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German Pages 365 [366] Year 2023
Robert Musil im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Phänomenologie
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte
Band 170
Robert Musil im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Phänomenologie Herausgegeben von Artur R. Boelderl und Barbara Neymeyr
Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrats der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
ISBN 978-3-11-099922-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-098835-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-098864-2 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2023944120 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Artur R. Boelderl und Barbara Neymeyr Psychologie und Phänomenologie als diskursive Kontexte von Musils Werk 1
I Till Greite Weltzugänge, Weltverluste: Max Schelers Phänomenologie als Herausforderung für den späten Musil (Das Ulrich-Tagebuch)
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Franz Fromholzer Flegeljahre der Psychologie. Ulrichs geschichtlicher Abriss der 37 Gefühlspsychologie Sebastian Hüsch Zur Frage des strengen Denkens bei Heidegger und Musil
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II Christian Heinrichs „Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind“. 75 Das Erhabene und das Erzählen in Musils Novelle Die Amsel Ricarda Hirte Im Dreieck von Psychologie, Literatur und Mythologie: Die Funktion des 95 Vogelsymbols in Musils Novelle Die Amsel
III Harald A. Wiltsche Das Gedankenexperiment als Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft. Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften 115
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Inhalt
Pascal Zambito Experimentieren im Großen. Über Summativität und Übersummativität 135 (MoE I, 81–84)
IV Ludwig Janus Zur Selbstkonstitution in der Moderne. Die Gestaltung der Mentalitätstransformation im 20. Jahrhundert in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften 151 Lilith Jappe Selbstliebe und Seele. Das andere Erleben in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften mit Blick auf Geburt und vorgeburtliche Welt 171
V Barbara Neymeyr Konflikte zwischen Libido und Sublimierung. Zum Hysterie-Syndrom in Musils 193 Roman Der Mann ohne Eigenschaften Oliver Pfohlmann Wagen und Landschaft. Gestaltpsychologisches und (quasi‐)psychoanalytisches Wissen in Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 225
VI Giordano Dal Poz „… in der glashellen Einsamkeit …“ Felddynamiken in Musils Triëdere und Ein Soldat erzählt 249 Gunther Martens Die „motorische Extase“ des Gehirns in der Hand. Musil und die Neurophänomenologie 267
Inhalt
VII Ansgar Mohnkern „Unfug“. „Unzeit“. „Unding“. Über Musils ‚Un-‘ Artur R. Boelderl Herrn Ulrichs letzte Liebe(sgeschichte) Dominik Zechner Kant avec Musil
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Autorinnen und Autoren Personenregister
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Artur R. Boelderl und Barbara Neymeyr
Psychologie und Phänomenologie als diskursive Kontexte von Musils Werk „Ich werde einmal sagen müssen, warum ich für die ,flache‘ Experimentalpsychologie Interesse habe und warum ich keines für Freud, Klages, ja selbst für die Phänomenologie habe.“¹ – Dieser legeren Bemerkung mit ihrer selbstironischen Koketterie hat Musil allerdings nie weitere Explikationen folgen lassen. In der Forschung steht zu Recht längst fest, dass sich Musil sowohl mit der Philosophie generell als auch mit verschiedenen Varianten der Phänomenologie speziell intensiv auseinandergesetzt hat: auf jeden Fall mit Stumpf, Husserl und Scheler, daneben aber auch mit Heidegger. Und der Psychologie im Allgemeinen und der Tiefenpsychologie im Besonderen hat sich Musil gleichfalls mit großem Interesse zugewandt, vor allem der Psychoanalyse Freuds. Davon legen Musils Werke zweifelsfrei Zeugnis ab, aber auch die zahlreichen Exzerpte, die er im Laufe von Jahrzehnten zu philosophischen und psychologischen Büchern und Kompendien angelegt hat. Hinzuweisen ist zudem auf biographische Fakten, die in der Musil-Forschung ebenfalls bereits umfassend dokumentiert sind. Bekanntlich las Musil schon als Schüler mit Begeisterung sowohl Nietzsche als auch Emerson sowie weitere philosophische Autoren. Später promovierte er bei Carl Stumpf in Berlin, einem der führenden Repräsentanten der frühen Phänomenologie und Gestaltpsychologie. Obwohl es also zahlreiche Indizien dafür gibt, dass sich Musil in hohem Maße für philosophische und psychologische Themen interessierte, bilden gründliche Studien zu Musils Œuvre im Spannungsfeld von Psychoanalyse und Phänomenologie bis heute ein Desiderat der Forschung. Deshalb haben zwei internationale Tagungen, die 2021 in Klagenfurt stattfanden, gerade diese übergreifenden Diskurse in den Fokus gerückt: Im weiten Horizont von Psychologie und Philosophie konzentrierten sie sich schwerpunktmäßig darauf, an Musils Werken Bezüge zur Psychoanalyse und zur Phänomenologie aufzuzeigen. Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband bietet nun Druckfassungen der Tagungsvorträge: Er rückt Gestaltpsychologie, Tiefenpsychologie und
1 Robert Musil: Autobiographie 1937–1942. Notat Nr. 144 (1940). In: ders.: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. DVD-ROM. Hg. v. Walter Fanta unter Mitarb. von Rosmarie Zeller. Klagenfurt: 2009. Update 2015, Lesetexte, Bd. 17: Späte Hefte 1928–1942, Heft 33. (Diese Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle KA zitiert.) https://doi.org/10.1515/9783110988352-001
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Psychoanalyse ebenso in den Fokus wie phänomenologische Philosophie und Neurophänomenologie. Die folgenden Beiträge erschließen insofern interdiskursive Spannungsfelder, verbinden dabei systematische Ansätze und kulturhistorische Perspektiven und setzen sich das Ziel, auf diese Weise neue Einsichten in Musils Poetik und in deren komplexe Vermittlung mit spezifischen Formen philosophischer und psychologischer Reflexion zu gewinnen. Abgesehen vom konkreten Schwerpunkt im Bereich von Psychoanalyse und Phänomenologie ist zu betonen, dass Musil gegenüber bestimmten Ausprägungen traditioneller Philosophie kritisch eingestellt war, aber auf gewisse Modeströmungen in der Philosophie und Psychologie seiner Zeit ebenfalls mit Skepsis reagierte. In diesen Kontext gehören auch Denkrichtungen, die Musil im obigen Eingangszitat salopp (und etwas unscharf ) als ‚Phänomenologie‘ bezeichnet und hier erstaunlicherweise sogar mit der Psychoanalyse Freuds und mit den Konzepten von Klages zur Kosmogonie von Eros und Sexus korreliert. – Auch zum Werk von Ludwig Klages hat Musil übrigens Exzerpte angelegt. Und obwohl Ulrichs Liebe zur Frau Major im Roman Der Mann ohne Eigenschaften tendenziell mit Klages’ Idee der Fernsten-Liebe korrespondiert, ist die Mentalität der Meingast-Figur im Roman durchaus mit kritischem Bezug auf Konzepte von Klages gestaltet. Generell sieht Musil Defizite philosophischer Theorien mitunter in fehlender Sensibilität für die fluktuierende Dynamik innerer Prozesse, die sich einem Interesse an abstrakter Systematik, transzendentaler Grundlegung oder metaphysischer Spekulation ebenso entziehen wie die Mutmaßungen über Innerlichkeit aus der Perspektive von Tiefenpsychologen. Derartigen Ansätzen zieht Musil die konstante und präzise Betrachtung von Einzelphänomenen gemäß der empirischen Methodik der Experimentalpsychologie vor. Schon in einem Programm-Entwurf von 1912 erklärt Musil dezidiert: „Aller seelische Wagemut liegt heute in den exakten Wissenschaften. Nicht von Göthe [sic], Hebbel, Hölderlin werden wir lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski […].“² – Schon hier sind seine Prämissen evident. Wenn Musil im Eingangszitat für „die ,flache‘ Experimentalpsychologie Interesse“ signalisiert, dann ist diesem Statement zugleich allerdings eine (selbst)ironische Reaktion auf gängige Vorurteile inhärent, die unter den Zeitgenossen gerade diejenigen kultivierten, die einer angeblich ‚flachen‘ Empirie-Orientierung die fragwürdige ‚Tiefe‘ spekulativer Ideen und antirationalistischer Ideologien als Alternative glaubten entgegenhalten zu müssen. In dieser Hinsicht hat Musil auch seinem Roman Der Mann ohne Ei-
2 Robert Musil: Gesammelte Werke [=GW]. Hg. v. Adolf Frisé. Zwei Bände. Reinbek bei Hamburg 1978. Bd. I: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. – GW II, S. 1318.
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genschaften kritische Kulturdiagnosen eingeschrieben, indem er Seelen-Kult, IdeenEnthusiasmus und Synthese-Konzepte an Figuren wie Diotima und Arnheim ironisch konterkariert und zugleich auch Zerfallsformen eines antiquierten Idealismus an problematischen Versatzstücken moderner Ideologien vorführt.³ In entschiedener Opposition zu derartigen Ansätzen sieht Musil den zukunftsweisenden Primat experimenteller Wissenschaft auch in der (gleichfalls an Phänomenen orientierten) Gestaltpsychologie wirksam. Angeblich ‚flachen‘ Denkweisen dieser Art gebührt seines Erachtens die Präferenz vor der bloß scheinbaren ‚Tiefe‘ spekulativer Konzepte. Seine Vorbehalte richten sich dabei auch gegen Denker, denen trotz einer anti-metaphysischen Programmatik mitunter Rückfälle in spekulatives Denken unterlaufen, etwa bei der Suche nach transzendentalen Grundlegungen psychischer Phänomene. Dies lässt sich sogar an der Erkenntnisund Wissenschaftstheorie von Ernst Mach feststellen, der unter den Prämissen eines empiristisch orientierten Wissenschaftskonzepts eine nachdrückliche Metaphysik-Kritik formulierte. So war Musil davon überzeugt, in seiner Dissertation Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) zumindest terminologisch, aber eigentlich auch in argumentativer Hinsicht Inkonsequenzen Machs aufgezeigt zu haben – und geriet unter dem Einfluss Stumpfs dabei unversehens in eine gewisse Nähe zu Positionen Husserls.⁴ In diesen komplexen Diskursfeldern bewegte sich Musil mit Skepsis in unterschiedlicher Hinsicht: So fand er methodologisch nirgends Prämissen, denen er gänzlich ohne jeden Vorbehalt zustimmen konnte: weder in der Philosophie noch in der Psychologie, nicht in der Phänomenologie und nicht in der Psychoanalyse, noch weniger allerdings in der zeitgenössischen Literatur, die ihm, sofern sie überhaupt reflexive Züge annahm, eher prätentiös erschien, wenn sie hingegen einem regressiven Antirationalismus verfiel oder einen naiven Gefühlskult betrieb, seinem Anspruch an einen substantiellen Erkenntniswert auch der Dichtung erst recht nicht genügte. In seinem essayistischen Fragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923) etikettiert Musil die mentalen Antagonismen der Epoche prägnant mit der „Hauptformel: Rationalismus und Irrationalismus“⁵. Und dieses Spannungsfeld sieht er auf charakteristische Weise auch durch die Literatur repräsentiert: Denn hier stehe „die Idee eines pseudo-naturwissenschaftlichen Experimentalromans neben einer ausgesprochenen Denkfeindlichkeit, welche sich damit tröstete, daß 3 Vgl. Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Bd. 218), S. 315–410. 4 Vgl. dazu Artur R. Boelderl: MUSIL MACH STUMPF oder Der Roman als strenge Wissenschaft. In: Robert Musil und die modernen Wissenschaften. Hg. v. Károly Kókai. O. O. [Budapest] 2019, S. 47–74. 5 GW II, S. 1356.
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der Dichter unmittelbar aufs Gefühl wirken müsse u. seine Inspiration unmittelbar vom Gefühl erhalte“⁶. Vor diesem Hintergrund diskursiver Spannungen erscheint eine Überlegung aufschlussreich und zugleich auch für die Psychologie relevant, die Musil ebenfalls in diesem Fragment formuliert: „Die Philosophie ist hinter den Tatsachen ein wenig (!) zurückgeblieben und das verführte zu dem Glauben, daß der auf Tatsachen gerichtete Sinn etwas Antiphilosophisches sei: es ist aber die richtige Philosophie der gegenwärtigen Zeitspanne, daß wir keine Philosophie haben!“⁷ – Insofern sollten Philosophie, Psychologie und Literatur nach Musils Ansicht auf je spezifische Weise ihre Konsequenzen daraus ziehen, dass der „heutige Mensch“ als „Tatsachenmensch“ zu gelten hat.⁸ Evident sind damit auch Musils eigene Präferenzen, wenn er die Pluralität von Mentalitäten, Ideologien und Zeittendenzen folgendermaßen an der literarischen Sphäre exemplifiziert: „Neben dem Rationalismus war der Irrationalismus da. Idee des Experimentalromans […] Autoren, die das Heil vom Gefühl, vom menschlichen Kurzschluß erwarten.“⁹ Musils Versuch, im eigenen Werk einen genuin literarischen, ja geradezu avantgardistischen Erkenntnisanspruch zu verwirklichen,¹⁰ impliziert mithin auch die Bereitschaft zur Adaptation zeitgenössischer Diskurse wie der Phänomenologie und der Psychoanalyse, mit denen er bestens vertraut war und deren programmatische Abkehr von traditioneller Metaphysik und spekulativen Entwürfen er grundsätzlich goutierte. Dem aktuellen Forschungsstand zufolge¹¹ hat sich Musil mit den Theorien der Psychoanalyse auf produktive Weise auseinandergesetzt. Schon „die Kämpfe der Pubertät“ im Törleß-Roman hatte er nach eigenem Bekunden „mit neuen psychologischen Mitteln“ analysiert, aber nicht durch „‚bloße‘ Psychologie“, sondern durch
6 GW II, S. 1376. 7 GW II, S. 1384. (Vgl. Robert Musil: Der deutsche Mensch als Symptom. In: Ders.: Projekte 1900–1942. Unveröffentlichte Werke aus dem Nachlass. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg/Wien 2021 (Gesamtausgabe, Bd. 12), S. 235–291, hier S. 266.) 8 GW II, S. 1364. 9 GW II, S. 1355. 10 Vgl. Barbara Neymeyr: Experimente im „Ideenlaboratorium“. Musils avantgardistische Literaturtheorie. In: Sprachkunst 41 (2010), H. 2, S. 203–219. 11 Vgl. dazu Oliver Pfohlmann: Psychoanalyse. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 538–546. Pfohlmann zählt „Musil zu den besten Kennern der Tiefenpsychologie“ (ebd., S. 539). – Zu Musils komplexem Verhältnis zur Psychoanalyse vgl. Oliver Pfohlmann: ‚Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‘? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003 (Musil-Studien Bd. 32), S. 330–345.
