällig ist, daß Canova - mit Ausnahme der Nennung des Themas - jegliche inhaltlichdeutende Äußerung zu seiner Gruppe im Konjunktiv formuliert. Canova sagt nicht, was die Herakles-und-Lichas-Gruppe bedeutet, sondern fuhrt lediglich an, was sie - in den Augen anderer - bedeuten könnte. Zwar läßt er Roberti wissen, daß er selbst „für alles Gold in der Welt" niemals einen Französischen Herkules dargestellt hätte, eine positive Aussage dar-
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Drawings 27 (1989), S. 358-367; ders.: Antonio Canova and Austrian Art Policy. In: Austria in the Age of the French Revolution 1789-1815. Hg. v. Kinley Bauer und William E. Wright. Minneapolis 1990, S. 83-90; ders.: Antonio Canova and the Politics of Patronage in revolutionary and napoleonic Europe. Berkeley/Los Angeles/London 1998, S. 124-129. „Hört ansonsten den Vorschlag, den ich Euch mache, und falls Ihr nicht findet, daß er abzulehnen sei, macht nach Eurem Gutdünken Gebrauch davon. / Ihr wißt bereits, daß ich in Rom für einen gewissen Herrn aus Neapel an einer Gruppe gearbeitet habe, die den rasenden Herkules zeigt, wie er Lichas ins Meer schleudert, und dies in der Größe des gefeierten Herkules Farnese. Ich weiß nun nicht, ob ich Euch je von der kleinen Geschichte (Histörchen) gewisser Franzosen hinsichtlich dieser Gruppe erzählt habe. Diese behaupteten, das Werk habe in Paris aufgestellt werden sollen; der Herkules sei der Französische Herkules, der die Monarchie hinauswerfe. / Ihr wißt noch sehr gut, daß ich für alles Gold der Welt niemals einer solchen Idee angehangen hätte. Aber könnte nun dieser Herkules nicht vielleicht das Gegenteil zu jenem Vorschlag der Franzosen sein? Könnte Lichas nicht die zügellose Freiheit darstellen? Auf dem Sockel der Gruppe ließen sich sodann die allerinteressantesten Fakten meisseln. Was sagt Ihr dazu? Auf diese Weise wäre das Monument weit fortgeschritten, da der Herr aus Neapel, in Anbetracht der eingetretenen Umstände, mir mit dieser Arbeit freie Hand läßt, wenn ich will. Wieviel Betrübnis schließlich das große Modell zu diesem Werk verursacht hat, Ihr wißt auch das. Tut nun, was Ihr denkt." (Canova an Tiberio Roberti, 7. Mai 1799, zit. nach Consolo [wie Anm. 4], S. 14.) - Zu den Inschriften und Basreliefs, die auf dem ca. 1, 40 Meter hohen Sockel angebracht werden sollten, siehe die bei Consolo [wie Anm. 4], S. 17f., 20f., 23, 24 abgedruckten Briefe sowie Marchini [wie Anm. 4], S. 336f. und [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], S. 351.
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über, was er mit seiner Gruppe jenseits der mythologischen Begebenheit aussagen will, macht er jedoch nicht. Allen seinen Äußerungen haftet somit etwas eigentümlich Ambivalentes an. Ähnlich wie Canova sich einer positiven Aussage über die Bedeutung des Kunstwerks entzieht, so entzieht er sich auch der Entscheidung darüber, ob Herakles und Lichas der Stadt Verona angeboten werden solle oder nicht, sondern überläßt dies dem Gutdünken seines Freundes Roberti: „Sentite per altro la proposizione che fo a voi; e se mai non la trovaste da rigettare, fatene quell'uso che credete" bzw. „Fate voi ora quello che credete", heißt es am Anfang und Ende der zitierten Passage. Canova selbst nennt allein das Thema des Werkes („Ercole furioso che getta Lica nel mare"), das er „für einen gewissen Herrn aus Neapel" („per certo signore di Napoli") entworfen habe, und gibt dessen Größe („grandezza") mit derjenigen des berühmten Herkules Farnese an. Dieser Vorgabe Canovas folgend soll zunächst das ursprüngliche Projekt für Neapel genauer betrachtet werden, um vor diesem Hintergrund dann wieder Canovas Vorschlag, Herakles und Lichas in Verona aufzustellen, ins Zentrum der Überlegungen zu rücken.
IV. Canovas Entwurf der Herakles-und-Lichas-Gruppe geht auf einen Auftrag des neapolitanischen Adligen Don Onoratio Gaetani zurück, mit dem der Künstler bereits im Mai 1795 einen Vertrag über die Ausführung der Skulptur geschlossen hatte. Eine Reihe von Entwurfszeichnungen und einem Wachsmodell folgte im April 1796 ein modello der geplanten Gruppe aus Gips, dessen Größe mit 3, 35 Metern derjenigen der späteren Marmorversion entsprach.21 Aufgrund der kriegerischen Ereignisse in Norditalien, in die auch das Königreich Neapel hineingezogen wurde, zog Gaetani seine Kommission jedoch bereits im April 1798 wieder zurück. Sowohl er als auch Canova gingen ins Exil, als die Franzosen zuerst Rom und dann Neapel besetzten. Das riesige Modell der Herakles-und-Lichas-Gmppe indes blieb derweil in Canovas römischem Atelier zurück, wo es hinter verschlossenen Türen auf einen neuen Interessenten wartete. In seinem Brief an Tiberio Roberto betont Canova, daß sein Herkules genauso groß wie der berühmte Herkules Farnese (heute Neapel, Museo Nazionale) sei, und weist damit auf eines der wichtigsten Vorbilder für seine Gruppe hin. Tatsächlich weichen beide Skulpturen in der Größe um nur wenige Zentimeter voneinander ab - Canovas Herkules mißt 3, 35 Meter, der Herkules Farnese ungefähr 3, 17 Meter. Schon ein flüchtiger Vergleich der beiden Figuren läßt erkennen, daß Canova sich auch hinsichtlich Physiognomie und Anatomie an 21
Zu Auftrag und Werkgenese siehe u. a. Fehl [wie Anm. 5], S 12ff.; Johns [wie Anm. 19]; Steindl [wie Anm. 19], S. 84ff. - Eine von der Forschung offensichtlich bislang übersehene Zeichnung zu der Figur des Lichas befindet sich auf der Rückseite des auf den 19. Oktober 1795 datierten Blattes, das die Gesamtkomposition der Gruppe darstellt (Bassano del Grappa, Museo Civico, Album D l , Blatt 107-676). Ist auf der Vorderseite (107-676 recto) die Figur des Herakles vollständig ausgeführt, die des Lichas dagegen nur angedeutet, so ist auf der Rückseite des Blattes (107-676 verso) allein der Jüngling als muskulöser Torso mit kopfüber hängenden Armen und zudem in Frontalansicht dargestellt, was seine Identifikation erschwert haben mag.
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dem antiken Vorbild orientiert hat. Die Vermutung liegt somit nahe, daß Canova mit seinem rasenden Herkules ein Pendant zum ruhenden Herkules Farnese schaffen wollte, insbesondere da letzterer sich seit 1792 nicht mehr in Rom, sondern in Neapel befand. 22 Aber nicht nur der Herkules Farnese, auch andere, in erster Linie antike Skulpturen, haben Canovas Entwurf seiner Herakles-und-Lichas-Gruppe beeinflußt und sind von ihm mehr oder weniger offensichtlich zitiert worden. Zu nennen ist hier zunächst eine ebenfalls aus der römischen Sammlung Farnese stammende Skulptur, die einen schreitenden Krieger darstellt, der den Leichnam eines Kindes, das er am rechten Fuß gepackt hält, über seine linke Schulter geworfen hat, und die aller Wahrscheinlichkeit nach, ebenso wie der Herkules Farnese, aus den Bädern des Caracalla stammt.23 Bekannt gewesen sein dürfte Canova zudem eine ungefähr 20 Zentimeter große Terrakottakopie der besagten Gruppe von der Hand Stefano Madernos (1576-1636), die sich damals in der venezianischen Sammlung Farsetti befand: der Kopf des Krieger ist hier weitaus expressiver als bei der antik ergänzten Skulptur dargestellt und erinnert dadurch viel stärker an den Gesichtsausdruck von Canovas rasendem Helden.24 Herakles' Schrittstellung nimmt ganz offensichtlich diejenige der sogenannten Rossebändiger (Rom, Quirinal) bzw. der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton (Neapel, Museo Nazionale) auf, auch dies hochgeschätzte Werke der antiken Kunst, denen schließlich noch die berühmte Laokoongruppe (Rom, Vatikan) hinzuzufügen ist, die den Zeitgenossen als ein Muster der Darstellung höchsten Pathos und größten Schmerzes galt.25 Canova kannte, wie sein Auftraggeber, diese antiken Werke, an denen sich jeder moderne, und das heißt zu dieser Zeit: klassizistische Bildhauer zu messen hatte. Unverkennbar steht im Hintergrund von Canovas Entwurf der Wettstreit des modernen Künstlers mit der Antike, die dieser in seinen Werken nicht nur zu imitieren, sondern auch zu übertreffen sucht. Mehr noch: Mit Herakles und Lichas, seiner ersten freistehenden Kolossalskulptur, wollte Canova eine eindrucksvolle Probe seines Talents geben, die ihn, den Schöpfer von Amor und Psyche, als einen Meister nicht nur des Erotisch-Sensitiven, sondern ebenso des
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23
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Vgl. Cummings [wie Anm. 19], S. 234; Fehl [wie Anm. 5], S. 9ff. (mit Anmerkungen 25 und 34); Steindl [wie Anm. 19], S. 92. Zur modernen Deutungsgeschichte des Herkules Farnese insbesondere in der Zeit um 1800 siehe Haskell/Penny [wie Anm. 8], Nr. 46, S. 229-232. So schon Zeitler [wie Anm. 19], S. 117f.; Robert Rosenblum: Transformations in Late Eighteenth Century Art. Princeton 1970, S. 15; Steindl [wie Anm. 19], S. 92; [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], S. 350. Über die Interpretation der Gruppe herrscht bis heute Uneinigkeit, sie ist an zahlreichen Stellen ergänzt. So stammt der Kopf des Kriegers beispielsweise von einer anderen Skulptur. Siehe hierzu: Miranda Marvin: Freestanding Sculptures from the Baths of Caracalla. In: American Journal of Archaeology 87 (1983), S. 347-84, hier S. 358ff. mit Tafel 48. Sollte die fragliche Skulptur tatsächlich aus den Bädern des Caracalla stammen, so hätte Canova mit seinem Gedanken, Herakles und Lichas als Pendant zum Herakles Farnese zu entwerfen, die antike Präsentation künstlerisch nachempfunden. Siehe [Kat.] Alle origini di Canova. Le terrecotte della collezione Farsetti. A cura di Sergej O. Androsov. Venezia 1991. Nr. 65 (mit Abbildung); [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], S. 350. Eine mögliche Beeinflussung Canovas durch John Flaxmans Skulpturengruppe The Fury of Athamas (bzw. vice versa) muß hier außer acht gelassen werden. Siehe dazu Honour [wie Anm. 19], S. 230f.; Rosenblum [wie Anm. 23], S. 14, Steindl [wie Anm. 19], S. 92 und David Irwin: John Flaxman 17551826. Sculptor, Illustrator, Designer. London 1979, S. 57f.
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Tragischen und Gewaltsamen zeigen sollte.26 Diese Absicht wurde, wie gesagt, durch die militärischen Ereignisse verhindert, die ganz Italien in ein Schlachtfeld verwandeln sollten und - wenigstens in den Augen Canovas - selbst tragische Dimensionen anzunehmen schienen. Bereits im Dezember 1796 hatte er seinem Freund Roberti mit Bezug auf den Krieg zwischen Franzosen und Österreichern auf venezianischem Territorium geschrieben: „Ich meine zu sterben. Mein Gott, wann werden diese Plagen enden? Arme Menschheit! Arme unschuldige Leute!"27 - Drei Jahre später waren die „Plagen" noch immer nicht zu Ende, sondern vielmehr sogar eskaliert.
V. Als der Rat der Stadt Verona im Mai 1799 mit der Bitte an Canova herantrat, ein Denkmal zur Erinnerung an die .Schlacht von Magnano' zu entwerfen, und dieser ihnen stattdessen Herakles und Lichas anbot, mögen ihn sicherlich finanzielle Interessen zu diesem Vorschlag bewogen haben: Ganz abgesehen davon, daß die angespannte politische Situation potentielle Kunden davon abhielt, Kunstwerke in Auftrag zu geben oder zu erwerben, hatte Canova bereits einen sehr teuren Marmoblock für die geplante Gruppe gekauft, bevor Gaetani seinen Auftrag zurückzog.28 Als Preis für die Gruppe forderte Canova von der Stadt Verona 3 500 Venezianische Zecchinen, eine Summe an der er, wie er behauptete, so gut wie nichts verdienen würde.29 Darüber hinaus jedoch muß Canova die Chance, in Verona vielleicht nun doch noch mit einer monumentalen Skulptur im pathetischen Stil an die Öffentlichkeit treten zu können, äußerst willkommen gewesen sein. Vergleicht man die geforderten 3 500 Zecchinen mit den 18 000 Scudi, die der römische Bankier Giovanni Torlonia ihm schließlich für die Gruppe zahlen sollte, so scheint sich Canovas Vorschlag, die inhaltlich wie auch formal innovative Herakles-und-Lichas-Gruppe in Verona zu realisieren, nicht allein aus finanziellem, sondern mindestens eben so sehr aus künstlerischem Opportunismus zu speisen. Trotzdem stellt sich die Frage, wie Canova ernsthaft glauben konnte, daß die Stadt Verona ein so gänzlich unheroisches Monument als Schlachtendenkmal akzeptieren würde. In seinem oben zitierten Brief an Roberti erzählt Canova die Geschichte „di certi Francesi", die, als sie das Modell der Herakles-und-Lichas-Gruppe in Canovas Atelier sahen, behauptet hätten, daß der Herakles der „Französische Herkules" („Ercole Francese") sei, der die in Lichas verkörperte Monarchie „hinauswerfe". Mit dem Hinweis, daß er „für alles Geld in der Welt" („per tutto l'oro del mondo") niemals einer solchen Idee angehangen habe, fragt Canova seinen Freund, ob nicht der Herkules vielleicht jetzt („ora"), das heißt nach dem Wechsel des Kriegsglücks, das genaue Gegenteil darstellen könne, soll heißen: einen 26
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Zur „Nachahmung des Gewaltsamen" als Problem der neoklassizistischen Kunsttheorie vgl. Verf.: „Die Nachahmung des Gewaltsamen". Pathos, Ausdruck und Bewegung als Darstellungsproblem in der Kunsttheorie des Weimarer Klassizismus 1796-1806. Diss. Berlin 2002. Zitiert nach Zeitler [wie Anm. 19], S. 107 und 248 (Brief vom 3. Dezember 1796). Zur finanziellen Lage Canovas im Jahre 1799 siehe Johns [wie Anm. 19], S. 124f., der hinter Canovas Vorschlag ein dezidiert finanzielles Interesse vermutet. Siehe den Brief Canovas an Tiberio Roberti, 19. Mai 1799 (Consolo [wie Anm. 4], S. 16-18). Zum Kauf der Gruppe durch Torlonia siehe Steindl [wie Anm. 19], S. 93ff.
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habsburgischen Herkules, der die von Lichas personifizierte zügellose Freiheit („la licenziosa libertà") der französischen Republikaner fortschleudere. Ist der Herkules gemäß der ersten Interpretation französisch, das heißt republikanisch-libertär, Lichas dagegen monarchistisch konnotiert, so stellt sich das Verhältnis in der zweiten, von Canova ins Spiel gebrachten Variante genau umgekehrt dar: Herkules vertritt hier die Österreicher und damit letztlich ihren Monarchen Kaiser Franz II., Lichas dagegen verkörpert die zügellose „libertà" des französischen Republikanismus. Nur auf den ersten Blick erscheinen die beiden einander diametral entgegengesetzten Interpretationsvorschläge absurd. Tatsächlich hatte die Figur des Herkules zunächst in Frankreich, dann jedoch in allen freiheitlich und damit antimonarchisch gesinnten Zirkeln Europas eine „revolutionäre Karriere" erlebt, die aus der traditionellen Allegorie des absoluten Herrschers eine Allegorie des revolutionären Volkes gemacht hatte.30 Nur drei Beispiele seien hierfür kurz genannt: In einer Radierung aus dem Jahre 1793/94 stellt ein jugendlicher, bis auf das Löwenfell nackter Herkules laut Bildunterschrift das souveräne Volk („le Peuple Souverain") dar, das die hundertköpfige Hydra, offensichtlich zu verstehen als die immer nachwachsenden Feinde des Volkes, mit seiner Keule erschlägt.31 Bereits zum Fest der Republik am 10. August 1793 war ein von dem Maler Jacques-Louis David entworfener Volksherkules auf dem Invalidenplatz zu sehen gewesen, der - mit der über den Kopf geführten Keule in der einen Hand, die andere auf ein Faszienbündel gestützt - über die zu seinen Füßen hingestreckte Hydra, dargestellt als ein Mischwesen aus Mensch und Schlange, triumphiert.32 In der französischen Zeitschrift Les Révolutions de Paris schließlich, das letzte und - im Vergleich mit Canovas Skulptur - vielleicht schlagendste Beispiel, war Ende desselben Jahres der radierte Entwurf einer auf einem Sockel postierten Kolossalstatue abgedruckt worden, die den antiken Heros als Grenzwächter Frankreichs zeigt, wie er die Heimat gegen die feindlichen Monarchien schützt - und dies, paradoxerweise, nicht als Sansculotte, sondern in kurzen Hosen, also als Culotte (Abb. 5).33 "Le Peuple mangeur de Rois" lautet
30
Vgl. hierzu Lynn Hunt: Hercules and the Radical Image in the French Revolution. In: Representations 2 (1983), Heft 1, S. 95-117; James A. Leith: Die revolutionäre Karriere des Herkules in Frankreich 1789-1799. In: Herakles/Herkules [wie Anm. 5], Bd. I, S. 131-148. - Z u m Herkules als traditionellem Tugend- und Herrscherideal siehe Klaus Herding/Rolf Reichardt: Die Bildpublizistik der Französischen Revolution. Frankfurt a. M. 1989, S. 25ff.; [Kat] Herkules. Tugendheld und Herrscherideal. Das Herkules-Monument in Kassel Wilhelmshöhe. Hg. v. Christiane Lukatis und Hans Ottomeyer. Eurasburg 1997; Friedrich Polleroß: From the exemplum virtutis to the Apotheosis: Hercules as an Identification Figure in Portraiture: An Example of the Adoption of Classical Forms of Representation. In: Iconography, Propaganda and Legitimation. Hg. v. Allan Ellenius. Oxford 1998, S. 37-62 (hier insbesondere auch zu den bekanntesten Darstellungen von Herrschern als Herkules seit Commodus, insbesondere zum Hercules Galliern.) - Daß Herkules auch Napoleon während der Zeit des Empire als Identifikationsfigur gedient hat, zeigt u. a. ein Basrelief am Triumphbogen auf der Place du Caroussel, abgebildet bei Leith, Abb. 10 (mit S. 146).
31 32
Vgl. Herding/Reichardt [wie Anm. 30], S. 143, Abb. 190; Leith [wie Anm. 30], S. 132, Abb. 3. Vgl. Hunt [wie Anm. 30], S. 99f., Abb. 3; Herding/Reichardt [wie Anm. 30], S. 143f„ Abb. 189; Leith [wie Anm. 30], S. 132, Abb. 5. Vgl. Hunt [wie Anm. 30], S. 107f., Abb. 4; Herding/Reichardt [wie Anm. 30], S. 30f., Abb. 23. Für die Argumentation ist es unerheblich, ob Canova diese Radierung gekannt hat oder, was wahrscheinlicher ist, nicht. Das Bildformular scheint in den 1790er Jahren ubiquitär gewesen zu sein, vgl. beispielsweise den Stich La Liberté de l'Italie dédiée aux Hommes Libres von 1798 (nach einem Gemälde von Philippe-Auguste Hennequin), der Napoleon zwischen Minerva und dem das italienische Volk repräsentie-
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die dazugehörige Überschrift, die keinen Zweifel daran läßt, auf wessen Seite dieser Herkules steht. Mit einer riesigen Keule in der einen Hand, einem lächerlich kleinen König in der ausgestreckten anderen, ähnelt dieser weit ausschreitende französische Herkules dem von Canova einige Jahre später entworfenen Herakles nicht nur hinsichtlich seiner Körperhaltung, sondern auch und vor allem hinsichtlich der Proportion der beiden dargestellten Figuren zueinander. Vor diesem Hintergrund mag die Interpretation, die die von Canova erwähnten „gewissen Franzosen" seinem Herkules gegeben hatten, ebenso verständlich werden wie Canovas nachdrückliches Bemühen, gerade eine solche - ikonographisch zwar naheliegende, ihn zum Zeitpunkt des Auftrags jedoch politisch kompromittierende - Deutung weit von sich zu weisen. Der Tugendheld Herkules konnte Ende der 1790er Jahre also tatsächlich beides sein: traditionelles Inbild des absoluten Herrschers und revolutionäre Personfikation des souverän gewordenen Volkes. Die Eindeutigkeit des Zeichens war einer Ambivalenz gewichen, die in der Tat beide - sich einander ausschließende - Lesarten ermöglichte.34 Wenn Canova also fragt, ob seine Gruppe nicht einen Herkules darstellen könne, der die zügellose Freiheit hinauswerfe, so scheint es, als habe er das Bild des revolutionären Herkules nochmals revolutionieren wollen: Herakles wäre damit - pointiert formuliert - Kaiser Franz II., der die Franzosen aus Italien hinauswirft. Man kann davon ausgehen, daß die Stadtväter Veronas sich mit dieser Deutung der Herakles-und-Lichas-Gnxppc zufrieden gegeben haben, wobei die Aussicht, den berühmtesten europäischen Bildhauer - mit was für einem Projekt auch immer - für sich zu gewinnen, sicherlich von großem Einfluß gewesen ist. Dem kritischeren Betrachter des Werks hingegen mußte auffallen, daß die von Canova angebotenen Gleichungen nicht aufgingen: Denn daß Franz II. als Führer der siegreichen Österreicher gleich dem wahnsinnigen Herakles einen hoffnungslos unterlegenen und überdies unschuldigen Gegner ,zerschmettert' habe, erscheint als Botschaft eines Schlachtendenkmals ebenso undenkbar wie die umgekehrte Deutung der französischen Atelierbesucher, die in dem todgeweihten Helden das französische Volk zu erkennen glaubten. So ist es denn auch mehr als verständlich, daß Franz II. Einspruch gegen das ihm zugedachte Monument erheben ließ, und es folglich nie zur Ausführung des geplanten Schlachtendenkmals gekommen ist.35 In keiner der beiden Lesarten konnte Herakles und Lichas ihm oder seiner Armee zur Ehre gereichen. Die Tragik der dargestellten Szene, der Untergang der beiden ineinander verstrickten Protagonisten, widersetzt sich jeglicher Glorifizierung. In Marmor ausführen konnte Canova die Gruppe erst in den Jahren ab 1801. Ihr Käufer, der Bankier Giovanni Torlonia, präsentierte sie seit 1815 in einer von Giuseppe Va-
34
35
renden Herkules darstellt, der in der gleichen Stellung wie Canovas Herakles posiert (abgebildet in: [Kat.] 1797. Bonaparte a Verona [wie Anm. 7], Nr. 167, 317f.). Zum Ambivalentwerden der traditionellen Ikonographie in der Zeit um 1800 siehe Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München 1993. Siehe den entsprechenden Brief des Barons von Thugut an den Rat der Stadt Verona, 22. Juni 1799: „[...]; così non differisco ad indicar loro che Sua Maestà, mentre riconosce in una tal brama un nuovo contrassegno di quel suddito attaccamento che in sì particolar modo distingue i Veronesi, è però troppo sensibile ai danni sofferti appunto in questi ultimi tempi da codesta Provincia onde permettere per ora un nuovo aggravio a codesti abitanti per la verificazione del progettato trofeo, e per non bramare che l ' e s e c u z i o n e di tale idea venga rimessa ad altri t e m p i . " (zit. nach Consolo [wie A n m . 4], S. 29f.).
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lädier eigens dafür eingerichteten Prachtgalerie, der ,Galleria dell'Ercole', deren festliche Architektur und eigentümliche Atmosphäre Stendhal in seinen Promenades dans Rome (1829) wie folgt beschreibt: Les quatre côtés de la cour de son palais sont occupés par une galerie magnifique et qui communique à plusieurs vastes salons, dans lesquels on danse. Les meilleurs peintres vivants, MM. Palaggi, Camuccini, Landi, les ont ornés de peintures. Un salon a été construit pour placer d'une manière convenable le fameux groupe colossal de Canova, Hercule furieux lance Lycas dans la mer. Les jours de bal ce groupe est éclairé d'une façon pittoresque par des masses de lumières placées dans des points indiquées par Canova lui-même. Les fêtes de M. Torlonia sont plus belles et mieux entendues que celles de la plupart des souverains de l'Europe.36 Ursprünglich als öffentlich aufzustellendes Pendant zum Herkules Farnese entworfen, dann als Schlachtendenkmal fur Verona vorgeschlagen, mußte Canovas Herakles und Lichas nun ausgerechnet als Balldekoration im Privatpalast eines neureichen Bankiers dienen, der sich, wie Stendhal im folgenden zu berichten weiß, vor seinen Gästen am liebsten seiner „häuslichen Sparsamkeit", soll heißen: seines skrupellosen Geizes, rühmte. Treffender als in dieser kleinen Szene lassen sich die gesellschaftlichen Veränderungen im Europa des 19. Jahrhunderts und der damit verbundene Funktionswandel der Kunst vielleicht nicht illustrieren.
VI. Sicherlich zu Recht hat Hugh Honour vermutet, daß Franz II. die Aufstellung der Heraklesund-Lichas-Gruppe als Schlachtendenkmal untersagt hat, weil er (oder seine Berater) die Ambivalenz seiner Bedeutung erkannt hatte: „A truly political work of art must necessarily be unambiguous."37 In seiner Allgemeingültigkeit läßt sich diesem Diktum Honors eigentlich nichts hinzufügen, und doch lassen sich ausgehend von Canovas Herakles und Lichas vielleicht einige Gedanken entwickeln, die in historischer Perspektive die künstlerische Unmöglichkeit des Schlachtendenkmals in der Moderne zu skizzieren versuchen. Canovas Angebot zweier diametral entgegengesetzter und sich einander ausschließender Deutungsmöglichkeiten seiner Skulptur zeigt, daß die allegorische Bedeutung der Herkules-
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Stendhal [Henri Beyle]: Œuvres completes, Nouvelle ed. sous la direction des Victor Del Litto et Ernest Abravanel. Bd. 6-8: Promenades dans Rome. Genf 1968, T. 1, S. 196 (die Beschreibung findet sich unter dem Datum 11. Dezember 1827). - Zu Torlonias .Galleria dell'Ercole' siehe Steindl: Mäzenatentum [wie Anm. 19], S. 96ff. Torlonias Vorstellung gemäß hätte Thorvaldsen mit einer Achill-undPenthesilea bzw. Mars-und- Venus-Gruppe ein Pendant zu Herakles und Lichas schaffen sollen, jedoch ist es nie zur Ausführung dieses Plans gekommen. Nach dem Abriß des Palazzo Torlonia zu Ende des 19. Jahrhunderts gelangte die Herakles-und-Lichas-Gruppe zunächst in die Galerie des Palazzo Corsini und von dort schließlich in die römische Galleria Nazionale d'Arte Moderna, siehe dazu: Grazia Bernini Pezzini: La sistemazione museale del gruppo di Erole e Lica del Canova. In: La Galleria Corsini. A cento anni dalla sua acquisizione allo stato. Roma 1984, S. 51-60.
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Honour: Neo-Classicism [wie Anm. 19], S. 78; vgl. Johns [wie Anm. 19], S. 127f.
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figur am Ende der 1790er Jahre beliebig geworden war. Was bleibt, wenn die Allegorie verlorengeht, ist jedoch immer noch die künstlerische Form, mit der sich der Betrachter damals wie heute auseinanderzusetzen hat, wenn er einen möglichen Sinn jenseits der von außen herangetragenen Deutungsmuster finden will. Wenden wir uns also nochmals der Skulptur zu. In monumentalen Ausmaßen und äußerster Zuspitzung zeigt Canova den wie eine Springfeder gespannten muskulösen, jedoch schon vom Nessusgift befallenen Körper des Herakles, der mit dem über den Kopf geführten linken Arm Lichas an dessen ausgestrecktem Bein ergriffen hat und in weitem Bogen von sich schleudert (Abb. 1). Die Attribute des Tugendhelden, Löwenfell und Keule, liegen am Boden. Herakles, den Kopf ins Profil gewendet, den Mund geöffnet, scheint sein schmerzverzerrtes Gesicht in der Armbeuge bergen zu wollen - blinde Raserei bestimmt sein Handeln. Wie in antithetischer Umkehrung dazu sind die Augen des Lichas, der seinerseits nicht zu handeln, sondern nur mehr in hilflosem Entsetzen zu erfahren vermag, was ihm geschieht, dagegen angstvoll geweitet. Sein Gesicht ist eine Maske des terreur, des Schreckens im Sinne der Physiognomielehre des französischen Malers Charles LeBrun. Die antithetische Verklammerung inhaltlicher und formaler Gegensätze bestimmt die Gruppe als Ganzes und bis in ihre Einzelheiten hinein. Dem aufrecht stehenden gewaltigen Männerkörper des Herakles antwortet die über Kopf hängende, geradezu kindliche Gestalt des Lichas. In den sich gegeneinander spannenden Energien des .Fortschleudern-Wollens' und des ,Sich-noch-Festhalten-Könnens' sind ihrer beider Rücken zu sich gegeneinander wölbenden Linien aufgebogen: Täter und Opfer sind zu einer monumentalen Kreisfigur verklammert. Canova läßt dieses Verhältnis in erster Linie zweidimensional wirksam werden, doch während die Figur des Herakles sich vor allem reliefartig-ornamental in der Fläche entfaltet, vermag die Figur des Lichas der Komposition auch die Tiefendimension zu erschließen.38 Die Kreisform des Gewaltakts setzt sich auch auf motivischer Ebene fort: Ausgehend von dem über der Löwentatze postierten linken Fuß des Herakles führt eine Linie über seine Flanke zu der Spitze seines Ellenbogens und von da über das ausgestreckte Bein des Lichas, seinen Rumpf und rechten Arm zur Löwentatze zurück. Das Motiv des Greifens wiederholt sich entlang dieser Linie mehrfach und verspannt die Figuren miteinander, indem Herakles den Fuß des Lichas sowie seine Haare gepackt hält, und Lichas sich in dem Löwenfell festzuhalten versucht, das sich seinerseits nur noch mit schlaffer Tatze im Boden festkrallt. 38
Diese in gewissem Sinne barocke Tendenz der Figurenauffassung läßt sich als eine spezifische Qualität des Neoklassizismus Canovas begreifen, für die er vor allem von seinen deutschen, zumeist Thorvaldsen anhängenden Kritikern (u. a. Fernow und Wilhelm von Humboldt) gescholten wurde. Zum Einfluß der Kunst Berninis auf Canova siehe Adriana Augusti, L'esperienza beminiana di Antonio Canova. In: Arte Documento. Rivista di storia e tutela die Beni Culturali 7 (1993), S. 213-216. - Es ist übrigens niemand anders als Goethe, der Canovas Gruppe in einer späten Aufzeichnung lobend erwähnt und deren besondere Qualität in der dargestellten Bewegung erkennt, die Herakles und Lichas auf eine Stufe mit den Meisterwerken der Antike stelle: „Wenn wir uns genau beobachten, so finden wir, daß Bildwerke uns vorzüglich nach Maßgabe der vorgestellten Bewegung interessieren. Einzelne Statuen können uns durch hohe Schönheit fesseln, in der Malerei leistet dasselbe Ausführung und Prunk, aber zuletzt schreitet doch der Bildhauer zur Bewegung vor wie im Laokoon und der neapolitanischen Gruppe des Stiers, Canova bis zur Vernichtung des Lichas und der Erdrückung des Zentauren." (Johann Wolfgang von Goethe: Reizmittel in der bildenden Kunst [1827?]. In: ders.: Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften u n d Übersetzungen. Bd. 20. Berlin 1985, S. 408f., hier S. 408.)
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Unterbrochen wird diese monumentale Kreisform allein durch das Geschlecht des Lichas, das - nicht nur ein sittliches, sondern, aus der Sicht des Neoklassizismus, auch ein ästhetisches Skandalon - den ansonsten makellosen Kontur der Gruppe stört. Die Exponiertheit dieses vom scharfen Schnitt des Konturs bedrohten Körperteils scheint auf den prekären Status des von Winckelmann inaugurierten Jünglingsideals wie auch des damit insbesondere seit der Französischen Revolution verbundenen Leitbilds wehrhafter Virilität hinzuweisen.39 Beide, Herakles und Lichas, kommen voneinander nicht los. Im Akt des Schleuderns beziehungsweise Geschleudertwerdens gleichsam für immer erstarrt, sind sie zu einer Kreisform von hilfloser Angst und rasendem Schmerz verklammert, die sich ebensowenig auflösen läßt wie die tödliche Verbindung, die das ätzende Nessusgewand mit der Haut des Herakles eingegangen ist. Es ist dies eines der Details, an dem sich die künstlerische Souveränität des Bildhauers Canova studieren läßt, der sowohl seine antiken als auch seine modernen Vorgänger zu überbieten sucht. Hatte einerseits Winckelmann die „Griechische Drapperie" als einen der Vorzüge der antiken Meisterwerke angeführt, welche „mehrentheils nach dünnen und nassen Gewändern gearbeitet" sei, die sich „dicht an die Haut und an den Cörper schliessen, und das Nackende desselben sehen lassen"40, so hatte andererseits mit Bildhauern wie Queirolo, Corradini und Sanmartino die Kunst marmorner Schleier gerade im Neapel des 18. Jahrhunderts eine bislang unerreichte und vielleicht nicht zu übertreffende Perfektion erreicht.41 Ganz im Gegensatz zu diesen Vorläufern wird der Körper von Canovas Herakles durch das Gewand weder betont noch verschleiert: das Nessushemd, das nach den Worten des Sophokles „wie von einem Künstler festgeleimt" am Leib des Helden gehaftet habe, liegt hier nicht auf, sondern eingefressen in seiner Haut. Die tragische Dimension des Dargestellten liegt darin, daß Herakles seiner eigenen Waffe zum Opfer fällt: es ist das Gift der von ihm getöteten Hydra, in deren Blut er seine Pfeile getaucht hatte und das nun, vermischt mit dem Blut des Kentauren Nessus, ihn selbst zerfrißt. Vor diesem Hintergrund betrachtet, haftet der gespenstisch lächelnden Haut des Nemeischen Löwen etwas von der späten Genugtuung des Besiegten an, der erleben darf, wie sein Überwinder schließlich selbst überwunden wird. Canovas Herakles-und-Lichas-Gruppe erscheint somit als Form gewordene Reflexion über die tragische, weil letzten Endes selbstzerstörerische Logik der Gewalt. In seinem Medium, der Skulptur, gelingt es Canova, exemplarisch ihre Eigendynamik darzustellen, die nicht nur den Tugendhaften zum Mörder an einem Unschuldigen werden läßt, sondern sich zwangsläufig auch gegen den Täter selbst wendet. Einmal eingesetzt, eskaliert die Gewalt und macht dabei vor nichts und vor niemandem halt. Wohl nicht von ungefähr hat sich Friedrich Hölderlin im ersten Band seines 1797-99 erschienenen Romans Hyperion dessel39 40
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Siehe hierzu Alex Potts: Flesh and the Ideal. Winckelmann and the origins of art history. New Haven/London 1994; Abigail Solomon-Godeau: Male Trouble: A crisis in Representation. London 1997. Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in Mahlerey und Bildhauer-Kunst [1755], In: ders.: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm. Berlin 1968, S. 42. Siehe hierzu Teodoro Fittipaldi: Scultura napoletana del settecento. Napoli 1980, S. 1 lOff., 136ff.; Antonia Nava Cellini: La scultura del settecento. Torino 1982, S. 96f., 150, 163ff. Zum möglichen Einfluß Corradinis auf die Komposition der Herakles-und-Lichas-Gruppe siehe Annette Stahl: Die Bildhauerwerkstatt der Familie Torretto. Ein Weg zu Canova. Berlin 1999, S. 264.
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ben mythischen (Vor-)Bildes wie Canova bedient, um dieselbe, hier als Schiffbruch erfahrene Logik der Gewalt auszudrücken. Rückblickend auf den tragischen Ausgang seines Handelns, das Scheitern des gewaltsamen Freiheitskampfs gegen die Türken, bei dem die eigenen, von ihm geführten Truppen zu grausamen Plünderern und Mördern wurden, und im Verlauf dessen auch die Freunde Alabanda und Diotima sterben mußten, ruft Hölderlins Protagonist resignierend aus: „Ich seh', ich sehe, wie das enden muß. Das Steuer ist in die Woge gefallen und das Schiff wird, wie an den Füßen ein Kind, ergriffen, und an die Felsen geschleudert."42
VII. Egal in welcher Weise man Herakles und Lichas interpretieren wollte, als pro-französisch oder als pro-habsburgisch - es ist der Umstand, daß Canova keinen Sieger, sondern nur Opfer dargestellt hat, der beide Alternativen sinnlos erscheinen läßt und es unmöglich gemacht hat, die Skulpturengruppe als traditionelles Schlachtendenkmal zu verwenden. Blickt man von heute zurück, so scheint Canova - ohne daß er dies wissen konnte oder gar beabsichtigt hätte - mit seiner Herakles-und-Lichas-Gmppe die Erfahrungen der napoleonischen Kriege vorweggenommen zu haben. Wie der Tugendheld Herakles, der Überwinder der Hydra, des Nemeischen Löwen und vieler anderer menschenfeindlicher Ungeheuer, glaubten auch die Franzosen und Österreicher an die Gerechtigkeit ihrer eigenen Sache - sei es nun die Durchsetzung der republikanischen Freiheit oder die Verteidigung der monarchischen Ordnung. Zum Wohle der Menschheit zogen sie in einen Krieg, der binnen kurzer Zeit ganz Europa in ein Schlachtfeld von bislang unbekannten Dimensionen verwandelte, auf dem es letzten Endes jedoch keine wirklichen Sieger, dafür aber Hunderttausende von Opfern geben sollte. Der Krieg war in jeder Hinsicht unbegrenzbar geworden. Diese moderne und zugleich durch und durch tragische Erfahrung läßt sich in der Form des traditionellen Schlachtendenkmals, mit seiner - auch moralisch - klaren Scheidung von Sieger und Besiegtem, nicht mehr adäquat darstellen. Canovas gescheiterter Vorschlag, Herakles und Lichas zur Erinnerung an die .Schlacht von Magnano' zu errichten, stellt in diesem Sinne einen End- beziehungsweise Wendepunkt dar: Er markiert die künstlerische Unmöglichkeit, vor dem Hintergrund der nachrevolutionären und das heißt: modernen Kriege, ein Denkmal zu Ehren eines siegreichen Herrschers oder Feldherrn beziehungsweise eines politischen Kollektivs in traditioneller Form aufzuführen. Interessanterweise sollte fast zwanzig Jahre später auch Goethe auf dieses Problem, das heißt die „Schwierigkeit, erst Kämpfende, sodann aber Sieger und Besiegte charakteristisch gegeneinander zu stellen", zu sprechen kommen. Mit Blick auf die kontroversen Diskussionen um Johann Gottfried Schadows Blücher-Denkmal (1815-19) heißt es in einem Anforderung an einen modernen Bildhauer überschriebenen Beitrag zu seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum·.
42
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Jochen Schmidt. Bd. 2: Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen. Frankfurt a. M. 1994; S. 86.
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In der neuesten Zeit ist zur Sprache gekommen: w i e denn w o h l der bildende Künstler, besonders der plastische, dem Überwinder zu Ehren ihn als Sieger, die Feinde als Besiegte darstellen könne, zu Bekleidung der Architektur allenfalls i m Fronton, im Fries oder zu sonstiger Zierde, w i e es die Alten häufig getan? D i e s e A u f g a b e zu lösen hat in den gegenwärtigen Tagen, w o gebildete Nationen mit gebildeten kämpfen, größere Schwierigkeit als damals, w o M e n s c h e n v o n höheren Eigenschaften mit rohen tierischen oder mit tierverwandten Geschöpfen zu kämpfen hatten. 43 A n Versuchen, „diese A u f g a b e zu lösen", hat es im 19. w i e auch i m 20. Jahrhundert nicht gefehlt, doch beschleicht den Betrachter dabei häufig ein zwiespältiges Gefühl, das den meist ebenso zwiespältigen formalen Lösungen entspringt. 44 Zwar erlebte das Kriegsdenkmal nach d e m S i e g über N a p o l e o n insbesondere in Deutschland einen beispiellosen A u f schwung - erinnert sei hier nur an Schinkels 1 8 1 9 - 2 1 errichtetes Kreuzberg-Denkmal s o w i e das fast einhundert Jahre später, zwischen 1898 und 1913 erbaute Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig. Anders als zuvor dienten diese Monumente j e d o c h nicht mehr als
Kriegsdevk-
mäler im engeren Sinne, sondern übernahmen in zunehmenden Maße die Funktion von A r / e g m l e n k m ä l e m , mit denen von nun an nicht mehr allein der siegreich gefochtenen Schlachten und ihrer Feldherrn, sondern auch und vor allem der „für das Vaterland" gefallenen Soldaten, das heißt, der auf den Schlachtfeldern gebliebenen Opfer gedacht wurde. 4 5
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Goethe: Anforderung an einen modernen Bildhauer [1817/18]. In: ders. [wie Anm. 38], Bd. 20, S. 110. Siehe dazu Andreas Berger: Das Blücher-Denkmal in Rostock. Johann Wolfgang Goethe und Johann Gottfried Schadow debattieren die Einkleidung eines deutschen Helden. In: Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart: Thomas W. Gaethgens zum 60. Geburtstag. 2. Bde. Bd. 2: Kunst der Nationen. Hg. Von Uwe Fleckner u. a. Köln 2000, S. 70-86, bes. S. 81f. Exemplarisch hierfür mögen der von Christian Friedrich Tieck entworfene und von Ludwig Wilhelm Wichmann ausgeführte .Genius der Schlacht von Culm und Nollendorf an Schinkels KreuzbergDenkmal sowie das oben erwähnte, von Johann Gottfried Schadow entworfene Rostocker BlücherDenkmal stehen. Ist die künstlerische Qualität der beiden Figuren an sich unbestreitbar, so vermag ihre antik-mythologische Einkleidung als Herkules - zumal in einem gotisierenden Denkmal wie demjenigen auf dem Kreuzberg - nicht mehr recht zu überzeugen. Vgl. hierzu Peter Bloch: Das KreuzbergDenkmal und die patriotische Kunst. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 11 (1973), S. 142-159, der die zwölf Statuen des Kreuzberg-Denkmals insgesamt als „formal wie inhaltlich merkwürdige Gebilde" bzw. „patriotische Mischwesen" (S. 151) bezeichnet. Siehe z. B. die von August Boeckh stammenden Widmungsinschrift auf Schinkels KreuzbergDenkmal: „Der König dem Volke / das auf seinen Ruf hochherzig Gut und Blut dem Vaterlande darbrachte / den Gefallenen zum Gedächtnis, den Überlebenden zur Anerkennung / den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung" (zitiert nach Karl Friedrich Schinkel/Berlin. Hg. v. Paul Ortwin Rave. Dritter Theil: Bauten für Wissenschaft, Verwaltung, Heer, Wohnbau und Denkmäler. Berlin 1962, S. 270-296, hier S. 280). - Zum Kriegerdenkmal allgemein siehe: Reinhart Koselleck: Kriegerdenkmäler als Identitätsstiftung der Überlebenden. In: Identität. Hg. von Odo Marquardt und Karlheinz Stierle. München 1979, S. 255-275; Meinhold Lurz. Kriegerdenkmäler in Deutschland. 6 Bde. Heidelberg 1985ff.; Borg [wie Anm. 1], insbes. S. 104ff.; Herfried Münkler: Politische Bilder, Politik der Metaphern. Frankfurt a. M. 1994, S. 22ff.; Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. Hg. v. Reinhart Koselleck und Michael Jeismann. München 1994.
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Abb. 1: Antonio Canova, Heraides und Lichas. Höhe 3,35 Meter. Rom, Galleria Nazionale d'Arte Moderna (aus Mario Praz/Guiseppe Pavanello: L'Opera Completa del Canova. Milano 1976).
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L'ITALIA NEL 1799
PIEMONTE
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Abb. 2: Italien im Jahre 1799 (aus: Franco Catalano: L'Italia nel Risorgimento dal 1789 al 1870. Milano 1964).
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S I WINIIÌI CHI
Villafriuü
Abb. 3: Karte der Schlacht von Magnano, 5. April 1799 (aus: A. I. Michailowski-Danilewski/D. Milutin: Geschichte des Krieges Rußlands mit Frankreich. Bd. 1. München 1856).
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Abb. 4: Piazza Bra, Verona, zeitgenössischer Stich (aus C. Semenzaio/ C. und M. Perini: Verona Illustrata. Padova 1990).
Abb. 5: Französischer Herkules: „Le Peuple mangeur de Rois", Radierung, 100x142 mm, 1793 (aus Klaus Herding/Rolf Reichardt: Die Bildpublizistik der Französischen Revolution. Frankfurt a M 1989).
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Schlachtfelder im Kino und die Krise der Repräsentation
I.
Kino und Mobilmachung
Als sich am 1. August 1914 die Nachricht verbreitete, daß Deutschland Rußland den Krieg erklärt hatte, strichen die Kinos in Berlin ihr Programm und schlossen früh. Es gab an diesem Tag keinen Bedarf an bewegten Bildern: die Bewegung hatte sich auf die Straßen verlagert. Zehntausende versammelten sich auf den Boulevards und Plätzen und warteten darauf, was geschehen würde; Hoffnung, Furcht und Begeisterung erfüllten die Luft. Die Zeitungen - es gab mehr als 60 Tageszeitungen in Berlin - versuchten den unersättlichen Nachrichtenhunger durch mehrere Tagesausgaben und nahezu stündlich erscheinende Flugblätter mit riesigen Schlagzeilen zu befriedigen. Straßenverkäufer verteilten sie kostenlos und verwandelten die Straßen im wörtlichen Sinne in einen gigantischen Nachrichtenraum, in dem Berichte, Geschichten und Gerüchte wild umherschwirrten. In diesen Tagen war es die Presse, die (vor der Erfindung von Radio und Fernsehen) die fuhrende Rolle in der Mobilmachung der Bevölkerung übernahm. Die Zeitungen druckten emphatische Argumente für den Krieg von allen professionellen Klassen (Professoren, Priestern und Ärzten), veröffentlichten Gedichte, die den Heldentod verherrlichten, und zeigten Bilder von Freiwilligen und Soldaten, die freudig an die Front transportiert wurden. Das Kino, das 1914 eine relativ junge, noch nicht einmal zwanzig Jahre bestehende Institution war, kämpfte von Anfang an hart darum, an dieser noch nie dagewesenen kulturellen Mobilmachung teilzunehmen. Im Gegensatz zu Gedichten und journalistischer Prosa war die Herstellung von Filmen jedoch ein kostspieliges und aufwendiges Unternehmen, das impulsiven Gefühlsäußerungen widerstand. Es bedurfte einer komplizierten und teuren Ausrüstung, um das Produkt herzustellen, und umfangreicher Technologie, um es zu vervielfältigen und vorzuführen. Während es Millionen Amateurdichter und - philosophen gab, da jeder Leser ein potentieller Schreiber war - im August 1914 wurden nicht weniger als eine Million Gedichte verfasst! - , blieb das Filmemachen zu jener Zeit auf einige wenige, bei Filmproduktionsgesellschaften angestellte Fachleute beschränkt. 1914 war der Film weder eine spontane noch eine (wie heute durch Video) jedem zugängliche Kunst. Nichts-
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destoweniger und nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen versuchte die Filmindustrie von Anfang an, auf den historischen Augenblick zu reagieren. Das geschah auf unterschiedliche Weise. Die entschiedenste Reaktion war das sofortige Verbot aller Filme, die aus Ländern stammten, denen Deutschland den Krieg erklärt hatte. Dieser Einfuhrstopp hatte Konsequenzen, denn eine deutsche Filmindustrie existierte 1914 kaum. Nur etwa 12 Prozent der 1914 in Deutschland gezeigten Filme waren in Deutschland hergestellt worden; der Rest wurde aus Frankreich, Italien, Skandinavien und den Vereinigten Staaten importiert. Dieses Verbot gegenüber ausländischen Filmen führte de facto zur Entstehung einer unabhängigen Deutschen Filmindustrie aus dem Geist des Krieges. Kinobesitzer wurden gedrängt, ihre Programme patriotisch auszurichten und der hochgemuten Stimmung anzupassen. Weil zu Beginn keine Aufnahmen aus dem Krieg vorlagen, zeigten die Filmtheater bereits bestehende Filme mit patriotischen Themen, die auf nachgestellte Motive aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zurückgriffen. Um das Kinopublikum mit aktuellen Nachrichten zu versorgen, blendeten die Kinobesitzer Diapositive mit den neuesten Nachrichten von den Schlachtfeldern ein. Diese Bilder bestanden aus Presseerklärungen, die auf transparentes Papier geschrieben, zwischen zwei Glasplatten gepreßt waren und zwischen den Filmen (und manchmal sogar während der Filme) gezeigt wurden. Gute Nachrichten von der Front wurden bejubelt, so daß sich Kinos oft in spontane Versammlungssäle verwandelten, in denen sich eine Gruppe zufallig zusammengekommener Kinobesucher als Schicksalsgemeinschaft erfuhr. Eine polizeiliche Anordnung vom 11. August 1914 forderte, „daß bei allen Aufführungen dem Ernst der Zeit und patriotischen Empfinden des Publikums Rechnung getragen wird."1 Und am 22. August 1914 sprach der Leitartikel in der Lichtbildbühne von der „hohen Kultur-Mission", die das Kino in diesen Tagen, „wo die Söhne des Vaterlandes für uns draußen im Felde Gut und Blut einsetzen", zu erfüllen habe.2 Im Gegensatz zur Künstlichkeit des Theaters wurde 1914 die „natürliche" Authentizität des Films gepriesen, deren Ausdrucksform der „Wirklichkeit" des Krieges angemessen sei. Das Theaterspiel mutet kindlich an, falsch, ausflüchtig. [...] Das Theater hat seine Magie verloren. Wir wollen nicht den Traum, wir wollen die Wirklichkeit. Das Kinotheater bringt diese. [...] Das dunkle Parterre ist voll von Zuschauern; sie halten den Atem an; sie geben sich hin an ihre Erregung: sie staunen, bangen um ihre Lieben, die mit im Felde stehen. Hier ist die Wahrheit. Das Kinobild zaubert sie in alle Städte Deutschlands; und der einzelne nimmt bei ihrem Anblick an den Erfolgen der deutschen Waffen, an den Strapazen der deutschen Männer teil. [...] Das Kino ist fast ein Tempel geworden [...]. 3 Weil die politische und soziale Wirklichkeit ein solch existentielles Gewicht bekommen hatte, erschien ihre bloße Abbildung als völlig ausreichend; Phantasie und Erfindungsgabe 1 Was die L. B. B. erzählt. In: Lichtbild-Bühne 52 (12. August 1914), S. 8. 2 Kriegszustand und Theaterpraxis. In: Lichtbild-Bühne 7 (22. August 1914), S. lf. 3 Edgar Költsch; Die Vorteile durch den Krieg für das Kinotheater. In: Der Kinematograph 407 (14. Oktober 1914).
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erschienen als unangemessen und vom Ernst der Lage ablenkend. Es war ein echtes Bedürfnis der Heimatfront, den Krieg, wenn auch nur stellvertretend, zu erleben. In dieser Stimmung wurden in einem Park in der Nähe des Reichstags nachgemachte Schützengräben ausgehoben, damit jedermann das Leben in echten Schützengräben nachempfinden konnte. Ganze Familien mit Frauen und Kindern in weißen Sonntagskleidern besuchten auf ihren Sonntagsausflügen die Pseudo-Schützengräben. Es war die Mischung aus Neugierde, Empathie und dem Wunsch dabeizusein, die die Besucher dazu brachte, sich in langen Schlangen anzustellen, um einer nach dem anderen den tiefen und engen Graben zu betreten. Die Schützengräben als populäre Unterhaltung und als Spektakel zu präsentieren, war ein Kunststück an Öffentlichkeitsarbeit, mit dem die Schlachtfelder nachvollziehbar gemacht wurden. Die Simulation brachte den Krieg nach Hause und gab den zurückgebliebenen Zivilisten einen kleinen Geschmack von dem Frontabenteuer der Männer. Im Spätherbst, als es auf die erste Kriegsweihnacht zuging, hatte das deutsche Kino den Krieg in einer Reihe von Kurzspielfilmen aufgenommen, die ihn, was nicht überrascht, aus der Sicht der Heimatfront thematisierten. Eine Reihe von Filmen mit selbstredenden Titeln wie Deutsche Treue oder Für das Vaterland oder Das Vaterland ruft erzählten melodramatische Geschichten über Krisensituationen, in denen der Krieg Eltern oder Söhnen die einzigartige Gelegenheit gab, sich als echte deutsche Patrioten, wahrhafte Eltern und Söhne, wahre Liebhaber oder Freunde zu erweisen. Individuelle Konflikte lösten sich ins Nichts auf angesichts der kollektiven Konflikte, die ganz Deutschland betrafen. Anfang Dezember 1914 brachte Lunafilm einen dieser Kurzspielfilme (nur 42 Minuten lang) heraus, der den Krieg als die Kraft zeigte, welche die Nation einte und vor allem Klassengegensätze zu überwinden vermochte. Franz Hofers Film Weihnachtsglocken kreist um das Schicksal eines Soldaten, dessen Mut und Treue im Feld über seine Herkunft und seinen sozialen Hintergrund triumphieren. Im Schützengraben hatte der einfache Soldat das Leben eines jungen Mannes aus vermögender Familie gerettet und durfte deshalb in die Familie einheiraten, was, wenn es nicht das verbindende Kriegserlebnis gegeben hätte, nicht wahrscheinlich gewesen wäre. Filme wie Weihnachtsglocken brachten das Schlachtfeld an die Heimatfront, aber sie setzten auf Opfer anstelle von Aggression, auf Sentimentalität anstelle von Gefühlskalte, auf Hoffnung, Harmonie und Versöhnung anstelle von Zynismus und Verzweiflung. Das traditionelle melodramatische Genre mit seiner Fokussierung auf Familie und Tugenden, auf übersteigerten Idealismus und (nationalen) Altruismus wurde das hauptsächliche formale Vehikel, um die liminale Erfahrung der Front in die heimische Sphäre zu übersetzen. Während des gesamten Krieges produzierte die deutsche Filmindustrie melodramatische Filme, die die Auswirkungen des Krieges auf die Heimatfront dramatisierten, häufig mit Rückgriff auf Klischees, die in den Kriegserzählungen und -dramen des 19. Jahrhunderts entwickelt worden waren. Schlachtfelder wurden in diesen Filmen der Heimatfront nie gezeigt, auch wenn sie die unausgesprochene und unaussprechliche Erfahrung bildeten, die alle heimkehrenden Soldaten teilten.
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II. Das Schlachtfeld im Film Schon drei Wochen nach Kriegsbeginn klagte das Handelsblatt Der Kinematograph über die mangelnde Versorgung mit dokumentarischen Filmen von der Front. Während die illustrierten Wochenzeitschriften aktuelle Bilder des Krieges zeigten, standen zunächst keine gleichwertigen Wochenschauen zur Verfügung. Die militärische Führung war - zum Teil aus Furcht vor Spionage, zum Teil wegen der grundsätzlichen Geringschätzung gegenüber dem neuen Massenmedium - extrem zurückhaltend, Kameraleuten oder Photographen die Erlaubnis zu geben, auf dem Schlachtfeld Bilder aufzunehmen. Erst im Oktober 1914 gestattete die Oberste Heeresleitung zwei Kameramännern, die Westfront zu besuchen. Wegen der rigorosen Überprüfungs- und Zensurverfahren, bei denen die örtliche Polizei, das Militär und die Heeresverwaltung mitredeten, brauchten Wochenschaufilme von den Schlachtfeldern jedoch hoffnungslos lange, um in die Kinos zu gelangen. Dennoch wurden Oskar Messters Wochenschauen, die normalerweise über aktuelle Ereignisse, wie Naturkatastrophen und Zugunglücke berichteten, schließlich damit beauftragt, Filmberichte von allen Fronten herzustellen. Die „Messter Wochenschauen" produzierten wöchentlich kurze Kriegsdokumentarfilme - eine gewaltige Industrie, die allein in den Jahren 1916 und 1917 4,5 Millionen Meter Filmmaterial entwickelte. Was zeigten sie? Weil die Oberste Heeresleitung keinerlei Aufnahmen von eigentlichen Kriegshandlungen gestattete, konnten die Kameras keine echten Schlachtszenen zeigen, sondern konzentrierten sich auf die tägliche Routine der Soldaten: Die Filme zeigten Soldaten beim Essen, Rauchen, Briefeschreiben, Kartenspielen entweder vor oder nach der Schlacht, wartend oder erschöpft. Wochenschauen von der Front wurden bald so vorhersehbar und langweilig, daß sie das Publikum aus den Kinos trieben. Bild und Film schrieb Ende 1914: Es sind größtenteils Frauen, die jetzt Kinos, Theater und Konzertsäle füllen, dazu ein Teil der zurückgebliebenen Männer. In den ersten Monaten entschuldigten sich die Besucher der Kinos, indem sie sagten, die militärischen Aufnahmen zögen sie an; es wären illustrierte Feldpostbriefe. Dann aber stellte sich heraus, daß vor den Kriegsfilmen der Zuschauerraum leer wurde: immer nur Kriegsallerlei! Die Hoffnungen auf wirkliche Schlachten verwirklichten sich nicht! Es gab Menschen, die geglaubt hatten, der Kinomann könne Schlachten kurbeln!4 Die „Messter Wochenschau" Nr. 9 von 1915 mag als Beispiel dienen. Die achtminütige Wochenschau besteht aus 11 Abschnitten, die in extrem kurzen Bildsequenzen unterschiedliche Momente des Krieges abseits des Schlachtfelds entweder vor oder nach den Kampfhandlungen zeigen: die Ankunft von Ersatztruppen, zerstörte Häuser, Soldaten in der Etappe, die in einem Fluss baden, 200 Meter hinter den Schützengräben wartende Soldaten und eine Parade von amerikanischen Marineinfanteristen in New York. Die Wochenschau ist episodisch aufgebaut und bietet häufig keinerlei Hinweis darauf, wo und wann genau das Gezeigte stattgefunden hat, so als ob es eher darum ginge, die Atmosphäre des Krieges als die besonderen Ereignisse festzuhalten. Durch ihre Unterteilung der Totalität des Krieges in
4
Malwine Rennert: Kriegslichtspiele. In: Bild und Film IV 7/8 (1914/15), S. 139.
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einzelne, abgegrenzte Teile, bringen diese Episoden nichtsdestoweniger eine gewisse Ordnung in ein mehr als chaotisches Ereignis. Sie zeigen den Krieg als eine aus unzähligen Teilen mit unterschiedlichen Funktionen bestehende Maschinerie. Der vierte, nur fünfundzwanzig Sekunden lange Abschnitt ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Er ist mit den Worten eingeleitet: „Ein modernes Schlachtfeld. Dreifache Schützengräben, im Hintergrund feuernde feindliche Artillerie. Spezialaufnahme unseres Berichterstatters". Es ist wahrscheinlich, daß die Zensur darauf bestand, das Schlachtfeld nicht genau zu lokalisieren, und wir wissen auch nicht, an welchem Tag das Bild aufgenommen wurde. Was wir in einem breiten Kameraschwenk sehen, ist ein verwüstetes Gelände, eine von Bäumen und Pflanzen vollständig entblößte Landschaft. Wir sehen leichte Erhebungen des felsigen Bodens; im Hintergrund steigt schwarzer Rauch auf, der von Artilleriefeuer zu stammen scheint. Dieses Bild entbehrt nahezu jeglicher kinematischer, d. h. kinetischer Qualität. Es rückt die bloße Erscheinung des brachen Geländes zwischen den Schützengräben in den Vordergrund, die Auslöschung der Natur und von Menschen die sich im verborgenen Untergrund aufhalten könnten oder auch nicht, die getötet worden sein könnten oder auch nicht. Es bleibt unklar, ob das Bild vor oder nach einer Schlacht aufgenommen wurde, die selbst ja nicht gefilmt werden konnte. Ein österreichischer Kameramann, der das Verbot umging, dramatische Bilder von der eigentlichen Schlacht zu schießen, wurde von der Militärpolizei aufgefordert, sich unverzüglich aus der Feuerzone zu begeben, weil der Feind seinen weithin sichtbaren Filmapparat für ein Beobachtungsteleskop oder eine Maschinengewehrstellung halten und die vorgebliche Stellung unter Beschuss nehmen könnte.5 Zwar haben Kriegsfilme von Anfang an Schlachtenszenen gezeigt, aber diese wurden im Studio oder hinter der Front nachgestellt. So drehte D.W. Griffith 1911 den Film The Battie, einen Kurzfilm über den amerikanischen Bürgerkrieg mit gestellten Kampfszenen. Die deutsche Debatte über Krieg und Kino begann schon im Herbst 1913 als ein deutscher Kameramann namens Robert Schwobthaler vom griechischen König beauftragt wurde, einen Film über die Balkan-Kriege zu drehen, an denen mehr als 300 000 griechische Soldaten beteiligt waren. Schwobthaler schreibt im Oktober 1913: Die Zeitungen der ganzen Welt haben über die Verheerungen und Verwüstungen der Bulgaren in Demir-Hissar, Serres, Kavalla, etc. berichtet. Wir haben sie so weit als möglich, im lebenden Bild festgehalten, so ein historisches Dokument schaffend, welches in seiner nackten Wahrheit Zeugnis der unbeschreiblichen Verwüstungen in Mazedonien und der Greuel eines Krieges ablegt.6 Aber wie seine Kollegen später im Ersten Weltkrieg klagte er darüber, daß es nahezu unmöglich sei, die Kämpfe selbst zu zeigen. Man könne nie wissen, wann und wo eine Grana-
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Vgl. Hans Barkhausen: Filmpropaganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hildesheim 1982, S. 22 f. 6 Robert Schwobthaler, Mit der Kino-Kamera in der Schlachtfront! In: Der Kinematograph 353 (1. Oktober 1913).
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te einschlage. „Man hört nur das Zischen, und wenn die Granate einmal eingeschlagen hat, ist es zu spät, den Apparat zu richten."7 Schwobthalers Dokumentarfilm Mit der Kamera in der Schlachtfront wurde auch Kaiser Wilhelm II. vorgeführt. Nach einer Filmreklame vom 17. Dezember 1913 war der Kaiser voller Lob fur die „hervorragend schönen und in jeder Beziehung vollendeten Aufnahmen, welche zum ersten Male die fürchterlichen Greuel eines modernen Krieges zeigen, wie die verheerenden Kämpfe der Griechen und Bulgaren, das verwüstete, leblose Land Mazedonien, die verhungernden griechischen und türkischen Flüchtlinge, die kriegsgefangenen Bulgaren, Bajonett-Angriffe, Einschlagen von Schrapnells und Granaten, Tote und Verwundete in der Feuerlinie, Eintreffen der Verwundeten in der Ambulanz, die ergreifende selbstlose Tätigkeit des ,Roten Kreuzes', sowie die mannigfachen schrecklichen Verwundungen von Hunderten armer Soldaten."8 Die Anzeige behauptete auch: „Diese Bilder sind in nächster Nähe, im Kugelregen unter Todesgefahr aufgenommen." 9 Eine andere Variante der Werbung behauptete „Millionen von Menschen werden ausrufen: Nieder mit den Waffen, wenn Sie unseren Monopol-Film ,Mit der Kamera in der Schlachtfront' gesehen haben. [...] Der Eindruck dieser lebenden Bilder auf den Zuschauer ist derart, daß niemand, der diese Bilder gesehen hat, sie je vergessen kann".10 Der Film wurde mangels aktueller Aufnahmen von der Westfront auch während der ersten Wochen des August 1914 gezeigt. Krieg war Krieg. Das Film-Publikum, das Action-Filme liebte, erwartete von Kriegsfilmen, daß sie von Blut und Gewalt erfüllt waren. Kritiker beklagten sich, daß viele Kinobesucher Sensationen, Grausamkeiten und Todesschüsse sehen wollten und enttäuscht waren, als die Kriegswochenschauen keine Kampfhandlungen zeigten. Das unüberwindliche Problem lag freilich in der Natur der modernen technologischen Kriegsführung selbst, die auf dem Prinzip der Unsichtbarkeit, der Täuschung, des Überraschungsangriffs und tödlicher, aber unrepräsentierbarer Waffen wie Giftgas beruhte. „Ein modernes Schlachtfeld bietet auch dem Publikum, das in seiner nächsten Nähe sich aufhält, kaum etwas klar Erkennbares," erklärte der Leitartikel des Kinematograph vom 26. August 1914. Die Entfernungen sind außerordentlich groß, die Schützen in den entwickelten Linien kaum sichtbar, und das ganze Gefechtsgelände macht, wie die Aufnahmen aus den Balkankriegen gezeigt haben, den Eindruck eines fast ausgestorbenen Landstriches. Und Aufnahmen von Erstürmungsszenen lassen sich wohl in der Geborgenheit der vorbereiteten Geländefilmaufnahmen machen, keinesfalls aber aus der allernächsten Nähe der Kämpfenden. 11 Aber selbst wenn die Herstellung von Filmen in den Schützengräben technisch machbar gewesen wäre, gab es immer noch das strikte Verbot der Obersten Heeresleitung, Schlacht-
7 8 9 10 11
Schwobthaler [wie Anm. 6]. Der Kinematograph 364 (17. Dezember 1913). Der Kinematograph [wie Anm. 8]. Der Kinematograph [wie Anm. 8], Editorial: Der Mangel an Aktualitäten. In: Der Kinematograph 400 (26 August 1914).
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szenen vorzufuhren. Deshalb zeigten die Dokumentarfilme von der Front entweder nichts Aufregendes und Gefahrliches oder - sie waren inszeniert. Was konnte man auf dem Schlachtfeld filmen? Das Leben fand unter der Erde statt, in rattenverseuchten, lehmigen Schützengräben mit Millionen der Sicht entzogenen Männern, die häufig wochenlang darauf warteten, anzugreifen oder angegriffen zu werden. Gesehen zu werden, heißt tot zu sein - diese Redewendung verdeutlicht die Aporie der visuellen Medien im ersten vollständig technologischen Krieg. Was kann der Film zeigen, wenn nichts sichtbar ist, wenn alles verborgen und getarnt ist? So schrieb ein Kritiker: „Die schaulüsternen Besucher der Kinotheater verlangen freilich, wenn sie daheim erwartungsvoll vor der weißen Wand sitzen, möglichst .turbulente Szenen' und machen sich nicht klar, daß die Filme desto größeren Wirklichkeitswert haben, je unbewegter sie sind."12 „Statische Wirklichkeit" widersprach jedoch den Erwartungen der Kinobesucher. Und da keine Bilder von den Entscheidungsschlachten gezeigt werden konnten, ging das Interesse an Kriegsfilmen in ganz Europa rapide zurück. Das änderte sich am 10. August 1916, als die Briten einen abendfüllenden Dokumentarfilm über die Schlacht an der Somme drehten, während die Kämpfe noch andauerten. Die von Juni bis Dezember tobende Schlacht an der Somme, eine der blutigsten Schlachten des ganzen Ersten Weltkriegs, sollte den Stillstand an der Westfront aufbrechen, aber sie brachte letztendlich nichts anderes als eine Million toter oder verwundeter deutscher, britischer und französischer Soldaten. Zwei Wochenschau-Kameramänner, mit schweren, auf Stativen montierten und von Hand gekurbelten Kameras, filmten fur das Committee on War Films die ersten beiden Wochen der Somme-Offensive, den Angriff von dreizehn Divisionen auf einer Breite von 18 Meilen, bei der die Briten 57000 Soldaten verloren, von denen mehr als ein Drittel fiel. Sie filmten in Formation an die Front marschierende Infantriebattailone, feuernde Artillerie-Batterien sowie verwundete und gefangengenommene deutsche Soldaten. Es war klar, daß ihre Filmausrüstung nicht mobil genug war, um den tatsächlichen Angriff einzufangen - die berüchtigte Strategie, bei der Tausende von Soldaten aus den Schützengräben sprangen, um in das feindliche Maschinengewehrfeuer zu stürmen, wurde, urteilt man nach Kameraposition, Kamerawinkel und Komposition, hinter der Front inszeniert und nachträglich in den Dokumentarfilm eingefugt.13 Selbst die Aufnahmen von der Front wurden natürlich durch die bloße Anwesenheit der Kamera, von der die Soldaten wussten, geprägt. Das War Office sorgte für die Zwischentitel
12 13
E.W.: Das Filmarchiv des Großen Generalstabs. In: Bild und Film IV, 11 (1914/1915), S. 225. Über die Authentizität der Angriffsszene gibt es bereits seit 1922 heftige Diskussionen. Vgl. ,A Wonderful Idea of the Fighting': the Question of Fakes in ,The Battle of the Somme'. In: Historical Journal of Film Radio and Television 13, no. 2 (1993), S. 149-168. Vgl. auch S. D. Badsey: Battle of the Somme: British War-Propaganda. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 3, no. 2 (1983), S. 99-115; Nicholas Reeves: The Power of Film Propaganda - Myth or Reality? In: Historical Journal of Film, Radio and Television 13, no. 2 (1993), S. 181-201; David Culbert: The Imperial War Museum: World War I Film Catalogue and the ,The Battle of the Somme' Video. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 14, no. 4 (1995), S. 575-580; Nicholas Reeves: Cinema, Spectatorship and Propaganda: .Battle of the Somme' (1916) and Its Contemporary Audience. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 17, no. 1 (1997), S. 5-28. Es gibt auch einen autobiographischen Bericht des Kameramanns der Schlacht an der Somme: Geoffrey H. Malins: How I Filmed the War: A Record of the Extraordinary Experiences of the Man Who Filmed the Great Somme Battles. London, 1920.
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und gab den Film Battle of the Somme als das erste, semi-authentische Dokument wirklicher Kampfhandlungen von der Front frei. Der Film übte enormen Einfluss aus; er brachte den Krieg wortwörtlich nach Hause. Mit einer Länge von mehr als sechzig Minuten erhielt die Heimatfront zum ersten Mal ein realistisches Bild (und nicht nur einen flüchtigen Eindruck wie in den Wochenschauen) vom Leben und Sterben an der Front. Auch wenn es keine Einigkeit darüber gibt, wieviele Zuschauer The Battle of the Somme sahen - die Schätzungen reichen von einer Million bis zu zwanzig Millionen Zuschauern - , so war er doch von nie dagewesener Popularität. Er wurde in mehr als eintausend Filmtheatern in ganz England gespielt und auch in neutralen Ländern vorgeführt. Wenngleich der Film die Briten als Sieger zeigt, macht er implizit doch deutlich (möglicherweise gegen seinen Willen), daß es in diesem Krieg keine Sieger geben konnte. Die gestellten Szenen sind insofern bemerkenswert als sie - zum ersten Mal überhaupt - Sterben und Tod auf dem Schlachtfeld zeigten. Während die Kamera eine Reihe von Soldaten einfängt, die aus einem Schützengraben kriechen, um durch den Stacheldraht ins Niemandsland vorzustoßen, schlittert einer der Soldaten, von einer unsichtbaren Gewehrkugel getroffen, die abschüssige Seite des Schützengrabens hinunter. Ein anderer Soldat stürzt ebenso filmgerecht wie übertrieben zu Boden. Der allgemeine Erfolg der britischen Filmpropaganda beim Publikum im Jahr 1916 scheint das deutsche Oberkommando aufgerüttelt zu haben. Im Januar 1917 brachte es unter dem Titel Bei unseren Helden an der Somme seinen eigenen Somme-Film heraus. Der Film war nur halb so lang wie der britische, aber auch er enthielt gestellte Szenen aus der Schlacht (anstelle von statischen Szenen von vor oder nach der Schlacht). Wie Rainer Rother anhand der Kamerapositionen und der unzerstörten Landschaft gezeigt hat, sind diese Aufnahmen mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem Übungsgelände hinter der Front gedreht worden. Überdies verweisen die Inkonsistenzen in den Helmtypen (die Pickelhaube wurde 1916 durch den Stahlhelm ersetzt, der Film enthält jedoch beide Typen), daß für den Film Aufnahmen aus unterschiedlichen Zeitabschnitten zusammengeschnitten wurden. Der nur halbstündige deutsche Film war eher ein Erfolg bei der Kritik als beim Publikum. Die wenigen Besprechungen des deutschen Somme-Films verwiesen auf die grundsätzliche Aporie jedes Kriegsfilms: die Unmöglichkeit, brutale und sinnlose Gewalt zu filmen, ohne sie in ein ästhetisches Objekt zu verwandeln. Ein scharfsichtiger Kritiker des deutschen Somme-Films klagte: Überdies, der Film verschönt! Der Mensch, der Dulder des Kriegsgeschehens, ist so klein und unsichtbar in der modernen Schlacht. Die optische Linse, ein gefühlloser Ästhet, erfasst weite Geländeausschnitte, komponiert, ist ein Architekt wundervoller Landschaftskonturen, in silbernem Nebel verdunstend. So hat es nie eines Kämpfers Auge gesehen, nie eines Kämpfers Herz empfunden.14 Es ist nicht nur die Irrealität der vorgetäuschten Dokumentation, auf die hier angespielt wird, sondern auch die medienspezifische Vermittlung, die aus der wirklichen Erfahrung der Soldaten eine Farce macht. Die optische Linse wird als „gefühlloser Ästhet" bezeichnet, 14
Zit. nach Rainer Rother: Bei unseren Helden an der Somme: Eine deutsche Antwort auf die EntenteP r o p a g a n d a . In: K i n t o p 4 ( 1 9 9 5 ) , S. 136f.
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eine brilliante Formulierung die Ernst Jüngers Besessenheit vom kalten Blick des Photoapparats vorausahnt: Die Aufnahme steht außerhalb der Zone der Empfindsamkeit. Es haftet ihr ein teleskopischer Charakter an; man merkt, daß der Vorgang von einem unempfindlichen und unverletzlichen Auge gesehen ist. Sie hält ebensowohl die Kugel im Fluge fest wie den Menschen im Augenblick, in dem er von einer Explosion zerrissen wird. Das ist die uns eigentümliche Weise zu sehen; und die Photographie ist nichts anderes als ein Werkzeug dieser unserer Eigenart.15 Der Film teilt mit der Photographie das „ unempfindliche und unverletzliche Auge", das getreu alles abbildet, was ihm vor die Linse kommt. Alle Emotionen werden „mediatisiert" und durch die Technologie der Kamera distanziert. Die post-humanistische Bewertung der neuen Kamera-vermittelten Realität durch Ernst Jünger verweist ihrerseits auf die aktuellen Theorien Paul Virilios und Friedrich Kittlers, die die fatale Interdependenz zwischen Waffentechnologie und Kinematographie vom Ersten Weltkrieg bis Hiroshima untersuchen.16 Seit dem Verschwinden der unmittelbaren Sicht im modernen Schützengrabenkrieg sind Kameras selbst zu Waffen geworden. „Neben den Mündungen der Gewehre und Geschütze waren Tag für Tag die optischen Linsen auf das Kampfgelände gerichtet," schreibt Ernst Jünger in seinem Essay über Krieg und Lichtbild von 1930, „sie bewahrten als die Instrumente eines technischen Bewußtseins das Bild dieser verwüsteten Landschaften auf, von denen die Welt des Friedens bereits seit langem wieder Besitz ergriffen hat."17 Vollautomatische, auf Flugzeuge oder in Beobachtungsbaiions montierte Kameras verwendeten Filmrollen anstelle der traditionellen Glasplatten - eine Erfindung, die auf Messter zurückging. Sie wurden zur Luftaufklärung eingesetzt und dienten sowohl der Zielermittlung als auch der Einschätzung der angerichteten Zerstörungen, der Überwachung wie der Sichtbarmachung von Dingen, die das bloße Auge nicht erkennen konnte. Die Grenzen zwischen Schlachtfeld und Alltag verwischten sich ein weiteres Mal, als kinematographische Schießstände für das allgemeine Publikum eröffnet wurden. Die beweglichen Ziele waren keine Schießbudenfiguren, sondern wirkliche gefilmte Ziele, die auf eine Leinwand projiziert wurden und damit dem Schützen die Gelegenheit gaben, wie das populäre Wissenschaftsmagazin Die Umschau voller Stolz erklärte, sich im Schießen auf vorbeieilendes Wild, Flugapparate, Automobile, Reiter, Motorboote und dergleichen zu üben. „Treten wir an den Schießstand, so sehen wir in ca. 10 m Entfernung ein Kinematogramm, ζ. B. serbische Truppen, die auf einem Berggipfel erscheinen und vorsichtig, unter Ausnutzung jeder Deckungsmöglichkeit, den Abhang herunterklettern."18 Auf „die serbischen Truppen" zu schießen hatte den folgenden Effekt: Wenn die Leinwand durchdrungen wurde, hielt der Film an, zeigte die Gewehrkugel als Lichtfleck auf der
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Ernst Jünger: Über den Schmerz: In: Essays I. Stuttgart (o. J.), S. 188. Vgl. Paul Virilio: Krieg und Kino: Logistik der Wahrnehmung. München 1986; Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 190-203. Ernst Jünger: Krieg und Lichtbild. In: Das Antlitz des Weltkrieges. Hg. von Ernst Jünger. Berlin 1930, S. 9. Anon.: Der Kinematograph als Schießstand: In: Die Umschau 18 (1914), S. 648.