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„ethische Experimente“.¹² Später wirken Impulse der Gestaltpsychologie, Experimentalpsychologie und Psychoanalyse in seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften hinein. So greift Musil etwa auf Konzepte der Hysterie, des Narzissmus und der Libido gemäß den psychoanalytischen Theorien Freuds zurück, dessen Publikationen zur Hysterie er ebenso rezipierte wie seine Traumdeutung und die Schriften Zur Einführung des Narzißmus, Jenseits des Lustprinzips oder Das Unbehagen in der Kultur. Generell betont Musil aber auch Differenzen „von gelehrter und dichterischer Psychologie“ und versteht literarische Psychologie dabei als „Menschenkenntnis und Fähigkeit der Motivation“.¹³ Und wenn er „Psychologie“ mit dem vergleicht, „was in der Zeit Marco Polos die Geographie war“,¹⁴ dann schreibt er ihr tendenziell eine avantgardistische Funktion beim Erschließen unbekannten Terrains zu. Auch Musils satirische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse im Text Der bedrohte Ödipus signalisiert keineswegs prinzipielle Vorbehalte gegen die Tiefenpsychologie. – Und im Roman Der Mann ohne Eigenschaften erklärt Musils Protagonist Ulrich zu seiner Gefühlspsychologie, er lasse in ihr „die Psychoanalyse“ trotz ihrer Omnipräsenz bloß „deshalb beiseite“, weil er selbst etwas anderes intendiere, erkenne aber „die Verdienste dieser bedeutenden Theorie“ an, „die voll neuer Begriffe“ sei und erstmals „vieles zu erfassen gelehrt habe“, was zuvor „gesetzlose Privaterfahrung“ war.¹⁵ Auch Musil selbst betont den „Wahrheitsgehalt“ der psychoanalytischen Theorien, „dessen Dasein heute kein Sachkundiger mehr bestreitet“.¹⁶ In der Annahme, dass Impulse aus Freuds Psychoanalyse und aus Husserls Phänomenologie im literarischen Schaffen Musils auf fruchtbare Weise konvergieren: darin bestand die konzeptionelle Gemeinsamkeit der eingangs erwähnten Klagenfurter Tagungen (15.–17. April 2021 und 4.–6. November 2021), die am RobertMusil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt stattfanden (online bzw. hybrid).¹⁷ – Zu wünschen bleibt,
12 GW II, S. 950, 1008. 13 GW II, S. 1052. 14 GW II, S. 1192. 15 GW I (MoE), 1138 f. 16 GW II, S. 1401. Allerdings sieht Musil den „Wahrheitskern“ der Psychoanalyse „noch unsicher abgegrenzt und von Übertreibungen entstellt“ (ebd.) 17 Beide Tagungen, veranstaltet in Kooperation mit der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft (IRMG), der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie und dem Institut für Philosophie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (AAU) resp. mit der IRMG, der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien und dem Institut für Germanistik der AAU stehen im Zusammenhang mit dem FWF-geförderten Forschungsprojekt MUSIL ONLINE – interdiskursiver Kommentar (FWF-Projekt Nr. P 30028, https://pf.fwf.ac.at/de/wissenschaft-konkret/ project-finder/project_pdfs/pdf_abstracts/p30028d.pdf ) sowie mit dem Webportal MUSIL ONLINE
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dass sie dazu beitragen, Musil nicht nur mit Husserl, Scheler, Heidegger sowie mit Freud, Jung, Klages zu lesen, sondern auch (vice versa) die Genannten und andere Denker mit Musil.¹⁸ Der geistige Horizont gewinnt jedenfalls an Komplexität, wenn man Musils literarisches Œuvre im diskursiven Spannungsfeld von Psychoanalyse und Phänomenologie untersucht. Im Falle solcher Kontextualisierungen durch spezifische Denkweisen von Philosophie und Psychologie erscheint die exemplarische Feststellung, die Musil selbst auf seine Novellen Vereinigungen bezog, die aber auch für seine anderen Werke Geltung beanspruchen kann, dann umso treffender: „Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt.“¹⁹
Zu den Beiträgen Ausgehend von der Begegnung zwischen Max Scheler und Robert Musil diskutiert der Beitrag von Till Greite anhand von Ulrichs Tagebuch einerseits und Schelers Sympathie-Buch andererseits die kontrastive Komplementarität der jeweiligen Ansätze: bei Musil die bewusste Spaltung zwischen Denken und Emotion, bei Scheler das Wort von der „unangemessenen Trennung zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Sinnlichkeit‘“. Diese Divergenz, die etwa auch darin zum Ausdruck kommt, dass Scheler vom ‚Phänomen‘ und von einer ‚Intentionalität des Fühlens‘ spricht, Musil hingegen von ‚Gestalt‘ bzw. ‚Reiz‘ und ‚Reaktion‘ im Sinne einer ‚Evozierbarkeit der Gefühle‘, hat nicht zuletzt poetologische Konsequenzen für die Arbeit am Mann ohne Eigenschaften. – Franz Fromholzer zeigt, dass Ulrichs gefühlspsychologische Aufzeichnungen in den Druckfahnenkapiteln (1938) vor dem Hintergrund bedrohlicher kollektiver Ekstasen während des Ersten Weltkriegs einen individualistischen Ansatz konturieren, der die Möglichkeiten unbestimmter, in der Schwebe gehaltener Gefühle auslotet. Die Ablehnung zielgerichteter, ‚penetrativer‘ Gefühle sei eine Absage an Gewalt und Krieg, aber auch an ein letztgültiges Telos des Romans. – Der Beitrag von Sebastian Hüsch betont bemerkenswerte Parallelen
(http://musilonline.at) bzw. dessen kontinuierlich erweitertem Prototyp an der Österreichischen Nationalbibliothek (https://edition.onb.ac.at/musil). Ein Teil der Beiträge zur ersten Tagung mit vorrangig phänomenologischem Zuschnitt ist veröffentlicht in: Robert Musil und die Phänomenologie. Hg. v. Artur R. Boelderl. Wien/Darmstadt 2022 (Journal Phänomenologie, Heft 56/2021). 18 So jedenfalls das Postulat von Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 12. 19 GW II, S. 969.
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zwischen Martin Heidegger und Robert Musil: im Bemühen um eine methodisch strenge Phänomenologie eigentlichen Selbstseins. Allerdings schlage Musil dabei einen überzeugenderen Weg ein, weil er die Frage bedeutungsvoller Formen des Selbstseins durch den Rückgriff auf eine methodisch operierende Ironie thematisiere, während bei Heidegger das eigentliche Selbstsein durch das Fehlen entsprechender methodischer Mittel in den Horizont des Apodiktisch-Dezisionistischen gerate. Christian Heinrichs liest die drei existenziellen Begegnungen, die Musil in der autobiografisch motivierten Novelle Die Amsel gestaltet, als Schilderungen von Grenzsituationen, die eine Konfrontation mit dem Erhabenen bedeuten. Auf dem Wege experimentell-literarischen Erzählens erkunde der Text Möglichkeiten authentischer (Selbst‐)Wahrnehmung bei der Suche nach tauglichen Lebensentwürfen, die sich zugleich der menschlichen Endlichkeit und Ohnmacht bewusst sind. – Ricarda Hirte zeigt in ihrem ebenfalls Musils Novelle Die Amsel gewidmeten Beitrag, dass darin die Mythologie und die unterschiedlichen Funktionen beider Vogelarten ein symbolisches Feld bilden. Und dabei rekurriere die Symbolik des Textes auf verschlüsselte Systeme, deren Referenten in archaischen und anthropologischen Konstrukten zu finden seien. Zudem macht Hirte deutlich, inwiefern diese durch Offenlegung psychischer Konflikte der Erzählerfigur zu einer weiteren Dimension der Interpretation beitragen. Angesichts der seit den späten 1980er Jahren geführten Debatten über Gedankenexperimente, die sich oft auf Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie beschränkten, hebt Harald Wiltsche die Rolle von Gedankenexperimenten auch in der Literatur hervor. Ausgehend von der grundlegenden Funktion von Gedankenexperimenten in der Physik, weist er dann auf ähnliche Funktionsweisen in der Literatur hin und zeigt den epistemischen Mehrwert anschließend exemplarisch und konkret am Kapitel 100 in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, das in gedankenexperimenteller Manier mit Fragestellungen der Mathematik und Metamathematik operiere. – Der Beitrag von Pascal Zambito untersucht Musils originelle Integration gestalttheoretischer Ansätze in seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften und rekonstruiert anhand der Kapitel 81 bis 84, wie er das ‚kakanische‘ Vereinswesen als Karikatur summativer, ‚gestaltblinder‘ Denkweisen vorführt und ihr mit der Clarisse-Figur dann ein gleichfalls überzeichnetes, unreflektiertes Streben nach Größe und Ganzheit entgegenstellt. Ein zwischen diesen Extremen vermittelnder Gedankengang führe dialektisch zu Ulrichs ausgereifterer Position, die das Prinzip der ‚Übersummativität‘ auf Fragen der Moral erweitere und auf die Poetologie des Romans beziehe: Dabei verbinde er ein holistisches Denken mit dem Möglichkeitssinn. Der Beitrag von Ludwig Janus setzt anthropologisch an, indem er auf die Unreife des Menschen bei der Geburt hinweist, in der sich körperliche und neu-
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rologische Unreife mit einer Unreife der Instinktregulation verbinden. Zugleich betont er im Sinne kulturanthropologischer Konzepte, dass sich der ‚Homo sapiens‘ eigene Lebenswelten schaffe, die einer historischen Veränderung unterliegen. Dass solche Transformationen durch künstlerische Werke repräsentiert werden können, zeige auch Der Mann ohne Eigenschaften, mit dem Musil den Mentalitätswandel im 20. Jahrhundert im Medium des Romans vorführe und zugleich zur Selbstkonstitution in der Moderne beitrage. – Lilith Jappe betont, dass Seele und eine ‚gute‘ Selbstliebe in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften auf den ‚anderen Zustand‘ verweisen. Dessen Jenseitigkeit korreliert sie mit der pränatalen Psychologie und dadurch mit dem Erfahrungsraum vor der Geburt. Dabei schlägt sie Brücken ins Imaginäre, indem sie darüber nachdenkt, wie sich die Integration dieses Erlebens auf die Verbindung von Selbst und Wirklichkeit auswirkt und welche Konsequenzen sie speziell für Ulrichs männliche Identität und Sexualität haben könnte. Gewaltsame Bilder von Geburt scheinen einer solchen Integration jedoch im Wege zu stehen. Barbara Neymeyr beleuchtet das Hysterie-Syndrom zunächst im Spiegel der Diskursgeschichte von Psychiatrie und Psychoanalyse und problematisiert dabei genderspezifische Einseitigkeiten traditioneller Hysterie-Konzepte. Mit Bezug auf Theorien von Freud, C.G. Jung und Klages zeigt sie dann, wie facettenreich Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften das hysterische Syndrom und das AndrogynieIdeal der Clarisse-Figur gestaltet, die zugleich zum Medium kritischer Kulturdiagnose avanciert. Dabei repräsentiert das hysterische Verhalten der Figuren Clarisse und Gerda auch Aspekte eines anarchischen Eros, dessen Symptomatik den Roman auf vielfältige Weise subversiv durchwirkt. – Oliver Pfohlmann betont, dass Musils Törleß in der literaturkritischen Rezeption zwar als ‚psychologischer Roman‘ galt, dass der Autor selbst aber gerade diese Sicht für ein ‚Missverständnis‘ hielt: Denn Musil verstand psychologisches Wissen nur als Mittel, das ihm zur Verwirklichung seiner literarischen Intentionen dienen sollte. In seinem Beitrag untersucht Pfohlmann, wie in Musils Debütroman (gestalt‐)psychologisches und (quasi‐)psychoanalytisches Wissen ineinandergreifen. Dabei zeigt er, dass die Verbindung von sexuellem und epistemologischem Begehren zu einem sich selbst dekonstruierenden Text führte, einem Vexierbild in Gestalt eines Romans. Giordano Dal Poz setzt voraus, dass Musil das Problem der Regulation als Geflecht von ästhetischen, medientechnischen und experimentellen Fragen versteht. Seines Erachtens werden Felddynamiken, die in den Naturwissenschaften und in der Psychologie als regulatives Modell fungieren, in den Kurztexten Triëdere und Ein Soldat erzählt experimentell als grenzwertige Erfahrungen der Wahrnehmung kodiert. Durch den Verweis auf Regulationsverfahren der Naturwissenschaften inszeniere das Erzählen eine geplante Erschütterung der Ordnung in jenen Bereichen, deren Ansprüche die Modernität geprägt haben: Schlachtfeld und Labor.
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– Der Beitrag von Gunther Martens widmet sich der Frage, wie sich Musils experimentell-psychologische Schulung auf sein Verhältnis zur Phänomenologie und zur Psychoanalyse auswirkt. Denn Robert Musil hat zeitlebens die Fortschritte der experimentellen Psychologie genauestens verfolgt und die Folgen für die Literatur reflektiert. Das Interesse an Depersonalisierung, das bislang vor allem im Rahmen wissenschaftshistorischer Studien zu Musils Rezeption von Primitivismus und Psychoanalyse untersucht worden ist, wird aus der Sicht von Musils ambivalenter Positionierung seinen „Lehrern“ (Mach, Ehrenfels, Stumpf ) gegenüber als Vorwegnahme zentraler Theoreme der verkörperten Erkenntnis (embodied cognition) neu beschrieben. Ansgar Mohnkern verfolgt an Musils Handhabung der Vorsilbe „Un-“ eine Symptomatik, die nicht bloß – wie bei Sigmund Freud – Figuren der Negation aufweiche. Vielmehr meint er, dieses „Un-“ funktioniere wie ein Marker metonymischer Einebnung, die das erzählerische Feld nach dem Gesetz unähnlicher Ähnlichkeit organisiere. In seinem Aufsatz zeichnet er Aspekte der Symptomatik von Musils „Un-“ nach, um einen erzähltheoretischen Beitrag zum Mann ohne Eigenschaften zu bieten. – In kritischem Anschluss an Hartmut Böhme profiliert Artur R. Boelderl seine These, dass Musils Novellenband Vereinigungen und hier insbesondere Die Vollendung der Liebe thematisch im Mann ohne Eigenschaften in Agathes Rede von der „letzten Liebesgeschichte“ (GA 4, S. 92) münde, welche die Geschwisterliebe zwischen ihr und Ulrich sein solle, ja sein werde. Analog zu Hegels Rede vom ,Ende der Geschichte‘ seien auch im Falle von Musils ,Vollendung der Liebe‘ die Rollen verteilt, die Plätze zugewiesen und die Liebesgeschichte zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe im Roman daher die letzte: Ihre literarische Darstellung durch Musil verwirkliche ein Programm, das in unverkennbarer Nähe zu Lacans durchaus pessimistischer struktural-psychoanalytischer Auffassung vom inexistenten Geschlechtsverhältnis liege, dem die Liebe diskursiv zu Hilfe kommt, um letztlich zu scheitern.– Dominik Zechner liest Musils Erstling Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) als einen Roman der Institution (Campe), der diverse Formen von Gewalt verbinde. Gegen die Annahme, Musils Roman fokussiere sich auf die Darstellung sado-masochistischer Ausschweifungen, betont Zechner eine Szene des Lesens, welche die verschiedenen Gewaltpotentiale des Romans miteinander vermittle: Erst Törleß’ Kant-Lektüre lasse erkennen, welche Gewalt und welcher Schmerz in Musils Text gemeint seien, so dass der Roman Einblick in die gewaltsame Struktur der praktischen Vernunft selbst biete. Unser Dank gebührt dem Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, der die Drucklegung dieses Buches mit einer großzügigen Förderung unterstützt hat. Er gilt aber auch unserem inzwischen pensionierten Kollegen, dem langjährigen Musil-Editor Walter Fanta, der am Zustandekommen der erwähnten Tagungen
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ebenso wesentlichen Anteil hatte wie an allen wissenschaftlichen Unternehmungen, mit denen sie im Zusammenhang stehen. Klagenfurt, im Juli 2023
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Weltzugänge, Weltverluste: Max Schelers Phänomenologie als Herausforderung für den späten Musil (Das Ulrich-Tagebuch) Abstract: Der Beitrag beschäftigt sich mit der Begegnung Robert Musils mit Max Scheler, einer Gründungsfigur der phänomenologischen Bewegung. Er fokussiert auf Musils späte Lektüre seiner Schriften zur Zeit des Exils. Werkgenetische Probleme in der Arbeit am Mann ohne Eigenschaften werden parallel gelesen mit der divergierenden Auffassung beider Autoren hinsichtlich menschlicher Emotionalität. Es wird gezeigt, wie Schelers Sympathie-Lehre für Musil zu einer Herausforderung wurde, die ihn auch poetologisch zu neuen Entscheidungen führte.
[D]aß ich mich wohl immer mit Ethik befassen wollte, aber keinen Zugang wußte, der mir gepaßt hätte. (Robert Musil)
1 Vorbemerkung: Ein skeptischer Einwurf zu Musil und der Phänomenologie Grundlegend fraglich bei der Begegnung Robert Musils mit dem Werk des Philosophen und Psychologen Max Scheler ist zunächst der divergierende Ausgangspunkt ihres Nachdenkens über die Emotionalität des Menschen.¹ Eine erste Frage, die den Verfasser bei den Überlegungen zu Musil und dessen Verhältnis zur Phänomenologie – und zu Scheler im Besonderen – nachhaltig beschäftigte, war jene, ob es sich bei dieser intellektuellen Konstellation nicht um eine ‚falsche Freundschaft‘ handeln könnte: dass eine allzu umstandslose Nachbarschaftannahme einen produktiven Dissens verschütten würde. Denn bei aller Zeitgenossenschaftsnähe verhalten sie sich in ideengeschichtlicher Hinsicht wie Tag und Nacht zueinander. Waren Musils frühe wissenschaftliche Arbeiten zur Seelenkunde vom um 1900 populären Machismus – und der Gestalttheorie – beeinflusst, der auf Anwendungswissen im Geiste damaliger Psychotechniken abzielte, so ging es der phänomenologischen Denkströmung um ein breiteres Fundament im Verständnis des
1 Der vorliegende Aufsatz ist die ausgearbeitete Fassung eines im Rahmen der Arbeitstagung Musil und die Phänomenologie am 14.04. 2021 gehaltenen Vortrages. Der Verfasser dankt den Teilnehmenden, insbesondere Artur Boelderl, Walter Fanta und Kevin Mulligan, für fruchtbare Anregungen. https://doi.org/10.1515/9783110988352-002
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Denkens und der Emotionalität.² Das klingt schon in einem programmatischen Ausspruch Schelers an, nämlich in seinem Opus Magnum, der Ethik (1913/16), in der es heißt, es müsse unser „gesamtes emotionales Leben (…) zur ‚Sinnlichkeit‘ gerechnet werden“; jede zu hoch angesetzte „Trennung von ‚Vernunft‘ und ‚Sinnlichkeit‘“ sei schlicht „unangemessen“³. Dies ist vor der eigentlichen Darlegung der Begegnung Musils mit Scheler gesprochen. Das Nachdenken führte dazu, eine Grundskepsis walten zu lassen. Eine diesbezügliche Bestätigung ließ sich in einer Bemerkung des Philosophen HansGeorg Gadamer zur Phänomenologischen Bewegung (1963) finden, wie er sie anlässlich eines Rückblicks in den 1960er Jahren skizzierte. Dort rief er in Erinnerung, was der Stein des Anstoßes dieser philosophischen Strömung – jenseits aller disziplinärer Einhegungen – einst gewesen war. Die Rückgewinnung ihrer Ausgangsfrage bedeutete „kritisch“ zu sein gegen eine zu „selbstverständliche Herrschaft philosophischer Theorien“, die für sich einen Geltungsanspruch über das Leben reklamieren würden.⁴ Worum es dem ‚phänomenologischen Ethos‘ vielmehr ging, war der vorurteilsfreie Rückgang auf die Quellen unserer Anschauung, wie sie Denken und Fühlen im natürlichen Reichtum gegeben sind; das heißt im Sinne jener „natürlichen Weltanschauung“, wie sie Scheler nannte.⁵ Damit wäre Phänomenologie zunächst als eine Beschreibungskunst zu verstehen, deren Variante kontemplativer Schau man nicht zufällig mit der ‚ästhetischen Einstellung‘, der selbstnahen künstlerischen Versenkung in Verbindung gebracht hat.⁶ Was sie wollte, war die „Phänomene zur Sprache“ zu bringen wie sie uns in der „Lebenswelt“, in jenem „einheitliche(n) Universum der seienden Objekte“, wie Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie sagte, begegnen.⁷ Dies sah zugleich
2 Vgl. hierzu insbesondere seine frühen erkenntnistheoretischen und technischen Schriften: Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek b. Hamburg 1980. 3 Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Hg. v. Maria Scheler. Bern 1966 (Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 259 (Herv. i. O.). 4 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Die phänomenologische Bewegung (1963). In: Ders.: Neuere Philosophie I. Hegel Husserl Heidegger. Tübingen 1987 (Gesammelte Werke, Bd. 3), S. 105–146, hier S. 106. 5 Vgl. Scheler, Ethik, S. 67 f. 6 Dass die Phänomenologie etwas mit der künstlerischen Versenkung gemein hat, hielt schon der Husserl-Schüler Schapp fest.Vgl. Wilhelm Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung. Erlangen 1925, S. 9. Zur phänomenologischen Einstellung als „Denkverfahren“ auch: Hans-Rainer Sepp: Einstellung. In: Helmuth Vetter (Hg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Hamburg 2004, S. 133–136, hier S. 135. 7 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie. Hg. v. Elisabeth Ströker. Hamburg 2012, S. 116. Grundlegend zur „Lebenswelt“ als Universum des „Selbstverständlichen“ in der phänomenologischen Tradition und dessen agonaler
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eine dezidierte Meidung „unausweisbarer Konstruktionen“ vor, die den Anhauch der Willfährigkeit, des Ausgedachten haben, ohne auf einen Erfahrungsgrund rückführbar zu sein. Phänomen war demnach – wie Liebe oder Freundschaft nach Scheler – etwas, das seinen Sinn „in sich selber trage“, seine ‚innere Form‘ habe und nicht auf ‚Nutzen‘, ‚Lust‘, also bloß abgeleitete Vorstellungen, zu reduzieren sei.⁸ Insofern ging es darum, eine Ferne zu den Dingen, wie sie die neukantianische Wissenschaftstheorie aufgebaut hatte, wieder zurückzunehmen, sie in ‚leibhaftiger Gegebenheit‘ zu erfahren. Auch um den Preis, dass die Verstehenden im Vollzug Bezogene und Verstrickte bleiben: nicht nur Zuschauende, sondern Teilhabende an einer Erfahrung.⁹ Was diese nicht sein sollten, waren abgetrennte Experimentator: innen, die keine Beziehung zum Phänomen unterhalten. Man spürt an dieser Stelle bereits, wie die Frage nach den Phänomenen jene der Ethik mitberührt – und wie zweifelhaft eine Ineinssetzung der phänomenologischen Haltung mit Musils Auffassung sein könnte. So bahnt sich – wie zu erläutern sein wird – ein ideengeschichtlicher Konflikt an, der auch zu unterschiedlichen Akzentuierungen in der Ästhetik und Ausdrucksfrage – äußerlich evozierter Affektbegriff einerseits und innerlich gefasster Empfindungsbegriff anderseits – führen wird. Bestärkt kann man sich, im Hinblick auf die Herausstellung dieser Konfliktlinie, dadurch sehen, dass Musil in späteren Jahren keinen Hehl daraus machte, dass er zwar – so in seinem Tagebuch – sich immer mit Ethik beschäftigen wollte, wie er anlässlich seiner Scheler-Lektüre nach der Emigration aus NSDeutschland eingesteht, dies jedoch auf die Liste seiner Versäumnisse zu setzen hatte.¹⁰ Musils verzögerte Hinwendung zu ethischen Themen mag dem Erbe seiner psychotechnischen Interessen, mit einer gewissen Fixierung auf Messbarkeiten, geschuldet gewesen sein, die sein Werk bis dato dominiert hatten. Bezeichnend hierfür ist, dass in dieser Denktradition die Evokation von Affekten im Vordergrund stand, nicht die für Schelers Ethik wichtigen Qualia und Zusammenhänge – wie sich Bezüge zwischen innerer Empfindung und Intersubjektivität im Fühlen eines persönlichen ‚Leibgedächtnisses‘ aufbauen können.¹¹ Denn anders als beim ‚blinden
Charakter gegenüber den Ansprüchen der Theorie vgl. Hans Blumenberg: Theorie der Lebenswelt. Hg. v. Manfred Sommer. Frankfurt a. M. 2012, S. 27 f. 8 Vgl. Gadamer, Die phänomenologische Bewegung, S. 106. 9 Zu diesem Gedanken vgl. Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt a. M. 2012. 10 Vgl. Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1976, S. 918. 11 Zum Empfindungsbegriff sowie zum ‚Leibgedächtnis‘ vgl. Scheler, Ethik, S. 77 f.
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Affekt‘ – als Ausgelöstem – baut erst die Empfindung – als im Inneren Aufgebautes – im Sich-Empfinden und im Verhältnis zum Anderen einen ethischen Bezug auf.¹² Nimmt man die beiden oben genannten Aspekte – die Phänomenologie als lebensweltliche Beschreibungskunst wie ihre ethische Wachheit – zusammen, so mag sich die Frage einstellen, ob der Musil’sche Versuch der späten Jahre, seinen Mann ohne Eigenschaften – vor allem im Ulrich-Tagebuch – im Entwurf einer Gefühlstheorie aufgehen zu lassen, nicht eine fragliche Unternehmung darstellte. Daher ist im Folgenden das Zweifelhafte dieser Begegnung ins Spiel zu bringen. Dies geschieht in drei Schritten: Zuerst soll die Begegnungsszene zwischen Musil und Scheler skizziert werden – bereits mit Blick auf die werkgenetischen Probleme in den Arbeiten am Mann ohne Eigenschaften. Sodann wird es unternommen, einige Divergenzen herauszuarbeiten, die im Wesentlichen Schelers Sympathie-Lehre und die von Musil formulierte Gefühlspsychologie, seine teils verworfenen Stücke, betrifft. Zuletzt ist – von Schelers Kunstauffassung her – nach dem Ertrag für das Verstehen eines Werks hinsichtlich des bei Musil so schwierigen Herstellungsprozesses zu fragen. Schließlich sollte er am Ende selbst seine Gefühlstheorie als fragwürdige Forcierung des Kunstwerks auf eine theoretische Absicht hin verwerfen – und für einen neuen Anlauf zu kleinen Ausdruckformen zurückkehren.¹³
2 Die Begegnung Musil-Scheler im Umkreis Franz Bleis Die Begegnung Musils mit Max Scheler war werkgeschichtlich keine zufällige. Beide kannten sich seit 1913 über Kaffeehausbekanntschaften: über den Förderer Musils, den Kritiker und Herausgeber Franz Blei, der eine Anlaufstation in Berlin in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war. Man vermutet deshalb, dass es auch Musil als Koautor war, der hinter der Schilderung Schelers in Bleis Großem Bestiarium der modernen Literatur (1922) stand, in dem Scheler als feine Echse karikiert wird, die unerwartet „zahlreiche Eier“ zu legen im Stande sei.¹⁴ Dieses Bild wirkt wie eine Anspielung auf Nietzsches nämliche Inspirationsmetapher aus seiner Morgenröthe (1881): Auch bei ihm waren es ‚göttliche Eidechsen‘, die ihm wie Eingebungen ka-
12 Zur ‚Wertblindheit‘ des Affekts gegenüber dem Empfinden vgl. Max Scheler: Ordo Amoris (1914– 16). In: ders.: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Hg. v. Maria Scheler. Bern 1957 (Schriften aus dem Nachlass, Bd. I), S. 345–376, hier S. 373, sowie ders., Ethik, S. 73 f. 13 Zur „Überschätzung der Theorie“ im Arbeitsprozess des Romans vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Wien u. a. 2000, S. 498. 14 Vgl. Franz Blei: Das große Bestiarium. Baden-Baden 1982, S. 61.
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men – oder besser „erschlüpft(en)“.¹⁵ Scheler war hierbei tatsächlich ein Denker von beträchtlicher Produktivität, mit psychologischen Aufspürsystemen, die ihn zum Diagnostiker seines Zeitalters machten – wie die zwei Bände Zum Umsturz der Werte (1919) nach dem Ersten Weltkrieg bezeugen. Noch in diesem essayistischen Werk verband er auf exemplarische Weise seine „phänomenologische Einstellung“ mit dem kritischen Blick für die „Neuformung unseres Lebens“.¹⁶ In diesen Jahren war der Kontakt Schelers mit Blei – insbesondere vor dem Krieg – besonders fruchtbar und gehört in den Wirkungszusammenhang der zeitkritischen Diagnostik seiner mittleren Jahre. Scheler war damals – wie Musil – Essayist und Rezensent für Bleis Die weißen Blätter (1913–20). Dies belegt auch eine erhaltene Korrespondenz, die sich im Münchner Nachlass Max Schelers erhalten hat. Nebenbei scheint die Bekanntschaft ein Lustspiel Bleis inspiriert zu haben, dessen Titel Logik des Herzens (1916) mit Schelers Hauptwerk, seiner Ethik, ironisch-erotisch zu spielen scheint.¹⁷ Dabei war Scheler für geistige Wendungen berüchtigt, was bereits sein konfessioneller Wechsel vom Judentum zum Katholizismus – und sein Austritt aus diesem – belegt, der ihn auf die Spur der Ethik brachte. Doch blieb er, der von der Psychologie, der seelischen Erfahrung herkam, dem Grundethos der Phänomenologie stets treu. Was verband Scheler mit dieser Bewegung? Es war seine Abneigung gegen theoretische Konstruktionen; es war sein Zug zur intuitiven Wesensschau, wenngleich ihn sein emotionaler Zugang zum Antipoden Husserls machte – und dessen Schüler Heidegger näher rückte, der wohlwollende Worte für dessen Werk fand.¹⁸ Als ein ‚Genie des Herzens‘ hat ihn treffend Gadamer in seinen Erinnerungen beschrieben, der auch dessen dämonische Seite nicht verschwieg.¹⁹ Etwas von dieser Stimme ist mitzuhören, wenn ihn Musil einmal als einen „Entgleisten“ bezeichnet.²⁰ Das ist eine Anspielung auf Schelers gesellschaftliche Ächtung im Kaiserreich nach einer hochschulpolitisch relevanten Liebesaffäre, die ihn zu-
15 Vgl. Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. (1888). In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 6. München 1999, S. 256–374, hier S. 329. 16 Vgl. Max Scheler: Vorrede (1915), in: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehene Auflage. Bd. 1. Leipzig 1919, S. 3–5, hier S. 3 f. 17 Im Briefwechsel findet neben Schelers Essayisten-Tätigkeit auch das Stück Erwähnung, vgl. Franz Blei an Max Scheler ca. 1916/17. Nachlass Max Scheler, Bayerische Staatsbibliothek München. 18 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Frankfurt a. M. 1977, S. 73 u. S. 77. Vgl. hierzu die Anekdote in Manfred S. Frings: [Rez. v.] Bruno Rutishauser: Max Schelers Phänomenologie des Fühlens. In: Philosophische Rundschau 17 (1970) 3/4, S. 234–238, hier S. 238. 19 Für Gadamer war Scheler der ‚passionierte Denker‘ schlechthin; vgl. Gadamer, Philosophische Lehrjahre, S. 71. 20 Zur Begegnung im Frühjahr 1913 in Berlin – vermittelt durch Franz Blei – vgl. Musil, Tagebücher, S. 267.
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nächst aufs Gleis des Privatgelehrten schickte.²¹ Darin liegt eine erste biographische Parallele zum eigenen außerakademischen Werdegang Musils, den es ebenfalls nach Beginn in der Forschung in die freie Schriftstellerei führte. Bezeichnend ist, dass Scheler aus schmerzlichen Rückschlägen stets philosophische Früchte zu ziehen verstand. So entstand in dieser Zeit sein zentraler, erst posthum erschienener Aufsatz Über Scham und Schamgefühl, der das Clair-Obscur des Allzumenschlichen ausleuchtet wie kaum einer. Wie viel Musil von Schelers späterem Aufstieg mitbekam, ist ungewiss. Dass er ihn zur Kenntnis nahm, von seinen wertphilosophischen Schriften hörte, steht fest.²² Das waren jene Arbeiten, in denen Scheler der Epoche ein Ungleichgewicht zwischen den Sphären des Heilsund Religionswissens, der Bildung und ästhetischen Erfahrung sowie dem Anwendungswissen im Geiste der Technik attestierte: mit gefährlicher Schlagseite zu bloßem „Herrschaftswissen“²³. Das implizierte Fragen, die bei Scheler in einer Lehre der „Wissensformen“ zusammenliefen – eine Wertabstufung im Ethischen vornehmend. Diese grundlegenderen Fragen sollten Musil, der in seiner beim Berliner Philosophen und Psychologen Carl Stumpf eingereichten Dissertation noch kritisch die „Vorzüge“ Machs Wissenschaftstheorie würdigte, erst im Laufe seines Schaffens – und nach einer geistigen ‚Kehre‘ – wichtig werden.²⁴ Doch ist auch festzustellen, dass Musils lebenslanges Festhalten an Begriffen wie das ‚Seelische‘ oder ‚Geistige‘ eine implizite Parallele und eine Ambivalenz Musils nahelegen; sie könnten belegen, dass er am Ende nicht ohne persönliches Interesse auf Scheler zurückkam.²⁵ Vertiefen sollte sich Musil in den Denker erst spät: zur Zeit der Emigration und – das ist eine wichtige Beobachtung – in der Phase einer profunden Lebens- und
21 Zum Biographischen vgl. Wolfhart Henckmann: Max Scheler. München 1998, S. 16–39. 22 Vgl. hierzu als Hinweis Bleis Andeutung in: Klagenfurter Ausgabe (CD-ROM-Version). Franz Blei an Robert Musil, 13.12.1915. Mit Dank an Walter Fanta (Klagenfurt). 23 Zum Begriff des „Herrschaftswissens“ vgl. Max Scheler: Die Wissensformen der Gesellschaft. Zweite, durchges. Aufl. Hg. v. Maria Scheler. Bern/München 1960, S. 66. 24 Stumpf, der selbst – wie Husserl – Schüler Franz Brentanos war, stand Musils Dissertation zunächst kritisch gegenüber und veranlasste eine „Umarbeitung“. Musil scheint dem Rechnung getragen zu haben; er beschrieb sein Verfahren schließlich als „immanente Kritik“ Machs; vgl. Musil, Beitrag zur Beurteilung, S. 22 u. S. 136. Zur Einordnung Stumpfs und zu dessen ablehnender Haltung gegenüber Machs Sinnesphysiologie vgl. auch Christian G. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Göttingen 1987, S. 319. 25 Vgl. hierzu Musils spätes Bekenntnis: „Meine Ethik hat, was ich gern übersehe, ein ‚höchstes Gut‘, es ist der Geist.“ Robert Musil: Aus dem Rapial (Nachlaß). In: ders: Prosa und Stücke Kleine Prosa Aphorismen Autobiographisches. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983 (Gesammelte Werke, Bd. 1), S. 824–863, hier S. 843. Auf die Scheler verwandte Unterscheidung zwischen dem ‚Geistigen‘ und ‚Seelischen‘ hat Kevin Mulligan während der Tagung noch einmal hingewiesen.