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Leinwand und registrierte, ob das Ziel getroffen worden war oder nicht; nach einer kurzen Pause lief der Film dann weiter. Der Artikel versichert seinen Lesern: Daß diese Erfindung aber nicht nur eine Quelle der Unterhaltung darstellt, sondern auch von Bedeutung für die Ausbildung des Soldaten im Gebrauch von Schußwaffen ist, beweist das lebhafte Interesse, das die Militärverwaltungen dieser Neuerung entgegenbringen. Im Mai d. J. [1914] wurde bereits der erste kinematographische Schießstand auf dem Truppenübungsplatz in Döberitz in Gegenwart des Kaisers eingeweiht.19 Als Prototyp zeitgenössischer Video-Kriegsspiele zeigt der kinematographische Schießstand die bemerkenswerte wechselseitige Durchdringung von zivilem Leben und militärischem Einsatz. In der Lage zu sein, zum Spaß auf virtuelle „serbische Truppen" zu schießen, zeigt auch, wie schnell die zivile Bevölkerung militarisiert worden war. Der Krieg war nicht auf die Schlachtfelder beschränkt. Und auch nicht nur auf die Kriegsjahre.
III. Das Weiterleben des Krieges Mehrere Millionen Meter an dokumentarischen Kriegsaufnahmen wurden zwischen 1914 und 1918 gedreht und jede Filmvorstellung in diesen vier Jahren begann mit einer Wochenschau mit Aufnahmen aus dem Krieg. Es war unmöglich, den Bildern von Schützengräben und verwüsteten Landschaften, von Soldaten und Schlachten zu entgehen. Diese Bilder orientierten sich meist an älteren Vorbildern wie Kriegsgemälden oder -photographien oder früheren Filmen, aber es gab auch neue Bilder, die auf die Effekte der technologischen Kriegführung hinwiesen: das zerbombte Gelände (Benjamins „erstarrte Urlandschaft") und das leere Schlachtfeld. Zahlreiche dieser Bilder haben sich unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis der Zeit eingeprägt; sie bilden ein gewaltiges Arsenal von Bildern, das den Krieg in Zeichen verwandelt, die bis heute abrufbar sind. Diese Bilder (genauer gesagt: Bilderketten, visuelle Tropen) zirkulierten zwischen Dokumentär- und Spielfilmen hin und her (wobei die Unterscheidung zwischen dokumentarischen und inszenierten Bildern in diesen Filmen zunehmend bedeutungslos wurde). Diese Bilder wurden in neue Erzählungen eingebettet und umgedeutet, aber sie fungierten weiter als Erinnerungsspuren des zurückliegenden Krieges. Einige der archetypischen Szenen aus The Battle of the Somme - Schützengräben mit ihren schrägen Wänden; die verwüstete Landschaft mit kahlen Bäumen ohne Blätter; Verwundete auf Bahren; marschierende Soldaten - finden sich auch in den Szenarien klassischer Weimarer Filme, die scheinbar nicht vom Krieg handeln. Zum Beispiel enthält Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) auffallend schräge, nach innen neigende Strassenfluchten, 19 Anon. [wie Anm. 16.].
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die von den schrägen Wänden der Schützengräben inspiriert sind; Cesare stirbt mit gespreizten Armen, die den entlaubten Ästen abgestorbener Bäume im Hintergrund gleichen, welche man aus unzähligen dokumentarischen Kriegsfilmen kennt. Caligaris krude gemalte Kulissen ahmen die physische und mentale Wüste nach, die der erste technologische Krieg hinterlassen hat. In Caligari ist die liminale Erfahrung der Front aufbewahrt - in ihrer gewollten Verzerrung und Brüchigkeit authentischer als in vielen naturalistischen Kriegsfilmen. Fritz Langs Metropolis beginnt mit Arbeitern in Uniform, die in Formation marschieren - ein Bild, in dem noch 1927 die Erinnerung an die zur Front marschierenden Soldaten mitschwang. Es ist kein Zufall, daß sich der Arbeitsplatz der Arbeiter wie an der Front unter der Erde befindet. Die Bilder der Explosion rufen Erinnerungen an Bomben wach. Der Kriegsgott Moloch frißt seine Kinder, die in Kolonnen in sein aufgerissenes Maul getrieben werden - ebenfalls eine Allegorie auf den menschenverschlingenden Weltkrieg. Nach der Katastrophe werden in Metropolis die Verwundeten auf Tragen weggebracht - diese Bilder haben ein Echo in den damals jedermann bekannten Bildern von Verwundeten aus den dokumentarischen Kriegsfilmen. Auch Fritz Langs M (1931) thematisiert noch den Krieg, indem er die Stadt Berlin im Griff eines Serienmörders als das Schlachtfeld sieht, auf dem vorhersehbar getötet wird. Berlin hat sich in seinem Krieg gegen einen Serienmörder selbst mobilisiert (und was ist Krieg anderes als Serienmord?). Der Film enthält sogar einen halbverborgenen Hinweis darauf, worum er sich wirklich dreht. Ein Bettler spioniert einem Vater mit einem Kind nach, als sie an zwei Plakaten für den ersten deutschen Anti-Kriegsfilm vorbeigehen, Pabsts Westfront 1918, der genau ein Jahr zuvor, 1930, Premiere hatte. Nach einem kürzlich aufgefundenen Notizbuch dachte Lang daran, aus der von Lorre gespielten Figur einen Weltkriegsveteranen zu machen, der in einem traumatischen Tötungszwang gefangen ist. Lorres berühmter Monolog, in dem er schreit: „Will nicht - muß. Will nicht - muß" projiziert die Gewalt des Tötenmüssens auf dem Schlachtfeld in die Sphäre des Privaten. Das kriegerische Denken und Verhalten ist nach dem Ende des Krieges in die Stadt eingezogen. Was Langs M am Ende der Weimarer Republik zeigt, sind die sich auflösenden Grenzen zwischen Schlachtfeld und Heimatfront, zwischen öffentlichem und privatem Leid und zwischen Krieg und Frieden. Ich fasse zusammen: 1. Es existieren keine Originalaufnahmen von Kampfhandlungen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Aus Gründen der Zensur zeigen dokumentarische Kurzfilme entweder Soldaten vor dem Angriff (marschierend oder wartend) oder sie zeigen die Ergebnisse der Zerstörungen, zumeist zerstörte Gebäude, sehr selten nur verwundete Soldaten. Wenn ein Schlachtfeld gezeigt wird, wird es als leerer tödlicher Raum, bar jeden Lebens und jeder Orientierungsmöglichkeit repräsentiert. Schlachtfelder werden typischerweise mit einem Kameraschwenk gezeigt, um die grenzenlose Ausdehnung des verwüsteten Landes zu markieren. Der technologische Krieg hat das klassische Schlachtfeld der aufeinanderprallenden Heere zum Verschwinden gebracht. Trotzdem versucht der Film durch Inszenierung nachgestellter Kampfszenen ein Bild des Krieges zu vermitteln, in dem es noch um individuelle Kampfbereitschaft und Mutprobe zu gehen scheint.
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2. Filmemacher, die den Krieg in Aktion zu zeigen versuchten, begriffen bald, daß die traditionellen Verfahren, militärische Aktionen zu repräsentieren, in diesem Krieg inadäquat waren. Die Schlachtfelder schienen leer zu sein. Sichtbarkeit war gleichbedeutend mit Todesgefahr. Das Kino, das darauf beruht, zu sehen und gesehen zu werden, antwortete auf diese Aporie auf zweierlei Weise: In Dokumentarfilmen spielte man Kampfszenen hinter der Front nach (in der Nachfolge von Battle of the Somme) ·, in Spielfilmen zeigte das Kino die emotionalen Auswirkungen des Krieges auf die Heimatfront. In solchen Melodramen ist die Erfahrung des Schlachtfelds als unausgesprochenes Trauma präsent, als das, was nicht ausgesprochen und kommuniziert werden kann, als Text unterhalb des Textes. Benjamin: „Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen?"20 3. Bildmotive aus den Kriegswochenschauen kehren in den Spielfilmen der Weimarer Republik wieder. Es sind Bilder von klaustrophobischen und liminalen Räumen, von subjektiv verzerrten Dimensionen, Panoramaaufnahmen von entleerten, abstrakten Landschaften, Bilder von Invasion, Aggression und Gewalt. Die Erfahrung des Schlachtfeldes - Schock und Desorientierung - steht einer einfachen, auf Ursache und Wirkung basierenden Narrativierung entgegen, deswegen erscheinen viele der klassischen Nachkriegsfilme so abrupt, unlogisch, verwirrend. Obwohl der Kriegsfilm um 1930, mehr als ein Jahrzehnt nach Kriegsende, versuchte, das Trauma zu narrativieren, brachten die früheren Filme der Weimarer Republik den Schock und die Desorientierung radikal auf der formalen Ebene selbst zur Darstellung. Sie brechen jede einfache und lineare Narration auf und setzen die Erfahrung des Schlachtfeldes in ihrer zerstückelten und gewaltsamen Form in formal-ästhetische Fragen um. Diese Filme (Das Kabinett des Dr. Caligari, Das Nibelungenlied, Metropolis, M u. v. a.) sind von Bildern und archetypischen Szenen durchzogen, die als Gedächtnisfragmente des vergangenen Krieges fungieren, als Spuren und zwanghaft wiederkehrende Elemente einer traumatischen Erfahrung. Diese Bilder sind Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden, sie sind Teil eines Bildarsenals, von dem wir noch heute in der filmischen Repräsentation zeitgenössischer Kriege zehren. In diesem Sinne sind die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges immer noch präsent. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Marina Münkler)
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Walter B e n j a m i n : Der Erzähler. In: ders.: Illuminationen. Frankfurt a.M. 1977, S. 386.
II. sozio-kulturelle Codierung des Schlachtfeldes
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„Besiegte finden selten oder nie Gnade", und wie man aus dieser Not eine Tugend machte
D i e gängige Erwartungshaltung an einen Beitrag, der die Schlachtfelder des Mittelalters abschreitet, dürfte w o h l sein, daß es nun besonders blutig und blutrünstig zugeht, daß die v o m Prozeß der Zivilisation noch w e n i g oder gar nicht berührten Krieger des Mittelalters besonders abstoßende und makabre Beispiele für das Diktum liefern, daß der M e n s c h d e m M e n schen ein W o l f sei. U n d in der Tat ist es nicht allzu schwer, diesbezügliche Erwartungen zu befriedigen. 1 7 0 0 Gefangene ließ Otto der Große im Jahre 9 5 5 nach einer g e w o n n e n e n Schlacht hinrichten, nachdem er den K o p f ihres erschlagenen Anführers auf eine Stange spießen und auf dem Schlachtfeld hatte aufstellen lassen. D e n Ratgeber des Gegners aber ließ man geblendet und verstümmelt hilflos z w i s c h e n den Toten zurück. U n d hier handelt es sich nicht einmal
1 Die reichhaltige internationale Diskussion über Krieg, Kriegführung und Gewalt im Mittelalter ist greifbar insbesondere in Philippe Contamine: La guerre au Moyen Age. 4. Aufl. Paris 1994; Guy Halsall (Hg.): Violence and Society in the Early Medieval West. Woodbridge 1998; Jean Francois: The Art of Warfare in Western Europe during the Middle Ages. From the Eights Century to 1340. Amsterdam / New York / Oxford 1977; John Beeler: Warfare in Feudal Europe 730-1200. Ithaca / London 1971. Für den deutschsprachigen Raum siehe Volker Schmidtchen: Kriegswesen im späten Mittelalter. Technik, Taktik, Theorie. Weinheim 1990; Horst Brunner (Hg.): Der Krieg im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht. Wiesbaden 2000; Hans-Henning Kortüm (Hg.): Krieg im Mittelalter. Berlin 2001; zu der im folgenden diskutierten Frage der Regeln, denen Gewaltanwendung im Mittelalter unterworfen war, s. bereits Georges Duby: Der Sonntag von Bouvines 27. Juli 1214. Frankfurt a. M. 1996, sowie neuerdings die Kontroverse in der angelsächsischen Forschung rund um das Thema „Gewalt im Mittelalter"; vgl. dazu Tom Bisson: The 'Feudal Revolution'. In: Past and Present 142 (1994), S. 6-42; und die unter dem Titel 'Debate the Feudal Revolution' versammelten Entgegnungen von Dominique Barthélémy und Stephen White in: Past and Present 152 (1996), S. 196-223, und Timothy Reuter und Chris Wickham in: Past and Present 155 (1997), S. 177-208. Die im folgenden vorgetragene Sicht des Verfassers wurde anhand anderer Beispiele bereits entwickelt in ders.: Regeln der Gewaltanwendung im Mittelalter. In: Rolf Peter Sieferle / Helga Breuninger (Hgg.): Kulturen der Gewalt in der Geschichte. Frankfurt a. M. 1998, S. 154-170, sowie in ders.: Schranken der Gewalt. Wie gewalttätig war das finstere Mittelalter. In: Bmnner (wie oben), S. 1-23.
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um die Lechfeldschlacht, wie man nach der Jahreszahl wahrscheinlich vermutet, sondern um eine andere Schlacht desselben Jahres.2 Als die Kreuzfahrer im Jahre 1099 Jerusalem eroberten, berichtet Wilhelm von Tyrus seitenlang über die verübten Greueltaten. Zitiert sei nur ein kurzer Ausschnitt: Sofort gingen auch die übrigen Fürsten, nachdem sie niedergemacht, was ihnen in den anderen Stadtteilen unter die Hände gekommen war, nach dem Tempel, hinter dessen Einfriedung sich die Bevölkerung geflüchtet hatte. Sie drangen mit einer Menge von Reitern und Fußvolk hinein und stießen, was sie dort fanden, mit den Schwertern nieder, ohne jemanden zu schonen, und erfüllten alles mit Blut [...]. Im Tempelbezirk sollen an die zehntausend Feinde umgekommen sein, wobei die, welche da und dort in der Stadt niedergemacht wurden und deren Leichen in den Straßen und auf den Plätzen umherlagen, noch nicht gerechnet sind, denn ihre Zahl soll nicht geringer gewesen sein. Der übrige Teil des Heeres zerstreute sich in der Stadt, zog diejenigen, welche sich in den engen und verborgenen Gassen versteckt hatten, um dem Tode zu entrinnen, wie das Vieh hervor und stieß sie nieder. Andere taten sich in Scharen zusammen und gingen in die Häuser, wo sie die Familienväter mit Frauen und Kindern und dem ganzen Gesinde herausrissen und entweder mit den Schwertern durchbohrten oder von den Dächern herabstürzten, daß sie den Hals brachen.3 Und damit man endgültig weiß, daß hier vom finsteren Mittelalter die Rede ist, zitiere ich auch noch einen der nächsten Abschnitte des Berichts: Als endlich auf diese Weise die Ordnung in der Stadt hergestellt war, legten sie die Waffen nieder, wuschen sich die Hände, zogen reine Kleider an und gingen dann demütigen und zerknirschten Herzens, unter Seufzen und Weinen, mit bloßen Füßen an den ehrwürdigen Orten umher, welche der Erlöser durch seine Gegenwart heiligen und verherrlichen mochte, und küßten sie in großer Andacht. Bei der Kirche zu 2 Vgl. dazu Widukind von Corvey: Sachsengeschichte. Neu bearb. von Paul Hirsch in Verbindung mit Hans Eberhard Lohmann (MGH SSrG 60). 5. Aufl. Hannover 1935, III, 54, S. 135: „Eo die castra hostium invasa, et multi mortales interfecti vel capti, caedesque in multam noctem protrahebatur. Postera luce caput subreguli in campo positum, circaque illud septingenti captivorum capite caesi, eiusque consiliarius oculis erutis lingua est privatus in medioque cadaverum inutilis relictus". Es handelt sich um einen Feldzug gegen die heidnischen Slawen, deren Anführer den Namen Stoinef trug. 3 Wilhelm von Tyrus: Chronicon. Hg. von R. B. C. Huygens (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 63). Turnhout 1986, VIII., 20, S. 412: „Porro reliqui principes interemptis his, quos sibi per reliquas urbis partes reppererant obviam, audientes quod infra septa templi populus fugiens se contulerat, illuc descendunt unanimes et intromissa tarn equitum quam peditum multitudine, quotquot ibi reperiunt, nemini parcentes, obtruncant gladiis, sanguine replentes universa ... Cecidisse dicuntur infra templi ambitum ex hostibus ad decern milia, exceptis aliis qui passim per utbem obtruncati vicos replebant et plateas, quorum non minor dicebatur esse numerus. At vero exercitus pars reliqua, per urbem discurrens, per angiportus et viarum diverticula latentes miseros et mortis periculum declinare cupientes pecudum more raptos in publicum detruncabant, alii divisi per manípulos ingrediebantur domicilia raptumque patremfamilias cum uxoribus et liberis et universa familia aut gladiis transverberabant aut de locis superioribus in terram dabant precipites, ita ut confractis cervicibus interirent."
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den Leiden und der Auferstehung des Herrn kamen ihnen sodann das gläubige Volk der Stadt und der Klerus, welche beide seit so vielen Jahren ein unverschuldetes Joch getragen hatten, voll Dankes gegen ihren Erlöser, der ihnen wieder die Freiheit geschenkt hatte, mit Kreuzen und den Bildern der Heiligen entgegen und geleiteten sie unter Lobliedern und geistlichen Gesängen nach der vorgenannten Kirche.4 So setzte man ein Diktum um, mit dem kurze Zeit zuvor Papst Gregor VII. die christlichen Krieger zum Kampfe ermuntert hatte, indem er einen Satz der Bergpredigt charakteristisch abwandelte: „Selig sind die, die Verfolgung ausüben um der Gerechtigkeit willen".5 Beide zitierten Beispiele handeln von Kämpfen, die Christen gegen Heiden führten, was zu allen Zeiten des Mittelalters die Hemmungslosigkeit der Gewaltanwendung steigerte. Aber auch von Kämpfen unter Christen ließen sich genügend abschreckende Beispiele beibringen. Als die Galeonsfigur abendländischen Rittertums, wie er bis heute gern charakterisiert wird, als Friedrich Barbarossa mit seinem Heer die oberitalienische Stadt Crema belagerte, hatte er zunächst wenig Erfolg, da die Cremasken mit Wurfmaschinen und großen Steinen seine Belagerungstürme zerstörten. Daraufhin griff er zu folgendem Mittel: [...] er befahl, die Geiseln aus Crema und Mailand und auch diejenigen aus diesen Städten, die man im Kampf gefangengenommen hatte, zu dem Belagerungsturm zu fuhren und auf diesem und an seiner Vorderseite zu fesseln; denn der Kaiser glaubte, daß diejenigen, die innerhalb der Feste waren und Steine nach draußen schleuderten - nachdem sie ihre Söhne und Eltern, ihre Brüder und Verwandten auf dem Belagerungsturm gesehen hätten - , nicht mehr leichten Herzens auf den Belagerungsturm würden treffen können, um nicht die (dort Angebundenen) zu töten, und infolgedessen würden sie sofort aufhören, Steine zu schleudern.6
4 Wilhelm von Tyrus [wie Anm. 3], VIII, 21, S. 413: „Tandem vero urbe ad hune modum ordinata, armis depositis, in spiritu humilitatis et in animo vere contrito, nudis vestigiis, lotis manibus et sumptis mundioribus indumentis, cum gemitu et lacrimis loca venerabilia, que Salvator propria voluit illustrare et sanctificare presentía, ceperunt cum omni devotione circuire et cum intimis deosculari suspiriis, specialiter autem dominice passionis et resurrectionis ecclesiam, ubi cleros et populus fidelium, qui per tot annos dure nimis et indebite servitutis iugum portaverant, de restituía liberiate Redemptori gratias exhibentes cum crucibus et sanctorum patrociniis principibus occurrentes, eos in predictam cum hymnis et canticis spiritualibus introduxerunt ecclesiam." 5 S. dazu bereits: Carl Erdmann: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. Stuttgart 1935, S. 221 und 242. 6 Vgl. hierzu Otto Morenas und seiner Fortsetzer Buch über die Taten Friedrichs I. in der Lombardei. Neu hg. von Ferdinand Güterbock (MGH SSrG NS 7). Berlin 1964, a. 1159, S. 79f.: „Imperator itaque hoc videns timensque etiam, ne frangeretur, iussit obsides Creme ac Mediolani eosque etiam, quos ex ipsis in bello ceperant, ad castellum duci ac super ipsum castellum et ante ipsum ex latere etiam ipsius castelli eos poni preeepit; putans idem imperator, ut, postquam ipsi, qui infra ipsum Castrum fuerant et lapides foras proiciebant, eorum filios ac parentes, germanos et consobrinos supra ipsum castellum pósitos esse cernerent nec in ipso castello leviter ferire possent, quin ipsos, qui supra ipsum castellum fuerant, non percuterent, deinde ipsos lapides trahere statim cessarent." Zu den Vorgängen siehe jetzt Knut Görich: Die Ehre Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert. Darmstadt 2001, S. 239f.
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Die Cremasken aber ließen auch, als sie die Geiseln auf dem Turm erblickten, nicht ab, den Turm bei Tag und Nacht zu beschießen, bis sie neun von den Magnaten und Vornehmen aus Mailand und Crema getötet hatten. Als aber die Mailänder und Cremasken ihre Väter, Söhne, Verwandte und Freunde, die sie auf dem Turm mit Steinen erschlagen hatten, tot sahen, trauerten sie sehr, und in größtem Zorn und Schmerz fielen sie sofort über die Deutschen, Cremonesen und Lodesen her [d. h. über die Parteigänger Barbarossas, G.A.], die sie gefangen aus dem Kerker auf die Schirmdächer und Gerüste der Stadtmauer geschleppt hatten, und töteten sie zur Schmach des Kaisers und unter dessen Augen. 7 Barbarossa blieb auch hier nichts schuldig und ließ nun seinerseits Gefangene umbringen. Andere Stimmen berichten, daß die auf den Mauern mit den Köpfen der Getöteten eine Art Ballspiel veranstalteten.8 Gewiß, gemäß dem Klischee vom gewalttätigen Mittelalter reagierte auch Kaiser Heinrich VI., selbst als Minnesänger hervorgetreten und somit ein anderes Beispiel staufischen Rittertums, als sich in Sizilien eine Verschwörung gegen ihn bildete, an der sogar seine Gemahlin Konstanze teilgenommen haben soll. Als also der Kaiser auf der Jagd in irgendeinem Wald war, beschlossen die Verschwörer, nachdem sie insgeheim einen König untereinander eingesetzt und eine sehr große Zahl von Rittern, um die 30000 Mann, gesammelt hatten, ihn und seine ganze Begleitung, die nichts von dieser Sache wussten, zu töten. Doch wurde der Kaiser von jemandem, der um die Verschwörung wusste, gewarnt. Es kam zu einem Kampf, bei dem die Mannen des Kaisers fast alle Feinde niedermachten und den Gegenkönig mit einigen Helfern der Verschworenen lebend gefangennahmen. Der Kaiser bestrafte sie alle grausam. Dem Gegenkönig ließ er vor den Augen seiner Gemahlin, der Kaiserin, eine Krone mit eisernen Nägeln aufs Haupt schlagen, andere verbrennen und einige ins Meer werfen. Dadurch machte er sich bei den Bewohnern des Landes, aber auch bei anderen, die davon hörten, äußerst verhaßt.9
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Morena [wie Anm.6], S. 81f.: „Sed postquam Mediolanenses, qui in Crema fuerant, atque Cremenses patres ac fil ios et parentes et amicos eorum, quos supra castellum lapidibus interfecerant, mortuos esse prospexerunt, tunc ipsi valde dolentes atque maxima ira et dolore commoti, statim super Teutonicos et Cremonenses atque Laudenses, quos captos ex carcere supra scrimalias atque machinas muri ipsius castri deduxerant, irruentes, plerosque ad imperatoris dedecus ipso etiam vidente interfecerunt." Vgl. Bischof Otto von Freising und Rahewin: Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica. Hg. von Franz-Josef Schmale. Darmstadt 1965, IV,55, S. 612ff. Annales Marbacenses qui dicuntur. Neu hg. von Hermann Bloch (MGH SRG). Hannover 1907, a. 1197, S. 69f.: „Igitur dum imperator in quadam silva propter venationem maneret, coniuratores, rege inter eos occulte constitute et multitudine maxima circa X X X armatorum milia collecta, ipsum omnesque suos huius rei ignaros perimere statuerunt. Quod et fecissent, nisi prius imperator a coniurationis conscio premonitus Messinam civitatem, ubi tunc dapifer suus Marquardus manebat confugisset. Qui etiam Marquardus cum Heinrico marscalco, coadunatis paucis tarn de suis quam de peregrinis, quos conduxerant, cum inimicis congressi fere omnes ceciderunt et regem iposrum cum aliis quibusdam eiusdem factionis auctoribus vivos ceperunt; quos imperator miserabiliter cruciari precepit. N a m regem, presente imperatri-
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Hier spricht eine dem Kaiser durchaus wohlgesonnene Stimme, deren abschließende Bemerkung aber deutlich macht, daß derartige Grausamkeit im Mittelalter alles andere als selbstverständlich und allseits akzeptiert war. Mit einer letzten Geschichte sei eingangs der Tatsache Rechnung getragen, daß die mittelalterlichen Jahrhunderte in der Tat voll sind von Schlachtenlärm und den damit verbundenen Metzeleien. Im Bürgerkrieg König Heinrichs IV. mit dem sächsischen Stamm kam es 1075 bei Homberg an der Unstrut zu einer Schlacht mit folgendem Ausgang: Die Schlacht hatte sich bereits vom Mittag bis zur neunten Stunde hingezogen, und es war schon nahe daran, daß sich zwei Heerhaufen zweier Länder, Schwaben und Bayern, (von der Partei des Königs) zur Flucht wandten, und wiederholt meldeten Boten dem König, daß ihre Leute in höchster Gefahr seien, da rücken plötzlich Graf Hermann von Gleiberg auf der einen, auf der anderen Seite die Bamberger Mannen zum Angriff heran. Jetzt wirft auch der Herzog von Böhmen, jetzt der Herzog Gozelo von Lothringen, denen vorher die im Kampf in Bedrängnis Geratenen immer wieder mit Bitten und Botschaften zugesetzt hatten, ihre Reiter mit verhängten Zügeln in den Kampf. Diesem gewaltigen Ansturm konnten die Sachsen nicht mehr standhalten und wichen langsam zurück. Lange bemühte sich Herzog Otto mit aller Kraft, die sich schon zur Flucht neigenden Reihen zum Stehen zu bringen durch Bitten, Schelten und Vorwürfe wegen ihrer Feigheit und Trägheit, schließlich aber machten sie kehrt und stoben nach allen Seiten davon. Da nun - wie ja stets wenn die Feinde fliehen, die Feigsten wie die Tapfersten gleich sind an Mut und an Ruhm - , machen sich alle Abteilungen des königlichen Heeres in aufgelöster Ordnung, auch alle gemeinen Leute und Bauern, die für die Bedürfnisse des Heeres im Lager Knechtsdienste leisteten, eiligst an die Verfolgung der Fliehenden, hetzen die Rosse mit den Sporen fast zu Tode, durchfliegen das weite Feld schneller als man sagen kann, und reiten alles nieder, was ihnen in den Weg kommt. Die Fliehenden, die sich in ihr Lager zurückgezogen hatten in der Hoffnung, dort einen Schlupfwinkel zu finden, jagen sie nach Besetzung und Plünderung des Lagers hinaus, tränken das ganze Gelände, durch das die Flucht geht, im Umkreis von zwei oder drei Meilen mit dem Blute der Erschlagenen und füllen es mit Haufen von Leichen. Und weil der von den Roßhufen aufgewirbelte Staub den Augen die Sicht und den Dingen die Unterscheidungsmerkmale nahm, so daß sie mit dem getrübten Blick Kameraden von Feinden nur schwer unterscheiden konnten, töteten sie viele ihrer Kameraden, die sie für Feinde hielten. Die sächsischen Fürsten und Edlen mit Ausnahme von zweien aus dem mittleren Adel entkamen alle lebend und unverletzt, da ihnen die Ortskenntnis, die Verfinsterung der Luft und die Schnelligkeit ihrer Rosse trefflich zustatten kamen. Aber gegen das gemeine Fußvolk, das während des Reiterkampfes noch im Lager geblieben war, wütete die feindliche Unmenschlichkeit so über alles Maß und alle Schranken
ce et vidente, coronam clavis ferreis capiti eius affigi iussit et alios igne cremari, quosdam in mare mergi iusisit. Proinde maximam adversum se invidiam tarn ab incolis quam ab aliis qui hec perceperunt excitavit." Vgl. Peter Csendes: Heinrich VI. Darmstadt 1997, S. 190.
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hinaus, daß sie, aller christlichen Ehrfurcht vergessend, M e n s c h e n abschlachteten w i e Vieh. Ein großer Teil v o n diesen ertrank auch in der Unstrut, als sie sich aus Furcht vor d e m dräuenden Schwert kopfüber hineinstürzten. Erst die Nacht machte dem Morden ein Ende. 1 0 Ich hätte die Stelle nicht so ausführlich zitiert, w e n n ich sie nicht in mehrfacher Hinsicht für exemplarisch hielte. W a s sich auf den ersten Blick als ein übliches Gemetzel der Sieger darstellt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als differenzierter, w e n n auch g e w i ß nicht als weniger grausam: D a s Gemetzel betraf j a ausschließlich diejenigen, die an der vorherigen Schlacht gar nicht teilgenommen hatten: nämlich das Fußvolk der Pferdeknechte und anderer Bediensteten und Helfer, das während der Schlacht im Lager geblieben war. D i e sächsischen A d l i g e n entkamen dagegen mit ganz w e n i g e n Ausnahmen lebend auf ihren Pferden; sie waren offensichtlich auch durch die lang dauernde Schlacht zuvor kaum dezimiert worden. M a n tut gut daran, sich an dieser Stelle zu vergegenwärtigen, daß wir es b e i m Mittelalter mit einer Epoche zu tun haben, in der sich im 8./9. Jahrhundert ein adliges W a f f e n m o n o p o l herausbildete, das zwar seit d e m 12. Jahrhundert durch Söldner und andere ständisch niederrangige Krieger durchlöchert und unterminiert wurde; dennoch bestimmte der adlige Panzerreiter lange Zeit die Kriegführung w i e die Gewaltanwendung allgemein, da nur Personen von Stand und ihre Helfer auch zur Fehdeführung berechtigt waren, jener akzeptierten Form von Gewaltanwendung g e g e n Personen und Sachen, die d e m Mittelalter unter anderem das Image beschert hat, ein besonders gewalttätiges und finsteres Zeitalter g e w e s e n 10
Lampert von Hersfeld: Annalen. Hg. von Oswald Holder-Egger (MGH SSrG 38). Hannover 1894, a. 1075, S. 220f.: „Protractum a media die usque in horam nonam certamen iam in eo erat, ut duo duorum regnorum exercitus, Sueviae et Baioariae, terga verterent, et regi firequentes nuncii salutem suonim in extremo sitam nunciabant, cum repente ex uno latere Herimannus comes de Glizberg, ex alio latere Babenbergenses milites signa inferunt. Tum dux Boemorum, tum Gozelo dux Luteringorum, multis prius periclitantium in prelio legationibus et supplicationibus fatigatus, suas uterque copias incitatis ad cursum equis inmittit. Non ultra Saxones vim multitudinis sustinere poterant, paulatimque cedentes, cum inclinatas iam ad fugam acies dux Otto restituere obsecrando, increpando, inertiam desidiamque exprobrando diu multumque conatus fiiisset, tandem versis frenis omnes diversas in partes aufugerunt. Tum vero - ut semper in fuga hostium ignavissimis et fortissimis par solet esse audacia, par gloria - omnes in exercitu regis legiones confusis ordinibus, omnes etiam plebei ac rustici, qui castronim usibus servilem operam dependebant, ocius se ad persequendos fugientes expediunt, equos calcaribus enecant, latissimos campos dicto citius transvolant, obstantia quaeque conculcant. Fugientes, cum in castra tamquam illic latibulum habituri se recepissent, captis castris et direptis exagitant, loca omnia, per quae fuga est, per miliaria duo vel tria circumquaeque cedibus cruentant, cadaverum acervis exaggerant. Et quia concitatus ungulis equorum pulvis oculis prospectum, rebus discrimen eripuerat, ut haud facile socios ab hostibus visu caligante secernere possent, quam plurimos ex sociis suis, dum hostes arbitrantur, interficiunt. Principes Saxoniae et nobiles, preter duos mediocri loco natos, omnes vivi integrique evadunt, tum peritia locorum, tum obtenebrati aeris densitate, tum equorum velocitate commodissime usi. Porro in vulgus pedestre, quod congressis equitibus adhuc in castris resederat, ita ultra modum omnem modestiamque debachata est hostilis feritas, ut christianae verecundiae obliti pecudes sibi, non homines iugulare viderentur. Plurimam etiam partem fluvius Unstrut, dum metu gladii imminentis precipitantius irruunt, obsorbuit. Cedi nox finem fecit." Zur reichhaltigen Literatur über die Sachsenkriege vgl. zuletzt Monika Suchan: Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit. Stuttgart 1992, S.61ff., 90ff.; Ian S. Robinson: Henry IV of Germany 1 0 5 6 - 1106. Cambridge 1999, S.63ff.
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zu sein." Dieses Gewaltmonopol der schwerbewaffneten Krieger aber, rekrutiert aus dem Adel und dessen Lehnsaufgeboten, hatte nicht zuletzt zur Konsequenz, daß es ganz unterschiedliche Spielregeln für die Gewaltanwendung gab, je nachdem, ob man sie innerhalb der christlich-adligen Kriegergesellschaft anwandte, oder ob sie Gruppen betraf, die nicht dazu gehörten. Heiden oder ständisch untergeordnete Gruppen wie etwa die Bauern schlachtete man nicht selten erbarmungslos ab wie Vieh und drückte dies ohne jedes Unrechtsbewußtsein auch so aus. Kam es sogar innerhalb der christlichen Kriegergesellschaft zu Greueltaten, wie in den zitierten Fällen der staufischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Heinrich VI., dann begründete man dies mit besonders verwerflichem Verrat oder ähnlichem. Üblich war dies jedenfalls nicht. War man nämlich sozusagen unter sich, befolgte man in aller Regel komplexe Verhaltensnormen, die alles andere als eine Vernichtung des Gegners im Auge hatten. Man beachtete vielmehr ein ganzes Regelwerk, das die Funktion hatte, Gewalt einzudämmen, zu vermeiden oder die Folgen von Gewalt zu verringern.12 Dieses Regelwerk zeugt nachhaltig von einem sehr bewußten und vorsichtigen Umgang mit der Gewalt: Die knappe Ressource der Mitglieder des eigenen Standes setzte man nicht leichtfertig der Todesgefahr aus. Da diese Seite der mittelalterlichen Gewaltanwendung in Fachwissenschaft wie im öffentlichen Bewußtsein weniger präsent ist, nehme ich mir das Recht, auf sie im folgenden ausführlicher hinzuweisen, auch wenn ich der etwaigen Erwartungshaltung hinsichtlich besonders blutiger Vorgänge dadurch nicht mehr gerecht werden kann. Um einen konkreten Eindruck von der Technik mittelalterlicher Fehdeführung zu geben, springe ich mitten hinein in die gut dokumentierte Fehde, die König Heinrich II. im Jahre 1003/4 mit dem Markgrafen Heinrich von Schweinfurt führte.13 In ihr werden nämlich all die Verhaltensweisen faßbar, die für Fehdeverhalten innerhalb der adligen Führungsschichten charakteristisch sind:
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Zur vor allem durch Otto Brunner (Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. 5.Aufl. Wien 1965) ausgelösten Diskussion um die mittelalterliche Fehde vgl. zuletzt Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1: bis 1250. 11. Aufl. Opladen / Wiesbaden 1999, S. 41; zur Kritik an Brunner vgl. Otto Gerhard Oexle: Sozialgeschichte - Begriffsgeschichte - Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71 (1984), S. 305-341, hier bes. S. 321-327; Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch. Frankfurt a.M. / New York 1996, S. 131-167. 12 Diese Regelhaftigkeit mittelalterlichen Verhaltens - nicht nur im Konflikt - zum Forschungsgegenstand zu machen, habe ich mich in einer Reihe von Arbeiten bemüht; vgl. Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. Angesichts verschiedener kritischer Stimmen ist eines wohl zu betonen: Auch ich gehe davon aus, daß solche Regeln kein starres System bildeten, das alle Probleme löste. Sie konnten vielmehr sowohl miteinander kollidieren, als auch unterlaufen und gebrochen werden. Die Beachtung dieser Regeln wurde von vielen Faktoren beeinflußt. Das ändert aber nichts daran, daß solche Regeln die Funktion hatten, Zusammenleben zu erleichtern, und daß sie in vorstaatlichen Ordnungen die wichtigsten Regelungsmechanismen bildeten. 13 S. dazu bereits Gerd Althoff: Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert. In: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 265-290; wieder in ders.: Spielregeln [wie Anm. 12], S. 21-56. Neuerdings mit weiterführenden Aspekten Stefan Weinfurter: Kaiser Heinrich II. (1002-1024). Herrscher am Ende der Zeiten. Regensburg 1999, S. 186ff.
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Gerd Althoff Als der König (gegen den Markgrafen) nach Herzbruck zog, konnte ihm des Grafen miles Magnus mit seinen Leuten den gesamten, vorausgesandten Schatz rauben; man teilte untereinander und kehrte voller Freude in die Burg Ammerthal heim. Der König nahm sofort die Verfolgung auf, begann die Belagerung, ließ das Sturmgerät bereitmachen und veranlaßte die Besatzung durch vertrauenswürdige Vermittler, gegen die Bitte um ihr Leben Burg und Leute zu übergeben.14
Bereits die Drohgebärde veranlaßt die Besatzung der Burg zur Aufgabe. Die Besatzung erreicht es durch Vermittler, daß sie ohne Schaden an Leib und Leben und - was hier nicht konkret gesagt, aber durch unzählige andere Fälle beglaubigt ist - , unter der Garantie freien Abzugs die Burg verlassen darf. Schon an diesem Verhalten, das exemplarisch ist, wird deutlich, daß nicht etwa der Kampf bis zum letzten Blutstropfen, sondern eine nüchterne Abwägung der Erfolgsaussichten das Verhalten der Krieger bestimmte. Daraufhin zog der König dann vor die nächste Burg seines Gegners. Dieser wandte nun eine häufiger bezeugte Taktik an und verbarg sich außerhalb der Burg mit Kriegern in den Wäldern, ließ die Burg von seinem Bruder verteidigen und versuchte, den Belagerern vor allem beim Futtersuchen zu schaden. Doch verriet ihn ein Bauer, und er mußte fliehen. Darauf passierte in der Burg folgendes: Graf Bukko beriet sich auf die Kunde von der Flucht seines älteren Bruders voll tiefer Sorge mit seinen Gefährten über die weiteren Maßnahmen. Man war verschiedener Ansicht. Einige erklärten, wegen der ihrem Herrn gelobten Treue und um dem dauernden Vorwurf der Feigheit zu entgehen, wollten sie lieber sterben, als jemals die Burg mit solchen Pfändern (dort hielten sich die Gemahlin und die Kinder des geflohenen Markgrafen auf) dem Könige auszuliefern. Solange ihr Herr noch am Leben sei, müsse man immer auf Entsatz hoffen. Andere, Einsichtigere, stellten fest, reißendem Wasser und einem mächtigen Mann Widerstand zu leisten, sei schwierig. Besiegte fänden selten oder nie Gnade. [Dieses Argument habe ich im Titel meines Beitrags benutzt, G. A.]. Auch behaupteten sie, jetzt, von Verlusten und Wunden noch unbeeinträchtigt, könne man beim König freien Abzug mit ihrer Herrin, mit sonstigem Gut und aller Mannschaft erwirken. Auf ihren Rat hin, wie ich glaube, hat sich Bukko als Befehlshaber der Burg mit Otto, dem Bruder seiner Herrin, verständigt und durch seine Vermittlung die Burg in die Gewalt des Königs übergeben. Der König ließ die Burg sofort von Grund auf zerstören; weil jedoch dieser Auftrag mit Schonung ausgeführt wurde, blieb sie samt den Gebäuden zum großen Teile erhalten.15
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Vgl. Thietmar von Merseburg: Chronik. Hg. von Robert Holtzmann (MGH SSrG N S 9). Berlin 2 1955, V, 34. Zu Konflikten in der Zeit Heinrichs II. vgl. neuerdings Knut Görich: Heinrich II. und Boleslaw Chrobry; Gerd Althoff: Otto III. und Heinrich II. in Konflikten; beide in Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter (Hgg.): Otto III. - Heinrich II. Eine Wende? Sigmaringen 1997, S. 9 5 - 1 6 7 und S. 7 7 - 9 4 . Thietmar [wie Anm. 14], V., 35, S. 261 : „Tunc audita senioris sui fuga Buggo comes gravi dolore concutitur et, quid sibi faciendum esset, socios consulit. A quibus diversa responsa percepit. Quidam enim dixerunt ob fidem domno suo promissam et ignaviam perpetuo eis improperandam malle mori, quam urbem cum tali pignore regi umquam dare; superstite seniore suo auxilium adhuc se sperare profutu-
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In der Beratung beziehen sich die Einsichtigeren auf eine Spielregel, die mittelalterliches Fehdeverhalten ganz entscheidend geprägt hat: Je eher man sich zum Einlenken entschloß, desto bessere Bedingungen der Übergabe und des Friedensschlusses konnte man aushandeln. Für dieses Geschäft standen Vermittler zur Verfügung, die die Interessen beider Konfliktparteien im Auge behielten und für die Einhaltung solcher Regeln sorgten.16 Auch in diesem Fall wird ja mit Otto, dem Bruder der Markgräfin, ein Vermittler tätig, der Bindungen an beide Seiten hatte. Auch bei der Belagerung der ersten Burg hatten vertrauenswürdige Vermittler ja sofort die kampflose Übergabe bewerkstelligt. Wartete man dagegen mit den Friedensverhandlungen und suchte das Heil zunächst in den Waffen, wie es in diesem Fall einige Krieger vorschlugen, um dem Vorwurf der Feigheit zu entgehen, dann verschlechterten sich auch die Aussichten, ohne größeren Schaden aus der Sache herauszukommen. Als der gleiche König Heinrich II., der hier Vermittler einen Ausgleich bewerkstelligen läßt, in einem anderen Fall von einem Vermittler über die hoffnungslose militärische Lage seiner Gegner getäuscht wurde und einem viel günstigeren Ausgleich zustimmte, als es der Lage angemessen war, fiel dieser Vermittler nach Aufdeckung des Sachverhalts sofort in Ungnade und ging seiner Herzogswürde verlustig, obgleich er der Schwager des Herrschers war.17 So strikt achtete man die Gewohnheiten. Diese Grundprinzipien mittelalterlicher Fehdefuhrung hatten zur Konsequenz, daß wir sehr häufig von frühen Verhandlungen um die Übergabe von Burgen oder die Beilegung des Konflikts hören, die noch vor dem ersten Waffengang stattfanden. Man wußte, war erst einmal Blut geflossen, verkomplizierte sich die Lage, die compositio, der gütliche Ausgleich auf der Basis von Genugtuungsleistungen, gestaltete sich schwieriger.18 Ein Einlenken gegenüber einem stärkeren Gegner hat dagegen die Kriegerehre offensichtlich nicht so tangiert, wie es einige Krieger in der zitierten Beratung befürchteten. So hielten es übrigens auch viele Krieger in konkreten Waffengängen, denn es gibt nicht wenige militärische Auseinandersetzungen, bei denen eine große Menge Gefangener nur einer verschwindend geringen Anzahl Gefallener gegenübersteht. Nach einer Schlacht in der Tübinger Fehde 1162, gewiß ein extremes Beispiel, zählte man einen Toten und 900 Gefangene.19 Auch Galbert
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rum. Alii autem, qui magis sana sapiebant, testabantur arduum esse rivo torrenti contraire viroque potenti; devictos raro aut numquam veniam promereri, se pocius incólumes et nullo vulnere tardatos cum domna sua ceterisque bonis et hospitibus abeundi licenciam apud regem imploraturos affirmabant. Horum, ut opinor, Consilio custos eiusdem [civitatis] Buggo cum Ottone, germano suo, domnam alloquitur eiusque suffragiis urbem regie potestati tradidit; ipse autem cum omnibus sibi commissis securas abiit. Confestim urbs radicitus dirui a rege iubetur, sed parcentibus huius rei auctoribus magna ex parte cum edificiis servatur." Die hier formulierte Einschätzung habe ich im Titel dieses Beitrages zitiert. Zur Institution des Vermittlers s. jetzt Hermann Kamp: Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter. Darmstadt 2001. Vgl. die Schilderung des Falles bei Thietmar [wie Anm.14], VI., 35; s. dazu Althoff: Königsherrschaft [wie Anm. 13], S. 85f. Vgl. hierzu Gerd Althoff: Compositio. Wiederherstellung verletzter Ehre im Rahmen gütlicher Konfliktbeendigung. In: Klaus Schreiner / Gerd Schwerhoff (Hgg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und in der frühen Neuzeit (Norm und Struktur). Köln / Weimar / Wien 1995, S. 63-76. Vgl. Historia Welforum. Neu hg., übers, und eri. von Erich König. Stuttgart/Berlin 1938, cap. 30, S. 64: „Fortissime tarnen ab his, qui congressi sunt, per spatium duarum horarum pugnatum est, licet nullus utriusque partis, excepto uno, corruisset; adeo enim armis omnes muniti erant, ut multo facilius capi
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von Brügge erwähnt ein ähnliches Verhältnis. Er zählte, wie Georges Duby unterstrich, in einer einigermaßen dramatischen Auseinandersetzung nach der Ermordung Karls des Guten, die eine mehr als einjährige Fehde mit unzähligen Beteiligten nach sich zog, sieben Gefallene. Zwei, die keine Ritter waren; von diesen wurde einer durch einen Pfeil getötet, der andere durch den zufallenden Deckel einer Truhe, die er gerade plündern wollte. Von den fünf adligen Kämpfern starb nur einer im Zuge einer Verfolgungsjagd durch die Hand des Gegners. Die vier anderen kamen bei Unfällen ums Leben: ein böser Sturz vom Pferd, ein Ausrutscher beim Übersteigen einer Mauer, eine tödliche Verletzung beim Einsturz einer Decke, ein zu heftiger Stoß ins Horn, der eine alte Wunde platzen ließ.20 Ja so waren die alten Rittersleut', möchte man anfügen. Nimmt man diese Zahlen ernst, wird die Bedeutung der Lösegeldzahlungen klar, die in jedem Bündnisvertrag seit dem 13. Jahrhundert entgegentritt. 21 Auch in der Schlacht nutzte man offensichtlich schnell und häufig die Option der Aufgabe, man ergab sich seinem Gegner, der dann später ein Lösegeld fur die Freilassung erhielt. Um so erpichter waren alle darauf, daß nur derjenige das Lösegeld bekommen sollte, der den Gefangenen tatsächlich gemacht hatte. Zur Realität der Schlachtfelder des Mittelalters gehört daher, daß ein gefangener Ritter aus dem Schlachtgetümmel herausgeführt wurde, weil er sich ergeben hatte, und daß offensichtlich niemand diesen Vorgang störte. Vielleicht funktionierte dies auch auf der Basis des Ehrenwortes, und er verließ das Feld der Ehre allein - wir wissen es nicht. Ich möchte die Wirkmächtigkeit all dieser Prinzipien noch an einem zweiten Beispiel verdeutlichen, das aus dem 12. Jahrhundert stammt und eine Fehde zwischen dem Weifen Heinrich dem Stolzen, dem bayerischen Herzog, und dem Bischof von Regensburg behandelt. Die Historia Welforum erzählt von folgendem Vorgehen der Fehdeparteien und des Vermittlers. Herzog Heinrich kam mit einem so starken Heer nach Bayern, daß er nicht nur die Burg Wolfratshausen eng einschließen, sondern gegen alle, die ihm mit trotzigem Widerstand drohten, den Kampf aufnehmen konnte. Der Bischof hatte nämlich während der ganzen Fastenzeit seine Verwandten und Freunde aufgesucht und sie dafür
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quam occidi potuissent. Itaque illis, ut dictum est, conflictum habentibus, ceteri fugam arripiunt hostibusque immeritam victoriam dantes sibi ac posteris suis perpetuum obprobrium accumulant. Höstes igitur cognita fuga primo illos, qui congressi erant, paucis emersis, captivantes ad Castrum remittunt, deinde alios insequentes velut oves de pascuis ad caulas propellentes, ut totam summam comprehendam, nongentos captivos cum maxima praeda adducunt. Reliqui praesidio silvarum ac montium seu vicinorum castellorum effugiunt. Gwelfo ipse ad Castrum Achalmen, tribus tantum comitantibus, pervenit." Duby [wie Anm. 1], S. 143. Vgl. dazu allgemein Claudia Garnier: Amicis amicae, inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert. Stuttgart 2000. S. auch den Streit um die Frage, wem das Lösegeld für einen Gefangenen zustand, wie sie Arnold von Lübeck in seiner Chronica Slavorum (Hg. von Johannes M. Lappenberg [MGH SSrG 14], Hannover 1868, V., 16, S. 56f.) für Heinrich den Löwen und den G r a f e n A d o l f von Schauenburg überliefert.
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gewonnen, den Herzog mit Schimpf und Schande zu vertreiben, wenn er noch einmal in seine Besitzungen einfiele. Während sich nun der Herzog bei der Belagerung aufhält, rückt der Bischof mit dem Markgrafen Leopold von der Ostmark und anderen Grafen, den tapfersten von ganz Bayern, heran, in der Ebene der Isar schlagen sie ihr Lager auf. Auf der anderen Seite ordnet der Herzog seine milites zur Schlacht, weist auch den Fußknechten ihre Stelle an, und gibt Befehl, die Belagerung nur im äußersten Notfall aufzugeben. 22 Bis hierhin sieht alles noch sehr martialisch aus, es droht eine Entscheidungsschlacht, zu der es jedoch aus folgenden Gründen nicht kommt: Mittlerweile sieht sich der Pfalzgraf Otto (von Wittelsbach), ein kluger Mann, der Zugang zu beiden Seiten hatte, den Aufmarsch beider Heere an. Er meldet jenen, daß unseres stärker sei, und setzt sie dadurch in Schrecken. Darauf bedacht, wie man in Güte den Frieden herbeiführen könne, ermahnt er zunächst den mit ihm verwandten Vogt Friedrich, sich zu ergeben. Dieser fugt sich, auch von allen seinen Leuten im Stich gelassen, dem Rate des Pfalzgrafen, geht in dessen Begleitung in das Lager des Herzogs, wirft sich ihm zu Füßen und wird wieder zu Gnaden angenommen. Als der Pfalzgraf dies erreicht hat, drängt er unter Vorstellungen über das den Seinen drohende Unglück auch seinen Schwiegersohn Otto, sich zu ergeben und Sühne zu leisten. Dieser folgt seinem [...] Rat, zögert nicht mit der Übergabe und liefert sich selbst mit seiner Burg in aller Unterwürfigkeit dem Herzog aus. Der Herzog aber zwingt ihn, wie es der rigor iustitiae fordert, seiner Heimat und dem bayerischen Gebiet eidlich zu entsagen, bis ihm die Rückkehr gestattet werde, übergibt ihn als Gefangenen seinen Leuten und läßt ihn nach der Ravensburg abführen.23
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Vgl. Historia Welforum [wie Anm. 18], cap. 22, S. 40: „Heinricus igitur dux finita paschali ebdomada tarn copiosum exercitum in Bawariam reduxit, ut et Castrum supra nominatum stricta obsidione clauderet, et se ab ímpetu ¡Horum, qui sibi contumaciter comminabantur, defenderet. Episcopus enim, per totam quadragesimam cognatos et amicos suos conveniens, hoc agebat, ut ducem de finibus suis, si amplius eos hostiliter invaderet, ignominiose fugaret. Morante igitur in obsidione duce, episcopus cum marchione orientali Leopaldo seu aliis comitibus ac totius Bawariae fortissimis, excepto palatino, coadunato milite appropinquat; et castra in plano propre Ysaram fluvium ponunt. Econtra dux acies suas informat, pedites suos loco suo exordinat, obsidionem tamen non nisi in extremo discrimine positis relaxandam confirmât." S. zu dieser Fehde jetzt Bernd Schneidmüller: Die Weifen. Herrschaft und Erinnerung (819-1252). Stuttgart 2000, S. 166ff. Historia Welforum [wie Anm. 18], S. 40f.: „Interea Otto palatinus, vir sapientia praeditus, cui ad utramque partem accessus patuit, utriusque exercitus apparatum contemplatur illisque nostrum copiosiorem esse denuntians terrorem incutit; cogitansque, quomodo ad bonum pacis perducat, Fridericum advocatum, cognatum suum, promissionibus ac minis circumveniens ad deditionem hortatur. Ille, utpote omnibus suis destitutus, consiliis palatini acquievit et assumpto eo in castra ducis veniens et ad pedes eius se humilians gratiam eius recepit. Quo perpetrato Ottonem quoque generum suum ad deditionem et satifactionem, exponens ei miserias suonim, compellit. Qui similiter eius et aliorum suorum Consilio consentiens ad deditionem venire non distulit ac se ipsum cum castro in manus ducis sub omni humilitate contradidit. Dux vero, prout rigor iustitiae exigit, illum patriam et omnes términos Bawariae, quoadusque per eum revocaretur, abiurare coegit et sie eum captivum suis commisit et ad Ravensburc secum adduci praeeepit. Castrum quoque, omnibus quae auferri poterant, praeter aedificia, abstractis, igne
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Gleich im nächsten Kapitel erzählt der Autor, daß der Herzog den Grafen vor dem nächsten Italienzug in Gnaden wieder aufnahm, so daß dieser ihn mit seinen milites nach Italien begleiten konnte. Er wurde also wieder in Amt und Würden eingesetzt. Auch in diesem Fall hört man also wieder von der Tätigkeit des Vermittlers, der noch vor dem ersten Waffengang schlichtet. Er arbeitet erfolgreich, indem er zunächst seine Verwandten überzeugt, sich zu ergeben und der Gnade des Herzogs anzuvertrauen. Daß diese spes reconciliationis oder spes clementiae genannte Erwartung nicht unbegründet ist, erweist das Verhalten des Herzogs, der den einen sofort, den anderen bald wieder in seine Gnade aufnimmt und ihnen Amt und Würden zurückgibt. Solche Hoffnung wurde durch Verträge abgesichert und vom Vermittler garantiert. Auch hier galt das Grundprinzip, daß schnelle Aufgabe noch vor dem ersten Waffengang belohnt wurde. Die Gewohnheiten stellten also feste Regeln zur Verfügung, die allen Konfliktparteien weitgehende Sicherheit boten, nicht der Willkür, Hinterlist oder Übermacht des Gegners schutzlos ausgeliefert zu sein. Mit der Institution des Vermittlers gewann im Verlaufe des Mittelalters immer mehr eine Einrichtung an Profil und Renommee, die unabhängig von den Parteien war und deren Verhalten überwachte. Alle diese Regeln und Institutionen aber setzten der Gewalt innerhalb der christlichen Kriegergesellschaft sehr enge Grenzen. Aus einem anderen Beispiel des 12. Jahrhunderts ist die Argumentation überliefert, mit der ein Vermittler denjenigen quasi beschimpfte, der ihn zu spät, nämlich erst nach längerer Belagerung, um Vermittlung anging: Ärztlicher Rat kommt zu spät, wenn der Kranke aufgegeben ist. Die jetzt drohenden Gefahren [nämlich die Eroberung der Burg, G.A.] hätte man vorhersehen müssen. Wer, bitte, hat dir den Rat gegeben, in das Wagnis einer Belagerung hinein zu rennen. Es war eine große Dummheit, den Fuß in den Block zu setzen, wo es keinerlei Ausweg noch Entrinnen gibt. Nun bleibt nichts als Unterwerfung, wenn es noch Rettung geben kann, ist sie allein durch Unterwerfung zu erlangen. Da meinte Wertislaw (der Belagerte): „Ich lege ein Wort für uns beim Herzog ein [das ist Heinrich der Löwe, G.A.], daß man uns die Unterwerfung ohne Lebensgefahr und Leibesschaden gestatten möge".24 Dies erreichte der Vermittler denn auch. Was hier angebahnt wurde, ist die gängige mittelalterliche Konfliktbeilegung mittels einer deditio, eines Unterwerfungsrituals. Ich habe es in verschiedenen Arbeiten schon so oft
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succendit. Adducitur autem uxor illius, quae et ipsa in castro obsessa fiierat, quam dux benigne suscipiens et bene consolans patri suo palatino commisit. Sicque omnis contumacia Bawaríonim divina ordinatione suppressa est. Non multo post compositio quoque inter ipsum et episcopum fit, et comitatus ille, quem ecclesia Ratisponensis circa Enum fluvium habet, ab episcopo ei in beneficio conceditur." Vgl. Helmold von Bosau: Slawenchronik. Hg. von Bernhard Schmeidler (MGH SSiG 32). 3. Aufl. Hannover 1937,1, 93, S. 183: „Sera quidem medicinae consultado est, quando eger desperatus est. Pericula nunc inminentia debuerant antea fiiisse previsa. Quis queso, tibi consilium dedit, ut obsidionis periculum incurreres? Magnae fuit amentiae, ponere in nervo pedem, ubi non sit diverticulum, vel ulla evasionis molicio. Nil igitur restât nisi dedicio. Si quod potest esse salutis compendium, sola dedicione apprehendendum video. Et ait Wertizlavus: Fac pro nobis verbum apud ducem, ut sine periculo vitae et membrorum dampno admittamur deditioni."
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beschrieben, daß ich mich hier sehr kurz fasse:25 Barfüßig und mit deutlichen verbalen wie nonverbalen Zeichen von Reue und Zerknirschung warf sich die eine Konfliktpartei der anderen zu Füßen und gab so Genugtuung, satisfactio. Was dann folgte, war vom Vermittler vorweg festgelegt. Es handelt sich also um ein Ritual, um dessen Verlauf und Ausgang die Parteien wußten. Hatte jemand früh aufgegeben, wurde er sehr milde behandelt: Der Gegner hob ihn sofort vom Boden auf, küßte ihn und Schloß Frieden. Er behielt Besitz, Ämter und Würden, man stellte den status quo ante wieder her. Hatte jemand dagegen solange Widerstand geleistet, bis dieser aussichtslos wurde, konnte er gerade Leib und Leben retten, verlor Ämter und Lehen und mußte unter Umständen auch eine längere Haft beim Gegner in Kauf nehmen. Am schlimmsten aber wurde es, wenn man nach solcher gütlichen Lösung den Konflikt fortführte oder wieder eröffnete, wie es der genannte Wertislaw einige Zeit später tat. Dann fand man keine Gnade mehr und so wurde dieser christliche Slawenfurst denn auch von Heinrich dem Löwen aufgehängt. Um die Ausgestaltung der Rituale der Konfliktbeendigung wurde in vielen Fällen nachweislich gerungen, da sie eben ein getreues Abbild des vorherigen Konfliktverlaufs darstellten. Die Genugtuungsleistungen machten vorherigen Schaden materieller wie immaterieller Art wieder gut, und deshalb waren die Leistungen quasi ein Spiegelbild des Schadens. Entehrende Akte wie die dreimalige Wiederholung eines Fußfalls oder gar das Abführen in Ketten wiesen so auf besonders großen Schaden oder auch auf zu spätes Einlenken hin. Ein letztes Beispiel sei angefügt, um eine weitere Facette mittelalterlicher Fehdeführung deutlich zu machen, die gleichfalls die Gewalt innerhalb der christlichen Kriegergesellschaft deutlich eingedämmt hat. Man war wohl allgemein davon überzeugt, daß Gott und die Heiligen den Kämpfer für eine gerechte Sache unterstützten und ihr so zum Sieg verhalfen. 26 Dies hatte nicht nur zur Folge, daß man sich mit Fasten und Gebeten auf den Kampf vorbereitete und die himmlischen Mächte auch mit anderen Leistungen günstig zu stimmen suchte. Man nahm sie, d. h. ihre Reliquien, auch in die Schlacht mit. Deren Wirkung war nicht selten beträchtlich, denn sie verhinderte ein Ausufern von Gewalt. So etwa in einer Fehde des Lütticher Bischofs Albero gegen den Grafen Rainald von Bar in der Mitte des 12. Jahrhunderts, in der das Heer des Bischofs eine Burg des Grafen belagerte und der Graf mit einem Entsatzheer die Belagerer anzugreifen drohte, wie im Triumphus Sancii Lamberti ausführlich beschrieben.27 Die Krieger forderten in dieser Situation die Heranschaffung der Reliquien des Heiligen Lambert, des Patrons der Lütticher Kirche, um mit dessen Hilfe die
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Vgl. vor allem Gerd Althoff: Das Privileg der deditio. In: ders.: Spielregeln [wie Anm. 12], S. 99-125; s. ders.: Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 30 (1997), S. 370-389. Unterwerfungsrituale und Bedeutung beschäftigen mich jetzt auch in einem Buch, das den Titel „Die Macht der Rituale" tragen wird. Die Publikation ist vorgesehen in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. 26 Vgl. dazu allgemein Jürgen Petersohn (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter. Sigmaringen 1994; Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1997; Thomas Scharff: Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit. Darmstadt 2002. 27 Vgl. Triumphus Sancti Lamberti de castro Bullonico. Hg. von Wilhelm Arndt (MGH SS 20). Hannover 1963, S. 497-511 und Reinen monachi sancti Laurentii Leodiensis opera histórica. Hg. von Wilhelm Arndt (MGH SS 20). Hannover 1963, S. 559-620. Zu den Ereignissen s. bereits Wilhelm Bemhardi: Konrad III. (1138-52). Leipzig 1883, S. 237-260.
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Gerd Althoff
als unbezwingbar geltende Burg einzunehmen. Ernsthafte Anstrengungen, dies mit militärischen Mitteln zu versuchen, hatten sie zuvor nicht unternommen. Vielmehr sorgten Händler und Kaufleute bei den Belagerern für ausreichende Versorgung und so verkürzte man sich die Wartezeit, bis den Belagerten die Vorräte ausgehen würden.28 Der Bischof erhob zunächst allerlei Einwände gegen diesen Plan mit den Reliquien des heiligen Lambert, unter anderem den, daß der Heilige auch von Lüttich aus wirkmächtig eingreifen könne. Doch überzeugte er damit nicht. Feierlich wurde der Heilige herbeigeschafft, und seine Anwesenheit dürfte der Hauptgrund dafür gewesen sein, daß es zu Kampfhandlungen gar nicht mehr kam, sondern in Verhandlungen über einen Vermittler wie gewohnt die Übergabe der Burg vereinbart wurde. Der erkrankte Befehlshaber der Burg ließ sich angeblich sogar voll Vertrauen in die Macht des Heiligen aus der Burg in das Zelt tragen, in dem man den Schrein Lamberts aufgestellt hatte.29 Was diese Geschichte erwähnenswert macht, ist aber weniger das Vertrauen in das Eingreifen überirdischer Mächte, das die Eskalation von Gewalt verhindert. Dies wäre an vielen vergleichbaren Geschichten zu belegen. In diesem Fall aber wird zudem von einem frommen Betrug erzählt. Bischof und Domkapitel von Lüttich war der Heilige nämlich doch zu kostbar, um ihn den Unwägbarkeiten einer solchen Reise zur belagerten Burg auszusetzen. Deshalb entfernten sie vor dem Auszug den Leichnam aus dem Schrein und bargen ihn in einem Altar einer Lütticher Kirche. Andere Reliquien ungenannter Heiliger wurden als Ersatz auf den Weg geschickt, was aber Geheimnis der Kleriker blieb.30 Es fällt nicht ganz leicht, die religiöse Mentalität, die hierin zum Ausdruck kommt, zu bezeichnen: Ist sie charakterisiert durch das Vertrauen, daß der Heilige tatsächlich auch von Lüttich aus mächtig genug sei, dem Kampf zu entscheiden, oder spricht aus der Handlungsweise ein Skeptizismus, der den Heiligen dieser Probe nicht aussetzen wollte, da ihr Ausgang nicht für sicher gehalten wurde. Wie dem auch sei, in jedem Fall handelt es sich um eines der vielen Beispiele, in denen Reliquien von Heiligen den Ausbruch von Kämpfen verhinderten oder sie zum Erliegen brachten. Ich fand es weniger interessant, in den Chor all derer einzustimmen, die dem Mittelalter eine besondere Gewaltfreudigkeit und Hemmungslosigkeit in ihrer Anwendung attestierten. Zweifelsohne gibt es Anhaltspunkte für solche Einschätzungen. Schaut man jedoch ein wenig genauer hin - und das sollte man ja eigentlich immer tun - , dann erweist sich der Befund schnell als komplexer und wird durch die Klischees kaum adäquat erfaßt. Man muß 28
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Triumphus [wie Anm. 27], 8, S. 503: „Praeterea deerant exercitui cibaria, quia per angustias locorum nullus erat qui transferre auderet victualia cibi et potus, donec adeo invalescerent virtute et numero, ut metum hostibus incuterent, formidinem et detrimenta mercatorum tollerent, et undique castelli moenia pro sui firmitate, omni fortunae armorum resistentia, viris et armis circumcingerent." Triumphus [wie Anm. 27], 21, S. 511. „Tertia enim antequam excederet die, humili affectu viaticum susceperat, et postquam beatus martyr gloriosus victor in castellum delatus est, in eius tentoriolo se defferi fecit, in loco in quo iacuerat, sanae menti restitutus est, gratias Deo de triumpho martyris, de arce reddita egit, gratias eis quoque, qui sibi infirmo in castris obsequium praestiterant, retulit." Reinen [wie Anm. 27], 2, S. 587: „Tunc primi atque saniores provido solliciti metu, ne quid forte tristius super martyris corpore accideret, si delatum in castra foret - nam bellorum incertos eventus esse, atque nunc istinc nunc illinc adversa misceli et prospera - decreverunt, ut resignato eodem feretro inde levaretur, tutiorique interim loco reconderetur. Quod videlicet sunt executi abbates religiosi, et ad hoc electi probabiles viri, qui beata ossa penes altare sanctae crucis, situm in oratorio eidem basilicae adiuncto, ingenti sicut par erat metu ac devotione ad nocturnum transposuere silentium. Aliquas tamen in ipsum feretrum reliquias reponentes, denuo signaverunt, et hoc ad castra exhibuere p e r f e r e n d u m . "
„Besiegte finden selten oder nie Gnade"
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zunächst einmal berücksichtigen, welche Gruppen gegeneinander Gewalt anwenden, ob es sich um Heiden und Christen, Mitglieder verschiedener Stände und Schichten, oder um Angehörige des gleichen Standes oder gar Verbandes handelt. Es gelten jeweils so unterschiedliche Regeln bzw. auch keine, daß differenzierte Zugriffe und Urteile wirklich vonnöten sind. Innerhalb - und nur innerhalb - der christlichen Adels- und Kriegergesellschaft kann man Regeln beobachten, die Gewaltanwendung verhindern oder zumindest hegen, um diesen altdeutschen Rechtsbegriff zu benutzen. Die Komplexität wie die offensichtlich weit verbreitete Gültigkeit dieses Regelwerks zeugt von einem sehr bewußten, fast vorsichtigen Umgang mit der Gewalt. Mit dieser Beobachtung soll keineswegs bagatellisiert werden, daß die Regeln nicht für alle galten. Sie aber gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, wie es bisher weitestgehend geschah, dürfte auch nicht die richtige Art sein, sich dem Mittelalter zu nähern.
WOLFGANG SCHILD
Schlacht als Rechtsentscheid
Manche(r) wird sich gedacht haben: welch seltsamer Titel! So als könnte eine Schlacht (ein Krieg) etwas mit Recht zu tun haben und nicht als solche(r) notwendig Unrecht sein. Es braucht daher einige Zeit, um die Plausibilität des Titels zu begründen; dies wird unter I. versucht, in welchem Abschnitt die Leserinnen auch einiges über das heutige Völker(kriegs)recht erfahren sollen. Er wird mit einigen methodischen Bemerkungen enden, die die Leserinnen nicht ärgern wollen, sondern nur aufzeigen sollen, daß Verfasser weiß, was er mit diesem Text eigentlich tut und anrichtet, und die zugleich die weitere Gliederung vorgeben. Als II. sollen die drei möglichen Formen einer Schlacht als eines Rechtsentscheids gedacht und entfaltet werden: im Reich des Gedankens, nämlich des Begriffs einer solchen „Schlacht als Rechtsentscheid". Als III. sollen schließlich drei reale historische Ereignisse vorgestellt werden, in denen sich diese (gedachte, begriffliche) Möglichkeit von Schlacht als Rechtsentscheid in (selbstverständlich nicht reinen) Gestalten verwirklicht hat, weshalb diese Geschichte(n) als Schlacht als Rechtsentscheid verstanden und so erzählt werden können1.
1 Nicht Thema ist eine juristische Darstellung des Krieges als Rechtsinstitut in den vergangenen Zeiten; vgl. dazu den Überblick bei Leopold Auer: Mittelalterliche Kriegsgeschichte als Forschungsproblem. In: Francia 10 (1982), S. 49-63; Kurt-Georg Cram: Iudicium Belli. Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter. Münster-Köln 1955; Georges Duby: Der Sonntag von Bouvines 27. Juli 1214 (1973). Frankfurt a. M. 1996; Ernst-Dieter Hehl: Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Stuttgart 1983; Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Frankfurt a.M. 1985; Norbert Ohler: Krieg und Frieden im Mittelalter. München 1997; Franz Pietzcker: Die Schlacht bei Fontenoy. Rechtsformen im Krieg des frühen Mittelalters. In: ZRG-GA 81 (1964), S. 318-340; Wolfgang Schild: Fehde und Gewalt im Mittelalter. Anmerkungen zur mittelalterlichen Friedensbewegung und Gewaltentwicklung. In: Leben im Mittelalter Bd.II. Hg. von Gunter Gehl / Mathilde Reichertz. Weimar 1998, S. 95-174; Volker Schmidtchen: Kriegswesen im späten Mittelalter. Weinheim 1990.
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I.
Wolfgang Schild
Zum Sinn dieses Titels
Zunächst stimmt ein solches Denken, das den Titel nicht versteht, bereits nicht einmal für unsere heutige Zeit. Denn das Völkerrecht - meist kodifiziertes Gewohnheitsrecht, das aus dem Umgang der Staaten miteinander hervorgegangen ist, aber auch in bezug auf unser Thema ζ. B. der 1928 abgeschlossene Briand-Kellog-Pakt, heute die Satzung der UNO als Vertragsrecht - unterscheidet zwischen rechtlich zulässigem Verteidigungskrieg (als Akt der Notwehr) und dem rechtlich verbotenen Angriffskrieg. Dabei ist es nicht so einfach, kriegerische Aktionen (wie Schlachten) in dieses Schema zu bringen 2 . Denn das Völkerrecht enthält keine genaue Tatbestandsfassung für den letzteren (also den verbotenen Angriffskrieg), sondern kennt nur ζ. B. in Resolutionen formulierte beispielhafte Fälle für rechtswidrige bzw. nicht rechtswidrige Angriffe. So wissen wir, daß Befreiungskriege aufgrund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker nicht rechtswidrig sind, wahrscheinlich auch nicht ein sog. „Präventivangriff'. Zudem wissen wir, daß (deshalb) eine Entscheidung des Sicherheitsrates der UNO das Vorliegen eines Angriffskrieges feststellen muß, die dann allgemein bindend ist. Der Sicherheitsrat kann darüber hinaus durch eigene Maßnahmen die Möglichkeit eines Verteidigungskrieges ausschließen. Doch beurteilt bei Gefahr jeder Staat die Rechtslage selbst, freilich auf eigenes Risiko hin. Wie viele rechtliche Fragen noch völkerrechtlich ungeklärt sind, hat der Kosovo-Krieg gezeigt, der als Verteidigungskrieg gefuhrt wurde: freilich als Verteidigung fundamentaler Menschenrechte, die in einem fremden Staat verletzt wurden, weil dadurch alle Völkerrechtssubjekte verletzt würden und weil dadurch eine Gefährdung des internationalen Friedens eintreten könnte 3 . Doch bleibt für Juristen und für alle rechtlich (d. h. nach Recht) fragenden Wissenschaftler - also auch für (Rechts-) Historiker - das Ergebnis eindeutig: ein Krieg ist nicht nur eine Schlacht (mit all dem Drumherum), sondern immer auch ein rechtlich bewerteter Akt (was nicht ausschließt, daß es gerade diese Frage ist, die zur Gewalt führt). Eine Schlacht ist immer Recht oder Unrecht oder auch möglicherweise beides, wenn ζ. B. bei rechtlichem Grund die dann gezogenen Rechtsgrenzen nicht eingehalten werden. Die Konsequenz ist für den Titel dieses Vortrage wesentlich. „Schlacht" (oder „Krieg" beide Begriffe werden im folgenden in gleichem Sinne verwendet - ) ist ein Völkerrechtsbegriff, d. h. ein Begriff eines völkerrechtlichen Tatbestandes, der zum Kriegsrecht gehört. Damit ist nicht maßgebend, daß eine Schlacht stattfindet, sondern deren rechtliche Bewertung als Recht oder Unrecht. Zugleich sind die Gegner nicht nur Feinde, sondern sind und bleiben stets Völkerrechtssubjekte. Selbst wenn die Aktionen des einen rechtswidrig sind oder werden, bleibt die Geltung des Völkerrechts bestehen: nämlich als der rechtlich geregelte Raum eines „ius in bello". Ein rechtswidriger Krieg bleibt rechtlich geregelt und damit ein Rechtsproblem bzw. -phänomen. Deshalb definiert das Völkerrecht auch den „Krieg", bestimmt dessen Beginn und dessen Ende und gibt gewisse Regeln vor, die selbst ein rechtswidriger Kriegführer nicht brechen darf (z. B. das Verbot von „Kriegsverbrechen" gegenüber Zivilbevölkerung oder Kriegsgefangenen), andernfalls er oder die dafür Verantwortlichen die gesamte Staatengemeinschaft als Rechtsgegner erhalten, die unter Umstän-
2 Vgl. Karl Doehring: Völkerrecht. Heidelberg 1999, Rn. 573. 3
D a z u D o e h r i n g : V ö l k e r r e c h t [ w i e A n m . 2], R n . 6 4 4 .