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Werkkrise. Um 1937/38 macht er in seinem Tagebuch dazu zwei Bemerkungen, die eine Sinnrichtung vorgeben. Dort vermerkt er mit hinterhältiger Ironie: „Max Scheler: Feuriger Kathederhengst, die sonderbarsten Gefühle sprühen ihm aus den Nüstern. Aber doch ein großer Reichtum“.²⁶ Der erste Teil spielt auf die Affäre aus Münchner Tagen an, die Scheler erst die universitäre Anstellung kostete. Doch ist es mehr: ein Hindeuten auf die welterschließende Kraft der Liebe, die eine Parallele zum Problem des späten Mann ohne Eigenschaften nahelegt. Worin liegt sie? Hierzu ist zu wissen, dass ein zentraler Begriff zum Verständnis der Scheler’schen Phänomenologie des emotionalen Lebens der „ordo amoris“ oder – mit Blaise Pascal – der „ordre du cœur“ ist. Dieser Ausdruck ist – so kann man vermuten – ein Wortspiel, in dem die „Ordnung“ den „Ruf“ des Herzens antönen lässt. Der Begriff ordo amoris meint nicht ein bloßes Gesetz oder eine Norm, sondern ein freies Proportionsverhältnis, hinter dem die formierende Kraft der Emotionen zu suchen ist. Zugleich bezeichnet es die Wertverteilungen, die im Kern jeder Ethik aufzuspüren sind. Im gleichnamigen Essay hat Scheler dabei die These aufgeworfen, dass der „ordo amoris“ nichts weniger als die „Kristallformel“ des Gemüts eines Menschen umfasse.²⁷ Zugleich schien er diese Formel nicht auf einzelne Personen beschränkt sehen zu wollen, sondern auf das System von Wertschätzungen ganzer Ethosformen übertragen zu haben. Sie bezeichnet demnach auch das emotionale Feld als schöpferische Kraft. Damit überschreitet Schelers Projekt einer phänomenologischen Ethik – wie in seinem eingangs zitierten Ausspruch angezeigt – unverkennbar den Horizont der Musil damals vertrauten Experimentalpsychologie. Denn über jeden Anschein des bloßen Positivismus hinaus wird in Schelers Ethik ein Anspruch formuliert, den man in der philosophischen Überlieferung unter dem Begriff des ‚guten Lebens‘ kennt.²⁸ Der zweite Teil von Musils Notizen betrifft den Stil des Philosophen: Scheler ist, in der Tradition Nietzsches, darin als ‚Nüsterndenker‘ charakterisiert, so wie dieser einst sein „Genie“ „im Leibe“ vermutete.²⁹ Es gibt eine weitere Bemerkung, die Indiz dafür ist, dass für den exilierten Musil Scheler zunehmend Bedeutung gewann. Dort
26 Musil, Tagebücher, S. 904. 27 Vgl. Scheler, Ordo Amoris, S. 348. 28 Der Neuansatz zur Ethik bei Scheler hatte nicht nur einen „ungeheure[n] Désordre du Cœur unserer Tage“ zum Hintergrund, sondern es ging ihm am Ende darum, wie die „fühlende Person“ auch eine „sittlich wertvolle“ werden könne; vgl. Scheler, Ethik, S. 15. Da klingt nicht von ungefähr der aristotelische Anspruch nach dem ‚guten Leben‘ an, das stets Leben in „Verflochtenheit“ sei; vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. v. Franz Dirlmeier. Stuttgart 2013, S. 14 f. (1097a 1–1097b 12). 29 Vgl. Nietzsche, Ecce Homo, S. 366. Zum leiblichen Denkstil Nietzsches vgl. Heinrich Schipperges: Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1975, insb. S. 46 f. Zur Leiblichkeit Schelers vgl. auch Blei, Erzählung eines Lebens, S. 464.
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berichtet er von der einschneidenden Lektüre der Schrift Wesen und Formen der Sympathie (in der zweiten Auflage von 1923): Schelers Hauptwerk neben der Ethik; ein Buch, das Musil während seiner ausufernden Gefühls- und Liebestheoriearbeiten zum Mann ohne Eigenschaften konsultierte. Musil fügte an dieser Stelle anerkennend hinzu – und das klingt wie ein Säumniseingeständnis –, „daß ich mich wohl immer mit Ethik befassen wollte, aber keinen Zugang wußte, der mir gepaßt hätte. Mit anderen Worten daß ich zu wenig studiert hatte! Denn Scheler hat den Zugang gefunden!“³⁰ Diese ‚Zugangsentdeckung‘ ist eingebettet in eine biographische Notiz seines intellektuellen Werdegangs, die nahelegt, dass ihm Scheler zum Sinnbild einer verpassten Abzweigung und Verdichtungspunkt persönlicher Betroffenheit geworden war. Denn zu seiner eigenen Einstellung zur Ethik fügt er lakonisch hinzu: „Bei der ersten Belastung durch das Leben ist das [sc. sein bisheriges Nachdenken] zusammengebrochen.“³¹ Und dass ihm diese Erfahrung, trotz der Attitüde schützender Ironie, näher ging, als er sich eingestand, könnte eine weitere Bemerkung an dieser Stelle nahelegen: „Melancholische Schwerflüssigkeit“.³² Wohl könnte man – übersähe man dieses Signal der Schwermut – zu der oberflächlichen Annahme kommen, dass Musil im Werk Schelers so etwas wie eine ‚Parallelaktion‘ zu eigenen Bemühungen hatte erkennen können, insofern scheinbar verwandt vom Emotionalen der Zugang zur Ethik gesucht wurde. Dass Musil seelische Ausgleichsfragen von Gemüt und Verstand in diesen Jahren im Exil beschäftigten – Kerngedanken von Schelers Phänomenologie –, legt sein zeitdiagnostischer Versuch über die Dummheit (1937) nahe, in dem er sich mit Gleichgewichtstörungen der kollektiven Seele, der Gefahr ihrer Umkippung, beschäftigte.³³
3 Die Herausforderung Schelers für den späten Mann ohne Eigenschaften Doch die geistige Begegnung zwischen den beiden wird abgründiger, herausfordernder, wenn man eine andere Briefstelle hinzuzieht, in der Musil – wieder iro-
30 Musil, Tagebücher, S. 918 f. 31 Musil, Tagebücher, S. 919. 32 Musil, Tagebücher, S. 919. Der Verfasser stützt sich zudem auf die mündlichen Aussagen Walter Fantas während der Musil-Tagung, der Musils Gemütsverfassung in den letzten Lebensjahren nicht weit von einer klinischen Depression sah. 33 Vgl. Robert Musil: Versuch über die Dummheit (1937). In: ders.: Essays und Reden Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 1270–1291, hier S. 1289 f.
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nisch verklausuliert – eine Gefährdung eingesteht, die von Scheler für seine Gefühlspsychologie als Schlussstein des Romans ausging: „Scheler hat mich noch nicht umgebracht“, heißt es da während der Arbeit an den Druckfahnen 1937, „aber ein wenig besser, und er wäre tödlich.“³⁴ Das lässt aufhorchen, schon ob des larviert suizidalen Untertons. Denn in jenen Monaten sollte Musil seine Konzeption des Mann ohne Eigenschaften grundlegend überdenken und den Theoriekapiteln innerhalb des Werktorsos einen vorläufigen Ruinenstatus zuweisen. Die Wiederkehr Schelers wirkte da wie die Ankunft einer „Krypta“, in der schmerzliche Versäumnisse wie zur Wiedervorlage eintreffen; als hätte ihn durch die Wiederbegegnung etwas ins Mark getroffen – und den eigenen ‚schlummernden Zeugen‘ geweckt.³⁵ Die These ist also, dass die Begegnung mit Scheler ihm sein persönliches Dilemma aufdeckte. Scheler war hier der Phänomenologe, der ihm – als Personifikation – das eigene Innere wieder hervorkehrte. Denn der von Machs Methodendenken geprägte Musil blieb in der Tat – von der Phänomenologie aus – bei einem Gestaltbegriff der Emotionen, einer ‚Geometrie der Gefühle‘, einer Äußerlichkeit stehen – und gelangte so nicht in die Vollzugsdimensionen, die Scheler in seinem SympathieBuch, das Musil damals las, zu öffnen verstand. Erschütternd mag es für ihn gewesen sein zu sehen, wie dessen Auslegungsgespür das erschloss, was man die formierende Kraft der Emotionen nennen kann. Hier dachte einer aus seinen Lebenserfahrungen. Am sinnfälligsten wird dieser Kontrast, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Ulrich – als Protagonist des Romans und Alter Ego seines Autors – in den Tagebuchnotizen das Verstandesvermögen am ‚emotionalen Nullpunkt‘ verortet: Hier habe man die Gefühle, heißt es im Mann ohne Eigenschaften, „möglichst beiseite(zu) lasse(n)“³⁶. Schelers Ansatz läuft auf die entgegengesetzte Annahme hinaus, dass das Herz (und das Lieben), wie eingangs betont, seine eigene ‚Vernünftigkeit‘ habe.³⁷ Beide Autoren wirken – zugespitzt formuliert – wie in unterschiedlichen Klimazonen der Emotionalität beheimatet. In diesem Sinne hat man Ulrich in der Forschung triftig als „Schizothymiker“, als eine Figur der Gemüts- und Bewusst-
34 Robert Musil an Bruno Fürst vom 28. 8.1937. In: ders.: Briefe 1901–1942. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1981, S. 797. 35 Zum „Krypta“-Topos als einer inneren ‚vermauerten Gruft‘ der Seele vgl. das ungarisch-französische Analytikerpaar Nicolas Abraham/Maria Torok: Die Topik der Realität. Bemerkungen zu einer Metapsychologie des Geheimnisses (1971). In: Psyche 55 (2001) 6, S. 539–544, hier S. 541, sowie zur „Krypta“ als einer ‚Stillen Post‘, die durch die Lebensgeschichte eines Menschen geistern kann, Emil Angehrn: Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung. Frankfurt a. M. 2017, S. 144. 36 Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften II. Aus dem Nachlaß hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 2002, S. 1192 f. Im Folgenden zit. unter der Sigle MoE II mit Seitenangabe. 37 Vgl. Scheler, Ethik, S. 82 f. u. S. 260.
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seinsspaltung beschrieben, was ihn weniger als Diagnostiker denn als Symptomträger einer in sich gebrochenen Epoche erscheinen lassen würde.³⁸ Denn diesem Typus entspricht eine seelische Instabilität. So nimmt es nicht Wunder, dass sich jener Ulrich in seinem Denk-Tagebuch mit der „Suggestibilität“, der Täuschungsanfälligkeit der Emotionen auseinandersetzte.³⁹ Zu betonen ist also die Komplementarität bezüglich beider Ansätze: hier bei Musil die bewusste Spaltung zwischen Denken und Emotion, dort bei Scheler das Wort von der „unangemessenen Trennung zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Sinnlichkeit‘“⁴⁰. Während Ulrichs Gefühlspsychologie auf eine Verhaltenslehre zusteuerte, ist die Frage nach dem Sich-Verhalten, einer Ethik des Selbst im Bezug zur Welt, gleichsam vakant. Schelers Sympathie-Lehre aber suchte schon damals den Durchbruch zur Sphäre des „fremden Ich“, zum intersubjektiven „Mit-vollzug“ als „Seins-teilnahme“, ohne die kein „Selbst-verstehen“ möglich wäre.⁴¹ Es lässt sich somit eine Divergenz ausmachen, insofern der eine, Scheler, vom ‚Phänomen‘, der andere, Musil, von ‚Gestalt‘, der eine von ‚Intentionalität des Fühlens‘, der andere von ‚Reiz‘ und ‚Reaktion‘ im Sinne einer ‚Evozierbarkeit der Gefühle‘ sprach.⁴² Nicht zufällig hatte Musil ein Interesse am Affekt, weniger am Entstehen der inneren Empfindung. Gerade die Vorstellung der Evozierbarkeit aber lief bei Musil auf ästhetische Wirkungsabsichten im Geiste von Gefühlserzeugbarkeiten hinaus.⁴³ Diese Wirkungswünsche lassen sich noch in Tagebuchaufzeichnungen aus dem Exil aufspüren: so in der Selbstanklage, in der romanesken Ausdrucksform auf eine „Unfähigkeit“ gestoßen zu sein, überhaupt „wirken“ zu können.⁴⁴ Musil wird in den späten Entwürfen diese Theorie der Gefühle zwar einklammern, indem er vom ‚Historisch-Werden‘ seiner Position im geplanten „Nachwort“ spricht.⁴⁵ Doch die Vergänglichkeit seiner Theorie war nicht intendiert. Sie war affirmativ entworfen: als Zentralstein seiner Wirkungsabsicht, ein Stück, das sich – mit einer Formulie-
38 Vgl. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Münster 1966, S. 7. 39 Vgl. MoE II, S. 1416. 40 Vgl. Scheler, Ethik, S. 259. 41 Zum Ineinander von „Fremdverstehen“ und „Selbst-verstehen“ vgl. Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie. 2. verm. u. durchges. Aufl. Bonn 1923, S. 258. 42 Zu Musils Gestaltbegriff und seiner Wirkungsabsicht vgl. Kevin Mulligan: Musils Analyse des Gefühls. In: Hommage à Robert Musil. Genfer Kolloquium zum 50 Todestag von Robert Musil. Hg. v. Bernd Böschenstein und Marie-Louise Roth. Bern 1995, S. 87–110. 43 Zum Wirkungsbegriff bezüglich seiner Gefühlstheorie vgl. MoE II, S. 1942. 44 Vgl. Musil, Tagebücher, S. 994. Ein Vorbote hiervon schon in: Robert Musil: Die Krisis des Romans (1931). In: Ders.: Essays und Reden Kritik, S. 1408–1412, hier S. 1412. 45 Vgl. MoE II, S. 1941 f.
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rung des Germanisten Richard Alewyn – mit der Zeit aus der Romanform jedoch ‚desintegrierte‘.⁴⁶ Die Diagnose einer Gespaltenheit des emotionalen Lebens zieht dabei innerhalb des Romangebildes noch weitere Kreise. So sticht der Zerfall in eine platonische Liebesform gegenüber einer Eros-geleiteten, hedonistischen Liebe im Buch ins Auge, wie sie Musil biographisch vertraut war. Haben wir einerseits die Geschwisterliebe im Roman, der die fleischliche Leidenschaft fehlt, so anderseits Figuren wie Bonadea, die dem Modell der Mätresse ähneln – ohne dass es zu bleibenden Bindungen käme. Wenn Musil somit äußert, dass das Sympathie-Buch Schelers ihn beinahe „umgebracht“ hätte, so spricht einiges dafür, dass dieser im Kern sein Liebesverständnis im Zweifel zog; denn nach Scheler verbliebe dieses bei lediglich ‚objektaler Liebe‘. Lag die Grundfrage von dessen Sympathielehre darin, nach der jeweiligen „Bewegungsrichtung der Liebe“ zu fragen, so müsste man bezüglich jener im Roman eine janusköpfige Antwort geben: Die Liebe wird hier einerseits erotisiert und andererseits platonisiert.⁴⁷ Nimmt man an, dass sich hinter der Geschwisterliebe Ulrichs und Agathes ein Stück Musil’scher Lebensform verbirgt, dann war die Begegnung mit Scheler eine mit heiklen Einblicken. Musil hat es in seinem Tagebuch selbst vermerkt, wenn er im Katzengleichnis vom „nichtsexuellen Eros“, von der Zuneigung „ohne Annäherung“ spricht.⁴⁸ Dies zeigt sich im Roman an einer Intellektualisierung der Emotionen: Die Protagonisten bemerken, sie seien des „Fühlens müde“. Sie sprächen zwar über diese, doch das Empfinden „verabsäumten“ sie.⁴⁹ Das sind Anzeichen einer Sentimentalisierung, die Scheler als „Schein- und Phantomform“ der Liebe in Wesen und Formen der Sympathie abgehandelt hat. Denn sie verbliebe beim nur „reflexive(n) Hinblicken auf die eigenen Gefühle“ – ohne zu wirklicher Bezogenheit, man könnte sagen einer Liebe im Zeichen der Venus, zu gelangen.⁵⁰ Hatten in diesem Sinne nicht auch Ulrichs mystisch-ekstatische Überlegungen etwas von einer ‚Phantomliebe‘? Die Geschwister sprechen das Zweifelhafte daran an, verwenden den Begriff des ‚Dämonischen‘, wenn sie einräumen, ihre Liebe habe 46 Zur „sophisticated disintegration of the form“ im Spätwerk Musils vgl. bereits Richard Alewyn: Robert Musil. In: Columbia Dictionary of Modern European Literature. New York 1947, S. 561 f. Zur Frage, ob das ‚Diskursive‘ den epischen Kunstgeist bei Musil zum Erliegen gebracht habe, vgl. auch Loredana Marini: Der Dichter als Fragmentarist. Geschichte und Geschichten in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Bern 2001, S. 48. 47 Zur Frage nach der „Bewegungsrichtung der Liebe“ vgl. Manfred S. Frings: Der Ordo Amoris bei Max Scheler. Seine Beziehungen zur materialen Wertethik und zum Ressentimentbegriff. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 20 (1966) 1, S. 57–76, hier S. 59. 48 Vgl. Musil, Tagebücher, S. 1011. 49 Vgl. MoE II, S. 1102. 50 Vgl. Scheler, Sympathie, S. 180.
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etwas vom „markbetäubenden Anhauch des Stilllebens“⁵¹. Pointiert gesagt: Der ordre du cœur mündet hier in die nature morte. Oder mit Musils eigener Wendung: Man stand am „Ufer des Lebens“ statt in dessen Strom. Der Stillleben-Allegorik entspricht hier eine ‚Weltabgewandtheit‘: „Weltflüchtlinge“⁵² seien sie, heißt es einmal. Wenn das als Liebe am „sechsten Schöpfungstag“ – ohne Menschen – firmiert, dann könnte der Abstand zu Schelers Liebe als ‚Weckerin‘, als explorativer Kraft, kaum größer sein.⁵³ Im Stillleben-Gleichnis sind zudem die Abirrungen der Liebe, das délire à deux, die knabenhafte Liebe und noch manch andere Obsessionen aufgehoben, die im Dämmerlicht des Werks zu liegen scheinen. Dass darin eine Bewegungsrichtung auf das ‚misslingende Dasein‘ angedeutet wird, können die späten Dialoge aufzeigen, in denen vom „Unvermögen“ und dem „Mangel“ an „Mut zum natürlichen Dasein“ die Rede ist.⁵⁴ Kurzum, es scheint auf einen Mangel an Liebe hinauszulaufen. Das ist von Kritikern wie dem Poeten und Essayisten Michael Hamburger bemerkt worden, wenn dieser zu bedenken gab, dass uns Musil zwar einen Reigen von Liebesformen und -pathologien vorführt, aber zur ‚Liebessynthese‘ nicht mehr recht fand.Vermutlich hätte die Ausleuchtung dieser „Illusion der Komödie“⁵⁵ – wie sie Hamburger treffend nannte – sie gründlich zerstört, hinter der ein Tragisches, Nicht-Gelebtes in der Umständlichkeit durchschimmerte. Dass die Ästhetisierung der Liebe auch der Form nach in die Krise geriet, deuten Aperçus Musils an: so wenn er in seinen späten Aphorismen notierte, dass die Krise des Romans mit dem „schlechte[n] Gewissen der Liebe“ zusammenhänge.⁵⁶ Hier wird es aufschlussreich sein, sich zu fragen, wie Musil über die Form noch einen Ausweg aus jener existentiellen wie konzeptionellen Sackgasse suchte.
51 Vgl. MoE II, S. 1230 f. 52 Vgl. MoE II, S. 1230. 53 Vgl. Scheler, Sympathie, S. 182. 54 Vgl. MoE II, S. 1231. Zur instrumentellen Liebe oder nur „ichhafter Selbstheit“ als verpasster vgl. auch Ludwig. Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Heidelberg 1994, S. 25 u. S. 282. 55 Michael Hamburger: Vernunft und Rebellion. Aufsätze zur Gesellschaftskritik in der deutschen Literatur. München 1969, S. 142 f. 56 Vgl. Musil, Aus dem Rapial, S. 843.
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4 Das Ulrich-Tagebuch oder Drei Divergenzen zwischen Musil und Scheler Es wurde der Begegnungsrahmen zwischen Musil und Scheler an dieser Stelle geöffnet, um zu verdeutlichen, auf welchem Terrain sich die Divergenzen verorten lassen. Diese sind im Detail in Ulrichs Gefühlspsychologie aufspürbar, auf dessen Status im Romangebilde am Schluss einzugehen sein wird. Ein wesentlicher Unterschied im Verständnis der Emotionen liegt im Verhältnis zu ihrer Dauer und Beständigkeit. In Ulrichs Aufzeichnungen sind Gefühle in hohem Maße volatil. Es ist eine flüchtige Gefühlswelt, der eine Fundierung im Selbst fehlt. So sah jüngst der Phänomenologe Ferdinand Fellmann den Mann ohne Eigenschaften als durchaus fragwürdigen Prototyp einer ‚unverbindlichen Emotionalität‘.⁵⁷ Das Volatile mag ebenfalls ein Mach’sches Erbe in Musils Gefühlskonzeption gewesen sein. Näher liegt es aber, dies als Musils eigene Erfahrung anzusprechen. Die Abzweigung im Verständnis der Emotionen bei Musil und Scheler wird zudem sichtbar, wenn man eine gemeinsame Metapher ins Auge fasst. Bei Musil heißt es, das Gefühl sei kein „Kristall“: „kein Gefühl“ sei „unverwechselbar das“, was es scheine.⁵⁸ Bei Scheler hingegen ist Emotionalität in einer „Kristallformel“, klar und ohne Inklusionen, aufgehoben. Diese enthält – gemäß dem ordo amoris – die Grundlinien des Gemüts einer Person. Zwar weist auch Scheler dem Gefühl nur eine Mittelbarkeit zu; doch ist dieses nicht von sich aus – und nur nachträglich – an einen jeweiligen Gegenstand geknüpft. Zudem gibt es für Scheler – das ist ein entscheidender Unterschied – ein ursprünglicheres „intentionales Fühlen“, wie er es im Schlüsselkapitel Fühlen und Gefühle seiner Ethik entwickelt hat. Gefühlszustände und Fühlen, heißt es, seien „grundverschieden“: jene nur Inhalte und Erscheinungen, diese die eigentlichen „Funktionen ihrer Aufnahme“ – und damit maßgeblich für das Fühlen der Wertmodalitäten in der Welt.⁵⁹ Während es in Ulrichs Notizen so scheint, als sei der Fluchtpunkt des Fühlens nur im eigenen Gefühl, ist die Sache bei dem Philosophen scharf geschieden. Bei Ulrich scheint es dagegen im ichbezogenen Sentiment zu versinken. Bei Scheler variiert die ‚Qualität des Fühlens‘ – nicht das Gefühl. So wirft Scheler ein – als wäre es gegen Ulrichs Sicht gesprochen –, dass es nicht der „Schmerzzustand“ etwa sei, der variiert, sondern ob ich diesen „erleide“, „dulde“ 57 Vgl. Ferdinand Fellmann: Lebensgefühle. Wie es ist, ein Mensch zu sein. Hamburg 2018, S. 119. 58 Vgl. MoE II, S. 1227. 59 Vgl. Scheler, Ethik, S. 262. Zur laut Scheler unzulässigen Zurückführung der grundlegenden Fühlweisen des Liebens und Hassens auf zuständliche Gefühle: „Jeder Versuch, sie auf eine Komplexion von Gefühlen […] zurückzuführen, schlägt fehl.“ (Scheler, Sympathie, S. 169)
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oder – wie der Masochist – „genieße“. In diesem Spannungsfeld liegt denn auch für den Phänomenologen der ethische Selbstbezug – der „Zugang“, den Ulrich, und mit ihm sein Autor, nicht besitzt. Betont Scheler im Gefühl dessen Zuständlichkeit, die er vom Affekt als kurzer, verrauchender Erregungswelle unterscheidet, so geht es ihm vor allem um das „Fühlen von“: dessen intentionalen Charakter. Es geht nicht nur um das eigene Gefühl, sondern um den Bezug im Vorgang des Fühlens auf die ‚Welt‘ und ihren ‚Wert‘. Fühlen – thetisch gesagt – hat Vollzugscharakter: einen welterschließenden Zug, und es verbleibt keineswegs in einer verkapselten ‚Monade‘ des Ich. „Hochmütig“, bekennt Ulrich im Tagebuch schließlich selbst, habe er manches Buch „zugeschlagen“ – genau wie sein Autor anlässlich der Scheler-Lektüre eingestand, ab einem gewissen Punkt mit der neueren „Psychologie“ nicht mehr in „Fühlung“ gewesen zu sein.⁶⁰ In einigen dieser Bücher zur Psychologie wurde in dieser Zeit die Tendenz geschildert, Gefühle nicht mehr als blockartigen ‚Komplex‘ zu denken, sondern vom Fühlen auszugehen. Bei Ulrich mag da die Erbschaft des Machismus präsent geblieben sein, wenn er festhielt, Gefühle hätten „Eigenschaften“, bestehen aus ‚Merkmalskomplexen‘.⁶¹ Doch das Besondere der Emotion – ihre Gerichtetheit und personale Eigenheit – geriet so nicht in den Blick. In dieser Spielart von Gestalttheorie, wie man mit dem Psychologiehistoriker Carl F. Graumann sagen kann, wurden ‚psychische Entitäten‘ aus Data gewonnen: Abstraktionen, hinter denen die Person verloren geht. Es entstanden ‚Eigenschaften ohne Mann‘.⁶² Die Grenzen dieser erkenntnistheoretischen Sichtweise wurden schon in den Lehrbüchern der 1920er Jahre aufgezeigt, als sich einstige Anhänger des psychologischen Positivismus, wie Aloys Müller in Bonn, vom grassierenden Machismus verabschiedeten und Aspekte von Schelers Phänomenologie des Fühlens übernahmen, wie in Müllers Standardwerk Psychologie (1927) nachzulesen ist. Das Werk verweist Mach in die Vorgeschichte einer ‚konstruktivistischen Theorie‘ und wiederholt auf diese Weise den Vorwurf, der ihm von der Phänomenologie aus gemacht wurde.⁶³ Mach hätte keinen Selbstbegriff entwickelt, denke das Ich als „Zusam-
60 Vgl. MoE II, S. 1418. Zum Bezugsverlust zur neueren Psychologie vgl. Musil, Tagebücher, S. 919. 61 Vgl. MoE II, S. 1165. 62 Vgl. Carl F. Graumann: Eigenschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: D–F. Hg. v. Joachim Ritter. Basel 1972, S. 334–339. Zum von Kurt Lewin gestalttheoretisch inspirierten Gefühlsbegriff, den Musil teils übernahm, vgl. auch Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 428 f. 63 Zu Husserls Kritik am „Elementarismus“ in der experimentellen Psychologie bzw. Ästhetik, der die Phänomene aus dem Blick verlieren würde, vgl. Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik, S. 325.
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menhang psychischer Vorgänge“, ohne zum Verständnis einer einfühlbaren Gegebenheit der ‚Seele‘ zurück zu gelangen, was im Übrigen nicht ohne Einfluss auf die Figurenbeschreibung in Musils Roman blieb.⁶⁴ Man mag an dieser Stelle den phänomenologischen Ruf zurück „zu den Sachen selbst“ mithören, insofern der Eigenschaftsbegriff verworfen wurde, um in lebenspraktischer – und therapeutischer – Hinsicht die Person hinter den Gefühlen wieder in den Blick zu bekommen.⁶⁵ Diese Divergenz in der Gefühlstheorie spitzt sich auf eine zweite hin zu: bezüglich des Wesens der Sympathie im Verhältnis zum Anderen. Wie bereits die Musil-Interpretin Renate von Heydebrand mit Rückgriff auf Scheler herausgearbeitet hat, kennt dessen Phänomenologie der Emotionen eine Sympathieform, die für den Mann ohne Eigenschaften große Bewandtnis hat: die „Einsfühlung“. Hierbei beschreibt Scheler diese als entweder „idiopathisch“, bei der das fremde Ich ganz vom Anderen absorbiert wird, oder als „heteropathisch“, wo dieses Ich in seiner Eigenheit sich an den Anderen verliert. Das liegt beispielsweise in der rauschartigen, mit Ulrich, ‚ekstatischen Liebe‘ vor: den Orgien und Mysterien, bei denen gerade kein – wie Scheler sagt – „Wir-bewusstsein“ der Liebenden entsteht.⁶⁶ Der Sachverhalt ist nicht ohne Brisanz: Denn wie Scheler schon in den 1920er Jahren bemerkte, ist ähnlich das Verhältnis von „Masse“ und „Führer“ letztlich „idiopathisch oktroyiert“. Der heroischen Welle im Massenhochgefühl entspricht dabei der ‚depossedierte‘, selbstvergessene Einzelne. Denn Einsfühlung als Massenphänomen ‚schläfert‘, so Scheler damals, die „geistige Individualität“ vielmehr ein.⁶⁷ Das ist die vorweggenommene Figur des ‚Sich-Verlierens‘ an die Führergestalt und dessen charismatische „Suggestibilität“.⁶⁸ Doch Musils Ulrich hat dies damals noch affirmativ im Sinne, wenn er von der „kalten Glut“ des Ichverlusts im Kapitel die Die Wirklichkeit und die Ekstase spricht.⁶⁹ Die Frage, wie diese heikle Seite Musils mit
64 Vgl. Aloys Müller: Psychologie. Berlin/Bonn 1927, S. 264 f. Mülder-Bach hat auf den Einfluss von Machs Funktionalismus für die Erzähler- und Figurenreflexionen bei Musil hingewiesen; vgl. Mülder-Bach, S. 211. 65 Zur dahinterstehenden Frontstellung des Husserl’schen Ordnungsrufs „zu den Sachen selbst“ gegen den „Machschen Mechanismus der Empfindungen“ vgl. Hans-Georg Gadamer: Phänomenologie, Hermeneutik, Metaphysik (1983). In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Tübingen 1994, S. 100– 109, hier S. 101 f. 66 Vgl. Scheler, Sympathie, S. 25. 67 Vgl. Scheler, Sympathie, S. 39. 68 Wie dies „Aufgehen-in und Sich-hingeben-an“ mit der „bereitwillige(n) Suggestibilität“ in Massengesellschaften, einer grassierenden Schwäche an individueller Urteilskraft zusammenhängt, hat während der NS-Zeit der Kulturhistoriker und -philosoph Johan Huizinga herausgearbeitet. Vgl. Johan Huizinga: Im Schatten von Morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit. Bern/ Leipzig 1936, S. 61. 69 Vgl. MoE II, S. 1191.
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den Massenbewegungen des 20. Jahrhundert zusammenhängt, wäre eine eigene. Hier sei nur angedeutet, dass es in Musils Denken auch die Seite des faustischen, von der Gewalt hypnotisierten Zeugen gibt, wie der Literaturwissenschaftler Bernhard Böschenstein hellsichtig nahelegt hat.⁷⁰ Doch zurück zum Problem der Einsfühlung: Würde man daraus, wie im Mann ohne Eigenschaften, das Prinzip einer Paar-Liebe ableiten, so drohe, dass der Andere nicht mehr als dieser empfunden werde. Es drohe eine Anästhesierung, insofern der Andere zum Zeug ‚instrumenteller Liebe‘, zum Objekt der Selbstliebe degradiert werde. Ulrich spricht dies – sein Problem mit dem Anderen – an, wenn er das „Ich liebe dich“ für eine Unmöglichkeit hält; dieses ‚Du‘ sei nur als ein Phantasma vorstellbar.⁷¹ Die Antwort folgt im Roman prompt – und zwar von seiner Schwester Agathe, die ihm vorhält, dass dieser Andere dann „bloß eine Puppe“⁷² wäre. Ulrichs Hinweis auf den „Reiz“ der Sache schließt den Kreis zum Modell einer Art ‚Pygmalion-Liebe‘ ab. Damit hätte man die Unterseite der platonischen Oberseite, die in der Geschwisterbeziehung umkreist wird, in Sicht bekommen. Geht man auf Musils Scheler-Lektüre zurück, so könnte man den Einwand formulieren, dass sich Sympathie nicht in Auflösungsphantasmen oder Projektionen erschöpft.⁷³ Liebe ist keine „quantitative Erweiterung der Selbstsucht“: „Zur Liebe gehört gerade“, so Scheler, „jenes verstehende ‚Eingehen‘ auf die andere, von dem anderen ‚Ich‘ soseinsverschiedene Individualität“.⁷⁴ Auf dies Wort „Sosein“ kommt es in diesem Zusammenhang an. Die Scheler’sche Liebe ist eine, die den anderen lässt, wo er ist, eine hingebungsvolle, die um die Falle der narzisstischen Illusion eines Einsseins weiß. Dies hat Heydebrand herausgestellt, als sie geltend machte, dass die idio- wie auch heteropathische Liebe nicht nur eine ‚autistische Form‘ sei, sondern als Liebesekstase von kurzer Dauer.⁷⁵ Man mag Schelers Bild vom Wechselspiel des „Sichselbst- und Andere-Verstehens“ als romantisch empfinden. In nüchterner Sprache hat das Fellmann jüngst reformuliert, wenn er das „Paararbeit am Selbstbild“ nannte.⁷⁶
70 Vgl. Bernhard Böschenstein: Die Sprengkraft der Miniatur. Zur Kurzprosa Robert Walsers, Kafkas, Musils, mit einer antithetischen Eröffnung zu Thomas Mann. Hildesheim/Zürich/New York 2013, S. 227. 71 Vgl. MoE II, S. 1116. 72 Vgl. MoE II, S. 1104. 73 Zum „,Verstehen‘ des Anderen“ im Unterschied zur „Einsfühlung“ oder emotionalen „Nachahmung“ vgl. Scheler, Sympathie, S. 9. 74 Vgl. Scheler, Sympathie, S. 82. 75 Vgl. Heydebrand, Musil, S. 158. 76 Vgl. Ferdinand Fellmann: Das Paar. Eine erotische Rechtfertigung des Menschen. Berlin 2005, S. 187.