Schlacht als Rechtsentscheid
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den mit Krieg als Sanktion vorgehen. Also sind auch Kriegsverbrechen rechtliche Tatbestände des Völkerrechts, fallen damit nicht aus dem Völkerrecht hinaus, sondern erfüllen es (nämlich als Tatbestand, der dann zu Sanktionen fuhren darf). Völkerrechtlich ist Krieg/Schlacht somit ein möglicher Rechtsakt, weil bzw. wenn er ein Recht eines Völkerrechtssubjekts (Staates) durchsetzt, oder weil bzw. wenn er gegen Unrecht vorgeht, das in der Verletzung eines solchen Rechts besteht. In letzterem Fall ist Krieg/ Schlacht eine Sanktion gegen Unrecht zur Durchsetzung des verletzten Rechts oder allgemein - zur Wiederherstellung des Rechts im Sinne der Vergeltung. Man spricht in letzterem Fall nicht von „Strafe", weil diese Sanktion nicht durch (weit-) staatliches Gericht festgesetzt und bestimmt ist; doch sind in der oben genannten Kompetenz des Sicherheitsrates Ansätze zu einer solchen Bestrafung durch Krieg/Schlacht - und damit auch zu einem Weltstaat - gelegt. Besser spricht man - um einen Begriff der Rechtsphilosophie Hegels zu verwenden4 - von „rächender Vergeltung", die von den betroffenen Subjekten selbst ausgeht; mit der Folge, daß - so die Darstellung bei Hegel - die rechtliche Vergeltung des Unrechts selbst Unrecht wird, da sie wegen der subjektiven Betroffenheit des Verletzten die Grenzen dieser Vergeltung nicht erkennt oder einhält, womit eine Kettenreaktion einsetzt (die wir von dem Phänomen der „Blutrache" her kennen). Nun ist der Boden bereitet, von dem aus der Titel geklärt werden kann. Ist denn Krieg/Schlacht als Rechtsakt (ζ. B. als Wiederherstellung des Rechts durch eine Sanktion) „Rechtsentscheid"? Die Antwort ist zunächst ein klares Nein. Der vergeltende Krieg ist eine Sanktion als Durchsetzung eines Rechtsentscheides. Dieser besteht in der Feststellung, daß ein Recht zu diesem Krieg besteht: sei es durch den Sicherheitsrat, sei es durch das betroffene Subjekt selbst. Diese Feststellung ist das Urteil oder der Entscheid; und der Krieg gehört zur Vollstreckung dieses Urteils. Oder anders: der Krieg ist das Verfahren der Vollstreckung und setzt damit ein Verfahren der Entscheidung, also ein Verfahren, das zu diesem Entscheid/Urteil fuhrt, voraus. Deshalb haben auch Sieg oder Niederlage keine Bedeutung für die Rechtlichkeit des Entscheids, sondern zeigen nur die Stärke oder Schwäche der Durchsetzungsinstanz. Erleidet diese eine Niederlage, dann bleibt die unrechtliche Lage weiterhin aufrecht (und bietet deshalb immer wieder erneuten Anlaß für einen Krieg). Die Konsequenz ist klar: Krieg/ Schlacht als solche(r) ist nicht mehr rechtserheblich; dies ist allein der Entscheid über die Rechtslage. So war die Völkerrechtslage jedenfalls vor dem Kosovo-Krieg mit der Orientierung an rächender Vergeltung von Unrecht (die eine Nähe zur Strafe und Gericht hat). Durch diesen Krieg aber kommen offensichtlich tiefgreifende Änderungen auf uns zu, die wenigstens in diesem Exkurs angedeutet werden sollen. Ich stütze mich auf einen Essay von Curt Gasteyger5, in dem der Autor das Ende der militärischen Konkretisierung und den „Abschied von Clausewitz" verkündet. Es gehe, so Gasteygerm, nicht mehr um Vergeltung von Unrecht zur Wiederherstellung des Rechts, sondern um humanitäre Intervention unter der Flagge der Menschenrechte. Diese Aktion sei vom (Menschen-) Recht getragen und daher auch stark moralisch gebunden, weshalb es keine Opfer auf Seiten der Gerechten geben dürfe. Der Krieg sei nur mehr Lehrstück für Gegner und Warnung an künftige Parteien, also ein Akt 4 5
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grandlinien der Philosophie des Rechts (1820). Frankfurt 1970, § 103. Vgl. Curt Gasteyger: Europas neue Kriege. In: FAZ 30. 5. 2000.
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Wolfgang Schild
der Prävention (und damit eigentlich: des Polizeirechts). Es sei deshalb auch keine Schlacht mehr erforderlich, sondern nur Zeichen der Macht und Überlegenheit. Dieser „Abschied von Clausewitz" mache aus dem Krieg selbst ein bloßes Zeichen; und nach dem oben Gesagten möchte ich weiterfuhren: eben ein Zeichen als Vollstreckung des Entscheids, der richtig ist, auch wenn der Krieg nicht geführt wird. Als ein solches Zeichen sei der Krieg daher ersetzbar durch irgendein anderes Zeichen, das in der konkreten Situation besser geeignet erscheine (z. B. zur Befriedigung von Nationalismus, zum Aufweis der ethischen Überlegenheit der USA oder für das Medieninteresse). Doch könne der Krieg als Zeichen nur drohen. Für den, der sich nicht ängstigt oder einfach nicht weiterleben kann, bleibe die Gewalt von unten (ein Phänomen, das sehr überzeugend Michael Ignatieff aufgezeigt hat6). Konsequent weitergedacht heißt das Ergebnis: Auch der Rechtsentscheid ist eigentlich nur mehr ein Zeichen, weil er nicht notwendig materiell vollstreckt werden muß. Er ist Zeichen der Rechtlichkeit; oder allgemeiner: auch das Recht selbst ist nur mehr Zeichen. Zurück zur bereits formulierten These, daß Krieg/Schlacht kein Rechtsentscheid ist. Der Titel ist daher gemessen am heutigen Völkerrecht - was vielleicht schon einige Leserinnen vermutet haben! - unsinnig. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn an Situationen gedacht würde, für die das heutige Völkerrecht nicht oder noch nicht gelten bzw. gegolten haben würde. Und da meine ich, daß es drei solcher möglicher Situationen gibt, die ich im folgenden unter II. darstellen, entfalten und dann unter III. auf bestimmte geschichtliche Ereignisse beziehen möchte. Die methodenbewußten Leserinnen werden selbstverständlich sofort erkannt haben, daß ich damit spekulative Ausführungen vorlegen möchte, die wissenschaftstheoretisch den dort aufgestellten Kriterien für sinnvolles Sprechen nicht genügen. Ich gestehe daher sogleich, daß ich diese drei Formen/Gestalten von Krieg/Schlacht als Rechtsentscheid nicht induktiv aus dem Material der vergangenen Geschichte(n) entwickelt habe, sondern daß zunächst das Überdenken dieses Begriffs, der als Titel meines Vortrags vorgegeben war - „Schlacht als Rechtsentscheid" - , kam und stand: hin auf seine reale (und d. h. auch historische) Möglichkeit und damit auf seine Voraussetzungen (wobei es selbstverständlich ist, daß sich das Denken am historischen Material entzündet, in meinem Fall an Forschungen über das Phänomen der Gottesurteile im gerichtlichen Verfahren). Aus diesem Über- und Weiterdenken des Begriffs ergaben sich die drei möglichen Formen, über die ich unter II. berichten möchte; mehr habe ich nicht gefunden. Ein Blick auf die vergangene Geschichte läßt dann - so meine ich unter III. - auch reale historische Ereignisse erkennen, in denen sich diese drei Formen des Begriffs annähernd verwirklicht haben, weshalb es möglich ist, diese geschichtlichen Phänomene als Verwirklichung dieses Begriffs - und d. h.: als Gestalten einer Schlacht als eines Rechtsentscheids - zu verstehen. Noch mehr: ich meine sogar, daß diese drei Gestalten in einer Entwicklungslinie stehen: nämlich hin zu der heutigen Realität, in der es Schlacht/ Krieg als Rechtsentscheid nicht mehr gibt7.
6 Vgl. Michael Ignatieff: Die Zivilisierung des Krieges. Hamburg 2000. 7 Methodisch ähnlich (und in der Sache mit einigen Verbindungen) auch Wolfgang Schild: Formen von Disziplinierung und (Straf-)Rechtsverständnis: In: Disziplinierung im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Gerhard Jaritz. Wien 1999, S. 9-25.
Schlacht als Rechtsentscheid
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II. Die drei Möglichkeiten von Schlacht als Rechtsentscheid Der Ansatz darf nochmals wiederholt werden. Eine Schlacht könnte nur dann Rechtsentscheid sein, wenn sie nicht - wie im heutigen Völkerrecht - als Sanktion (Durchsetzung eines Urteils als des Entscheids) gefuhrt wird. Diesbezüglich lassen sich (zumindest) drei unterschiedliche Formen denkend („logisch", begrifflich) herausarbeiten, die sich auch geschichtlich in mehr oder minder reiner Gestalt verwirklicht haben (worüber dann III. erzählen wird). Die Schlacht kann in ihrem Ausgang - also Sieg oder Niederlage - Recht begründen, was für den Unterlegenen Nichtrecht bedeutet (so 1.); der Sieg kann (so 2.) das Recht des Siegers offenbar (sichtbar) machen, was für den Unterlegenen den Aufweis seines Unrechts bedeutet; der Sieg kann (so 3.) das Recht des Siegers als Nichtrecht bestimmen oder dessen Nichtrecht als Recht setzen, weil dieser eben als Sieger den Unterlegenen zur Annahme dieses Nichtrechtes als Recht nötigt.
1.
Sieg als Begründung des Rechts
Die Schlacht könnte also einen andren rechtlichen Status als im heutigen Völkerrecht - erstens - dann bekommen, wenn sie selbst der Rechtsentscheid wäre, also das Urteil, mit dem Recht und sein Gegenteil - das Nichtrecht8 - den kämpfenden Parteien (Gegnern) zugeteilt würde, das damit die Positionen der Gegner rechtlich klären und somit das Rechtsverhältnis der Kämpfenden bestimmen würde. a) Vorausgesetzt ist dieser Möglichkeit, daß es kein vorheriges Urteil (und rechtliches Verfahren) gibt, sondern daß der Ausgang der Schlacht selbst dieses Urteil und rechtliche Verfahren ist. Noch mehr: Es gibt auch kein nachfolgendes rechtliches Verfahren einer Urteilsvollstreckung. Genauer ist die Schlacht das rechtliche Verfahren überhaupt und als solches, weil sie das Urteil findet und setzt (und zugleich vollstreckt). Wiederum genauer ist daher nicht die Schlacht der Rechtsentscheid, sondern ihr Ausgang: Sieg und Niederlage teilen Recht bzw. Nichtrecht zu, klären die Positionen der Gegner und bestimmen das Rechtsverhältnis zwischen ihnen, zunächst meist als Lebende und Tote oder Berechtigte und Rechtlose (Herren und Knechte). Sieg und Niederlage sind das Ur-Teil der Rechtsdimension (des Rechtszustandes), seine Teilung in Recht und Nichtrecht, seine Aufteilung in Berechtigte und Nichtberechtigte. Weil das Ergebnis der Schlacht dieser Rechtsentscheid wirklich ist d. h. auch vollstreckt ist - , klärt sie bzw. ihr Ausgang auch den Streit und begründet den Friedenszustand als Rechtsverhältnis. Weil dies so ist, können sich auch Regeln eines „ius in bello" ausbilden, indem z. B. statt der Tötung der Besiegten deren Versklavung oder deren Freilassen gegen Entgelt ausgehandelt werden. Freilich gilt dieses Rechtsverhältnis nur, solange sein Grund noch besteht und weiterwirkt: die Stärke des Siegers und die Schwäche des Besiegten. Eigentlicher Grund des Rechtsverhältnisses ist nämlich nur das Recht des Stärkeren; und zwar in der Bedeutung,
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Das Gegenteil ist in dieser Dimension (noch) nicht das Unrecht: denn dies setzt eine Recht und Unrecht verbindende (und daher so rechtlich unterscheidende) Rechtsordnung voraus, die hier noch nicht gegeben ist, wie sich im folgenden zeigen wird.
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Wolfgang Schild
daß der Stärkere der Berechtigte, der im Recht Bessere ist, weshalb der Schwächere ihm gegenüber nicht berechtigt, weil im Recht der Schlechtere ist. Der Herr ist im Recht, der Knecht im Nichtrecht, zumindest in einem minderen Recht. Wird der Herr aber schwach und der Knecht stark, so wird es zu einer neuen Schlacht kommen, die neuer Rechtsentscheid sein wird, weil sie bzw. der Sieg in ihr dem dann Stärkeren die Position des Berechtigten verleiht. b) Es ist zugleich vorausgesetzt, daß es keine allgemeine Rechtsordnung gibt, die Bestand hat, andauert, Sicherheit und Friedenszustand gibt, also „status" (Staat) ist. Recht ist nur Rechtsverhältnis als ein dynamisches Kräfteverhältnis, wie es sich in Sieg und Niederlage bestimmt. Es geht um fortwährende (potentielle) Auseinandersetzung um den konkreten Stellenwert innerhalb der Ordnung, die selbst nur konkrete, sich dynamisch verändernde Ordnung ist. Die Schlacht mit ihrem Ausgang ist die Konkretisierung dieser Ordnung. „Recht" ist die bestimmte Rechtsposition9 innerhalb dieser Kräfteordnung, selbst abhängig von der Kraft, die dazu gehört, diese Position zu gewinnen und zu behalten. Trotzdem ist der Gedanke einer Ordnung vorgegeben, die aber als dynamische vorgestellt wird: Dynamik braucht jedoch - um überhaupt möglich zu sein - einen festen (statischen) Bezugspunkt, der fur die Bewegung sorgt, und dies ist der Grundsatz des Rechts der Stärke. Wer stärker ist und daher in der Schlacht siegt, ist der Bessere und daher der in der besseren rechtlichen Position, also in der Position des Berechtigten (gegenüber dem Unterlegenen). Vorgegeben sind auch die Rechtspositionen, die besetzt werden müssen, eben durch das Ergebnis der Schlacht, die ein Kampf um das Recht ist. Insofern kann man durchaus von einer „Verfassung" sprechen, die eine Ordnung der einzelnen Rechtspositionen darstellt, auch als Über- und Unterordnung, vielleicht sogar bereits mit einem Zentrum einer obersten Position, einer „Verfassung", die zugleich die Prinzipien angibt, die für die Zuteilung dieser Rechtspositionen an die Subjekte maßgebend sind: hier das Recht der Stärke und das Nichtrecht der Schwäche. Je höher die Rechtsstellung ist, desto mehr Siege in Schlachten muß ein Subjekt erringen; will es die zentrale Position - wenn vorhanden - , dann muß es alle anderen besiegt haben und fortwährend besiegen können. c) Diese Verfassung der einzelnen Rechtspositionen ist insofern formal, als die konkrete Besetzung der jeweiligen Rechtspositionen (und damit die einzelnen Rechtsverhältnisse) nicht bestimmt wird, sondern den Subjekten und ihren Schlachten überlassen bleibt. Man kann auch sagen: die Verfassung stellt nur das Verfahren dar und zur Verfügung, mit dem diese Positionen besetzt werden können, nämlich mit dem Recht der Stärke. Die Stärkeren sind die Besseren, haben mehr Recht als die Schwächeren. Offensichtlich wird hier das Recht leiblich vorgestellt10: als die Kraft zum Leben und Überleben, den Feind (und damit: den Anderen) zu bezwingen und zu verknechten. Es ist 9
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Man kann nicht sagen: das subjektive Recht (als Anspruch), weil dies ebenfalls eine geltende Rechtsordnung - die solche Ansprüche formuliert und auch die rechtliche Verpflichtung des Anderen - voraussetzt. Besser wäre es, nicht von einer Normenordnung auszugehen, sondern von der „konkreten Ordnung" (wie es Carl Schmitt [Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Hamburg 1934] unterschieden hat). Dazu vgl. Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadtl997, S. 235ff.; Burkhardt Krause / Ulrich Schenk (Hg.): Verleiblichungen. St. Ingbert 1996; Wolfgang Schild: Der gequälte und entehrte Leib. Spekulative V o r b e m e r k u n g e n zu einer noch zu schreibenden Geschichte des
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die Kraft des Helden, der den Gegner besiegt und so sich die bessere Rechtsposition erringt; es ist aber auch die Gebärkraft der Frauen, die solche Helden hervorbringt. Es ist wahrscheinlich auch eine Rechtsvorstellung, die als Rechtssubjekt nicht ein Individuum, sondern eine Gemeinschaft von Kämpfern (und Müttern) annimmt und anerkennt. Auch die Verfassungsordnung kann als leiblich, d. h. als Organismus, vorgestellt werden, als Leib (corpus)" dessen Glieder und „Leibesinseln"12 die einzelnen Rechtspositionen sind bzw. - wenn ein Zentrum vorhanden ist - dessen Zentrum das Herz (oder der Kopf) ist. Nur die Sieger und damit die Starken sind befähigt, diesen Leib zu bilden; die Schwachen scheiden notwendig aus. d) Bestimmend ist das Recht der Stärke, und zwar der jeweils in Frage stehenden und gestellten Stärke. Nur solange der Besetzer der höheren Rechtsposition die dazu notwendige höhere Kraft aufbringt, kann er diese Position behalten und weiterhin einnehmen. Potentiell muß er immer auf der Hut sein vor einem kommenden Stärkeren, muß daher stets versuchen, das Aufkommen einer solchen Kraft vorsorglich zu verhindern oder zumindest durch Drohung die Aktualisierung einer solchen Kraft zu vermeiden. Erforderlich ist auch die nach außen überzeugende Darstellung der eigenen Kraft durch den imponierenden Eindruck der Helden, den Reichtum an Waffen, durch die kampfbereiten Männer (Gefolgsleute) und Kinder (als den kommenden Waffenträgern), auch durch die jungen Frauen, deren Verheiratung Verbündete gewinnen kann, ebenso durch die Unüberwindlichkeit der Behausung (Burg), schließlich auch durch die Macht der Toten. Zunehmend wird auch die geistige Kraft der den Ruhm der Ahnen und des eigenen Geschlechts besingenden Barden oder der Denker, die Geschichten erzählen können von früheren Schlachten, wichtig, um die gegenwärtigen Rechtspositionen zu (er)klären und als zwar gewordene, aber nun geltende und hinzunehmende zu verstehen. Die natürliche Kraft der Helden wird so abgelöst durch die soziale Macht des Rechtssubjektes, durch die Position, die alle anderen anerkennen und (deshalb) nicht streitig machen, auch wenn sie es mit natürlicher Kraft versuchen könnten. Die Rechtsposition wird zu einer sozial anerkannten Rechtsstellung, die ihre Herkunft aus der Schlacht (und der natürlichen Kraft) verdrängt (hat) zugunsten des augenblicklichen sozialen Reichtums, des gesell-
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Strafrechts. In: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Hg. von Klaus Schreiner / Norbert Schnitzler. München 1992, S. 149-168; ders.: Verwissenschaftlichung als Entleiblichung des Rechtsverständnisses. In: Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. FS f. Winfried Trusen. Paderborn 1994, S. 247-260; ders.: Formen der Visualisierung des Rechts. In: Paradigmen. Facetten einer Begriffskarriere. Hg. von Michael W. Fischer / Paul Hoyningen-Huene. Frankfurt 1997, S. 221-263; ders., Verstümmelung des menschlichen Körpers. In: Erfindung des Menschen. Hg. von Richard van Dülmen. Wien 1998, S. 261-281; ders.: Gedanken zur Vereinbarkeit von Text und Bild in mittelalterlichen Rechtsquellen: In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 11 (1999), S. 85-112. Zu dieser Vorstellung grundlegend Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs (1957). München 1990; vgl. dazu auch meine Besprechung im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 1996, S. 197199. Zu diesem Begriff vgl. die Schriften des „Leibphilosophen" Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bonn 1964ff.; zum Begriff des Leibes vgl. auch Wolfgang Schild: Die chinesische Lehre von Qigong Yangsheng als Thema westeuropäischer Philosophie (am Beispiel G.W.F. Hegels): In: Das Qui kultivieren - Die Lebenskraft nähren. Hg. von Gisela Hildebrand / Manfred Geißler / Stephan Stein. Uelzen 1998, S. 77-96.
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schaftlichen Renommees, der „Ehre" als sozialer Würde. Das Verhältnis zur Kraft hat sich verändert, sich geradezu umgekehrt: die augenblickliche Rechtsstellung wird mit der sozialen Machtstellung gleichgesetzt und daher fundamendiert. Sie wird zu einer Stellung, die anzugreifen Unrecht ist, Bruch des Rechtsverhältnisses zwischen Angreifer und Angegriffenem, ja Bruch der gesamten Ordnung von sozialer Macht, zu der die ehemalige Verfassung der Stärke geworden ist. Neben Recht und Nichtrecht - als Urteil des Sieges bzw. der Niederlage in der Schlacht - sind nun einerseits das Unrecht, das in dem Bestreiten der geltenden Rechtsverhältnisse besteht, und andererseits die rechtliche Verpflichtung getreten, die Rechtspositionen der anderen zu achten. Wenn der Angreifer durch seine natürliche Kraft seinen Angriff erfolgreich mit dem Sieg in der Schlacht durchsetzen kann, stellt sich ein grundsätzliches Problem: Kann dieses Unrecht denn nun Recht begründen, ein neues geltendes Rechtsverhältnis oder gar eine neue geltende Ordnung herstellen, die die soziale Macht verteilt und eben nicht mehr auf der natürlichen Kraft beruht?
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Sieg/ Niederlage als Offenbarung von Recht/ Unrecht
Die Antwort auf diese Frage kann nur verneinend ausfallen: ein Rekurs auf natürliche Kraft kann nicht mehr legitimieren, wenn Recht als eine Verteilung der sozialen Macht begriffen worden ist. Die genannte Umkehrung der rechtlichen Bedeutung von Kraft und Ansehen, des Verhältnisses von Sieg und Berechtigung muß allgemein werden: nicht mehr ist der Sieg der Grund/ die Begründung des Rechts gegen das Nichtrecht, sondern der Sieg ist Ausdruck der bestehenden Berechtigung des Siegers, der deshalb die Schlacht fur sich entscheiden konnte, weil er im Recht war. Der Unterlegene hat verloren, weil er im Unrecht war, d. h. in dem Fall, daß er die geltende Ordnung angegriffen hat, daß dieser Angriff Unrecht dargestellt hat und deshalb zu recht zurückgeschlagen wurde. a) Deutlich wird damit, daß der Sieger bereits vor der Schlacht im Recht war, die Rechtsposition zu recht besetzte. Aber noch immer muß sich in der Schlacht diese Position - als soziale Machtstellung - durchsetzen, die Schlacht gewonnen werden. Es muß die Schlacht geschlagen werden. Ohne sie bzw. ihren Ausgang kann nicht gesagt werden, ob der bisherige Inhaber der Rechtsposition diese zu recht besitzt oder nicht. Es fehlt das Verfahren, mit dem dieses Ergebnis urteilsmäßig festgestellt werden könnte. Oder anders: Das einzige Verfahren, das ein solches Urteil erbringen könnte, ist die Schlacht mit der Ur-Teilung nun von Recht und Unrecht. Der Unrechte verliert, der Rechte siegt. Gewinnt also das Rechtssubjekt, das die Position besitzt, so erweist es damit die Rechtlichkeit (Richtigkeit) des Rechtsverhältnisses: zu recht besitzt es diese Position. Verliert es dagegen in der Schlacht, so erweist sich der frühere Besitz dieser Rechtsposition als Unrecht, das nun dem (neuen) Recht des Siegers weichen muß, nicht weil dieser die größere Kraft hat, sondern weil dieser zu recht die nun eroberte Rechtsposition einnehmen soll. Dieses Recht hatte er aber schon vor der Schlacht, noch mehr: weil er dieses Recht schon vorher hatte, hat er auch die Schlacht gegen das Unrecht gewonnen. Der Rechte hat auch die Kraft, sich durchzusetzen gegen das Unrechte.
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b) Offensichtlich gibt es somit ein Recht, das vor der Schlacht feststeht, aber noch nicht geklärt ist, sondern das die Schlacht braucht, um wirklich zu werden13 als Bestätigung des alten oder als Einsetzung des neuen Rechtsverhältnisses. Dieses ursprüngliche Recht ist das eigentliche, richtige, geltende Rechtsverhältnis zwischen den beiden Gegnern, das die Schlacht lenkt und zu dem richtigen Ergebnis fuhrt: zu dem Urteil von Recht und Unrecht. Durch das Ergebnis der Schlacht wird dieses ursprüngliche Rechtsverhältnis wirklich, setzt sich in der Welt als reales Phänomen durch, was zugleich bedeutet, daß es als solches nicht Realität ist, nicht in der Welt phänomenal-leiblich wahrgenommen werden kann. Es ist Gedanke, Theorie, Argumentation mit Gründen, die Recht und Unrecht im Denken scheiden; es ist ein geistiges Urteilen und damit argumentatives Zuteilen von Recht und Unrecht. Anders gesagt: Dieses ursprüngliche Recht ist eine Idee, ein bloß ideelles Rechtsverhältnis, das zunächst gedacht und geistig-argumentativ begründet ist (und werden kann bzw. muß), das sich dann aber durch die Schlacht in der Welt verwirklichen kann und muß. Genauer: das sich nur durch die Schlacht verwirklicht. Als Idee (und bloßer Gedanke) ist es unwirklich, irreal, nur eine theoretische Behauptung, die als solche gedacht und begründet werden, aber nicht wirkliches Recht darstellen kann. Erst durch die Verwirklichung im Sieg in der realen Schlacht gewinnt die Idee Leben und Wirklichkeit, wird das gedachte und argumentativ begründete Rechtsverhältnis wirkliches Recht zwischen den Subjekten. Umgekehrt ist nun die reale Schlacht mit ihrem Ergebnis von Sieg und Niederlage als solche unerheblich, ein bloßes empirisches Geschehen eines Seins. Nur in dem Bezug zu dem ideellen Rechtsverhältnis erhält die Schlacht die Bedeutung als Verwirklichung und damit als Rechtsakt, nämlich erneut als Rechtsentscheid, der aber nicht mehr in dem Sieg als der Wirkung der größeren Kraft den Grund für die bessere Rechtsposition sieht, also diese Position durch den Sieg begründet, sondern der den Sieg als Verwirklichung der ideellen Rechtsposition ansieht. Rechtsentscheid ist der Sieg, weil in ihm die Idee wirklich, das Recht offenbar wird. Der Sieg in der Schlacht ist die Offenbarung, das Offenbarwerden, des Rechts über das Unrecht, das unterliegt, weil es das Unrecht ist (und daher nicht von der Idee des Rechts umfaßt ist14). c) Deutlich ist, daß das ursprüngliche Recht als solches nur eine Idee ist, nur gedacht und argumentativ begründet wird, daß es aber in der Dimension des Ideellen bleibt und bleiben muß, wenn es nicht durch die Schlacht als reales Phänomen in der Welt verwirklicht wird. Ideelles und Materielles stehen sich damit als zwei getrennte Dimensionen (oder Welten) gegenüber, genauer: die ideelle Dimension steht über der materiellen, weil sie diese lenken und führen kann, weil sie dieser die gesollte (und damit: richtige) Richtung angeben kann. Ohne diese Führung ist die materielle Dimension richtungslos, ein bloß gegebenes Sein, das in sich keinerlei Sollen aufweist und aufweisen kann. Doch ist es andererseits dem Ideellen überlegen darin, daß es dieses Materielle in der Welt und als diese empirisch wahrnehmbare Welt gibt, daß nur Materielles wirklich sein kann, daß deshalb das Ideelle die Kraft des Materiellen braucht, um wirklich zu werden.
13 14
Oder anders: dieses (vorherige) Recht ist nur das mögliche Recht als Inhalt einer vorausgesetzten Ordnung. Dennoch ist es erfaßt von der vorausgesetzten Idee der allgemeinen Ordnung, in die auch das Unrecht das deshalb nicht Nichtrecht ist - hineingehört.
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Man kann auch sagen: das Recht ist nun ein seelisch-geistiges, jedenfalls immaterielles Phänomen geworden. Eigentlich heißt das: Es ist kein Phänomen mehr, sondern nur mehr ein Gedanke (Idee), der aber die geistige Kraft hat, die leibliche Kraft des Materiellen - die Hände, die in der Schlacht das Schwert fuhren und den Gegner vernichten - zu fuhren und dazu zu bringen, materielle Verhältnisse herzustellen, die zugleich die Verwirklichung des Ideellen sind. Der Geist (als die Seele) ist der Herr, der Leib ist der Knecht15, den der Herr aber braucht, um überhaupt wirklich zu werden, um leben, lebendig sein zu können. Und umgekehrt ist der Leib als solcher nichts, nur ein Materielles, das sein oder nicht sein kann, das rechtlich oder unrechtlich sein kann, gesollt oder nicht gesollt. Die eigene Wirklichkeit als Leib, der auch wirklich sein soll, gewinnt das Materielle nur durch die Unterwerfung unter den Geist. Nur wenn es das gedachte Recht verwirklicht, ist das Materielle wirkliches Sein, eine Realität, die auch wirken kann und soll, weil es das Ideelle zur materiellen Existenz als Sein bringt. Verfehlt es das gedachte Recht, stellt es sich als Realität dar, die keine Wirklichkeit beanspruchen kann und daher in der Schlacht vernichtet werden wird. Das Unrecht ist somit ein materielles Geschehen, das Realität darstellt, aber nicht als Recht gedacht werden kann. Es ist damit kein Ideelles, kann das Materielle nicht lenken und führen, kann sich nicht verwirklichen, sondern muß in der Schlacht am Wirklichwerden des rechtlichen Materiellen zerbrechen und vernichtet werden. Die Schlacht ist das Offenbarmachen von Recht und Unrecht: im Sieg wird das Ideelle das gedachte Recht - Wirklichkeit; in der Niederlage wird das nur Materielle als unwirklich offenbar, das nur den Anspruch auf Rechtlichkeit erheben kann, ohne daß dieser im Ideellen begründet wäre, weshalb es vor der Wirklichkeit des sich offenbarenden Rechtes vergeht und vernichtet wird (zu Nichts wird). d) Ideelles und Materielles sind deshalb keine getrennten, neben- oder über/untereinander stehenden Dimensionen, sondern stellen eigentlich ein Verhältnis von Idee und Realität dar. Die Idee braucht das Materielle, um sich verwirklichen zu können in der Welt; und umgekehrt braucht das Materielle die Idee, um nicht nur vernichtbare Realität, sondern Wirklichkeit zu sein. Als Verhältnis sind beide eine Einheit, aber nur in der Unterschiedenheit und jeweiligen Aufeinander-Bezogenheit. Es besteht eine Spannung zwischen ihnen, die in einer Wirklichkeit aufgehoben ist, die die materielle Verwirklichung des Ideellen ist. Oder anders: die Schlacht ist notwendig, um diese Spannung aufzuheben und diese Einheit zu verwirklichen. Es kämpfen daher nicht eigentlich zwei kräftige Subjekte miteinander, sondern es kämpft die Idee für ihre Verwirklichung durch Besiegung (d. h. Lenkung) des nur Materiellen. Genauer: Es kann die Idee als solche nicht kämpfen. Deshalb kämpft das Materielle, das von ihr erfüllt und gelenkt wird - also ein Ideell-Materielles - , gegen das NurMaterielle, das von keiner Idee erfüllt ist und daher unterliegt. Fraglich bleibt somit allerdings, wie es das Ideelle schafft, sich in Materielles zu ergießen, dieses mit seiner Kraft zu erfüllen und dadurch zu lenken. Offensichtlich muß dieses Materielle sich öffnen für dieses Einfließen (diesen Einfluß), muß also diese Rechtsidee denken und sich dann von dem eigenen Gedanken führen und leiten lassen. Es muß eine Einheit von Rechtsidee und dem Gedanken des Rechts - den der materielle Kämpfer denkt - bestehen; oder anders: es muß der richtige Gedanke des Rechts sein, der den Kämp15
Hier wäre viel zu den Theorien über das Verhältnis von Kirche und weltlicher Macht zu sagen.
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fer erfüllt, damit er siegen kann; es muß wirklich die Rechtsidee sein, die er denkt und die ihn dann erfüllt. Oder noch anders: er muß sein eigenes Denken aufgeben und sich ganz der Rechtsidee demütig hingeben und sich vollständig auf- und ihr hingeben. Die Rechtsidee ist der Herr, der von ihr erfüllte materielle Kämpfer ihr Knecht, dessen Kraft aber ihre die Wirklichkeit zu gestalten fähige Kraft ist. Daher ist der Sieger auch nicht stolz auf seine Kraft, die ihm den Sieg gebracht hat (wie es im System des Rechts der Stärke war), sondern er nimmt den Sieg demütig hin und dankt der ihn zum Sieg geführt habenden ideellen Kraft. Die Spannung hat sich aber damit nur verschoben, nämlich in dieses Verhältnis von Rechtsidee und Gedanken des Rechts im Kämpfer. Es müßte die Einheit bestehen, d. h. der Gedanke des Rechts müßte die Rechtsidee erfassen, der Gedanke müßte Idee sein, daher „wahr" oder „richtig" sein. Sofern sich der Kämpfer vollständig auf- und sich der Idee hingibt, mag dies gelingen, weil er als Werkzeug der fremden Idee kämpft und siegt. Doch die Spannung muß aufbrechen, wenn der Denkende sich der Kraft seines eigenen Denkens bewußt wird, was immer auch bedeutet: die Möglichkeit eines Irrtums erkennt. Kann er denn dann wirklich sicher sein, die Rechtsidee zu denken, weshalb er für das richtige Ziel kämpft - die Verwirklichung der Rechtsidee - , was zugleich bedeutet, daß sein Gegner für ein falsches Ziel eintritt, weil er die Rechtsidee nicht erfaßt hat? Kann es nicht sein, daß beide Kämpfer davon überzeugt sind, das wirkliche, richtige, wahre Recht zu denken und daher zu siegen? Und was muß die Niederlage für den bedeuten, der in dem Vertrauen auf die Richtigkeit seines Rechtsdenkens in die Schlacht gezogen ist, was für den Sieger, wenn dieser überzeugt ist, daß auch der unterlegene Gegner wirklich rechtlich gedacht hat? Wir sehen, daß sich hier bereits die dritte Form einer Schlacht als Rechtsentscheid in Sicht bringt. Doch soll zunächst noch die zweite Form weiter entfaltet werden. e) Die Vernichtung des Unrechts bedeutet zunächst nicht nur die Niederlage in der Schlacht, sondern auch den Tod: das Recht lebt und wird lebendig, das Unrecht stirbt und wird das Tote, das es als bloß Materielles immer schon war. Das Wirklichwerden des Rechtes ist zugleich das Unwirklichwerden des Unrechts. Doch bedeutet „Wirklichwerden" nicht, daß es das Recht vor diesem Zustand nicht gegeben hätte. Ganz im Gegenteil war es Gedanke, argumentativ begründende Theorie, Idee eines richtigen (gesollten) Rechtsverhältnisses. Und als solches war es dem Materiellen übergeordnet, weshalb es dieses auch lenken konnte. Eigentlich und besser formuliert müßte es heißen: Das bereits gedachte (und als Gedanke existierende) Recht offenbart sich in dem Ergebnis der Schlacht, wird damit sinnlich wahrnehmbare Realität und ein Phänomen in der Welt. Es wird von den lebenden Menschen als den Rechtssubjekten auch als wirkliches Recht anerkannt, aber nicht, weil es Phänomen des Materiellen wäre, sondern weil sie dieses Phänomen als Verwirklichung des Rechtes verstehen, was wiederum voraussetzt, daß sie es als Verwirklichung des gedachten und theoretisch nachvollzogenen Rechts (der Rechtsidee) begreifen. Auch für die Menschen als Rechtssubjekte hat sich also das Verhältnis von natürlicher Kraft (im Sieg in der Schlacht) und Rechtsstellung umgekehrt. Sie sehen in dem Sieg die Verwirklichung des Rechts, weil sie dieses zuvor gedacht haben. Nicht wird das Recht als solches offenbar. Dieses wird ohnehin gedacht und ideell entwickelt in die einzelnen Positionen, die dann zusammengedacht werden zu der Ordnung, die oben als „Verfassung" beschrieben wurden. Das Recht wird gedacht; und dabei bleibt es im Grunde auch nach dem Ergebnis der Schlacht. Sieg oder Niederlage offenbaren damit nicht das Recht, sondern zei-
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gen, wem das gedachte und ideell entwickelte Recht nun im Materiellen der Welt und der Gesellschaft wirklich zukommen. Was Recht und Unrecht sind, kann nicht im Materiellen als solchem wahrgenommen werden; es muß zunächst gedacht und begrifflich entwickelt werden. Doch wer nun im Fall des sozialen Zusammenlebens in der Realität der Welt in diesem Recht und wer in diesem Unrecht ist, kann durch Denken alleine nicht entschieden werden. Dazu bedarf es der Schlacht als des Rechtsentscheides, als des Urteils, das das gedachte Recht (die Rechtsidee) selbst spricht als Verwirklichung in Sieg und Niederlage. Die Schlacht ist die Zuteilung des gedachten und argumentativ begründeten Rechts an die materielle Welt, an die empirischen Menschen als die Rechtssubjekte. Die Schlacht entscheidet nicht zwischen Recht und Unrecht - wie im bzw. als Recht der Stärke - , sondern macht die gedachte Zuteilung (im Urteil des Denkens und Argumentierens der Rechtsgründe) zu einer phänomenalen in der Realität der Welt, verwirklicht also das ideelle Urteil, macht es zu einem wirklichen Urteil, zu einem wirklichen Rechtsentscheid. Die Schlacht ist aber (noch) nicht die bloße Vollstreckung eines Rechtsentscheides, denn dieser ist noch nicht wirklich, ist bloß ideeller Gedanke, nur Idee, die noch keine Realität hat. Sie verwirklicht daher diesen ideellen Rechtsentscheid in der Welt, weshalb sie der wirkliche Rechtsentscheid ist. Doch muß diese Verwirklichung nicht in einem Kampf bis auf Leben und Tod geschehen. Das Recht - der ideelle Rechtsentscheid - kann auch offenbar werden in einem anderen Phänomen. Es muß nur wirkliches Recht werden und von den anderen in dieser Existenz anerkannt werden. So reicht es z. B. aus, wenn einer der Gegner vom Schlachtfeld flieht; oder wenn der König als Repräsentant der einen Partei den Tod findet oder vielleicht nur vom Pferd stürzt; oder wenn es gelingt, das feindliche Banner zu rauben usw. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die gesamte Bandbreite des Materiellen, das als Offenbarung der Rechtsidee angesehen werden kann, also als Zeichen des Rechtlichen bzw. des Richtigen und Wirklichen (und damit zugleich auch: als Zeichen des Unrechtlichen als des Falschen und Unwirklichen). Es bedarf daher nicht einmal des Beginns der Schlacht: es reichen irgendwelche Ereignisse aus, die von den Beteiligten als ein solches Zeichen der Offenbarung angesehen werden. Voraussetzung ist nur, daß sie alle an dieses Verhältnis von Idee und Materie, von ideeller Rechtsidee und materieller Realität glauben, und daß sie in der Dimension des Denkens dieselben Inhalte der Rechtsidee entwicklen. Oder anders gesagt: Vorausgesetzt ist, daß die Beteiligten denselben Rechtsbegriff haben, dieselben Rechtsinhalte, Rechtspositionen usw. denken, daß sie aber nur nicht wissen, wem in der materiellen Welt des sollensgetrennten, vom Sollen verlassenen Seins diese Inhalte zukommen sollen, wie das ideelle Rechtsverhältnis soziales Zusammenleben sein soll. Auf die Durchführung, ja sogar auf den Beginn einer Schlacht kann verzichtet werden. Es reichen stellvertretende Zweikämpfe aus16, aber auch agonale Spiele (Turniere, Schach, Kartenspiel, Würfeln). Warum sollte nicht der Kampf der Argumente um die Rechtspositionen genügen, wenn er auch auf diese Frage der Verwirklichung in der empirischphänomenalen Welt ausgedehnt wird? Dann müßte der friedliche, d. h. keinen Schlachtcharakter aufweisende Kampf argumentativ nicht nur die Rechtsgründe klären, sondern auch die empirische Frage, wem die gedachten und argumentativ begründeten Positionen nun in der Realität zukommen sollen. Beides müßte in einem Rechtsentscheid zusammenkommen:
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Dazu vgl. Walter Goez: Über Fürstenzweikämpfe im Spätmittelalter. In: AKG 49 (1967), S. 135-163.
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die Feststellung, wer wegen der besseren Rechtsgründe den Sieg davongetragen hat, ebenso wie die Feststellung, wer die besseren Gründe für die empirische Zuteilung der rechtlich begründeten Position(en) hat. Da für die letztere Feststellung die Schlacht ebenfalls ausscheidet, müssen auch dafür Rechtsgründe herangezogen werden, die in der ideellen Sphäre gedacht werden. Das Recht zieht die Frage seiner Verwirklichung - also nach der Wirklichkeit des Rechts - an sich, macht es zum Thema des Denkens und argumentativen Begründens. Oder anders: Das Recht wird nun immer schon als wirklich oder verwirklicht, als rechtliche Ordnung des wirklichen sozialen Zusammenlebens gedacht (und vorausgesetzt). Nur wenn ein Rechtsverhältnis streitig wird, muß in einem Rechtsentscheid geklärt werden17, wer von den beiden Parteien nun wirklich im Recht ist oder im Unrecht. Dieser Rechtsentscheid bleibt in der Dimension des Ideellen, des Denkens und Argumentierens, berücksichtigt also auch empirische Argumente - Beweise, die aber nicht selbst Empirie sind oder einbringen, sondern zu Argumenten für richtige Realitätswahrnehmung umgewandelt werden und fällt dann durch Abwägung aller Argumente pro und contra das Urteil, das nun das wirkliche Rechtsverhältnis erkennt (und denkt zugleich als rechtlich gesolltes, weshalb dieses Urteil auch vollstreckt werden kann und muß, sofern es nicht von den Parteien anerkannt und befolgt wird). f) Damit ist das Ende der Schlacht als eines Rechtsentscheides gekommen. Recht wird nun entschieden aufgrund eines geistigen Verfahrens, in dem Argumente für und wider die einzelne Rechtsbehauptung - die sich auf das wirkliche Rechtsverhältnis bezieht - gedacht und abgewogen werden. Diese Argumente betreffen nicht nur die gedachten Rechtsgründe, sondern auch deren immer schon Gegebensein in einem gelebten Rechtsverhältnis. Das gedachte und argumentativ begründete Recht ist immer schon als wirklich vorausgesetzt in dem sozialen Zusammleben, sofern dieses halbwegs geordnet ist (was im Fall eines Bürgerkrieges ζ. B. nicht mehr der Fall ist). Das wirkliche Zusammenleben der Menschen wird immer schon als rechtlich geordnet, als Rechtsverhältnis gedacht und begriffen. Die Realität ist immer schon eine rechtlich geformte, immer schon die Einheit von Sein und Sollen, weshalb es nur darum gehen kann, im Streitfall die einzelnen Rechtspositionen argumentativ herauszuarbeiten. Vorbei ist die leibliche Rechtsvorstellung oder die Vorstellung eines Verhältnisses von rechtlicher Seele (als Idee) und rechtlosem Leib (als Materiellem). Das Recht hat sich als ein geistiges Phänomen, als Begriff, herausgestellt. Man kann auch sagen (wenn man die Logik Hegels bemühen will): nun geht es um einen Rechts begriff, also um das sozial geordnete Leben der Menschen, das als Rechtsverhältnis (oder Rechtsordnung) begriffen werden kann, weil es immer schon im wesentlichen in diesem Sinne rechtlich geordnet abläuft. Die Menschen setzen in ihrem Alltagsleben immer schon Rechtsakte, besitzen Sachen oder erwerben Eigentum an diesen, machen Verträge, schließen die Ehe und gehen als Staatsbürger zur Wahl usw. Freilich gibt es auch immer wieder unklare Verhältnisse, ja selbst aus dieser
17
Auf diesen Zusammenhang hat vor allem Jürgen Weitzel hingewiesen. Vgl. nur ders.: Dinggenossenschaft und Recht. Köln 1983; ders. ¡Versuch über Nonnstrukturen und Rechtsbewußtsein im mittelalterlichen Okzident (450-1100). In: Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein. Hg. von Emst-Joachim Lampe. Frankfurt 1997, S. 3 7 1 ^ 0 2 .
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wirklichen Ordnung des Zusammenlebens ausbrechende Handlungen eines Unrechts. Deshalb ist es erforderlich, das im grundsätzlichen als Einheit gelebte Verhältnis von Sein und Sollen - Materiellem und Normativem - aufzubrechen und als Recht nur die Sollensordnung zu betrachten, die sich im großen und ganzen durchgesetzt hat. Freilich muß bemerkt werden, daß damit dieses Recht und die es beschreibende Rechtswissenschaft abstrakt sind, von der immer vorausgesetzten gelebten Einheit im sozialen Sein abgesehen. Die Rechtswissenschaft bricht das Recht - genauer: ihr abstraktes Recht als Summe von Normen eines (bloßen) Sollens - aus der Wirklichkeit des gelebten Rechtes (der gelebten konkreten Rechtsverhältnisse) heraus und macht es zu Sätzen, die dann auf das Sein angewendet werden bzw. unter die dann das Sein subsumiert werden kann.18 Zugrunde liegt also der „Begriff' des Rechts, der die Wirklichkeit als diese Einheit von Realität und Idee begreift. Von daher läßt sich die vorherige Problemsicht auf die Trennung oder genauer: auf das Verhältnis von Idee und Realität beziehen, auf die Dimension der Reflexion, die zwischen Sein und Sollen unterscheidet, aber doch die Frage zu beantworten hat, wie denn das Sollen wirklich werden kann. Die Antwort läßt sich in dieser Sphäre nur in der Theorie finden, daß das Sollen als solches in der Realität offenbar (ersichtlich) wird, ohne den eigenen Charakter als bloß Ideelles - also als Idee - zu verlieren. Statt als Rechtsbegriff könnte man daher die vorherige Problemsicht als Rechts/Jee bezeichnen. Davon (d. h. von beiden) unterschieden wäre dann die unter II. 1 dargestellte Sicht als unreflektierte und unbegriffene Dimension einzuschätzen, in der das Recht noch als unmittelbar seiend vorgestellt wird. Neben Rechtsbegriff und Rechtsidee würde dann das bloße Rechtse/'n stehen, bzw. es würde sich umgekehrt eine Reihenfolge einer Entwicklung anbieten von „unmittelbarem Sein des Rechts" über „Verhältnis Sein und Rechtsidee" hin zum „Begriff des rechtlichen Seins oder des seienden Rechts" als der Wirklichkeit des geordneten Zusammenlebens in einem rechtlichen Status (Staat)19.
3.
Sieg als Bestimmung eines nichtrechtlichen Rechts
Dieses Ergebnis gilt es festzuhalten: die Möglichkeit, die Schlacht als Rechtsentscheid zu denken, scheidet dann aus, wenn die Rechtsidee sich zum Rechtsbegriff entwickelt hat, also der Kampf der Argumente die wirklichen Rechtspositionen erfaßt und sie als wirkliches 18
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Vgl. dazu Wolfgang Schild: Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz. Bemerkungen zu den Schwierigkeiten der Juristen mit Hegels Rechtsphilosophie. In: Rechtsphilosophie der Gegenwart. Hg. von Robert Alexy / Ralf Dreier / Ulf Neumann. Stuttgart 1991, S. 328-336. Vgl. die Interpretation der Hegeischen Rechtsphilosophie bei Wolfgang Schild: Menschenrechtstethos und Weltgeist. Eine Hegel-Interpretation. In: Würde Recht des Menschen. FS Johannes Schwartländer. Würzburg 1992, S. 199-222; ders.: Die Legitimation des Grundgesetzes als der Verfassung Deutschlands in der Perspektive der Philosophie Hegels. In: Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie. Hg. von Winfried Brugger. Baden-Baden 1996, S. 65-96; ders.: Der rechte Hegel: ein Rechtshegelianer? Bemerkungen zu Hegels Rechtsphilosophie. In: Recht und Pluralismus. FS Hans-Martin Pawlowski. Berlin 1996, S. 179-216; ders., Bemerkungen zum „Antijuridismus" Hegels. In: Recht und Ideologie in historischer Perspektive Bd. II. FS Hermann Klenner. Freiburg 1998, S. 124-161; ders.: Anerkennung als Thema in Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts". In: Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs. Hg. von Wolfgang Schild. Würzburg 2000, S. 37-72.
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Recht begreift. So scheint es nur die beiden dargestellten Formen der Schlacht als eines Rechtsentscheids zu geben! Doch hat die obige Überlegung (unter II.2.d) gezeigt, daß es noch eine dritte Form geben muß, in der die Schlacht erforderlich ist, um eine Rechtsentscheidung herbeizuführen, nämlich in dem Falle eines Konfliktes, der rechtlich gelöst werden muß, aber zugleich nicht rechtlich durch Zuteilung von Recht und Unrecht gelöst werden kann, weil beide Parteien in gleicher Weise von der Rechtlichkeit ihres Denkens überzeugt sind und dafür in die Schlacht ziehen. Oder anders: Das Verhältnis von Rechtsidee und Gedanken des Rechts kann nicht als Einheit gedacht werden, sondern bleibt in der Spannung von Wahrheit und Irrtum, die nicht mehr denkend gelöst werden kann. Daher braucht es die Schlacht, die dem Rechtsdenken des Siegers zum Durchbruch verhilft: aber nicht, weil es nun die Verwirklichung der Rechtsidee wäre, sondern weil dieser Kämpfer eben gewonnen hat. Der Unterlegene hat verloren, nicht weil er nicht von der Rechtsidee erfüllt gewesen wäre, sondern weil er eben besiegt wurde. Sein Rechtsdenken, seine Rechtsüberzeugung bleibt durch den Sieg des Anderen unangetastet, weshalb der Andere durch den Sieg in die Lage versetzt wird, sein anderes Recht - das nicht das Recht des Unterlegenen ist, also dessen Nichtrecht durchzusetzen. Und umgekehrt setzt der Sieger nun sein Recht durch, auch wenn er weiß, daß der Untergebene ebenfalls von Rechtsüberzeugung getragen war. a) Die Schlacht ist ein Rechtsentscheid, weil sie Recht zuteilt: das Recht des Siegers hat sich durchgesetzt. Aber zugleich wird deutlich, daß dieses Recht für den Untergebenen das Nichtrecht ist, weil das Recht des Untergebenen durch die Niederlage nicht vernichtet wurde. Nur kann sich sein Recht nicht (mehr) durchsetzen. Deshalb muß er dem Nichtrecht des Siegers folgen, so als wäre es das Recht. Der Untergebene gehorcht, aber nicht dem Recht des Stärkeren, sondern der stärkeren Macht, weil diese ihr Recht durchsetzen kann. Er gehorcht zähneknirschend und nicht aus Überzeugung, ist nicht verpflichtet zum Gehorsam, sondern wird wegen seiner Schwäche zum Gehorsam gezwungen. Der Sieger hat nun sein Recht als Zwangsrecht durch seinen Sieg durchgesetzt. Als der Stärkere kann er dem Verlierer sein Recht aufzwingen, ihn zum Gehorchen zwingen, so als wäre es auch dessen Recht. Die Spannung zwischen Rechtsidee und Denken des Rechts von den jeweiligen Kämpfern ist zerbrochen, die dialektische Einheit der Unterschiede ist abgespannt in eine Einheit, die nur mehr subjektive Vorstellungen vom Recht kennt. Die Rechtsidee hat den Bezug zur Realität verloren, ist ein bloßes Hirngespinst geworden, eine bloße „Idee"20: wie wir heute im Alltagssprachgebrauch sagen und dabei die „Vorstellung" meinen, die ein jeder sich so macht von der Welt, ohne einen Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit, sondern (wenn überhaupt) den Anspruch auf Ehrlichkeit und Echtheit (Wahrhaftigkeit) zu erheben. Zugleich hat die Realität ihre mögliche Qualität als Wirklichkeit verloren, ist gleich-gültig gegenüber dem Ideellen der Idee und des Denkens geworden. Daher ist auch der Sieg in der Schlacht kein Zeichen für die Richtigkeit der Rechtsvorstellung, für die der Sieger gekämpft hat. Sie bietet ihm nur die Möglichkeit, diese seine subjektive Rechtsvorstellung dem Unterlegenen aufzudrängen und diesen zum Gehorsam zu
20
Und eben nicht mehr die zuvor skizzierte „Idee" in der Logik Hegels.
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zwingen. Der Sieg macht den Sieger zum mächtigen Gesetzgeber, dessen Befehle als Recht gesetzt und bestimmt und mit Gewalt und Drohung durchgesetzt werden. b) Recht ist somit nur Rechtsvorstellung und bloße Rechtsbehauptung, besser: Rechts/weznung geworden, eben ein bestimmter Inhalt, der als der „meinige" von irgendeinem Subjekt geäußert wird. Es stellt sich in dieser Meinung dar, erklärt seine Rechtsvorstellung, die beliebig ist und willkürlich erhoben wird. Maßgebend kann sie nur mit Hilfe der Zwangsgewalt des Siegers in der Schlacht werden. Dann wird aus der Rechtsmeinung das positive Recht des Stärkeren, das seine Qualität als ,.Recht" nicht aus sich selbst oder seinen Inhalt hat, sondern nur von der Macht des Gesetzgebers bezieht. Es ist daher auch nicht wirklich das Recht, nicht einmal wirklich „ein" Recht, sondern Machtgesetz und -sprach. Ein solcher Machtspruch ist auch der Sieg in der Schlacht geworden. Er bestimmt zwar die Zuständigkeit des Gesetzgebers, zeigt die Machtposition des Stärkeren auf, weshalb dieser seine Gesetze als positives Recht setzen kann. Doch kann er die Machtposition nicht als Rechtsposition ausweisen, ebensowenig der Unterlegene als im Unrecht befindlich offenbar wird. Auch dessen Rechtsbehauptung und -meinung bleibt möglich, wie alles übrige Beliebige und Willkürliche. c) Ein solcher Konflikt, der zur Schlacht fuhrt, läßt sich nicht als ein Rechtsverhältnis begreifen: also als ein Verhältnis zweier oder mehrerer Rechtssubjekte, die gegeneinander berechtigt und verpflichtet sind, deren Handlungen als rechtlich oder unrechtlich qualifiziert werden können. Es muß ein Konflikt sein, der diese Dimensionen hinter sich läßt, sie übersteigt, weil er zugleich über der Rechtsdimension steht. Und dennoch ist es ein Konflikt, der das rechtliche Zusammenleben der Menschen betrifft und daher auch rechtlich geregelt werden muß. Es muß eine rechtliche Regelung gefunden werden, die die Rechtssphäre übersteigt und die deshalb die Hilfe der Schlacht braucht, damit deren Sieg und Niederlage zugleich eine Regelung des weiteren Zusammenlebens mit sich bringt. Ein solcher Sieg ist nicht ein Rechtsentscheid wie in den beiden zuvor behandelten Fällen, in denen es stets um die Rechtssphäre geht, um ein Recht, das entweder ohnehin unmittelbar wirklich war - als Recht der Stärke - oder das als Rechtsidee eines Sollens der Verwirklichung im Sein bedurfte und auch verwirklichte. Nun soll der Sieg ein solches Recht überhaupt erst setzen, erst bestimmen, in die Welt bringen, ein Recht für eine Sphäre schaffen, in der es dieses Recht überhaupt nicht gibt, also künstlich schaffen, als ein Kunstprodukt, das als Recht bezeichnet werden kann, aber nicht wirklich Recht ist und sein kann. Die Schlacht ist „Rechtsentscheid" nicht mehr als Urteil(er), sondern als Rechtssetzer, als Setzer eines „Rechtes", das dann wie ein Recht weitergedacht und realisiert werden kann. Dieses Recht bleibt immer künstliches Produkt, immer Schein-Recht. Genauer: die Schlacht bestimmt den Sieger als Gesetzgeber, dessen Macht die Gesetze zu durchsetzbaren Regeln des sozialen Zusammenlebens macht, die dann als „Recht" bezeichnet werden (können), ohne dies wirklich zu sein. Daher ist die Schlacht als Rechtsentscheid stets zugleich die Setzung von Nichtrecht; nicht von Unrecht, weil auch diese Qualifizierung ein wirkliches (oder zumindest als Idee gedachtes) Recht voraussetzt. Deshalb geht es auch nicht um ein Recht des Stärkeren, sondern nur mehr um die Gewalt des Stärkeren, dem die Aufgabe zuerkannt ist, den rechtlich
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nicht regelbaren Konflikt durch seinen Sieg zu lösen. Die Schlacht ist nun als solche maßgebend: es zählt nur der Sieg, der weder rechtlich noch unrechtlich ist. d) Der Sieg in der Schlacht kann daher auch nicht als rechtlich oder unrechtlich qualifiziert werden: er steht für das Recht, genauer fur ein Recht, das es für diesen Konflikt nicht mehr gibt und geben kann, weshalb er immer zugleich auch Nichtrecht darstellt. So kann der Sieg zwar nicht rechtlich, aber in der Terminologie der nicht-rechtlichen, das Recht übersteigenden Sinndimensionen erfaßt werden, nämlich als religiöses oder ästhetisches Ereignis. Der Sieger erweist sich als der säkulare Gott, dessen Macht alle zum Gehorsam unter seine Befehle zwingt, der daher ein Reich errichten kann, in dem sein Wille herrscht. Er ist der Souverän21, der nichts über sich hat, sondern dessen Wille das Höchste ist auf Erden (wobei es den Himmel mit [s]einer Rechtsidee nicht mehr gibt), weshalb man zurückgreifen kann auf die antiken Gottheiten oder halbgöttlichen Heroen, deren Wiedergeburt der Gesetzgeber nun geworden ist. Oder er ist der große Künstler, der mit seiner Macht das soziale Zusammenleben zu einem großen Kunstwerk gestaltet, das gesetzmäßig funktioniert und seinen Willen sinnlich zum Ausdruck bringt wie eine große Maschine, deren Bauplan seine Willensgesetze sind. Freilich gilt auch das Umgekehrte: der Sieg in der Schlacht kann als rechtlich qualifiziert werden, nämlich in dem Sinne, daß er als rechtlich ausgegeben wird, so bezeichnet wird. Es ist dann möglich, auf die alten Systeme - Recht der Stärke, Rechtsidee - zurückzugreifen, nun aber in der Distanz des Besserwissenden, der nämlich erkannt hat, daß es ein solches Recht (oder eine solche Rechtsidee) überhaupt nicht gibt, daß aber manche oder vielleicht gar die meisten an ein solches glauben, weshalb der Hinweis auf das eigene Recht des Gesetzgebers als Gottheit oder Heros oder Künstler die Machtposition legitimieren, ihr einen Anschein von Rechtlichkeit verleihen kann. Es entsteht die Propaganda des Rechts, die diese Legitimierungsstrategien verfeinert, aber auch neue erfindet und ausgestaltet: Schicksal, Natur, Rasse, auch Geschichtsgesetze, die den Machthaber zum wirklich zuständigen Gesetzgeber ausmachen. e) Möglich ist und bleibt auch die Haltung des die Zusammenhänge Erkennenden, von Verzweiflung über Zynismus bis hin zur Konzeption eines „Notrechts"22. Dann sind die Befehle der Macht deshalb so etwas ähnliches wie „Recht", weil sie durch die hinter ihr stehende Gewalt - zumindest als Drohapparat - die subjektiven Meinungen der Einzelnen so im Zaume hält, daß ein Zusammenleben möglich ist. Die Not der Willkür, der Beliebigkeit der Meinungen, der subjektiven Aktivitäten bis Aggressivitäten kann so bezwungen werden: durch den höheren Zwang der Gesetze des Souveräns. Vertieft kann diese Haltung durch die allgemeine Reflexion auf die Endlichkeit oder Sündhaftigkeit der Menschen und der Welt werden. Der Souverän ist dann die Obrigkeit, die wegen der Schwächen und Lieblosigkeit (Sozialunverträglichkeit) der Menschen - homines hominibus lupi - notwendig ist, ein gewaltfreies Zusammenleben zu garantieren
21 22
Vgl. dazu Martin Peters / Peter Schröder (Hg.): Souveränitätskonzeptionen. Berlin 2000. So die Bezeichnung fur die Willkürgesetze in der bürgerlichen Gesellschaft, die dadurch zugleich der äußere Verstandes- und Vertragsstaat der Juristen wird, in Hegels Rechtsphilosophie; vgl. Hegel: Grundlinien [wie Anm. 4], § 183.
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durch seinen eigenen, über den Gesetzen stehenden (und daher auch: „rechtlosen") Gewaltund Drohapparat „Staat". f) Die einzige Schlacht, die noch geführt werden kann, richtet sich von dem Staat an einen anderen Staat, ist die Auseinandersetzung von Souveränen. Im Inneren eines jeden dieser Souveräne kann es keine Schlachten mehr geben, weil es keine Machtsubjekte - die kämpfen könnten - mehr gibt, sondern nur mehr entwaffnete Schwache, die gehorchen müssen, auch wenn sie nicht wollen, andernfalls sie vernichtet werden. Deshalb kann es auch im Inneren kein wirkliches Recht mehr geben. Auch die Schlacht der Souveräne kennt kein Recht (mehr), weil sie selbst auf der Rechtlosigkeit beruhen. Der Sieg spricht nicht einmal (mehr) für das Recht des Stärkeren, sondern ermöglicht dem Sieger nur, seine eigene Rechtsmeinung dem Unterlegenen aufzudrükken. Dabei gibt es keinerlei Grenzen von irgendeinem Rechtsbegriff her: Warum sollen nicht auch Tugendpflichten oder andere Moralvorstellungen zum Inhalt dieser Rechtsmeinung werden? Ein Sieg in der Schlacht ist daher keine Rechtsentscheid mehr, sondern nur die Bestimmung dessen, der „zuständig" ist für die zwangsweise Ordnung des Zusammenlebens, der die Zuständigkeit (Kompetenz) hat, das System der Gesellschaft zu ordnen und zu gestalten. g) Die Frage, ob es eine Vermittlung von dieser Konzeption - die man für die Diskussion am besten terminologisch bezeichnen könnte als „Notrechtstheorie" - zu der philosophischen Darstellung des Rechtsbegriffes, wie sie unter II.2.e) und f) angedeutet wurde, kann hier nicht beantwortet werden. Sie sollte aber doch an die Leserinnen gestellt werden23.
III. Drei historische Gestalten der Schlacht als Rechtsentscheid Abschließend sollen drei historische Ereignisse vorgestellt werden, die als jeweilige Gestalten der drei im Kapitel II. entwickelten Formen einer solchen „Schlacht als Rechtsentscheid" aufgefaßt werden können. Es sind „Fakten", die aber einen Sinn erhalten durch den Bezug auf diesen Begriff, der den Titel meines Vortrage ausmacht. Man kann auch sagen: es sind Vergangenheiten, die als „Schlacht als Rechtsentscheid" erzählt werden können, als drei Geschichten, in denen dieser Inhalt zum Thema wird, wie er es auch in der so erzählten Vergangenheit gewesen ist. Über Andeutungen kann ich alleine schon wegen Zeit- bzw. Raumgründen nicht hinausgehen.
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Verbunden doch auch mit dem Hinweis, daß die Rechtsphilosophie Hegels zumindest den Anspruch erhebt, die.¿e Vermittlungsleistung zu erbringen.
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Die Rechtsverfahren der Germanen
Schlachten als Rechtsentscheid im ersteren Sinne, wonach der Sieg das Recht des Siegers begründet, finden sich - so meine These - als geschichtliches Ereignis in den Rechtsverfahrender Germanen24. Dabei ist zunächst an die Sippenkriege („Fehden" in der Bedeutung von „Feindschaft") der germanischen Familien oder Gefolgschaften zu denken25. Die Germanen kannten ursprünglich offensichtlich noch keine einheitliche Rechtsordnung - auch keine Rechtsgottheit - , die fur alle verbindlich gewesen wäre. Sondern es standen sich die Sippen (Großfamilien) als solche oder ergänzt durch die kriegerischen Gefolgschaften als Rechtssubjekte gegenüber, hinter die der einzelne als bloßes Glied dieser Gemeinschaften zurücktrat. Die Ordnung des Zusammenlebens richtete sich nach der jeweiligen Stärke der Subjekte, die ihr Rechtsverhältnis zueinander durch fortwährende Auseinandersetzungen - bis hin zu wirklichen Schlachten - bestimmten. Vor allem in den Fällen, in denen ein Mitglied der Sippe erschlagen worden war (wodurch die Kraft der Sippe geschmälert wurde), konnte die verletzte Gemeinschaft diese Mißachtung und Beleidigung ihrer Stellung nicht hinnehmen. Meistens wurde der beste Mann aus der Tätersippe aus Rache erschlagen und diese Tat öffentlich kundgemacht, um die alte Reputation (und Rechtsstellung) wieder zu erlangen und geltend zu machen. Ein Gegenangriff folgte, der erwidert wurde, usw. Dies führte manchmal bis zur Gefahr der gegenseitigen Ausrottung, bis ein Vermittler eingeschaltet wurde, der eine Aussöhnung als Neubegründung des Rechtsverhältnisses zwischen beiden auf dem Verhandlungsweg erreichte. Verzichtete eine der Sippen auf Weiterfuhrung des Krieges, erklärte sie sich für geschlagen, dann hatte die siegreiche Sippe ihr Verhältnis zum Unterlegenen geklärt und neu begründet. Bis zum nächsten Angriff! Eine Wiederherstellung des gestörten Rechtsverhältnisses war auch durch einen Zweikampf möglich, in dem je ein Mitglied der betroffenen Sippen auf Leben und Tod um die Rechtlichkeit des eigenen Vorgehens, die die Rechtsposition betraf, kämpften. Nun kann man in einem bloßen Zweikampf keine „Schlacht" sehen, auch wenn manchmal der Zweikampf stellvertretend für die feindlichen Gruppen und die Schlacht ersetzend durchgeführt wurde26. Doch gelten die entwickelten Strukturen - vor allem des Rechts der Stärke - für den Zweikampf ebenso wie für die Schlachten, die von daher auch als Zweikampf charakterisiert werden können. Thema war also z. B. die Erschlagung eines Mitglieds der einen Sippe oder Gefolgschaft mit der öffentlichen Behauptung (Beleidigung), diesen auf frischer (Un-)Tat ertappt und rechtmäßig getötet zu haben, bzw. die Nichtanerkennung dieses Vorgehens durch die Sippe oder Gefolgschaft des Erschlagenen, die dem Täter Totschlag vorwarf und Sühnung der sie schwächenden und beleidigenden Tat forderte. Es standen sich hier nicht nur zwei Rechtsbehauptungen gegenüber, die beide den Anschein von Richtigkeit hatten, also durch unmittelbare Betrachtung des Geschehens nicht gelöst werden konnten, sondern es ging um die Rechtspositionen dieser beiden Sippen, um ihr Ansehen, ihre „Eh-
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Wer ein modernes Beispiel will, denke an die Auseinandersetzungen der Fans der Fußballklubs oder allgemein an den Sport. Vgl. dazu Wolfgang Schild: Der gequälte Leib [wie Anm. 10]; ders.: „Rache". In: Lexikon des Rechts - Rechtsgeschichte 1 / 1030. Neuwied 1992, S. 1-5. Vgl. dazu Goez: Fürstenzweikämpfe [wie Anm. 16], S. 135fF..
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Wolfgang Schild
re", ihre soziale Macht. Denn eine Sippe, in der ein Missetäter gelebt hatte oder noch lebte, war von dieser Schande getroffen! Unmittelbar mußte der Sieg im Zweikampf zeigen, wem die rechte Position (und damit die bessere Stellung gegenüber dem Verlierer) zukam27. Doch konnte bei Anrufung des Gerichts - anfangs meist die Thingversammlung der waffenfähigen Männer - an die Stelle des Zweikampfs auch ein Eidesverfahren vorgeschlagen bzw. später angeordnet werden; dies soll hier erwähnt werden, obwohl es sich auch erneut um eine wirkliche „Schlacht" handelt. Doch ist die Parallelität von Zweikampf und Eidesverfahren bemerkenswert (wodurch sich der damalige Eid mit dem heutigen Beschwören der Richtigkeit einer Aussage nicht vergleichen läßt)28. Denn hier wurde einer der Parteien die Aufgabe zugeschoben, die Richtigkeit ihrer Rechtsbehauptung - der beanspruchten Rechtsposition - durch eigenen Eid mit Unterstützung einer bestimmten Zahl von „Eideshelfern" zu beweisen, d. h. sie mußte diese Zahl von Männern finden, die ihr glaubten und dafür sogar bereit waren, in Zweikampf auf Leben und Tod zu treten. Deutlich wird hier der Einfluß der Rechtsstellung des Eidespflichtigen, die so bestimmend und mächtig sein mußte, daß er diese erforderlichen Männer fand. Standen diese Männer aber zu ihm und hinter seinem Eid, machten sie einen mächtigen „Schwurkörper" aus, dessen Bekräftigung der Rechtsposition nur schwerlich von dem Gegner angegriffen werden konnte. Der Sieg in diesem Verfahren - d. h. das Gelingen dieses Eides - machte daher die Rechtsstellung deutlich und führte zugleich zum Verlust der Rechtsposition des Anderen, der verloren hatte: dieser wurde dem Sieger übergeben.
2.
Die Gottesurteile
Bekannter ist wahrscheinlich das historische Geschehen, das als zweite Form einer Schlacht als Rechtsentscheid aufgefaßt werden kann und muß: indem nämlich der Sieg als Gottesurteil (judicium Dei) angesehen wurde, der das Recht des Siegers - gegründet in der göttlichen Schöpfung (bzw. in ihrer Rechtsidee) - zum Ausdruck brachte, in einer Schlacht, aber auch in einem (anderen) Zweikampf. Über den mittelalterlichen Krieg als ein solches iudicium Dei hat Kurt-Georg Cram ein aufschlußreiches Buch29 geschrieben; ich darf bezüglich des Zweikampfes selbst auf einige einschlägige Arbeiten verweisen. Vor allem können die Leserinnen sich bei einer (gelungenen) Auffuhrung von Wagners Lohengrin selbst ein Bild machen von dieser Vorstellung,30 daß nämlich Gott - der selbst das Recht ist, weshalb ihm das Rechte lieb ist31 - in das irdische Geschehen eingreift und dem Berechtigten (oder Unschuldigen) die Kraft zum Sieg
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Vgl. dazu Wolfgang Schild: „Zweikampf'. In: HG (5) 1998, Sp. 1835-1847. Zum früheren Eidesverfahren vgl. Adalbert Erler: „Eid". In: HG 1 (1971), Sp. 861-870; Ekkehard Kaufmann: „Reinigungseid". In: HG (4) 1990, Sp. 837-840; Ulrich Kornblum: „Gerichtlicher Eid". In: HG 1 (1971), Sp. 863-866; Richard Loening: Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagen im deutschen Mittelalter (1880). Aalen 1982. Vgl. Cram [wie Anm. 1], - Auch in dem Buch von Duby [wie Anm. 1], finden sich zahlreiche Hinweise auf das damalige Verständnis des Krieges als eines Gottesurteils. Vgl. Schild: Zweikampf [wie Anm. 27], S. 25ff. Wolfgang Schild: Das Gottesurteil der Isolde: In: Alles was recht ist. FS Ruth Schmidt-Wiegand. Essen 1996, S. 55-75. So der Verfasser des Sachsenspiegel (um 1225), Eike von Repgow, im Prolog.
Schlacht als Rechtsentscheid
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verleiht oder andere Wege findet, dem Recht zum Sieg zu verhelfen (wie ζ. B. Unwetter, Naturkatastrophen, Unfall). Der Sieg ist wirklich das Urteil (und die Schlacht das Verfahren, das zu diesem Urteil fuhrt), dies aber nicht als Rechtsbegründung (im Sinne der Zuteilung der Rechtspositionen), sondern als Offenbarmachung des wirklichen Rechts, wie es gegründet ist in der göttlichen Schöpfung (oder noch genauer: in der Person Gottes, der das Recht ist als die Rechtsidee). Der Sieg verwirklicht das göttliche Recht auf Erden. Oft ist deshalb das Schlachtgeschehen herausgehoben aus der kategorialen Verfaßtheit der Welt: Zeit und Raum wurden durchlichtet von dem göttlichen Geschehen, das sich hier auf Erden verwirklichte. Von daher bot sich die ästhetische Erfassung und Konzentration - in Erzählungen, Legenden, Mythen, aber auch in Schlachtbildern - unmittelbar an, wie vor allem Georges Duby fur die Schlacht von Bouvines am 27. Juli 1214 gezeigt hat32. Die Lehre vom Krieg als einem Gottesurteil entwickelte drei Voraussetzungen33: es müsse ein Problem vorliegen, das nicht durch ein rechtliches Verfahren oder Schiedsverfahren gelöst werden kann („auctoritas principis"); dieses Problem müsse eine Rechtsposition sein, die ideell gedacht und begründet werden muß („iusta causa"); und beide Parteien müßten die Autorität Gottes anerkennen, also mit reinen Motiven und in Demut handeln („intentio recta"). Die Tötung des unterlegenen Gegners wurde folgerichtig nicht als Sünde, sondern als nicht gegen Gottes Willen gerichtet aufgefaßt und auf eine Buße wurde verzichtet34. In dieser Form entfaltete die Scholastik ihre Konzeption des gerechten Krieges: auch in ihm verhalf Gott der rechten Sache zum Sieg (und damit zur weltlichen Verwirklichung)35. Gleiches mußte für die Lehre vom „heiligen Krieg" gelten, in dem Gott selbst als Kriegsherr gedacht wurde36. Das Gottesurteil offenbarte somit das wirkliche (d. h. das gottgesetzte, göttliche, in Gott bestimmte) Recht in den Fällen, in denen die menschliche Gerichtsbarkeit an ihr Ende gekommen war. Vorausgesetzt war, daß die Parteien bzw. Gegner dieses göttliche Recht an sich anerkannten, aber keine (anderen, vor allem: gerichtliche) Wege fanden, als Gott um Offenbarung seiner Wahrheit zu bitten. Die notwendige Haltung war ein demütiges Vertrauen in einen Gott, dem das Rechte lieb war; meisterlich in Worte gefaßt - von der musikalischen Ausformung ganz zu schweigen - von Richard Wagner, der nach Lektüre der Rechtsaltertümer Grimms den König Heinrich bitten läßt: „Mein Herr und Gott, nun ruf ich dich! Daß du dem Kampf zugegen seist! Durch Schwertes Sieg ein Urteil sprich, das Trug und Wahrheit klar erweist. Des Reinen Arm gib Heldenkraft, des Falschen Stärke sei erschlafft: so hilf uns, Gott, zu dieser Frist, weil unsre Weisheit Einfalt ist." Es ist selbstverständlich, daß mit dem Bewußtwerden der menschlichen Aktivität und auch Subjektivität das Konzept dieser Gottesurteile brüchig werden mußte. Ist der Mensch die maßgebende Instanz, die das Recht zu setzen hat, dann ist seine Bitte um Gottes offenbarendes Urteil kein demütiges Gebet mehr, sondern eine Gott auffordernde, ja ihn durch die Berufung auf sein Wesen als Recht zwingende Gotteslästerung. Von daher ist das Verbot der Gottesurteile am 4. Lateranum (1215) konsequent.
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Vgl. Duby [wie Anm. 1], S. 185fL Dazu Ohler [wie Anm. 1], S. 66ff.; vgl. auch Cram [wie Anm. 1], S. 5ff. - Zur Lehre vom gerechten Krieg in der Moraltheologie vgl. Hehl [wie Anm. 1], Vgl. Ohler [wie Anm. 1 ], S. 78. Vgl. Hehl [wie Anm. 1], Dazu vgl. Carsten Colpe: Der Heilige Krieg. Bodenheim 1994; Ohler [wie Anm. 1], S. 71.
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3.
Wolfgang Schild
Die Glaubenskriege
Für die dritte Form der Schlacht als eines Rechtsentscheides in der angegebenen Grenzbestimmung meine ich als Beispiel die Glaubenskriege heranziehen zu können, ohne dies hier näher auszufuhren. Hier war die Zeit der Gottesurteile lange vorbei und mit ihnen auch das Vertrauen in einen Gott, der unmittelbar auf Erden eingreift und durch Wunder die Wahrheit kundtut. Das unmittelbare Wissen um Gott war in der Reflexion des Gewissens aufgebrochen und hatte zu einem subjektiven Gottesbegriff gefuhrt, der seinen letzten Grund im Gewissen des Einzelnen vor diesem unbegreiflichen (und daher auch nicht mehr als Recht zu begreifenden) Gott fand. Gottesvorstellung in dem einen Gewissen stand gegen Gottesvorstellung in dem anderen Gewissen. Es galt, eine Regelung für das Zusammenleben zu finden - also Recht - , die aber über diese Dimension hinausgehen mußte, weil es die letzten Fragen der menschlichen Existenz vor Gott betraf. Man berief sich auf die theologisch überlieferten Tugenden wie Gerechtigkeit und Gläubigkeit, aber die bloße Subjektivität - die oft zu einer Sprachlosigkeit des Gewissens führte - war nicht zu überwinden. So blieb nur die kriegerische Auseinandersetzung im Zeichen des Gewissens eines jeden einzelnen, in dem zugleich auch die Frage des Zusammenlebens - und damit: des Rechts entschieden wurde. Für die einen gab es (noch) ein göttliches Recht, das zu erkennen war im gläubigen Gewissen, für die anderen war dies die subjektive Willkür der Obrigkeit, die noch dazu die falsche war, weshalb der Kampf um eine richtige, den richtigen Glauben ausübende Obrigkeit ging. Der Sieg bestimmte die maßgebende Obrigkeit, deren Macht ihren gesetzlichen Befehlen die notwendige Durchsetzungskraft gab. Die Unterlegenen durften ihr Gewissen und ihre Rechtsvorstellung behalten, nur hatten sie das Land der siegreichen Obrigkeit zu räumen. Eine andere Möglichkeit war, daß Sieger und Unterlegene zusammenlebten unter einer Obrigkeit, die die Gewissen der Untergebenen nicht mehr beanspruchte zu regeln, die daher auch nicht mehr den Anspruch auf Findung des wirklichen Rechts erhob. Ihre Aufgabe war nur mehr die Herstellung eines äußeren Friedens, der ein Nebeneinander der unterschiedlichen Gewissen ermöglichte. Dies war nur möglich durch den Sieg und den Ausbau dieser siegreichen Stellung zu einem Gewalt- und Drohapparat (Staat), der die Untertanen zum Gehorsam gegenüber den willkürlichen Setzungen der Macht - den Gesetzen - zwingen konnte. Der Sieg brachte einen Rechtsentscheid, nämlich den Verzicht auf das Finden des wirklichen Rechts zugunsten der Bestimmung der Zuständigkeit des Siegers zur Setzung von Regeln, die als „Recht" bezeichnet werden können und das Verhalten der Untertanen zueinander betrafen. Der Machthaber selbst stand über den (seinen) Gesetzen und war als Souverän der säkularisierte Gott37 oder der künstlerische Heros, der die funktionierende Maschine der Gesellschaft schuf.