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Doch soll hier nicht unterschlagen werden, dass auch der Mann ohne Eigenschaften mit der reduktionistischen Psychologie seiner Zeit haderte. Hier kommt Ulrich der Wertthematik Schelers am nächsten, wenn er in den materialistischen Seelenlehren der Zeit ein „herabsetzende[s] Verlangen“, eine „Spekulation à la baisse in menschlichen Werten“ erkannte.⁷⁷ Bei Scheler gibt es eine ähnliche Zurückweisung derartiger Nivellierungen: so gegen Sigmund Freuds Reduktion von Geschlechtsliebe auf Trieb, gegen den verengten Begriff der Sublimierung wie gegen die Überdehnung der Libido zum ‚mythischen Wesen‘. Auch ihm erscheint dies Ressentiment und „Spekulation à baisse“, so wie es Ulrich ins Tagebuch notierte, als hätte Scheler die Feder geführt. Doch abgesehen von der Gemeinsamkeit in der Kritik an materialistischen Werttheorien ist ein gewisses Hesitieren im Mann ohne Eigenschaften unverkennbar. Auch dessen Protagonist scheint die Wertunterscheidung von Lust und Unlust zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu machen, hierin dem Lehrmeister Nietzsche treu, der in Menschliches, Allzumenschliches (1878) eine hedonistisch-epikurische Weltsicht zum Ausgangspunkt in den Wertfragen machte.⁷⁸ So werden bei diesem die Fragen der Lust wie des Guten und Bösen immer wieder vermengt, worin sich Nietzsches eigene Spekulation „à la baisse“ – für Scheler ein biologistisches Liebesverständnis – anzeigt.⁷⁹ Insofern ist ein drittes Divergenzfeld nun aufzumachen, gleichwohl eines mit Annäherungen. Scheler unterscheidet „Tiefenlagen“ des Gefühls: zunächst die sinnlichen Gefühle oder auch Vitalaffekte, die am unmittelbarsten – wie Lust und Unlust – an den Leib gebunden sind.⁸⁰ Davon geschieden sind „Lebensgefühle“: aufsteigendes oder sinkendes Leben, zu denen er affektive Reaktionen wie Scham- und Angstempfinden zählt, haftet ihnen doch Unwillkürliches an; sie stehen in der Zeit und deuten auf Kommendes.⁸¹ Bemerkenswerterweise wird sich Ulrich am Ende seiner Notizen – in den zwei ‚Gefühlswelten‘ – für den wahlverwandten Stimmungsbegriff öffnen.⁸² Scheler differenziert aber noch weiter – und stellt genuin ‚seelische Gefühle‘ heraus: solche wie Leid und Trauer, die zwar selbstbezogen, aber nicht unserer
77 Vgl. MoE II, S. 1144. 78 Vgl. MoE II, S. 1141. 79 Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (1878). Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 2005 (Kritische Studienausgabe, Bd. 2), S. 100. 80 Vgl. Scheler, Ethik, S. 331–345. 81 Ähnlich hatte bekanntlich Heidegger der Angst eine daseinserschließende Kraft zugewiesen.Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. 9. Aufl. Tübingen 2006, S. 182. 82 Vgl. MoE II, S. 1197 f. Zur späten Unterscheidung der zwei Gefühlswelten vgl. Erhard von Büren: Zur Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils. Zürich/Freiburg 1970, S. 160 f. Ideengeschichtlich ist nicht unwichtig, dass sich in dieser Zeit auch der Phänomenologe Bollnow – ausgehend von Heidegger – einer Differenzierung des Stimmungsbegriffs – im Unterschied zum Gefühl – widmete. Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen. Frankfurt a. M. 1968, S. 34–38.
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Willkür unterworfen sind. Der späte Ulrich wird von ‚kontemplativen Gefühlen‘ reden. Dies spräche im Übrigen für eine Wandlung seiner Haltung im Laufe des Tagebuchs, was man eine ‚Entwicklung in Begriffen‘ nennen könnte.⁸³ Scheler geht jedoch noch einen Schritt weiter: Für ihn bilden die Persönlichkeitsgefühle die tiefste Ebene des Menschen, die er ins Spannungsverhältnis zwischen Verzweiflung und Heiterkeit setzt. Was Scheler an Tiefenunterscheidungen einführt, hat sein Echo so in den Wertmodalitäten: Bilden die ‚Empfindungsgefühle‘, wie Genießen und Erleiden, die basalste Ebene, so macht er auch lebensschädliche Irritationen aus, mit denen die Ethik zu tun hat. Doch erst im vitalen Fühlen siedelt Scheler Gut und Böse an, die – gegen Nietzsche gesprochen – nicht zum engeren Kreis der Lustbefriedigungen gehören. Dort werden die Fragen des Wohls, des Lebensgefühls im Spektrum zwischen Mut und Ängstlichkeit berührt. Erst auf dieser Ebene, der eines ‚geistigen Fühlens‘, sieht er das Lieben und Hassen, wie die Wertfragen des Schönen und Hässlichen, des Wahren und Unwahren, kurzum die Wertsphäre der Kultur angesiedelt. Aufschlussreich ist dabei Schelers Verortung des Künstlers in diesem stratifizierten ethischen Wertkosmos: Er sieht ihn zuvorderst als ‚Pionier der Seele‘ – so in der Nachlassschrift über die Arten des Genius. Der Dichter habe sich hier mit seinen Vermögen ins ‚Ungesagte‘ der Lebenswelt vorzutasten und die „Hemmungen und Schemata“ seiner Zeit, wie er im Schluss des Sympathie-Buchs andeutet, zu überwinden.⁸⁴ Angesichts dieser Widerstände des Lebens sieht er den Künstler damit als ‚Zeugnisgeber‘ auf der Spur eines „notwendigen Leiden(s)“: „Das Kunstwerk ist Zeugnis“, so Scheler, „Darbietung der Konzeption für andere.“⁸⁵ Damit wird deutlich, dass Scheler das ureigenste Terrain des Dichters nicht nur auf dem Gebiet der Denkemotion sieht, sondern diesem eine Rolle in emotionaler ‚Hebammenkunst‘ zuweist. Kunst ist – herstellungsseitig gesehen – kein l’art pour l’art, sondern im Mitsein, im Vorstoß und im Aufdämmern neuer Wertsphären verankert.⁸⁶
83 Vgl. MoE II, S. 1239. 84 Vgl. Max Scheler: Arten des Genius. In: ders.: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Hg. v. Maria Scheler. Bern 1957 (Schriften aus dem Nachlass, Bd. I), S. 326–339, hier S. 335, sowie ders., Sympathie, S. 292 f. 85 Vgl. Scheler, Arten des Genius, S. 336. 86 In dieser ethischen Dimension der Kunst läge im Übrigen eine Brücke von Scheler zu Lévinas’ Auffassung der Literatur als ein mögliches ‚Wachrütteln‘ des Anderen im dichterischen Zeugnis.Vgl. Emmanuel Lévinas: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur. München 1988, S. 11.
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5 Musils Werkkrise oder Zurück ins Geschehen der Literatur Was für Konsequenzen hat das bisher Gesagte für einen Blick auf Musils Romanpoetik? Sichtbar wird, dass Ulrichs Tagebuch allein keinen Schlüssel zu Musils Scheler-Verhältnis enthalten kann, sondern dass dieses nur – mit Scheler – in der ganzen „Darbietung der Konzeption“, in der Geste seines Werks, zu suchen ist. So ist zu konstatieren, dass Musil seinerseits eingestanden hat, inwiefern seine erklärende Gefühlstheorie störend im Romangefüge stehen musste. Sie steht gegen jene Bestimmung des sprachlichen Kunstwerks, das, nach einer schönen Bemerkung Schelers, die gewohnten begrifflichen „Schemanetze“ immer schon zu „überflügeln“ habe.⁸⁷ Das darin mit aufgerufene Problem zeigt sich, beim Umgang mit Musils Roman, schon dem Sprachgefühl des Lesenden: Man hat im Nachvollzug gelegentlich den Eindruck, der Duktus verliere sich in erklärender Mitteilungsprosa, büße die innere Spannung und seinen explorativen Geist ein. Diese entsprangen bei Musil dem ‚Mark‘ seiner Bilder, überraschenden anschaulichen Wendungen. In den theorielastigeren Teilen seines Mann ohne Eigenschaften jedoch rang er mit Formen von Terminologie: einem engen, dichtungsfernen Sprachbereich.⁸⁸ Das ist der Kritik nicht entgangen. Hamburger etwa sah darin zwar einen ‚Konzentrationsversuch‘ – leider aber unter „Ausschluss“ des Erzählens und Überhandnehmen der Unterbrechungen.⁸⁹ Musil wusste um diese Gefahr, dass die Unterbrechung des Romans zugunsten eines „Essay[s] von ungeheuren Dimensionen“ auch auf einen toten Punkt zusteuern konnte: Er sprach später nicht nur von einer „Überschätzung der Theorie“, sondern gar in der Nachwortskizze die „Entschuldigung“ aus, dass er ins ‚Erklären‘ statt ‚Zeigen‘ geraten sei.⁹⁰ Im Überarbeitungsprozess hat Musil daher versucht, aus dem Gestrüpp des Terminologie-Monologs herauszufinden, in dem er teils den Gehalt seiner Überlegungen in Dialoge reintegrierte. Vielsagend ist hierbei, dass die Überführung seiner Gefühlstheorie in
87 Vgl. Scheler, Sympathie, S. 292 f. 88 Zum Unterschied von Terminologie zum vollen Umfang der Worte vgl. auch Hans-Georg Gadamer: Zu Poetik und Hermeneutik (1968/71). In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Tübingen 1993, S. 58– 69, hier S. 59. 89 Vgl. Hamburger, Vernunft und Rebellion, S. 150. Zu Möglichkeit und Gefahr der Unterbrechung im Roman vgl. auch Wolfgang Iser: Laurence Sternes „Tristram Shandy“. Inszenierte Subjektivität. München 1987, S. 78–90. 90 Vgl. MoE II, S. 1942. Zu diesen Gefahren im Essayroman vgl. schon ders., Die Krisis des Romans, S. 1410. Zur„Überschätzung der Theorie“ vgl. auch Fanta, Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, S. 498.
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den Dialog – ins Intersubjektive – herstellungsgenetisch in die Zeit seiner Wiederbegegnung mit Scheler fiel. Ein Zufall? Festhalten kann man jedenfalls, dass diese ‚kleine Werkwende‘ im Zeichen eines Heraus aus der Theorie und eines Hinein in die „vorgegebenen Beziehungen“ innerhalb des Romangebildes steht. Also ein Zurück „zu den Sachen selbst“? – könnte man fragen, insofern der Dialog ein Rückgang ins Fühlen zwischen den Menschen impliziert: dort, wo Scheler bekanntlich das Empathievermögen des Menschen ‚lebensweltlich‘ angesiedelt hat.⁹¹ Mit Blick auf die letzten Romanteile bedeutet das: Musil fasste den Entschluss, sich wieder aus der Abstraktion des Tagebuchs heraus und in die Konkretion des Geschehens hineinzubewegen, in jene innere Bewegtheit des Romangewebes. Musil hat in seinen Gedanken zur Umarbeitung diesen hermeneutisch zu nennenden Geschehensbegriff selbst ins Spiel gebracht, wenn er schrieb: „Ein Gespräch muss in ein Geschehen münden.“⁹² Damit wird nicht nur die Überschätzung der Theorie eingeräumt, sondern dieser ein anderer Status innerhalb der Komposition zugewiesen. Dafür ließe sich der Ausdruck einer konzeptuell verworfenen „Präfiguration“ in Anwendung bringen.⁹³ Die Theorieteile wurden zu Werküberresten einer überkommenen Formvorstellung: Wrackteile eines psychologischen Romans, der an seiner theoretischen „Selbstthematisierung“ zu erstarren drohte.⁹⁴ Der Zahn der Zeit hatte also an den Theoriestücken im Mann ohne Eigenschaften sein Werk getan, sodass Musil im geplanten „Nachwort“ seine Gefühlspsychologie nicht mehr für sich verstanden wissen wollte, sondern als ein literarisches Zeugnis, als Teil einer „Weltbeschreibung“ auslegte.⁹⁵ Man horche auf: Aus den Partien einer gewissen Weltarmut wurden wieder Stücke zur Beschreibung einer untergehenden Menschenwelt. Der Anhauch des Epochenabschieds geht da durch die Zeilen, wenn der Autor in lakonischen Worten von „Anachronismen“ in seiner „Darstellung“ spricht, die nun „zw[ischen] damals u[nd] heute“ stehen würden. Zeitzeugnisse der erlebten Einbrüche: Umbrüche in der Lebenswelt. So
91 Ein Begriff, „Lebenswelt“, welchen im Übrigen nicht erst Husserl prägte; schon Scheler sprach von einer „Lebewelt“, auf die unser jeweiliges Lebensgefühl bezogen sei. Vgl. etwa: Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl (1913). In: ders.: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Hg. v. Maria Scheler. Bern 1957 (Schriften aus dem Nachlass, Bd. I), S. 65–154, hier S. 70. 92 So brieflich, zit. n. Fanta, Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, S. 502. 93 Zum aus der Kunstgeschichte entliehenen Begriff vgl. Joseph Gantner: Formen des Unvollendeten in der neueren Kunst. In: Das Unvollendete als künstlerische Form. Hg. v. J.A. Schmoll. Bern/ München 1959, S. 47–59, hier S. 57. 94 Zum grundlegenden Zug des Romans zur „Selbstthematisierung“ vgl. schon Hans Blumenbergs mündlichen Beitrag in Hans-Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. München 1969, S. 226. 95 Vgl. MoE II, S. 1941 f.
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erlebt der Mann ohne Eigenschaften, in diesem untergründigen Ohnmachtsgefühl, noch einmal eine für die Zeitsensibilität, das zeitkritische Ferment des Romans, so bezeichnende melancholische Wendung.⁹⁶ Man könnte das eine hermeneutische Erfahrung an der Form nennen, insofern der Roman hier selbst – um sich zu behaupten – noch einmal der Zeit und ihrem zerstörerischen Werk gegenüber sich zu öffnen hatte.
6 Schluss: Drei Gedanken und ein Rettungsversuch im Kleinen Gerade angesichts dieser späten Verwerfung des Autors ist noch einmal der Weg zu rekapitulieren, der an dieses poetologische Eingeständnis heranführte. Schon eingangs des Beitrags sollte Skepsis angebracht werden gegenüber einer allzu leichten Ineinssetzung von Musils Bestrebungen auf dem Feld der Gefühlslehre mit einer Phänomenologie des emotionalen Lebens, wie sie Scheler seit der Abfassung seiner Ethik beschäftigte. Anhand seiner Erforschung der Emotionalität wurden drei Divergenzfelder ausgemacht: Zunächst die grundlegende „Aktnatur der Liebe“ bei Scheler, der diese nur als Teilhabe kennt. Sie zog die Frage nach sich, ob man es bei Musil nicht mit einem Haftenbleiben an konstruktivistischen Vorstellungen – wie ‚Gestalt‘, Liebe als ‚Objekt‘ oder Gefühl als ‚Gegenstand‘ – zu tun hat. Damit einher ging ein schärferes Unterscheiden von Gefühl und Fühlen. Letzteres warf die Frage auf, inwiefern bei Musil Formen einer‚Sentimentalisierung der Emotionen‘ gegeben sind, die Scheler als „Phantomliebe“ kritisierte. Die Einsicht war verbunden mit Schelers Einwurf, das ‚Sosein‘ des Anderen nicht zu übergehen. Es ist eine Frage, die jene nach dem Gelingen und Misslingen von Liebe stellt, wie sie Musil selbst unter der bezeichnenden Kapitelüberschrift Es ist nicht einfach, zu lieben ins Spiel brachte. Zieht man so die Summe dieser Betrachtung, stellt sich für den Verfasser kritisch die Frage nach der Angemessenheit eines solchen Zugangs zur Literatur. Denn alles Wissen ist nur so viel wert, wie es zur Aufhellung eines Werks beiträgt, doch hat dieses hinter den menschlichen Erfahrungen zurückzutreten. Statt Musil also auf der Ebene einer Theoriebetrachtung festzulegen, ist hier am Ende vorzuschlagen, das Credo eines Zurück „zu den Sachen selbst“ literaturhermeneutisch ernst zu nehmen. Das hieße, nach dem Wesen und Wert eines Werks – noch mit Blick auf dessen herstellungsästhetische Irrgänge – zurückzufragen. In dieser 96 Zur grundlegenden „Ohnmacht des Subjekts“ vor der verstreichenden Lebenszeit, die im modernen Roman paradigmatisch ihren Ausdruck fand, vgl. Iser, S. 104.
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Hinsicht muss Musil – produzentenseitig – etwas von diesem ethisch-ästhetischen Ordnungsruf vernommen haben, wandte er sich in den letzten Jahren instinktsicher der kleinstmöglichsten Prosaform, dem Aphorismus, zu. Gerade die Gedankensplitter seines Rapial (1937–42) lesen sich da vor dem Hintergrund der beschriebenen Werkkrise wie der Versuch, einen neuerlichen Testraum zur Selbstprüfung zu etablieren, der poetologisch einen Weg ins Offene hätte weisen können.⁹⁷ Gut möglich, dass die „disintegration of the form“, wie Alewyn die Romanreste mit ihrer ‚Theorieruine‘ charakterisierte, notwendig wieder beim Gedankensplitter ansetzen musste, der im Zeichen der Katastrophe der 1930–40er Jahre auch zu einem „Spiegel der Zeit“ wurde.⁹⁸ In der Verabschiedung der Theorie lag somit ein Rettungsversuch, sich aus dem Selbstwiderspruch zwischen theoretischer und künstlerischer Ambition zu befreien. Gleichsam der Versuch eines heilenden Wechsels in der ‚Kunsttätigkeit‘.⁹⁹ Wahrhaftig wirkt diese späte Produktion daher in jenem Klein-Werden der Sprache: dort, wo Musil etwas von seiner Melancholie einzuwickeln verstand, ein Stück Zusammenbruchserfahrung allegorisierte.¹⁰⁰ Hier verpackte der Autor etwas vom Lebensrätsel, das in den Roman nicht mehr recht einging. Was könnte das für den Deutenden heißen? Vielleicht jenes, der Form als Ausdruck existentieller Fraglichkeiten wieder die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Und das hieße mit Musil: keine ‚Welterklärung‘, aber – fast phänomenologisch – „Weltbeschreibung“.
Literaturverzeichnis Abraham, Nicolas/Maria Torok: Die Topik der Realität. Bemerkungen zu einer Metapsychologie des Geheimnisses (1971). In: Psyche 55 (2001) 6, S. 539–544. Alewyn, Richard: Robert Musil. In: Columbia Dictionary of Modern European Literature. New York 1947, S. 561 f. Alewyn, Richard: Hofmannsthal und diese Zeit (1948). In: ders.: Über Hugo von Hofmannsthal. Göttingen 1963, S. 5–13.
97 Zu den inneren „Schwächen“ des Romanautors vgl. Musil, Aus dem Rapial, S. 826 f. 98 Vgl. Alewyn, Robert Musil, S. 826 f., sowie zur ‚Splitterästhetik‘ im Zeichen des geistigen Zusammenbruchs der 1940er Jahre ders.: Hofmannsthal und diese Zeit (1948). In: Ders.: Über Hugo von Hofmannsthal. Göttingen 1963, S. 5–13, hier S. 12. 99 Scheler selbst, dem Begriff und Blickwinkel hier entnommen ist, hatte in seinen sporadischen Versuchen zur Kunst einen produktionsseitigen Blick auf diese. Sein Ansatz ist in dieser Hinsicht noch unausgeschöpft vgl. Scheler, Sympathie, S. 291. 100 Dieses Zusammenkommen von Krisendiagnose und Rückgang zu den „kleine(n) Betrachtungen“ und „Nebensachen“ hat Musil schon als Programm angekündigt. Vgl. Robert Musil: Nachlaß zu Lebzeiten. Zürich 1936, S. 8. Zum Versuch einer Krisenüberwindung im Kleinen vgl. auch Fanta, S. 529.
Max Schelers Phänomenologie als Herausforderung für den späten Musil
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Flegeljahre der Psychologie. Ulrichs geschichtlicher Abriss der Gefühlspsychologie Abstract: Ulrichs gefühlspsychologische Aufzeichnungen aus den Druckfahnenkapiteln von 1938 sind grundiert von der bedrohlichen Überlegenheit kollektiver ekstatischer Zustände, wie sie wissenschaftlich während des Ersten Weltkriegs postuliert wurden. Ulrich konturiert demgegenüber einen individualistischen gefühlspsychologischen Ansatz, der die Möglichkeiten unbestimmter, in der Schwebe gehaltener Gefühle auslotet. Die Ablehnung zielgerichteter, penetrativer Gefühle ist eine Absage an die Welt von Gewalt und Krieg, aber auch eine Absage an ein letztgültiges Telos des Romans.
Die umfassenden Notizen Ulrichs zur Gefühlspsychologie, die in den Druckfahnenkapiteln von 1938 als Tagebucheintragungen enthalten sind, wurden in der Forschung häufig als theoretisches Fundament des anderen Zustandes gelesen,¹ wiederholt auch zur Analyse des Gefühlslebens von Romanfiguren herangezogen,² für Lesarten des Inzests als zentral beschrieben,³ aber auch als signifikant für das Stagnieren des Schreibprozesses, mithin für die scheiternde Fertigstellung des Romans hervorgehoben – der Beginn einer inzestuösen Geschwisterliebe werde durch theoretische Vorüberlegungen immer weiter aufgeschoben. Dabei bestehen kaum Zweifel darüber, wie sehr für Musil ein „emotio-rationales und senti-mentales
1 Bereits in der älteren Forschung, wenn Renate von Heydebrand die ekstatischen Gefühle als „Kernstück seiner Gefühlspsychologie“ bezeichnet: Dies.: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. 2. Aufl. Münster 1969, S. 124. 2 Am Beispiel der Diotima vgl. etwa Catrin Misselhorn: Musils Gefühlstheorie im Kontext der neueren emotionstheoretischen Debatte und die Möglichkeit falscher Gefühle. In: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan und Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 33– 54, hier S. 42–54. Misselhorn spricht davon, der Roman weise Figuren auf, die als „literarische Fallstudien“ zur Gefühlspsychologie Ulrichs zu lesen seien (S. 54). 3 Vgl. Inka Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 428: „Denn offenbar – so jedenfalls legt es das kompositorische Gerüst der Druckfahnen nahe – entstehen Ulrichs gefühlspsychologische Aufzeichnungen parallel zu den Erlebnissen mit Agathe und verhalten sich zu diesen wie die Theorie zu einem Experiment.“ https://doi.org/10.1515/9783110988352-003
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Denken“⁴ ins Zentrum seiner Dichtungstheorie führt, die „Gefühlserkenntnisse“⁵ im Spannungsfeld von empirischer Naturwissenschaft und ethisch konturierter Dichtung auszuloten trachtet. Musils Gefühlspsychologie bewegt sich damit auch im Spannungsfeld von Gewalt und Liebe, wobei jener transitorische andere Zustand, der hier aufs Engste mit dem Tabubruch des Geschwisterinzests verbunden ist, jenseits gesellschaftlicher Konventionen und staatlicher Normierungen angesiedelt ist. Ulrich, der in einer früheren Fassung des Romans ‚Anders‘ heißen hätte sollen, entwickelt eine Gefühlspsychologie, die immer auch im Gegensatz zur kriegsbereiten Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg gesehen werden muss – radikal individualistisch, Möglichkeiten des Gefühlslebens entfaltend, die sich dezidiertem Handeln entziehen, sich letztlich in Kontemplation und in der Schwebe gehaltenen Stimmungen der Wirklichkeit, dem Staat, dem Krieg mithin verweigern. Ruft man in Erinnerung, welch wirkmächtige gefühlspsychologische Entwürfe den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begleiteten, so wird deutlich, wie sehr sich Musil im Gegensatz dazu in den Druckfahnenkapiteln einem konsequenten Individualismus verpflichtet. Wilhelm Wundt, der als Pionier der experimentellen Psychologie gilt, erkennt im Krieg eine Erregung der Affekte, ein Gemeinschaftsgefühl, das Völker und Staaten begründen könne: […] der Krieg, der die Leidenschaften weit mächtiger erregt, als es andere in den Verlauf des Lebens eingreifenden Ereignisse jemals tun können. Und was für den einzelnen, das gilt womöglich in erhöhtem Maße auch für die Völker: im Affekt äußert sich der Charakter der Menschen offener, rückhaltloser als im gewöhnlichen, ruhigen Verlauf.⁶
Der Krieg wird mit Wundts völkerpsychologischen Thesen von 1915 damit zu einem großen Versprechen eines affektiven Erlebnisses, das die Individuen durch den bellizistischen Ausnahmezustand in eine Gemeinschaft zu überführen vermöge und eine stabile staatliche Ordnung stifte. Mit dieser „Erlösungshoffnung im Horizont eines apokalyptischen Krieges“⁷ steht der experimentelle Psychologe Wundt keineswegs isoliert unter den Gefühlsanalytikern jener Zeit da. Max Scheler, der
4 Robert Musil: Analyse und Synthese. In: ders.: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Reinbek b. Hamburg 2000, S. 1008 f., hier S. 1008. Zur Bedeutung einer ‚emotio-rationalen Literatur‘ für Musils Essayismus vgl. Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays. Heidelberg 2009, S. 28–41. 5 Robert Musil: Novelleterlchen. In: ders., Prosa und Stücke, S. 1323–1327, hier S. 1324. 6 Wilhelm Wundt: Die Nationen und ihre Philosophie. Leipzig 1915, S. 77. 7 Michael Neumann: Die Physik der Moral. Eine Fallstudie zur Formierung der Gefühlskultur ‚um 1900‘. In: Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880– 1930. Hg. v. Uffa Jensen und Daniel Morat. München 2008, S. 153–167, hier S. 167.
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dem Idealismus verpflichtete Phänomenologe, postuliert unter dem sprechenden Titel Der Krieg als Gesamterlebnis von 1915 die Überlegenheit kollektiver Gefühlsempfindungen gegenüber dem Empfindungsvermögen des Einzelnen: Nein! Sonnenklar ist es uns geworden, daß dieses Miteinander des Erlebens, Schaffens, Leidens selbst eine eigentümliche letzte Form allen Erlebens ist, daß in dieser Form einer wahrhaft ‚gemeinschaftlichen‘ Denk-, Glaubens- und Willensweise positive und neue Gehalte auftreten, die in keiner möglichen Summe der Erlebnisse Einzelner je liegen können, da sie einer ganz anderen Seins- und Wertzone angehören, die dem einzelnen als Einzelnem zugänglich sind.⁸
Schelers Analyse des Kriegserlebens als einer „anderen Seins- und Wertzone“ weist auf einen anderen Zustand hin, der als kollektive Ekstase begriffen werden muss und dabei auch als produktive Seinsweise verstanden wird, die „positive und neue Gehalte“ hervorbringt. Selbst bei der Arbeit an den Druckfahnenkapiteln ist Musil jener andere Zustand des Krieges als kollektive Ekstase noch präsent, lässt er doch Ulrich das In-den-Krieg-Ziehen als das einzige männliche Glück bezeichnen.⁹ Bemerkenswert ist folglich, dass die ausführlichen theoretischen Überlegungen Ulrichs zur Gefühlspsychologie sich auf einen konsequent individualistischen Ansatz verpflichten und damit jenen Überlegenheitsgestus kollektiven Gefühlsempfindens, wie er etwa bei Wundt und Scheler 1915 seinen Ausdruck fand, auszuklammern scheinen. Erinnert sei hier an eine Formulierung Musils bereits vom Februar/März 1913 in dem Essay Moralische Fruchtbarkeit: „Die Moral beginnt aber eigentlich erst in der Einsamkeit, die jeden von jedem trennt.“¹⁰ Der Krieg, dem die Zeitgenossen wenig später eine eminent moralische Bedeutung zuschrieben, wird im Sinne dieser Argumentation zum sekundären „Hilfserlebnis“¹¹ herabgestuft, das keine Moral begründe, sondern dazu verhelfe, „wieder zu Gefühl zu kommen“¹². Musils „individualistischer Perspektivismus“¹³ konturiert folglich eine Gefühlspsychologie, die vom Einzelnen ausgehend auf einen Reichtum an Empfindungsmöglichkeiten abzielt, der sich gegen Konformismus und kollektive Gefühlszustände wendet. Von dieser Annahme ausgehend lassen sich schließlich auch keine allgemeinen Gesetze
8 Max Scheler: Der Krieg als Gesamterlebnis. In: ders.: Krieg und Aufbau. Leipzig 1916, S. 1–20, hier S. 3. 9 Vgl. hierzu Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Wien/Köln/Weimar 2000 (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 49), S. 496. 10 Robert Musil: Moralische Fruchtbarkeit. In: ders., Prosa und Stücke, S. 1002–1004, hier S. 1003. 11 Musil, Moralische Fruchtbarkeit, S. 1003. 12 Musil, Moralische Fruchtbarkeit, S. 1003. 13 Sabine A. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999, S. 206.
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konstruieren, die im Sinne einer universal gültigen Moral normative Autorität beanspruchen. Anders gewendet ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass die Gefühlspsychologie-Kapitel im Medium der Sprache sich einem radikalen Individualismus widersetzen. Changierend zwischen Tagebucheintrag, Essay und Romanhandlung zielt die minutiöse sprachliche Beschreibung von Gefühlszuständen auf Mitteilung, damit auch auf gesellschaftliche Relevanz: „Denn ebenso wie Sprache kein passives Abbild dessen liefert, was sie beschreibt, sondern das Beschriebene aktiv formt, projiziert und konstituiert, ist sie auch kein individuelles Unterfangen. Wörter und Begriffe dienen der intersubjektiven Verständigung und müssen deshalb mitteilbar sein.“¹⁴ Musils Ansatz, Gefühlspsychologie als Tagebucheintrag und Essay zu entwickeln, lässt sich auch hier als Gegenentwurf zu einer ästhetischen Kriegserfahrung verstehen, die sich als „irrationale Worträusche“¹⁵ manifestierten. „Krieg ist das gleiche wie ‚a[nderer] Z[ustand]‘“¹⁶ hatte Musil 1932 notiert, ein Gefühlserlebnis, das im Hintergrund Ulrichs sorgfältige Aufzeichnungen zur Entwicklung von Gefühlen prägt. Ja, noch mehr: Ulrichs Ausführungen zu einer Geschichte der Gefühlspsychologie verfolgen implizit die These, dass die wissenschaftliche Erforschung der Gefühle nicht jene Methode sein könne, kollektiven kriegerischen Gefühlsekstasen entgegenzutreten. Die naturwissenschaftliche Gefühlspsychologie verharrt in einem Zustand des ‚Noch nicht‘. Als sich der Erste Weltkrieg 1918 seinem katastrophalen Ende zuneigte, verfasste Musil eine Skizze zu Franz Blei, in der die Aufgabe des Dichters wie folgt charakterisiert wird: „Die Artikulation des Gefühls durch den Verstand, die Wegwendung des Verstands von den belanglosen Wissensaufgaben zu den Aufgaben des Gefühls, das ist das Ziel des Essayisten, mit dem ferneren Ziel der menschlichen Seligkeit.“¹⁷ Artikulation des Gefühls durch den Verstand – so wird das Ziel des Essayisten hier benannt. Ulrichs gefühlspsychologische Erörterungen verweisen folglich auf eine zentrale Auffassung der Gattung des Essays, wie Musil sie am Ende des Ersten Weltkriegs begriffen hat. Die hier skizzierte Argumentationslinie greift im Fol-
14 Ute Frevert: Vergängliche Gefühle. 2. Aufl. Göttingen 2013 (Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge, Bd. 4), S. 11. 15 Karlheinz Rossbacher: Mathematik und Gefühl. Zu Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. In: Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Französische und österreichische Beiträge. Hg. v. Sigurd Paul Scheichl und Gerald Stieg. Innsbruck 1986 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Bd. 21), S. 127–139, hier S. 134. 16 Vgl. hierzu Kevin Mulligan: Selbstliebe, Sympathie und Egoismus. In: ders./Armin Westerhoff (Hg.), Robert Musil, S. 55–73, hier S. 70. 17 Robert Musil: Franz Blei. In: ders., Prosa und Stücke, S. 1022–1025, hier S. 1024.
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genden Musils Interesse an nonkonformistischen Gefühlszuständen auf, um diese in einem weiteren Kontext von Wissenschaftsgeschichte und Geschichtsphilosophie zu verorten.
1 Psychoanalyse und Gefühlspsychologie Robert Musils kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse über Jahrzehnte hinweg ist in der Forschung wiederholt in den Blick genommen worden. Dabei wird für die Zeit bis 1914 bei Musil mit Oliver Pfohlmann gar von einem Bedrohungsszenario gesprochen: Die als Dichtung verstandene Psychoanalyse gefährde den Primat der Literatur.¹⁸ In diesem Kontext verortet auch Hans-Georg Pott Musils „deutliche Aversion gegenüber der Psychoanalyse“¹⁹, die Musil als PseudoDichtung begriffen habe. Erst in den 1920er Jahren kann Musil die Psychoanalyse – bei aller Skepsis gegenüber ihrem Geltungsanspruch – als eine Art Hilfswissenschaft für seine literarische Produktion fruchtbar machen, wie etwa die Sprachund Denkformen der Figuren Moosbrugger und Clarisse im Mann ohne Eigenschaften zeigen. Wie Walter Fanta zum Kapitelprojekt „Gespräche über Liebe“ ausführt, weist gerade die letzte Schreibphase Musils wiederum eine intensive Beschäftigung mit Freud auf.²⁰ Musils Arbeit an den Druckfahnen-Kapiteln zur Gefühlspsychologie in den 1930er Jahren lässt sich als eine äußerst differenzierte, vielfach auch nur indirekt artikulierte Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Methode verstehen. Der geschichtliche Abriss der Gefühlspsychologie, den Agathe heimlich in Ulrichs Schublade findet, skizziert drei historische Phasen einer wissenschaftlichen Erforschung von Gefühlen. Diese drei von Ulrich so eingeteilten Forschungskapitel der Gefühlspsychologie lassen allerdings die Psychoanalyse außen vor, mit anderen Worten: Ulrichs gefühlspsychologische Skizzen, die im Kontext der Druckfahnen als wegweisende Studien zur präziseren Erfassung ekstatischer Zustände und damit auch eines „anderen Zustands“ begriffen werden können, bedürfen auf den ersten Blick nicht der Psychoanalyse, um sich der menschlichen Gefühle essayistisch zu nähern. Bereits im Kapitel „Agathe stößt zu ihrem Miß-
18 Vgl. Oliver Pfohlmann: ,Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‘? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003 (Musil-Studien, Bd. 32); ders.: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 62 f. 19 Hans-Georg Pott: Kontingenz und Gefühl. Studien zu/mit Robert Musil. München 2013 (MusilStudien, Bd. 41), S. 215. 20 Vgl. Walter Fanta: Gespräche über Liebe. Robert Musils letzte Liebesgeschichte. In: Textualität und Rhetorizität. Hg. v. Kálmán Kovács. Frankfurt a. M. u. a. 2003 (Debrecener Studien zur Literatur, Bd. 10), S. 139–154.