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Zu Thomas Hobbes vgl. Schild: Frieden [wie Anm. 1], S. 165f.; ders.: Die unterschiedliche Notwendigkeit des Strafens. In: Strafe muß sein! Muß Strafe sein? Kritisches Jahrbuch für Philosophie Beiheft 1 (1998), S. 81-108, hier82ff..
GERNOT KAMECKE
Zur Codierung kolonialer Schlachtfelder. Die heldenhafte Niederlage des Louis Delgrès in Matouba 1802 „Sur le champ de bataille limité aux quatre coins par des vingtaines de nègres pendus par les testicules, se dresse peu à peu un monument qui promet d'être grandiose" F. Fanon : Les damnés de la terre
Die schillerndsten Helden, von denen die schönsten Sagen zeugen, sind die Sieger einer entscheidenden Schlacht. Diese Regel gilt sicher allgemein für die , Histoire de Ia Grande Nation' und insbesondere für die Zeit Napoleons I. des einflußreichsten europäischen Herrschers, den das Frankreich der Neuzeit hervorgebracht hat. Der Ort Matouba auf der kleinen Antilleninsel Guadeloupe jedoch, die - damals wie heute - zur äußersten Peripherie des französischen Staatsterritoriums gehört, steht für die Ausnahme von der Regel. Die nach diesem Ort benannte „Schlacht von Matouba" ist für das nationale (Unabhängigkeits-)Denken Guadeloupes von zentraler Bedeutung, obwohl - oder gerade weil - hier der Krieg gegen den übermächtigen Feind aus dem fernen Paris nach erbittertem Widerstand verloren wurde.
I. Die Geschichte von Matouba beginnt im Jahre 1802, als General Bonaparte, Erster Konsul der Französischen Republik, sich anschickt, die Landkarte Europas seinem kommenden Kaiserreich gemäß zu gestalten. Die großen Schlachten in Österreich und Italien sind geschlagen, und die Erhaltung des status quo gegenüber Preußen und Rußland sowie die Friedensbemühungen mit England haben höchste Priorität. In diesem Zusammenhang bedeutet der Wiedergewinn der kleinen Kolonie Guadeloupe für die imperialen Restaurationsbemühungen mehr als der unbedeutende Nebenschauplatz in der entfernten Karibik auf den ersten Blick vermuten läßt. Der Conseil d'État in Paris ratifiziert am 30. Floréal des Jahres X ein Gesetz1, mit dem die Sklaverei wieder eingeführt wird. Dieses Gesetz, welches der Anlaß für die Expedition
1
Das Gesetz, eingebracht von den „Conseillés d'Etat" Dupuy, Bruix und Dessoles, ist kurz und bündig: „Dans les colonies restituées à la France, en exécution du traité d'Amiens, en date du 6 germinal an X
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Gemot Kamecke
des Generals Richepance in die Antillen ist, hat mit Blick auf den Erzfeind England strategische Gründe, folgt aber vor allem einer ökonomischen Zielrichtung. Die Mühlen für den Rohrzucker, des weißen Goldes der Zeit, mahlen - von Sklaven angetrieben - bald wieder auf Hochtouren. Auch wenn sich die Generäle Napoleons zwei Jahre später Toussaint Louverture in Haiti geschlagen geben müssen und in der Folge Sainte-Lucie an England und Tobago an Spanien verlieren, werden sie die für die französische Kriegskasse eminent wichtigen Inseln Martinique und Guadeloupe für die Zukunft verteidigen. Die Perspektive der Kolonie selbst ist in der Geschichtsschreibung untergegangen, da Guadeloupe in der Folge - bis heute - als ein Teil Frankreichs betrachtet wird. Dabei ist die Insel ein eigentümlicher Satellit der Französischen Revolution. Sie verkörpert historisch gesehen ein besonderes Experimentierfeld für den Vollzug der 1789 und in der Verfassung von 1793 erneut erklärten allgemeinen Menschenrechte. Die Revolution beginnt in Guadeloupe im Jahre 1794 mit fünfj ähriger Verspätung gegenüber der Metropole, gerade zu einer Zeit, da sich in Paris die gefürchtete Revolutionsregierung der Jakobiner auf dem Höhepunkt ihrer Macht befindet. Sie wird durch das Dekret vom 16. Pluviôse des Jahres II (4. Februar 1794) ausgelöst, mit dem der Pariser Wohlfahrtsausschuß - auf die Initiative von Maximilien Robespierre höchstpersönlich - alle Bewohner der Kolonien unabhängig ihrer Hautfarbe fur „citoyens français" erklärt und den Sklavenhandel verbietet.2 Das Dekret erreicht die Insel Guadeloupe, die sich im Frühjahr 1794 wieder einmal unter englischer Herrschaft befindet, zusammen mit dem berühmten Emissär der Revolutionsregierung Victor Hugues. Die Episode um die Person Victor Hugues - in Alejo Carpentiere El siglo de las luces unsterblich gemacht - gehört zu den bekannteren der Geschichte Guadeloupes. Die vierjährige Regierung des ehemaligen Seefahrers und Bäckersohnes aus Marseille als Gouverneur der Kolonie ist durch den erfolgreichen Befreiungskrieg gegen England, die Errichtung einer selbstversorgenden Ökonomie, die Einführung eines Lohnsystems fur die Plantagenarbeiter und vor allem durch die Guillotine geprägt, unter deren Messer die Köpfe der Royalisten rollen, sofern diese nicht mit den Engländern geflohen sind. Die Gewinnung der schwarzen Arbeiter für die Revolution und der Seekrieg gegen die junge Nation der USA im Verbund mit den Korsaren haben ihrerseits dazu beigetragen, zumindest in Ansätzen eine eigenständige nationale Identität auszubilden. Die faktische Autonomie Guadeloupes währt insgesamt acht Jahre. Mit der Regierung beauftragt ist nach dem Vorbild der Metropole eine demokratisch legitimierte Kolonialversammlung, die in der Hand der Mulatten, der sogenannten „hommes de couleurs", zunehmend an Einfluß gewinnt. Nach der Ablösung von Victor Hugues im Jahre 1798 erstreckt sich ihre Macht auch auf die Befehlsgewalt über die Nationalgarde und die in Guadeloupe stationierte Kolonialarmee, die inzwischen zu fast 100% aus farbigen Soldaten und Offizie(25 mars 1802), l'esclavage sera maintenu conformément aux lois et règlements antérieurs à 1789" (zit. nach Jacques Adélaïde-Merlande: Delgrès. La Guadeloupe en 1802. Paris 1986, S. 20). 2 „C'est presque à la sauvette et comme en s'excusant que la Révolution accomplit un des plus grands actes dont elle puisse s'honorer" (Aimé Césaire: Toussaint Louverture. Paris 1961, S. 197). Dagegen wird die Abschaffung der Sklaverei von der konservativen Partei der Plantagenbesitzer sowie den Aktionären der Compagnie des Indes als ökonomischer Selbstmord gebrandmarkt. Viele der weißen Bewohner Guadeloupes kämpfen in der Folge gar auf der Seite Englands (vgl. Germain Saint-Ruf: L'Epopée Delgrès. La Guadeloupe sous la révolution française (1789-1802). Paris 1977, S. 51ff.
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ren bestehen. Die Eigenmächtigkeit der Regierung geht so weit, daß die beiden von Paris designierten Nachfolger Hugues', die Generäle Desfourneaux und Lacrosse, nach jeweils kurzer Amtszeit von der Kolonialversammlung wegen Machtmißbrauchs verhaftet und mit Empfehlung an die Mutterrepublik ,zurückgeschickt' werden.3 Die Verschickung von Lacrosse im Herbst 1801 scheitert jedoch. Dem General gelingt die Flucht ins Exil der britischen Nachbarinsel Dominica, wohin ihm die letzten offiziellen Repräsentanten der Metropole, der Kolonialpräfekt Lescallier und der Justizkommissar Coster, kurz darauf folgen. Von Oktober 1801 also bis Mai 1802, dem Zeitpunkt des uns interessierenden Krieges, ist der Bruch mit Paris faktisch vollzogen und die Herrschaft in den Händen eines .Provisorischen Regierungsrats' unter der Führung des Mulatten Magloire Pélage, von dem später noch die Rede sein wird. Der Werdegang der Pariser Zentralregierung steht der Revolution in Guadeloupe diametral entgegen. Während der Nationalkonvent zum Direktorium und am 18. Brumaire des achten Jahres schließlich zum Konsulat mutiert, trachtet die Inselregierung Revolutionsprinzipien zu folgen, die auf dem Stand von 1794 geblieben sind. Der Rückeroberungskrieg, den Napoleon durch General Richepance im Mai 1802 in der Kolonie führen läßt, um die separatistischen Usurpatoren um Pélage zu stürzen, trifft die Gesellschaft in Guadeloupe völlig unvorbereitet. Die einzelnen, ihren Bestimmungsort niemals erreichenden Sendschreiben des Pélage an den Bürger Bonaparte, Konsul der Mutterrepublik und Verteidiger der Revolution, beweisen, daß vor Ort niemand mit der Wiedereinführung der Sklaverei gerechnet hat, welche die Insel nach achtjähriger Freiheit und Selbstbestimmung quasi über Nacht ins Ancien Régime zurückkatapultiert. Als Richepance nach der Niederschlagung des letzten Aufstandes den berühmten Satz: „La Révolution est finie"4 ausspricht, verliert Guadeloupe plötzlich und unwiderruflich die bis dato aufkeimende Eigenständigkeit. Nach der Einschätzung des Historikers Henri Bangou wird in diesem Augenblick die Möglichkeit einer nationalen Unabhängigkeit Guadeloupes gar für immer zu Grabe getragen.5 Aus heutiger Sicht ergibt die historische Beurteilung der Schlacht von Matouba ein eigentümliches Bild. Ihr Ausgang, der von den Historikern des 19. Jahrhunderts als eine Rückkehr zur Ordnung interpretiert worden ist, als ein Sieg Frankreichs und eine Stärkung seiner Position im internationalen Kräfteverhältnis, erweist sich aus der Perspektive Guadeloupes als eine verheerende Niederlage. Der 28. Mai, der den Sieg Frankreichs gegen seine abtrünnige Kolonie besiegelt, hat desaströse Auswirkungen für die Mehrheit der Inselbewohner, die danach fast 50 Jahre auf die erneute Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1848 warten müssen. Auf der anderen Seite hat es die Historiographie Guadeloupes mit einer resistenten Legendenbildung zu tun, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist und bis heute die Rekonstruktion der Tatsachen erschwert. Das vermeintlich heroische Ende des Kommandanten Louis Delgrès hat dazu nicht unwesentlich beigetragen. Bevor ich auf die Bedeutung der Niederlage für Guadeloupe eingehe, gilt es jedoch zunächst, die historischen Quellen über den Kriegsverlauf und die finale Schlacht von Matouba zu bündeln. Als 3 4 5
Vgl. G. Saint-Ruf [wie Anm. 2], S. 69f., sowie J. Adélaïde-Merlande [wie Anm. 1], 1986, S. 82f. Zit. nach André Nègre: La rébellion de la Guadeloupe (1801-1802). Paris 1987, S. 159. Henri Bangou: La révolution et l'esclavage à la Guadeloupe 1789-1802. Epopée noire et génocide. Paris 1989, S. 137.
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Grundlage verwende ich die zeitgenössischen Berichte von Langloys, Boyer de Peyreleau und Ledentu6 sowie (mit einigen Abstrichen) auch das 50 Jahre nach den Ereignissen erschienene Monumentalwerk des Historikers Auguste Lacour7, der, aus Basse-Terre stammend, eine Vielzahl von Zeugenaussagen gesammelt hat. Jenseits der legendären Wucherung um die persönlichen Motive der hauptsächlichen Handlungsträger - Richepance, Delgrès, Ignace und Pélage - sind zumindest ihre Bewegungen auf dem Schlachtfeld rekonstruierbar. Das Expeditionskorps des Generals Richepance, des berühmten Generals der Rheinarmee und Siegers von Hohenlinden, sticht also am 1. April in Brest mit drei Kriegsschiffen, vier Fregatten und insgesamt 3520 Mann Besatzung8 in See und ankert am Nachmittag des 6. Mai 1802 vor Pointe-à-Pitre. Begleitet wird Richepance von General Sériziat mit zwei Fregatten und 200 Soldaten aus der Garnison der vorgelagerten Insel Marie-Galante, die unter der Kontrolle des entmachteten Befehlshabers Lacrosse geblieben ist. Die so verstärkte und zum Gefecht bereite Truppe wird beim Einmarsch in Pointe-à-Pitre jedoch auf eine unerwartete Weise empfangen. Der vermeintliche Fürst der Aufständischen, Brigadekommandant Magloire Pélage, steht stramm salutierend vor einem Begrüßungskomitee und bittet gehorsamst um den Befehl seines Gegenübers. Diese Szene - von Boyer de Peyreleau und Lacour im Detail beschrieben - offenbart in aller Schärfe die paradoxe Ausgangssituation des Krieges. Während Bonapartes General sich anschickt, einen Aufstand niederzuschlagen, erwartet der provisorische Gouverneur von Guadeloupe, der während seiner sechs Monate währenden Amtszeit ohne Nachricht aus Paris geblieben ist, sehnlichst seine legitime Ablösung durch die Mutterrepublik. Offenbar hatte Pélage im Oktober 1801 als ranghöchster Offizier das Gouverneursmandat nur auf Drängen des sich in Auflösung befindlichen Kolonialrates übernommen. Er hatte eingewilligt, um zu vermeiden, daß der Oberbefehl an einen seiner radikaleren Gefolgsleute fiel, Delgrès oder Ignace, die mit der Revolution Haitis unter Toussaint Louverture sympathisierten, und hatte zu keiner Zeit daran gedacht, die Unabhängigkeit Guadeloupes offiziell zu 6 J. Th. Langloys (Hg.): Mémoire pour le chef de brigade Magloire Pélage, et pour les habitans de la Guadeloupe, chargés, par cette Colonie, de l'Administration provisoire, après le départ du Capitaine-Général Lacrosse, dans le mois de brumaire an X. 2 Bde. Paris 1803. Eugène-Edouard Boyer de Peyreleau: Les Antilles françaises, particulièrement la Guadeloupe, depuis leur découverte jusqu'au 1er novembre 1825. Ouvrage orné d'une carte nouvelle de la Guadeloupe et de quatorze tableaux statistiques. 3 Bde. Paris 1825. M. Ledentu: Précis des événements qui se sont passé à la Guadeloupe pendant la liberté des Noirs, de 1794 à 1803. In: Revue coloniale 2 (April 1844), S. 416-467. 7 Auguste Lacour (1856): Histoire de la Guadeloupe. Bd. III. Aubenas (Ardèche) I960. Was die Anzahl der Texte aus dem 19. Jahrhunderts angeht, übertrifft das Centre des archives d'outre-mer in Aix-enProvence bei weitem das Schwester-Archiv in Gourbeyre (Guadeloupe). Sich auf letzteres beziehend, geht der Historiker Nick Nesbitt noch davon aus, daß nach Boyer de Peyreleau der Lacoursche Text die „prochaine référence à Delgrès dans les archives" sei (Nick Nesbitt: Aperçu de l'historiographie au sujet de Louis Delgrès. In: Bulletin de la société d'histoire de la Guadeloupe (1996), Nr. 110, S. 9-37, hier S. 16.
8 Die genaue Zusammensetzung der fünf Bataillone (aus der 66., 19. und 82. Halbbrigade) sind im Service historique de l'armée de terre in Vincennes (Dossier: „Armées de la République, 4e Subdivision, SudOuest, Indes Occidentales, Guadeloupe et Martinique, années 1772 à 1802") einzusehen. A. Lacour kommt diesen Zahlen - im Unterschied zu den z. T. imaginären Größenangaben selbst der heutigen Historiker („7 460", sagt z. B. Saint-Ruf [wie Anm. 2], S. 93) am nächsten: „3 470 hommes [...] deux vaisseaux [...] quatre frégates" (Lacour [wie Anm. 7], S. 238).
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proklamieren. So steht es zumindest in der Verteidigungsschrift Langloys' {Mémoire pour le chef de brigade Magloire Pélage, et pour les habitons de la Guadeloupe), durch die der 1803 in Paris des Landesverrates angeklagte Offizier einen ehrenhaften Freispruch erwirkte. Pélage, verwundert über die feindliche Gesinnung des Generals, aber in seiner Ehre als französischer Offizier unerschütterlich, entgeht seiner Verhaftung allein auf Vermittlung von Sériziat, der ihn aus früheren Verhandlungen mit der provisorischen Regierung kannte Das Begrüßungskommitee wird abkommandiert und die Garnison des Fort La Victoire zur Truppenansicht außerhalb der Festung befohlen. Bei der Ausführung dieser Order kommt es zum Bruch zwischen Pélage und seinem ersten Offizier Ignace, der es ablehnt sich zu ergeben und noch am Abend in der Gefolgschaft von etwa 250 Soldaten die Flucht ergreift. Zur gleichen Zeit wird die komplette Garnison des Fort La Victoire entwaffnet und in Fesseln auf die Schiffe des Richepance transportiert. Dieser Verlust von etwa 600 Soldaten bedeutet eine entscheidende Schwächung der Armee Guadeloupes, die zwei Tage später in den Krieg gegen Frankreich ziehen wird. Die Einkerkerung der schwarzen Soldaten in die Kielräume der Schiffe, die im übrigen ohne die aktive Mithilfe Pélages nicht in dieser Form hätte durchgeführt werden können, erinnert an die Praktiken des Sklavenhandels und hat den besonderen Effekt der Demütigung des Gegners. Doch obwohl Richepance durch seine Handlungsweise eindeutig seine Intentionen zu erkennen gibt, weicht der Brigadekommandant nicht von seiner Haltung des unbedingten Gehorsams ab. Wohl wissend, daß er mit Richepance die Rückkehr zum Ancien Régime unterstützt und seine republikanischen Prinzipien verrät, bleibt Pélage bis zum Ende auf der Seite der Angreifer und wird am 25. Mai höchstselbst den Angriff auf Baimbridge in der Ebene von Stiwenson anfuhren, bei dem Ignace vernichtend geschlagen wird. Durch den kampflosen Fall von Pointe-à-Pitre ist der eine Flügel der schmetterlingsförmigen Insel bereits verloren. Ignace schifft in der Nacht zum 7. Mai in Petit-Canal auf Grande-Terre ein, landet in Lamentin auf Basse-Terre und marschiert von dort die Westküste entlang über Sainte-Rose, Pointe-Noire und Bouillante in die Hauptstadt Basse-Terre. Auf dem Weg ruft er in größter Eile zum Aufstand gegen die drohende Wiedereinführung der Sklaverei, so daß ihm am Abend neben den 200 ausgebildeten Soldaten etwa 500 mehr schlecht als recht ausgerüstete Kämpfer Folge leisten. Im Fort Saint-Charles von BasseTerre treffen sie auf das Hauptkontingent der ehemaligen Kolonialarmee Victor Hugues', etwa 1000 seit dem Waffenstillstand mit den Vereinigten Staaten beschäftigungslose Soldaten9, die unter dem Befehl des Bataillonskammandanten Louis Delgrès stehen. Über die tatsächliche Herkunft und das Leben des Mulatten Louis Delgrès, den die mündliche Überlieferung zum tragischen Helden der fehlgeschlagenen Nation machen wird, weiß die Geschichte wenig zu sagen. Wie sein Gegenspieler Pélage ist Delgrès 1766 in Martinique geboren. Sein Status ist vermutlich der eines Sklaven, der sich durch den Militärdienst freigekauft hat.10 1793-94 kämpft er unter Rochambeau in Martinique gegen die
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Nach Langloys besteht die „Force armée de la Guadeloupe" im Oktober 1801 insgesamt aus „environ deux milles nègres marins qui depuis le renouvellement du traité d'amitié avec les Etats-Unis d'Amérique se trouvaient condamnés à l'oisiveté" (Langloys [wie Anm.6], Bd. I, S. 126). André Nègre legt jedoch Hinweise fur die Abstammung des Offiziers aus der Familie eines „Louis Delgrès, blanc créole martiniquais, Receveur du Roi, et Directeur des Domaine du Roi à Tobago" und
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Engländer, wird als Gefangener nach England deportiert und gelangt von dort nach SaintMalo in Frankreich. Zum Leutnant befördert und in das „Bataillon des Antilles" eingegliedert kommt er mit Victor Hugues nach Guadeloupe, kämpft 1797 in Sainte-Lucie, wo er wieder in Gefangenschaft gerät und erneut die Reise nach England antreten muß. Nach einem Gefangenenaustausch zurück in Saint-Malo, erklimmt Delgrès die Karriereleiter der französischen Armee bis zum Dienstgrad des .commandant de bataillon' (Oberstleutnant) und wird mit den entsprechenden Epauletten geschmückt 1799 in Begleitung des Agenten Baco zurück nach Guadeloupe geschickt. Interessant ist zu bemerken, daß die Lebensdaten des Delgrès, angefangen vom Geburtsdatum und der sozialen Herkunft bis hin zur doppelten Verschickung ins Mutterland, exakt mit denen des Pélage übereinstimmen, mit dem Unterschied, daß dieser es in Frankreich bis zum ,commandant de brigade' (also einem Oberst) gebracht hat. Als Delgrès zum letzen Mal aus Rochefort in Richtung Guadeloupe aufbricht, ist er nach Pélage, der sich auf dem gleichen Schiff befindet, der ranghöchste farbige Offizier, den die Antillen bis dahin hervorgebracht haben." Im Gegensatz zu Pélage entscheidet sich Delgrès sofort gegen Richepance, nachdem ihm Ignace am Abend des 7. Mai von den Geschehnissen in Pointe-à-Pitre berichtet hat. Lacour zitiert ihn mit den Worten: „On en veut à notre liberté, mes amis; sachons la défendre en gens de cœur, et préférons la mort à l'esclavage!" 12 Als die Schiffe des Generals am Morgen des 8. Mai vor Basse-Terre stehen, läßt Delgrès sie mit Kanonenfeuer empfangen. Damit ist ein Krieg erklärt, dessen Ende bereits nach 20 erreicht ist.13 Richepance läßt den in Pointe-à-Pitre zurückgebliebenen Sériziat die Ostküste entlang in Richtung Basse-Terre marschieren und geht selbst nördlich von Baillif an Land. In den folgenden Tagen kommt es zu heftigen Gefechten entlang der Rivière des Pères. Nach dem Zusammenbruch der Verteidigungslinie am 11. Mai verlagern sich die Kämpfe nach Basse-Terre und Belost, wo eine Gegenoffensive unter Ignace, Kirwan und Dauphin die drohende Einkesselung der Stadt vorübergehend aufhalten kann. Auf der anderen Seite gelingt es General Sériziat mit Hilfe des ortskundigen Pélage, die Aufständischen am 13. Mai in Dolé und Morne Houël entscheidend zu schlagen, worauf er am 14. bei Ducharmoy mit Richepance zusammentrifft. Delgrès und seine Offiziere sind gezwungen, sich in das Fort Saint-Charles zurückzuziehen, wo sie vom 15. bis 22. Mai den Angriffen der Franzosen standhalten können. Die Zahl der Opfer auf Seiten der Aufständischen ist unmöglich anzugeben. Die am wahrscheinlichsten zutreffenden Schätzungen pendeln zwischen 500 und 1 000 Toten. Die Verluste auf Seiten Richepances fallen vermutlich nicht viel geringer aus. Der Brief des Richepance an den Konsul Bonaparte, welcher die einzige, jedoch gern zitierte Quelle14 ist,
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einer „dame Elisabeth Morin, dite Guiby, Mulâtresse martiniquaise qui était la maîtresse du Receveur" dar (Nègre [wie Anm. 4], S. 38f.). Mit Ausnahme natürlich des Haitianers Toussaint Louverture, der 1797 zum General ernannt wurde. Lacour [wie Anm. 7], S. 252. Zur Truppenbewegung und Schlachtabfolge vgl. die Abbildungen aus Jacques Adélaïde-Merlande (Hg.): La Guadeloupe. Les Antilles et la Révolution française. Itinéraires. Office Régional du Patrimoine Guadeloupéen. o. O. 1991, S. 36-43. Ein Abdruck der „Lettre du Général Richepanse [sic!] au ministre de la Marine et des Colonies du 9 prairial an 10" findet sich in George Sainte Croix de la Roncière: Grandes Figures Coloniales II. Le Général Richepanse. La G u a d e l o u p e de 1801 à 1810. Paris 1933, S. 1 3 9 - 1 5 0 . D i e Verunstaltung des
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erwähnt nur die Namen der gefallenen Offiziere, so daß sich die vorsichtshalber nicht angegebene Zahl der betrauerten „braves soldats" auf vielleicht 300 bis 500 beläuft. Auffallend ist jedoch die Entscheidung des Generals, nach zunächst erfolglosen Angriffen auf das Fort, die 600 auf den Schiffen eingesperrten schwarzen Soldaten in seine Truppen zu integrieren. Der Entschluß des Richepance ist bezeichnend sowohl für den Zustand seiner Männer, die dem Brief zufolge durch heftige „fièvres tropicales" dahingerafft werden, als auch für sein Vertrauen in die Loyalität Pélages, der sich als Anführer und Kämpfer gegen Delgrès als besonders „vaillant" und „intrépide" erweist. Ist Pélage ein ehrenhafter, weil bedingungslos gehorsamer Offizier, oder müssen wir Pélage einen Verräter nennen? Werden die Aufständischen im Fort Saint-Charles durch den Anblick ihrer schwarzen Brüder, die unter dem Befehl des Feindes kämpfen, entmutigt? Die Historiker (v. a. Boyer de Peyreleau, Ledentu und Lacour) heben das Ungleichgewicht in der Kriegstechnik und der Kampferfahrung zwischen den Parteien hervor. Sie beschreiben Horden von in Panik geratenen Plantagenarbeitern, die mit Spitzen oder Macheten bewaffnet Unruhe in die Schlachtreihen bringen, die Gegenangriffe von Delgrès eher behindern als unterstützen und die Zahl der Opfer in die Höhe treiben. Ein entscheidender Vorteil für Richepance ist jedenfalls die Konzentration der Kämpfe auf den südlichen Teil von Basse-Terre. In Pointe-à-Pitre und den Abymes von Grande-Terre, durch die Bindung von Sériziats Truppen im Süden ohne militärische Kontrolle, scheinen größere Aufstände ausgeblieben zu sein. Von sogenannten Greueltaten wird nur aus der Stadt Basse-Terre berichtet, wo angeblich unter der Ägide des als besonders grausam dargestellten Ignace die verbliebene weiße Minderheit Opfer von Morden und Plünderungen wird. Delgrès gilt dagegen als ehrenhafter und mit dem Kriegsrecht vertrauter Gegner, der beschwichtigend auf seinen ersten Offizier einwirkt.15 Lacour berichtet sogar von einer eintägigen Feuerpause, vermutlich am 19. Mai, die Delgrès bei Richepance erwirkt, um beim Löschen eines Großbrandes in der Stadt mit 150 Soldaten behilflich zu sein.16 Die Anekdote wirft ein besonderes Licht auf Delgrès, wenn man bedenkt, daß er am Ende selbst das Feuer legen wird. Die Löscharbeiten haben General Richepance jedoch nicht daran gehindert, in der Zwischenzeit - dem Frieden von Amiens sei Dank - beim Gouverneur von Dominica englische Kanonen zu entleihen. Das endlich effektive Bombardement der Festung dauert vom 20. bis 22. Mai. Am Abend des 22. Mai muß Delgrès aufgeben und verläßt mit etwa 1 000 Kämpfern - Männern wie Frauen - das Fort Saint-Charles offenbar unbemerkt (!) über eine Hin-
Namens .Richepance' in (einen von reicher Speise gesättigten) .Richepanse' wird übrigens von einigen Historikern bis heute fortgeführt. 15 Die ,schwarzmalende' Charakterisierung der Helden Guadeloupes geht auf die Kolonialisten unter den Historikern des frühen 19. Jh.s (v. a. die Offiziere Langloys und Boyer de Peyreleau) zurück. Die vermutlich frei erfundenen (oder zumindest stark übertriebenen) Massaker der „révoltés" werden von nachfolgenden (ebenso kolonial gesinnten) Autoren wie Augustin Cochin (L'Abolition de l'esclavage. Paris 1861) oder Jean Marie Pardon (La Guadeloupe, depuis sa découverte jusqu'à nos jours. Paris 1881) in .faits historiques' umgewandelt. Noch im 20. Jh. wird von Autoren wie Jules Saintoyant (La Colonisation française pendant la période napoléonienne. Paris 1931) oder Sainte Croix de la Roncière [wie Anm. 14] die Grausamkeit bzw. .Bestialität' der Aufständischen hervorgehoben. 16 Lacour [wie Anm. 7], S. 290f. Lacour sucht im Gegensatz zu den meisten seiner schreibenden Zeitgenossen den Offizier Delgrès zu rehabilitieren: „Delgrès n'était pas un homme cruel; loin de là, il avait de la grandeur dans l'âme, de la générosité dans le caractère" (ebd.).
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tertür, die .poterne des Galions'. 17 Geführt von Ignace, marschieren 600 von ihnen noch in der Nacht die Ostküste entlang über Capesterre nach Point-à-Pitre mit dem Ziel, auf Grande-Terre neue Kräfte zu mobilisieren. Die übrigen ziehen sich mit Delgrès auf den Stützpunkt Anglemont zurück, der hoch in den Bergen in Reichweite des Vulkans Soufrière gelegen ist. Auf dem Gelände einer verlassenen ,.Habitation^ errichtet Delgrès seine Barrikaden und bezieht ein ehemaliges Herrenhaus, das während der Kämpfe als Lagerstätte für die Pulverreserven gedient haben soll. Es heißt, der Kommandant habe einem möglichen Mißerfolg von Ignace entgegengesehen und alle Beteiligten darauf eingeschworen, im Zweifelsfall tatsächlich den Tod der Sklaverei vorzuziehen.19 Ignace überquert die Rivière Salée am Abend des 23. Mai und steht am nächsten Morgen vor Pointe-à-Pitre. Warum er die ungeschützte Stadt nicht einnimmt, weiß niemand zu sagen. Statt dessen begeht er den schweren Fehler, sich in der Festung von Baimbridge zu verschanzen, die - in der Ebene liegend - leicht von den Truppen der Verfolger eingeschlossen wird. Die Stürmung von Baimbridge erfolgt am 25. Mai, angeführt von General Gobert und Pélage. 175 Aufständische sterben im Gefecht, die übrigen (laut Lacour etwa 200) werden am Folgetag nach Pointe-à-Pitre geführt und dort erschossen. Damit begrenzt sich der Krieg an den letzten beiden Tagen auf die Barrikaden der Habitation d'Anglemont. Als Delgrès diese am Nachmittag des 28. Mai nicht mehr halten kann, legt er Feuer an die Pulverreserven und sprengt das Haus mit sich selbst und allen Kombattanten in die Luft.
II. Nach dem Ableben des letzten zeitgenössischen Historikers Auguste Lacour (im Jahre 1869) scheinen sich vor allem die Legende und die literarische Fiktion der Geschichte von Louis Delgrès angenommen zu haben. Angefangen bei Gustave Aimard im Jahre 1876 erstreckt sich über Guy Tirolien und Aimé Césaire bis hin zu Daniel Maximin20 eine hundertjährige Tradition der fiktionalen Interpretation der Schlacht von Matouba, die eine Fülle von historisch unüberprüfbaren Detailbeschreibungen hervorgebracht hat. Meine These ist, daß mit dem Erscheinen des Romans von Aimard eine Legende um den Ort Matouba entsteht, welche im Laufe der Zeit, da die personale Zeugenschaft sich verliert, an deren Stelle tritt. Die These lautet weiter, daß die am Ende des 20. Jahrhunderts erneut einsetzende Historiographie - insbesondere Germain Saint-Ruf, André Nègre, Henri Bangou und Jacques Adélaïde-Merlande - sich ihrerseits der fiktionalen Hinterlassenschaft bemächtigt und die Legende gleichsam sanktioniert. So ist es möglich geworden, daß sich die historische Überlieferung vom Sieg einer französischen Armee über eine aufständische Kolonie in die Le17 18 19 20
Vgl. Boyer de Peyreleau [wie Anm. 6], Bd. III, S. 135 sowie Lacour [wie Anm. 7], S. 299. Der Terminus Habitation bezeichnet eine koloniale Besitzung, ein ,Haus' und das dazu gehörende Land. Lacour [wie Anm. 7], S. 320f. Gustave Aimard: Le chasseur de rats II. Le Commandant Delgrès. Paris 1876. Aimé Césaire: Mémorial de Louis Delgrès. In: ders.: La Poésie. Paris 1994, S. 356-361. Guy Tirolien: La Mort de Delgrès. Poème dramatique en un acte. In: ders.: Balles d'or. Paris 1961, S. 31-36. Daniel Maximin: L'Isolé Soleil. Paris 1981.
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gende vom heldenhaften Selbstmord einer karibischen Widerstandsbewegung gewandelt hat. Mit zwei Überlegungen, erstens zum Ort des Schlachtfeldes von Matouba und zweitens zur Person Delgrès, möchte ich diese These erläutern. Den Anstoß zu diesen Gedanken wie im Übrigen zur Beschäftigung mit dem Thema überhaupt - erhielt ich durch die anstehenden Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag der Schlacht von Matouba, die zur Zeit in der Kommune Saint-Claude für das Jahr 2002 vorbereitet werden. Dabei hat mich insbesondere die Tatsache neugierig gemacht, daß das örtliche Kulturamt Archäologen in den Grand Parc von Matouba entsandt hat, um den genauen Ort des Selbstmordes von Delgrès ausfindig zu machen.21 Offensichtlich ist das Wissen von jener Habitation d'Anglemont, das die Historiker des 19. Jahrhunderts besaßen, heute nicht mehr überprüfbar. Gleichzeitig gibt es jedoch (nicht nur unter den Historikern) in Guadeloupe ein ausgeprägtes Verlangen, den in mehr als zweihundert Jahren der Erinnerung und der Fiktionalisierung zum Mythos gewandelten Ort in die Geschichtsschreibung zurückzuholen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die älteren Historiker den Weg zur „Habitation d'Anglemont" beschreiben, ist in der Tat frappierend. Nach der Darstellung des siegreichen Generals Richepance sei Anglemont eine durch ihre Höhenlage natürliche Festung, eine große Freifläche im Hinterland einer „Habitation Guichard", welche ihrerseits von einer Flußgabelung geschützt auf einer Hochebene liege: „L'ennemi avait ses avant-postes en avant de l'habitation Guichard, au sommet de l'angle formé par la rivière Noire et la rivière des Pères, dont les rives sont à pic et à plus de 50 pieds de profondeur; leur masse se trouvant placée à la vaste habitation d'Anglemont, toujours défendue par les rivières et fortifiée de parapets armées de palissades et de canons."22 Lacour verwendet 50 Jahre später den gleichen Wortlaut: Guichard sei eine „vaste terrasse [...] élevée au-dessus du sol, ayant un parapet [qui] présentait une sorte de fortification" und befinde sich „au sommet de l'angle formé par les rivières" (also eine Flußgabelung überragend), nur präzisiert er, daß es sich nicht um den Zusammenfluß der Rivière-Noire und der Rivière des Pères handele sondern um die von Rivière-Noire und Rivière Saint-Louis.23 Eine französische Militärkarte aus dem Jahre 1808 scheint diese Information zu bestätigen.24 Dem Zeichner Thyrus Pautrizel zufolge könnte der Ort „Danglemont" auf der Höhe 21
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Auftraggeberin dieser 1998 im Rahmen der 150-Jahrfeier zur Abschaffung der Sklaverei initiierten archäologischen Mission ist die „Direction régionale des Affaires culturelles" (DRAC) von Saint-Claude. Laut Auskunft (vom 03. 10. 2000) des Leiters des „Service Archéologique", Herrn Xavier Rousseau, ist zwar das wahrscheinliche corpus delicti - nämlich das Kellergewölbe der Maison d'Anglemont inzwischen entdeckt worden, eine archäologische Überprüfung der These hat jedoch auf dem Privateigentum (einer Bananenplantage) bislang nicht stattfinden können. Richepance: Lettre au ministre de la Marine et des Colonies, 1802 (zit. nach : Sainte Croix de la Roncière [wie Anm. 14], S. 145). Lacour [wie Anm. 7], S. 325. Thyrus Pautrizel: „Carte militaire du Matouba et du Gommier, dans les hauteurs de Basse-Terre, isle de la Guadeloupe, soumise à Son Excellence le Général en chef Ernouf, Capitaine-Général de la Guadeloupe et dépendances. Par son très obéissant serviteur, Thyrus Pautrizel fils, Capitaine adjudant du Corps impérial du Génie", 1808. Dessin au crayon (76,5 · 45,0 cm) Bibliothèque Nationale, Cartes et Plans, Ge. C. 18411. Die historische Verläßlichkeit dieses seltenen Kunstwerkes (vermutlich die Kopie einer noch älteren Karte, Abb. 4) ist jedoch stark eingeschränkt. Der Nordosten der Kommune verschwindet in einem Grauton am oberen Kartenrand. Allein eine Doppellinie mit dem (als Fußnote ,A'
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der heutigen Besitzung „Habitation la Marguerite" gelegen haben. Der entscheidende Angriff der Franzosen wäre somit von St-Claude aus über den Morne Houël erfolgt, von wo die zwei Bataillone der 66. Halbbrigade zur Rivière aux Ecrevisses gelangten, welche die Westgrenze des Areals von Matouba bildet. Doch die Wirklichkeit dieser Bewegung ist nicht gesichert (die Truppen des „chef de bataillon" Cambriels könnten ebensogut nach Norden in Richtung des Ortes Matouba gezogen sein). Die Namen der Besitztümer „Lasalle", „Grand-Marigot" oder „Limonon", die der ortskundige Lacour 1858 noch wie selbstverständlich anfuhrt, um die Bewegung des ortsunkundigen Generals Richepance genauer zu bestimmen25, klingen heute nicht weniger befremdlich als die „grande science des lieux" der Götter Eshu und Orisha, durch welche der Romancier Daniel Maximin die Habitation d'Anglemont ins Imaginäre entrückt.26 Ein Blick in eine heutige Karte genügt, um festzustellen, daß der Zusammenfluß der Rivière-Noire und der Rivière Saint-Louis lediglich die südöstliche Grenze des Areals von Matouba bildet. Die von hier in nordwestliche Richtung zu ziehende Linie über „la Marguerite" und Ste-Anne nach Matouba, auf der drei Kilometer und etwa 300 Höhenmeter zu überwinden sind, ließe sich über diesen Ort hinaus (über die „Trace Victor Hugues") noch weitere 5 Kilometer sowie 800 Höhenmeter bis an den Fuß des Vulkans Soufrière verfolgen.27 Wir sind aus heutiger Sicht auf Vermutungen bzw. auf die Hoffnung auf einen Erfolg der archäologischen Expertise angewiesen und müssen eine Topographie des Schlachtfeldes von Matouba mangels exakter Daten der Zukunft anheimstellen. Die ungenaue Lage der letzten Schlacht ist jedoch nicht das einzige Rätsel der Geschichte, das die Historiker hinterlassen haben. Genau genommen sind wir im Unklaren darüber, was überhaupt an jenem Ort, der heute als Symbol der Tapferkeit der Guadeloupeaner gefeiert wird, geschehen ist. Unbestritten ist allein die Tatsache der Kriegsniederlage, die ungefähre Zahl der Opfer, etwa 400 Männer, Frauen und Kinder, sowie die Todesart der Aufständischen, der Selbstmord. Alle anderen Fragen sind unbeantwortet: Wie konnte es zu der Explosion kommen? Hatte Delgrès die Habitation tatsächlich vermint, wie einige behaupten? Wenn man davon ausgeht, daß der Begriff .Habitation' auf eine Besitzung von Weißen schließen läßt, wie hätten dann die Schwarzen dort ihre Pulverreserven lagern können? Was ist mit jenen Weißen geschehen, falls es sie überhaupt gab: Sind sie von Delgrès massakriert worden, wie Boyer de Peyreleau behauptet, oder wurden sie in einem Akt der Milde kurz vor der Tat freigelassen, wie Lacour insinuiert? Warum hat niemand in der Folge den Verlust des Hauses beklagt?
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angefugten) Kommentar: „endroit où je crois qu'il est nécessaire de rompre le chemin par une coupure" zeugt von der Existenz eines Gebietes nördlich der Rivière aux Ecrevisses (dieser Kommentar zeigt im übrigen auch, daß zum Zeitpunkt der Entstehung der Erstfassung dieser Karte die Schlacht noch nicht geschlagen ist). Lacour [wie Anm. 7], S. 328f. Die beiden Haupteigenschaften der fiktionalen Ortsbeschreibung bei Maximin sind die Ubiquität: „les Nègres-marrons utilisant chaque morne, chaque détour de la rivière pour leurs embuscades", und die unmittelbare Nähe zum Feuer des Vulkans (Maximin [wie Anm. 20], S. 54ff.). Unter den Historikern unternimmt 100 Jahre nach den Ereignissen der Guadeloupeaner Oruno Lara noch einmal den Versuch, Licht in das Rätsel zu bringen, indem er Anglemont auf das Gebiet der „Habitation Lignières" transferiert, jedoch reagiert niemand - selbst unter den Zeitgenossen - auf diese Spekulation (vgl. Oruno Lara: Histoire de la Guadeloupe [1492-1920]. Paris 1923, S. 52).
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In Anbetracht all dieser Fragen geben sich die Zeitzeugen auffallend bedeckt. An den entscheidenden Stellen findet man in ausnahmslos allen historischen Texten des 19. Jahrhunderts eine eigentümliche, auf den Brief des Generals Richepance zurückgehende Periphrase, mit der die letzte Tat der Aufständischen lakonisch beschrieben wird: „les ennemis poussés à bout se sauvèrent dans l'habitation, mirent le feu à leur poudre et se firent sauter au nombre de 300, parmi lequel était Delgrès"28. Der Wortlaut ist nahezu identisch bei Langloys, Boyer de Peyreleau, Ledentu sowie bei Jean-Marie Pardon, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreibt.29 „Die Schwarzen legten Feuer an das Pulver und sprengten das Haus in die Luft." Dieser alles und auch nichts erklärende, immer wiederkehrende Satz ist nicht nur ein entlarvendes Phänomen historiographischer Liebe zum Zitat. Die fehlende Information über die Vorgänge in der Habitation d'Anglemont ist das Zeichen eines bestimmten historischen Nichtwissens, vielleicht in Anbetracht der Voreingenommenheit einiger Autoren auch eines gewissen Desinteresses, das der um 1870 einsetzenden Legendenbildung in jedem Fall Vorschub geleistet hat. Meiner These zufolge wäre das Jahr 1876, als der Roman „Le commandant Delgrès" von Gustave Aimard erscheint, ein entscheidendes Jahr für das legendäre Nachleben der Schlacht von Matouba gewesen. Zu dieser Zeit sind die letzten Augenzeugen gestorben und die Nachkommen befinden sich bereits in der dritten oder vierten Generation. Die historische Hinterlassenschaft wird neu organisiert, das Wissen von der Geschichte Matoubas verläßt die personalen Gedächtnisse und bezieht die Archive des kulturellen Gedächtnisses. Es ist aus meiner Sicht bezeichnend, daß das einzige schriftliche Zeugnis dieser Jahre aus der Feder eines französischen Romanschriftstellers stammt.30 Gustave Aimard, mit bürgerlichem Namen Olivier Gloux, 1818 in Paris geboren, ist Seefahrer, Abenteurer und Autor einer ganzen Reihe auflagenstarker Piraten- und Goldsucherromane, die im 20. Jahrhundert zum größten Teil vergessen wurden. Nach stilistischen Kriterien zu urteilen ist sein Buch über Delgrès nichts als ein Unfall in einer allzu proliferierenden Textproduktion. Als zufälliges Produkt einer unterbrochenen Reise nach Brasilien entstanden, geht der Roman jedoch ganz unerwartet in die Geschichte Guadeloupes ein bzw. tritt als Fiktion an die Stelle der Historiographie. Aimard hält sich an die historischen Begebenheiten und den zeitlichen Rahmen der Schlacht (seine Quelle ist ganz offensichtlich Lacour), würfelt die Protagonisten aber wild durcheinander und paßt deren Motive und Handlungen den Erfordernissen der romanesken Intrige an. Auch die exakte Lage des Ortes ist für die Zwecke Aimards unwichtig, der Wald, die Flußgabelung und die Nähe zum Vul-
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Richepance [wie Anm. 22], S. 147. Langloys [wie Anm. 6], Bd. I, S. 296; Boyer de Peyreleau [wie Anm. 6], Bd. III, S. 142; Ledentu [wie Anm. 6], S. 454; sowie Pardon [wie Anm. 15], S. 133. Lacour malt dagegen die Szene etwas aus: Delgrès und Claude sitzen mit einer Fackel in der Hand auf einem „canapé [...] dans le salon au rez-dechaussée", wohin eine „traînée de poudre depuis la mine" führt, die sie auf das Signal eines „coup de fusil" in Brand setzen: „Une épouvantable détonation se fait entendre, et l'on voit voler en éclats la maison d'Anglemont" (Lacour [wie Anm. 7], S. 331 f.). Dieses Bild ist unübersehbar die Quelle des 20 Jahre später schreibenden Romanciers Gustave Aimard. Der einzige zur Zeit Aimards schreibende .Historiker', J. M. Pardon [wie Anm. 15], zeichnet sich v. a. durch selektives Kopieren älterer Quellen aus. Zum Begriff des .kulturellen Gedächtnis' vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.
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kan reichen für die Imagination des Schriftstellers. Hervorgehoben wird allein die Vorstellung der Uneinnehmbarkeit jenes schlicht „Matouba" genannten Refugiums durch den Schutz der Natur. Die Hauptperson ist eine Frau, Mlle de la Brunerie, die Tochter eines weißen Plantagenbesitzers, in die - wie sollte es anders sein - sich die Anfuhrer beider Kriegsparteien verlieben. Auf ihre Initiative kommt es zu mehreren Treffen zwischen Delgrès und Richepance, die sich in Wirklichkeit nie begegnet sind. Die Kontrahenten fuhren sogar Friedensverhandlungen in einem Streitgespräch, das mit philosophischen Debatten für oder wider die Sklaverei angereichert ist und bei dem Delgrès als der Apologet der Freiheit und als der eigentliche Wahrer der Menschenrechte von 1789 gezeichnet wird. Die Verhandlungen scheitern, der Angriff auf Matouba beginnt, und nach der ausufernd, fast blutrünstig beschriebenen Selbstsprengung des Delgrès31 kommt der uneinsichtige und etwas gemeine Richepance zu einem Sieg, den er am Ende mit der Hochzeit der Brunerie noch gebührend feiern kann. Die Einzelheiten dieses Romans sind nicht weiter erwähnenswert. Es ist mir jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, daß einige der hier frei erfundenen Begebenheiten im 20. Jahrhundert als vermeintliche Elemente historischen Wissens wieder auftauchen, und zwar nicht nur in der Literatur von Césaire bis Maximin sondern auch in der Historiographie von Oruno Lara bis André Nègre und Jacques Adelai'de-Merlande.32 Der Grund dafür liegt meines Erachtens darin, daß Aimard sich als erster um eine ausführliche Darstellung der Unterlegenen bemüht hat. Nicht daß Aimard in seiner Sichtweise der Schwarzen von den Vorwürfen des Klischees freizusprechen wäre - ganz im Gegenteil. Es ist jedoch festzustellen, daß Delgrès in dem Buch des französischen Abenteurers, wenn auch fiktiv und absolut überzeichnet, zum ersten Mal überhaupt einen Charakter und ein Gesicht erhält. Dem Anführer der Aufständischen werden eine „puissante intelligence" und eine „grandeur de vue"33 bescheinigt, die ihn aus der Masse der Aufständischen herausstechen lassen, sein Charakter wird als träumerisch und melancholisch34 gezeichnet, sein Mut und seine Bestimmtheit als außerordentlich gelobt, und seine politische Weitsicht nimmt fast prophetische Züge an.35 In diesem Stil transportiert der Roman seitenweise vermeintliches Detailwissen über den Kommandanten. Während der letzten Stunden vor der Explosion von Anglemont, die im übrigen vom in Sprengstoffangelegenheiten erstaunlich bewanderten ,aide de camp' Claude minuziös vorbereitet wird, sehen wir Delgrès im Kreise seiner
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„Tout à coup une épouvantable détonation se fit entendre. La terre trembla sous les pieds des combattants; une immense gerbe de feu s'élança dans les airs; un nuage horrible formé d'une poussière sanglante, de corps humains affreusement mutilés et de débris de toute sorte, informe et sans nom, voilà pendant quelques minutes l'éclat du jour!" (Aimard [wie Anm. 20], S. 343). Adélaïde-Merlande nennt explizit Aimard: „La légende [d'Ignace, chef de nègres marrons, G. K.] paraît provenir d'un roman de Gustave Aimard, d'Oeil de Rat [sic!], le commandant Delgrès. Ce qui a été le fruit de l'imagination du romancier a été pris parfois pour vérité historique" (Adélaïde-Merlande [wie Anm. 1], S. 96). Aimard [wie Anm. 20], S. 43. Aimard [wie Anm. 20], S. 109. „Nous succomberons, mais [...] nos noms nous survivront sur l'océan des âges; nous léguerons notre exemple [...] à ceux qui viendront après nous et qui, plus heureux que nous [...] conquerront cette liberté dont nous aurons été les précurseurs! [...] Le siècle qui commence [fera] une date grandiose dans te martyrologe de l'humanité" ( A i m a r d [wie A n m . 20], S. 55, H e r v o r h e b u n g G. K.).
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Freunde mit einer Geige traurige Weisen spielen, die als Appelle an künftige Generationen von Kämpfern gegen die Sklaverei gerichtet sind. Ein frappierendes Beispiel für die Nachhaltigkeit dieser Blüten bietet uns ein Portrait von Delgrès, das der kreolische Historiker Oruno Lara im Jahre 1923 präsentiert.36 Die Züge des Kommandanten in diesem „Portrait crayonné", die hohe Stirn, das lange Haar, die durch runde Brillengläser schauenden dunklen Augen, die helle, fast weiße Haut u. s. f. korrespondieren auffallend genau mit der fiktiven Physiognomie aus der Feder von Aimard. Das Portrait ist das einzige Bildnis des Kommandanten, das wir heute besitzen. Es schmückt die Ausgaben der Verlage L'Harmattan, Karthala und Editions Caribéennes, bei denen die zeitgenössischen Historiker ihr Geschichtswissen veröffentlichen. Seine Verbreitung zeigt eindrucksvoll die eigentümliche Verquickung von Historiographie und Legende, zumindest was diesen Teil der Geschichte Guadeloupes betrifft. Doch auch andere Erfindungen Aimards halten sich hartnäckig. Neben der vermeintlichen Musikalität des Kommandanten, dessen Violinspiel bei André Nègre wieder auftaucht37, scheint mir die wichtigste Errungenschaft das Interpretern des heroischen Selbstmordes zu sein. Aimard äußert als erster die gern wiederholte These, Delgrès habe von Anfang an die Aussichtslosigkeit des kriegerischen Unternehmens eingesehen und sich absichtlich mit dem spektakulären Selbstmord ein Denkmal setzen wollen. Diese Überzeugung koinzidiert mit bestimmten Interpretationen der Historiographen, die sich heute um eine antikolonialistische Geschichtsschreibung bemühen. Henri Bangou z. B. macht die Proklamation von Basse-Terre38, in welcher der Kommandant in der Nacht vor dem Angriff des Richepance die Bewohner zu den Waffen ruft, zu einem Schlüsseltext, in dessen Licht Delgrès als der eigentliche Verteidiger der Französischen Revolution erscheint. Bangou, der am Ende der Reihe der zeitgenössischen Historiographen Guadeloupes steht, drückt hier am deutlichsten aus, was sich schon bei Saint-Ruf und Nègre abzeichnet: Pélage schlüpft in die Rolle des entfremdeten Mittlers und Dieners der Franzosen, wohingegen Delgrès die Rolle eines Saint-Just der Inseln übernimmt, begleitet von Ignace, dem unerbittlichen Robespierre. Die ungeklärten Umstände des Endes von Matouba erzeugen bei Bangou nicht den geringsten Zweifel an den Gründen für die Niederlage, es siegen die Feigheit und der Verrat, i. e. die Wiederherstellung der alten Ordnung, die nach dem Wortlaut des Historikers die Form eines Genozides annimmt.39
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Oruno Lara: La Guadeloupe physique, économique, agricole, commerciale, financière, politique, et sociale. De la découverte à nos jours (1492-1900). Paris 1922. (In der Neuauflage des Buches unter dem Titel La Guadeloupe dans l'Histoire (Paris 1979), S. 156). Sehr wahrscheinlich hat der Autor die Zeichnung selbst angefertigt. Nègre [wie Anm. 4], S. 48 beruft sich auf „des historiens [...] qui ont probablement recueilli une tradition orale" [sic!]. Er meint damit v. a. den S. 142f. gerühmten Auguste Lacour. Die nicht genannte Quelle Aimard scheint jedoch auch an anderer Stelle unbestreitbar durch: „Delgrès [...] fut sans doute le seul des insurgés qui se fût rendu compte que leur révolte [...] serait un flambeau pour la postérité" (ebda., S. 150, Hervorhebung G. K.). Die „Proclamation" des Louis Delgrès vom 09. 05. 1802 mit dem Titel: A l'univers entier. Le dernier cri de l'innocence et du désespoir wird bereits von Lacour [wie Anm. 7], S. 253ff. zitiert. Dessen Wortlaut findet sich (exakt) sowohl bei G. Saint-Ruf [wie Anm. 2], S. 107ff. und Nègre [wie Anm.4], S. 125ff. als auch bei Bangou [wie Anm. 5], S. 128f. wieder. „Dans cet holocauste racial qui va prolonger la bataille de Matouba [...] le qualificatif de .génocide' ne peut être nié ni récusé" (Bangou [wie Anm. 5], S. 147f.).
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Es wäre jedoch unzureichend, die fiktionale Unterwanderung des historischen Wissens allein auf den zufalligen Text von Aimard zurückzufuhren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemächtigt sich die Literatur noch einmal von einer ganz anderen Seite des inzwischen zur Legende gewordenen Delgrès. 1960 erscheinen in kurzer Folge die Gedichte Mémorial de Louis Delgrès von Aimé Césaire und La Mort de Delgrès von Guy Tirolien, welche als die ersten von Antillanern selbst geschriebenen fiktionalen Texte über die Episode von Matouba in die Geschichte eingehen. Die Beschäftigung der beiden berühmten Repräsentanten der Négritude-Bewegung mit dem Revolutionär von 1802 fällt in eine Zeit, da auf den Antillen, im Kontext der Dekolonisierungsprozesse vor allem in Afrika, eine starke politische Unabhängigkeitsbewegung entsteht.40 In Anbetracht des poetischen Genres ist es natürlich müßig, für die Texte historische Quellen zu suchen. Interessant ist allein die Verwendung der Mytheme für die Zwecke der Négritude. Tirolien ζ. B. bezeichnet Delgrès als den Toussaint Louverture von Guadeloupe, der wie der berühmte Revolutionär von Haiti gegen die Weißen einen Krieg auf Ehre oder Tod geliefert habe und schließlich mit dem Freitod in Matouba „die Ehre der schwarzen Rasse rettet".41 Césaire seinerseits beschimpft Gobert und Pélages als „chiens colonialistes"42 und erhebt Delgrès in den Adelsstand der ewigen Märtyrer. Durch die Selbstopferung an jenem Ort, der in der poetischen Fassung Césaires zu einem mythischen „Morne Matouba"43 kondensiert, wird der Kommandant zum Helden der Négritude und zum Symbol der Kolonisierten dieser Erde. Die Selbstverbrennung macht das Ende der Kämpfer von Matouba vergleichbar mit der Selbstopferung der Zeloten im Masada des ersten Jahrhunderts nach Christus. Im Jahre 1981 erscheint schließlich der zu den Gründerwerken der Créolité-Bewegung zählende Roman L'Isolé Soleil von Daniel Maximin. Er ist der erste Teil eines dreiteiligen Romanzyklus', der das Projekt einer fiktionalen „Réécriture" der gesamten Geschichte von Guadeloupe verfolgt. Der Episode von Matouba wird in dem Projekt eine zentrale Bedeutung eingeräumt, und sie wird als Schlüsselereignis für die historische Entwicklung der Insel gewertet. Maximin stellt Delgrès in eine Reihe mit Christoph Kolumbus, dem ,Entdekker' der Antillen, und Victor Schoelcher, dem Vater der endgültigen Abschaffung der Sklaverei von 1848.44 Der Autor beurteilt jedoch den Selbstmord des Kommandanten mit
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Nesbitt [wie Anm. 7], 1996, S. 25ff. zitiert Artikel aus der Zeitschrift L'Etincelle, einem Organ der für die Unabhängigkeit eintretenden Kommunistischen Partei Guadeloupes, in denen bereits in den 1950er Jahren die Figur Delgrès als Symbol für den Widerstand gegen die Assimilationspolitik Frankreichs entdeckt und lanciert worden ist, ζ. B. „La leçon de Delgrès", (02. 06. 1957) oder: „156 ans après le sacrifice inoubliable de Delgrès" (24. 05. 1958). Auch Henri Bangou publiziert hier 1958/9 die ersten Kapitel seiner späteren Histoire de la Guadeloupe. „Delgrès est le Toussaint - Louverture de la Guadeloupe [...] Il sauva l'honneur de sa race [ . . . ] Son souvenir flotte au haut mât de l'île comme une droite flamme de fierté" (Tirolien: La Mort de Delgrès [wie Anm. 20], S. 31). Césaire: Mémorial de Louis Delgrès ([wie Anm. 20], S. 358). „Mome Matouba / Lieu abrupt. N o m abrupt et de ténèbres [...] où les deux rivières / écorcent leurs hoquets de couleuvres" (Césaire [wie Anm. 20], S. 359). Am Ende des Gedichts wird der so verdunkelte Ort gar mit negativen Koordinaten belegt: „la plaie phosphorescente d'une insondable source [ . . . ] au creux de chemins qui se croisent" (ebd., S. 361, Hervorhebung G. K.). Maximin betont die (kuriose) Tatsache, daß die drei Nationalhelden Guadeloupes keine Guadeloupeaner sind: „Nous sommes bien le peuple le moins chauvin de la Terre: nous avons érigé des statues à nos
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negativen Vorzeichen - im Gegensatz zu Césaire - und dekonstruiert damit gleichsam die mythische Überhöhung, welche Delgrès von den Wortführern der Négritude erfahren hatte. Die Tatsache, daß die Legende des Helden nicht auf den Erfolg, sondern gerade auf das Scheitern seiner Befreiungsbewegung zurückzufuhren ist, fuhrt den Autor zur Diagnose eines eigentümlichen negativen Geschichtsbewußtseins der Menschen in Guadeloupe.45 So scheint es aus der Perspektive Maximins paradox, den 28. 5. 1802 als herausragendes Datum der Geschichte zu feiern, da an diesem Tag die Niederlage des Krieges, der Verlust der Unabhängigkeit und die Fortdauer des kolonialen status quo besiegelt worden sei. Trotzdem - oder gerade aus diesem Grunde - ist es fur Maximin besonders wichtig, die .Geschichte' von Matouba neu zu schreiben. Ähnlich wie Aimard erfindet Maximin eine Reihe von Mitstreitern fur Delgrès: die Mulâtresse Béa, ihre Zwillingssöhne George und Jonathan und einen zum Rousseau-Leser geläuterten Ignace.46 Die Protagonisten werden jedoch so inszeniert, daß sie die verschiedenen Positionen der 1980 in Guadeloupe sehr umstrittenen Négritude widerspiegeln und dem Erzähler Anlaß geben, eigene Überlegungen zur negativen Geschichte und deren Überwindung zu entwickeln. Als Kritiker der zwar prophetischen aber vor allem selbstmörderischen Haltung des Delgrès konstituiert sich die Gruppe der Nègres Marrons um Ignace, die fur die Fortfuhrung des Kampfes in anderen Regionen der Insel plädieren. Sie fungieren als die eigentlichen Urheber des Manifestes von der fehlgeschlagenen Nation, das nach dem Untergang von Matouba durch die Frauen (TiCarole, Siméa und Marie-Gabriel in der Maximinschen Genealogie) fortgetragen wird. Der berühmte Kommandant Delgrès erscheint angesichts seiner Resignation beinahe im Lichte eines Verräters. Obwohl Maximin sich in diesem Punkt von den zur gleichen Zeit schreibenden Historikern unterscheidet, kann man mit Sicherheit annehmen, daß die langjährige Tätigkeit des Schriftstellers im „Conseil Régional" von Basse-Terre nicht ohne Einfluß auf den politischen Bedeutungsgewinn gewesen ist, welchen der Kommandant Delgrès inzwischen erfahren hat. Eine der Errungenschaften ist z. B. die Umbenennung des Fort Saint-Charles, das fast zwei Jahrhunderte ,Fort Richepance' geheißen hat, in das heutige ,Fort Delgrès'. 47 Vielleicht kommt bei Maximin insgesamt am deutlichsten zum Ausdruck, welchen Wert für die Menschen in Guadeloupe die Suche nach der eigenen Hinterlassenschaft in der Aus-
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trois héros nationaux: Colomb le Génois, Schoelcher le Parisien, et Delgrès le Martiniquais!" (Maximin [wie Anm. 20], S. 85). „As-tu remarqué [...] à quel point le suicide est le seul héroïsme de nos îles écrasées [...] Que de sang dans nos mémoires [...] je me demande s'il ne faut pas nous débarrasser d'urgence de tous ces pères qui ne nous ont laissé que leur mort comme souvenir éclatant" (Maximin [wie Anm. 20], S. 86). Ignace (in wörtlicher Rede): „La seule leçon que je veuille accepter pour mes hommes, ma femme et mes enfants et celle que je retiens par cœur de l'étude du père de nos philosophes" (Maximin [wie Anm. 20], S. 47). Diese Herausstellung des Ignace als Intellektuellen und gleichwertigen Mitstreiter von Delgrès nimmt auf der Ebene der Fiktion eine Deutung vorweg, die einige Jahre später die Historiographie erreicht (vgl. Roland Anduse: Joseph Ignace le premier rebelle de 1802. La révolution antiesclavagiste guadeloupéenne. Paris 1989). Paris weigerte sich dagegen standhaft, einem Antrag von Bertrand Delanoë (13. 01. 1995) stattzugeben, und seine ,rue Richepance' (1er Arrondissement) in ,rue Delgrès' umzubenennen „et de suivre l'exemple de Basse-Terre en Guadeloupe" (Antilla [1995], Nr. 620, S. 21). Der damalige Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac, ließ verlautbaren, daß der General schließlich auch im ,Arc de Triomphe' verewigt sei.
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einandersetzung mit ihrem Mutterland hat. Der Roman L'Isolé Soleil zeichnet die Bedeutungswege nach, die der Ort Matouba durch die Geschichte der Insel gegangen ist, vom Stigma der Niederlage (die gleichzeitig den Sieg für einen Gegner bedeutet, welcher die Frage der Nationalität für die Unterlegenen bis heute bestimmt) über die Zeit des Vergessens bzw. des oralen und legendären Fortdauerns gegen die Schreibmacht der Sieger. Gleichzeitig fragt der Text kritisch nach den ideologischen Positionen, die in den verschiedenen Stationen der Wiedererinnerung (und der politischen Instrumentalisierung) seit 1950 zum Ausdruck gekommen sind. So ist Louis Delgrès bei Maximin nicht nur die tragische Figur einer zum Mythos gewandelten Geschichte, er repräsentiert ebenso die moralische Instanz des Menschen, der aus den (interpretatorischen) Fängen sowohl der kolonialen Historiographie als auch der antikolonialen Hagiographie zu befreien ist.
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Abb. 1: Mouvement général des troupes de Richepance, aus: Jacques Adéli'de-Merlande (Hrsg.): „La Guadeloupe.. Les Antilles et la Revolution française. Itinéraires". Office Régional du Patrimoine Guadeloupéen.
Abb. 2: „Marche du général Sériziat et jonction avec Gobert", aus: ebd., S. 41.
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Abb. 3: „Marches d'Ignace et de Delgrès", aus: ebd., S. 43.
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Abb. 5: „Portrait crayonné de Louis Deigrès", in: Oruno, Lara (1922): „La Guadeloupe dans l'Histoire". Paris 1979, S. 156.
ULRICH BRÖCKLING
Schlachtfeldforschung. Die Soziologie im Krieg
Das Schlachtfeld ist ein Kontingenzraum par excellence. Es ist die Zone der Friktionen, jener unvorhergesehenen und oft unvorhersehbaren Widrigkeiten und Bremskräfte, die nach Clausewitz' Wort „den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier" unterscheiden.1 Zugleich ist es der Ort der fortune, der unverhofften Chance, des plötzlich sich wendenden Glücks. Kontingenz bezeichnet jedoch nicht nur die unverfugbare Sphäre des Zufalls, sondern auch die verfugbare des menschlichen Handelns.2 Auch diese Seite tritt im Krieg und seiner räumlichen wie zeitlichen Verdichtung auf dem Schlachtfeld besonders deutlich hervor: Mehr als andere Formen des Handelns nötigt der „erweiterte Zweikampf' (Clausewitz) auf Leben und Tod alle Akteure zu einem Höchstmaß an strategischem wie taktischem Kalkül, zu rationellem Kräfteeinsatz und effizienter Gewaltanwendung. Das schließt minutiös vorbereitete und koordinierte Operationen ebenso ein wie spontanes Improvisieren, Befehl und Gehorsam ebenso wie Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Schließlich ist das Schlachtfeld ein Ort extremer Affekte - vom Stupor der Todesangst bis zum Furor des Kampfrausches - , die das Handeln hemmen oder enthemmen und seine Richtung verändern. Die radikalisierte Erfahrung von Kontingenz verlangt nach nicht minder radikalen Konzepten zu ihrer Steuerung. Hier liegt der Grund für die Rigidität militärischer Gehorsamsforderungen und Disziplinierungspraktiken. Daß nicht festliegt, wie der Feldzug, die Schlacht, ja wie der einzelne Kampfakt ausgeht, schließt keineswegs aus, daß man Einfluss darauf nehmen kann. Im Gegenteil: Militärisches Handeln ist Kontingenzmanagement mit dem Ziel, alle Aktivitäten auf die Steigerung des eigenen beziehungsweise die Schwächung des gegnerischen Gewaltpotentials auszurichten. Paradox gesprochen, ist es gerade die unhintergehbare, aber niemals im Voraus bestimmbare Grenze aller Planung und Organisation, welche die militärischen Anstrengungen zur Kontrolle des individuellen wie kollektiven Handelns im Krieg hervortreibt. Darunter fallen die Modi der Rekrutierung und Truppen-
1 Carl von Clausewitz: Vom Kriege. 16. Aufl. Bonn 1952, S. 160. 2 Michael Makropoulos: Möglichkeitsbändigungen. Disziplin und Versicherung als Konzepte zur sozialen Steuerung von Kontingenz. In: Soziale Welt 41 (1990), S. 407ff.; vgl. auch ders.: Modernität und Kontingenz. München 1997.
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gliederung, die Ausbildungsprogramme und Kommandostrukturen, aber auch die Waffen-, Transport- und Kommunikationssysteme fungieren in dem Maße als Technologien der Kontingenzverarbeitung, wie sie die Wahrnehmung und den Aktionshorizont der Kombattanten präformieren. Wer steuern will, braucht nicht nur Macht, sondern auch Wissen. Um mit den Friktionen umgehen bzw. um sie umgehen zu können, muß man sie kennen. Wiederum paradox gesprochen: Man muß mit dem rechnen, was sich der Berechnung entzieht. Clausewitz hielt dazu die persönliche Kriegserfahrung für wichtiger als alle Theorie: Nur sie sollte dem militärischen Steuermann jenes intuitive Gespür für die Situation vermitteln können, das nötig ist, um „bei jedem Pulsschlag des Krieges, immer passend [zu] entscheiden und zu bestimmen", nur durch sie „kommt ihm der Gedanke von selbst: das eine geht, das andere nicht". 3 Mochte auch die Schule des Schlachtfelds für den Offizier unverzichtbar sein, so reichte es doch nicht aus, die militärische Menschenführung auf bloßes Erfahrungswissen zu gründen. Von den Anfängen neuzeitlichen Kriegswesens an waren die militärischen Eliten vielmehr überzeugt, daß die Praxis gesicherter methodischer Grundlagen bedürfe: Mit wissenschaftlicher Akribie wollten schon die Oranierprinzen und ihr intellektueller Mentor, der Humanist Justus Lipsius, die Disziplinierung der Soldaten betrieben wissen, und von der Sozialgeometrie und PoliceyWissenschaft des Absolutismus, über die patriotischen Energielehren des 19. Jahrhunderts bis zur Indienstnahme der Sozialwissenschaften, insbesondere der Psychologie und Soziologie, im 20. Jahrhundert begleitete stets systematische Wissensproduktion den Krieg wie die Zurichtung seines Personals und leitete diese (wenigstens dem Anspruch nach) an. Die unmittelbare Zone des Kampfes geriet dabei allerdings erst in jüngerer Zeit in den Blick der Forschung. Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Geschehen auf dem Schlachtfeld selbst dominierten lange Zeit operationsgeschichtliche Studien, die vor allem als historische Exempla im Rahmen der Offiziersausbildung dienten. Die Soldaten tauchten darin lediglich als Spielfiguren auf, die im sprichwörtlichen Sandkasten hin- und hergeschoben wurden, blieben im übrigen aber ein unbekannter Faktor X. Sieht man von Ausnahmen wie den Mitte des 19. Jahrhunderts verfaßten „Études sur le Combat" des französischen Infanterieoffiziers Ardant du Picq ab, 4 hielt man eine planmäßige Erforschung ihres Verhaltens, ihrer Motive und Erlebniswelten für unmöglich oder überflüssig. Noch die Nervenärzte, die während des Ersten Weltkriegs jene zahllosen unter den Schrecken der Fronteinsätze psychisch zusammengebrochenen Soldaten behandelten und dabei die Grenzen zwischen Therapie, Dressur und Folter verwischten, interessierten sich für das, was ihre Opfer erlitten hatten, nur insoweit, wie sie es brauchten, um ihre Konditionierungsprogramme darauf abzustellen.5 Die psychologischen Eignungstests wiederum, die ebenfalls während des Ersten Weltkriegs entwickelt und zumindest in den USA flächendeckend eingesetzt wurden, erfaßten zwar neben spezifischen Fähigkeitsprofilen auch die allgemeine Belastbarkeit, nicht aber die realen Belastungen, denen die künftigen Soldaten auf den Schlachtfeldern ausgesetzt
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Clausewitz [wie Anm. 1], S. 162. Charles Ardant du Picq: Études sur le Combat. Paris 1978; vgl. John Keegan: Das Antlitz des Krieges. Frankfurt a. M./New York 1991, S. 78ff. Vgl. dazu Ulrich Bröckling: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München 1997, S. 207ff. (dort auch weitere Literatur).
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sein würden. Und wenn sich einmal zivile Wissenschaftler aufmachten, die Einstellungen und das Verhalten der Soldaten vor Ort zu untersuchen, versperrten ihnen oft genug die Militärbehörden den Weg an die Front. So verhinderte die Zensur 1914/15 eine von Otto Lipmann und William Stern, dem Vater von Günther Anders, vorbereitete Studie zur „Psychographie des Kriegers".6 Die Ergebnisse der geplanten Befragung hätten das propagandistisch geschönte Bild vom heldenhaften und kameradschaftlichen Geist der Truppe ankratzen können. Moniert wurde aus dem umfangreichen Fragebogen unter anderem die Frage, ob Vorgesetzte ihre Stellung ausnutzten, um sich Vorteile auch zum Schaden ihrer Untergebenen zu verschaffen. So genau wollte man es auf militärischer Seite gar nicht wissen. Feldforschung auf dem Schlachtfeld war unerwünscht. Psychologen, Soziologen und andere Humanwissenschaftler sollten dort nur dann etwas zu suchen haben, wenn sie ihre Profession fur die Dauer des Krieges an den Nagel hängten und sich selbst in die kämpfende Truppe einreihten. Die Abneigung des kaiserlichen Militärs gegen Umfragen unter den Soldaten beruhte nicht zuletzt auf einem von der Logik sozialwissenschaftlicher Forschung grundlegend unterschiedenen Konzept von Kontingenzbegrenzung: Während die militärischen Instanzen auf normative Steuerung setzten, also auf die traditionellen Disziplinierungspraktiken, gestützt durch moralische Aufrüstung und Sanktionierung von Abweichungen, operiert die empirische Sozialforschung normalistisch und erhebt zunächst möglichst unvoreingenommen den Status quo, um dann ausgehend von statistisch aggregierten Durchschnittswerten Einflußfaktoren zu isolieren, auf die sich die Anstrengungen zur Verhaltensoptimierung richten. Suspekt waren auch die politischen Implikationen der Befragungsaktionen, deren Egalität des one man, one questionnaire die demokratische des one man, one vote vorwegnahmen und öffentliche Kommunikation an die Stelle militärischen Arkanwissens setzten. Als ein Substitut von Meinungsforschung unter obrigkeitsstaatlichen Bedingungen können allenfalls die militärische Briefzensur sowie geheimpolizeiliche Lageberichte über die Stimmung in der Truppe gelten. Eine systematische Rückkopplung zwischen den durch Bespitzelung und Postüberwachung erhobenen Informationen und administrativen Maßnahmen erfolgte in Deutschland allerdings erst während des Zweiten Weltkriegs.
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The American Soldier
Es mag der größeren Verbreitung von polls und anderer Methoden empirischer Sozialforschung in den USA, aber auch der für zivile Wissensimporte eher offenen Kultur der amerikanischen Armee geschuldet sein, daß diese 1941 eine soziologische Forschungsabteilung etablierte und ein im Umfang bis dahin einmaliges Untersuchungsprogramm durchführen
6 So Paul Plaut: Psychographie des Kriegers. In: Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. H. 21 (1921), Vorbemerkung, unpag. Der Autor konnte filr seine Literaturstudie auf die Vorarbeiten aus dem Institut für angewandte Psychologie zurückgreifen und dokumentiert auch das von Lipmann und Stern entworfene Frageschema (S. 11 Iff.).
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ließ.7 In mehr als zweihundert Einzelstudien befragte ein aus Zivilisten und Militärs zusammengesetztes Forscherteam, unterstützt von zahlreichen in den jeweiligen Truppeneinheiten rekrutierten Helfern bis Ende 1945 mehr als 500.000 Soldaten. Die Auswertung offizieller Statistiken, qualitative Erhebungen wie teilnehmende Beobachtungen und offene Interviews, aber auch sozialpsychologische Experimente insbesondere zur Wirkung von Propagandafilmen ergänzten die Repräsentativumfragen. Mehr als 90 Forscher arbeiteten bei Kriegsende allein in der Zentrale in Washington; weitere 50 waren an der größte Zweigstelle in Europa beschäftigt. Als Berater fungierten führende amerikanische Soziologen wie Paul F. Lazarsfeld, Robert K. Merton und Rensis Likert. Der Auftrag der Research Branch war angewandte Sozialforschung - „a practical engineering job, not a scientific job". 8 Methodologische Grundsatzfragen traten schon aufgrund des enormen Zeitdrucks in den Hintergrund: „Es waren Feuer zu löschen und es war besser, sie mit Wasser oder Sand zu bekämpfen, als sich auf das Studium der Chemie zu konzentrieren, um eine neue Art von Feuerlöscher zu entwickeln."9 Die Forscher hatten rasch und zuverlässig Informationen über die Einstellungen und das Verhalten der Soldaten zu liefern, auf welche die Armeefuhrung ihr policy making stützen konnte. Im Extremfall sollten binnen 24 Stunden eine Blitzumfrage durchgeführt, ausgewertet und der Untersuchungsbericht an die zuständige Dienststelle weitergeleitet werden. Neben der Auftragsforschung im engeren Sinne entwickelte die Research Branch eigene Untersuchungsvorhaben, die mögliche soziale und psychologische Probleme prognostizieren und so die Militärbehörden in die Lage versetzen sollten, präventiv zu intervenieren. Ein monatlich erscheinendes Bulletin What the Soldier Thinks informierte Stäbe und Truppenkommandeure über laufende Forschungsergebnisse. In der Summe ergab sich, wie der Leiter der Abteilung Samuel A. Stouffer im Rückblick schrieb, „ein Bergwerk von Materialien, in ihrer Größenordnung vielleicht ohne Parallele in der Geschichte irgendeines einzelnen Forschungsunternehmens in der Sozialpsychologie oder Soziologie".10 Nach dem Krieg wurden die ungeordneten Datenberge noch
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Widerstände der militärischen Instanzen waren allerdings auch hier zu überwinden: Noch im Mai 1941 hatte der Secretary of War eine Direktive erlassen, die Meinungsumfragen in der Armee untersagte. Erst Fredrick H. Osborn, ein Geschäftsmann und selbst Autor zweier sozialwissenschaftlicher Werke, der wenig später zum Leiter der Morale Division (später umbenannt in Information and Education Division) avancierte, erhielt, nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Freundschaft mit Roosevelt und der Unterstützung des Generalstabschefs George C. Marshall, die Bewilligung, Repräsentativbefragungen in der Armee durchzuführen, und baute zu diesem Zweck die Research Branch auf. Die erste Befragung fand am 8. Dezember 1941, einen Tag nach der Bombardierung von Pearl Harbour, statt. Vgl. Samuel A. Stouffer u. a.: The American Soldier. Adjustment During Army Life. Studies in Social Psychology in World War II. Vol. 1. Princeton, N.J. 1949, S. 12ff.; John Madge: The Origins of Scientific Sociology. London 1962, S. 288f. 8 Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 1 [wie Anm. 7], S. 5. 9 Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 1 [wie Anm. 7], S. 37, Übersetzung dieses und der folgenden Zitate U.B. („There were fires to be put out, and it was better to throw with water or sand on the fires than to concentrate on studying chemistry to develop a new kind of extinguisher."). 10 Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 1 [wie Anm. 7], S. 29f. („We have here a mine of data, perhaps unparalleled in magnitude in the history of any single research enterprise in social psychology and sociology.").
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einmal ausgewertet und in vier voluminösen Bänden unter systematischen Gesichtspunkten zusammengefaßt. " Dem praktischen Interesse der Auftraggeber entsprechend konzentrierten sich die Erhebungen gut funktionalistisch vor allem auf das personal adjustment, die Anpassung insbesondere der unteren Dienstgrade an die Zumutungen von Militärdienst und Krieg. Aus der Perspektive der Militäradministration erwies sich die soziologische Eingreiftruppe dabei als durchaus erfolgreich: „Durch die rein instrumenteile Anwendung der den Generalen neuen soziologischen Ansätze und Methoden bei der Verbesserung militärischer Organisationsstrukturen, der Lösung von Führungs- und Leitungsproblemen bei der Personalsteuerung sowie der Analyse fremder Sozialsysteme und der Kampfmoral der verschiedenen Feinde [hatte] sie sich .bewährt'." 12 Beim Forschungsdesign wie bei den theoretischen Grundannahmen standen unverkennbar die zivile Wahl- und Marktforschung sowie die Betriebsstudien der Human-Relations-Schule Pate. Untersucht wurden unter anderem die Wünsche und Klagen der Mannschaften hinsichtlich ihrer Ausrüstung und Versorgung, die Ausbildungsprogramme, das Freizeitverhalten, die Einstellung gegenüber den alliierten Truppen und der Zivilbevölkerung in den Einsatzgebieten, die Beziehungen zwischen Offizieren und Mannschaften, weißen und farbigen Armeeangehörigen, Altgedienten und Nachrückern, schließlich die Pläne der Soldaten für die Zeit nach ihrer Entlassung. Nur eine vergleichsweise kleine Zahl von Erhebungen beschäftigte sich unmittelbar mit der Kampfmotivation und dem Gefechtsverhalten.13 Im Zentrum standen dabei die Bodentruppen. Den Forschern entging zwar keineswegs, daß mit der wachsenden Maschinisierung der Kriegführung der genormte Einheitsinfanterist mehr und mehr durch eine Vielzahl technischer Spezialisten abgelöst wurde. Gleichwohl erschien ihnen die Rolle des rifleman, des gemeinen Schützen, als paradigmatisch, um das Verhalten des Soldaten im Krieg zu beschreiben. Nicht allein aufgrund der quantitativen Bedeutung der Infanterie während des Zweiten Weltkriegs, sondern weil „der Kampf am Boden die Belastungen und subjektiven Bremskräfte, die in die Kriegführung hineinspielen, am deutlichsten zeigte".14 Gerade diese Studien erwiesen sich als besonders einflußreich: Sie fanden ihren Niederschlag in veränder-
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Studies in Social Psychology in World War II. Vol. 1: Samuel A. Stouffer u. a.: The American Soldier: Adjustment During Army Life. Vol. 2; Samuel Stouffer u. a.: The American Soldier: Combat and its Aftermath; Vol. 3: Carl I. Hovland/Arthur A. Lumsdaine/Fred D. Sheffield: Experiments on Mass Communication; Vol. 4: Samuel Stouffer u. a.: Measurement and Prediction. Princeton, N.J. 1949/50. Daß diese Veröffentlichungen von militärischer Seite genehmigt wurden, war auch in den USA keineswegs selbstverständlich: René König berichtet, Stouffer habe ihm gegenüber geäußert, „der American Soldier sei gerade noch im letzten möglichen Moment erschienen; denn bei der unmittelbar nach Erscheinen ausgebrochenen Koreakrise und überhaupt der neuen politischen Konstellation hätte die Sicherheitsbehörde zweifellos ein Veto gegen die Publikation ausgesprochen" (René König: Vorwort. Einige Bemerkungen zu den speziellen Problemen der Begründung einer Militärsoziologie. In: ders. u. a. (Hg.): Beiträge zu Militärsoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 12. Köln/Opladen 1968, S. 7.). 12 Ekkehard Lippert: Verzögerte Aufklärung. Zur jämmerlichen Lage der deutschen Militärsoziologie. In: Mittelweg 36. 4. Jg.(1995). H. 3, S. 24. 13 Der Anhang von Vol. 2 [wie Anm. 11] (S. 645 ff.) enthält eine tabellarische Aufstellung der durchgeführten Untersuchungen. 14 Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 59 („In ground combat the stresses and countermotives involved in warfare can be seen in their simplest terms.").
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ten militärischen Ausbildungskonzepten und einer Reorganisation des Ersatzwesens, stießen zahlreiche Nachfolgeuntersuchungen an und gaben vielfältige Impulse für die soziologische Theoriebildung insbesondere zur Bedeutung informeller Gruppenbeziehungen.
II. What keeps them going Das Erkenntnisinteresse der Research Branch war auch hier höchst praktisch: Man untersuchte, wie weit vor dem Fronteinsatz geäußerte Selbsteinschätzungen der Soldaten hinsichtlich ihrer Kampfbereitschaft und -fähigkeit mit ihren tatsächlichen Leistungen korrespondierten, wie weit also die Erhebung der Kampfmotivation prognostische Schlußfolgerungen erlaubte; und man bemühte sich herauszufinden, welche Faktoren den Kampftruppen halfen, den extremen Streß auf dem Gefechtsfeld auszuhalten. Dabei ging es nicht darum, subjektive Motivlagen oder gar deren biographische Hintergründe zu erkunden und beispielsweise das individuelle Aggressivitätsniveau oder die Angstanfälligkeit zu messen. Das hätte zum einen ausfuhrliche Tiefeninterviews oder psychologische Tests erfordert, zum anderen wären die so gewonnenen Informationen für die militärische Führung weitgehend nutzlos gewesen, da sie nicht auf Personal von besserer psychischer Konstitution warten konnte, sondern das vorhandene möglichst effizient einsetzen mußte. Gehalten, Wissen zu produzieren, das umgehend in administrative Entscheidungen einfließen konnte, und angewiesen auf Datenerhebung mittels repräsentativer Umfragen, konzentrierten sich die Forscher der Research Branch darauf, soziale und situationsbezogene Einflußvariablen des Kampfverhaltens zu ermitteln und diese in eine Rangfolge zu bringen. So legten sie Rückkehrern von Fronteinsätzen die Frage vor, „Generally, from your combat experience, what was most important to you in making you want to keep going and do as well as you can?"15, oder baten sie anzugeben, woran zu denken am meisten geholfen hatte, „when the going was tough"16. Den Erhebungen lag ein energetisches Modell des personal adjustment zugrunde: To keep going, das war die allgemeinste Formel für die militärischen Anforderungen an den Einzelnen, und die Befragungsaktionen sollten klären, welche Antriebskräfte ihn dazu befähigten. Umgekehrt bestimmte man den Kampfeinsatz generell als Streßsituation und spezifizierte ein komplexes Bündel von Stressoren, die als Bremskräfte die Funktionstüchtigkeit der Soldaten behinderten und sie im Extremfall zusammenbrechen ließen.17 Diese Konzeptualisierung erlaubte es, quantifizierbare und operationalisierbare Variablen herauszupräparieren, um die Kräfteverhältnisse im Sinne einer Effizienzsteigerung zu beeinflussen. Fünf Hauptquellen individueller Kampfbereitschaft machten die Forscher dabei aus: Politische Überzeugungen über die Notwendigkeit des Krieges oder patriotische Identifikationen waren zwar als Hintergrundorientierungen von Belang, in den Kampfeinheiten stand es allerdings unter Tabu, sie offen zu kommunizieren. Die Aversion gegen jedweden
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Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 108. Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 174f. Stouffer u. a.: T h e American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 77ff.
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Hurrapatriotismus gehörte zum Grundbestand des informellen Gruppencodes: „Der Kern dieser Haltung unter den Fronttruppen war offensichtlich, daß jede Äußerung, die idealistische Werte und Vaterlandsliebe nicht der härteren Realität der Kampfsituation unterordnete, als heuchlerisch galt und deijenige, der solche Überzeugungen äußerte, als ein Heuchler. Der übliche Kommentar, der den Widerwillen gegen idealistische Predigten beschwor, war ein verächtliches .bullshit', das die Überlegenheit der harterkämpften, unsentimentalen Perspektive des Frontsoldaten zum Ausdruck brachte."18 Wenn auch die meisten Soldaten zutiefst überzeugt waren, auf der richtigen Seite zu stehen, so gaben doch bei Umfragen in vier Infanteriedivisionen mit Fronterfahrung immerhin mehr als 40 Prozent der Unteroffiziere und Mannschaften an, „sehr oft" oder „gelegentlich" das Gefühl zu haben, der Krieg sei den Einsatz nicht wert.19 Der Einfluß von Haß- oder Rachegefühlen gegen die Feinde war starken Schwankungen unterworfen und hing unter anderem davon ab, auf welchem Kriegsschauplatz die Befragten eingesetzt waren, ob sie Greueltaten des Gegners erlebt hatten und welche Verluste die eigene Einheit erlitten hatte. Auffällig ist, daß die G.I.'s dem japanischen Gegner gegenüber weitaus feindlicher eingestellt waren als gegenüber den Deutschen. Insgesamt jedoch spielten solche Empfindungen für die Kampfmotivation keine zentrale Rolle. Resümierend stellen die Forscher fest: „In seinen täglichen Sorgen nahm der Frontsoldat meist die Tatsache des Kriegs und seine grundsätzliche Pflicht, gegen den Feind zu kämpfen, als gegeben hin. Seine Stellung in der Army ließ ihm keine andere Wahl. Die Fragen nach den Hintergründen des Kriegs erschienen ihm eigenartig unwirklich im Vergleich zu den Problemen und Nöten seiner tagtäglichen Existenz."20 Ein zweiter Faktor waren die Zwangsmittel der militärischen Autorität:21 Die Kriegsartikel, die den Soldaten wenigstens alle sechs Monate vorgelesen werden sollten, sahen harte Sanktionen, bis hin zur Todestrafe für Vergehen wie Desertion oder Feigheit vor dem Feind vor. Die Wirkung der Strafandrohung beruhte allerdings weniger darauf, daß sie den Soldaten vor die Alternative stellten, zwischen einem möglichen Tod auf dem Schlachtfeld und dem sicheren Tod durch ein Exekutionskommando zu wählen.22 Tatsächlich wurde während des Zweiten Weltkriegs „nur" ein G.I. wegen Fahnenflucht hingerichtet.23 Die Funktion der
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Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 150 („The core of the attitude among combat men seemed to be that any talk that did not subordinate idealistic values and patriotism to the harsher realities of the combat situation was hypocritical, and the person who expressed such ideas a hypocrite. The usual term by which disapproval of idealistic exhortation was invoked was .bullshit', which conveyed a scornful expression of the superiority of the combat man's hard-earned, toughminded point of view."). Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 152. Stouffer u.a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 167 („In his everyday concerns, the combat man mostly took the existence of the war and the general task of fighting the enemy for granted. His position in the Army gave him no real choice. The issues behind the war were singularly unreal to him in contrast to the issues and exigencies of his day-to-day existence."). Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 112ff. Genau das hatte Hitler der Wehrmacht als Abschreckungsprogramm verordnet: „Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben" (Mein Kampf. München 1935, S. 587). Die übrigen der insgesamt 102 amerikanischen Soldaten, die während des Kriegs zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, waren wegen nicht ausschließlich militärischer Vergehen wie Mord oder Vergewaltigung angeklagt. Zum hingerichteten Deserteur Eddie D. Slovik vgl. William B. Huie: Der Fall
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formalen Sanktionen bestand vielmehr vor allem darin, daß ein Schuldspruch auch informelle Sanktionen nach sich zog und die Delinquenten über das verhängte Urteil hinaus befurchten mußten, aus der Kameradengemeinschaft ausgestoßen oder von ihren Familienangehörigen verachtet zu werden. Hinzu kam die verinnerlichte Norm der Normerfüllung: Wer mit den Militärgesetzen in Konflikt geriet, hatte oft genug auch mit Scham- und Schuldgefühlen zu kämpfen. Diese mittelbaren Disziplinierungseffekte ließen jedoch nach, wenn Truppen über längere Zeit schweren und verlustreichen Kämpfen ausgesetzt waren. Jenseits ihrer strafenden Funktion spielte die militärische Befehlsgewalt - personifiziert im Frontoffizier eine Schlüsselrolle, wenn es darum ging, in unübersichtlichen oder ausweglos erscheinenden Situationen Konfusion oder Lähmung zu überwinden. Es reduzierte die Angst und wirkte so Auflösungserscheinungen entgegen, wenn in einer solchen Lage ein Vorgesetzter per Kommando entschied, was zu tun war. Damit ist bereits der dritte Punkt angesprochen, die Beziehung zu den unmittelbaren Vorgesetzten.24 Die Gruppen- und Zugführer {squad leader, platoon leader) repräsentierten auf der einen Seite die militärische Institution mit ihren Sanktionsmöglichkeiten, auf der anderen Seite hatten sie in der Gefechtssituation die gleichen Gefahren und Entbehrungen auszuhalten wie die Mannschaften und waren eingebunden in die informellen Gruppenstrukturen ihrer Einheit. Im - aus der militärischen Perspektive - günstigen Fall verstärkten sich formale Befehlsgewalt und persönliche Autorität, und der (Unter-)Offizier konnte „seine Männer" nicht zuletzt durch das eigene Vorbild mobilisieren. Wenn sein Kommando allerdings nicht einem pastoralen, sondern einem repressiven Modell der Führung folgte oder er aufgrund von Unsicherheit, Inkompetenz oder Willkür das Vertrauen seiner Untergebenen verspielt hatte, konnte das die Kampfbereitschaft einer Einheit gegen Null tendieren lassen. Nur wer sich verläßlich um die Sicherheit und das Wohlergehen seiner Leute sorgte, vermochte ihnen jene Zumutungen abzuverlangen, die der Fronteinsatz mit sich brachte. Die für das Militär so charakteristischen materiellen und symbolischen Statusdifferenzierungen, von der Höhe des Solds über die Rangabzeichen und Grußvorschriften bis zu den getrennten Kantinen und Latrinen, verloren an der Front an Bedeutung. Kampfeinsätze nivellierten die soziale Distanz zwischen Vorgesetzten und Untergebenen; wichtiger als die Hierarchie der Dienstgrade wurden Gefolgschaftsbeziehungen und Loyalitätsbindungen, deren Verbindlichkeit sich aus den gemeinsamen Extremerfahrungen speiste. Den vierten und vielleicht bedeutendsten Faktor für die individuelle Kampfmotivation bildete der Zusammenhalt in der Primärgruppe,25 Bei den Umfragen nach den subjektiven
des Soldaten Slovik. Genf/Frankfiirt/M. 1959 sowie, darauf aufbauend, Hans Magnus Enzensbergers Bericht: Die Hinrichtung des Soldaten Slovik. In: ders., Politik und Verbrechen. Frankfurt/M. 1964, S. 24Iff. - Zum Vergleich: Die deutschen Wehrmachtsgerichte verhängten bis Kriegsende etwa 23 000 Todesurteile wegen Desertion, wovon mindestens 15 000 auch vollstreckt wurden. Zu diesen von der regulären Militärgerichtsbarkeit verantworteten Justizmorden kamen noch die Todesurteile der Gerichte der Waffen-SS sowie die Massentötungen der Standgerichte, die in den letzten Kriegsmonaten noch einmal mehrere Tausend Soldaten in Schnellverfahren aburteilten und zur Abschreckung „unverzüglich im Angesicht der Truppe" erschießen oder aufhängen ließen. 24 25
Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 118ff. Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 130ff.; vgl. auch die Zusammenfassung und Diskussion bei Edward A. Shils: Primary Groups in the American Army. In: Robert K. Mer-
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Antriebskräften gehörten Antworten, die sich auf die Solidarität mit der Kameradengemeinschaft bezogen, stets zu den am häufigsten genannten. Die Primärgruppe erfüllte zwei wesentliche Funktionen: Zum einen stellte sie einen informellen Verhaltenskodex auf und setzte ihn durch; zum anderen unterstützte und schützte sie den Einzelnen in Streßsituationen, denen er allein nicht gewachsen gewesen wäre. Beide Aspekte waren eng mit einander verbunden: Die Gruppe verschaffte ihren Normen Geltung, indem sie Anerkennung gewährte oder verweigerte, was zugleich einen wesentlichen Teil ihrer Unterstützungsfunktion ausmachte. Der Einzelne wiederum profitierte von seiner Konformität mit den Gruppenregeln, weil diese Anpassungsleistung ihm den psychosozialen Rückhalt sicherte, den er brauchte, um die Belastungen des Fronteinsatzes auszuhalten. Das Gefühl, auf dem Schlachtfeld einer anonymen Vernichtungsmaschinerie ohnmächtig ausgeliefert zu sein und jeden Augenblick getötet werden zu können, warf den Soldaten in einer existentiellen Weise auf sich selbst zurück. Die Gewißheit, Teil einer Gruppe zu sein und sich auf die Kameraden verlassen zu können, vermochte diese Atomisierungserfahrung zwar nicht auszuschalten, aber doch ein Stück weit zu kompensieren. Der Aufenthalt in der Feuerzone schweißte die Überlebenden zusammen und riß zugleich eine unüberbrückbare Kluft zu all jenen auf, denen diese Erfahrung fehlte. Meist stellte sich das Bewußtsein, gemeinsam etwas durchgemacht zu haben, das andere niemals verstehen können, erst im nachhinein ein, aber schon während der Kämpfe empfanden die Frontsoldaten in hohem Maße ihre wechselseitige Abhängigkeit, ihre gemeinsame Einsamkeit und die Welten, die sie von denjenigen trennten, die niemals im Feuer gestanden und auf den Feind geschossen hatten.26 So sehr die Forscher der Research Branch auch die Bedeutung informeller Gruppenbeziehungen für Kohäsion und Kampfbereitschaft der Truppen betonten, so wenig Zweifel ließen sie doch daran, daß die Armee keinesfalls als bloße Ansammlung von Primärgruppen zu verstehen war. Die affektiven Bindungen und soziale Kontrolle in der Kameradengemeinschaft überlagerten zwar, zumindest in der Gefechtssituation, die formalen Befehlsstrukturen und Sanktionsdrohungen, aber sie ersetzten sie nicht. Zwar konnte die Gruppenloyalität durchaus in Widerspruch zu den Dienstvorschriften geraten, sei es in Form des verbreiteten „Organisierens" von Heeresmaterial, sei es als offene oder verdeckte Befehlsverweigerung oder als kollektive Überschreitung bei Alkoholexzessen, Vergewaltigungen oder Plünderungen. Die Untersuchungsergebnisse belegten allerdings, daß in der Regel die Primärgruppensolidarität die Bereitschaft zur Erfüllung des „offiziellen" Auftrags förderte und die beiden Normengefüge sich wechselseitig ergänzten. In den Kampfeinheiten gehörte es zwar gewissermaßen zum guten Ton, auf die Armeeführung oder die „Etappenschweine" zu fluchen, die sich weitab von der Front ein schönes Leben machten, während man selbst im Dreck lag und seinen Kopf hinhielt. Dieses „Dampfablassen" beeinträchtigte jedoch nicht die Gehorsamsbereitschaft, sondern es entlastete und half die Zumutungen des Einsatzes zu ertragen.
26
ton/Paul F. Lazarsfeld (Eds.): Continuities in Social Research. Studies in the Scope and Method of „The American Soldier". Glencoe, 111. 1950, S.16ff. Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 100 („Those who had shot upon the enemy and had themselves been fired upon in that thin forward zone, had a consciousness of shared experience under great emotional stress which they felt others could never understand. This consciousness became clear mostly after action, when in the rear or in reminiscence. But even during battle, soldiers at the front felt strongly their mutual dependence, their common loneliness, their separate destiny apart from all who were not at the front.").
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Die Verschränkung und wechselseitige Verstärkung der institutionellen und Primärgruppennormen zeigte sich insbesondere bei der Codierung von Männlichkeit. Die Forderung, „ein Mann zu sein", gehörte zu den allgemeinsten Rollenerwartungen an den einzelnen Soldaten. Sie entsprach den gesellschaftlichen Vorstellungen von der Armee als Sozialisationsinstanz, war als Subtext den militärischen Ausbildungsprogrammen eingeschrieben und bildete auch ein zentrales Element im Verhaltenskodex der Primärgruppen. Diese konstituierten sich nicht nur als Schutz- und Solidargemeinschaften, sondern auch als egalitäre Männerbünde, die ihren Zusammenhalt über die Abwertung vermeintlich weiblicher Eigenschaften herstellten und homoerotische Libido in Aggressivität nach außen transformierten. Um vor den Kameraden nicht als unmännlich zu gelten, hatten die meist jungen Soldaten genau jene kämpferischen Qualitäten zu demonstrieren, die auch die Armee als Institution von ihnen erwartete. Die „Feuertaufe" des ersten Fronteinsatzes fungierte so nicht zuletzt als Initiationsritual, das den Novizen Gelegenheit gab, sich und anderen ihre Maskulinität zu beweisen. „Der Kampf war ein Wagnis", schreiben dazu die Militärsoziologen der Research Branch. „Niemand konnte sicher sein, ihm gewachsen zu sein, bis er es praktisch gezeigt hatte. Die meisten Soldaten, die einem Fronteinsatz entgegensahen, hatten im vorhinein mit massiven Angstgefühlen zu kämpfen. Je mehr sie hörten, wie hart es an der Front zuging, desto stärker waren ihre Unsicherheit und Zweifel, ob sie mit ihrer Angst fertig werden würden. Der Einsatz selbst konnte so fast zu einer Entlastung werden; ,ins kalte Wasser' gestoßen zu werden, löste die quälende Spannung des Zweifeins und Wartens." 27 Die Befürchtung, die Mutprobe nicht zu bestehen und in der Gefechtssituation zu versagen, traf die jungen Männer im Kern ihres meist noch ungefestigten Selbstbilds. Bedrohlicher als mögliche Sanktionen der Vorgesetzten wirkte dabei die Aussicht, von den Kameraden verachtet oder lächerlich gemacht und aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Im Gegensatz zu traditionellen Männlichkeitsstereotypen bemühte sich die Army, den Rekruten in der Ausbildung zu vermitteln, daß Angst völlig normal und es kein Zeichen von Schwäche sei, sie offen zu zeigen. „Wenn du sagst, Du hättest keine Angst", hieß es im offiziellen Trainingshandbuch, „bist du ein angeberischer Idiot. Laß Dir von niemandem erzählen, Du seist ein Feigling, wenn Du zugibst, Dich zu ängstigen. Angst unmittelbar vor einer Schlacht ist eine normale Reaktion. Es ist der letzte Schritt der Vorbereitung, trotz allem, was Du gelernt hast, nicht zu wissen, was Dich erwartet. Wenn Dir die Eindrücke des Schlachtfelds vertraut geworden sind, wirst Du Dich verändern. Du wirst Dich an alles erinnern, was man Dir in der Ausbildung beigebracht hat. Das ist die Lösung. Das ist der Augenblick, in dem Du beweisen wirst, daß Du ein guter Soldat bist. Diesen ersten Kampf den Kampf mit dir selbst - wirst Du hinter Dir lassen. Dann wirst Du bereit sein, gegen den Feind zu kämpfen." 28 Die Ergebnisse zahlreicher Befragungen der Research Branch zeigten, 27
28
Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 131 („Combat was a dare. One never knew for sure the he could take it until he had demonstrated that he could. Most soldiers facing the prospect of combat service had to deal with heavy charge of anticipatory anxiety. The more they heard about how tough the fighting was, the greater the anxiety and the insecurity that came from doubt as to whether they could handle the anxiety. Thus, combat might actually come almost a relief - it joined the issue and broke the strain of doubt and waiting."). Zit. nach Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 196 („If you say you're not scared, you'll be a cocky fool. Don't let tell you you're a coward if you admit being scared. Fear before you're actually in the battle is a normal emotional reaction. It's the last step of preparation, the not-
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daß diese permissive Einstellung auch in den Kameradengruppen dominierte und die Mehrzahl der G.I.'s sie übernahm. Allerdings beschränkte sich die Toleranz vieler Offiziere und Soldaten gegenüber Angstreaktionen auf die Zeit vor dem Einsatz.29 Nach dem informellen Verhaltenskodex der Primärgruppen war ausschlaggebend, ob derjenige, der Angst zeigte, sich von ihr überwältigen ließ oder sich bemühte, ihrer Herr zu werden: „Ein Mann, der von der Gefahr sichtlich erschüttert wurde, der heftig zitterte oder in Schluchzen ausbrach wie ein Baby, galt nicht als Feigling, es sei denn, er unternahm keine erkennbaren Anstrengungen, seinen Job zu machen. Wenn er, trotz entschiedener Versuche, seine Kampfaufgabe nicht angemessen erfüllen konnte, galt er als anerkannter Ausfall und wurde nicht dafür getadelt, es nicht geschafft zu haben. Zeigte aber ein Mann die gleichen Angstsymptome und erklärte, er sei unfähig weiterzukämpfen und wolle in die Krankenstation des Bataillons aufgenommen werden, ohne daß er zuvor versucht hatte, seine Symptome zu ignorieren und seinen Teil des Jobs zu übernehmen, dann wurde er als Feigling abgestempelt und zum Gespött der übrigen Männer seiner Einheit."30 Eine fünfte Quelle der Kampfmoral fanden die Forscher schließlich bei den religiösen Bindungen und persönlichen Weltanschauungen,31 Die mit Abstand häufigste Antwort auf die Frage nach den Gedanken, die in harten und gefährlichen Situationen am meisten geholfen hatten, lautete: prayer, Gebete. Die weitere statistische Auswertung ergab jedoch mehrdeutige Befunde, die indirekt wiederum die Bedeutung der Primärgruppenbindung hervorhoben: So ließ sich eine signifikante positive Korrelation zwischen dem individuellen Stellenwert religiöser Praktiken und der Anzahl der Angstsymptome aufzeigen: Diejenigen, die sich am meisten aufs Beten stützten, waren zugleich diejenigen, die am meisten Angst hatten - und trotz ihres Betens behielten. Ein negativer Zusammenhang mit der Angstintensität ergab sich dagegen bei den Soldaten, die äußerten, ihnen habe in der Kampfsituation der Gedanke an die Kameraden („couldn't let the other men down") am meisten geholfen durchzuhalten. Sie artikulierten deutlich weniger Angst, was sowohl den Schluß erlaubte, daß die Einbindung in die Primärgruppe die Angst minderte, wie auch den Umkehrschluß, daß Ängstlichkeit die Fähigkeit reduzierte, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Wenn sich aus den Daten auch keine eindeutigen Aussagen extrapolieren ließen, so sprach doch viel für die Hypothese: Angst lehrt zwar beten, aber mehr als Beten hilft die Gruppensolidarität, mit ihr fertig zu werden.32
29 30
31 32
knowing, in spite of all you've learned. After you've become used to the picture and the sensations of the battlefield, you will change. All the things you were taught in training will come back to you. This is the answer. This ist where you will prove that you are a good soldier. That first fight - the fight with yourself - will have gone. Then you will be ready to fight the enemy."). Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 197, Anm. Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 200 („The man who was visibly shaken by exposure to danger, who trembled violently and who burst out weeping like a baby, was not regarded as a coward unless he made no apparent effort to stick out his job. If, despite trying hard, the man could not perform his combat job adequately, he was regarded as a legitimate casualty and was not blamed for being unable to take it. But if a man showed exactly the same fear symptoms except that he made the claim that he was unable to go on and asked to be sent to the battalion aid station without having shown any previous attempt to disregard his symptoms in trying to do his share of the job at hand, he was labeled as a coward and subject to the scorn of the other men in his unit."). Stouffer u. a.: The American Soldier. Vol. 2 [wie Anm. 11], S. 172ff. Vgl. Shils [wie Anm. 25], S. 26f.
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Insgesamt, so lassen sich die Forschungsergebnisse zusammenfassen, bildete die Primärgruppenbindung nicht nur die wichtigste Einzelvariable der individuellen Kampfbereitschaft, sondern alle übrigen Einflußfaktoren kamen auch nur vermittelt durch die Normen und affektive Unterstützung der Primärgruppe zum Tragen. Wenn ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Gruppenkohäsion und der Kampfleistung bestand, war es von enormer militärischer Relevanz herauszufinden, was den Aufbau dieser Bindungen unterstützte. Die beiden wichtigsten Faktoren, welche die Forscher dabei zutage förderten, waren die Zeit und, damit eng verbunden, die Organisation des Ersatzes. Informelle Gruppenbeziehungen entstanden nicht von heute auf morgen. Deshalb waren Einheiten, die nach Verlusten mit unerfahrenen Ersatzmannschaften aufgefüllt, ebenso wie Verbände, die aus unterschiedlichen Ausbildungseinheiten neu zusammengestellt wurden, weit weniger leistungsfähig als Einheiten, die nach gemeinsam absolvierter Ausbildung geschlossen zum Einsatz kamen und über längere Zeit zusammenblieben. Maßgeblich war ferner der Führungsstil der Unteroffiziere und Offiziere, welche die Fronteinheiten befehligten. Ihr Einfluß auf das „Gruppenklima" war kaum zu überschätzen. Damit formale Kommandogewalt und und informelle Führung zusammenfallen konnten, mußten die Gruppenführer nicht nur über kämpferische und technische Kompetenzen verfügen, sondern auch die Achtung und das Vertrauen ihrer Mannschaften gewinnen. Bestätigt wurden die Untersuchungen der Research Branch durch andere Forscherteams, die noch während des Krieges gefangene Wehrmachtssoldaten befragt und dabei herausgefunden hatten, daß die Kampfmoral der deutschen Truppen trotz aussichtsloser militärischer Lage erst dann zusammengebrochen war, wenn die Soldaten isoliert, ohne den Rückhalt einer Kameradengruppe zu kämpfen gezwungen waren.33
III. Soldaten im Feuer In die gleiche Richtung gingen auch die Beobachtungen Samuel L. A. Marshalls, eines Journalisten und Offiziers, der als Chief Combat Historian der US-Army viele Kriegsschauplätze besuchte und zahlreiche Angehörige der Fronttruppen interviewte. Marshall verarbeitete seine Erfahrungen nach dem Krieg zu einem populären Buch über den Soldaten im Feuer34, das vor allem durch die auf Befragungen in rund 400 Infanteriekompanien gestützte Feststellung Aufsehen erregte, im Durchschnitt hätten nur 15 Prozent der Kampftruppen im Verlauf eines Gefechts auf den Feind geschossen und selbst in besonders erfahrenen Einheiten habe die Rate nicht höher als 25 Prozent gelegen.35 Soldaten im Feuer bildet in vieler Hinsicht das Gegenstück zu den Bänden des American Soldier, ein Musterbeispiel jener So33
34
Edward A. Shils/Morris Janowitz: Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World War II. In: Public Opinion Quarterly 22 (1948), S. 280fF.; M. I. Gurfein/Morris Janowitz: Trends in Wehrmacht Morale. In: Public Opinion Quarterly 20 (1946), S. 78ff.; vgl. kritisch dazu: Omer Bartov: Hitlers Wehrmacht. Hamburg 1995, S. 5Iff. Samuel L. A. Marshall: Soldaten im Feuer. Frauenfeld 1951 (Orig.: Men against Fire. New York 1947).
35
Marshall [wie A n m . 34], S. 56.
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ziologie aus dem Geist der Reportage, die für die amerikanischen Sozialwissenschaften ebenso konstitutiv ist wie der Funktionalismus und die empirische Meinungsforschung. 36 Während Stouffer und seine Mitarbeiter systematisch die Einstellungen der Soldaten erhoben und statistisch korrelierten, lieferte Marshall eine Phänomenologie des Gefechtsverhaltens. Als Grund für die geringe Feuerleistung sah er zum einen eine kulturell verankerte, meist unbewußte Tötungshemmung, die den Soldaten in der Kampfsituation zu einem unwillkürlichen „Dienstverweigerer aus Gewissensgründen" machte: „Man ist [...] durchaus berechtigt anzunehmen, daß der gesunde Durchschnittsmensch - der die psychischen und physischen Beanspruchungen eines Gefechts aushält - immer noch eine innere und gewöhnlich uneingestandene Hemmung dagegen hat, einen Mitmenschen zu töten, und daß er aus eigenem Entschluß niemandem das Leben nimmt, wenn er die Verantwortung dafür irgendwie vermeiden kann."37 Daneben, und hier trafen sich Marshalls Thesen mit den PrimärgruppenUntersuchungen der Research Branch, war es die Vereinzelung des Soldaten auf dem Schlachtfeld, die diesen paralysierte und vom Schießen abhielt. „Die Wärme, welche die menschliche Gesellschaft ausströmt", schrieb er, „ist ebenso wichtig für den Gebrauch der Waffen, mit welchen der Soldat kämpft, wie der Finger, der den Abzug zieht, oder das Auge, das zielt. Der andere Mensch mag ruhig fast außer Ruf- oder Sichtweite sein, wenn er nur irgendwo im Bewußtsein vorhanden ist, sonst fällt die Moral beinahe plötzlich, und den einzelnen erfassen sehr rasch Verzweiflungs- oder Fluchtgedanken. In einem solchen Zustand ist der Soldat kein kämpfendes Wesen mehr, und die Waffe in seiner Hand ist kaum mehr als ein Stück Holz."38 Während seiner Ausbildung war der Rekrut so gut wie nie allein und hatte sich daran gewöhnt, stets eine Menge anderer Soldaten und „einen gewaltigen mechanischen Aufwand in nächster Nähe um sich zu haben"39. Ganz anders dagegen die Situation auf dem Gefechtsfeld, für Marshall „die einsamste Gegend, in der Menschen beisammen sind"40. Mit dramaturgischem Geschick schilderte er den Schock der Ankunft in der Feuerzone: Die Einheit kommt auf das Schlachtfeld und geht querfeldein vor im Feuerbereich der feindlichen Infanteriewaffen. Der Feind schießt. Und jetzt geschieht das völlig Anomale. Er hatte erwartet, Bewegung, Aktion zu sehen und er sieht nichts. Es gibt nichts zu sehen. Das Feuer kommt von nirgends und doch ist es Feuer; denn das Ge36 37
38 39 40
Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten der Chicago School·, vgl. dazu Rolf Lindner: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt/M. 1990. Marshall [wie Anm. 34], S. 83. Ein eindrückliches Beispiel dafür gibt folgende Schilderung Marshalls: „Während der Schlacht von Kwajalein sahen wir im Abschnitt des 184. Infanterieregiments zwei Gegenstände in der Lagune treiben, etwa 200 Meter vom Ufer entfernt. Sie sahen wie die Köpfe von schwimmenden Männern aus, und die Kugeln spritzten um sie herum ins Wasser. Die Schützen in meiner Nähe - etwa zehn im ganzen - stellten ihr Feuer ein. Ich gab ihnen darauf meinen Feldstecher und sagte: .Schaut, wie die andern ihre Munition auf zwei Holzklötze verschwenden.' Sie taten das und in wenigen Sekunden feuerten sie alle wie verrückt auf die beiden Blöcke. Sie fühlten sich befreit durch die Feststellung, von welcher ich angenommen hatte, daß sie sie vom Feuern abhalten werde" (ebd., S. 81). Marshall [wie Anm. 34], S. 42f. Marshall [wie Anm. 34], S. 46f. Marshall [wie Anm. 34], S. 45.
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räusch ist unmißverständlich. Aber das ist auch alles, was er gewiß weiß. [...] Die Männer stieben auseinander, sobald das Feuer einschlägt. Wenn sie dann in Deckung gehen, sehen sie sich gegenseitig kaum mehr. Und diejenigen, welche noch sichtbar sind, liegen meist merkwürdig still da. Sie sind erschüttert durch das Geheimnisvolle ihrer Lage. Das ist eine Überraschung, gegen welche sich zu wappnen sie niemand gelehrt hat. [...] Das feindliche Feuer verstärkt sich; es wird gezielter. Die Entfernung zwischen den eigenen Leuten wird größer. Jeder sucht auf eigene Faust die nächste oder eine bessere Deckung. Wenige schießen. Auch diese zuerst nur ängstlich, als fürchteten sie einen Vorwurf wegen Munitionsverschwendung, wenn man doch keinen Feind sieht. Andere tun nichts. Darunter sind einige nur verwinrt und wissen ohne Befehl nicht was tun, andere haben vollständig die Nerven verloren und können weder denken noch sich situationsgemäß bewegen. Diese Reaktionen auf das feindliche Feuer fuhren dazu, daß die Kompagnie sich stärker und stärker in ihre Elemente auflöst und daß das Gefühl des Verlassenseins und der Unsicherheit beim einzelnen immer größer wird. [...] Würde jetzt eine klare Kommandostimme sich erheben - und wenn es auch die Stimme von irgend jemandem ohne Grad wäre - so würden sie gehorchen, oder mindestens die festeren Charaktere würden es tun und die Schwächeren würden Mut fassen, weil etwas geschieht. Aber klare Kommandostimmen sind selten auf dem Gefechtsfeld.41 Die Diagnose verwies schon auf die Therapie: Um die Kampfleistung zu steigern - und diese Intention zieht sich als roter Faden durch das gesamte Buch - , hatte man zum einen die Soldaten auf automatisches Feuern zu konditionieren. Wichtiger als die Treffsicherheit des einzelnen Rekruten zu verbessern, war es, so Marshall, seine spontane Schießhemmung abzutrainieren und ihn dazu zu bringen, „gewohnheitsmäßig schon zu schießen, wenn sein Ziel noch eine feindliche Stellung und nicht schon ein sichtbarer Mann ist"42. Zum anderen war alles zu unterstützen, was vor, während und nach der Kampfsituation die Verbindung von Mann zu Mann förderte. Miteinander reden, lautete die Parole. Jeder Instruktor hatte, postulierte Marshall weiter, seinen Rekruten klarzumachen: Wenn ihr euch auf den Kampf vorbereitet, müßt ihr euch zum Sprechen vorbereiten. Ihr müßt lernen, daß Sprechen eure Lage zu retten vermag; ihr müßt euch darauf gefaßt machen, andere wissen zu lassen, was euch zustößt. [...] Versucht nicht, allein den Krieg zu gewinnen oder auch nur eine Anhöhe zu nehmen. Eine allein unternommene Aktion nützt nichts oder im besten Fall wenig. Erst wenn ihr zu andern sprecht, und diese sich euch anschließen, bekommt eure Kampfhandlung Bedeutung.43 Die Kommunikation im Gefecht diente dabei nicht nur der wechselseitigen Verständigung in unübersichtlicher Lage, sie besaß auch eine unmittelbar moralische Wirkung: „Reden ist der zündende Funke für jede Aktion. Reden erzeugt den Wunsch nach Zusammenarbeit. Es 41 42 43
Marshall [wie Anm. 34], S. 48ff. Marshall [wie Anm. 34], S. 81. Marshall [wie A n m . 34], S. 148.
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schafft das Bedürfiiis, etwas zu tun. Bevor gesprochen wird, beurteilt der Soldat seine Lage rein negativ; sobald man mit ihm redet, beginnt er sich zusammenzureißen."44
IV. Buddies Die Studien der Research Branch wie auch Marshalls Soldaten im Feuer hatten zwar die Wichtigkeit der Primärgruppehkohäsion für die militärische Effizienz herausgestellt, zugleich aber unterbelichtet gelassen, wie diese Gruppen im einzelnen „funktionierten", wie sie sich konstituierten, ihre Verhaltensnormen aufstellten und durchsetzten und wie ihre Mitglieder einander stützten und schützten. Es blieb weiteren Forschungen in der US-Army vorbehalten, das Innenleben der Primärgruppen genauer in den Blick zu nehmen. Dazu bedurfte es auch einer methodischen Umorientierung. Gefordert war ein eher ethnologischer Zugang, der sich nicht auf schriftliche Befragungen und Kurzbesuche verließ, sondern den Alltag der Fronttruppen über einen längeren Zeitraum teilte und die Regeln und Rituale ihrer „Stammeskultur" zu entziffern versuchte. So unternahm der Soziologe Roger W. Little während des Koreakrieges eine viermonatige Feldforschung in einer Schützeneinheit und untersuchte den Zusammenhang von KampfVerhalten und Gruppenkohäsion. Dabei fand er heraus, daß unmittelbar vor und in Gefechten sich die Interaktionen auf dyadische „Kumpelbeziehungen" (buddy relations) konzentrierten.45 Streß schweißte die Gruppe nicht zu einer homogenen Einheit zusammen, gegen die Belastungen und Bedrohungen des Kampfeinsatzes versuchten die Soldaten vielmehr „Sicherheit auf der Ebene der geringsten sozialen Komplexität"46 zu mobilisieren und verbanden sich zu Zweier-Molekülen. Diese von stillschweigender Erwartung gegenseitigen Beistands getragenen Beziehungen waren keineswegs gleichbedeutend mit Freundschaften, sie konstituierten vielmehr eine Art rudimentären Sozialvertrag, der die Loyalität zur größeren Einheit nicht ersetzte, aber doch in den Hintergrund treten ließ. Der Verlust des buddy durch Tod oder Verletzung hatte häufig eine Traumatisierung des Partners zur Folge, der sich schuldig fühlte, seinem Kameraden nicht den nötigen Schutz gewährt zu haben.47 Little gelang es auch, einige der ungeschriebenen Gebote und Tabus zu beschreiben, die das Verhältnis der beiden buddies zueinander und ihre Beziehung zur Gesamtgruppe regelten: Die wichtigste Aufgabe eines buddy war es demnach, seinem Kameraden zuzuhören. ,ßuddies wurden Therapeuten füreinander."48 Verschiedene Regeln dienten dazu sicherzu-
44 45
46 47 48
Marshall [wie Anm. 34], S. 149. Roger W. Little: Collective Solidarity and Combat Role Performance. Unpublished Ph.D. Dissertation. Michigan State University 1955; eine Zusammenfassung gibt ders.: Buddy Relations and Combat Performance. In: Morris Janowitz (Ed.): The New Military. Changing Patterns of Organizations. New York 1964, S. 195ff. Peter Meyer: Kriegs- und Militärsoziologie. München 1977, S. 132. Vgl. dazu auch Jonathan Shay: Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Hamburg 1998. Little [wie Anm. 45], S. 200.
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stellen, daß die buddy-E\nà\m% nicht die Loyalität zur Gesamtgruppe gefährdete, auf deren Schutz die Soldaten trotz ihres Partners angewiesen blieben. So galt es als anstößig, offen zu verkünden oder sich gar damit zu brüsten, wer wen zu seinem buddy gewählt hatte. Jede Zurschaustellung von Exklusivität sollte vermieden werden, war doch nicht auszuschließen, daß in der Kampfsituation der erklärte buddy nicht zugegen war und ein anderer seine Stelle einnehmen mußte. Ebenso war es tabuisiert, seinen Kameraden vor die Wahl zwischen der Loyalität als buddy und der Verpflichtung gegenüber der Einheit zu stellen. Niemand meldete sich freiwillig fur eine Patrouille, wenn er nicht zuvor das Einverständnis seines Partners eingeholt hatte und dann beide gemeinsam gingen. In der Regel wurde einer abkommandiert, und der andere meldete sich daraufhin freiwillig. Auch Prahlereien mit der eigenen Kampfleistung oder Vergleiche mit anderen Angehörigen der Einheit waren verpönt. Männer, die ein großes Wort führten, standen im Ruf, im Ernstfall am ehesten zu vergessen, daß sie einen buddy hatten und voneinander abhängig waren. In einer Gefahrensituation stand die informelle Verpflichtung gegenüber dem Partner über dem offiziellen Kampfauftrag. War jemand verletzt, hatte sein buddy sich um ihn zu kümmern, bis die Sanitäter kamen, auch wenn der Befehl lautete, den Angriff fortzusetzen. Und obwohl der Verhaltenskodex der Primärgruppen kaum etwas Verwerflicheres kannte, als im Gefecht abzuhauen und seinen Partner wie die übrigen Kameraden im Stich zu lassen, erklärten die meisten Soldaten, ihrem buddy, aber auch nur diesem, selbst einen solchen Loyalitätsbruch nachzusehen. Die Paarbildung und die intensive Kommunikation mit dem Partner halfen so nicht nur bei der Streßbewältigung, das System der òweWy-Beziehungen brachte vielmehr auch einen unmittelbaren Sicherheitsgewinn: Weil es der Hilfe für den Partner absolute Priorität beimaß und eindeutig definierte, wer wem beizustehen hatte, entlastete es den Einzelnen von Entscheidungszwängen und Rollenkonflikten.49 Was die militärische Kampfkraft angeht, so verstärkten die Gruppennormen ein mittleres Leistungsniveau und sanktionierten Abweichungen nach oben wie unten. „Versager" und „Helden" waren gleichermaßen unbeliebt und hatten es schwer, einen buddy zu finden. Die einen, weil sie sich auf Kosten der Kameraden weigerten, ihren Teil der Anstrengungen und Risiken zu übernehmen, die anderen, weil sie durch ihr Draufgängertum die übrigen gefährdeten. 50
V. Human Relations im Krieg Littles Studie wie auch die seiner Vorgänger blieben nicht ohne Wirkung auf die Militäradministration: Weil informell, entzogen sich die Primärgruppen- und buddy-Bindungen zwar einer unmittelbaren Beeinflussung durch die militärische Hierarchie, aber die Kohäsionskräfte ließen sich doch durch geeignete Rahmenbedingungen fördern. So wurde schon in der Ausbildung das Prinzip der kleinen Gruppe verankert und bei Kriegseinsätzen darauf geach49
50
Rolf Ziegler: Ansatzpunkte der Militärsoziologie und ihr Beitrag zur soziologischen Theorie. In: René König u. a. (Hg.): Beiträge zur Militärsoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 12. Köln/Opladen 1968, S. 29. Little [wie Anm. 45], S. 200ff.
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tet, daß bestehende Gruppenbeziehungen möglichst nicht auseinandergerissen wurden. Über solche Detailoptimierungen hinaus brachte der Kriegseinsatz der Sozialforscher vor allem eine gesteigerte Selbstreflexivität der militärischen Menschenführung. Indem die Army systematisch das Instrumentarium empirischer Sozialforschung nutzte, wurde ein Rückkopplungsmechanismus installiert: Wissenschaftler mit und ohne Uniform durchleuchteten individuelle Anpassungsprobleme und organisationsinterne Friktionen, ermittelten Bedürfiiisse und Vorlieben der Soldaten und stellten damit die Daten bereit, auf welche die Administration mit entsprechenden Schritten reagieren konnte, deren Wirkung dann durch erneute Untersuchungen evaluiert wurde, die ihrerseits den Anstoß für eine Modifikation der Maßnahmen gaben usw. Dieses - idealtypisch skizzierte - Modell sollte die Integration der Individuen in die Armee unter möglichst geringen Reibungsverlusten sicherstellen und auf diesem Wege die Leistungsfähigkeit der militärischen Organisation steigern. Die Kontingenzen des Kriegsgeschehens ließen sich so zwar nicht ausschalten, aber sie ließen sich - wenigstens partiell - in Wahrscheinlichkeitskalküle überführen. Der „Faktor Mensch" blieb eine letztlich unberechenbare Größe, aber je gründlicher man die Regelmäßigkeiten und Regeln des kollektiven Verhaltens auf dem Schlachtfeld erforschte, desto zuverlässiger ließen sich Einflußvariablen isolieren, um es in die gewünschte Richtung zu verändern. Gerade die Forschungen zur Bedeutung der Primärgruppen dokumentieren jedoch nicht nur den sozialplanerischen Optimismus und die pragmatische Anwendungsorientierung der amerikanischen Militärsoziologen. Aus dem Hohen Lied der Gemeinschaft spricht vielmehr auch ihre unverhohlene Angst vor der Anomie. Die Sorge vor dem Zerfall der gesellschaftlichen Synthesis und die Frage nach den Bedingungen sozialer Ordnung sind ein, wenn nicht das Leitmotiv amerikanischer Soziologie überhaupt.51 Weil die Ordnung kontingent und die Integration der Gesellschaft stets prekär erschien, suchten ihre professionellen Beobachter nach einem Band, das die Individuen verläßlich miteinander verknüpfte. Nationalistische oder gar völkische Imaginationen erlangten dabei im melting pot niemals jene fatale Homogenisierungskraft, die sie in Europa besaßen; eine Gesellschaft von Immigranten unterschiedlichster Herkunft benötigte pluralere Modelle der Kohäsion. Die Bedeutung der primary groups und communities für die Selbstbeschreibung der US-Gesellschaft liegt genau hier.52 Das Soziale, die gute Ordnung, so läßt sich die amerikanische Soziologie von Charles H. Cooleys „Erfindung" der Primärgruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts53 bis zum Kommunitarismus der Gegenwart resümieren, zehrt von den vorsozialen, affektiven Bindungen der vielfältigen Gemeinschaften. Diese figurieren nicht als Residuum vormoderner Verhältnisse, sondern werden als Remedium gegen die Desintegrationskräfte der Modernisierung in Anschlag gebracht. Liest man die militärsoziologischen Untersuchungen in dieser Perspektive, so tritt das spezifisch Amerikanische des „American Soldier" und seiner Nachfolger deutlicher hervor: Das Militär wird zum Abbild der Gesellschaft, das Schlachtfeld zum Labor sozialer Integration. Gegen die radikale Vereinzelung in der Kampfzone - ein Extremfall negativer Indivi-
si 52 53
Vgl. Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika. München 1963. Einen Forschungsüberblick gibt Edward A. Shils: The Study of the Primary Group. In: Daniel Lerner/ Harold D. Lasswell (Eds.): The Policy Sciences. Stanford 1951, S. 44ff. Charles H. Cooley: Social Organization. A Study of the Larger Mind. New York 1909.
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dualisierung - helfen dem citizen soldier nicht seine Loyalität zur Army, nicht seine ohnehin wenig ausgeprägten politischen Überzeugungen, sondern die Bindung an eine Face-to-faceGemeinschaft, wie sie auch der Zivilbürger benötigt, um die Atomisierungserfahrung im Großbetrieb oder der Großstadt auszuhalten. Auf eine Formel gebracht: Es sind die Human Relations, die noch das Inhumanste erträglich machen.
BERND HÜPPAUF
Das Schlachtfeld als Raum im Kopf Mit einem Postscriptum nach dem 11. September 2001
I.
Die Frage nach dem Schlachtfeld als Raum
Warum sollte die Frage nach dem Schlachtfeld als Raum gestellt werden? Sie könnte als trivial oder irrelevant abgewiesen werden. Gibt es nicht wichtigere Fragen, etwa die nach dem Verhältnis des Kriegs zur Ethik, Politik, Diplomatie oder Technologie? In der Tat ist die Frage nach dem Raum des Schlachtfelds selten gestellt worden.1 Sie gilt den Strategen als bloße Frage der Topographie und anderen als philosophisch abstrakt. Die folgenden Überlegungen gehen von der Hypothese aus, daß Raum für das Bild vom modernen Krieg von elementarer Bedeutung ist. Ohne Schlachtfelder und räumlich vorgestellte Schlachtfelder gab es bisher keinen Krieg. Erst in der Gegenwart wird Krieg ohne ein räumlich begrenztes Schlachtfeld möglich. Er nimmt damit Eigenschaften vor-moderner Kriege an. Für den postindustriellen Krieg wird der physische Raum auf eine Weise unbedeutend, die an den magischen Raum des primitiven Kriegs erinnert. Ich entwickle im folgenden die These, daß die Schlachtfelder der Moderne stets nicht nur konkrete Orte militärischen Handelns waren, sondern zugleich auch als imaginierter Raum vorgestellt wurden. Das sichtbare Schlachtfeld hat Anfang und Ende, das vorgestellte Schlachtfeld ist zeitlos. Es schafft einen Raum der Bewegung und beständigen Umwandlung, der keine räumlichen und zeitlichen Grenzen, die das rationale Bewußtsein und die Politik dem Krieg ziehen, anerkennt. Grenzen sind in diesem vorgestellten Raum keine Schranken, sondern sie werden stets verschoben, zerfallen zu Übergängen und Zwischenräumen und drängen über sich hinaus, nach ,vorn', auf ein Ziel zu. Nichts liegt,hinter' ihm. Konstituierte sich der Raum vormoderner Kriege aus seiner Beziehung zu einem Jenseits, einem Raum der Götter oder Geister, so enthält der Raum des modernen Schlachtfelds sein .Jenseits' in sich.
1 Zu den bemerkenswerten Ausnahmen gehören die frühen Arbeiten John Keegans, etwa The Face of the Battle. New York 1976. Dt.: Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten des Krieges von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und an der Somme 1916. Frankfurt a. M. u. a. 1991.
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Im modernen Schlachtfeld verschränkten sich der physische und der vorgestellte Raum zum unlösbaren Zusammenhang eines verdichteten Gewebes. Es umfaßte militärisches Kalkül und entwickelte zugleich eine eigene Dynamik in der Lebenswelt, die einen ekstatischen Erlebnisraum schuf. Vorgestellte Schlachtfelder sind nicht nur Teil subjektiver Erinnerung, sondern determinieren die Imagination von Kollektiven. Während das moderne Schlachtfeld durch militärische, politische und technologische Planung entstand, sprengte es zugleich auch einen Raum der Imagination und Innovationen frei. Er eröffnete Individuen und Gesellschaften die Möglichkeit, neu zu beginnen und aus Trümmern ihre gelebten und imaginierten Welten neu einzurichten. Schlachtfelder schufen in der Moderne einen vorgestellten Raum, in dem sich Destruktion in Kreativität transformieren ließ und Visionen und Zukunftsbilder entworfen wurden. Auf Schlachtfeldern konnten sich Gesellschaften als handelnde Zusammenhänge erfahren und Einheit aus Antinomien entwickeln. Sie sind ein Raum, in dem Kollektive wie im Traum das Irrationale des Kriegs in Zukunft überfuhren. Der Raum der Schlachtfelder ließ sich auf eine Weise erträumen und einräumen, daß Gesellschaften in ihm Identität entwickeln und Zukunftsvisionen entwerfen konnten. Der Krieg der Zukunft kennt diesen Raum nicht mehr. Er verbindet das Abstrakte des Virtuellen und das Hyperkonkrete enger Lokalität und fuhrt zu Desorientierung, aber hat keinen Raum, in dem sich in der Erinnerung Erlebnisse verdichten, und keine Grenzen, die sich auflösen und in die Zukunft verschieben ließen.
II. Das Wort Ich will mit dem Wort Schlachtfeld beginnen. Es ist eine Kombination aus zwei Substantiven und entstand, wie sein Referent selbst, in der frühen Neuzeit. Schlacht leitet sich her vom althochdeutschen Verb ,slahta' in der Bedeutung des Erschlagens von Tieren und Menschen, also dem heutigen .schlachten'. Seit der frühen Neuzeit erscheint das Substantiv ,die Schlacht' im heutigen Verständnis als Konfrontation zweier Heere. In diesem Gebrauch tritt die Bedeutung des Schlachtens zurück. Im tradierten Bild der Schlacht lassen sich zwei alternative Positionen unterscheiden. Es entwickelt entweder einen konkreten Ort des Tötens und Sterbens oder es abstrahiert die Schlacht zu einem Moment geschichtsphilosophischer Konstruktion. An diesen Schlachtbildern scheiden sich die Positionen in der Frage danach, was Krieg ist. In Texten der Humanisten und Bildern aus der Zeit der Bauernkriege gehört zur Schlacht das Töten und Schlachten wie ein Handwerk der Inhumanität. Im 17. Jahrhundert stellen Graphiken des Dreißigjährigen Kriegs die Greuel von Schlachten plastisch dar.2 Diese Bilder sind mit konkreter Kriegserfahrung von Opfern gesättigt, von der auch die Literatur der Zeit, etwa Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch berichtet. Die Schrecken des Kriegs, Greuel, Qualen, Sadismus, sind Themen von Literatur und Kunst, aber es wird ihnen kein
2 Vgl. das graphische Werk von Jacques Callot, Melchior Küsell, Hans Ulrich Franck, Matthias Scheits, oder Lukas Kilian.
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legitimierender Sinn und keine im modernen Sinn pazifistische Botschaft unterlegt. Solche Interpretationen sind anachronistisch. Das Schlachtfeld wird nicht vom Leben isoliert, sondern mit dem alltäglichen Leben der Bauern und Städter verknüpft, und da auf diese Weise dem Krieg kein eigener Raum zugestanden wird, öffnet er keinen Raum fur Heldenbildung. Für den Widerstand gegen Krieg, der älter ist als der moderne und ethisch argumentierende Pazifismus, waren solche Bilder des grausamen Schlachtfelds .visuelle Argumente'. Die Sicht vom Schlachtfeld als dem Ort des Leidens und Schreckens machte seit der frühen Neuzeit jedoch nicht das einzige Bild vom Schlachtfeld aus. Eine lange Tradition literarischer und bildlicher Interpretation adelte das gereinigte Wort ,Schlacht'. Seit dem späten 18. Jahrhundert sorgte die idealistische Ästhetik für eine Distanzierung des Blicks auf die Schlacht. Sie wurde zunehmend zu einem Element geschichtsphilosophischer Konstruktion. Schiller hat in Dramen, Gedichten und historischen Schriften viel dazu beigetragen, das Bild der Schlacht vom Leben zu entfernen und zu einem Gegenstand der Kontemplation und des ästhetischen Vergnügens zu machen. Sein oft zitierter Satz: „Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen" (Die Jungfrau von Orleans 1, 9), stellt programmatisch einen edlen Charakter der Schlacht dem blutigen Handwerk des Schlachtens gegenüber. Er weist die ursprüngliche Bedeutung von , Schlacht' explizit zurück. Im Anschluß an Kant macht Schiller die Schlacht erhaben. Er setzt einen Standard des Moralischen und der Ordnung, den seine Dramen immer wieder der triebhaften, irrationalen und grausamen Seite der Schlacht entgegenstellen und siegen lassen. Das veredelte Bild der Schlacht ließ sich im folgenden Jahrhundert popularisieren. Der Satz aus Schillers Drama konnte zu einer Sentenz der gebildeten Bürger werden, da er ihr Bild vom Schlachtfeld als Feld der Ehre und des Heldentums auf eine einfache Formel brachte. Feld ist die offene Fläche, die zum Schlagen von Schlachten, von Feldschlachten, geeignet war. In diesem Sinn kommt das Wort ,Feld' in vielen anderen Wendungen der Militärsprache vor: zu Felde ziehen, im Felde stehen, das Feld behaupten oder räumen; Feldzug, Feldlager, Feldgeschrei, Feldherr, Feldjäger, Feldflucht, feldgrau. Dieses Wortverständnis benutzt Feld als Bezeichnung eines Raums, der - im Gegensatz zum geordneten und gesicherten Raum der Stadt - für den Krieg offen stand. Erst die militärische Planung machte aus dem freien Feld eine begrenzte Fläche, die es ermöglicht, zwischen innen und außen zu unterscheiden und sich räumlich zu orientieren. Das Schlachtfeld der militärischen Planung und der Militärgeschichte ist mit dieser Fläche identisch. Das rein strategisch verstandene Schlachtfeld ist zeitlich definiert und räumlich begrenzt. Schlachten haben Anfang und Ende, und nach dem Ende der Schlacht ist das Feld kein Schlachtfeld mehr, sondern übernimmt erneut seine kurzfristig unterbrochene Funktion. Damit bleibt die Bedeutung innerhalb des Jargons der Militärsprache. Aber die Eigenschaften eines Schlachtfelds verschwinden nicht mehr ganz. Denn .Schlachtfeld' ist nicht nur ein militärischer Begriff, sondern ebenso einer der Erinnerung und der Imagination, und das vorgestellte Schlachtfeld ist an keine Grenzen des Raums und der Zeit gebunden. Das Feld des Schlachtfeldes ist durch Eigenschaften charakterisiert, die eine Leere in Analogie etwa zum Feld auf einem Schachbrett prinzipiell überschreiten. Das Feld des Schlachtfelds ist keine leere Fläche im Sinn der Geometrie, sondern eine Gegend, die stets durch Eigenschaften ausgezeichnet ist, sich auf etwas richtet und von der etwas ausgeht. Es gehören zum Feld eine Topographie und weitere physikalische Konditionen wie das Wetter,
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Boden- und Luftverhältnisse (Feuchtigkeit, Härte des Untergrundes, Weite oder Enge des Gesichtsfelds usw.), die ihm einen eigenen Willen geben, den die planenden Generäle nie ganz kennen und beherrschen können. Es gehört in Clausewitz' Sprache zu den Friktionen, die dem absoluten Krieg oder dem reinen Krieg (Virilio) entgegenwirken. Das Feld des Schlachtfelds der Neuzeit hat eine dritte Dimension, die Höhe. Sie verlieh ihm seine Bedeutung und öffnete es zur Transzendenz der Geschichtsmetaphysik. Diese Öffnung schuf den Raum für Träume und Visionen und war für das Erhalten der vormodernen Idee des Heldischen notwendig. 3 Sie hinterließ auch in der militärischen Planung ihre Spuren. Der Raum im Schlachtfeld verlor seit dem 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung und wurde durch anderes verdrängt. In der militärischen Planung ersetzte Technologie die Bedeutung der Topographie. In Literatur und Schlachtenmalerei setzte zunächst eine Monumentalisierung des Schlachtfelds zu einem Raum des Kriegs der Ideen (Nation, Freiheit usw.) ein. Die europäische Ideen- und Bildgeschichte trennte die Schlacht durch eine metaphysische Überhöhung vom ,Leben' und transformierte das Feld zum ästhetischen Gefilde. Literatur und Malerei der Klassik und des 19. Jahrhunderts beförderten die Entleerung von sinnlichen Inhalten des Schlachtfelds zu Gunsten seiner Veredlung, die sich bis in den Realismus des späten 19. Jahrhunderts fortsetzte. Fontanes Kriegsberichte, Flauberts Salambo oder Raabes Das Odfeld liefern Beispiele für den Blick auf Felder, die durch Schlachten zu historischer Bedeutsamkeit erhoben werden. Der Adel der Schlacht ist selbst auf den Feldern des Ersten Weltkriegs nicht ganz vergangen. Später führte die Tendenz der Moderne zur Abstraktion dazu, in der Konstruktion von Schlachtfeldern das konkrete Töten und Sterben verschwinden zu lassen. In Opposition zu dieser Abstraktion bemühte sich seit dem frühen 20. Jahrhundert die Literatur darum, den Aspekt des Schlachtens in der Schlacht wieder zu entdecken. Als Beispiele ließen sich Bücher des Pazifismus des Ersten Weltkriegs nennen, etwa Lamszus Das Menschenschlachthaus, Ernst Friedrichs Sammlung Krieg dem Kriege oder Schilderungen des Schlachtfelds von Arnold Zweig oder Edlef Köppen. Die Kriegsliteratur sowie die Fotografie und der Film des 20. Jahrhunderts haben einen bedeutenden Beitrag dazu geliefert, das räumlich Konkrete für die Vorstellung vom Krieg zurückzugewinnen. Romane und Lyrik der Weltkriege oder Vietnamfilme entwerfen die Felder von Schlachten und den vorgestellten Raum des Kriegs, um sie mit Bildern vom Tod und Sterben zu verknüpfen. Stalingrad in Romanen und Stücken von Plievier, Kluge oder Heiner Müller oder in zahlreichen Filmen ist bis in die Gegenwart ein herausragendes Beispiel für die Bedeutung der Räumlichkeit am Schlachtfeld. Müllers Schlachtstücke binden die konkreten Bilder vom Erschlagen der Menschen in der Schlacht an einen Raum der Inhumanität. Die Opposition zur Derealisierung von Schlacht durch die Abstraktion greift in der Darstellung der Schlachten auf die frühe Bedeutung des Felds zum Schlachten zurück. Das Heroische oder das Nationale oder universale Ideen rechtfertigen nun nicht mehr den Tod auf dem Schlachtfeld. An die Stelle vom Krieg als der Konfrontation zweier Heere tritt das Schlachtfeld als sinnlich konkretes Feld des Tötens und Sterbens. Eine Schockwirkung an Müllers Stücken folgt aus der Provokation, die
3
Vom Alptraum König Richards (William Shakespeare: King Richard III, Akt V.3) über die Vision des Prinzen Andree (Tolstoi: Krieg und Frieden) zu Barbusse (Le feu) und schließlich zu den Traumszenen von Alexander Kluge und Heiner Müller dienten erträumte Schlachtfelder stets dem Durchbruch des Neuen.
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weiterhin darin liegt, daß sie den Unterschied zwischen der edlen Schlacht und dem barbarischen Schlachten einebnen. Seine Stücke schaffen ein Feld ohne Vertikale, so daß das Heroische keinen Raum der Höhe mehr findet, in der es sich entwickeln kann. In der Horizontale werden das Heldische und das Banale oder Lächerliche ununterscheidbar. Selbst die größten Schlachten der Weltgeschichte verlieren auf diesen Feldern ihren Bezug zur Transzendenz. In die Horizontale verlegt, werden sie zu Ereignissen des Schlachtens im physischen Sinn eingeebnet. Die Rückkehr zu einem Bild vom blutigen Schlachtfeld ist nicht zwingend mit einer pazifistischen Haltung identifiziert. Auch fehlt diesen Stücken die visuelle Anklage, wie sie von der Zusammenstellung von Bauern und Landsknechten auf einer Bildfläche im 17. Jahrhundert oder bei Goya ausging. Vom blutigen Feld der Schlacht ging in der Literatur des 20. Jahrhunderts ebensosehr eine Faszination aus, wie sie zu Ekel und ethischer oder politischer Kriegsopposition führte. Das Schlachtfeld in Emst Jüngers frühem Werk, bei Hemingway, Kurt Vonnegut, in Heiner Müllers Stücken und in Filmen von Kubrick oder Kamarkar sind bekannte Beispiele für diese Faszination. Die Gemeinsamkeit der Schlachtfelder in Kleists und Müllers Stücken ist tiefer als die Unterschiede in ihren ethischen Bewertungen von Tod und Töten im Krieg. Ihre Stücke stellen einen Raum her, in dem Felder des Blutvergießens und des zivilen Lebens ineinander übergehen und der in politisch konzipierten Kategorien wie rechts und links, Pazifismus und Bellizismus nicht zu erfassen ist. Beide entdecken in den modernen Formen der Schlacht ein anthropologisches Erbe von primitiver Triebhaftigkeit, das von der Zivilisation nur notdürftig verdeckt wird und von dem eine große Faszination ausgeht. Diese Faszination durch das Quälen, Verstümmeln, Töten sinnlich wirklicher Menschen zieht den Blick magisch an. Sie schafft einen Vorstellungsraum mit ekstatischen oder traumatischen Eigenschaften. In der Gegenwart ist dieser Raum dabei, sich ins Virtuelle zu verflüchtigen.
III. Raum im Schlachtfeld Die Konzentration auf Fragen des Raums hatte außer einer geschichtsphilosophischen Dimension stets auch politische Implikationen. Sie waren ein Territorium der unpolitischen oder der konservativen Denker. Das galt besonders für ein Denken über Raum, das sich in den Disziplinen Geographie, Geopolitik und internationales Recht entfaltete. Carl Schmitt, Georg Ratzel, Karl Haushofer, Karl Lamprecht oder Oswald Spengler verbanden konservative politische Positionen mit der Hinwendung zu einer Raumtheorie der Geschichte. Die beiden Begriffe in Hans Grimms Titel Volk ohne Raum sind symptomatisch. Die Philosophen der Phänomenologie zeigten an Fragen der Macht und Politik wenig Interesse, aber ihre Theorien über die Konstitution von Raum waren leicht mit den politischen Positionen der Konservativen und schließlich auch mit denen der Nationalsozialisten zu versöhnen. Aus dem naiven Vergessen des Politischen befreite erst die Rezeption dieser Raumtheorien durch französische Philosophen von Merleau-Ponty zu Foucault und Deleuze, ohne daß dabei die Verstrickung in ein gegenaufklärerisches Denken gelöst worden wäre.
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Die Frage nach dem modernen Schlachtfeld als Raum ist weder trivial noch politisch irrelevant. Es läßt sich vielmehr argumentieren, daß das Entstehen des geographischen Denkens in der Neuzeit mit Entdeckungen und Eroberungen, also mit militärischer Gewalt und Kriegen, aufs engste verknüpft war. Diese Kriege konnten ebensowohl koloniale Eroberungskriege, in denen die Welt räumlich aufgeteilt und erobert wurde, wie auch innereuropäische Kriege sein. In beiden Fällen traten Raum, Krieg und nationale Identität in nicht zu entflechtende Beziehungen. Aus dem Verhältnis zum Raum ließe sich ein Schlüssel fur das Verständnis der europäischen Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts entwickeln. Probleme kollektiver und nationaler Identitätsbildung flössen ein in eine Politik der Macht über Raum, die sich auf realen Schlachtfeldern konkretisierte. In der Zeit der deutschen Einigungskriege nach 1864, nach 1914 sowie nach 1933 und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gewann die Sprache der Räumlichkeit nicht nur in Wissenschaft, Philosophie und Kulturtheorie, sondern auch im öffentlichen Diskurs und in der Politik brisante Bedeutung. Eine Geschichte des Raums oder wohl eher der Räume, die zugleich auch eine Geschichte der Macht sein müßte, wie Foucault einmal formulierte, ist nicht geschrieben. Eine Geschichte des Raums als militärisch zu erobernden und politisch zu beherrschenden Räumen stellt für die Forschung keine ernsten theoretischen Probleme. Anders die Frage nach der Räumlichkeit von Raum. Von den Theorien der Konstitution von Raum, wie sie in der Nachfolge Husserls in der deutschen und französischen phänomenologischen Philosophie entwickelt wurden, ließe sich lernen, daß Fragen des Raums nicht auf die Fragen der Machtpolitik und nicht auf Fragen der materialen, geographischen Räume beschränkt werden können, ohne in einen verflachten Begriff vom Raum und damit zugleich von der Politik abzugleiten. Raum, der nicht aus einzelnen Räumen synthetisiert wird, sondern immer schon und vor der Empirie die Wahrnehmung konstituiert, ist jedoch fur die Konstruktion der geschichtlichen Welt als einer vorgestellten Welt kaum entdeckt. Räumlichkeit ist für das vorgestellte Schlachtfeld der Moderne konstitutiv. Aus einem Verständnis der Dialektik der Konstruktion von imaginärem Raum und seiner Destruktion ließe sich ein anderes Verständnis von (Kriegs-)Geschichte gewinnen. Die Destruktion des modernen Schlachtfelds war ein integrales Moment des kollektiven Gedächtnisses und erfaßte die Struktur des Vorstellungsraums und damit das Selbstverständnis der Moderne grundlegend. Die Frage, was aus den Trümmern des Destruktionsraumes der Schlachtfelder nach dem Ende von Kriegen wird, führt in Probleme des vorgestellten Raums wie der kollektiven Praktiken von Raumproduktion. Diese Fragestellung sollte vor der Gefahr bewahren, das Problem des Raums mit der Politik von Kolonialismus und Imperialismus gleichzusetzen, wie es die ideologiekritische Historie gern tut, oder als bloßes Streben nach nationaler Hegemonie mißzuverstehen.4 Fragen der Konstitution von Raum fuhren, im Ge4 Vgl. Cornelia Vismann: Starting from Scratch: Concepts of Order in No Man's Land. In: Bernd Htlppauf (Hg.): War, Violence and the Modern Condition. Berlin / New York 1997, S. 46-65. Neben den Beiträgen von Foucault und Henri Lefebvre stammen neuere, generelle Studien vor allem aus dem englischen Sprachraum, unter anderem Ed Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Social Theory. London 1989; David Harvey: The Condition of Postmodernity. Oxford 1989; Doreen Massey and J. Allen: Geography Matters. Cambridge (CUP) 1984; John P. Jones / Wolfgang Natter: Signposts towards a Poststructural Geography. In: Postmodern Contentions. Epochs, Politics and Space. New York 1993, S. 165-203; John Noyes: Colonial Space. Amsterdam 1992; Paul Carter: The Road to Botany Bay. An Exploration of L a n d s c a p e and History, N e w Y o r k 1988.
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gensatz zu einer simplifizierten Vorstellung von Politik als Herrschaft über Räume, auf die Ebene der Imagination und Handlungsdispositionen, aus denen politisches Handeln erst folgt. Was kann eine Raumtheorie des vorgestellten Schlachtfelds zum Verständnis der Räumlichkeit der Moderne beitragen? Das Schlachtfeld ist ein Raum, in dem mehr geschieht, als das beobachtende Auge und Ohr aufnehmen und die bewußte Erinnerung festhält. Die Frage nach dem Schlachtfeld kreist in einer Kulturgeschichte der Neuzeit nicht um die Auswirkungen eines Terrains oder des Wetters und zielt nicht auf eine Geschichte des Schlachtfelds ,an sich', sondern fragt, auf welche Weise der Raum der Schlacht zur Konstruktion des Raums modemer Gesellschaften, der aus einer komplexen Architektur von Vorstellungen und Vorgestelltem, Konstruktionen und Objekten besteht, beiträgt. Schlachtfelder sind dann keine Todeszonen. Sie werden nicht isoliert, sondern bilden einen Raum des extremen Risikos, in dem sich Gesellschaften selbst suchen und aus der Gefahrdung Identität entwickeln. Die Frage läßt sich auf drei Komplexe zurückfuhren, die sich auf drei unterschiedliche Konstruktionen von Raum beziehen. Es gibt (1) einen Raum der öffentlichen Riten, in denen Krieg erinnert und in kollektive Praktiken des Erinnems überfuhrt wird; und es läßt sich zwischen einem (2) vorgestellten Raum und einem (3) Vorstellungsraum des Kriegs unterscheiden. (1) In kollektiven Riten, an Gedenk- und Feiertagen, vor Monumenten oder in Demonstrationen werden Erinnerungen durch wiederholtes, gemeinsames Handeln hergestellt und zu einem gemeinsamen Besitz geformt. Die lokalen Orte erweitern sich in kollektiven Praktiken zu einem Raum des Generellen und der zeitlichen Dauer. Zeremonien und öffentliche Inszenierungen des lokalen Lebens transzendieren die Grenzen des direkt erlebten Raums und verwandeln ihn durch Bedeutung, die von jedem einzelnen in physischer Präsenz nachvollzogen werden kann. Zeremonien, Aufmärsche, Treffen von Veteranenverbänden an herausragenden Orten (Verdun, der Hohe Meißner, Omaha Beach) oder auch in Vereinslokalen und Hinterzimmern von Gaststätten aktualisieren Erinnerung und schaffen je aufs Neue mentale Bilder, in denen das Vergangene sich in die Gegenwart verlängert. Diese Praktiken leisten Beiträge zur Strukturierung des öffentlichen Raums. In ihnen entwickeln die Beteiligten auch ein Band zwischen partikularen Erlebnissen und der Geschichte der Nation. Rituelle Praktiken der Lokalgeschichte schaffen stets auch einen Raum, in dem sich das Lokale und das Nationale treffen. Erinnerungen an die Taten von Bekannten, Freunden, Verwandten benötigen einen Mikroraum, in dem die Vorstellungen von überschaubaren Gruppen sich auf eine Weise entfalten, daß sie sich in einen Zusammenhang mit dem Ganzen versetzen lassen. Soldatenfriedhöfe gehören seit dem Ersten Weltkrieg zu den wichtigsten öffentlichen Räumen der Erinnerung an Schlachten. Nur aus ihrem hohen Symbolwert lassen sich die mit ihnen verbundenen Praktiken erklären. Die Exhumierung der bis zur Unkenntlichkeit verwesten Leichen mit dem Ziel, sie auf einem Soldatenfriedhof zu ihrer .letzten Ruhe zu betten', ist eine tief irrationale Tat und nur aus dem Wunsch zu verstehen, durch die Ordnung von Raum über die Erinnerung zu herrschen. Bereits an der Anlage von Soldatenfriedhöfen zeigt sich, wie die Aneignung der Vergangenheit zu einer Frage der Raumplanung wird. Dafür finden sich zahlreiche Beispiele an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Nach ungeordneten Anfängen, als tote Soldaten bestattet wurden, wo sie gefallen waren, wurden alsbald die
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Soldatenfriedhöfe in Deutschland, Belgien oder Frankreich auf eine Weise angelegt, daß sie der Erinnerung keinen Raum der sinnlichen Erfahrung schaffen, sondern einer rationalen Konstruktion von Ordnung dienen. Die geometrische Rigidität ihrer Anlagen spricht vom Bedürfnis nach Reglementierung der öffentlichen Erinnerung. Sie soll dem Primat der Vernunftordnung unterworfen werden. Das Durcheinander des Schlachtfelds wird durch die räumliche Ordnung des Friedhofs für die Erinnerung korrigiert und mit dem Ideal der Rationalität versöhnt. Der sichtbarste Ausdruck davon ist die Politisierung des Erinnerungsraums. Die Einweihung des Langemarckfriedhofs bot Anlaß zu einem ausgedehnten öffentlichen Ritual, in dem die Erinnerung an den Krieg mit der aufs Neue kriegerisch gewordenen Gegenwart verknüpft werden sollte. Weniger bekannt sind die Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten in Rußland. Die Kriegsgräberfürsorge beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Überresten der Soldaten in der Umgebung von Stalingrad. Die Anlage eines Soldatenfriedhofs hat hohen Symbolwert. Sie muß die eine Aufgabe erfüllen, ein würdiges Angedenken an die dort Gefallenen zu bewahren, und diese Erinnerungsstätte muß zugleich auf die Gefühle der dort lebenden Russen sowie der ganzen Nation Rücksicht nehmen. Es ist, denkt man an die Brutalität der Kämpfe um Stalingrad, nicht verwunderlich, daß es bis heute schwer fällt, öffentliche Zeremonien zu finden, in denen so viel Gemeinsames entstehen könnte, daß diese beiden Ziele sich verbinden ließen. (2) Den vorgestellten Raum denkt man sich leicht als den imaginierten .Gegenstand' des Erinnerns und Phantasierens, im Unterschied zum materiellen Raum. Diese Opposition geht jedoch von einer unproduktiven und schematisierten Alternative aus. In dieser Trennung steht ein physikalischer oder geometrischer Raum, der an sich als leer gedacht wird, aber doch stets bereits mit Menschen und Dingen gefüllt ist, einem anderen Raum gegenüber, der als bloß subjektiv aufgefaßt wird. Die Trennung dieser beiden Konzeptionen schafft erst das methodologische Problem, wie die beiden Räume miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Denn daß es eine Beziehung zwischen dem materialen und dem vorgestellten Raum gibt, ist nicht zu bezweifeln. Die Frage, wie zwischen diesen beiden Räumen eine Verbindung hergestellt werden könne, schafft ein unlösbares Problem, da der leere Raum auch ein starrer Raum ist. Aus dieser Totenstarre des Raums als Ding unter anderen Dingen führt kein Weg zur Frage nach der imaginativen Produktion von Raum. Das Schlachtfeld ist ein Beispiel dafür, daß sich Raum nur in dem Maß verstehen läßt, wie seine objektiven Strukturen als abhängige Variable seiner subjektiven Konstruktionen verstanden werden. Es ist offensichtlich: Schlachtfelder sind Orte des zeitlich und räumlich begrenzten, konkreten militärischen Planens und Handelns. Aus Topographie, klimatischen Bedingungen, Bodenbeschaffenheit und ähnlichen Faktoren setzen militärische Strategie und Taktik Schlachtfelder planend und vorausschauend zusammen. Auch die Militärgeschichte behandelt Schlachtfelder als Orte militärischer Aktionen unter praktischen Gesichtspunkten. 5 Der geographische und physikalische Raum gehört notwendig in die Kriegsvorbereitung. Offiziere werden in ihrer Ausbildung in ihn eingeführt und verbringen ihr professionelles Leben in ihm. Das konventionelle Verständnis vom Krieg bezieht die Frage nach dem Raum von 5 Vgl. Keegan [wie Anm. 1], S. 35-52. Es sollte nicht übersehen werden, welchen Anteil sprachliche Konventionen und die Metaphorik der Schlachtfeldliteratur bei der nachträglichen Erzählung von Schlachten und Schlachtfeldern hat.
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Schlachtfeldern unter diesen instrumentellen Gesichtspunkten der militärischen Auswirkungen von Topographie und Klima ein. Aber Schlachtfelder sind aus dieser Sicht nicht angemessen zu verstehen. Sie können nicht als bloße Ausschnitte auf geographischen Karten gedacht noch durch Daten zeitlich eingegrenzt werden. Nur in dem Maß, wie die symbolische Ebene mitgedacht wird, lassen sich moderne Schlachtfelder verstehen, und nur aus dem unauflöslichen Zusammenwirken der beiden ist eine angemessene Vorstellung von dem Raum, den wir als Schlachtfeld bezeichnen, zu gewinnen. Schlachtfelder sind Räume, in denen sich das dinglich Materielle und das Imaginative unauflöslich verschränken. Der Raum des Schlachtfelds ist nie der bloße Raum militärischen Kalküls, denn erst durch die Einbildungskraft entsteht aus dem Zusammenwirken von Wissen und rationaler Planung mit Erinnerung und Emotionalität der Raum des Schlachtfelds. In die strategische Planung von Schlachten fließen die Erinnerungen an frühere Schlachtfelder stets mit ein, und die Erinnerung an Schlachtfelder enthält, umgekehrt, stets auch Elemente des strategischen Kalküls. Ein Beispiel für diese Verschränkung ist General Schlieffens Aufmarschplan für den Krieg mit Frankreich, der ohne die Erinnerung an Cannae im kollektiven Gedächtnis und ohne Schlieffens eigene historiographische Arbeit, die zum Cannae-Mythos beitrug, nicht entstanden wäre, und der zugleich die sehr konkrete militärische Operation im August 1914 lenkte. Den rein geographisch physikalischen Raum des Schlachtfelds gibt es nicht. Die in historischen Interpretationen von Kriegsliteratur unterlegte Annahme einer Priorität des militärischen Schlachtfeldes und einer mimetischen Korrespondenz zwischen den wirklichen und den vorgestellten Schlachtfeldern ist konzeptionell verfehlt und führt in die Irre. Wirkliche Schlachtfelder sind stets auch imaginierte Räume. Es gibt kein Schlachtfeld ohne das vorausgehende vorgestellte Schlachtfeld, das in Literatur, Film, Kunst und anderen Medien nicht mimetisch abgebildet, sondern konstruiert wird. Eine Entgeometrisierung des Blicks ist notwendig, sollen Schlachtfelder und ihre Erinnerungen aus dem euklidischen Zirkel befreit und als Konstruktionen aus Imagination und Wissen beschrieben werden. Schlachtfelder verloren im industriellen Zeitalter die Bedeutung als konkrete Orte und wurden zunehmend als Räume der Planung und rationalen Herrschaft über Destruktionspotentiale verstanden. So konnte Raum im Bild vom Krieg hinter anderes zurücktreten und Fragen der Politik und Kriegstechnik untergeordnet werden. Fragen nach juristischer Schuld, nach Politik oder Strategie beanspruchen in der Militärgeschichte die volle Aufmerksamkeit, und ihnen wurde eine größere Wirklichkeit zugestanden als dem Raum. Ohne Schlachtfeld kein Krieg, ließ sich dennoch bis vor kurzem sagen. Aber damit war wenig mehr als die offenbare Banalität ausgesprochen, daß Waffen und Soldaten Platz einnehmen. Wenn die Frage nach dem Raum des Schlachtfelds in der Kulturgeschichte des Kriegs gestellt wird, so gilt sie Schlachtfeldern, die nicht mit dem Ende der Kampfhandlungen aufhören zu existieren und zu wirken. In den vorgestellten Raum greift politischer Wille ein. Die Architektur der Erinnerung verdankt diesem Willen ihr Entstehen, nicht dem Krieg selbst. Monumente, Friedhöfe und kultische Anlagen schaffen Stätten des Gedenkens. Die Imagination konstruiert durch Zusammenziehen von Bauwerken, Anlagen, Mahnmalen zu einer Architektur einen Raum der Erinnerung. Der vorgestellte Raum ist auf materielle Objektivierungen angewiesen. Er kann Ruinen, Friedhöfe oder Museen organisch in Landschaften einfügen und damit zu pittores-
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ken oder idyllischen Stätten machen. Er schafft dann eine Ansicht, die zurückliegende Kriege in ein räumliches und zeitliches Kontinuum einbettet. Aus dieser Kontinuität läßt sich Sinn schöpfen. Er kann sie aber auch zu Mahnmalen der Sinnlosigkeit machen und von der destruktiven Kraft des Kriegs zeugen lassen. Der vorgestellte Raum wird konventionell so eingerichtet, daß die Erinnerung an Kriege der Identitätsbildung dient und das Fremde ausschließt. Seit dem frühen 20. Jahrhundert gibt es eine Literatur des Kriegserlebnisses. Sie spricht von der ekstatischen und der traumatischen Erfahrung des Schlachtfelds, die erst aus zeitlichem Abstand bewußt werde und sich nicht vergessen lasse. Die ekstatische Erfahrung der Schlacht hat eine längere Geschichte, während der Anblick des Sterbens und der Qualen auf dem Schlachtfeld im 20. Jahrhundert traumatisch wurde. Das Grausame und das Grauen vor dem Anblick gehören zu den nun immer wieder beschworenen Eigenschaften des Schlachtfelds. Sigfrid Sassoon sprach eine spezifische Erfahrung des 20. Jahrhunderts aus, als er über die „permanent injury" schrieb, die das Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs dem Ich zufugte.6 Schlachtfelder wurden zu Räumen subjektiver Erfahrung, sobald die Erinnerung an Schlachten nicht mehr den Anforderungen der Rationalisierung oder der geschichtsphilosophischen Überhöhung entsprechen konnte. Der vorgestellte Raum zerfiel zu Räumen gestörter Ordnung. Unbehelligt vom neuen Kriegserlebnis erforderte die Planung des Kriegs weiterhin die rationale Beherrschung des Kriegsraums. An seiner Konstruktion nahmen Autoren auch unwillentlich und gelegentlich entgegen ihren Absichten teil. Pazifistische Intention ist gegen die Macht des Raums wehrlos. Lamszus Roman Das Menschenschlachthaus beschäftigt sich, um ein Beispiel zu nennen, nicht mit militärischer Raumplanung, Logistik oder Transportgeschwindigkeiten. Dennoch baut er einen Raum auf. Sein imaginiertes Schlachtfeld entwirft für den kommenden Krieg einen Ort, der mit dem Wort Haus des Titels angemessen charakterisiert ist und die Leserphantasie in den vorgestellten Raum einführt. Das Bild vom Haus als einem Raum nicht der Zuflucht und Sicherheit, sondern des Schlachtens folgt der Intention, das Schlachtfeld exterritorial zu machen, führt es aber zugleich in den vorgestellten Raum ein, wie jedes Schlachthaus nicht nur eine fremde Stätte des Todes, sondern auch eine vertraute der Arbeit ist. Darin liegt das Dilemma aller Anti-Kriegsliteratur, die einen vorgestellten Raum entwirft. Der vorgestellte Raum literarischer Schlachtfelder kann sich aus dem Bannkreis militärischer Entwürfe nur unter der Bedingung lösen, daß er die Beziehungen zum Referenten vollkommen auflöst. Der vorgestellte Raum wird damit, da er keine Orientierung mehr erlaubt, zu einem Raum des Schwindels, .unverständlich' wie Dada-Gedichte, in denen sich Raum nur mehr als poetischer Klangraum herstellt. Damit ist der Übergang zum Vorstellungsraum vollzogen. (3) Der Vorstellungsraum ist der Raum, der für das Ich immer schon da ist, und den es zugleich beständig schafft, in dem es sich (be)findet, und auf den Dinge und menschliche Eingriffe wirken, ihre Spuren hinterlassend. Raum muß aus der geometrischen Starre gelöst und in Bewegung versetzt werden, soll der bewegliche Horizont dieses Raums erkennbar 6 Ein frühes Beispiel der traumatisierenden Schlacht liefert die autobiographische Skizze von Ulrich Bräker, der als gepreßter Soldat 1756 am Feldzug gegen Sachsen und dann an der Schacht bei Lobowitz teilnahm. Vgl. jetzt den Sammelband Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitbruch des Ersten Weltkrieges. Hg. von Inka Mülder-Bach. Wien 2000.
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werden. Die Schlachtfelder der Neuzeit waren stets abgegrenzte Felder in Landschaften. Nach dem Ende der Kampfhandlungen verschwanden diese Grenzen wieder, und die Landschaft verwandelte sich in Felder und Ortschaften zurück. Der Vorstellungsraum trägt dafür Sorge, daß Kriege nicht aus der kollektiven Erinnerung verschwinden, indem er sie in sich aufnimmt, sie und sich selbst dabei verändernd. Nach dem Ende eines Kriegs sind die Dörfer und Felder nicht mehr dieselben, die vorher zu sehen gewesen waren. Die Rückverwandlungen sind nicht komplett oder ungestört. Zerstörungen hinterlassen Spuren, die beseitigt werden müssen oder erst mit der Zeit wieder verschwinden: beschädigte oder zerstörte Landschaften und Ortschaften bewahren Zeichen der Schlacht. Landschaften im östlichen Frankreich und in Belgien erhalten bis heute durch Ruinen und andere Überreste von Schlachten die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Landschaften, die einmal zu Schlachtfeldern gemacht wurden, bleiben im Vorstellungsraum die Zeichen der Erinnerung. Dieser Raum umfaßt die erinnernden Subjekte und die Landschaften, die in diesem Raum nie aufhören, Räume der Schlachten zu sein. Landschaft ist ein elementares Element des Vorstellungsraums, stets bereits anwesend und gleichzeitig das Produkt eines geschulten Blicks. Sie dient als Raum des kollektiven Gedächtnisses zu nationaler Identitätsbildung. Sie kann aber zu einer Bedrohung des Selbst werden, sobald sie die Erinnerung an die Macht des Fremden erzwingt. Aufschlußreich waren die Debatten in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg über Erinnerungsstätten wie das Tannenbergdenkmal oder die geplanten Eichenhaine, in denen Besucher wandeln und sich dabei in eine Stimmung versetzen sollten, die sie an den Krieg als einem elementaren Ereignis in der Geschichte der Nation denken ließ. Aber der Vorstellungsraum entzieht sich dieser Art der Planung und folgt seiner eigenen Logik und Dynamik.
IV. Anwesende und abwesende Schlachtfelder Das Schlachtfeld ist im kollektiven Bewußtsein anwesend und gleichzeitig abwesend. Seine Anwesenheit ist im Zeitalter der elektronischen Medien scheinbar offenkundig. Über das Femsehen dehnen sich Schlachtfelder zeitgleich visuell bis in jedes Wohnzimmer aus. Daß Kriege auf Schlachtfeldern stattfinden, ist so offensichtlich, daß es sich dem Blick leicht entzieht. Die Frage nach dem ,wo' von Schlachten ist so leicht zu beantworten, daß sie banal scheint.
1.
Das anwesende Schlachtfeld
Für die militärische Kriegsplanung war seine Anwesenheit nie zweifelhaft. Weniges ist in der Militärgeschichte so offensichtlich und für jedermann so offen zugänglich wie Schlachtfelder. Die Zusammenhänge zwischen Gelände und strategischer Planung einer Schlacht oder seinen Auswirkungen auf die Taktik des Kampfs waren stets Gegenstand militärischer Ausbildung und der Planung in jeder Kriegsvorbereitung. Sie sind als Feld der Strategen,
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d.h. als Kombination aus Topographie und Strategie in der Militärgeschichte fraglos präsent. Karten, Diagramme, Statistiken, Fotos und ähnliche Mittel dienen dem rein instrumentellen Blick auf eine Gegend unter dem einzigen leitenden Interesse der Benutzung von Topographie als Terrain. Alle europäischen Kriege der Neuzeit hatten ihre Schlachtfelder. Mehr als das. In einer Umkehrung läßt sich als pars-pro-toto sagen, daß die Erinnerung Kriege mit Orten ihrer Schlachtfelder identifiziert.7 .Literarisch' werden Kriege vorwiegend durch ihre Schlachtfelder. Der Teutoburger Wald, das Amselfeld, die Katalaunischen Felder, Azincourt, Leipzig, Königgrätz, Sedan, Gettysburg, die Somme: Kriege, die in der Erinnerung in einzelnen Schlachtfeldern aufgingen.8 All diese Schlachtfelder werden in einem herausgehobenen Sinn erinnert, nämlich als entscheidend. Sie beziehen ihre visuelle Kraft für die Erinnerung aus ihrer Macht - oder aus dem Glauben an ihre Macht - zu einer Richtungsänderung der Geschichte. Sie sind im kollektiven Gedächtnis präsent, weil sie erinnert werden, als ob jeder einzelne an dieser Richtungsänderung teilgenommen hätte.9 Auf dem Schlachtfeld der Neuzeit fand eine Verknüpfung von Biographie und allgemeiner Geschichte, von Lebenszeit und Weltzeit statt. Das Schlachtfeld als Ort historischer Entscheidungen setzt sich bis in die Gegenwart fort. Alexander Kluges literarisch-filmische Schlachtfelder oder Heiner Müllers Stücke über die Entscheidung zwischen oppositionellen Weltentwürfen in der Konfrontation mit den Heeren Hitlers und der Ideologie des Faschismus schreiben dem Schlachtfeld diese Bedeutung zu. Aber im Unterschied zum Schlachtfeld der Vergangenheit nimmt der einzelne an diesen Entscheidungen nur noch passiv teil. Es kommt auf ihn nicht mehr an. Das Schlachtfeld der einfachen Soldaten macht in der Literatur den Raum der Schlacht aus einer Umkehrung der metaphysischen Bedeutsamkeit präsent. Ulrich Bräker, der „arme Mann im Tockenburg", schildert das Schlachtfeld des Siebenjährigen Kriegs aus der Perspektive seiner beschränkten Erfahrung.10 Konkretheit und partikulare Perspektive machen den hohen Grad an subjektiv beglaubigter Authentizität der Erinnerungen aus. Dies Schlachtfeld ist der Ort der Entfremdung, des Leids und der Misere der kleinen Soldaten. Bräkers literarisches Schlachtfeld nimmt die subjektive Perspektive des Schlachtfelds der Amateurfotografie vorweg, insofern es aus der ,engen' Sicht von unten gesehen ist. Auf diesem Schlachtfeld befindet sich der Soldat als .Kanonenfutter', wie der sarkastische Ausdruck für diejenigen lautete, die nicht zum Heldentum auf dem ,Feld der Ehre' bestimmt, sondern jederzeit ersetzbar waren, und auf den Gemälden der Schlachtenmalerei die anony-
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In einigen Ländern der Entente wird der Erste Weltkrieg bis heute mit den Feldern Flanderns verbunden. Am 11.11. jeden Jahres lebt die alte englisch-australische Tradition weiter, rote Stoff- und Papierblumen zu verkaufen, die an Revers getragen werden und an den Ersten Weltkrieg durch die Erinnerung an den roten Mohn Flanderns und das auf den Mohnfeldern vergossene Blut erinnern. Im Gegensatz dazu hat der primitive Krieg und haben alle Kriege vor der modernen Zivilisation kein Schlachtfeld. Das berühmteste Beispiel der Kriegsliteratur ist der Raum vor den Toren Trojas, der in Homers Text nicht zum Schlachtfeld wird. Vgl. etwa die Interpretation des Siebenjährigen Kriegs als die Entscheidung über die Herrschaft in der neuen Welt zwischen den beiden Großmächten England und Frankreich - gefällt auf den Schlachtfeldern Amerikas und lediglich nebenbei auch auf denen Deutschlands/Österreichs: Fred Anderson: The Crucible of War. The Seven Years' War and the Fate of Empire. New York 2000. Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des armen Mannes im Tockenburg. Bräkers Werke in einem Band. Hg.von Hans-Günther Thalheim. Berlin / Weimar 1966, S. 83-293.
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me Masse abgeben, gut genug, um dem Maler als Träger von Farben und Bewegungen zu dienen. Sobald aber dieses Kanonenfutter als lebendige Menschen sichtbar wird, ist die Schlacht anwesend. Es gibt wenig Texte aus dieser Konkretheit der Froschperspektive. Aus späteren Kriegen kennen wir Briefe von Soldaten, aus denen sich die Bedeutung des Schlachtfelds für das Kriegserlebnis und die Erinnerung rekonstruieren läßt." Tagebücher und Fotoalben sind weitere Quellen, aus denen sich ein Bild vom Schlachtfeld der partikularen Erfahrungen und den Formen und Inhalten seiner Erinnerung gewinnen läßt, das Schlachtfeld anwesend gemacht wird. Ein amerikanischer Soldat schrieb im Zweiten Weltkrieg in sein Tagebuch: „Nach einigen Monaten in der Kampfzone fand wenigstens ich selbst es schwer, an irgendeine Wirklichkeit als den Krieg zu glauben oder ihm irgendeinen anderen Zustand gegenüberzustellen."12 Die einzige noch vorstellbare Welt, die auf dem Schlachtfeld übrig blieb, schreibt Gray, war das Schlachtfeld. Die überwältigende Macht dieses Raums führte zu einer Betäubung des Geistes und einer Abstumpfung der Wahrnehmung („stupefaction"). Er war nicht der einzige, dem der Sinn für die Welt jenseits des Schlachtfelds verlorenging und das Schlachtfeld zur einzigen und zur extremen Präsenz gesteigerten Wirklichkeit wurde. „Bis zu einem gewissen Grad erfaßt sie die meiste Zeit einfach jeden." Das Schlachtfeld wurde zu einem eng begrenzten Ausschnitt, einer Zone der Hyperrealität. Zu seiner Anwesenheit trug seit dem späten 19. Jahrhundert das neue Phänomen des „Schlachtfeldtourismus" bei. Nach dem Ersten Weltkrieg organisierten, von England ausgehend, Tourismusunternehmen systematisch Reisen auf die Schlachtfelder, vor allem Flanderns. Bald gab es gut organisierte Bustouren zu allen Orten der Westfront, an denen größere Schlachten stattgefunden hatten. Die Schaulust schuf nicht nur eine eigene Industrie, sondern führte auch zu einer zuvor unbekannten Präsenz von Schlachtfeldern im Gedächtnis der Nachkriegszeit. Der Schlachtfeldtourismus wurde schnell zum Gegenstand heftiger Kritik an Sensationalismus und Militarisierung. So veröffentlichte Hans Rothe in der Zeitschrift Das Tagebuch einen kritisch resignierten Artikel mit dem Titel: „Vergnügungstour über die Schlachtfelder." Er reihte sich in einen Chor der ablehnenden Autoren ein und widmete dem Hang zur Erlebnisgeschichte auf den „blutgetränkten Gefilden Flanderns", wie es in Anzeigen hieß, einen satirischen Bericht über den „Geist" der Luxustouren: „Dies ist der Geist, der in alle Ewigkeit Kriege möglich machte, wenn nicht die Schlachtfelder von 1914 bis 1918 eine Sprache redeten, die allmählich gehört und verstanden werden muß."n Er befürchtet, daß eine beständige Präsenz des Kriegs als monumentaler Erinnerung viele Jahre nach dem Ende des Kriegs selbst einen Beitrag zur Militarisierung dieser Nachkriegsgesellschaft und zur Fortsetzung des Kriegs in den Köpfen liefere. Diese Kritiken waren wenig mehr als hilflose Gesten. Ihre Autoren hatten kein Verständnis für das offensichtliche Bedürfnis nach konkreter Berührung mit den Überresten des Kriegs. Die Opposition zwischen
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Vgl. Bernd Ulrich: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 19141933. Essen 1997. J. Glenn Gray: The Warriors. Reflections on Men in Battle. Introduction by Hannah Arendt. Lincoln / London 1970 (zuerst 1959), S. 105. Hans Rothe: Vergnügungstour über die Schlachtfelder. In: Das Tagebuch. Berlin 6. Juni 1925, S.834838, hier S.835. Karl Kraus begnügte sich damit., Anzeigen für diese Reisen kommentarlos in der Fakkel abzudrucken.
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einem nostalgischen Illusionstourismus und einer echten Erinnerung an die grausame Wirklichkeit des Kriegs ging von einer falschen Voraussetzung aus. Ihr moralischer Appell blieb wirkungslos. Die Schlachtfeldtouristen suchten und erlebten nicht notwendigerweise ein Feld, in dem sie emotional versinken konnten, um sich in kriegerischen Gefühle zu verlieren. Für die Entwicklung von kriegerischer Begeisterung hatte die Heimat geeignetere Räume anzubieten. Sie waren vielmehr ausgesetzt und standen, ohne eine innere Verbindung, dieser Umgebung gegenüber. Sie praktizieren einen Tourismus des Schreckens auf Feldern, von denen sie erhoffen, in die prekär gewordene Wirklichkeit gestoßen zu werden. Im Zeitalter der elektronischen Massenmedien sind Reisen auf die Schlachtfelder selten geworden. Die Berührung mit Wirklichkeit durch den nachempfundenen Schauer der Schlacht erwartet niemand mehr. Die beständige Anwesenheit von Kriegen im kollektiven Bewußtsein ist überdeterminiert. Die Bilder vom Tod in den letzten Kriegen waren und sind allgegenwärtig und damit metonymisch geworden. Das im Vietnamkrieg entstandene Wort „Killing Fields" ist schwer ins Deutsche zu übersetzen und erfaßt diesen Aspekt des modernen Schlachtfelds. Es ist der Raum einer konkretistischen Perspektive auf den Tod, die in reine Leere übergeht. Unmittelbar neben dem Tod liegt auf diesem Feld das ästhetische Spektakulum von Auslöschungen, das auf Bildschirmen und Leinwänden beliebig oft wiederholt werden kann, ohne Spuren zu hinterlassen. Neben ihrem Glanz verblaßt der Tod zur Unsichtbarkeit, und die beständige visuelle Anwesenheit schlägt in Unsichtbarkeit um. Anfänge einer neuen Ikonographie des Konkreten lassen sich auf die Fotografie zurückverfolgen. Die ersten, technisch unvollkommenen Fotos eines Schlachtfelds stammen aus dem Krimkrieg. Sie zeigen wenig mehr als eine Landschaft mit Geschützen und Befestigungen. Bald darauf stellen die Fotografen des Amerikanischen Bürgerkriegs ihre Alben zusammen und schließen Aufnahmen von Schlachtfeldern mit ein. In Gardners „Photographie Sketchbook of the Civil War" finden sich einige Fotos von Landschaften, die in Schlachtfelder verwandelt wurden. Ein bekanntes Foto trägt die Unterschrift: „Field where General Reynolds fell. Gettysburg. July 1863."14 Es zeigt flachen Boden, mit langem, niedergetretenem Gras, vielleicht ein Kornfeld, unscharf im Hintergrund drei Bäume und, schockierend für die Bildbetrachter der Zeit, fünf tote Männer in Uniform im Vordergrund. Eine sechste Leiche, unscharf im Hintergrund, deutet an, daß sich der mit Leichen bedeckte Boden des Schlachtfeldes außerhalb des Bildrahmens fortsetzt. Mit den Alben des Amerikanischen Bürgerkriegs war die visuelle Konstruktion des Schlachtfelds technisch-moderner Kriege geboren. Mit ihren Bildern schuf diese Fotografie eine Präsenz des Schlachtfelds für die Erinnerung und gleichzeitig eine abstrakte Leere des Raums, der Tod entwirklichte. Im Ersten Weltkrieg gab es zwar noch immer offizielle Kriegsmaler. Aber die Fotografie der Westfront verdrängte im öffentlichen Bewußtsein das Bild, das die Maler von den Schlachtfeldern herstellten, bald vollkommen. „Zu den Dokumenten von besonderer Genauigkeit, wie sie dem menschlichen Verstände erst seit kurzer Zeit zur Verfügung stehen," rechnete Jünger die „Lichtbilder". Wie sehr sie als Teil der Wirklichkeit des Kriegs empfunden wurden zeigt ihre Zusammenstellung mit den Waffen und der Landschaft des Schlachtfelds: „Neben den Mündungen der Gewehre und Geschütze waren Tag für Tag die optischen Linsen auf das Kampfgelände gerichtet; sie bewahrten als die Instrumente eines 14
Alexander Gardner: Gardner's „Photographie Sketchbook of the Civil War. Plate 37. Reprint (Dover Pubi.) 1959.
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technischen Bewußtseins das Bild dieser verwüsteten Landschaften auf [...]".15 Im Foto war, so schien es den Zeitgenossen, der Krieg selbst anwesend, nicht seine bildliche Interpretation aus der Perspektive eines Malers.16 Mit dem Anspruch der Authentizität ausgestattet, wurde die Fotografie zum konkurrenzlosen Medium der Repräsentation der Schlachtfelder und veränderte ihr Bild von Grund auf. An die Stelle des idealisierten Bildes der Schlacht, wie es von der Schlachtenmalerei über einen Zeitraum von etwa dreihundert Jahren entwikkelt worden war, trat ein neues Bild mit dem Anspruch, durch die Mittel der Fotografie zu dokumentieren. Dazu trugen die zahlreichen Fotos der Front als einer Welt der Dinge und vom menschenleeren Schlachtfeld bei. Die Amateurfotografie knüpfte bei der Konkretheit der Graphik an, die die Bauernkriege oder den Dreißigjährigen Krieg auszeichnete, den Kriegsalltag und Themen wie Brutalität, Zerstörung und Tod betonend. Der Abwesenheit des Sterbens vom geadelten Bild der Schlacht stellte der Fotorealismus des 20. Jahrhunderts die Sicht ,νοη unten', die .Froschperspektive' der Soldaten im Feld, entgegen.17 Sie führte zur Fragmentierung des Schlachtfelds, das zu Ausschnitten konkreter fotografierter Augenblicke zerfiel.18 Das Bild vom modernen Schlachtfeld war eine Erfindung der technischen Medien, aber die .realistischen' und fragmentierten Bilder der Fotografen machten das Bild vom Schlachtfeld nicht allein aus, sondern sie wurden in einem ikonischen Feld aufgenommen, in das auch die unverborgene Subjektivität von Malerei und Graphik einging. Sie ergänzten und modifizierten nach dem Ersten Weltkrieg das .authentische' Bild vom Schlachtfeld durch subjektive Perspektiven und Interpretationen. Otto Dix' Radierungen „Schützengraben", um nur dies eine Beispiel zu nennen, flössen im Bildgedächtnis der Zeit mit den dokumentarischen Fotos der Westfront zusammen. Fotos können nicht betrachtet werden, ohne daß sie die Erinnerung an andere Bilder wachrufen, die gemeinsam mit ihnen ins Bildgedächtnis eingehen. Sie erweitern die scheinbar objektive Dokumentation der Fotografien um eine offen subjektive Perspektive und tragen dazu bei, die Subjektivität in der Fotografie selbst zu enthüllen. Inzwischen ist das Schlachtfeld dabei, sich als ein Raum der Präsenz zu verlieren. Während Fotografie und Film zwar auch ihren Beitrag zur abstrakten Codierung des Blicks auf das Schlachtfeld leisteten, erhielten sie doch gleichzeitig Möglichkeiten zur Subjektivität und Konkretion der Anschauung. Mit dieser Erhaltung der Anschaulichkeit sind sie, gemessen an den Abstraktionen der digitalen Bildschirmwelten, veraltete Medien.' 9 Waren sie die Medien einer noch immer anschaulichen Bildlichkeit, so leiten Videos und Fernsehberichte von Schlachtfeldern in die totale Derealisierung der Schlachtfelder durch Abstraktion ohne
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Ernst Jünger: Krieg und Lichtbild. In: ders.: Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten. Berlin 1930, S. 9. Der Titel „So war der Krieg" (hg. v. Franz Schauwecker, 1928) für einen Band mit Fotos von den Fronten gibt dieser Erwartung einer echten Präsenz durch das Foto Ausdruck. Vgl. Frank Hurleys Versuch, durch .composite printing' eine Fotografie der kämpfenden Soldaten mit der Perspektive des Feldherrenhügels zu verbinden. Die offizielle Kriegsfotografie war (mit der Ausnahme der australischen Fotografie) bloße Propaganda und trug nichts zum neuen Bild vom Schlachtfeld bei. Sein Anspruch auf Wirklichkeit stammte aus der limitierten Perspektive der Soldaten, zu deren Repräsentanten sich die nicht offiziell bestallten Fotografen machten. Vgl. u. a. Paul Virilio: Rasender Stillstand. München 1992.
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einen Bezug zum Referenten über. In den Medien des digitalen Zeitalters löst sich Raum, der immer auch an Orte und das Partikulare gebunden ist, ins Nichts auf.
2.
Das unsichtbare Schlachtfeld
Die Anwesenheit der Schlachtfelder ist trügerisch. Seine Abwesenheit im kollektiven Bewußtsein ist lediglich weniger offensichtlich. Das Schlachtfeld unterliegt als Raum einer Zensur der Wahrnehmung. Seine Abwesenheit im kollektiven Gedächtnis ist der Abwesenheit traumatischer Erfahrung im individuellen Bewußtsein vergleichbar. Scheint das Schlachtfeld als Schlacht anwesend zu sein, so bleibt es als Raum abwesend, sobald wir als Raum nicht den jederzeit verfügbaren und an sich leeren Raum verstehen, den zunächst die Generale und hernach die Maler, Schriftsteller und Poeten mit den Gegenständen der Schlacht füllen. Eine Geschichte des Schlachtfelds als Feld gibt es nicht oder allenfalls in unzureichenden Fragmenten. Dem eingebildeten Raum wird allenfalls für die Kriege primitiver Gesellschaften eine eigene Bedeutung zugestanden. Moderne Kriege haben aus der Sicht des zivilisatorischen Fortschritts die Primitivität der Räumlichkeit überwunden. Sie werden für universale Ideale wie Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung oder Gleichheit geführt, sind dadurch vernünftig zu begründen und können überall geführt werden. Auch werden sie mit den Mitteln der an keinen Ort gebundenen Technologie ausgetragen. Ein Schlachtfeld ist aus dieser Sicht nichts als die leere Fläche, die den notwendigen Platz zur Verfügung stellt, um einen Kampf durch physische Gewalt zwischen zwei Heeren austragen zu können. Die militärische Bedeutung von Schlachtfeldern sank im industriellen Zeitalter proportional zum Anstieg der Bedeutung von Industrialisierung und Technologisierung der Gesellschaft und ihrer Kriegsführung. Zunächst wurde beobachtet, daß die Bedeutung der Topographie beständig abnahm, so daß das Feld des Schlachtfelds seine Bedeutung verlor. Raum konnte in dem Maß vergessen werden, wie das artifizielle Schlachtfeld der Technologie entstand. Seit dem Krimkrieg und dem Amerikanischen Bürgerkrieg wurde beobachtet, daß die Entscheidung über Sieg und Niederlage im Krieg kaum mehr auf den Schlachtfeldern fiel, sondern zur Funktion der ökonomischen und politischen Stärke der kämpfenden Parteien wurde. Das konventionelle Schlachtfeld, auf dem zwei Armeen aufeinandertreffen und im offenen Gelände bis zur Kriegsentscheidung kämpfen, galt bereits im Ersten Weltkrieg nicht mehr und wurde danach zur Ausnahme, so daß die These entwickelt wurde, daß „im Krieg der Gegenwart die Erfindungen des Menschen die Rolle der Natur zur Bedeutungslosigkeit hat schrumpfen lassen."20 Militärische Aktionen wie Stalingrad oder die Landung der Alliierten in der Normandie werden zwar oft in Bildern und einer Sprache repräsentiert, die eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld suggerieren. Das ist jedoch ein Anachronismus, der dem Schlachtfeld eine Bedeutung zuspricht, die es nicht mehr hatte. Der Weg in die Bedeutungslosigkeit des Schlachtfelds für den post-industriellen Krieg war längst beschritten. Abwesenheit des Schlachtfeldes war bereits frühzeitig eine Folge seiner Ordnung. Ordnung läßt das Schlachtfeld aus dem Gedächtnis verschwinden. Mit Leichen übersäte Felder 20
Vgl. etwa Douglas Wilson Johnson: Battlefields of the World War. Western and Southern Fronts. A Study in Military Geography. New York 1921, S. XV f.
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können zu Räumen einer geschichtlichen Ordnung gemacht werden, in denen nur noch die Idee sichtbar ist. Schlachtenmalerei schuf diese Räume einer ideellen Ordnung. Sie visualisierte die Idee des Schlachtfelds als einem Feld der Ehre, auf dem geschichtliche Entscheidungen gefallt werden. Sie inszenierte Kriege als Welt-Ereignisse. Diese Gemälde waren nicht mimetische Repräsentationen eines Ereignisses im Sinn einer visuellen Geschichtsschreibung. Sie machen selbst Geschichte, indem sie den Bildraum nach Ideen, etwa der Idee vom ritterlichen Krieg, ordnen und damit ein vorgestelltes Schlachtfeld schaffen. Sie bringen subjektive Erfahrungen zum Verschwinden. Das Bild der Vergangenheit wird durch ein ideales Bedeutungsmuster strukturiert, das die Einbildungskraft in die Zukunft lenkt. Maler von Schlachtfeldern machten Geschichte, indem sie visuelle Räume herstellten, die für die Wahrnehmung kommender Kriege und für die zukünftige Erinnerung konstitutiv wurden. Die Schlachtenmalerei seit dem 16. Jahrhundert stellte die Schlachtfelder als Zusammenhang dar, meist aus der erhöhten Perspektive des Feldherrnhügels. Als frühes Muster dieser zentrierten Überblicksperspektive in der Visualisierung des Schlachtfelds kann Altdorfers „Alexanderschlacht" gelten, deren Raum noch nicht vom Feldherrenhügel, sondern von einem noch höheren Standpunkt organisiert wird. Das Auge Gottes dient zum .Fluchtpunkt'. Diese Perspektive stabilisiert den Bildgehalt, indem sie eine objektive Ordnung schafft, in der der einzelne Körper und der einzelne Tod verschwinden. Dieser Raum bezieht seine Ordnung aus der Öffnung zur Transzendenz. Der irdische Raum ist nach göttlicher Ordnung eingerichtet, und sie gilt unbeschränkt auch für den Raum der Schlacht. Diese Ikonographie des Schlachtfelds folgte der christlichen Geschichtsmetaphysik. Sie verlieh den Bildern des Leids durch die Transzendierung der Körperbilder eine Weihe, so daß Leid, Qual und Tod in übergeordneter Bedeutung verschwanden. Der Begriff des .bellum justum' wirkte in der christlichen Kriegstheorie seit Augustinus und sorgte für eine Derealisierung vom Schlachtfeld im Kriegsbild. Die Geschichte als Heilsgeschichte bettete seit ihren theologischen Anfängen im frühen Mittelalter den Krieg, wenn er für moralisch gerechtfertigte Ziele gekämpft wurde, in einen eschatologischen Prozeß ein. Der Krieg bezog aus dem Jenseits eine Rechtfertigung, so daß die Repräsentation des Schlachtfelds dessen Raum entmaterialisierte. Den strukturellen Veränderungen korrespondierte das Erleben des Schlachtfelds. Aus dem Zusammenhang zwischen objektiver Bedrohung und subjektiver Furcht entstand auf dem technologischen Schlachtfeld ein emotionaler Raum, der zur Zerstörung des Bekannten und Gewohnten drängte und neue Verhaltensformen für die eigene Ordnung des Schlachtfelds brachte. Mitleid, Widerstand oder Ekel im Angesicht der gequälten Körper stellten sich erst aus dem Zerfall der Geschichtsmetaphysik ein. Dem Blick können erst dann die Bilder von Verwundeten, Krüppeln und Leichen unverstellt erscheinen. Mit dem Zerfall der metaphysischen Begründung wurde es notwendig, eine Begründung des Kriegs durch reine Vernunftgründe zu finden. Nach dem Zerfall von Heilsgeschichte müssen Bilder vom Schlachtfeld in Kontexte eingebaut werden, die sie zu Illustrationen der ethisch rechtfertigenden Gründe machen. In dieser Entwicklung markierte der Erste Weltkrieg einen Übergang. Er war der letzte Krieg, in dem das Schlachtfeld noch einmal als metaphysische Idee erinnert wurde, und der
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es zugleich als Ort des subjektiven Erlebens und des Leidens sichtbar machte.21 Die Erinnerung an diesen Krieg wurde jedoch mehr als die an jeden früheren Krieg medial und verflüchtigte das Konkrete. Die Repräsentationen kreisten um Namen von Schlachtfeldern, deren Beziehung zu Referenten bedeutungslos wurde. Sie wurden durch Literatur, Film und Massenmedien als Mythen für das kollektive Bildgedächtnis gegenwärtig gehalten. Die Mythen des Kriegs führten nicht dazu, wie oft argumentiert wird, daß Geschichte zu Natur relifiziert wurde, sondern waren die Mittel, um die Erinnerung an den Krieg nicht an mediale Abstraktion oder die akademische Geschichtsschreibung zu verlieren, sondern die Erinnerung an seine primitive Realität in kreative Phantasie zu übertragen. Kant ordnete das Schlachtfeld zu den erhabenen Anblicken. Aus vielen Schilderungen des modernen Schlachtfelds spricht die Faszination, die von großen Naturschauspielen, der Macht der Elemente und Schaustellung der Naturgewalten ausgeht. Wie der Anblick des Gewaltigen in der Natur, wie Gewitter oder Naturkatastrophen das Innere erschüttern, so ist auch die Wirkung der Schlacht überwältigend und kann den Schauer auslösen, der das Innere aus der Balance wirft und zum Empfinden des Moralischen, von dem Kant spricht, fuhrt. Der überwältigende Gesamteindruck versetzte Soldaten in einen Zustand psychischer Auflösung, der ihnen aus dem Alltagsleben nicht vertraut war. Als Zuschauer hat der Soldat nicht allein die Gewißheit, noch immer am Leben zu sein, sondern er phantasiert sich eine Position, die ihn über die Gewalt des Schauspiels erhebt. Die sichtbar und hörbar demonstrierte Macht des Schlachtfelds läßt die Zusammenhänge von Krieg und Politik vergessen. Daß es sich um einen Krieg mit politischen Kriegszielen handelt, wie Kant in seiner späteren Schrift Zum ewigen Frieden argumentiert, und das Schlachtfeld aus Organisation und technischen Erfindungen zusammengesetzt ist, wird auf dem erhebenen Schlachtfeld bedeutungslos. Die Gewalt seiner Destruktion löst im Ich die Ekstase aus. Wenn Kant die Erschütterung des Ichs auf dem Schlachtfeld mit Moralität verbindet, spricht er von einem Schlachtfeld, das inzwischen Vergangenheit geworden ist. Erhaben war das moderne Schlachtfeld, insoweit es die Erfahrung der Selbstbehauptung des Ichs und seiner psychisch moralischen Ordnung in einer Grenzsituation ermöglichte. Krieg im Zeitalter der Elektronik schafft solche Räume des Erhabenen nicht mehr. Das Gefühl des Erhabenen entstand aus einem Abstand. Es mußte die Unmittelbarkeit der bloßen Erschütterung überwinden und einen Zwischenraum zwischen der Schlacht und einem Ich herstellen. Ohne ihn ginge das Ich auf dem Schlachtfeld verloren. Je näher das Bild rückt, desto weniger wird an ihm sichtbar, desto mehr verschwimmt es mit den Empfindungen im Innern zu einem unscharfen Eindruck. Nur die Überwindung der Nähe machte es möglich, wahrzunehmen, und nur das so wahrgenommene Schlachtfeld ist das wirkliche Schlachtfeld. In dem Maß wie dieser Abstand schrumpft, phantasiert sich der Soldat als Teil einer Übermacht einer unverstandenen Gewalt. Daraus entstand das Ekstatische am Kriegserlebnis, in dem das Ich auf den kleinsten Punkt im Innen schrumpft, aus dem phantasierte Bilder entstehen. Wenige literarische Texte berichten von diesem Gefühl der Überlegenheit, die der Beobachter selbst noch beim Anblick der größten Massierung von Destruktionsmaschinen und 21
Bezeichnend fur eine solche Auffassung waren viele Fotobände der zwanziger Jahre oder die Serie: Schlachten des Weltkriegs in Einzeldarstellungen behandelt und hg. im Auftrag des Reichsarchivs. Berlin 1923 ff. Die Reihe wurde von Archivrat Soldan betreut und war äußerst populär.
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der unvorstellbaren Zerstörungskraft des Materials hat. Der distanzierte Blick auf das gewaltige Geschehen an den Fronten des Ersten Weltkriegs machte das Gefühl einer Überlegenheit des Geistes im fragilen und winzigen Körper inmitten der Destruktionslandschaft zu einer Ausnahmeerfahrung. Ernst Jüngers stilisierte desinvoltura hat ihren Ursprung auf dem konkreten Schlachtfeld und nicht im Krieg. Je mehr wir uns der eigenen Gegenwart nähern, desto mehr führte der Blick aufs Schlachtfeld zu einer antinomischen Gleichzeitigkeit von Amnesie und Realitätseuphorie. Wenige Betrachter erhalten sich durch das Zittern, das sie durchläuft, die Gewißheit von einem Selbst, das sich gegenüber dieser Riesenmaschine erhält, auch wenn es keinen Einfluß auf sie nehmen kann. In diesem Ich erhebt sich kein Gefühl des Moralischen und kein Triumph, sondern lediglich die Genugtuung des Überlebens, die sich durch das Verzwergen auf dem modernen Schlachtfeld nicht auslöschen ließ. Der Anblick des modernen Schlachtfelds führte zunehmend zu einem Kriegserlebnis, in dem das Ich sich weder als verantwortlicher Akteur noch als leidendes Opfer erlebte, sondern sich in einem Zustand des desorientierten Schwebens und des Schwindels fand. Die Ekstase des Schlachtfelds ist ein subjektives Erlebnis und ohne Moral. Die Ekstase, in der das Schlachtfeld als gewaltiger Raum einer Grenzsituation erfahren wird, löst eine tiefe Unsicherheit über das Handeln aus. Weil diese außer-moralische Erfahrung der Ekstase über den einzelnen Akt des Tötens hinausgeht und die Frage nach der anthropologischen Konstruktion des Menschen aufwirft, geht von ihr die eigentliche Herausforderung aus. Freuds Antwort auf die Frage: .Warum Krieg?' findet eine alarmierende Antwort: Weil die Lust am Grausamen und Phantastischen des Schlachtfelds zum ekstatischem Erleben einer anderen, im Alltagsleben abwesenden Wirklichkeit führt. Gegen deren Verführung kommt keine vernünftige Argumentation an. Diese Vorstellung des Schlachtfeldes wird von der Kritik an der Irrationalität des Kriegs nicht erfaßt. Solange die Kritik am Krieg sich am Maßstab einer vernunftgerechten Wirklichkeit orientiert, verfehlt sie diese Ebene, auf der das Schlachtfeld abwesend ist und das Unbewußte die Angstlust des Schwindels in einem phantasierten Raum des Schlachtfelds herbeiphantasiert.
V. Das Schlachtfeld als Raum von Kreativität Im imaginierten Raum der Schlachtfelder transformierten Gesellschaften der Moderae destruktive Energien in kollektive Kreativität. Schlachtfelder schufen kollektiv imaginierten Raum und füllten ihn mit inhaltlichen Entwürfen. War das Fortbestehen des Kriegs der Skandal der Rationalität, so schuf sein Schlachtfeld einen prekären Raum für die Befreiung von den Zwängen der Rationalisierung. Das Schlachtfeld wurde in der Moderne zum Ort der Destruktion und zum Vorstellungsraum, in dem durch kollektive Imagination die Grenzen der Rationalisierung überschritten wurden. Eine Geschichte dieses Raums verlangt die Suche nach einer Logik des Transformierens von Destruktion in kreative Phantasie. Im vorgestellten Raum der Schlachtfelder entstanden einst die Gründungsmythen europäischer Nationen, und auch die jungen Nationen der USA und Australiens suchten Schlachtfelder für die Identifikation ihres Anfangs und den Entwurf nationaler Identität. Die
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Mythisierung von Kriegen im Dienst der nationalen Identitätsbildung läßt sich als die Transformation von Schlachtfeldern in vorgestellte Räume darstellen. Für die europäischen Nationen bot der Erste Weltkrieg die letzten Schlachtfelder fur diese Transformation. Langemarck, Dorf und umliegende flache Äcker, wurde zum Feld der Ehre ausgedeutet, auf dem sich eine jugendliche Generation fur das Vaterland opferte und zu Helden wurde, weil ihr Opfer die Zukunft der Nation garantierte. Ostpreußen mit dem Symbolort Tannenberg, der die Kolonisierung des Ostens durch die Kreuzritter vertrat, wurde zum geschichtlichen Raum überhöht, wo der Makel von 1410 korrigiert wurde. Die wahre Überlegenheit der deutschen Kolonisatoren konnte sich nun in den Mythen der neuen Schlacht erweisen. Die Überlegenheit der deutschen Kultur siegte, nach dieser Interpretation, auf dem Schlachtfeld über den Osten, und damit wurde die Zukunft der Nation durch deutsche Heere gewonnen. Der Tannenbergmythos entsprach in Deutschland dem französischen Verdun-Mythos von der Rettung des Vaterlandes vor der Gefahr aus dem Osten. Er wurde seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs amtlich gepflegt. Aber er wurde nie in dem Maß populär wie die Erinnerung an Flandern oder Verdun. Sie formten als Orte der Verteidigung des genuin Eigenen das kollektive Gedächtnis in England und Frankreich, und diese Erinnerung wird bis in die Gegenwart immer wieder erneuert und rituell beschworen. Der Tannenbergmythos dagegen ist vergessen. Verdun wurde als Ort des Abnutzungskriegs22 erinnert, ohne Sieg und Triumph. Der Raum, in dem die grausame Blutpumpe eines sinnlos gewordenen Massenkriegs arbeitete, wurde hoch literarisch, eignete sich aber nicht fur Geschichtsmetaphysik. Das Schlachtfeld von Verdun wurde in der deutschen Erinnerung als Raum des sinnlosen Sterbens konstruiert. In Frankreich erzählt sich die Schlacht um Verdun anders, nämlich als Mythos von der Rettung des Vaterlandes durch heldenhaften Mut. Es ist in Deutschland, im Unterschied zu anderen europäischen Nationen, trotz zahlreicher Versuche weder in Tannenberg noch in einer anderen Gegend gelungen, einen Raum der Erinnerung zu schaffen, in dem sich das positive Bild einer Schlacht dauerhaft erhalten hätte. Auf Schlachtfeldern fand die Phantasie aber nicht nur den Stoff zur Mythenbildung, sondern auch deren Energien. Die Kriegsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts spricht vom Schlachtfeld als Raum der Verschiebung von Destruktion in Kreativität. Ich nenne einige Beispiele. In Tolstois Krieg und Frieden erträumt der verwundete Prinz Andree auf dem Schlachtfeld für sich eine neue Welt, befreit von der Last und dem Handlungszwang der Ge-
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Winters vergleicht die Topographie von Verdun und der östlichen Schlachtfelder des Amerikanischen Bürgerkriegs (Antietam, Sharpsburg) und kommt zu dem Schluß, daß sie ähnlich waren, aber die Strategien und Taktiken sich wesentlich unterschieden. Während General Lee am Anfang des Kriegs die Topographie ausnutzte und zum Vorteil der Truppen arbeiten ließ, nahm der Angriff auf Verdun keine Rücksicht auf ein Gelände, das der Verteidigung eindeutige Vorteile gab und die angreifenden Truppen auf dem offenen Gelände vor den Befestigungen unverhältnismäßiger Gefahr aussetzte. „Der Soldat ist glücklich, dessen Befehlshaber genug Überlegung zeigt, um die Geographie zum eigenen Vorteil auszunutzen [... ] Vor Verdun entwickelte und verwirklichte keine der beiden Seiten einen effizienten Angriffsplan. In der Schlacht kann das Terrain in jeder Hinsicht so entscheidend sein wie der Gegner selbst" (Harold A. Winters et al.: Battling the Elements. Weather and Terrain in the Conduct of War. Baltimore / London 1998, S. 117-140. Auch unter dem Gesichtspunkt des Geländes ist Verdun symptomatisch für die besondere Kombination aus Abstraktion moderner Kriegführung und der Irrationalität affektiver Motivationen.
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schichte. Seine Vision läßt sich als Geburtsstunde der existenzialistischen Absurdität lesen. Henri Barbusse beginnt seinen Roman Le feu (1916) mit einer imaginären Landschaft.23 Auf der Veranda eines Lungensanatoriums in den Hochalpen liegen die Kranken und sehen auf die Alpenlandschaft. Das Wort „Krieg" dringt in das Schweigen der Berge und der Patienten ein. „Einige der Liegenden brechen das Schweigen und wiederholen das Wort halblaut und denken über dies größte Ereignis der Gegenwart und vielleicht aller Zeiten nach. Und zugleich beschwört diese Gewißheit über der hellen Landschaft, in die sie starren, eine Art wirre und düstere Fata Morgana herauf. [...] Im Norden, Süden, im Westen, auf allen Seiten toben in der Ferne Schlachten. Wohin man sich auch wendet, keine Landschaft ist vom Krieg verschont [...]." Aus der apokalyptischen Landschaft der Schlachten entsteht alsbald eine andere Vision. In der extremen Lage des Schlachtfeldes, an der „Schwelle der Ewigkeit, geläutert von den Leidenschaften der Parteien [...] wägen diese Menschen das Leben und empfinden unklar die Möglichkeiten, die sich auftun." Das Schlachtfeld setzt die Phantasie in Bewegung, und „die dreißig Millionen Versklavten, die Verbrechen und Irrsinn in den Krieg des Schlamms gestürzt haben, heben nun ihr Antlitz empor, auf dem endlich ein Wille auftaucht. Die Zukunft liegt in den Händen der Versklavten, und man erkennt, daß die alte Welt eines Tages durch die Verbrüderung jener, deren Zahl und Elend übergroß sind, verändert werden wird." Die Vision verschiebt die idyllische Alpenlandschaft zunächst in das Bild eines Schlachtfelds und dann das Schlachtfeld in ein Bild der kommenden Revolution. Auf dem Schlachtfeld verdichtet sich das Routinehandeln zum utopischen Wendepunkt der Geschichte. Andere Visionen von Zukunft betonen den Mikroraum des gemeinsamen Handelns. Die unbedeutenden Taten der kleinen Leute dürfen über der Größe des Kriegs nicht vergessen werden, denken die Figuren in Zweigs Kriegsromanen, denn sie bilden den Vorschein einer neuen und besseren Welt. Nach Zweig schafft der Krieg die Welt des Alltäglichen auf eine neue Weise, so daß sie zur einzigen noch denkbaren Rettung aus der Katastrophe der Gegenwart werde. Durch den Krieg in einen unvertrauten Raum versetzt, aus den Bindungen der Zivilisation gelöst, suchen seine Menschen in dieser Grenzsituation nach Regeln und Verträgen des Gemeinschaftslebens. Im Kontrast zur kiegerischen Weltgeschichte öffneten die unbedeutenden Taten der kleinen Leute gerade im Kriegsraum ein Tor in die Zukunft. Schlachtfelder in Remarques Im Westen nichts Neues oder in Koeppens Heeresbericht lassen sich auf diese Weise lesen. Remarques Schlachtfeld ist der Ort der Sinnlosigkeit, an dem sich aber im konkreten Handeln des einzelnen der Wert der Solidarität erhält. Nicht die Solidarität der Massen, wie bei Barbusse, sondern die Empathie der kleinen Gruppe unter den Bedingungen von Mini-Räumen des bloßen Überlebens erhält sich auf Remarques Schlachtfeld. Aufschlußreicher für diesen Prozeß einer Transformation der Schlachtfelder in literarische Imagination als die Literatur, in der der Krieg explizit zum Thema wird, sind Werke, in denen vom Krieg nicht gesprochen wird. Werke von Musil,24 Benn, Brecht, Döblin oder der experimentelle und der expressionistische Film der Weimarer Republik liefern zahlreiche
23 Henri Barbusse: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft. Berlin 1973 (zuerst Le feu, 1916). 24 Vgl. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman 'Der Mann ohne Eigenschaften'. München 1995.
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Beispiele für die verdeckte Wirkung des Kriegs auf die Einbildungskraft. Der Raum des Schlachtfelds als Raum der literarischen Imagination muß erst entdeckt werden.
VI. Vom Ende des Schlachtfelds Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist das Ende dieses Schlachtfelds gekommen. Eine ausgedehnte Literatur stellt die Frage nach einer grundlegenden Veränderung des Kriegs im post-industriellen Zeitalter. Analytiker und Propheten des Kriegs der Zukunft sprechen von einer militärischen Revolution, die mit Namen wie Infowar oder Krieg im Cyberspace bezeichnet wird. Sie machen den Krieg zu einer Variante der abstrakten Operationen der Informationsverarbeitung. Dieser Krieg ist eine Konstruktion ohne Raum.25 Eine verbreitete Position bestimmt das Ziel des Kriegs der Zukuft als die größtmögliche Störung zentraler Systeme der technischen Zivilisation bei, so läßt sich hinzufügen, geringstem Energieverbrauch. Dieser Krieg ist als Krieg der objektivierten Informationstechnologien definiert und damit als ein Krieg ohne Subjekte, ein Krieg der Schaltkreise (Kittler). Diese Kriegstheorien denken einen Krieg, der keinen Raum braucht, da er die abstrakte Sphäre der digitalen Prozesse nicht verläßt. Es gibt in diesem Krieg kein Schlachtfeld und keine erkennbare Frontlinie. Er ist unsichtbar, ein Krieg im räumlichen Nirgendwo, ungreifbar, in lauter kleine Kampfzonen isoliert und ohne eine Unterscheidung zwischen einer zivilen und einer militärischen Sphäre. Theorien des Kriegs im Zeitalter der digitalen Informationsverarbeitung gehen davon aus, daß durch die Technologie die Fragen nach dem konkreten oder imaginierten Schlachtfeld endgültig gelöst seien. In den Theorien vom Krieg der Zukunft gibt es keine Raumfrage. Obwohl die Bedeutung des Körpers für diesen Krieg umstritten ist, weist die Tendenz dieser Theorien zweifellos auf ein körperloses Bild vom Krieg. Körper und Raum sind bloße Rudimente einer Vergangenheit. Krieg wird vollkommen rational im Sinn der technischen Rationalität gedacht, und damit wird die Räumlichkeit von Schlachtfeldern obsolet. Führt diese Raumlosigkeit zum Ende der Beziehung des Kriegs auf Subjekte und ihr Unbewußtes?26 Sollten die Lust am Schlachten und der Blickzwang auf das Grausame des 25
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Vgl. u. a. John Arquilla / David Ronfeldt: The Advent of Netwar. Santa Monica 1996; John Arquilla / John Ronfeldt: Athena's Camp. Preparing for Conflict in the Information Age. Santa Monica 1997; Hakim Bey: The Information War. In: ctheory net (www.ctheory.net/text-file?pick=64), 1995; Eliot A Cohen: A Revolution in Warfare. In: Foreign Affairs, March/April 1996; Anthony M. Coroalles: On War in the Information Age: A Conversation with Carl von Clausewitz. In: Army 46, May 1996; Chris Hables Gray: Postmodern War. London 1997; Arthur Huber [et al.]: Virtual Combat Air Staff. The Promise of Information Technologies. Santa Monica 1996; Gerfried Stocker / Christine Schöpf: Infowar. Wien / New York: 1997; Alvin Toffler / Heidi Toffler,: War and Anti-War: Survival at the Dawn of the 21st Century. Boston 1993; Martin van Creveld: The Transformation of War. New York 1991; Paul Virilio / Sylvere Lotringer: Pure War. New York 1983. Sigmund Freuds Aufsatz Zeitgemässes über Krieg und Tod (1915) ist der Schlüsseltext dieser Kriegstheorie.
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Schlachtfelds im Krieg der Zukunft spurlos verschwinden? Die anschauungs- und politikfreien Theorien post-modemer Kriegstheoretiker heben den Krieg auf die höchste Stufe der Abstraktion und erwarten vom Infowar den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte, die - anders als bei Barbusse oder Zweig - von der puren Rationalität technologischer Informationssysteme beherrscht wird. In diesem Bild vom Krieg als einer Utopie verliert er die Eigenschaften des Schlachtfelds. Der vorgestellte Raum wird von Inhalten entleert und zum reinen Informationsverarbeitungssystem. Aus der Unterwerfung unter diese Maschine des reinen Kriegs bezieht das Ich der technophilen Kriegsdenker seine Bestätigung als Sieger über das Irrationale und die Primitivität des Raums früherer Kriege. Die innere Erschütterung und das Erhabene des alten Schlachtfelds werden durch die Eleganz subjektloser Technologie ersetzt. Dieser Krieg wird zum reinen Kunstwerk, in dem das Material sich der Form unterworfen hat. War die Geschichtsmetaphysik der Königsweg, um das Schlachtfeld der Neuzeit der Wahrnehmung zu entziehen, so sind die Entwürfe des Technokriegs die direkte Verlängerung dieses Wegs in die post-industrielle Welt. Technophile Theorien des Kriegs der Zukunft sind weit davon entfernt, bloß zu registrieren. Hatte sich die Geschichtsmetaphysik die Aufgabe gestellt, das Schlachtfeld transzendental zu begründen, so sind diese Theorien daran beteiligt, den Krieg über seine gegenwärtige Krise hinweg ins Zeitalter globaler elektronischer Vernetzung zu retten.27 Die Theorien eines Kriegs ohne Raum tragen dazu bei, die Zukunft des Kriegs auch im Zeitalter der Digitalisierung zu sichern. Dieser Krieg der Zukunft erfüllt die Anforderungen an leere Schönheit, aber negiert die Beteiligung des Trieblebens am Krieg und befriedigt nicht die Bedümisse nach Sinnlichkeit und räumlicher Konkretheit. Wenn die Theorien des Kriegs der Zukunft dem Unbewußten und der Faszination durch das Schlachtfeld keine Bedeutung zugestehen, sagt diese Lücke allerdings nichts über deren Bedeutung für den Krieg der Zukunft. Das Triebleben läßt sich nicht per Dekret von Technologen aus dem Krieg verbannen. Diese Theorien wiederholen die Illusion der Futuristen, die sich an der Idee des Kriegs als reinem Kunstwerk begeisterten. Und wie sie im blutigen Krieg endete, so hat auch die Theorie des reinen Technokriegs ihre komplementäre Wirklichkeit in lokal eng begrenzten und oft primitiv brutalen Kriegen. Das post-industrielle Zeitalter erfordert, die abstrakte Theorie des Technokriegs, die im Begriff die Prozesse der elektronischen Datenverarbeitung nachbildet, durch kritische Beobachtung zu erweitern. Im Krieg der subjektlosen, reinen Technologie wirken nicht nur abstrakte Informationssysteme und deren Apparate, sondern die Ingenieure des Unbewußten, die bereits in den Kriegsphantasien der Futuristen verborgen waren. Das Vertrauen auf den Primat anonymer und bewußtseinsfreier Maschinen der digitalen Welt fuhrt nicht zum Ende des Kriegs, der, wie Sigmund Freud aus Anlaß des Ersten Weltkriegs bemerkte, aus den tiefen Schichten des mernschlichen Trieblebens entspringt und nach der Befriedigung primitiver Wünsche strebt. Auch der Infowar ist nicht frei von physischer Gewalt und Mordlust, und die Frage muß gestellt werden, „wie und was der Infowar zu töten droht."28 Er schafft, wie jeder herkömmliche Krieg, Leichen. Regionale Kleinkriege, fundamentalistische Glau27 28
Vgl. Chris Hables Gray: Postmodern War. The New Politics of Conflict. New York 1997. Michael Geyer: Electronic Ways of Death. In: Infowar. Hg. von Gerfried Stocker und Christine Schöpf. W i e n / N e w York 1998, S. 145.
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benskriege und Terrorkriege sind keine Ereignisse in den Räumen einer entfernten und vortechnologischen Welt. Sie brechen nicht aus einem Außen ins Eigene ein, sondern gehören in den Vorstellungsraum der hochtechnisierten Gesellschaft und bilden die notwendige Ergänzung des Infowars. Der Vorstellungsraum der eigenen, technisch hoch entwickellen Nation ist geteilt, und eine Kriegserklärung gegen den Terror könnte eine Regierung in die Lage versetzen, Teilen der eigenen Bevölkerung den Krieg erklären zu müssen. Die Theorie von einem reinen Krieg ohne Raum und Körper knüpft an Clausewitz' Idee eines absoluten Kriegs an. Clausewitz sah sich genötigt, die Theorie des absoluten Kriegs um die Beobachtung der Friktionen zu ergänzen. Durch den Begriff der Friktionen bezog seine Theorie Hemmnisse und Widerstände ein, die durch die Bewegung im Raum entstehen. So erweiterte er den abstrakten Gedanken vom absoluten Krieg um eine Raumtheorie des modernen Kriegs. Der Raum, den er als physikalischen Raum dachte, muß heute auf neue Weise definieret werden.
Postscriptum Die Kriege der Moderne fanden auf geographischen und imaginierten Feldern statt und hatten ,ihre' Schlachtfelder, nach deren geographischen Namen sie oft erinnert wurden. In Amerika waren es Namen wie: Antietam, Pearl Harbor oder Omaha Beach. Der 11. September 2001 hat kein Feld und keinen Namen. Der Krieg der Zukunft braucht kein Feld. Er ist - unerachtet der Menschen, die ihr Leben lassen müssen, - ein Krieg um den Raum im Kopf. New York war das Ziel der Terroristen nicht als ein geographischer Ort, sondern als ein Vorstellungsraum. Hier konzentriert sich die Vorstellung einer Hauptstadt von etwas Ungreifbarem: die Hauptstadt der Gegenwart und des Glaubens an die Macht der Zivilisation und Urbanität. Stadt entsteht nicht aus Gebäuden, Straßen und Plätzen, sondern erst aus dem Gewebe des imaginierten Urbanen Raums. Es ist eine Täuschung der Augen anzunehmen, der Raum der Stadt entstehe aus Stein, Beton und Stahl. Es ist vielmehr die kollektive Imagination, die aus diesen materialen Elementen erst einen Zusammenhang herstellt. Wie das Feld zum Schlachtfeld erst durch die Imagination wurde, so wird auch die Ansammlung von Stein, Glas, Stahl und Beton zum Raum der Stadt erst, sobald die Phantasie hinzutritt und in einen Zusammenhang verwandelt, was ohne sie ein bloßer Haufen an Material bliebe. Der Krieg der Zukunft wird um diesen Raum im Kopf geführt. Dessen Zusammenhang hat der Terrorakt vom 11. September zerrissen. In den Terroranschlägen vom 11. September sahen bereits die Augenzeugen etwas anderes als den bloßen Anschlag von Terroristen auf zwei Gebäude in südlichen Manhattan. Von Anfang an wurde der Anschlag als Krieg verstanden. Es ist, trotz der Primitivität des Schlags, der erste Krieg nach dem Ende der Moderne. Ein Krieg ohne Schlachtfeld und geographisch festgelegte Front. Das Schlachtfeld ist diffus, und die Front kann jeden Augenblick an einer beliebigen Stelle der Welt auftauchen, wieder verschwinden und anderswo neu entstehen. Bezeichnungen, die den geographischen Ort benennen, etwa Kollaps des World Trade Center oder Bombardierung der Twin Towers sind für dies Ereignis nie benutzt worden. Auch der traditionelle Begriff des Massakers wurde mit guten Gründen ver-
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mieden. Am 11. September gab es keinen konkreten Feind, und die geographische Lokalisierung ist bedeutungslos. Auch das Wort Lombardierung" ist nicht zutreffend. Es ist, im Unterschied zu Luftkriegen der Vergangenheit, keine Bombe gefallen. Die einzigen Waffen waren ein paar Plastikmesser in den Händen der Terroristen. Sie verwandelten Reiseflugzeuge in Waffen. Die von den Medien erfundene Bezeichnung für die Zerstörung der beiden Gebäude, attack on America, fangt etwas von der Eigenart dieses Kriegs ein, der sich auf einen winzigen geographischen Fleck beschränkte und zugleich universale Bedeutung gewinnt. Berichte sprachen auch oft von der Zone. Bezeichnend ist das Wort, das sich für die Bezeichnung der Stelle der Kriegshandlung durchgesetzt hat: ground zero. Das ist die amerikanische Übersetzung des griechischen Epizentrum. Das war konventionell die Bezeichnung für die Stelle der Erdoberfläche über dem Zentrum eines Erdbebens. Seitdem der Mensch die Macht erworben hat, selbst Erdbeben zu erzeugen, bezeichnet das Wort auch die Stelle unter - wenn es ein Bombenabwurf war - oder über - wenn es eine unterirdische Detonation war - einer nuklearen Explosion. Ground zero ist kein Name, der ein Feld bezeichnete, sondern ein wissenschaftlicher Begriff, der eine beliebige Stelle auf der Erdoberfläche bezeichnen kann. Wie ein Erdbeben heute an einer und in der Zukunft an einer anderen Stelle entstehen kann, so kann das ground zero eines Terroranschlags heute in New York und demnächst in einer beliebigen anderen Stadt liegen. Das ist der Krieg der Zukunft: er hat kein Feld. Er ist auf einen engen Ort konzentriert und schafft zugleich einen vorgestellten Raum der ubiquitären Bedrohung, ohne Grenzen und ohne eine eigene Topographie. Die Grenzenlosigkeit seiner Wirkung und die totale Unvorhersehbarkeit teilt der Terroranschlag mit den hoch entwickelten Formen des Infowars. Die einzige Sicherheit besteht darin, daß es ein Krieg im Urbanen Raum ist. Damit kehrt dieser Krieg eine jahrtausendealte Entwicklung um: draußen, auf den Feldern, herrscht nun Sicherheit. Die Natur ist gezähmt. Aber drinnen, im Raum der Städte, werden nun Schlachten ausgetragen. Er war aus dem Bedürfnis nach Schutz vor der feindseligen Natur und der menschlichen Bedrohung entstanden, und wird nun zum Raum der allgegenwärtigen Bedrohung. Die Orientierung im Raum gehört zu den elementaren Bedürfnisses des in-der-WeltSeins, auf denen die Architektur des Urbanen Raums aufbaut. Orientierung im Raum ist vorbewußt und entwickelt sich in einer früh erworbenen Körper-Raum-Beziehung innerhalb der vorbewußten Lebenswelt. Sie ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Gefühlen des Vertrauens auf die Stabilität der Welt und die Voraussagbarkeit und Planbarkeit der Zukunft. Wenn der Vorstellungsraum der erlebten Umwelt zerrissen wird, gehen sie verloren. Was bis zum 11. September als selbstverständliche Sicherheit des Urbanen Lebens galt, ist nun zur offenen Frage geworden. Seitdem der Zusammensturz der beiden Gebäude, die eine triumphale Demonstration von Sicherheit zeigten, den Vorstellungsraum gesprengt hat, gibt es keinen Verlaß mehr, daß das künstliche Netz des vorgestellten Zusammenhangs hält. Die Terroranschläge haben es zu einer Illusion werden lassen. Die Destruktion des lebensweltlichen Vorstellungsraums löst diese Beziehung zwischen Ich und Raum auf. Darauf zielte der Terror, dessen Ziele in dieser Hinsicht mit einem Ziel der hoch entwickelten Theorien des Infokriegs identisch sind. Die Zerstörung vorbewußter Systeme des Wissens gehört zu den zentralen Elementen einer entwickelten Theorie des Kriegs der Zukunft. 29 Sie definiert einen
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Vgl. u. a. George Stein und Richard Szafranski: US Information Warfare. Alexandria, VA 1996.
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erfolgreichen Infokrieg dadurch, daß es gelingt, dem Gegner sein Weltbild zu zerstören und ihn in die Lage einer totalen kollektiven Verunsicherung zu stürzen. Der Vorstellungsraum baut sich aus einer komplexen Architektur aus Informationen, Interpretationen und Bewertungen auf, die wie ein Geländeplan verzeichnet und elektronisch gespeichert werden können. Sobald die Architektur des Vorstellungsraums eines Gegners bekannt ist und elektronisch simuliert werden kann, kann man in sie eindringen, um sie von innen zu zersetzen und zerstören. Da in diesem Raum das kollektive Weltbild und die Identität ausgebildet werden, ließe sich durch einen Angriff auf ihn die mentale Grundstruktur einer Gesellschaft zerstören, so daß eine fundamentale Desorientierung und ein Realitätsverlust die Folge wären. Dieser Plan eines Kriegs im Cyberspace geht über das Ziel, gegnerische Informationssysteme zu stören, weit hinaus und zielt auf die Störung der Konstruktion von lebensnotwendigen psychischen Strukturen. Die Zerstörung des kollektiven Vorstellungsraums ist ein Angriff auf die Gesamtgesellschaft, der an Stelle des Tötens ihrer Menschen tritt. Der Gegner erleidet nicht den physischen Tod, sondern sein Lebenswille wird durch die Zerstörung mentaler Strukturen gebrochen und die Lebensfähigkeit von Kollektiven destruiert. Dieser Krieg um die Welt im Kopf könnte eine Art öffentlicher Folter und grausamer sein als das physische Töten. Er ließe sich als post-moderner Massenmord ohne Schlachtfeld beschreiben. Er könnte Fiktion oder bloße Einbildung sein, meint ein Autor, aber es handle sich um den Krieg als „post-modernem Genozid."30 Ohne ein hoch entwickeltes System elektronischer Datenverarbeitung zu benutzen, sondern in einer bemerkenswert primitiven Weise haben die Terroristen vom 11. September dieses Ziel angestrebt und einen ersten erfolgreichen Schritt getan. Sie haben durch etwa 5 000 Tote die primitive Form des Kriegs als das Schlachten von Menschen fortgesetzt, aber sie haben darüber hinaus die Zerstörung der mentalen Karte bei sehr viel mehr Menschen als den unmittelbar Betroffenen erreicht. Die Destruktion von mentalen Strukturen führte zu einer fundamentalen Verunsicherung, und die davon ausgelöste Angst war nach dem 11. September in New York allgegenwärtig. Sie war Menschen auf der Straße anzusehen. Studenten in meinen Seminaren sprachen davon, nicht mehr U-Bahn fahren, nicht mehr ohne Herzklopfen ein hohes Gebäude betreten, in einen Fahrstuhl steigen oder in einen dunklen Korridor blicken zu können. Berichte über die totale Zerstörung von Landschaften der Westfront nach 1915 und spätere empirische Untersuchungen über die Auswirkungen von Erdbeben oder Überschwemmungen, die die Morphologie einer Region von Grund auf veränderten, legen nahe, den Orientierungsverlust im physischen Raum mit einem Zusammenbruch mentaler Orientierung zu assoziieren. Ein Verlust an Vertrauen und an Zukunft ist die Folge vom Verlust der vertrauten physischen Umgebung. Der Geist verliert seinen Halt. Über diese Körpererfahrung, die dem Schwindel entspricht, erfaßt ein Schwanken die Beziehung zur Welt.31 Der Terror als 30 31
Geyer [wie Anm. 28], S. 150. Schwindel hat in schon früheren geschichtlichen Situationen zu einem schwankenden Weltververhältnis und Orientierungslosigkeit geführt, wie Surrealismus und Dadaismus zeigen. Der Verlust an Gewohnheit und Sicherheit entzieht Kunst und Wissenschaft aber nicht notwendigerweise den Boden, wie Hobbes vermutete, sondern hat auch die Kraft, kreative Phantasie freizusetzen. Auch die Reaktionen auf ground zero sind nicht frei von Ambivalenz und lassen auch Zeichen von Lust erkennen. Nicht allein potentielle Terroristen haben, wie die Medien berichteten, Jubel angestimmt. Die Rückkehr des Primitiven ist nicht nur mit Schrecken, sondern auch mit der Faszination durch die Gefahr verbunden.
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Krieg verfolgt das Ziel, den Boden der Zivilisation zum Schwanken zu bringen und im Urbanen Vorstellungsraum ein Beben zu erzeugen, das jeden einzelnen erfaßt. Dieser Krieg wird endgültig nicht mehr zur Eroberung von Territorium oder anderer materieller Beute gefuhrt. Sein Ziel ist der dauerhafte Entzug der Sicherheit im Vorstellungsraum. Wo Sicherheit ist, soll Schwindel werden. Ground zero erweist die Sicherheit, die aus der Stabiliät von Raum abgeleitet wurde, als eine Illusion. Ein unter ihm liegender Abgrund, den eine blendende Raumpolitik lange Zeit verborgen gehalten hatte, wird nun freigelegt. Mit dieser Eröffnung gehen Gefühle einer tiefen Verunsicherung und Enttäuschung einher. Der Raum, von dem Hobbes sprach, als er den Krieg aller gegen alle an den Anfang der Geschichte stellte, wird aufs Neue präsent. Er ist der Raum einer totalen Unsicherheit, der beständigen exposure, wie Sassoon die Erfahrung des Schlachtfelds nannte. Dieser Raum der umfassenden Gefährdung ist mit dem Triumph der technischen Beherrschung der Welt nicht verschwunden, sondern scheint als die primitive Dimension des Technokriegs zurückzukehren. Der Vorstellungsraum eines primitiven „warre, where every man is Enemy to every man" hat keine zeitlichen Grenzen und ist ebensowenig wie ground zero an den Raum eines Schlachtfelds gebunden. Seine Rückkehr scheint uns zu drohen. Kein Versuch, willentlich korrigierend in den vorgestellten Raum einzugreifen, um ihn gegen die anhaltende Destruktion des Vorstellungsraums zu mobilisieren, zeigt einen Effekt. Eine Politik des vorgestellten Raums, die durch öffentliche Reden und politische Taten den Glauben an die Ordnung der Zivilisation und die Macht der Technik zurückzugewinnen sucht, hat sich bisher als erfolglos erwiesen. Die Zerstörung des Raums im Kopf hinterläßt einen lang anhaltenden Schwindel, von dem nicht zu sagen ist, ob er sich mit der Zeit legen wird.
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Im Tod und im Schmerz sind nicht alle gleich: Männliche und weibliche Körper in den kulturellen Anordnungen von Krieg und Nation
Der Krieg ist eine zutiefst körperliche Angelegenheit, bei der es um die Zerstörung von Materialität geht: Das Ziel des Krieges, so ein amerikanischer General, ist „to break and to kill", d. h. die Zerstörung von materiellen Objekten und menschlichen Körpern.1 Die Erfahrung von Tod und Zerstörung wird häufig als Moment beschrieben, in dem „alle Menschen gleich sind". Obwohl Männern und Frauen im Kriegsgeschehen radikal verschiedene Rollen zugeschrieben werden, scheint die existenzielle und kataklystische Erfahrung des Krieges, scheinen Schmerz, Tod und Verwundung Augenblicke zu sein, in denen die Geschlechterdifferenz keine Rolle (mehr) spielt. Doch dieser Eindruck trügt. Auch in den Momenten des körperlichen Schmerzes und des Sterbens entfalten Geschlechterkonstruktionen ihre Wirksamkeit. Männer und Frauen sterben in Kriegen auf verschiedene Weise, an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und werden aus verschiedenen Gründen getötet. Wenn Keegan konstatiert der Krieg sei „stets Ausdruck einer Kultur, oft sogar eine ihrer bestimmenden Größen, und in manchen Fällen die Kultur selbst"2, so müssen bei der Betrachtung dieser Kultur auch die Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit berücksichtigt werden. Auch sie sind ein integraler Bestandteil der kulturellen Konstruktion des Krieges und charakterisieren sowohl den Vorkrieg, das unmittelbare Kriegsgeschehen und den Nachkrieg. Die Relevanz der Kategorie „Geschlecht" zeigt sich sinnfällig an den verschiedenen Bedeutungen, die der Zerstörung von männlichen und weiblichen Körpern im Krieg anhaften. Ein weitergehendes Verständnis der Verknüpfungen von kriegerischer Zerstörung und Geschlecht macht es allerdings nötig, die Konstruktion des Kollektivs - in modernen Szenarien in aller Regel die Nation - in die Analyse mit einzubeziehen. Geschlecht, Nation und Krieg sind kulturelle Konstruktionen, die eng miteinander verschränkt sind. Die Entstehung der Nation ist, soweit besteht Konsens in ansonsten differierenden Forschungsrichtungen, nicht verständlich ohne die Berücksichtigung von Krieg. Ebenso wenig ist sie verständlich ohne 1 Zit. in Deborah D. Avant: Military Reluctance to Intervene in Low-Level Conflicts. In: Vincent Davis (ed.): Civil-Military Relations and the Not-Quite War of the Present and the Future. Carlisle, Pa. 1996. 2 John Keegan: Die Kultur des Krieges. Berlin 1997, S. 34.
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die Berücksichtigung der Kategorie „Geschlecht". Die Nation als „imaginierte Gemeinschaft" (Anderson) kann als hetero-männliches Projekt verstanden werden, in dem Frauen und untergeordnete Männlichkeiten (also von der hegemonialen Männlichkeitsnorm abweichende Männlichkeiten, wie z.B. Homosexuelle) bestimmte, in aller Regel aber hierarchisch untergeordnete Positionen besetzen. Vergleicht man die Verquickung von Nation und Geschlecht international, fallen durchaus spezifische Unterschiede auf; allerdings weisen die Strukturprinzipien des Zusammenbaus von Männlichkeit und Nation auch bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf. So ist Männlichkeit in die Nation immer auf privilegierte Art und Weise eingebaut: Männer, die hegemoniale Männlichkeiten repräsentieren, sind die Hauptakteure und gleichzeitig im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen die Hauptnutznießer der Nation. Zwar sind hetero-männliche Interessen und nationale Interessen nicht per se deckungsgleich. Es gibt aber eine strukturelle Nähe zwischen Konstruktionen von Männlichkeit und Konstruktionen der Nation, die für Weiblichkeit und „untergeordnete Männlichkeiten" (Connell) in dieser Weise nicht gelten3. Die Geschlechteraspekte der Nation treten besonders sinnfällig in Kriegs- und Krisenzeiten zutage. Die Attacke auf die gesamte kulturelle Ordnung, die Zerstörung ihrer materiellen Manifestationen und das Außerkraftsetzen der „inneren Satzungen der Kultur" 4 , die den Krieg charakterisieren, betreffen auch die Konstruktion von Geschlecht. Gewißheiten über Männlichkeit und Weiblichkeit sowie bislang gültige Geschlechterrollen erodieren nolens volens, wenn beispielsweise Frauen in männliche Arbeitsbereiche einrücken und männlich kodierte Funktionen übernehmen. Die Übernahme der Rüstungsindustrie durch Frauen in den USA während des II. Weltkrieges und die weiblichen Kampfbataillone der Roten Armee können exemplarisch angeführt werden. Entwicklungen dieser Art brechen tradierte Geschlechtervorstellungen auf und machen tendenziell die Kontingenz von Geschlechterrollen deutlich. Parallel zu der durch den Krieg ausgelösten Erodierung von Geschlechterrollen wird in nationalen Krisensituationen die Kategorie „Geschlecht" typischerweise bestätigt, aufs Neue verbindlich gemacht und als für das Überleben der Nation zentral ausgegeben. Kriegs- und Vorkriegszeiten sind geprägt durch die Sorge um die Aufrechterhaltung von Geschlechterkonstruktionen. So wurden während des Krieges 1973 in Israel Männer und Frauen in den Medien verstärkt zur Heirat aufgefordert. Zeitungen berichteten bevorzugt über Eheschließungen in Kampfgebieten und betonten den Zusammenhang von Ehe und nationaler Sicherheit. Frauen wurden während des Krieges in Zeitungsartikeln und Rundfunksendungen regelmäßig aufgefordert, für eine weibliche, und attraktive äußere Erscheinung zu sorgen und nicht zu vergessen, daß sie Frauen sind.5 In Nachkriegszeiten werden regelmäßig erhebliche Anstrengungen unternommen, um wieder zu tradierten Geschlechterkonstruktionen zurückzufinden. 3
Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes. Berlin 1998; Nira Yuval-Davis: Gender and Nation. In: Rick Wilford / Robert L. Miller (eds.): Women, Ethnicity and Nationalism. The Politics of Transition. London 1998. Vgl. auch J .J. Pettman: Worlding Women: A Feminist International Politics. London 1996, S. 56ff. 4 Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt/M. 1992, S. 34. 5 Orly Shachar: The Womb of a Woman Belongs to the Motherland. Press Images of Israeli Women in Wartime, 1967-1973. In: War & Society 17/1 (1999), hier S. 1 lOff.
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Die Bedeutung der Kategorie „Geschlecht" in Kriegen zeigt sich aber auch im Kriegsgeschehen selbst. Eine Reihe von Forschungsarbeiten haben inzwischen dokumentiert, daß sexuelle Gewalt als regulärer Bestandteil von Kriegen betrachtet werden kann. Der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen stellte im Jahre 1972 fest, daß Kriegsbrutalitäten gegenüber Frauen auch nach der Verabschiedung der Genfer Konventionen unvermindert anhalten. Angesichts ihres massenhaften Vorkommens und der Wirkungslosigkeit internationaler Vereinbarungen stellt sich die Frage, welchen Zweck, welche Bedeutung sexuelle Gewalt in Kriegen hat. Die Tatsache, daß im Krieg menschliche Körper systematisch und massenhaft verwundet, verstümmelt und getötet werden, erscheint in der Regel als selbstverständlich und nicht weiter hinterfragbar oder theoretisierbar. Gewaltanalysen gehen in der Regel davon aus, daß die entscheidende Frage die nach der Klärung der Ursachen von Gewalt ist, daß also letztlich die Erklärung für Gewalt jenseits der eigentlichen Gewaltakte liegt. Körperliche Gewalt, so eine häufig anzutreffende Überzeugung, wird ausgeübt, weil sie entweder psychische Bedürfnisse jenseits der Gewalt befriedigt oder aber weil sie die Macht der Selbstdurchsetzung in sich trägt. D. h.: Indem (wie schon Clausewitz hervorhob) dem Gegner der größtmögliche Schaden zugefügt wird, wird eine Situation angestrebt, in der die Unterwerfung unter den Feind als weniger gravierend erscheint, als das Ertragen weiteren Schadens. Elaine Scarry hat in einer brillanten Analyse deutlich gemacht, daß das Verletzen und Töten von Körpern im Krieg nicht selbst-evident ist und daß die Bedeutung von Gewaltakten keineswegs nur jenseits der Akte selbst zu suchen ist. Sie meldet Zweifel an der These an, daß die wesentliche Bedeutung von Gewalt darin liegt, daß sie die Macht der Selbstdurchsetzung in sich trägt und dem Verlierer keine andere Wahl als die der Unterwerfung läßt. Scarrys Überlegungen lauten auf eine kurze Formel gebracht: Falsch ist nicht, daß sich der Verlierer am Ende der kriegerischen Auseinandersetzung fugt; falsch ist nur die Annahme, daß er durch die Ausübung von Gewalt objektiv und alternativlos gezwungen ist, sich zu fügen.6 Denn wann der Moment eintritt, in dem es zu einer Niederlage kommt, ist in hohem Maße kontextabhängig und nicht am Ausmaß kriegerischer Gewalt ablesbar. Die entscheidende Frage ist nicht die nach dem Ausmaß der eingesetzten Gewalt, sondern die nach den Bedeutungen der Gewalt in einem spezifischen kulturellen Kontext.7 Im Zentrum von Scarrys Interesse steht die Bedeutung und Symbolik der Angriffe auf den Soldatenkörper. Unabhängig von möglichen Kriegsursachen, so Scarry, findet im Innenraum des Krieges offensichtlich eine routinemäßige und systematische Attacke auf Körper statt. Konsens besteht darüber, daß sich diese Attacken gezielt auf männliche, nämlich soldatische, Körper richten, und daß diese Akte zentraler Bestandteil der Konstruktion des Krieges sind. Richtet man den Fokus auf die Angriffe gegen den männlich-soldatischen Körper so wird folgendes deutlich: Dem Körper des in aller Regel männlichen Soldaten haften symbolische Bedeutungen an, die zu analysieren sind, will man das Verwunden von Körpern verstehen. Von Bedeutung ist, daß der soldatische Körper nicht nur funktionale Bedeutung in der Technologie des Krieges hat; er fungiert im wesentlichen als kulturelle Repräsentanz des Staates. Der Soldat, der sich bereit erklärt, „für sein Land" zu töten und zu sterben, vollzieht dabei implizit mehrere Handlungen. Er stellt sich selbst jenseits der Re6 Scarry [wie Anm. 4], S. 162. 7 Scarry [wie Anm. 4], S. 137.
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geln, die in allen uns bekannten Kulturen für den Umgang mit dem Körper anderer Menschen gelten. Er entzivilisiert sich in dem Sinne, daß er sich von den allgemeinen Regeln zivilisatorischen Umgehens löst, indem er kulturelle Lernprozesse in sich rückgängig macht und Tötungshemmungen aufhebt. Indem er sein eigenes Sterben mit einkalkuliert, stellt er seinen Körper zur Auflösung für sein Land bzw. für die Ideen, Überzeugungen oder Interessen, derentwegen der Krieg ausgetragen wird, zur Verfügung. Mit anderen Worten: Sein Körper fungiert in der symbolischen Konstruktion des Krieges als kulturelles Zeichen und verleiht den vertretenen Ideen oder Interessen das Attribut körperlicher Realität. Das Töten und Verwunden im Krieg dient somit nicht nur der Entscheidungsfindung; vielmehr werden hier auch körperlose Überzeugungen und Positionen mit der Macht und Kraft der materiellen Welt aufgeladen. Ideen - wie beispielsweise die der Nation - werden auf diese Weise quasi substantiiert. In der Gestalt des Soldaten berühren sich die extremen Ausprägungen von Körper und Kultur, von Körper und Politik, „etwa wenn ein Kamerad den Toten im Gebüsch findet, bei ihm niederkniet, nach Beweisen der Zugehörigkeit sucht und schließlich den Umstehenden sagt: Er ist Amerikaner"8. Die Attacke auf den Körper des Soldaten hat also nicht nur die Funktion, eine Entscheidung herbeizuführen, der sich niemand mehr entziehen kann, weil das Ergebnis unanfechtbar erscheint. Sie hat eine weitere Funktion. Zum einen wird mit den getöteten und verwundeten Körpern die Repräsentanz des Staates oder der Nation in diesen Körpern zerstört. Die Bedeutung dieses Vorgangs zeigt sich in der unterschiedlichen Wahrnehmung des Todes von Soldaten oder zivilem Hilfspersonal in Krisengebieten. Während Tod und Verwundung der letzteren mit mehr oder weniger großer Empörung zur Kenntnis genommen werden, ist der Tod oder die Verletzung von Soldaten dazu angetan, politische Reaktionen zu provozieren und nationale Gefühle zu mobilisieren. Zum anderen wird der Tod gegnerischer Soldaten, in aller Regel nicht aber der von Zivilisten, der eigenen Sache positiv zugerechnet. Dieser Umstand schlägt sich in der Informationspolitik im Krieg nieder. Während die angegriffene Seite die Zahl der zivilen Opfer eher nach oben rechnet und auf diese Weise die moralische Legitimität des Angreifers in Frage stellt, werden militärische Verluste bzw. der Tod von Soldaten herunter gespielt, um die Nation nicht als geschwächt und unterlegen erscheinen zu lassen. Der Tod der gegnerischen Soldaten hat in besonderer Weise „substantiierende Wirkung": Die getöteten und verwundeten Körper der jeweiligen Gegenseite führen den sich bekämpfenden Positionen Realität zu. Sie sorgen dafür, daß das Ergebnis zu einer materiellen Realität gemacht wird. Im Körper des Soldaten manifestiert sich die Macht - oder die Schwäche - des Staates. Scarry thematisiert nicht, daß der Körper des Soldaten und des Kämpfers für sein Vaterland durchweg ein männlicher Körper ist. Obwohl sie eine beeindruckende Analyse des Zusammenhanges von Körper, Kultur und Krieg vorlegt, bleibt ausgeblendet, daß es sich immer um männliche oder weibliche Körper handelt und daß die kulturelle Konstruktion des Krieges in hohem Maße vergeschlechtlicht ist. Deutlich wird dies, wenn man sich die Frage nach dem Einbau des weiblichen Körpers in die Kultur des Krieges stellt. Auch weibliche Körper werden in Kriegen systematisch angegriffen und verletzt. Doch auch wenn Frauen im Krieg, im Rahmen von Kampfhandlun-
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Scarry [wie A n m . 4], S. 178.
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gen oder als Folge feindlicher Attacken sterben, wird ihr Tod nicht als Sterben für das Vaterland thematisiert. Angriffe auf Frauen und Verletzungen des weiblichen Körpers werden innerhalb von Geschlechterdiskursen naturalisiert, nicht innerhalb von Diskursen über Krieg und Nation als politische Akte platziert. Bedeutet dies, daß die Verletzung und Tötung des weiblichen Körpers tatsächlich nicht weiter analysefáhig ist und allenfalls in strategischer Hinsicht als Teilbereich der „Zufügung größtmöglichen Schadens" oder sozialpsychologisch im Rahmen der allgemeinen Entgrenzung von Gewalt in Kriegen thematisierbar ist? Eine genauere Betrachtung der Symbolik von Weiblichkeit und des weiblichen Körpers im Rahmen von Nation und Krieg legen eine andere Interpretation nahe. Der weibliche Körper fungiert im Kontext der Nation ebenfalls als kulturelles Zeichen. Allerdings beinhaltet er andere Bedeutungsaspekte. Der weibliche Körper fungiert anders als der männliche nicht als Repräsentanz des Staates; dennoch wird dem weiblichen Körper in vielen Kulturen eine symbolischen Bedeutung zugeschrieben, die Körper und Nation ebenfalls miteinander verknüpfen. Der weibliche Körper wird zum Kristallisationspunkt der Materialität und der Respektabilität der Nation, Frauen sind die biologischen Reproduzentinnen der Nation, sie symbolisieren die moralische Güte der Nation und markieren im Sinne Barths die Grenzen der Nation oder der Ethnie.9 Die symbolische Repräsentation des Volkskörpers im weiblichen Körper wird in vielen künstlerischen Darstellungen deutlich. Genannt werden können die Freiheitsstatue der USA, die bayerische Bavaria oder Mütterchen Russland. Elisabeth List verweist auf die Gestalt der französischen Marianne, die häufig besonders symbolträchtig dargestellt wird als kräftige, junge Frau mit vollen und entblößten Brüsten und als „Bild der jungen, tatkräftigen, und alle ihre Kinder wohl nährenden französischen Republik".10 Phantasien über die weibliche Nation verbinden sich häufig mit der Vorstellung einer Bedrohung, die von einem minderwertigen Körper des, häufig soldatischen, Feindes ausgeht. Kollektive Angstbilder wie das des .jüdischen Verführers" oder des „schwarzen Vergewaltigers" oder des „unzivilisierten Slawen" machen Befürchtungen über Grenzüberschreitungen und die Infiltrierung der Nation deutlich und transportieren kulturelle Konstruktionen auf die Ebene einer kollektiven Psychologie." Auf diesem Hintergrund kann die Manipulation und Verbreitung von Ge9
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Die Unterschiede zwischen Ethnie und Nation sind für den hier behandelten Zusammenhang von untergeordnetem Interesse. Vgl. dazu Claus Leggewie: Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft. In: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1994. Zur ethnischen Grenzziehung vgl. Frederick Barth: Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Bergen / London 1979. Für Barth ist Ethnizität keine Folge kultureller Differenz, sondern eine Strategie des Organisierens sozialer Interaktion innerhalb und zwischen Gruppen. Ethnizität bedeutet eine Abgrenzung einer Gruppe von einer anderen, indem bestimmte kulturelle Merkmale herausgegriffen und symbolisch besetzt werden. Ethnizität ist im wesentlichen auf die Konstruktion und Aufrechterhaltung von „boundaries" angewiesen. Vgl. Barth wie oben, S. 1 Iff. Elisabeth List: Das Phantasma der Einheit. Zur Rolle des Körperimaginären in der Konstrunktion kollektiver Identität. In: Nationalismus und Subjektivität. Mitteilungen des Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaften. Beiheft 2 (1998), hier S. 176. Vgl. Theresa Wobbe: Rechtsradikalismus - nur eine Männersache? Anmerkungen zur Geschlechterverteilung im sozialen Raum. In: Rechtsradikalismus. Politische und sozialpsychologische Zugänge. Arnoldshainer Texte Band 73 (1992). Vgl. auch Edna Levy: Women Warriors: The Paradox and Politics
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schlechterbildern ein Bestandteil der psychologischen Kriegsvorbereitungen werden. So kursierten in den 90er Jahren im Kosovo hartnäckig Gerüchte, die in besonderer Weise dazu geeignet waren, Aggressionen und Ressentiments zwischen dem serbischen und dem albanischen Bevölkerungsteil zu nähren, und deren Wahrheitsgehalt nie bestätigt werden konnte. Dazu gehörten Anschuldigungen über ständige Vergewaltigungen von serbischen Frauen durch albanische Männer und die Darstellung von Albanern als sexuell besonders zügellos und unbeherrscht sowie andererseits die Darstellung von albanischen Frauen als bloßen „Babyfabriken". Gegen diese Zuschreibungen konnte die serbische Nation als besonders kultiviert, diszipliniert und stark abgesetzt werden. Gleichzeitig verbanden sich diese Stereotypen mit einer wachsenden Paranoia über die (sexuelle) Gefährdung der serbischen Nation, die sich z.B. in einem Gesetzesvorschlag niederschlug, indem eine ethnisch spezifische Bestrafung von Vergewaltigungen vorgeschlagen wurde. Demnach sollten Vergewaltigungen innerhalb einer ethnischen Gruppe weniger gravierend geahndet werden als inter-ethnische sexuelle Übergriffe. 12 Die Konstruktion von Geschlecht wurde hier in einer für Außenbeobachterlnnen besonders auffälligen, insgesamt aber für Krisenkontexte keineswegs ungewöhnlichen Weise in den Dienst der Nation genommen. Geschlechterkonstruktionen sind auch in anderen kulturellen Kontexten Bestandteile der Konstruktion von Nationalität und nationaler Identität.13 Auf der Grundlage dieser Konstruktionen können Angriffe auf Frauen im Kontext internationaler oder ethnischer Konflikte zum Angriff auf die physische Integrität der Nation und zum Angriff auf die nationale Identität der beteiligten Männer werden. Diese Konstruktionen bedeuten weiter, daß Frauen in der Konstruktion der Nation symbolische „Grenzwächterfimktionen" erfüllen. Sie werden zum „Ethno-Marker" oder zu Symbolen der nationalen Grenzen. 14 Einige Beispiele können diese Zusammenhänge illustrieren. Häufig werden Frauen, die die Grenzen ihres Kollektivs, insbesondere in Zeiten internationaler Auseinandersetzungen überschreiten, aus dem Kollektiv ausgestoßen. Drolshagen beschreibt diese Phänomene plastisch für die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Geliebten deutscher Soldaten in den von Deutschland besetzen Gebieten wurden als Deutschenflittchen oder Deutschenhure bezeichnet. Umgekehrt gab es nach 1945 in Deutschland Ami-, Russen oder Tommy-Flittchen. Frauen, die ihre sexuellen Beziehungen nicht nur innerhalb des eigenen Kollektivs abwickeln, verwirken häufig das Recht, Angehörige ihres Volkes oder ihrer Nation zu sein. Diese Frauen, so Drolshagen, haben innerhalb der vergeschlechtlichten Kultur des Krieges die Nation „mit ihrem Körper verraten und beschmutzt". Der Körper der Frau wird von der Nation beansprucht, sie begeht durch die Fraternisierung mit Männern anderer Nationalität „nationalen Ehebruch". Die besetzte Nation ist impotent, sie ist entmannt und wird durch die sexuelle Fahnenflucht der Frau noch weiter
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of Israeli Women in Uniform. In: Sita Ranchod-Nilsson / Mary Ann Tetreault (eds.): Women, States and Nationalism. At Home in the Nation? London/New York 2000. Vgl. Wendy Bracewell: Rape in Kosovo: Masculinity and Serbian Nationalism. In. Nations and Nationalism 6/4 (2000). Vgl. Julie Mertus: Gender in Service of Nation: Female Citizenship in Kosovo Society. In: Social Politics (Summer 1997), S. 264. Vgl. Yuval-Davis [wie Anm. 3]; Silva Meznaric: Gender as an Ethno-Marker: Rape, War and Identity Politics in the Former Yugoslavia. In: Valentine M. Moghadam (ed.): Identity Politics and Women. Cultural Reassertions and Feminism in International Perspective. Boulder 1994.
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entmaskulinisiert.15 Beziehungen, die Frauen mit Männern anderer Nationalität unterhalten, werden demnach als politische Akte diskursiviert. Diese Verknüpfung der Konstruktion von Geschlecht und Nation ist auch in anderen Kontexten von Bedeutung. Einige Staaten verlangen von Frauen bei der Heirat mit einem Mann anderer Nationalität die Aufgabe ihrer Staatsbürgerschaft. Sie werden aus ihrem bisherigen Kollektiv ausgeschlossen und dem anderen Kollektiv überantwortet.16 In Großbritannien konnten Frauen bis 1981 ihre Staatsbürgerschaft nicht auf im Ausland geborene Kinder übertragen und in Israel forderte der Führer der Kach-Partei in den 80er Jahren das Verbot sexueller Beziehungen zwischen jüdischen Frauen und arabischen Männern.17 All dies sind Hinweise auf die Bedeutung von Weiblichkeit und die Kontrolle des weiblichen Körpers bei der Erzeugung und Konstruktion von Nation und Ethnie in unserem soziokulturellen Deutungssystem. Die „Frau als Nation" ist bedeutsam fur die Konstruktion kollektiver Identität und markiert die Grenzen zum ausgegrenzten „anderen".18 Frauen sind allerdings besonders labile Grenzwächterinnen der Nation. Denn zur kulturellen Konstruktion von Geschlecht gehört die Konstruktion des weiblichen Körpers als verletzungsoffen, d. h. als prinzipiell immer penetrierbar und vergewaltigungsgefährdet.19 Die Möglichkeit, zu vergewaltigen bzw. vergewaltigt zu werden, wird dabei als anthropologischer Grundtatbestand behandelt. Die Merkwürdigkeit dieser - im Alltagsverstand tief verankerten - Annahme soll mithilfe einer Analogie verdeutlicht werden. Man könnte mit der gleichen Berechtigung davon ausgehen, daß Männer aus anatomischen Gründen immer schon kastrierbar sind, daß es also eine biologisch bedingte männliche Verletzungsoffenheit gibt. Insbesondere im Zusammenhang mit der Nation ist Weiblichkeit als in hohem Maße angreifbar und penetrierbar - also als verletzungsoffen - konstruiert, Männlichkeit demgegenüber als nicht angreifbar - also verletzungsmächtig. Die Konstruktion von Weiblichkeit als besonders verletzbar bedeutet, daß über die Frauen der Nation auch die Nation in besonderer Weise angreifbar ist. Konsequenterweise steht in Kriegs- und Krisenzeiten eher die Integrität der Nation als die Unversehrtheit des weiblichen Individuums auf dem Spiel. Wie erwähnt, wurde im Zuge der Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen Serben und Albaniern im Kosovo Anfang der 90er Jahre ein Gesetzesentwurf vorgelegt, nach dem interethnische Vergewaltigungen stärker bestraft werden sollten, als Vergewaltigungen innerhalb einer ethnischen Gruppe. Tatsächliche oder propagandistisch produzierte Übergriffe auf serbische Frauen wurden in der Presse als Übergriffe „auf die heiligen Grenzen der serbischen Nation" bezeichnet.20. Auffällig an den Presseartikeln war, so Salecl, daß die dort berichteten Übergriffe immer versuchte Vergewaltigungen waren. Imaginiert wurden Vergewaltigungsversuche eines moralisch minderwertigen Gegners, die sich auf die „Frauen der Nati-
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Ebba Drolshagen: Nicht ungeschoren davon kommen. Hamburg 1998. Vgl. Gill Steans: Gender and International Relations. New Brunswick 1998, S. 68. Vgl. Yuval-Davis [wie Anm. 3], Helen Fein bemerkt hierzu: „Repeatedly, we see that men of the group perpetrating genocides ... use rape as a means to destroy the Other (...). Perhaps, paradoxically, the latent function of the honor of women is to instigate enemies to dishonor women" (Genocide and Gender: The Uses of Women and Group Destiny. In: Journal of Genocide Research 1 (1999), hier S. 43). VgI.WobbefwieAnm.il], Sabrina P. Ramet: The Albanians of Kosovo: The Potential for Destabilization. In: Brown Journal of World Affairs 3 (1996), hier S. 357.
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on" richteten, aber scheiterten, da der Gegner sich als impotent erwies und keine Chance gegen die männlichen Beschützer der Nation hatte. 21 Schließlich drückt sich auch die Respektabilität der Nation wesentlich aus über die Respektabilität der Frauen, wobei sich deren Ehrbarkeit wiederum im Umgang mit ihrem Körper und ihrer Sexualität manifestiert. Steckt, wie Frigga Haug deutlich gemacht hat, die „Ehre der Frau" bereits in Friedenszeiten in ihrem Körper, so steckt in Zeiten nationaler Krisen die Ehre der Nation im Körper der Frauen. In Kriegssituationen werden Anspielungen auf die Moral der Frauen des Gegners zu einem probaten Mittel der Provokation. So spielten Ende der 80er Jahre in Jugoslawien nationale Führer auf die Promiskuität der Frauen anderer Volksgruppen an und stellten auf diese Weise ihre weibliche Ehre als auch die Ehre des Kollektivs in Zweifel. 2 2 Zentral in den nationalistischen Diskursen der Vorkriegszeit im ehemaligen Jugoslawien waren die Anständigkeit, Natürlichkeit, Bescheidenheit und Keuschheit der „eigenen" Frauen. Vorstellungen von „Natürlichkeit" verknüpfen sich in nationalen bzw. nationalistischen Diskursen zumeist mit der Geißelung eines abweichenden Sexualverhaltens sowie einem Kult der Mutterschaft. Der „anständige" Umgang der nationalen Frau mit dem eigenen Körper beinhaltet ein Bekenntnis zu Heterosexualität, Mutterschaft und Familie und zur biologischen Reproduktion der Nation. 23 Die diskursive Figur der weiblichen Nation zieht weitere Folgeerscheinungen nach sich. Eine davon ist, daß die Gewalt, die an Frauen verübt wird, auf die Integrität der betroffenen Gruppe abzielen kann. Die Vergewaltigung von Frauen einer Gemeinschaft, Kultur oder Nation kann, wie in den letzten Jahren wiederholt festgestellt wurde, als symbolische Vergewaltigung des Volkskörpers betrachtet werden. Je stärker Konflikte als Auseinandersetzungen zwischen Völkern, nationalen Identitäten und nationalen Wertvorstellungen (und nicht als Interessenskonflikte) definiert werden, eine umso größere Rolle dürfte demnach sexuelle Gewalt spielen. Die in strategischer Hinsicht fast bizarre militärische Gewalt gegen Symbole nationaler Identität wie Moscheen, Kirchen, Museen und Denkmäler in Bosnien sowie das Einsetzen von Massenvergewaltigungen verweisen darauf, daß in den Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien Fragen der Konstruktion und Dekonstruktion nationaler und politischer Identität durch den gewaltsamen Ausschluss eines mithilfe extremer Gewalt konstruierten „Anderen" eine besondere Rolle spielten. 24 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang daß es im Amerikanischen Bürgerkrieg kaum zu Vergewaltigungen von weißen Frauen gekommen sein soll. 25 Wenn sexuelle Übergriffe, wie geschildert, ihre besonde-
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Renata Salecl: The Spoils of Freedom: Psychoanalysis and Feminism after the Fall o f Socialism. N e w York 1994, S. 23. Vgl. Vlasta Jalusic: Die Funktionalisierung von Vergewaltigungen im Vorkriegs-Jugoslawien. In: Olga Uremovic / Gundula Oerter (Hg.): Frauen zwischen Grenzen. Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion. Frankfurt/M. 1994; vgl. auch Julie Mertus: Woman in the Service o f National Identity. In: Hastings Women's Law Journal 5 - 1 (1994).
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Sabrina P. Ramet/Branka Magas (eds.): Gender Politics in the Western Balkans. Women and Society in Yugoslavia and the Yugoslav Successor States. University Park 1999.
24
Vgl. David Campbell: National Deconstruction. Violence, Identity, and Justice in Bosnia. Minneapolis 1998, S. 110.
25
Michael Fellman: At the Nihilist Edge. Reflections on Guerilla Warfare during the American Civil War. Paper presented at the Conference „On the Road to Total War: The American Civil War and the German Wars o f Unification". Deutsches Historisches Institut Washington 1992.
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re Bedeutung aus der Erzeugung von Gemeinschaft und der Konstruktion nationaler Gemeinsamkeit bzw. Ausgrenzung beziehen, so sind sie in bestimmten Konfliktszenarien symbolisch dysfunktional - nämlich dann, wenn wie im Amerikanischen Bürgerkrieg die Zielsetzung des Konfliktes in der Erzeugung einer gemeinsamen Nation bestand und eben kein „Anderes" langfristig ausgegrenzt werden sollte. Sexuelle Gewalt in Kriegen ist also mitnichten nur ein Phänomen der Entgrenzung von Gewalt, ein Ausrutscher wildgewordener Horden oder ein bedauerlicher, aber nicht integraler Bestandteil von Kriegen. Sie ist vielmehr ein politischer Akt, der zentrale symbolische Bedeutung in der kulturellen Konstruktion des Krieges hat. Die Bedeutung des weiblichen Körpers für die Verletzbarkeit der Gemeinschaft mag in verschiedenen Kulturen variieren. Keineswegs ist sie aber nur ein Charakteristikum stark kollektiv ausgerichteter Kulturen, wie man mutmaßen könnte. Beunruhigungen über die (insbesondere sexuelle) Unversehrtheit des weiblichen Soldatenkörpers kennzeichneten auch die Debatten in der individualisierten Gesellschaft der USA während des Golf-Krieges. Mögliche Vergewaltigungen von amerikanischen_Soldatinnen durch irakische Soldaten waren ein Thema, das die Öffentlichkeit, aber auch das Pentagon nachhaltig beschäftigte. Nach der Gefangennahme von zwei amerikanischen Soldatinnen (einem „specialist", die als Lastwagenfahrerin eingesetzt war, sowie einer Sanitätsoffizierin) weigerte sich das Pentagon zunächst, sie als Kriegsgefangene zu kategorisieren. Sie wurden stattdessen als „dustwun", d. h. aus unbekanntem Grund vermißt, eingestuft. Man befürchtete, daß die amerikanische Öffentlichkeit aus Sorge um mögliche sexuelle Übergriffe auf die beiden Frauen eine Beendigung des Krieges zu fur die USA ungünstigen Bedingungen fordern könnte. 26 Die Möglichkeit von Übergriffen auf weibliche Kriegsgefangene beschäftigte die militärische Führung weitaus stärker als die (nachgewiesenen) Vergewaltigungen amerikanischer Soldatinnen durch männliche Kameraden. Kein Thema für das Pentagon oder die amerikanische Öffentlichkeit war der sexuelle Missbrauch (in Dokumenten des Pentagon ist von „sexual abuse" die Rede) von 19 männlichen Soldaten in irakischer Kriegsgefangenschaft 27 . Ihr Schicksal ist in theoretischer Hinsicht von besonderem Interesse. Es gibt Hinweise darauf, daß sexuelle Übergriffe auf Männer in Kriegen zwar kein massenhaftes Vorkommnis sind, allerdings als routinemäßige Begleiterscheinung von kriegerischen Auseinandersetzungen betrachtet werden können. Loncar geht auf der Grundlage von Erkenntnissen im ehemaligen Jugoslawien davon aus, daß sexuelle Kriegsgewalt gegen Männer zu den am besten gehüteten Tabus unserer Kultur zählen. 28 Angaben über die sexuelle Folter von Männern tauchen allerdings kaum jemals in Kriegsberichten auf. Liest man diese Phänomene auf dem Hintergrund der kulturellen Konstruktionen von Geschlecht und Krieg, so widersprechen sie allen Vorstellungen über den männlichen Beschützer der Nation. Der männliche Soldatenkörper kann nicht als weich und penetrierbar thematisiert werden. Sexuelle Gewalt an männlichen Soldaten könnte zwar der Dämonisierung und Dehumanisierung des Gegners dienen; gleichzeitig ist sie aber dazu angetan, die kulturellen Konstruktionen von Geschlecht zu de-
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Vgl. Linda Francke: Ground Zero. The Gender Wars in the Military. New York 1997, S. 96ff. Vgl. Rosemary Skaine: Women at War. Gender Issues of Americans in Combat. Jefferson, N. C. 1999. Mladen Loncar: Sexual Torture of Men in the War. In: Libby Tata Arcel: War Violence, Trauma and the Coping Process. Armed Conflict in Europe and the Survivor Response. Copenhagen 1998.
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stabilisieren, die andererseits wiederum die Konstruktion und das Selbstverständnis der Nation ausmachen. 29 Eine spezifische Verknüpfung von Gender- und Kriegsdiskursen ist auch in Israel zu beobachten. Mögliche, der Nation nicht zumutbare sexuelle Übergriffe auf weibliche Soldaten, werden als einer der Hauptgründe für den Kampfausschluss von Frauen in der israelischen Armee angegeben. 30 Damit verbindet sich eine Spekulation, die die militärische Führung international immer wieder beschäftigt. Danach würden Übergriffe auf weibliche Soldaten einen sogenannten männlichen Schutzinstinkt aktivieren und die (männliche) Armee könnte in der Folge nach Übergriffen auf weibliche Soldaten nicht mehr führbar sein. 31 Nach dieser Vorstellung müßten sich symbolische Konstruktionen bzw. kulturelle Diskurse unmittelbar und umstandslos in die Psychologie von Individuen umsetzen. Das ist offensichtlich ein übersimplifiziertes Bild der Subjektkonstitution und in dieser Form nicht zutreffend. Mithin ist es auch nicht erstaunlich, daß für Phänomene dieser Art bislang keinerlei empirische Belege vorliegen und sie lediglich die militärische Phantasie und Folklore beflügeln. 32 Dennoch zeitigen diese Diskurse Effekte. So stellte Edna Levy für Israel fest, daß sexuelle Übergriffe auf Soldatinnen im kollektiven Bewusstsein in anderer Weise beunruhigend und bedrohlich wirken, als der Tod und die Verwundung von männlichen Soldaten. Die Vergewaltigung eines weiblichen Soldaten durch den Feind symbolisiert offenbar auf besondere Weise ein Eindringen in das nationale Territorium, die Schwäche der Nation und eine Usurpation nationalen Eigentums. 33 Die Konstruktion des Soldaten einerseits und die Konstruktion von Weiblichkeit im Kontext der Nation andererseits können einen Beitrag zur Erklärung des kulturellen Unbe-
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Vgl. Ruth Seifert: Geschlechtsspezifische Gewalt und die kulturelle Konstruktion des Krieges. In: Andreas Gestrich (Hg.): Gewalt im Krieg. Münster 1995; vgl. auch Helen Fein: Genocide and Gender: The Uses of Women and Group Destiny. In: Journal of Genocide Research 1 (1999). Analog zum Schweigen über den vergewaltigten männlichen Soldaten fallen auch kämpfende weibliche Soldaten dem kulturellen Vergessen anheim, die ebenfalls eine Bedrohung für Geschlechterkonstruktionen darstellen. Ein Beispiel dafür ist die Behandlung weiblicher Wehrmachtsmitglieder in den Kriegstagebüchern der Wehrmacht. Trotz ihrer nachweislichen Präsenz konnten einschlägige Forschung in Kriegstagebüchern keinerlei Hinweise auf die Frauen zutage fördern. Wenn Frauen Waffen tragen und kämpfen - was in der Geschichte der Nation oft genug vorkam - werden sie, ggf. mit großem diskursiven Aufwand, als „Nichtkombattanten" konstruiert. Vgl. Ruth Seifert: Destruktive Konstruktionen. Ein Beitrag zur Dekonstruktion des Verhältnisses von Militär, Nation und Geschlecht. In: Erika Haas (Hg.): Verwirrung der Geschlechter. Dekonstruktion und Feminismus. München 1995. Levy stellt für Israel fest, daß der weibliche Kämpfer nicht nur die Männlichkeit des Kampfes, sondern auch die Identität der Nation bedroht und die hierarchische Geschlechterordnung der Gesamtgesellschaft in Frage stellen kann (vgl. Edna Levy [wie Anm. 11], S. 208. Siehe auch: Margaret R. Higonett: Not So Quiet in No-Woman's Land. In: Miriam Cooke / Angela Wollacott (eds.): Gendering War Talk. Princeton 1993, S. 205ff.
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Vgl. Levy [wie Anm. 11]. Vgl. auch Anette Hartmetz: Ideal und Wirklichkeit. Ethos der israelischen Armee. In: Kommune 11 (2000). Der Kampfausschluß ist in Israel in den letzten Jahren in einigen ausgewählten Bereichen für eine bislang äußerst kleine Anzahl von Soldatinnen aufgehoben worden. Vgl. hierzu statt anderer: Brian Mitchell: Women in the Military. Flirting with Disaster. Washington 1998; Martin van Creveld: The Great Illusion. Women in the Military, In: Millenium. Journal of International Studies 2 (2000). Vgl. hierzu die Redebeiträge von Mady Segal in: Proceedings of the Conference „Women in the Military", Women's Research and Education Institute. Washington 1994. Vgl. Levy [wie Anm.l 1], S. 206ff.
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hagens liefern, das die Soldatin und insbesondere der Gedanke an sexuelle Übergriffe auf sie häufig auslöst. Führt man sich die besonderen Einbauten von Männern und Frauen in die Nation und in die kulturelle Konstruktion des Krieges vor Augen, so steht der weibliche Soldat in zwei Symbolsystemen. Die Soldatin verkörpert neben einer weiblichen Symbolik auch eine männliche: Sie ist, wie der männliche Soldat, eine symbolische Verlängerung des Staates und repräsentiert nationale Schutzfunktionen. Als Frau verkörpert sie aber die Schutzbedürftigkeit der Nation, die Verletzbarkeit der Nation und die potentiellen Schwachstellen der Nation. Weiblichkeit ist gewissermaßen die Antithese zum soldatischen Beschützer. Der weibliche Körper verkörpert nicht die Struktur des Staates, die Form politischer Ordnung und deren Schutz wie der männlich-muskulöse Soldatenkörper; er verkörpert, so Elisabeth List, Communitas, die Reinheit und Materialität der Nation. 34 Während Männer als Staatsbürger und Beschützer der Nation konstruiert werden, verkörpern Frauen die Grenzen, die Verletzbarkeit und den moralischen Status der Nation. Anders ausgedrückt: Der Staat und die Staatsbürgerschaft sind männlich, die Nation und die nationale Identität als Körper, aber auch als „spirituelles Prinzip" und „moralisches Bewußtsein" 35 sind weiblich konnotiert. Die „gefallene Soldatin" hätte demnach eine doppelte Bedeutung: Sie findet den Tod als Repräsentantin eines Staates, als Beschützerin der Nation oder des Kollektivs. Gleichzeitig symbolisiert sie aber als Frau das, was beschützt werden soll. Der Tod einer Frau durch Waffeneinwirkung spricht einen Mechanismus auf der Geschlechterebene an, wo - in kulturell variierendem Maße - die Verletzbarkeit der Frau nationale und männliche Schwäche symbolisiert, d. h. zur Debatte steht nicht die persönliche Integrität der betroffenen Person. Zur Debatte steht die kulturelle Konstruktion von Geschlecht und die Symbolik des Krieges. Aus der Widersprüchlichkeit der Soldatin, die zwischen männlicher und weiblicher Symbolik, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit steht, mag sich zumindest ein Stück weit die Widersprüchlichkeit der Empfindungen erklären, die der Gedanke an weibliche Soldaten auszulösen vermag. Gewalt, so Ann Norton, „ist ein Modus der Verkörperung von Macht und ein Akt der Autorität. Gewaltakte laden die Materie mit Bedeutung auf, ebenso wie das Sprech- und Schreibakte tun können. Indem sich in der Gewalt ein bestimmter Wille körperliche Präsenz verschafft, werden Bedeutungen produziert. Gewalt verleiht einem bestimmten Willen und damit einer bestimmten Identität Ausdruck und Autorität". 36 Die geplante und gezielte Gewalt gegen den menschlichen Körper trägt somit rituelle Aspekte in sich, mithilfe derer soziale Bedeutungen hergestellt und kommuniziert werden. So verstanden wird der Körper zu einer Requisite des Krieges, die die produzierten Bedeutungen materiell symbolisiert. Männliche und weibliche Körper symbolisieren dabei allerdings verschiedene Bedeutungen und sind folglich in aller Regel verschiedenen Arten von Gewalt an anderen Orten des Kriegsgeschehens ausgesetzt. Diese Formen von Gewalt in Kriegen sind tief in unsere Symbolsysteme eingebettet. Gewalt lässt sich verstehen als Skript, als Sprache, die Bedeutungen transportiert, die entschlüsselt werden können. Geschlechtsspezifische Gewalt in Kriegen ist ein kulturzerstörerischer Akte mit - im weitesten Sinne - strategischer Zielsetzung. Diese 34 35 36
List [wie Anm.10], S. 176. E. Renan: What is a Nation?. In: Homi Bhaba (ed.): Nation and Narration. New York 1990, S. 19f. Ann Norton, zit. nach: Campbell [wie Anm. 24], S. 87.
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Strategie wird an den Körpern von Männern und Frauen exerziert. Nicht vergessen werden sollte dabei, daß die Betroffenen diese Prozesse nicht als kulturelle und textuelle Kodierung, sondern als Verletzung und Verwundung von Leib und Leben, als individuellen Schmerz und Verzweiflung und als einen Zusammenbruch des Lebens erfahren. Schlägt man am Ende dieser Ausführungen einen Bogen zurück zur Frage von Geschlecht, körperlicher Gewalt und Krieg, so ist zu sagen: Bei der Betrachtung kriegerischer, geschlechtsspezifischer Gewalt eine anthropologisch bedingte weibliche Verletzbarkeit bzw. Verletzungsoffenheit zu unterstellen, hieße, kulturelle Konstruktionen zu naturalisieren und zu trivialisieren und sie der weiteren Erklärbarkeit zu entziehen. Auf diese Weise aber würde die kulturelle Konstruktion des Krieges nur unzulänglich verstanden. Die beschriebenen Verknüpfungen von Geschlecht, Krieg und Nation sind nicht zeitlos. Konstruktionen von Nation, Geschlecht, Sexualität und Krieg sind ständigen Wandlungsprozessen unterworfen. Männlichkeit und Weiblichkeit können in verschiedenen Nationen verschiedene Bedeutungsgehalte haben und Gewaltakte gegen männliche und weibliche Körper können je nach der kulturellen Konstruktion des Krieges verschiedene Formen annehmen. Krieg und Militär in unserem kulturellen Verständnis sind zutiefst von Geschlechterkonstruktionen abhängig und sind ihrerseits an der kulturellen Produktion von Geschlecht beteiligt. Sie sind aber auch Orte, an denen die Konstruktionen von Geschlecht von verschiedenen Akteuren verhandelt werden. „Krieg" und „Geschlecht" sind ständig in Bewegung. So ist am Ende des 20. Jahrhunderts ein Prozess zu beobachten, in dem die Integration von Frauen in nationale Streitkräfte einen Bruch mit Gepflogenheiten der Vergangenheit darstellt. Sie muß in Einklang gebracht werden mit bislang gültigen Geschlechterkonstruktionen - oder aber diese Geschlechterkonstruktionen müssen sich ihrerseits ändern. Es bleibt abzuwarten, ob diese Entwicklungen die Anordnung von männlichen und weiblichen Körpern in den Räumen der Nation verändern und möglicherweise zu einem Empowerment des weiblichen und einer größeren Verletzungsoffenheit des männlichen Körpers führen werden; oder aber ob eine Neuzementierung von Geschlechterkonstruktionen und eine anhaltend hierarchische Kombination von Weiblichkeit, Männlichkeit, Militär und Nation daraus resultieren wird.
III. Die technisch-mediale Codierung des Schlachtfeldes
PHILIPP VON HILGERS
Räume taktischer Kriegsspiele
I. Im deutschen Idealismus wurde die Rede von Raum und Zeit als Abstrakta virulent, als Nationalstaaten mehr denn je auf die Konkretion ihrer Grenzen kamen. Bevor es Nationalstaaten, also noch Reiche, gab, schlug man sich bekanntlich keineswegs um exakte Grenzverläufe. So sollten die ersten Landvermesser des Großen Kurfürsten allein schon bei den verbündeten Landesfursten auf Widerstand stoßen: Über die Dimensionen ihrer Territorien kläre die Heraldik ihrer Banner schon hinreichend auf, lautete ihr Argument.1 Die symbolische Ordnung des Raumes zu wahren, hieß bis dahin und im Grunde noch bis Bonaparte, sie im Ausnahmezustand selber einer Prüfung zu unterziehen. Das Schlachtfeld stellte dabei den Rahmen, der alle erdenklichen Möglichkeiten nach Möglichkeit ausschloß, um Gottes Schiedsspruch überhaupt zur Offenbarung zu verhelfen. Die Schlacht war dem Ideal nach entschieden, wenn eine Partei von einer geometrischen Konfiguration abweichen mußte etwa wenn ihre Linien vom Gegner durchbrochen und zerstreut wurden. Daß und wie der Feind fiel, brauchte erst gar nicht in den Blick zu kommen, solange nur seine Schlachtordnung zerbrach. Selbst noch die Phantasmen zerstückelter Körper von Soldaten in Bildern und Literatur jener Kriege antworteten einer Ganzheit, die erst im Verbund von Soldatenkörpern zu einer Kriegsmaschine gegeben war. Es leuchtet ein, daß erstens Schlachtfelder, die sich in eine geometrische Konfiguration einfügen lassen, so rar sein konnten, wie etwa das Amselfeld im zerklüfteten Balkan, und daß zweitens deshalb die Schlachtfelder einvernehmlich aufgesucht werden mußten. In dem Augenblick, wo nun Nationalstaaten durch Techniken und Standards der Integration und der Triangulation ihre Ränder und Grenzen permanent verzeichnen und überall, also arbiträr, auch gezogen werden können, ist von Kant bis Hegel nunmehr ganz allgemein von Raum die unaufhörliche Rede. Daß Kant den Begriff des Raumes allein zur Sache des transzendentalen Subjekt machte, erlaubte unterderhand, ihn von seinen anthropometrischen
1 Vgl. W. Stavenhagen: Die geschichtliche Entwicklung des preußischen Militär-Kartenwesens. Leipzig 1900, S. 8.
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oder - was dasselbe ist - königlichen Ellen oder Schritten zu lösen. Man kann aber an der Kritik, die sich für Hegel damit erst bot, ablesen, welches Potential zur Objektivierung räumlicher Bestimmung damit ins Spiel kam. Vielleicht das frappanteste Beispiel Hegels zur Sache eines Bezugssystems, das - modernisiert gesagt - in Vektoren und Operatoren aufgeht, lautet, daß „der Mensch von Raum und Zeit todtgeschlagen wird" 2 , und nicht etwa von einem Ziegelstein, der ihn trifft. An die Stelle des Subjekts können Schätze des Bodens - das Platin des Mètre des Archives - treten, um Boden zu vermessen. In aller Konsequenz unterbreitete 1790 Talleyrand, als er noch Bischof und noch keineswegs Napoleons Außenminister war, dem Parlamentarier des House of Common, John Riggs Miller, den Plan neuer Standards: Sinngemäß schrieb Talleyrand, die fur zwei freie Nationen so wichtige Frage nach invariablen Maßen könne nur an die Natur selber adressiert werden. 3 Da das Reale, welches die Physis der Natur impliziert, aber unmittelbare Eingriffe verweigert - um mit Lacan zu sprechen - , ist es auch nicht einnehmbar. Damit ist ein Schlüssel geschaffen, der sicherstellt, daß in Kriegen nunmehr über keine Geste ihrer Beendigung verfugt wird. Der zehnmillionste Teil eines terristischen Meridianquadranten, wie er durch Paris läuft und den Meter abgibt, läßt sich nicht ergreifen wie ein Banner Gustav Adolphs oder gar die Götzenbilder der Karthager, um sie nach Rom zu bringen. Indem mit dem Meter aber das Prinzip einer garantierten Reproduzierbarkeit im Realen intendiert ist, das auch und gerade die Schlachtfelder erfaßt, treten gänzlich andere Signifikanten der zeitlichen und räumlichen Koordination auf den Plan. Ihnen folgte die Ausbildung neuer Waffengattungen auf dem Fuß: Bonapartes zerstreut operierende Tirailleure konnten dann die Zerstreuung als ein untrügliches Zeichen des Endes einer Schlacht ins Gegenteil verkehren. Folgerichtig sah Clausewitz, daß die Kriegsmaschine auch gar nicht mehr fundierten Termini klassischer Mechanik oder Geometrie gehorchte, sondern Wahrscheinlichkeiten, wie sie Kartenspiele aufwerfen, 4 deren Berechnung und, mehr noch, Theorie weitestgehend ausstand. Das Gemälde Caspar David Friedrichs „Der Chasseur im Walde" (Abb. 1, Caspar David Friedrich, Der Chasseur im Walde, 1814), das dem Triumph der Freiheitskriege gewidmet ist, zeigt folglich nicht mehr als höchste symbolische Instanz einen Befehlshaber. 5 Auch sehen sich französische Soldaten nicht etwa von einer preußischen Übermacht auf diesem Bild bezwungen, sondern nur ein vereinzelter französische Chausseur von einem Kleistschen Teutoburger Fichtenwald und einem Holzweg. Friedrichs Bild folgt damit weniger den Vorgaben der Schlachtengemälde der Wunderkammern, sondern optischen Medien der Arsenale und Waffenkammern. Die militärische Bedeutung einer neuen Naturerfassung wird Caspar David Friedrich nur zu gut gekannt haben: kaum ein Blatt scheint von einer Reise auffindbar, die ihn nach der Katastrophe von Jena/Auerstaedt nach Böhmen führte, um in Teplitz auf Preußens Reformer zu stoßen, d. h. auf jenen gegen Napoleon verschworenen Haufen
2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. (1827). Hg. v. Wolfgang Bonspiepen und Hans-Christian Lucas. Hamburg 1989, § 261, S. 197. 3 Vgl. Algernon E. Berriman: Historical Metrology. A new analysis of the archaeological and the historical evidence relating to weights and measures. London / New York 1953, S. 141. 4 Vgl. Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hg. ν. Werner Hahlweg. Bonn 1980, S. 208. 5 Mit Dank an Frank Seehausen für den Hinweis auf das Bild.
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um Ex-Minister Karl von und zum Stein. Hatte einst ein „Landschaftspaß"6 Friedrich das Zeichnen im Umkreis der Festung Königstein noch eingeräumt, so galt in Böhmen ein striktes und pauschales Verbot in und nach der Natur zu zeichnen - darüber wachte das Kaiserlich-Königliche Einbruchsamt. Man litt wohl in Österreich noch darunter, daß der alte Fritz seinen Offizieren aufgetragen hatte, auch die letzten böhmischen Dörfer zu rekognizieren, und das hieß vor allem, Situationspläne und Skizzen zu erstellen.7 Außer der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hatte niemand das Privileg, Karten zu vervielfältigen und einzig falsche durften in Umlauf gebracht werden, wohl um dem Ende, das den Chasseur auf Friedrichs Bild ereilen wird, nachzuhelfen. Offiziere, die sich laut ihrer Dienstvorschriften für Geländeerkundigungen Zivil anlegen sollten, und patriotische romantische Landschaftsmaler waren um 1800 folglich kaum auseinander zu halten. Und Offiziere konnten von Landschaftsmalern nur lernen: Kleists Freund Rühl von Lilienstern absolvierte denn auch bei Caspar David Friedrich seinen Zeichenunterricht. Doch der Wissenstransfer zwischen Militärwesen und schönen Künsten war so einseitig nicht, zumal wenn sich ihnen eine Personalunion bot: Heinrich yon Kleist wiederum bekam von Ernst v. Pfuel ein eigens optimiertes Kriegsspiel überlassen. Schlüssel zum Baukasten solcher Kriegsspiele sind in der Literatur und Bildenden Kunst dieser Zeit zu finden. Sieht man in der Kunstwissenschaft unter Aufbietung psychoanalytischer Methoden in Friedrichs Bildern ein neues Moment auftauchen, daß als Heautoskopie begriffen werden kann, entdeckt eine am Strukturalismus geschulte Literaturwissenschaft als bestimmendes Moment in Kleists Dramen Teichoskopie und Botenbericht. Doch subjektlastig feiern solche Lesarten zwar ihre Methoden, kassieren aber vorschnell und stillschweigend die Grenze von Freund und Feind oder verlegen sie innerhalb des Subjekts. So ließe sich das Bild Friedrichs vom Chasseur in die Nähe eines pathologischen Zustande rücken, eben in jene der Heautoskopie, die die Anwesenheit eines „Doppelgängers als brennendes Gefühl im Nacken"8 verkündet. Gegen die Rekursion an sich kann man kaum Bedenken anmelden: Das im Bild dargestellte Subjekt wird vom Blick erfaßt, während erst die Identifizierung mit dem Subjekt sicherstellt, daß dessen abgewandte Haltung wiederum den Blick zu erfassen nicht erlaubt. Das Gelingen der Identifizierung mit dem Subjekt erfordert zwar den eigenen Blick zu leugnen, seine Möglichkeit aber einzuräumen. Malt man die Waldszene weiter aus, dann holt die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Abgewandheit als Bedingung der Möglichkeit des Blickes auch den Standpunkt des Betrachtens ein und ordnet ihn in eine endlosen Reihe ein. Doch Friedrichs Bild ist mit einem Magrittes nicht zu verwechseln. Denn es ist ja nicht ein Soldat der preußischen leichten Infanterie, dem die Krähe seinen Untergang andeutet. Die Rekursion unterscheidet Freund und Feind bei jedem Schritt. Erst die vorgezogene Linien aus Tirailleuren und Chasseuren oder dann der Scharfschützen und der leichten Infanterie um 1800 brachen mit festgelegten Perspektiven. Sie eröffneten die Möglichkeit einer allseitigen Front und, prekärer noch, das Erscheinen der eigenen Mannschaften in der Schußlinie. Kleists Teichoskopien und Botenberichte dagegen greifen nicht zu dem Trick antiker Dramen, statt große Schlachten auf das Theater zu bringen - wie sollten sie auch - , ihre 6 Karl-Ludwig Hoch: Caspar David Friedrich und die böhmischen Berge. Dresden 1987, S. 17. 7 Vgl. Stavenhagen [wie Anm. 1], S. 15. 8 Joseph Leo Koemer: Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt. Epochen der Deutschen Kunst Band III: Romantik. Aus dem Englischen von Christiane Speisberg. München 1998, S. 182.
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Schilderung zu legitimieren. Seit der Familie Schroffenstein oder dem Prinz von Homburg und nicht erst seit MacLuhan ist klargestellt, daß die Botschaften, die Kriegserklärungen oder zumindest Unbill aussprechen, gar nicht mit dem Boten verwechselt werden können, sie fallen in eins. Das Drama ist nicht Inhalt der Botschaften, sondern ihre Übermittlung, ihre vorder- und untergründigen Zeichen, ihre Preisgabe oder - man denke an den Prinzen von Homburg - ihr Vergessen. Daß Kleist aber nicht nur mit seinen Trauer- und Lustspielen die Geschichte und das Geschichtsbild Preußens wie kaum ein anderer zu Papier brachte, sondern sich mit dem Kriegsspiel selber in die Geschichte Preußens einschrieb, bleibt nachzutragen. Nicht sosehr das Schlachtfeld von Aspern zeigte ein ganz neues Kriegstheater mit mehr Toten denn je, als vielmehr ein Wirtshaus in unmittelbarer Nähe. Dort waren nämlich Heinrich von Kleist und sein Weggefährte Christoph Dahlmann - ein nachmaliger Geschichtsprofessor - untergekommen. Während Herzog Carl von Österreich seine Truppen bei Aspern gegen Napoleon in Stellung brachte, tat Heinrich von Kleist in dem Wirtshaus anhand von Pfiiels Kriegsspiel dasselbe. Nach dem Bericht Dahlmanns9 fand sich auch Major von Knesebeck im Wirtshaus ein, und als er Kleist in das Kriegsspiel versenkt vorfand, hatte er für den ehemaligen Gardeleutnant nur einen Fluch übrig. Kleist entgegnete - laut Dahlmann - aber nur ungerührt, in dem Spiel sei alles enthalten. Über die Hintergründe von Knesebecks Aufenthalt bei Aspern gibt erst seine halbamtliche Biographie Auskunft,10 die aber den Namen des Nationaldichters aus Gründen, die noch einleuchten werden, verschweigt. Knesebeck sondierte im geheimen Auftrag von König Friedrich Wihelm III. die Lage und hatte zu prüfen, ob eine militärische Allianz mit der kaiserlichen Armee Österreichs erfolgversprechend sei. Trotz ihrer Verluste schien Knesebeck die österreichische Armee stark genug und der Moment für eine militärische Allianz äußerst günstig. Er war im Begriff, umgehend nach Königsberg zu reisen, um Friedrich Wilhelm persönlich von der Notwendigkeit eines Kriegseintritts zu überzeugen. Dazu sollte es nicht kommen. Nach mannigfaltigen Schlachten mit dem Kriegsspiel muß Kleist der oft entscheidende Einfluß von Zufällen nachgegangen sein. Wenn letztlich frühere Schlachtordnungen am Modell des Zweikampfs und Duells Maß genommen hatten, dann konnte ein Kommandeur jetzt nicht einmal mehr sicher sein, wann und wo mit befeindeten Truppen zu rechnen war, deren Stärke und Waffengattung zudem mitunter unabsehbar waren. Kleist scheint auch dieses Modell in seiner denkbar kleinsten Formation im Wirtshaus installiert zu haben. Er besorgte zwei Pistolen, lud sie und legte sie - unter Protest Dahlmanns - auf den Wirtshaustisch. Dort blieben sie dann über Nacht liegen. Am nächsten Morgen ergriff ein Adjutant Knesebecks eine der Pistolen zum Spaß und drückte den Hahn. Er konnte nur noch einer Kugel hinterherblicken, die an Dahlmanns Schläfe knapp vorbeiging. Letztlich meldete sich aber Knesebeck mit den Worten „aber Gotts Donnerwetter, ich habe es gekriegt!"11 Ein herbeigerufener Chirurg mußte die Kugel in Knesebecks Schulter belassen. Knesebeck blieb aufgrund der Schußverletzung nur übrig, seinen Lagebericht an Friedrich Wilhelm durch ei9 10 11
Vgl. Helmut Sembdner (Hg. ): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Frankfurt a. M. 1977, S. 276. Vgl. Kurt von Priesdorff: Soldatisches Führertum. Bd. 7. Hamburg 1936-1942, S. 346-347. Zitiert nach Sembdner [wie Anm. 9], S. 276.
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nen Boten zu übermitteln, sicherlich wissend, daß seine Worte in Königsberg ihre Eindringlichkeit verloren haben würden. Als nach Wochen und mehrmaliger Korrespondenz Friedrich Wilhelm Knesebeck anwies, Österreich volle militärische Unterstützung zu versprechen, hatte dieses sich mit Napoleon geeinigt, um nicht zu sagen verheiratet. Die Biographie Knesebecks schließt mit den Zeilen: „die preuß. Patrioten waren um eine neue Hoffnung betrogen".12 Kleist mochte unwillentlich das geringste Maß an Kontingenzen heraufbeschworen haben, um an der Verhinderung einer militärischen Intervention teilzuhaben. Die Ironie der Geschichte ist, daß 1811 ausgerechnet ein erneut sich anbahnender Kriegseintritt gegen Napoleon Kleist zu einem ersehnten militärischen Amt verhelfen sollte. Marie von Kleist schien in dem drohenden Krieg jedenfalls eine der wenigen Chance für ihren verwandten und chronisch mittellosen Freund zu sehen. Sie schickte Kleist erstens mit „militärischen Aufsätzen" zu Gneisenau und empfahl ihn zweitens dem König als Leibgardisten, der - so Marie von Kleist - „seit einigen Jahren sich viel mit Taktik beschäftiget, [und] Kriegsspiele gespielt [...]" 13 hat. Um auf solche Referenzen zu kommen, muß man schon wie Marie von Kleist engste Vertraute der Königin sein - wie noch zu zeigen ist. Friedrich Wilhelm III. gewährte Kleist eine Audienz und erließ vermutlich noch am selben Tag eine Ordre, die ihm ein militärisches Amt in Aussicht stellte. Doch nachdem es weder zu einem Krieg noch zu einer Anstellung kam, lud Kleist am kleinen Wannsee letztmalig zwei Pistolen, um diesmal eine gegen sich selber zu richten.
II. Ebenfalls 1811 machte Prinz Wilhelm König Friedrich Wilhelm auf das Kriegsspiel aufmerksam - also exakt zur gleichen Zeit wie Kleist. Doch Prinz Wilhelms Spiel stammte von Kriegs- und Domänenrath Leopold Baron von Reiswitz. Reiswitz aber wollte unter keinen Umständen sein Kriegsspiel auf dem Stand „eines Sandkastenfs] dem König vorlegen". Er „werde aber sofort ein Terrrain aus festerm Material anfertigen lassen und das dem König zu Füßen legen. Dies geschah erst im Laufe des Jahres 1812; Der König hatte es fast vergessen und war nicht wenig erstaunt, nach so langer Zeit, eine der Form nach mächtige Komode angebracht zu sehen."14 Bei Reiswitz' ,,mächtige[r] Komode" sieht man sich einer „mechanischen Vorrichtung um taktische Manöver sinnlich darzustellen"15 gegenüber. (Abb. 2 -
12 13
14 15
Vgl. Priesdorff [wie Anm. 10], S. 347. Zitiert nach Sembdner [wie Anm 9], S. 400. Vgl. Wolf Kittler: Militärisches Kommando und tragisches Geschick. Zur Funktion der Schrift im Werk des preußischen Dichters Heinrich von Kleist. In: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Hg. v. Dirk Grathoff. Opladen 1988, S. 56-68. Anonymus: Zur Vorgeschichte des v. Reiswitz'schen Kriegsspiel. In: Militair-Wochenblatt 73 (1874), S. 698. George Leopold von Reiswitz: Taktisches Kriegs-Spiel oder Anleitung zu einer mechanischen Vorrichtung um taktische Manoeuvres sinnlich darzustellen. Berlin 1812. Eine detaillierte Analyse und Beschreibung des taktischen Kriegsspiels von Vater und Sohn v. Reiswitz bei Berücksichtung ihrer Vorgänger liefert mein Beitrag „Eine Anleitung zur Anleitung. Das taktische Kriegsspiel 1812-1824." In: Board Games Studies. International Journal fort he Study of Board Games 3 (2000), S. 59-77.
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4, Taktischer Kriegsspielapparat, von Domänen- und Kriegsrat Georg Leopold Baron von Reiswitz für Friedrich Wihelm III. entworfen und 1812 angefertigt) Bis zu Napoleon galt noch, daß die letzten schriftlichen Befehle und Direktiven am Abend vor der Schlacht an die einzelnen Kommandeure gesandt wurden. In Reiswitz' taktischem Kriegsspiel, das die Schlacht selber simuliert, lautet nun eine der wichtigsten Regeln, daß nicht gesprochen wird, sondern Nachrichten innerhalb der eigenen Reihen, die sich in der Regel aus mehreren Spielern in verschiedenen militärischen Positionen zusammensetzten, nur über Schiefertafeln ausgetauscht werden. Ein Zug umfaßt in diesem Spiel zwei Minuten. Die beiden Parteien wechseln sich zwar in ihren Zügen ab, simulieren aber in dem Nacheinander parallel ablaufende Prozesse. Unser digitales Dasein kennt dafür den schönen Begriff der Pseudoparallelität. Die Distanzen, die die verschiedenen Waffengattungen in zwei Minuten überwinden konnten, wurden empirisch genauso ermittelt wie die Schußweiten und dann maßstabgerecht auf das Kriegsspielterrain übertragen. Scharnhorsts und Reiswitz' Söhne haben später systematisch physikalische Daten der verschiedenen Feuerwaffen auf dem Schießstand und als Mitglieder der Artillerieprüfungskommission zusammen erhoben. Da man wußte, daß die Feuerwaffen unter Gefechtsbedingungen stärker streuten, legte man dem Spiel Würfel bei, die es erlaubten, die absoluten Zahlen in Reiswitz Regelwerk mit zufälligen Abweichungen zu versehen. Zudem dezimieren vor Spielbeginn Zufallswürfe die Divisionen der beiden Parteien, so daß die Stärke und Beschaffenheit des Feindes von Anfang an ungewiß ist. Jedem Truppenstein konnten sogenannte Verlustmarken beigelegt werden, die in Bruchzahl, also statistisch, Verluste bezifferten. Reiswitz' Sohn sollte hierfür sowie zur Markierung der im Verlauf des Spiels erst sichtbar werdenden Truppen der Gegenseite eigens einen Spielführer vorsehen. D. h.: Truppensteine wurden nur dann aufgestellt, wenn sie durch Aufklärungsmaßnahmen als feindliche erkannt worden waren. Jeder Truppenstein im Kriegsspiel steht also schon für den Triumph des eigenen Nachrichtensystems. Die ganze Schlacht samt seiner Schreibakte läuft in Echtzeit. Zögerliches Abfassen von Befehlen durch einen Kommandeur wird vom gleichen Minuten-Takt erfaßt wie beispielsweise die Wirkung des Artilleriefeuers seines Gegners. Auffallend ist auch das Hypertrophe des Spielterrains. Es wird aus Bausteinen gebildet, die Reiswitz in Anlehnung an das Modell des Setzerkastens „Typen" nannte. Ein übliches Terrain aus Typen ähnelt aber weniger der Mark Brandenburg, als vielmehr romantischen Landschaften. Ein Terrain, das fast nur aus Bergen und Flüssen zu bestehen scheint, konfrontiert den Spieler ganz wie Caspar David Friedrichs Bild mit Friktionen einer Natur, die Friktionen auf der Kommandoebene und ihren Entscheidungsabläufen - in Clausewitz' erweitertem Wortsinn - erst heraufbeschwören. Feindliche Stellungen können also in Abgründen und hinter der Komplexität, die sich sowohl bei Erfassung wie auch bei der Vermittlung der Natur auftun, verschwinden. Friedrich Wilhelm ließ Reiswitz' Kriegsspiel umgehend nach Potsdam bringen, wo ihn kurz darauf auch Meldungen vom Russisch-Französischen Krieg erreichten. Exhaustive Kriegsspiele im Potsdamer Schloß bei Anwesenheit seiner Söhne, Offiziere und Adjutanten sollten dazu führten, daß „häufiger die sonst zum Auseinandergehen der hohen Familie festgesetzte Stunde, weit überschritten" 16 wurde.
16
Anonymus [wie Anm. 14], S. 694.
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Reiswitz hatte 1812 zu der „mächtigen Komode" eine sechzig Seiten starke Anleitung
herausgebracht: Taktisches Kriegs-Spiel oder Anleitung zu einer mechanischen Vorrichtung um taktische Manoeuvres sinnlich darzustellen. Sie blieb unvollständig, da erste Heeresbewegungen die Zeit des Kriegsrats einforderten. Doch es ist zweifelhaft, daß das Kriegsspiel jemals uneingeschränkt distribuiert werden sollte. Reiswitz veröffentlichte einzig die Anleitung, verzichtete aber absichtlich dabei auf „Kupferstiche" von seiner Konstruktion. Es galt, unautorisierte Nachbauten zu verhindern. Schließlich gab Reiswitz 1816 nur noch den historischen Teil seiner Kriegsspielschrift heraus, legte aber den neusten Stand der Dinge nicht mehr offen. Seine Anleitung von 1812 - die nach eigenem Bekunden zudem längst überholt war - erklärte er zu Makulatur. Reiswitz wollte seine Unterlagen „ohne allen gelehrten Prunk denen in die Hände" legen, „welche sie bloß zum eigentlichen Kriegs-Zweck benutzen wollten." 17 Reiswitz überließ in aller Konsequenz alles Weitere seinem Sohn, der sich anschickte zum Seconde-Lieutenant von Preußens Gardeartillerie aufzusteigen. Mit der Generationsablösung erfolgte die mediale Vernetzung von bis dato völlig geschiedenen Räumen. Während Kommandozentralen spätestens nach zwei Weltkriegen und nach Maßgabe elektronischer Nachrichtentechnik beinahe überall sein können und sich im Ernstfall auch nicht vom Testfall unterscheiden, gilt das fur den Gefechtsraum nicht. Denn nur Avatare in Kriegsspielen und Katzen kennen bekanntlich mehr als ein Leben. Den Bruch, der Kommandeure und Befehlsempfänger in existenzieller Weise trennt, hat vermutlich Kriegs- und Domänenrath von Reiswitz als erster registriert, als er die Korrespondenz zweier Freunde analysierte, die ihr Kriegsspiel postalisch aufgezogen hatten. „Ein Schreibfehler, besage dieser Correspondenzacten beyder Freunde, kostete einmal einem Infanteristen das Leben, ein Fall der auch wohl sonst vorgekommen seyn mag." 18 Das Kriegsspiel übt in die Kommunikation ein, die eine nackte Existenz über lauter Stellvertreter mit einer letzten Instanz verbindet. Unlöslich ist dabei die strategisch distanzierte Dimension des Kabinettkrieges mit der realen Dimension der Schlachtfelder verschränkt. Reiswitz' Sohn visualisierte im taktischen Kriegsspiel noch genauer nur dasjenige, was Technologien zur Raum- und Zeiterfassung für die Taktik tatsächlich als notwendig und hinreichend bestimmt hatten. Mochte Kleist umgekehrt Kantlektüren noch als Krise erfahren haben, würden doch grüne Gläser anstelle von Augen verschleiern, daß nicht alle Dinge grün sind und analog Augen eben erst gar nicht zeigen, was sie denn an den Dingen auf ewig verschleiern. 19 Militärische Aufrüstung suchte nun gerade in der Unterbietung des Vermögens transzendentaler Subjektivität ihren Vorteil. Steuern alle für Menschenaugen möglichen Farben zur Aufklärung der Lage nichts bei, dann sind Soldaten mit grünen Gläsern statt Augen ob der Datenreduktion ein Gewinn. Zumindest sollen noch heute russische Satellitenaufnahmen den amerikanischen in nichts nachstehen, weil sie auf jegliche Farbwiedergabe verzichten und statt dessen auf hohe Graustufenauflösung setzen. Reiswitz jun. ersetzte jedenfalls als erstes das dreidimensional nachgebildete Terrain seines Vaters durch Situationspläne. In diesen werden Erhebungen einer Gegend nur soweit durch Schraffuren
17 18 19
George Leopold von Reiswitz: Literärisch-kritische Nachrichten über die Kriegsspiele der Alten und Neuern. o. O . , o. J., S. VI. Reiswitz [wie Anm. 15], S. IX. Vgl. Heinrich von Kleist: Brief vom 22. März an Wilhelmine von Zenge. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. II. Hg. v. Helmut Sembdner. Darmstadt 1961, S. 634.
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nuanciert dargestellt, wie im Falle ihrer Überwindung durch die verschiedenem Waffengattungen kategorielle Unterschiede hervortreten. Nachdem Prinz Wilhelm probehalber auch ein Kommando im Kriegsspiel von Leutnant Reiswitz übernommen hatte, schickte er ihn umgehend zu Generalstabschef Karl von Müffling. Bei einer Demonstration des Kriegsspiels zeigte sich dieser erstaunt, daß dem Spiel kein Schachmuster unterlegt war, sondern Aufnahmen von wirklichem Terrain. Am Ende der Demonstration konnte Müffling nur begeistert feststellen: „Das ist ja kein Spiel in gewöhnlicher Art, das ist eine Kriegsschule. Das muß und werde ich der Armee auf das wärmste empfehlen." 20 1824 präsentierte Müffling das taktischen Kriegsspiel im MilitairWochenblatt und Friedrich Wilhelm verpflichtete denn alle Regimenter, das Kriegsspiel auf Staatskosten zu beziehen. In der Potsdamer Kriegsschule bezog Reiswitz' miniaturisierte Kriegsschule einen eignen Raum. Leutnant Reiswitz instruierte derweil noch Großfürst Nikolaus und seine Generale in St. Petersburg im Kriegsspiel. Als Reiswitz nach den absolvierten Exerzitien zweier Großmächte wieder in Berlin eintraf, zeigte sich aber auch, daß im Kriegsspiel Vorgesetzte mitunter einen Autoritätsverlust erlitten, wenn die eigenen Offiziere auf Situationsplänen vergangener Schlachten anfingen, ihre Fehler zu korrigieren. Statt also Reiswitz eine vakante Kompanie-Chef-Stelle anzutragen, wurde er von der Garde zur Linie in die Provinz versetzt. Reiswitz erschoß sich während seines ersten Heimaturlaubs. Ein Jahr nach Reiswitz' Tod erschien ein Supplement, das das Kunststück fertig brachte, an seine Kriegsspielanleitung anzuschließen, ohne diese oder ihn auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Zu den Neuerungen des Supplements gehört der Ausnahmewurf und ein Notwürfel. Gelang ein unwahrscheinlicher Ausnahmewurf, entschied der Notwürfel, ob die Ausnahme auch statthatte. Denn wenn es darum ging, „keinen im Kriege möglichen, wenn auch noch so unwahrscheinlichen Fall vom Spiel auszuschließen, muß auch das Spiel Ausnahmen von der Regel gestatten, die aber wieder ihre eigenen Regeln haben müssen." 21 Autoreferenzialität und tendenzielle Schließung der Systeme - nach Luhmann die Modi der Neuzeit - erfahren in der Geschichtsschreibung des Generalstabs ihre radikalste Umsetzung. Gerhard von Scharnhorst hatte vorgeschlagen, alle Aufzeichnungen, die vor, während und nach einem Feldzug gemacht werden konnten, zu sammeln, nachdem er feststellen mußte, daß die militärische Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt nur einen „an Wahrscheinlichkeiten grenzenden Roman" abgab. Bronsart von Schellendorfs Kompendium Der Dienst des Generalstabs beschreibt schon deshalb die Tätigkeit eines Offiziers als die richtige Anwendung einer Registratur, wo im Fall des Eingangs noch der überraschendsten Nachrichten, die Aufgabe zunächst nicht darin zu sehen ist, in origineller Weise zu reagieren, sondern das Archiv nach vergleichbaren Fällen und ihrer Handhabung zu durchsuchen. 22 Dieses Verfahren, empirische Mannigfaltigkeiten mittels Autoreflexivitäten prozedier- und denkbar zu machen, scheint nicht allein einer rein militärischen Sphäre abgeschaut. Brüsteten sich Generale zu Zeiten Friedrichs des Zweiten noch damit, nicht schreiben zu können, so ging
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Zitiert nach Ernst Heinrich Dannhauer: Das Reiswitzsche Kriegsspiel von seinem Beginn bis zum Tode des Erfinders 1827. In: Militair-Wochenblatt 56 (1874), S. 529. Anonymus: Supplement zu den bisherigen Kriegsspiel-Regeln. In: Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges 13 (1824). Nr. 4, S. 78. Paul Bronsart von Schellendorff: Der Dienst des Generalstabes. Teil I. Berlin 1875, S. 138.
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Reiswitz' Freund Hauptmann Griesheim,23 für dessen Beiträge zum Kriegsspiel er sich ausdrücklich bedankt, wahrlich einem Studium generale nach, so daß, stellt ein Nachruf von Bismarks nachmaligem Kriegsminister Albrecht von Roon fest, „Griesheims CharakterTüchtigkeit in einer der eigentlichen kriegerischen Thätigkeit im engeren Sinne nur nahe liegenden Sphäre, nicht in ihr selbst, zu bewähren beschieden war."24 Die Sphäre ist nichts anderes als ein Quartier und Kanal, die Reiswitz' Artilleriekaserne, die Friedrich-WilhelmsUniversität und Hegels Haus am Kupfergraben kurzschließt. Denn über den Kupfergraben führte für Hauptmann Griesheim von der Kaserne geradewegs ein Weg „zu der Universität, vor die Lehrstühle C. Ritter's, Erman's, Hegel's, Α. von Humboldt's und anderer Männer von ausgezeichnetem Ruf und Namen, während zugleich die Berufsstudien der Kriegskunst und Kriegsgeschichte Gegenstand der fleißigsten Leetüre" waren. Und Roon führt weiter aus: „Als in späteren Jahren Professor Gans, nach Hegels Tode, dessen philosophische Vorlesungen herausgab, [griff er] zu Griesheim's, seines befreundeten Lieblings-Schülers, wohlgeordneten Heften [...], um die unvollständigen Aufzeichnungen des berühmten Lehrers zu ergänzen [...]. Wer aber Hegel jemals gehört oder auch nur eine seiner hinterlassenen Schriften angesehen hat, wird ermessen, was es sagen will, wenn Fachmänner in solchem Falle zu der Arbeit eines militairischen Dilettanten ihre Zuflucht zu nehmen sich gedrungen fühlten; - dieser gehörte daher jedenfalls zu den Wenigen, welche den so schwer und deshalb meist mißverstanden Philosophen richtig aufgefaßt hatten."25 Das richtige Auffassen gründet aber wohl vor allem auf einem generalstabsmäßigen Aufschreibesystem. Hegels System, das mit Genitivkonstruktionen Subjekte wie Geschichte generiert, um dann den Fall des Subjekts der Philosophie zuzusprechen, entgeht einzig die performative Genese seiner Rede. Hier kamen Griesheim und seine Mitstreiter zur Hilfe: wo er [Hegel] von einer guten Nachschrift eines Zuhöhrers hörte, [ließ er] diese kopieren, und sie ward bei abermaligem Lesen Zugrunde gelegt, sodaß sich an sie Veränderungen und Erweiterungen schlossen [...] Obgleich Hegel stets seine Vorträge nach einem Hefte hielt, so konnte schon der Zuhöhrer aus dem stetn Hin- und Herblättem, aus dem bald oben, bald unten Herumsuchen, auf die Korrekturen, Einschiebsel usw. zurückschließen.26 Griesheim machte aber zudem noch aus verschiedenen Mitschriften ein einziges Kompilat, um alle Facetten Hegelscher Performanz aufzuheben - ein Verfahren, das sich im Generalstab gerade herauskristallisierte, um aus unzähligen Offizierstagebüchern neue Direktiven und Kriegsdarstellungen abzuleiten.27 Damit ist die Philosophie der Geschichte, daß Geschichte auf ihr buchstäblich generalstabsmäßiges Ende, der Generalstab auf seine System23 24 25 26 27
Vgl. Georg Heinrich Rudolf Johann von Reiswitz: Anleitung zur Darstellung militairischer Manöver mit dem Apparat des Kriegs-Spieles. Berlin 1824, S. X. Anonymus: Zur Erinnerung an den Griesheim, gestorben als erster Commandant von Coblenz und Ehrenbreitenstein, am 1. Jannar 1854. In: Beiheft zum Militair-Wochenblatt Heft 1 (1854), S. 3. Anonymus [wie Anm. 24], S. 8. Johann Eduard Erdmann zitiert nach Günther Nicolin (Hg. ): Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Berlin 1971, S. 442. Vgl. Philipp v. Hilgers: Vom Kriegsspiel. Spiel - Zeit - Raum. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Berlin 1999, S. 32-57.
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Schreiber gekommen ist. Nach einer bemerkenswerten Bilanz von Roons „hätte [Griesheim] vorzugsweise im Generalstab der Armee [...] Verwendung finden sollen."28 Doch als es tatsächlich soweit war, erhielt das Kriegsministerium den Vorzug. Schließlich wird Griesheim seinerseits Vorlesungen, wenn auch über Taktik und Kriegsgeschichte, an der Potsdamer Kriegsschule halten. Generalstabsoffiziere wie Helmut von Moltke, die diese Potsdamer Kriegsschule verlassen, werden, um zu Halbgöttern aufzusteigen und Armeen dreier Kriegstheater zu befehligen, Berlin und das Hauptquartier des Großen Generalstabs kaum mehr verlassen müssen. Denn Daten, die in einem Krieg erhoben wurden, stellten die Grundlage von Kriegsspielen fur zukünftige Feldzüge. Nach Georg Brandes vereinte sich dann bei Moltke der Blick eines Topographen mit dem eines Historikers, der Hinterlassenschaften der Geschichte nicht anderes korrigierte als der Topograph Landkarten. 29 All die Uhren, Zirkel und Maßstäbe, die fur Friedrich Wilhelms taktisches Kriegsspiel als Taktgeber und zur Erfassungen des Raumes noch nötig waren, werden zu Zeiten Moltkes überflüssig. Kurs- und Codebücher von Eisenbahnen und Telegraphen haben sie externalisiert und sind mit dem Schlachtfeld eine Symbiose eingegangen. Doch die nachrichten- und mobilisierungstechnische Aufrüstung der Kriegstheater schlug auch auf ihren Emergenzpunkt zurück - auf Berlin.
III. Preußens erste Eisenbahn auf der Strecke von Potsam nach Berlin wurde gerade noch rechtzeitig zur Mobilisierung der Truppen im Revolutionsjahr 1848 fertig. Eine Eisenbahn zu den Munitionsstätten Spandaus schrieb eine, zu diesem Zeitpunkt noch zwingende, Teilung von Wohn- und Arbeitsstätte dem Weichbild von Berlin ein und präformierte innerstädtischen Schienenverkehr. Kriegsminister Albrecht von Roon beschrieb sich, nachdem die Mobilisierung im Deutsch-Französischen Krieg erst einmal angelaufen war, als arbeitslos und damit in der Lage, sich in Planspielen einem Eisenbahnsystem innerhalb Berlins zu widmen. Den ersten Ringbahnabschnitt - noch heute das Herzstück der Berliner S-Bahn - befuhren Liegewagen, die gemäß der gerade vereinbarten Genfer Konventionen angeschossene Franzosen zu den Lazaretten auf dem Tempelhofer Feld brachten. Während man Paris für seine Hausmannschen Bollwerke verhöhnte und die eigenen Mobilisierungstechniken beschwor, installierte der erfolgreichste Eisenbahningenieuer des Deutsch-Französischen Krieges, nämlich Dirksen, eine Stadtbahn auf dem Festungsgraben des Großen Kurfürsten. Brandes notiert dazu: Würde die Regierung durch die Gleisanlagen im Falle einer Truppenmobilisierung nicht volle sechs Stunden einsparen, könnten die guten Berliner noch so manches Jahrzehnt auf ihre Stadtbahn warten. [...] Daß nun dies gigantische Werk seinem wesentlichen Zwecke nach nur ein wunderbares Truppenbeförderungsmittel ist, gerät schnell in Vergessenheit, wenn man täglich Gelegenheit hat, es in Aktion zu sehen. So wird es richtig als eines der unentbehrlichsten Organe der großen Stadt empfiin28 29
Anonymus [wie Anm. 24], S. 9. Vgl. Georg Brandes: Feldmarschall Moltke. In: ders.: Deutsche Persönlichkeiten. München 1902, S. 24.
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den. Kaum da, ist es schon eine Notwendigkeit und kann nicht mehr weggedacht werden. [...] Setzt [...] [man] sich in der Dämmerung eines Winternachmittags auf eine Bank im Tiergarten, von der [man] die Stadt-Bahn Züge sieht, scheint [...] das regelmäßig alle zehn Minuten wiederkehrende Rauschen der Waggons und die blitzenden Feuer der Lokomotive verwunderlich mächtig. Es ist, als [hörte man] die tiefen, kräftigen Atemzüge der Weltstadt, als sähe [...] [man] jede Sekunde ihres Lebens mit Leuchtziffern an den dunklen Himmel geworfen.30 Man kam bei der Entwicklung der Infrastrukturen Berlins in der Regel am Generalstab auch deshalb nicht vorbei, weil ihm das amtliche Kartenwesen überlassen war. Nur verzeichnen Karten, seit sie die Basis auch von Kriegsspielen sind, nicht einfach nur eine Lage, sondern verändern gerade im Verbund mit Technologien der Mobilisierung, was sie verzeichnen. Später als jede andere Metropole Europas ist Berlin zu seinen städtischen - oder mit Brandes gesprochen weltstädtischen - Ausmaßen gekommen, obschon bis heute zum Teil noch sichtbar wird, daß eine Vielzahl von Bahnhöfen sowie Ring- und Stadtbahn einen Haufen schlichter protestantischer Dörfer zusammenhalten. Der Generalstab behandelte sie samt ihrer Äcker und Wiesen indes auf seinen Karten und in seinen Planspielen als einen Raum, den man noch gewinnen müsse. (Abb. 5) So sieht man neben dem Emblem des Großen Generalstabs diese Gegenden in aller sprachlichen Konsequenz als Tempelhofer Territorium, Schöneberger Territorium, Charlottenburger Territorium, Moabiter Territorium u. s. w. ausgewiesen. Bis dann die gleiche Karte 1852 und noch bis 1917 als Bebauungsplan Berlins diente und die Territorien in städtische Bezirke umgraviert worden sind. (Abb. 6) Das erste Kartenwerk allerdings, das Berlin samt Umgebung großmaßstäblicher denn je aufzeichnete, schuf Reiswitz' Freund Dannhauer31 1827, der neben Griesheim hauptsächlich an der Entwicklung des taktischen Kriegsspiels mitgewirkt hat. (Abb. 7) So nimmt es nicht wunder, daß Dannhauer das Kartenwerk ausgewiesenermaßen als Grundlage für das taktische Kriegsspiel vorgesehen hatte und damit erstmalig und explizit die Friedrich-Wilhelms-Universität und damit auch diesen Raum als Bestandteil eines taktisch zu ermessenden Schlachtfelds ausweist. Wohl erst unter Bedingungen von Langstreckenbombern, Flächenbombardement, Funk und Kurzwellenradar sah man die Notwendigkeit, eine Karte mit diesem Ausschnitt wieder auszurollen. Eine solche versah das britische Oberkommando beim Planspiel thunder clap32 mit einem Fadenkreuz, das seinen Mittelpunkt irgendwo zwischen den Resten der FriedrichWilhelms-Universität und des Stadtschlosses hatte, um mehr Sprengköpfe auf weniger Fläche zu piazieren als bei allen Bombenangriffen zuvor.
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Georg Brandes: Atemzüge einer Weltstadt. Die Stadtbahn im Februar des Jahres 1882. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Auszug aus dem Orginal: Berlin som tysk Rigshovedstad, Erindringer fra et femaarigt Ophold Kjebenhavn 1885. In: Die Berliner S-Bahn. Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels. Katalog zur Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. Berlin 1982, S. 49-52, hier S. 51 f. Vgl. Reiswitz [wie Anm. 23], S. X. Public Record Office. London, AIR 20/4837. Zitiert nach Olaf Groehler: Berlin im Bombenvisier. Von London aus gesehen. 1940-1945. Hg. von der „Interessengemeinschaft für Denkmalpflege, Kultur und Geschichte der Hauptstadt Berlin" im Kulturbund der DDR. Berlin 1982, S. 63.
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Abb. 1: Caspar David Friedrich: Der Chasseur im Walde, 1814. Privatbesitz, Bielefeld.
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Abb. 5: Plan von Berlin und Umgegend bis Charlottenburg, 1852, berichtigt im Jahre 1861. Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung, Kartensign. X 17783 /bpk.
Abb. 6\ Plan von Berlin und Umgegend bis Charlottenburg: Übersichtskarte des Bebauungsplans der Umgebungen Berlins, 1863/1917. Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung, Kartensign. X 17786/bpk.
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Halleluja! Hallelluja! Der Tropfen am Eimer Rann aus der Hand des Allmächtigen auch. ' Jeder Wassertropfen ist ein Schlachtfeld.2
Die Offensive der deutschen Armee seit dem 21. März 1918, die nach dem Willen Ludendorffs in allen Weltkriegswerken nur Die Große Schlacht heißt, ist, so der 25-jährige Leutnant und Sturmtruppführer Ernst Jünger, eine Schlacht, deren „Bild nicht mehr zur vollen Entfaltung kam".3 Die sogenannte „Ludendorff-Offensive", die nach 1918 ein Lieblingsthema von Militärschriftstellern und Historikern wird, ist als die eine entscheidende Schlacht von Anfang an ein imaginäres Gebilde. Denn was nach dreieinhalb Jahren Stellungskrieg die Entscheidung, den Angriff, den Durchbruch bringen, „den Weg ins freie Feld der Bewegung öffnen" soll 4 - also alles, was die Clausewitz-Adepten der zwanziger Jahre die „positiven" Formen des Krieges nennen5 - , das ist eine Folge geplanter und ungeplanter Ausweichmanöver. Die erste Offensive mit dem Decknamen Michael, deren Beginn um 5 Uhr 5 morgens Leutnant Jünger bei Douai auf seinen „phosphorischen Uhrziffern" erwartet6, führt über Schlachtfelder, die schon 1918 historisch sind: die Trichterfelder der Sommeschlacht von
1 Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Frühlingsfeier (1759) (Oden und Epigramme. Leipzig 1884, S. 94ff.). 2 Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens. München 1931, S. 17. 3 Ernst Jünger, In Stahlgewittern (Erstausgabe 1920) (Werke. Tagebücher I. Der Erste Weltkrieg. Stuttgart o. J„ S. 78). 4 Die Deutsche Offensive im Märe 1918 (Teil I). In: Militär-Wochenblatt 112, Nr. 31 (18. Februar 1928), S. 1161-1167, hier S. 1165. 5 So setzt etwa Kurt Hesses lebensphilosophische Aufrüstung von Clausewitz (die antritt, mit dem „Formalismus" von Schlieffens Cannae aufzuräumen) den Angriff als ein „Voraus des Willens" und „ein Jasagen" gegen die Verteidigung als „verneinende Form" (OL der Reichswehr Kurt Hesse: Der Feldherr Psychologos. Berlin 1922, S. 103; vgl. auch Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Frankfurt / Berlin / Wien 1983, S. 360-381, hier vor allem S. 362; und Hans Meier-Welcker: Die deutsche Führung an der Westfront im Frühsommer 1918. Zum Problem der militärischen Lagebeurteilung. In: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für Universalgeschichte (1961), H. 3, S. 164-184, hier S. 179f. 6 Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis (Erstausgabe 1922) (Essays. Stuttgart o. J., S. 95); ders.: Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht (Erstausgabe 1925) (Tagebücher I. Der Erste Weltkrieg. Stuttgart o. J., S. 499 f.); ders.: In Stahlgewittern [wie Anm. 3], S. 246.
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1916. 7 Im Fall ihres wahrscheinlichen Scheitems ist weiter nördlich eine zweite Offensive geplant, Deckname Georg, bald verkleinert zu Georgette, dann eine dritte in Flandern, genannt Hagen, usw. Bis zum 8. August finden teils als offensive Ablenkung, teils als entscheidende Durchbrüche titulierte Angriffe statt, die eines nicht ergeben: das Bild einer Schlacht. Es handelt sich um Schlachten ohne strategische Gesamtsicht, ja, ohne operatives Ziel. Der Begriff selbst von Strategie und Operation, als Koordination von verschiedenen Kriegsschauplätzen und Schlachtfeldern „in Raum und Zeit"8, 1918 als „System operativ untereinander verknüpfter Angriffe" gedacht9, löst sich eben dort auf, wo er zum Maßstab der weltkriegsentscheidenden Schlacht werden soll. 10 Als Kronprinz Rupprecht, Befehlshaber der 17. und 2. Armee, im Frühjahr 1918 bei Ludendorff nach dem operativen Ziel der Aktionen anfragen läßt, antwortet Ludendorff, wie gewohnt, telefonisch: „Das Wort,Operation' verbitte ich mir. Wir hauen ein Loch hinein. Das Weitere findet sich."11 Das Verschwinden von Strategie und Operation rückt die dritte Ebene militärischen Agierens, die Taktik, ins Zentrum. Nach Ludendorffs berühmtem Spruch war im März 1918 „die Taktik über die reine Strategie zu stellen."12 Wo die Taktik sich verselbständigt, bleiben vom Bild des Kriegs nur zwei Realitäten übrig: Technik und Schlachtfeld. Der Verlust militärischer Steuerung in der „mechanischen Schlacht"13 ereignet sich vor dem Hintergrund systematischer, eineinhalbjähriger Vorbereitung und geplanter Mobilmachung „bis in den feinsten Lebensnerv"14, die letzte Konstruktionszeichnung. Seit 1917 übernehmen die bislang eher verborgen operierenden Techniker, Wissenschaftler und Mediziner offen die Macht, eingefordert in zahllosen Denkschriften, flankiert durch „technische Abende" und
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Und die sogenannte Siegfriedstellung von 1917 (vgl. etwa im Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte [Berlin 1985] die Artikel: „Offensive 1918", „Siegfriedstellung", „Sommeschlacht"). 8 Nach Friedrich Kittler beginnt die „Ausdifferenzierung von Taktik und Strategie" mit den französischen Revolutionskriegen; vgl. Friedrich Kittler: Krieg im Schaltkreis. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 275 (25. November 2000), S. 1 (Bilder und Zeiten). 9 Die Deutsche Offensive im März 1918 (Teil I) [wie Anm. 4], S. 1165. 10 Den Zwang zum Angriff formuliert Ludendorff als Kehrseite strategischer und operativer Möglichkeiten der Alliierten: das Heer würde „Abwehrkämpfe, die dem Feinde das Zusammenlegen seiner gewaltigen Kampfmittel auf einzelnen Schlachtfeldern eher gestatteten, schwerer vertragen als Angriffsschlachten [...]" (Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914-1918. Berlin 1919, S. 516; zit. nach Meier-Welcker [wie Anm. 5], S. 173). 11 Kronprinz Rupprecht: In Treue fest. Mein Kriegstagebuch. Bd. 2. Berlin / München 1929, S. 372. Schon im April 1917 entwirft Ludendorff im Gespräch mit dem Oberbefehlshaber Ost, General Max Hoffmann, das Prinzip, das sich ein Jahr später als Doktrin aller Operationen durchsetzen wird: „[...] nacheinander verschiedene Stellen ausprobieren, um zu sehen, wo man auf eine Schwäche beim Gegner stieße, gegen die man den Angriff dann mit allen Kräften fortsetzen müsse" (Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Bd. 14. Berlin 1944 [Nachdruck des Bundesarchivs 1956], S. 50; zit. nach Meyer-Welcker [wie Anm. 5], S. 166). 12 Ludendorff [wie Anm. 10], S. 474; zit. nach: Der erste Weltkrieg. Dokumente. Ausgewählt und eingeleitet von Helmut Otto und Karl Schmiedel. Berlin 1977, S. 281. 13 Jüngers Schlachtentypologie in den Stahlgewittern ([wie Anm. 3], S. 78) unterscheidet die „Feldschlacht alten Stils", die „Materialschlacht des Stellungskriegs" und die „mechanische Schlacht" seit Ende 1917. 14 Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung. In: Krieg und Krieger. Hg. von Ernst Jünger. Berlin 1930, S. 11-30, hierS. 14.
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Philosophien der Technik15, in die sich noch Oswald Spenglers „Der Mensch und die Technik" von 1931 einschreiben wird, mit der einfachen Formel: Technik ist Taktik. Aus den technisch-taktischen Lagen auf den Schlachtfeldern von 1918 das geschlossene Bild einer Schlacht zu entfalten oder daraus den im Benjaminschen Doppelsinn „verlorenen Krieg" zurückzuholen, ist unmöglich16 und wird diskursiv zum unabschließbaren Unternehmen, auf das eine ganze Generation konditioniert ist. Je mehr aber Strategie als kriegsbildgebendes Verfahren ausbleibt, desto struktureller die Wirkungen. Die letzten Schlachtfelder des vorletzten Weltkriegs des vermutlich letzten Jahrhunderts der Weltkriege bestimmen in eben dem Maße Strukturen dieses Jahrhunderts, wie sie sich nicht zum Bild zusammensetzen. Zwei Dispositive lösen sich aus den Schlachten von 1918 und werden bis zur Mitte des Jahrhunderts immer kenntlicher: die absolute Bewegung und der absolute Plan.
I.
Bewegung
Die alliierte Seite setzt 1918 bekanntlich nicht auf Mobilisierung bis in die Nervenspitzen, sondern auf Motorisierung. Der Deckname dafür hört nicht auf englische und deutsche Nationalheilige, sondern auf die aus Geheimhaltungsgründen eingeführte Bezeichnung Tank. Anfang 1915, als auf deutscher Seite Hauptmann Rohr mit der Ausbildung von Sturmtrupps beginnt, macht sich der erste Lord der englischen Admiralität, Sir Winston Churchill, für den Bau sogenannter land ships stark. Sie sollen zunächst zur Marine gehören.17 Die Landschiffe der britischen Seemacht treten weniger gegen einen infanteristischen Feind als gegen eine Maschine an: gegen die „damalige Königin des Schlachtfelds", das Maschinengewehr.18 Auf deutscher Seite heißen die britischen Tanks denn auch schlicht „Maschinenge-
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Vgl. etwa die ,,Technische[n] Abende im Zentralinstitut fur Erziehung und Unterricht" mit Vorträgen von Matschoß, Wallichs, Muthesius, Franz (Werke der Technik im Landschaftsbild), Zschimmer (Philosophie der Technik), dem AEG-Architekten Peter Behrens oder Georg Schlesinger (Maschine und Werkzeug). Der Krieg, so heißt es in der Anzeige der veröffentlichten Vorträge, „habe die große Bedeutung technischen Schaffens [...] zu allgemeinem Bewußtsein gebracht". Vor dem Krieg pflegte man „die Kenntnis von Werken wie von wirkenden Männern der Technik mehr als Fachbildung anzusehen. Man erkannte nicht hinreichend die idealen Seiten auch des technischen Schaffens" (vgl. Vorblatt aller Hefte). Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift .Krieg und Krieger*. Herausgegeben von Ernst Jünger (1930). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. III. Frankfurt a. M. 1980, S. 238-250, hier S. 242f. Über den Ausfall der Bilder der Krieges vgl. Kittler [wie Anm. 8]; und Erich Weniger: Das Bild des Krieges. Erlebnis, Erinnerung, Überlieferung. In: Die Erziehung, Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben 5. Jg. (1929), H.l, S. 1-21. Vgl. Max Schwarte: Kriegstechnik der Gegenwart. Unter Mitwirkung von zahlreichen technisch und militärisch fachwissenschaftlichen Mitarbeitern. Berlin 1927, S. 239. Oder: Peter Chamberlain / Chris Ellis: Tanks of the World 1915-45. London 1972, S. 64. Heinz Guderian: Panzer-Marsch! Aus dem Nachlaß des Schöpfers der deutschen Panzerwaffe bearbeitet von Generalmajor a. D. Oskar Munzel. München 1956, S. 15. In Guderians Erinnerungen ist mit ei-
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wehrzerstörer". Sie treten aber nicht nur gegen Maschinengewehre an, sondern sollen Maschinengewehre auch „an den Feind heranbringen". In den Erkern der Tanks stehen sie und geben, mit dem Marineausdruck, „Breitseite".19 Der Tank ist keine Einzelmaschine, sondern ein dromologisches System, das exakt auf der Grenze zweier Verfassungen operiert: des glatten und des gekerbten Raums. 20 Durch die Gewehr-Maschinen des Maschinen-Gewehr-Zerstörers laufen diskontinuierliche Serien: die Patronen-Bänder der Lewis, Maxim, Chauchat-Maschinengewehre. Unter dem Fahrzeug oder vielmehr um das Fahrzeug herum laufen zwei endlose Transport-Bänder: jene GleisKetten, die die Idee des Rades überhaupt - geringer Bodenkontakt, geringer Reibungswiderstand und somit leichte Lenkbarkeit - in Rutschen und Bremsen auflösen.21 Tanks sind die Erfüllung eines infanteristischen Traums von dreieinhalb Jahren Stellungskrieg. Sie durchqueren das Niemandsland mit geringem spezifischem Bodendruck, durchbrechen Drahthindernisse und fahren über die immobilisierten Grabensysteme hinweg. Sie setzen die Materialität des Schlachtfelds als gekerbten Raum außer Kraft: Stacheldraht, Reiter, Gräben. Das Gefáhrt erzeugt sich selbst, allein durch die Art seiner Fortbewegung, einen glatten Raum. Der Name fur einen der ersten russischen Tanks ist „Vezdechod", das heißt: „Geht überall hin." Die französischen Tanks sind außerdem unmittelbar an Techniken angeschlossen, die ohne Kabelnetz und Erdleitung den glatten Raum nachrichtentechnisch besetzen: der von Renault produzierte „Char T. S. F." - T. S. F. wie télégraphie sans fil - hat drahtlose Funkausrüstung zur Kommunikation mit Infanterie und Fliegern. „[...] der Allwegpanzerwagen", so Paul Virilios expressionistische Prosa, beseitigt alle Hindernisse. Mit ihm existiert die Erde nicht mehr; man sollte ihn lieber Ohne-Weg- als All-Weg-Panzer nennen, er klettert über Abhänge, er durchbricht das Unterholz, er watet durch den Schlamm, reißt im Vorbeifahren Sträucher und Mauerstücke heraus, er rammt Türen ein und bricht aus dem alten linearen Verlauf von Strassen und Eisenbahn aus; er eröffnet der Geschwindigkeit und der Gewalt eine ganz neue Geometrie.22 Taktisch taucht das dromologische System Tank auf den Schlachtfeldern von 1918 nicht als eigenständige Waffe oder absolute Geschwindigkeit auf, sondern ist Teil der Infanterie. Der
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ner bezeichnenden Ludendorffschen Vertauschung noch die Infanterie selbst diese Königin (vgl. Heinz Guderian: Erinnerungen eines Soldaten. 16. Aufl. Stuttgart 1980, S. 20). Schwarte: Kriegstechnik [wie Anm. 17], S. 240. Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992, S. 482-585: 12. Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine. Zu den Begriffen des Glatten und Gekerbten, vgl. etwa ebd., S. 496. Vgl. F. Μ. v. Senger/ M. Etterlin: Kampfpanzer 1916-1966. München 1966, S. 15. Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Berlin 1980, S. 72; vgl. auch Stegemann über die Schlacht bei Cambrai am 20. November 1917: „Sie zermalmten die Drahthindemisse, überquerten die Gräben, rollten die Schützenlinien auf, begruben MG-Nester unter sich, zerbrachen Bäume und Zäune. [...] In den Hohlwegen von Rébécourt und Bourlon, in den Gassen von Fontaine-Notre-Dame bleiben Dutzende schwer getroffener Tanks im Feuer liegen. Stichflammen schießen aus deren Leibern, brennendes Benzin quillt wie Drachenblut aus den Sehschlitzen. Mit aufgerissenen Flanken, verkohlten Besatzungen, erstorbenen Geschützen ruhen sie in qualmendem Kampfgelände" (Hermann Stegemann: Geschichte des Krieges Bd. IV. Stuttgart I Berlin 1919, S. 496).
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Tank rückt mit der Infanterie und nach Maßgabe ihrer Geschwindigkeiten vor, er soll den hinter ihm vorrückenden „ungepanzerten Kämpfer" decken und ihn „aus seinen Erdlöchern über das Niemandsland vorwärtsreißen".23 Nach vereinzeltem Erscheinen 1916, nach der Tankschlacht von Cambrai 1917 haben die alliierten Tanks ihren durchschlagenden Auftritt am 18. Juli 1918 im Wald von Villiers-Cotteret: dem ersten systematisch vorgetragenen Tank-Angriff, abgestimmt mit einer „ungewohnt großen Zahl von Fliegern".24 Mit dem Angriff von 350 Tanks auf die Flanke des weit vorspringenden Frontstücks zwischen Soissons und Reims ist der Anfang vom Ende der Großen Schlacht von 1918 besiegelt. Ludendorffs legendäre, bald ärztlich behandelte Nervenkrise, sprich: unheilbare Telefoniersucht, datiert sein Arzt auf den 20. Juli.25 Die Entscheidung fällt am 8. August, von Ludendorff als „der schwarze Tag" angesprochen, mit dem Angriff einer „bisher noch nie gesehenen Masse"26 von 600 Tanks bei Amiens, Schwerpunkt: beiderseits der schnurgeraden alten Römerstraße von Villers-Bretoneux nach Peronne. Der Aufmarsch der Tanks findet bei Nacht statt. Bei Tag hält sich die motorisierte Armee versteckt in Wäldern und unzerstörten Ortschaften. Luftaufklärung ist unmöglich. Aufgrund der Luftüberlegenheit der Alliierten fliegen die Deutschen vom 1. bis zum 7. August ganze sieben Lichtbildflüge. Das einzig Verräterische, nämlich die Motorengeräusche von 600 Tanks, werden vom Lärm der eigens zu diesem Zweck eingesetzten NachtFlieger geschluckt. Die Truppen, vor allem das australische Korps, sind auf den Einsatz langfristig vorbereitet worden.27 „Bei einem Tankangriff der Australier am 4. Juli [...] waren reiche und ermutigende Erfahrungen gemacht worden und seitdem dauernd Übungen im Zusammenwirken der Infanterie und der Tanks abgehalten worden."28 Der Angriff findet um 5 Uhr 30 in natürlichem und künstlichem Nebel statt. Zu hören ist nur der Lärm der Tanks, die meist plötzlich aus dem Nebel auftauchen. Das Schlachtfeld selbst ist eine Art Wüste. Bericht von der 41. Infanteriedivision: Die Lage war schwierig „wegen der vollkommenen Übersicht und Flachheit des Geländes, die bei der Überlegenheit des Feindes in der Luft [...] jede Verteidigungsanlage, jeden Trampelweg auf dem Fliegerbild klar erkennen ließen und der Verwendung von Tanks nicht das geringste Hinderniss boten."29 - Der glatte Raum, den der Tank sich selbst erzeugt, konvergiert am 8. August 1918 mit dem natürlichen glatten Raum um eine alte Römerstraße. Während Ludendorff nach seiner bei Villier-Cotterets und -Bretoneux ausgelösten Nervenkrise unter der Ägide seiner zweiten Frau, der Psychiaterin Mathilde von Kemnitz, nachmals Ludendorff, den Weltkrieg von 300 Juden und einer Verschwörung spiritistischer
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Guderian [wie Anm. 18], S. 16. Schlachten des Weltkrieges. In Einzeldarstellungen bearbeitet und hg. im Auftrage und unter Mitwirkung des Reichsarchivs. Bd. 35. Schicksalswende. Von der Marne bis zur Vesle. Oldenburg i. O. / Berlin 1930, S. 221 und S. 34-113. Vgl. etwa Walter Görlitz: Kleine Geschichte des deutschen Generalstabes. 2. Aufl. Berlin 1977, S. 209f. Schlachten des Weltkrieges [wie Anm. 24], Bd. 36, S. 22. Ein Australier namens de Mole soll dem britischen War Office die ersten Entwürfe eines Tanks vorgelegt haben (vgl. Chamberlain/Ellis [wie Anm. 18], S. 64). Schlachten des Weltkrieges [wie Anm. 24], Bd. 36, S. 21. Schlachten des Weltkrieges [wie Anm. 24]. Bd. 36, S. 106.
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Medien „gemacht" sieht30, analysiert ein junger Major aus Stettin namens Heinz Guderian die Lagen der Schlacht von 1918 dromologisch. In seiner groß angelegten militärhistorischen Studie über „Bewegliche Truppenkörper" von 1927 kommt allerdings keine einzige der Tankschlachten des Ersten Weltkriegs vor.31 Truppenbewegungen auf Schlitten durch den Großen Kurfürsten 1678, die „Wagenfahrt" der napoleonischen Garde von 1806 auf vierspännigen Wagen in 4 Kolonnen zu 100 Wagen bei einer Tagesleistung von 100 km sind die geschichtlichen, auf die Zukunft zielenden Dimensionen der Studie. Wie zwei Jahre zuvor die „Lebensader von Verdun"32 betrachtet der junge Lehrer für Taktik und Kriegsgeschichte aus Stettin33 schließlich genau das, was Ludendorff den ersten Angriff im März 1918 auf die englische und nicht die französische Front verlegen ließ: die „operative Wendigkeit" der französischen Armee.34 Da die französische Feindaufklärung im Frühjahr 1918 wohl den ungefähren Zeitpunkt, aber nicht den Ort des deutschen Angriffs kennt, sind alle Reserven der Armee südwestlich von Paris versammelt. Um die Reserven so schnell wie möglich entlang der Front oder sogar hinter die englische Front zu verschieben, galt es, so Guderian, „aus dem vorhandenen Straßennetz so viel wie möglich herauszuholen".35 Erste Maßnahme: Das ganze Gebiet zwischen Marne und Somme wird zur (stillschweigend auf preußische Amtsbezeichnung übersetzten) „Zone des Feldkrafifahrchefs erklärt".36 Ohne Genehmigung des Feldkraftfahrchefs darf keine größere Bewegung stattfinden. Zweite Maßnahme: Alle Straßen werden nach Geschwindigkeiten klassifiziert, so daß „auf einer Straße sich nur Einheiten mit gleicher Marschgeschwindigkeit" bewegen, eine für Lastkraftwagen, eine für Traktorenartillerie, eine für Pferde. Als am 21. März 1918 die ersten Angriffe der großen Schlacht losbrechen, sind die französischen Vorbereitungen gerade beendet. Am sechsten Tag nach dem Beginn des Angriffs sollten die Reserven eingreifen. Nach den überraschenden Durchbrüchen bei Cambrai aber schreitet man „unter Preisgabe aller Methodik zu sofortiger Hilfe".37 Der Angriff beginnt um 5 Uhr 5, bereits um 8 Uhr wird bei den Kraftfahrverbänden Marschbereitschaft angeordnet, in der Nacht „ergehen die Befehle", am 22. mittags „beginnen die Bewegungen". Alle Straßen zwischen Marne und Somme sind in Α-Straßen für Kraftfahrfahrverbände, Ε-Straßen für Pferde, T-Straßen für Kraftzugartillerie und Querverbindungen R eingeteilt
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Erich Ludendorff: Wie der Weltkrieg ,gemacht' wurde. München 1930. Heinz Guderian: Bewegliche Truppenkörper. In: Militär-Wochenblatt 111 (1927), Nr. 18, S. 649-653; ebd. Nr. 19, S. 687-694; ebd. Nr. 20, S. 728-731; ebd. Nr. 21, S. 772-776; ebd. Nr. 22, S. 819-822. Heinz Guderian: Die Lebensader Verduns. In: Der Kampfwagen. Beilage zum Militär-Wochenblatt (1925), Nr. 4, S. 28-31. Vgl. dazu vor allem: Friedrich Kittler: Auto Bahnen. In: EXPLOSION OF A MEMORY HEINER MÜLLER DDR. Ein Arbeitsbuch. Hg. von Wolfgang Storch. Berlin 1988, S. 147-151. Die Studie ist in Stettin geschrieben; 1927 wird Guderian ins Reichswehrministerium, Abteilung Truppentransporte auf Kraftwagen kommandiert; dann Herbst 1928 zum Kraftfahrlehrstab, als Lehrer fur den Unterricht in Panzertaktik (vgl. Dermot Bradley: Generaloberst Heinz Guderian und die Entstehung des modernen Blitzkrieges. Osnabrück 1978, S.164; Guderian [wie Anm. 18], S. 16). Erich Ludendorff: Die überstaatlichen Mächte im letzten Jahre des Weltkrieges. Leipzig 1927, S. 14 (zit. nach Meier-Welcker [wie Anm. 5], S. 166). Guderian [wie Anm. 32], S. 773. Guderian [wie Anm. 32], S. 773. Guderian [wie Anm. 32], S. 773.
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(vgl. Abb. 1). An allen entscheidenden Stellen stehen Verkehrsregler, denen „mehrfarbig gedruckte Karten der Straßenverteilung ausgegeben" wurden. Die Gesamtheit der Operationen wird von drei Verkehrsregelungsabteilungen gesteuert: einer Verladekommission, einer Weiterleitekommission und einer Entladekommission. Die Truppentransporte rollten vom 22. 3. bis 4. 4. 1918 ununterbrochen. Sie wurden einschließlich der Unterbringung, der Rasten und der Verpflegung lediglich von den Verkehrsregelungsabteilungen geleitet. Außer den Truppentransporten liefen auf den Straßen noch die Nachschubkolonnen aller Art, Verschiebungen von Stäben und Depots, Bewegungen von Leerkolonnen usw., also ein erklecklicher Verkehr, der nach den französischen Berichten reibungslos abgewickelt werden konnte.38 Dieses System, das auf Straßen und Straßenknotenpunkten aufruht, organisiert den Raum der Geschwindigkeit als gekerbten Raum. Aber es steht nicht fest, sondern ist als Ganzes mobil. Als am 24. März das Hauptquartier in Compiègne bombardiert wird, verlegt man die Verkehrregelungsabteilung kurzerhand von Montdidier nach Clermont; als am 9. April die zweite deutsche Offensive in Flandern losbricht, wird in Poix eine neue Verkehrsregelungsabteilung gebildet zur Umgehung von Amiens Richtung Westen. „Das Straßennetz wurde in der geschilderten Art eingeteilt."39 Die Zone der Verkehrsregelung verschiebt sich also innerhalb eines Netzes oder auf ihm. Vom 20. März bis 27. Mai werden auf diese Weise 1 400 000 Soldaten transportiert. Die größte Gefahr einer solchen Mobilisierung nach Geschwindigkeiten ist die Zersplitterung der Truppen. Die Infanterie ist am schnellsten vor Ort und muß entweder ohne Artillerie und Pferde kämpfen - oder warten. Als Notlösung verlädt man schließlich das langsamste Glied der Kette, die Pferde, auf Omnibusse.40 Major Guderian zieht aus derlei Studien der Großen Schlacht von 1918 seine Folgerungen. Erstens: Mobilisierung ist Motorisierung. Gegen die Eisenbahn haben die französischen Verschiebungen über vier Tage Vorsprung. Zweitens: Das französische System hat einen zentralen Mangel. Es fehlen „ständig motorisierte Verbände". Wenn bestimmte Klassen von Straßen einheitliche Grundgeschwindigkeit haben, dann können die verschobenen Truppen als ganze keine solche einheitliche Grundgeschwindigkeit haben, sondern werden während des Transports auseinandergerissen. Der Vorsatz, sie nicht „tropfenweise", sondern „einheitlich einzusetzen" - Infanterie, Kavallerie, Artillerie und Train an einem Ort versammelt - mußte im Frühjahr 1918 darum scheitern. Wäre dagegen eine gewisse Anzahl motorisierter Verbände ständig als Vorhut einsetzbar, so würden sie den übrigen Reservetruppen Zeit zum Bereitstellen nach der „reinen Transportbewegung" erkämpfen.41 Am Ende also müßten britische Tanks und französische Mobilität konvergieren: „Panzerkraftwagen, Schnelltanks, Geländewagen" gleichen sich den Geschwindigkeiten der Kraftfahrverbände an und Kraftfahrverbände bilden mit Tanks eine eigenständige Truppe.
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Guderian [wie Anm. 32], S. 773. Guderian [wie Anm. 32], S. 775. Je Division 445 Pferde auf 150 Omnibussen (vgl. Guderian [wie Anm. 32], S. 775). Alle Zitate Guderian [wie Anm. 32], S. 775.
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Guderians Kritik am französischen System wird sein bekanntes Programm. Gegen Ludwig Becks modulares „Baukastensystem", nach dem 66 Panzerabteilungen beliebig und nach Bedarf auf die Infanteriedivisionen zu verteilen waren42, tritt seit Ende der zwanziger Jahre Guderians Programm an. „Man durfte nicht Panzer in Infanteriedivisionen stecken, sondern mußte Panzerdivisionen errichten, in denen alle Waffen enthalten waren"; die anderen Waffen mußten mit der Geschwindigkeit der Panzer „auf gleichen Nenner gebracht werden"; und „die Panzer mußten in diesem Verbände aller Waffen die erste Geige spielen".43 Aus der Analyse taktischer Lagen der Großen Schlacht von 1918 lösen sich die Guderianschen Panzerdivisionen. Dreieinhalb Jahre totale Immobilisierung, fünf Kilometer Geländegewinn in 36 Stunden, wie Leutnant Jünger melancholisch beim Ritt über das Schlachtfeld vom 21. März 1918 resümiert44, münden in die Eskalation absoluter Bewegung und Beweglichkeit. Absolut ist sie schon darum, weil nur der aus allen Verbänden gelöste Verband Träger von Beweglichkeit sein kann. Noch nie seit Menschengedenken hat [...] die Beweglichkeit solche Aussichten gehabt, wie jetzt im Zeitalter des Motors und des Radios; [...] Wir müssen versuchen, in die Geheimnisse des Bewegungskrieges einzudringen, nicht nur des ordinären, sondern des Krieges der außergewöhnlichen Beweglichkeit [...]. 45 Die Eskalation der Bewegung kommt auch im Diskurs an. Der späte Oswald Spengler wird 1931 an den Anfang seiner Lebensphilosophie der Technik die Ludendorffsche Gleichung stellen: Technik ist Taktik46, um dann die Welt als Beute, „aus der letzten Endes die menschliche Kultur erwachse", im Blick des Raubtiers zu orten.47 Seine parallel und nach vorn gerichteten Augen entwerfen den perspektivischen, zielgerichteten Raum. Die Welt des Raubtiers ist „die vom Auge beherrschte Umwelt. [...] Es bemißt in diesem Schlachtfeld die Objekte und Bedingungen des Angriffs."48 Drei Jahre später wird Spengler seine Anthropologie von Angriff, Technik, Schlachtfeld historisch präzisieren. Die Weltgeschichte als solche beginne, wenn „das Tempo als taktisches Mittel" in die Geschichte tritt. Seine Technik ist der Streitwagen, sein Ort der glatte Raum. Der Streitwagen ist, so Spengler, „in der großen Ebene" entstanden, in den nordeurasischen Wüsten und man vergesse in dem „kühnen Gedanken, das Pferd als Waffe zu entdecken", meist eine kleine Bedingung: „das
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Vgl. Karl J. Walde: Guderian. Frankfurt / Berlin / Wien 1976, S. 46. Guderian [wie Anm. 18], S. 18. Emst Jünger: Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918 (Erstausgabe 1925) (Werke. Tagebücher I. Der Erste Weltkrieg. Stuttgart o. J., S. 364). Guderian [wie Anm. 31 ], S. 822. ,J)ie Technik ist die Taktik des ganzen Lebens. Sie ist die innere Form des Verfahrens im Kampf [...]. Und wie im modernen Krieg die Taktik, also die Technik der Kriegß/An/ng das Entscheidende ist [...], so ist es überall" (Spengler [wie Anm. 2], S. 7 f.). Spengler [wie Anm. 2], S. 20.
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Spengler [wie A n m . 2], S. 20.
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Problem der Fahrbahn". „Der Kampfwagen setzt ein freies, trockenes, ebenes Gelände voraus."49 Ein durch Zufall „auf dem technischen Gleis sitzender" Lehrer für Taktik und Kriegsgeschichte50 begeht solche Vergeßlichkeiten nicht. Als der Große Kurfürst auf 1200 Schlitten binnen kürzester Zeit in „überholender Verfolgung" der schwedischen Armee seine Truppen von Marienwerder über Königsberg nach Tilsit transportierte, war, so Guderian, die entscheidende Bedingung aller Bewegung das glatte Feld. Die Wasserläufe bildeten ebenso wie die Haffe, eine vorzügliche Bahn, auf deren blanker Fläche die Infanterie und Artillerie auf den mit großer Tatkraft zusammengetriebenen Schlitten unter erheblicher Kräfteschonung schnell vorwärts kamen.51 Spenglers Philosophie der absoluten Bewegung in der Wüste oder auf dem Meer steht 1934 nicht ohne Unterbau. Im Januar 1933 hatte Guderian auf der Automobilausstellung in Berlin die frohe Führer-Botschaft vernommen: Fortfall der Automobilsteuer, Bau von Autobahnen, Volkswagen. Wenig später bei einer Vorführung von Panzerwagen auf dem Schießplatz Kummersdorf fällt der Startschuß: „Hitler war von der Schnelligkeit und Präzision der Bewegungen unserer Einheiten sehr beeindruckt und rief wiederholt aus: ,Das kann ich gebrauchen! Das will ich haben!'" 52 Im Jahr von Spenglers Vortrag ordnet von Reichenau die Umschulung einer ganzen Kavalleriedivision auf Motorisierung an und im Oktober 1935 stehen die ersten drei der Guderianschen Panzerdivisionen bereit.53 Alle Verkehrsmittel haben sich aus dem Denken des Fahrens, Ruderns, Segeins, Fliegens entwickelt und nicht etwa aus der Vorstellung des Wagens oder Bootes.54
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Oswald Spengler: Der Streitwagen und seine Bedeutung für den Gang der Weltgeschichte (Vortrag, gehalten am 6. Februar 1934 in der Gesellschaft der Freunde asiatischer Kunst und Kultur zu München). In: Ders.: Reden und Aufsätze. Hg. H. Kornhardt. 3. Aufl. München 1951, S. 148-152, S. 149. 50 Guderian [wie Anm. 18], S. 14. 51 Guderian [wie Anm. 31 ], S .651. 52 Walde [wie Anm. 42], S. 44. 53 Vgl. Bradley [wie Anm. 33], S.177. - Die absolute Beschleunigung von Institutionen läuft seit 1933 nicht zuletzt über Umbenennungen: aus der „Inspektion der Verkehrstruppen, Abteilung Kraftfahrtruppen" der 20er Jahre wird im Juni 1934 das selbständige „Kommando der Kraftfahrkampftruppen" und im September 1935 das „Kommando der Panzertruppen" (ebd.). 54 Spengler [wie Anm. 2], S. 9. - Wo sich für Guderian die Truppentransporte auf Kraftwagen des ersten Weltkriegs genau darin von den künftigen Lagen eines Bewegungskriegs unterscheiden, daß sie „stets hinter einer festen Front stattfanden; nie waren sie im Bewegungskrieg unmittelbar gegen den Feind gefuhrt worden" (Guderian [wie Anm. 18], S. 14), da beginnt bei Spengler die weltgeschichtliche Seefahrt mit einer „Idee des Fahrens", das sich vom festen, linearen Ufer löst. Diese Idee stehe gegen das Seewesen der Ägypter (eine „verlängerte Nilfahrt") und das Prinzip des Kahns. „Ein Kahn setzt über, ein Schiff fährt Tage und Nächte lang. Es ist aus jenem entstanden, aber die Idee des Fahrens ist anders. Nicht ein Fortbewegen längs des Ufers, sondern die Befreiung vom Lande und seinem Schutz [...]." (Oswald Spengler: Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends (1935). In: Ders.: Reden und Aufsätze [wie Anm. 49], S. 158-291, hier S. 179f.).
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II. Plan Die Eskalation der Bewegung, die im Blitzkrieg münden wird, hört nicht mehr auf den „Feldherrn Ludendorff' 5 5 , mit dem Spengler einst ein „Deutsches Direktorium" begründen wollte, er selbst darin als Wissenschafts- und Kulturminister. 56 Auf der deutschen Seite des Schlachtfelds vom Frühjahr 1918 ist Trägerin aller Bewegung nicht der Motor, sondern die Infanterie. Statt Motorisierung Mobilisierung. Die Vorschriften der Obersten Heeresleitung von 1917/18 „Die Abwehr im Stellungskriege" und „Der Angriff im Stellungskriege" 57 bauen die Infanterie und in ihrem Zentrum die sogenannten „Mob.-Divisionen", „Mob." wie „Mobilisierung", in ein Dreieck ein: erstens die neue Artillerietaktik „Feuerwalze", zweitens das zum Infanteriesturm verallgemeinerte Sturmtrupp-Verfahren und drittens die massenhafte Verfügbarkeit einer Infanteriemaschine, des sogenannten „leichten" Maschinengewehrs 08/15. Wo die alliierte Seite also auf britische Tanks und französische Verkehrsregelung setzt, da setzt die kaiserliche Armee auf Infanterietaktik und eine Einzelmaschine. Diese Präferenz hat weitreichende, strukturelle Konsequenzen. Der Sturmtrupp und seine Verallgemeinerung zum Infanteriesturm 58 ist eine Kriegsmaschine, die alle Heeresgliederungen, Hierarchien und Einteilungen in Waffengattungen sprengt. Eine Elitetruppe formiert sich um ein Konglomerat aus Maschinen. Schon vor Ausbruch des Kriegs lösten „Maschinen als Waffen" die alte Gleichung „1 Infanterist = 1 Infanteriemaschine" auf. 59 Die Bedienung eines schweren Maschinengewehrs induziert eine Kleingruppe. Deren genaue Befehlsfolgen füllen die Handbücher für Maschinengewehrkompanien und Bert Brechts Mann ist Mann braucht nur der Logik eines M.G.-Zugs bis ins modular zerlegbare Detail zu folgen. 60 Der taktische Effekt dieser sogenannten „Truppwaffen" aber ist nicht Vereinigung von „Feuer und Bewegung" 61 , sondern deren Trennung. Die um die Gewehr-Maschine herum gebaute Kleingruppe ist ziemlich immobil und sie wird die Immobilität des Stellungskriegs erzeugen. Die mobilen Teile der Infanterie dagegen sind zunächst nur einheitlich mit einfachen Gewehren bewaffnet. Rohrs Sturmtrupps ziehen seit 1915 daraus die Konsequenz. Sie verbinden systematische Ausbildung zur Mobilität - Sport,
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Auch zu Hause läßt sich Ludendorff, zum Erstaunen etwa von Mathilde Ludendorffs Schwester, nur mit „der Feldherr" ansprechen. Der dritte im Bunde ist v. Seeckt (vgl. Jürgen Naeher: Oswald Spengler. Hamburg 1984, S. 98 u. 100). In: Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18. Hg. von Erich Ludendorff. Bd. XXIV. Militärische Schriften. 4. Aufl. Berlin 1922, S. 604-685. Vgl. dazu vor allem Friedrich Kittler: Il fiore delle truppe scelte. In: Der Dichter als Kommandant. D'Annunzio erobert Fiume. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht, Friedrich Kittler u. Bernhard Siegert. München 1996, S. 205-225. Major Klussmann: Maschinen als Waffen. In: Kriegstechnische Zeitschrift. Für Offiziere aller Waffen, zugleich Organ für kriegstechnische Erfindungen und Entdeckungen auf allen militärischen Gebieten 1. (1898). H. 10, S. 449-458. „Personen: Uria Shelley, Jesse Mahoney, Polly Baker, Jeraiha Jip - vier Soldaten einer Maschinengewehrabteilung der britischen Armee in Indien" (Bertold Brecht: Mann ist Mann. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. I. Stücke I. Frankfurt a. M 1967, S. 298). Zum Umbau der Personen in tayloristische Aggregate aus austauschbaren Einzelteilen vgl. Hans-Christian v. Herrmann: Sang der Maschinen. Brechts Medienästhetik. München 1996. S. 146ff. Jüngers Schrift gleichen Titels entnimmt die beiden Begriffe nur der militärischen Literatur.
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vor allem Fußball spielen, in schnellen, punktuellen Aktionen - mit der Verwendung von Waffentypen aus verschiedensten Truppenteilen - Flammenwerfer, Minenwerfer, Sturmkanonen und der immer dringenderen Forderung nach leichten, tragbaren Maschinengewehren. Die Sturmtrupps schlachten damit die seit der Volksbewaffnung der französischen Revolutionsheere heilige Kuh: die einheitliche Bewaffnung der Infanterie.62 Wenn in Guderians Panzerdivisionen „auf einen Nenner gebracht alle Waffen enthalten sind", wenn die 1918 bis in die Nervenspitzen mobilisierten Sturmtrupps mit einer Diversität von Waffensystemen antreten, so lösen sich in Deleuze/Guattaris Begriffen aus militärischen, staatsmaschinellen Hierarchien Kriegsmaschinen. Sie sind nicht Einzelmaschinen, sondern „maschinische Gefiige", sie besetzen keine strukturierten Räume, sondern sind auf absolute Bewegung und glatten Raum gepolt. Die vektorielle Logik des Sturms, nach der nicht demobilisierbare Haufen von Kriegern durch die zwanziger und dreißiger Jahre rennen, auf der Suche nach dem voll entwickelten Bild der entscheidenden Schlacht, verdeckt jedoch, daß sich auf dem Schlachtfeld von 1918 vor allem eins gebildet hat: die Logik eines gekerbten Raums. Er artikuliert sich über eine Maschine mit der amtlichen Bezeichnung 08 und 08/15. Ihr Input ist nicht Mobilität, sondern besteht aus Verwaltungsstrukturen, Staffelkurven, Toleranz- und Normensystemen. Ihr Output besteht nicht in Bewegung, sondern in diskreten, gleichförmigen Serien, Schachbrettmustern und Zonen statistischer Streuung. Auf dem Schlachtfeld vom Frühjahr 1918 bilden sich gekerbte Räume zunächst taktisch: als Verteidigungsstruktur. Statt „um eine Linie" und den „linearen Schützgraben"63, soll sich nach Vorschrift das Schlachtfeld, wo es steht oder zum Stehen kommt, um Punkte, Nester, Felder, in tief gegliederten Räumen, um „schachbrettförmig liegende Anklammerungspunkte" inmitten eines Trichterfelds strukturieren. Die Anklammerungspunkte sollen nicht von „lebenden Kräften", sondern von „Maschinen" besetzt sein, das heißt: Maschinengewehren. Sie bilden das „Gerippe" einer Besetzung des Felds. Verbindungen, Telefonleitungen oder Verbindungsgräben haben ad hoc zwischen diesen Anklammerungspunkten zu entstehen.64 Oberst Albrecht von Thaer, Chef des Stabes Generalquartiermeister II, wird im April 1918 nicht nur das Schlachtfeld, sondern „bis rückwärts zum Rhein das ganze Land schachbrettartig mit Maschinengewehren befestigen" wollen.65 An der Front ist das Schachbrett-System zwar träge, aber im Prinzip mobil, verlegbar von Trichter zu Trichter. Das Schlachtfeld als gekerbtes Feld ist ein Schachspiel, ein Feld aus Feldern.66 Die maschinell besetzten Punkte, die schachbrettartig angeordnet und verbunden sind, werden zweitens zum Ausgangspunkt zonaler Strukturen. Seit Friedrich Merkatz' neuartiger Schießlehre für Maschinengewehre sind diese Zonen statistisch definiert.67 Der Begriff des Ziels als Subjekt-Objekt-Relation
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Vgl. etwa Kittler [wie Anm. 58], S. 209, Anm. 24. Die Entwicklung der deutschen Infanterie im Weltkrieg 1914-1918. Bearbeitet von der 7. Abteilung des Generalstabes des Heeres. In: Militärwissenschaftliche Rundschau 3. (1938), H. 3, S. 367-419, hier S. 387. Alle Ausdrücke im Vorstehenden aus: Die Entwicklung der deutschen Infanterie [wie Anm. 63], S. 384. Zit. bei Meier-Welcker [wie Anm. 5], S. 171, Anm. 35. Vgl. auch den Beitrag von Philipp von Hilgers in diesem Band. Friedrich von Merkatz: Das neue M.G.-Schließverfahren. Berlin 1912.
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löst sich auf in Wahrscheinlichkeitsdichten, in Anteile von Waffenstreuung und Nervenstreuung. Maschinengewehre strukturieren 1918 nicht nur taktisch. Sie sind negentropische Kerne inmitten eines Schlachtfelds, das Jünger mit Vorliebe als Schutthaufen beschreibt. [...] ein Gewirr von Gegenständen, das durch seine Masse und Regellosigkeit den Eindruck von Verlassenheit vertieft. Tanks, die durch Treffer zerspalten sind oder sich so in mächtige Trichter verfahren haben, daß ihr Hinterende sich steil in die Höhe reckt, fortgeworfenes Gepäck, zersiebte Helme und Kochgeschirre, Gewehre, Leichen von Menschen und Pferden, das alles ist wie ein ungeheurer Trödelladen von einer Faust zerstreut [...] auf dem Schuttplatz einer grausigen Mühle [...]. 68 Gegen solche entropischen Zustände treten Maschinengewehre und ihre Schlösser an. „Das Gewehr hat ein blitzblankes Schloß [...]!! Im Kasteninneren des Maschinengewehrs läuft eine gut geölte und sauber blinkende Maschinerie", wie der Führer einer badischen MGKompanie erinnern wird.69 Maschinengewehre sind seit Ende 1917 die Spitzenprodukte einer neuen industriellen Produktionsweise: maschinenfertige Serienfabrikation austauschbarer, modularer Maschinen. Auf dem Schlachtfeld, auf dem diese Spitzenprodukte ankommen, regeln genaue Vorschriften, in denen jedes modulare Einzelteil auf Hochglanzpapier und nach Bertillon von zwei Seiten photographisch portraitiert ist, die industrielle Ordnung in der Umgebung der Maschine; die Verwaltung jedes einzelnen Maschinengewehrs geschieht durch die Kompanie, ihre Reparatur nicht wie bisher durch Waffenmeister, sondern in Heereswerkstätten nahe der Front; über den Verlust eines Maschinengewehrs ist genauestens Protokoll zu fuhren. Anfang 1917, bei Besichtigung der Werkstätten der 4. Armee wird Wichard v. Moellendorff persönlich die Ordnung des Schlachtfelds auf den modularen Stand maschinenfertiger Austauschfabrikation bringen. Die Kommission hält bei der Ansammlung, Zerlegung und Wiederverwertung der an der Front verlorenen oder zerstörten Gegenstände und Bestandteile bestimmte Maßnahmen für wünschenswert. Hierbei müsste den Hauptbetriebsleitern [der Heereswerkstätten, P. B.] zur Pflicht gemacht weden, sich planmäßig in den Wiederbesitz aller Geräteteile zu bringen, derart, dass sie erstens die Ausgabe neuer Teile möglichst an die Bedingung der Vorlage alter Teile knüpfen, dass sie zweitens durch Prämienanreiz nicht nach starrem Tarif, sondern nach Wichtigkeit, Wiederverwendungsmöglichkeit usw. den Sammeleifer der Truppe anspornen [...], dass sie drittens über Art und Menge der im Kreislauf der Armee erhalten bleibenden Gegenstände und Bestandteile Statistiken führen, aus denen zugleich Art und Menge der in der Heimat oder im Armeebereich zu ersetzenden Gegenstände und Bestandteile hervorgeht.70
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Jünger: Das Wäldchen 125 [wie Anm. 44], S.422. Otto Lais: Maschinengewehre im eisernen Regiment, 8. badisches Infanterie-Regiment Nr. 169. In: Erlebnisse badischer Frontsoldaten. Bd. 1. Karlsruhe 1935, S. 28. „Bericht der zur Besichtigung von Werkstätten zur 4. Armee entsandten Kommission bestehend aus Major Stadtländer und von Möllendorf (Wumba) Hauptmann Graf Dohna (O. H. L.) Mil.-Baum.
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In Moellendorfs Schlachtfeld-Recycling hat sich das begrenzte Schlachtfeld bereits aufgelöst. Ein lückenloser, modularer Kreislauf zwischen Front, Heereswerkstätten, Industrie schließt die Maschinen, die das Schlachtfeld strukturieren, unmittelbar an die von ihrem Ingenieur Friedrich Romberg so benannte „heimische Kriegsmaschine" an: die Maschinenindustrie. Die seriell fabrizierte Serienmaschine 08/15 ist nicht Ausgangspunkt absoluter Vektoren im glatten Raum, sondern Teil geregelter Kreisläufe. Sie baut nicht auf Bewegung, sondern auf den Plan. Seit November 1916 hat das mächtige Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, genannt Wumba, eine mächtige Nebenstelle: das Wumba R, „R" wie „Friedrich Romberg", Schiffsbauprofessor von der technischen Hochschule Charlottenburg. Er soll den Output der heimischen Kriegsmaschine steigern. Ludendorff: „Maschinengewehre sind zu verdreifachen!" Anfang 1918, zwei Monate vor Beginn der Großen Schlacht, ist der Output der Gewehrfabrik Spandau von 4 bis 5 MG pro Tag auf 600 pro Tag gesteigert. Solche sensationellen Produktionssteigerungen sind Ergebnis neuer Kontrolltechniken: zunächst Totalvermessung und Aufzeichnung aller Kriegsmaschinen, der Abmessungen und Genauigkeitsspielräume jedes an der Front gebräuchlichen Waffentyps; dann Umbau aller Konstruktionszeichnungen nach dem gänzlich neuen, für Militärs anstößigen Grundsatz, nicht absolute Genauigkeiten, sondern Toleranzen vorzuschreiben (vgl. Abb. 2). Am Ende von eineinhalb Jahren paperwork ist die modulare Maschine 08/15 modular zu fabrizieren: die mit Toleranzen bemaßten Zeichnungen einzelner Schloß-Teile werden an über 100 verschiedene Nähmaschinen-, Rechenmaschinen-, Fahrradfabriken im ganzen Reich geschickt und die zurückfließenden Teile in Spandau nur zusammengesetzt.71 Die Maschinen-Ökonomie der deutschen Kriegswirtschaft beruht auf der Konvergenz von Verwaltung und Technik. Ihre technologische Zentrale trägt nicht von ungefähr den Titel eines Büros: das „Fabrikations-Büro Spandau", Kern aller Normierungsstrategien des Ersten Weltkriegs. Diese Konvergenz von Maschinen- und Verwaltungstechnik hat zwei Outputs: Erstens eine Maschine, deren Konstruktion bereits die Logik des gekerbten Raums implementiert. Die ganz von Sicherheits-Standards aus konstruierte und von den Deutschen umkonstruierte Maschine des Amerikaners Hiram MAXIM kennt nur parallele Bewegungen, keine Federn, kein Fallen, kein Werfen, wie bei fast allen anderen MGs vom amerikanischen Lewis bis zum französischen Chauchat. Sie ist als perfektes „Zwanglaufsystem" konstruiert. Was der Charlottenburger TH-Professor Franz Reuleaux theoretisch entwarf, implementiert sie als Standard. Erst der Konstruktions-Standard „Zwanglauf' aber erlaubt wiederum Toleranzen, die MAXIMs MG 08 für modulare Fabrikationsweisen prädestinieren. Der zweite Output aber wäre keine Maschine, sondern eine staatsförmige Organisation mit dem Titel NADI, Normenausschuß der Deutschen Industrie, später DNA und schließlich DIN, Deutsches Institut für Normung.72 Sein erster Direktor, Waldemar Hellmich, ist nicht Maschinenbau-, sondern Verwaltungs-Ingenieur.
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Brommer (Spandau) Mil.-Baum. Lindemann (Lippstadt). Dauer des Aufenthalts: 10. bis 16. Januar 1917, usw.", Typoskript, 5 S., Nachlaß Moellendorf, BA Koblenz N L 158, hier: Punkt 2b. Zu den Einzelheiten vgl. Peter Berz: 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts. München 2001. Seit 1975 unter der Bezeichnung DIN Deutsches Institut für Normung. Selbst graphisch genormt, mit den beiden Strichen oben und unten, darf die Buchstabenkombination als „gesetzlich geschütztes Verbandszeichen zur Kennzeichnung genormter Gegenstände verwendet werden" (Was sie schon immer
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Die deutsche Kriegswirtschaft mit dem Maschinenbau als Leitindustrie, der Normierungstechnik als Leittechnik und der Maschine 08/15 als Leitprodukt generiert eine Idee, die sich durchs 20. Jahrhundert fortsetzt: den Plan „als bürokratischen und technokratischen Mythos". 73 Er ist nahezu in Echtzeit exportierbar. Denn es gibt gute Gründe anzunehmen, daß etwa die sowjetische Planwirtschaft die deutsche Kriegswirtschaft zum Vorbild hatte. 74 Wenn dann die sowjetische Armee noch im Zweiten Weltkrieg weitgehend auf MAXIMs Gewehr setzt, ist das nur der Treppenwitz zu dieser Geschichte. Der Weltkrieg als Durchsetzung des „Vereinheitlichungsgedankens in der deutschen Maschinenindustrie", so eine Rede von Fritz Neuhaus, Direktor der Firma Borsig, Berlin, im August 1914, macht aus Kriegsmaschinen Staatsmaschinen, um am Ende aus der Kriegswirtschaft als ganzer eine Kriegsmaschine zu machen. Die „Norm als Waffe", wie es 1918 aus berufenem Munde heißt 75 , ist nicht jener Krieg wildwüchsiger Einzelnormen, gegen den der Deutsche Normenausschuß und seine Nachfolgeorganisationen antreten. Die Norm als Waffe ist eine nationale Kriegsmaschine aus Staatsmaschinen, deren bekannteste eben der Deutsche Normenausschuß selbst ist.
III. Glatt, gekerbt Le regard éloigné, der ethnologische Blick auf die eigene Kultur kann nur in der Fremdheit von Diskursen gründen. Das militärische Wissen selbst ist ein solcher Diskurs. Als Michel Foucault 1982 für einmal benennt, was seinen Blick auf den Wahnsinn und die Klinik, auf Dinge, Wörter und Strafen befremdet habe, spricht er nicht vom militärischen Diskurs. Dem Philosophen, dem Literatur und Malerei so nahe sind, ist das Fremde schlechthin die zeitgenössische Musik. Die insolente Abgeschlossenheit der Musik hätten seine Intelligenz davor bewahrt, auch ihr eine Stelle in der Ordnung des Diskurses zuzuweisen.
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über DIN wissen wollten, DIN-Broschüre, Berlin 1992, S. 4). Institutionentheoretisch interessant ist außerdem die Verschiebung des Buchstabens „I" von der DI-Norm, der Deutschen Industrie-Norm der 20er Jahre, zum DIN eines Instituts. Georges Canguilhelm: Neue Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen (1963-1966). In: Ders.: Das Normale und das Pathologische (1966). Übersetzt von Monika Noll und Rolf Schubert. München 1974, S. 159-202, hier S. 170. Explizit orientiert Lenin den Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft seit Ausrufung der Phase von „allgemeiner Rechnungsführung und Kontrolle" an diesem Vorbild. Etwa in dem kurzen Artikel vom 12. März 1918 „Die Hauptaufgabe unserer Tage" (wieder aufgelegt als eigene Broschüre zusammen mit einem anderen Artikel Lenins im Mai 1918). Die Parallelisierung von Rußland nach Brest-Litowsk mit Preußen nach Tilsit kulminiert hier in der Losung: „Jawohl, lerne beim Deutschen! Die Geschichte geht im Zickzack und macht Umwege. Es ist so gekommen, daß jetzt gerade der Deutsche nicht nur den bestialischen Imperialismus, sondern auch das Prinzip der Disziplin, der Organisation, des harmonischen Zusammenwirkens auf dem Boden der modernsten maschinellen Industrie, der strengsten Rechnungsführung und Kontrolle verkörpert" (W. I. Lenin: Werke. Bd. 27. Februar - Juli 1918. Berlin 1978, S. 150). Walter Porstmarm: Die Norm als Waffe. In: Die Umschau. Wochenschrift über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik 22 (27. Juli 1918), Nr. 31 S. 369f.
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Musik hat für Foucault bei aller Fremdheit einen Namen: den des gleichaltrigen Freundes, des Komponisten, Theoretikers und Dirigenten Pierre Boulez.76 Boulez' musikalische und musiktheoretische Experimente seien es gewesen, die ihn zu der Wendung ermutigt hätten, nicht nur die Formen über die „Privilegien des Sinns, des Lebens, des Fleisches, der ursprünglichen Erfahrung, der subjektiven Inhalte oder sozialen Bedeutungen" zu stellen;77 der Formalismus von Boulez' Arbeit habe vielmehr schockartig eine Geschichte „des Formalen" selbst denkbar gemacht. „[Er ließ uns] das 20. Jahrhundert unter einem gar nicht vertrauten Blickwinkel sehen: dem einer langen Schlacht um das ,Formale'", d'une longue battaille autour du,formel '.7i Fürs Erste muß unbestimmt bleiben, wie sehr Boulez' Kompositionstechnik der Reihen den Reihen, Schnitten und Häufungen von Aussagen in Foucaults Archäologie Pate stand. In einem anderen Fall ist die diskursive Spur Boulezscher Musikpraxis und -theorie weit sichtbarer. Als in den nach neuen Wissenformen begierigen französischen 70er Jahren der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychoanalytiker Felix Guattari ihre Kriegswissenschaft des Wissens, genannt „Nomadologie", begründen, wenden sie nicht nur Paul Virilios Kriegsgeschichte ins Epistemologische.79 Sie denken Boulez' grundlegenden Text über „Musikalische Technik", teilweise vorgetragen auf den Darmstädter Musiktagen 1962, in eine Geschichte des Krieges und des Wissens weiter. Dichotomien, die bei Boulez allenfalls Kampfbegriffe für die Öffnung des musikalischen Felds sind, werden in Deleuze/Guattaris Nomadologie auf Strategien und Techniken und darum auf Gegner hin gedacht: auf Kräfteverhältnisse und Momente der Überwältigung. In den Begriffen des Glatten (lisse) und des Gekerbten (strié) analysiert Boulez sämtliche Parameter musikalischer Technik, also jene „verfassunggebenden Elemente der Klangwelt", die durch Reihenstrukturen „gesteuert" werden: Tonhöhe, Zeit, Klangfarbe und Lautstärke. In allen vier Dimensionen gibt es zwei mögliche Strategien der Organisation, das ist: zwei Weisen des „Schnitts" in ein Kontinuum.80 Die eine setzt Schnitte nach einem Maßstab und System. Die Polyphonie des Abendlands nahm, so Boulez, „zu diesem Zweck eine Vereinfachung, eine .Standardisierung' der Intervalle auf sich, die [...] bestimmte allgemeine ,Normen' berücksichtigen müssen."81 Schnitte im Tonraum sind demnach Unterteilungen nach einem modulo, im einfachsten Fall 2:1, der Oktave als Archetyp und „Identität" am Grund des Systems. Von den pythagoräischen logoi zur temperierten Stimmung wird der gesamte
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Foucault ist mit Boulez seit seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr bekannt. Er folgt ihm als Publikum und publizistisch bis zu Chéreaus Ringinszenierung in Bayreuth 1978-1980 (vgl. Michel Foucault: L'imagination du XIXe siècle [30. 9. 1980]. In: Ders.: Dits et écrits 1954-1988. Hg. von D. Defert, F. Ewald. Bd. IV. Paris 1994, S. 111-115). Michel Foucault: Pierre Boulez, l'écran traversé (1982). In: Ders.: Dits et écrits [wie Anm. 76], S. 219-222, 220. Foucault [wie Anm. 76], Deuleuze/Guattari entwickeln ihre Unterscheidung von Kriegsmaschinen und Staatsmaschinen nicht zuletzt an der Kriegsgeschichte Paul Virilios, der seit 1976 mit einer Ausstellung (Bunkerarcheologie, Centre Pompidou) und Essays an die Öffentlichkeit tritt. Vgl. Pierre Boulez: Musikdenken heute 1. Hg. von E. Thomas, übersetzt von J. Häusler und P. Stoll. Mainz 1963, S. 73f. Boulez [wie Anm. 80], S. 72.
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Frequenzumfang „in eine bestimmte Anzahl von gleichen Feldern aufgeteilt".82 Das Ergebnis solcher Aufteilungen nennt Boulez „gekerbten Raum", espace strié. Erst der modernen Musik, die nach „variablen Räumen und beweglichen Definitionen" sucht, wird dieser Raum als Prinzip sichtbar. Denn ein modulo muß nicht fest stehen. Er könnte sich regelmäßig oder unregelmäßig, sogar im gleichen Stück, ändern: aus geraden gekerbten werden dann kurvige gekerbte Räume. Sie haben einen alle weiteren moduli definierenden, wachsenden oder abnehmenden Grundmodulo, einen „Brennpunkt". Deuleuze/Guattaris Nomadologie wird Boulez' formale Definitionen gekerbter Räume auf historische Systeme ausweiten: auf Techniken und Wissensformen von „Staatsapparaten". Das Gekerbte formalisiert sich hier mitunter aufs Neue. So stellen Staffelkurven, aufgebaut aus moduli und gleichen Feldern, die mediale Basis maschinentechnischer Standardisierung um den Ersten Weltkrieg. Sie machen modulare Produktionssysteme und Kreisläufe, den technologischen Kern einer Staatsmaschine namens Planwirtschaft, allererst möglich. Sie legen den technischen Grund einer Geschichte des Formalen im 20. Jahrhundert. Schnitte aber können nach Boulez auch ohne Maßstab, ohne modulo und System gesetzt sein. Sie erzeugen dann „glatte Räume". Diese lassen sich nur allgemein klassifizieren: „durch die statistische Anordnung der Frequenzen, die sie enthalten".83 Es gibt nur Punkte der ungleichmäßigen Anordnung, der Verdichtung etwa. Ist die Anordnung im ganzen Spektrum ungefähr gleich verteilt, so hat der „Raum keine Richtung". In einem solchen glatten Raum sind weder Geschwindigkeit noch Richtung einer Verlagerung angebbar. Geschwindigkeit und Bewegung werden zu absoluten Vektoren. Derartige Prinzipien lassen sich auch auf die anderen Parameter musikalischer Technik wie den Rhythmus anwenden. In der „pulsierenden" oder gekerbten Zeit etwa sind alle Zeiten Vielfache einer Grundeinheit. Die amorphe oder glatte Zeit dagegen weist lediglich „geringere oder stärkere Dichte" auf. „In der glatten Zeit füllt man die Zeit aus, ohne zu zählen; in der geriffelten Zeit zählt man, um sie auszufüllen."84 Die Öffnung musikalischer Technik durch neue Kategorisierungen - die zugleich den musikalischen Diskurs als ganzen auf andere Diskurse hin öffnet - ist auch bei Boulez nur auf einer technischen Basis denkbar: dem Instrumentenbau. Wo etwa Instrumente nur ungefähre Stimmungen halten85, sind die Grenzen variabler Tonräume eng. Wären aber Instrumente vorstellbar, die, im Unterschied zu real existierenden, Stimmungen halten und zugleich variable moduli implementieren? Instrumente, die spielen, was keine Menschenhand mehr spielt: etwa logarithmisch variable Zeitskalen? Diese Instrumente beginnen zu Anfang der 60er Jahre in die Musik einzudringen. Sie dürften Boulez' Theorie samt ihrer nomadologischen Verlängerung induziert haben: „speicherungsfähige Elektronengehirne", die nicht analog als Tonbänder arbeiten, sondern - „wie zwei neue Geräte in München und New 82
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Boulez [wie Anm. 80], S. 75. - Standards bei Boulez sind arbiträr. Darum fällt die medien- und wissenshistorische Dimension, von der Mathematik der Streckenproportionen zur Mathematik der Schwingungen, weg (vgl. Friedrich Kittler, Musik und Mathematik, Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sommersemester 2000 und 2001). Boulez [wie Anm. 80], S. 75. Boulez [wie Anm. 80], S. 81; vgl. auch Deleuze/Guattarie [wie Anm. 20], S. 496: „im einen Fall ,besetzt man den Raum, ohne ihn zu zählen', in anderen ,zählt man den Raum, um ihn zu besetzen'". Ganz zu schweigen von Spieltechniken, etwa dem Vibrato, das bei Stimmungen im Vierteltonbereich Intervalle „verdecken" würde (vgl. Boulez [wie Anm. 80], S. 73).
Die Schlacht
im glatten
und gekerbten
Feld
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York zeigen" - durch „Lochkarten- oder Lochstreifensysteme" etwa variable Tonräume und Zeitstrukturen kodifizieren, abrufbar über „Tabulaturen". 86
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Boulez: Musikdenken heute [wie Anm. 80], S. 78 - Zumindest das „Gerät in München" ist identifizierbar: als die auf Initiative Carl Orffs von seinem Schüler Josef Anton Riedl seit 1956 entwickelten „Siemens-Studios für elektronische Musik". Seit April 1960 stehen sie Komponisten, Akustiker und Technikern offen (vlg. CD Siemens-Studios für elektronische Musik, Siemens-Kulturprogramm, audiocom multimedia 1998, mit booklet über Geschichte und Technik der Studios, Vorwort Pierre Boulez). Dank an Florian Schreiner, Berlin.
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Versa£
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