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vergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie“ – ein Missvergnügen, da der Weg „gerade in Richtung auf die Ekstase“²¹ nun theoretisiert wird – findet sich quasi vorab ein Hinweis an die Leserschaft, die deutlich macht, dass Ulrich auf eine Darstellung psychoanalytischer Gefühlstheorien verzichten werde, da im Bereich der Gefühlspsychologie ihre Eigenart nicht zur Geltung kommen könne. Zitiert sei hier diese Schlüsselpassage, die Ulrichs Notizen vorangestellt ist: Soviel Agathe sehen konnte, hatte er die Psychoanalyse dabei außer Betracht gelassen, und sie wunderte sich anfangs darüber, denn wie alle literarisch angeregten Menschen hatte sie mehr von ihr sprechen hören als von der übrigen Psychologie; aber Ulrich sagte, er ließe sie nicht deshalb beiseite, weil er die Verdienste dieser bedeutenden Theorie nicht anerkenne, die voll neuer Begriffe wäre und als erste vieles zu erfassen gelehrt habe, was durch alle vorangegangene Zeit gesetzlose Privaterfahrung gewesen sei, sondern es hänge damit zusammen, daß gerade bei dem, was er vorhabe, ihre Eigenart nicht so zur Geltung komme, wie es ihres immer sehr anspruchsvollen Selbstbewußtseins würdig wäre.²²
Offensichtlich zielt Ulrichs Auseinandersetzung mit der Gefühlpsychologie auf eine Relativierung von Freuds umfassendem Geltungsanspruch, der im Bereich der Gefühlspsychologie eben nicht nachvollzogen werden könne. Ulrich, so das Zitat, hebt dabei hervor, dass die psychoanalytische Methode „voll neuer Begriffe wäre“, womit Freuds Spracharbeit, für die Erschließung des Unbewussten Begrifflichkeiten zu entwickeln, in den Fokus rückt. Implizit wird damit aber auch darauf hingewiesen, dass den sprachlichen Begriffen Freuds unter Umständen die empirische Verifizierung fehle. Später wird Ulrich formulieren, dass der neueren gefühlspsychologischen Forschung eine Wissbegierde „auf die Wirklichkeit statt auf einen vorgefaßten Begriff“ (S. 165 f.) eigne, womit auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Freuds Terminologien artikuliert ist. Ulrich würdigt allerdings die Verdienste Freuds, den wissenschaftlichen Blick auf einen Bereich gelenkt zu haben, der zuvor als gesetzlose Privaterfahrung wahrgenommen worden sei. Hier wird deutlich, dass Ulrichs Ansatz bereits um eine Historisierung der psychoanalytischen Methode bemüht ist, dass ihr also allein im historischen Rückblick eine bedeutsame Rolle zugesprochen werden könne – sie aber aus der Perspektive des aktuellen Forschungsstandes heraus in ihrer Absolutheit nicht mehr für gültig erklärt werden
21 Annette Gies: Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘. „Der Mann ohne Eigenschaften“ als literarische Erkenntnistheorie. Würzburg 2003 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Studien, Bd. 446), S. 175. 22 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Zweites Buch. Fortsetzung aus dem Nachlass 1937– 1942 (Gesamtausgabe, Bd. 4), S. 164. Alle folgenden Seitenangaben in runden Klammern im Fließtext beziehen sich auf diese Ausgabe.
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sollte. Ulrich formuliert aus der Perspektive desjenigen, der die Psychoanalyse zumindest in Teilen für überholt erklärt. Dabei wird ein grundsätzliches Verfahren Musils offensichtlich: die psychologische und historische Analyse wissenschaftlicher Erkenntnis. Jede psychologische wissenschaftliche Erkenntnis, so legen es Ulrichs Ausführungen zur Gefühlspsychologie nahe, ist selbst das Ergebnis eines konkreten psychologischen Zustandes der Erkennenden, dessen Relativierung und Historisierung nicht ausbleiben könne. Beruht wissenschaftliche Erkenntnis auf Gefühlszuständen, so sind diese in ihrer (historischen) Entwicklung zu beschreiben. Der Schreibprozess ist dabei grundsätzlich einer Linearität verpflichtet, die Fortschritt suggeriert. Wenn die Psychoanalyse also so explizit in Ulrichs geschichtlichem Abriss der Gefühlspsychologie außen vorgelassen wird, so ist in einem nächsten Schritt zu fragen, welches für Ulrich die entscheidenden Etappen der gefühlspsychologischen Forschung gewesen sind.
2 Wissenschaftsgeschichte der Gefühlspsychologie als Geschichtsphilosophie Ulrichs Abriss hebt zunächst auf die ursprüngliche Gefühlslehre ab, die bis auf die Elementenlehre der Antike zurückreiche. Bei Systematisierungsversuchen des menschlichen Gefühlsreichtums haben rasch Lust und Unlust eine bevorzugte Stellung eingenommen, wobei diese als eine Art reine Gefühle betrachtet worden seien. Unter der These „das gelingende Leben ist lustvoll“ (S. 168) führt nun Ulrich – boshaft, könnte man sagen – gleich Aristoteles, Spinoza, Kant und Nietzsche gemeinsam auf, die sich alle vier dem Lust-Unlust-Schema in der Gefühlspsychologie verschrieben hätten. Hier hat Musil schlicht aus August Messers Lehrbuch Psychologie von 1922 die Textstellen exzerpiert, wie Helmut Arntzen bereits deutlich machen konnte.²³ Doch wo Messer eindrucksvoll auf die vorherrschende Meinung von Lust und Unlust verweisen will, gewinnt in Ulrichs Zusammenstellung der Zitate so verschiedener philosophischer Ansätze diese Kompilation etwas Willkürliches und Fragwürdiges. Ulrichs Exzerpt ist zugleich eine subversive Hinterfragung der Lehrbuch-Darstellung Messers. Dies sei nur kurz an den Beispielen von Aristoteles und Nietzsche erläutert. Die aristotelische Gefühlsphilosophie unter den Leitlinien Lust und Unlust zu subsumieren, muss zumindest als höchst fragwürdig bezeichnet werden. In den 23 Helmut Arntzen: Musil-Kommentar zu dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1982, S. 371.
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letzten Jahren hat Arbogast Schmitt auf die vom Logos her zu fassende Bestimmtheit der Gefühle in Aristoteles’ Gefühlsphilosophie verwiesen und konstatiert, dass Aristoteles nicht „eine Unterwerfung der Gefühle unter den Verstand“ fordere, sondern „dass sie mit ihm übereinstimmten oder zusammenstimmten“.²⁴ Bei Aristoteles stehen die Gefühle folglich ontologisch unter dem Primat der Vernunft und die ethische Dimension der Affekte ist in den Bahnen der Vernunft zu konturieren.²⁵ So wird Aristoteles in der Forschung für eine kognitive Gefühlstheorie in Anspruch genommen, die „zwischen rationalen (angemessenen) und irrationalen (unangemessenen) Gefühlen“²⁶ unterscheidet. Michael Krewet hat sich in seiner großen Studie zur Theorie der Gefühle bei Aristoteles auch ausführlich der Lustdefinition bei Aristoteles gewidmet und auf Grundlage der Rhetorik das als lustvoll charakterisiert, was „in den Naturzustand zurückführt“²⁷. Bei den von Lust und Unlust begleiteten Tätigkeiten des Menschen handelt es sich folglich nicht um die Gefühle, die Aristoteles ins Zentrum seines Nachdenkens rückt. Denn: „Ein Gefühl richtig, wahrhaft empfinden heißt nach Aristoteles daher, ein richtiges, dem jeweiligen Gegenstand angemessenes Gefühl zu haben.“²⁸ Die von Messer übernommene Simplifizierung lässt sich folglich als tendenziöse Lesart kenntlich machen, die aus Sicht einer medizinischen Psychologie philosophische Ansätze diskreditiert. Ulrich folgt dieser Diskreditierung, allerdings in einer Verfälschung, die der gefühlsphilosophisch geschulten Leserschaft sofort ins Auge fällt. Noch bezeichnender kann dies für Nietzsche geltend gemacht werden. Für den Nietzsche-Kenner Musil ist es zweifellos fragwürdig, dessen Gefühlstheorie in eine Reihe mit Aristoteles, Spinoza und Kant zu stellen. Stegmaier formuliert zu Nietzsches Gefühlsanalysen zurecht: „Stärker als der Affekt des Schmerzes ist nach Nietzsche, wie er schon seinen Zarathustra künden lässt, der Affekt der Lust. Am stärksten aber ist, so denkt er seine Affektlehre zu Ende, die Liebe.“²⁹ Elisa Primavera-Lévy konstatiert konzise: „Das Vermögen, nicht nur blind wie ein Tier bei
24 Arbogast Schmitt: Zur Grundlegung der Ethik in einer ‚Kultur der Gefühle‘ bei Aristoteles. In: Ethik und Politik des Aristoteles in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Christoph Strosetzki. Hamburg 2016, S. 277–302, hier S. 285. 25 Vgl. hierzu Paola-Ludovika Coriando: Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen. Wege einer Ontologie und Ethik des Emotionalen. Frankfurt a. M. 2002 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 85), S. 115 f. 26 Wolfgang Detel: Aristoteles. Eine Einführung. Stuttgart 2021, S. 129. 27 Michael Krewet: Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles. Heidelberg 2011 (Studien zur Literatur und Erkenntnis, Bd. 2), S. 134. 28 Arbogast Schmitt: Kommentar. In: Aristoteles: Poetik. Übersetzt u. erläutert v. Arbogast Schmitt. Darmstadt 2008 (Werke, Bd. 5), S. 287. 29 Werner Stegmaier: Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte. In: Klassische Emotionstheorien. Hg. v. Hilge Landweer und Ursula Renz. Berlin/New York 2008, S. 527–546, hier S. 543 f.
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der Empfindung von Lust und Schmerz stehenzubleiben, sondern sie umzuwerten, macht also das Menschsein aus.“³⁰ Während zahlreiche Äußerungen Ulrichs auf einen Einfluss Nietzsches hindeuten, lässt sich dies für die Gefühlspsychologie nicht rekonstruieren. Insbesondere die durch Musik herbeigeführten rasenden, dionysischen Zustände verabscheut Ulrich.³¹ Diese gefühlspsychologische Marginalisierung Nietzsches kann auch als wesentliches Interesse Musils gedeutet werden, Nietzsches Feier des Dionysischen als gefühlstheoretischen Irrweg zu brandmarken, als philosophisches Dynamit, dem ein präziser Essayismus entgegengesetzt wird. Nichtsdestotrotz: Nietzsches Verortung in Ulrichs gefühlspsychologischer Argumentation lässt sich als polemisch bzw. als falsch markieren. Denn Ulrich macht deutlich, wie sehr er die Lust als letzte Erklärung aller Gefühlsäußerungen für übertrieben hält. Um dies zu unterstreichen, werden zwei zeitgenössische Beispiele aufgeführt: ein gefühlspsychologisches Lehrbuch, das die Lust an einer gelösten Mathematikaufgabe mit der Lust an einem guten Mittagessen für vergleichbar hält. Und ein Gerichtsurteil, das einem nicht drei Jahre alten Kind ein nur kleines Schmerzensgeld zuspricht, da es nur in beschränktem Maße fähig sei, sich entschädigende Lustgefühle zu verschaffen. Ulrichs Ironie ist also von Anfang an als Strategie kenntlich, abgelehnte Positionen aussagekräftig zur Schau zu stellen. Dabei überrascht allerdings zunächst auch, dass diese frühen Systematisierungsversuche der Gefühle keinesfalls kategorisch entwertet werden. Der logisch-grammatikalische, wie eine Apotheke mit hunderten Lädchen und Aufschriften ausgestattete Ordnungssinn ist ein Rest der mittelalterlichen, aristotelisch-scholastischen Naturbetrachtung, deren großartige Logik nicht sowohl an den Erfahrungen, die man mit ihr gemacht hat, zuschanden geworden ist als vielmehr an denen, die man ohne sie gemacht hat. (S. 170 f.)
Allerdings moniert Ulrich gleich im Anschluss an diese Ausführungen, dass den späteren gefühlspsychologischen Deutungen die logische Einkleidung fehle. Ulrich spricht vom „höchst nützlichen Ordnungssinn“, der die ursprüngliche Gefühlslehre geprägt habe. Bereits Büren hat Ulrichs essayistische Gefühlspsychologie auch als Dichtung charakterisiert, die eine wissenschaftliche Form der Darstellung preisgebe.³² Die Anreicherung der Gefühlsphilosophie mit einer poetischen Bilderwelt
30 Lisa Primavera-Lévy: Die Bewahrer der Schmerzen. Figurationen körperlichen Leids in der deutschen Literatur und Kultur von 1870–1945. Berlin 2012 (Kaleidogramme, Bd. 85), S. 63. 31 Vgl. hierzu Fred Lönker: Über den ‚Klavierzorn‘ und andere Gefühle in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Wort und Ton. Hg. v. Günter Schnitzler und Achim Aurnhammer. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2011 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 173), S. 511–527, hier bes. S. 512 f. 32 Erhard von Büren: Zur Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils. Zürich 1970 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte), S. 157 f.
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zielt also auch im historischen Abriss auf eine wechselseitige Durchdringung von Wissenschaft und Poesie. In einem zweiten Schritt setzt nun Ulrichs Analyse der nächsten Etappe der gefühlspsychologischen Forschung ein, die man vereinfacht auch als eine Wende von der geisteswissenschaftlich-philosophischen Methode hin zur naturwissenschaftlich-medizinischen Vorgehensweise bezeichnen kann. Ein historisches Entwicklungsmodell wird kenntlich. Ulrich führt programmatisch aus: Diese neuere Psychologie hat mit dem hilfsbereiten Mitleid begonnen, das die medizinische Fakultät immer für die philosophische übrig hat, und sie hat mit der älteren Gefühlspsychologie aufgeräumt, indem sie überhaupt aufgehört hat, von Gefühlen, und angefangen hat, naturwissenschaftlich von ,Trieben‘, ,Triebhandlungen‘ und ,Affekten‘ zu sprechen. (S. 171 f.)
Bezeichnend fügt Ulrich in Klammern hinzu: „Nicht als ob die Rede vom Menschen als einem von seinen Trieben und Affekten beherrschten Wesen neu gewesen wäre, aber neue Medizin ist sie dadurch geworden, daß er fortan nur als das betrachtet werden sollte.“ (S. 172) Auch hier wird also vorab deutlich Bedenken gegenüber einem Alleingültigkeitsanspruch der medizinisch-naturwissenschaftlichen Methode geäußert. Das höher beseelte menschliche Verhalten lässt sich bei der Analyse von Trieben, Triebhandlungen und Affekten auf natürliche Vorgänge wie Hunger, Geschlecht, Angst zurückführen. Aus den medizinischen Lehrbüchern der Gefühlspsychologie, so Ulrich, sei das Wort Gefühl verschwunden und durch Triebhandlungen oder Affekte ersetzt worden, wobei unter Affekt die erlebte Seite der Triebhandlung verstanden werden solle. Gefühle damit lediglich als Empfindungen in den Eingeweiden und Gelenken zu betrachten, erweist sich somit als einzig erlaubte Aufgabe der naturwissenschaftlichen Methode. Musil polemisiert hier ganz im Sinne seines akademischen Lehrmeister Carl Stumpf gegen die Gefühlstheorie von William James. In einem weiteren Schritt setzt Ulrichs Kritik an dieser empirischen Methode mit einer Psychologisierung des naturwissenschaftlichen Ansatzes ein. Ulrich spricht von einem luziferischen, herabsetzenden Verlangen nach Seelenlosigkeit, die dem materialistischen Ansatz zugrunde liege. Diese entschiedene Kritik an einer Reduktion menschlichen Verhaltens auf Triebe und Triebhandlungen im materialistischen Ansatz, zu dem hier auch die Psychoanalyse gezählt werden kann, formuliert Ulrich wie folgt: Der Mensch hat sich lieber als einen Faden im Gewebe des Weltstoffes sehen wollen denn als einen auf diesem Teppich Stehenden: und es läßt sich gut verstehen, daß auch die Seelenlehre, als sie, nachzüglerisch lärmend, in ihre materialistischen Flegeljahre eintrat, ein luziferisches, herabsetzendes Verlangen nach Seelenlosigkeit abbekommen hat. Das ist ihr später von allen frommen Feinden naturwissenschaftlichen Denkens gotteshausmeisterlich übelgenommen
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worden, aber seinem heimlichsten Wesen nach ist es doch nichts gewesen als eine gutartig düstere Romantik, eine gekränkte Kinderliebe zu Gott, und darum auch zu seinem Ebenbild, die in dessen Mißhandlung unbewußt noch heute nachwirkt. (S. 173 f.)
Die hier hervorgekehrten materialistischen Flegeljahre greifen folglich auch auf ein organisches Entwicklungsmodell der gefühlspsychologischen Forschung zurück, die der allein gültigen empirischen Methode eine Unreife zusprechen, ein gar kindliches Gekränktsein, in dessen Folge überschwänglich theologische und philosophische Deutungen negiert worden seien. „[W]as niedrig steht, steht fest“, so laute nun das Credo. Und Ulrich holt nochmals aus, wenn er diese naturwissenschaftliche Vorgehensweise als „Spekulation à la baisse in menschlichen Werten“ (S. 173) charakterisiert. Die ältere Forschung hat bereits darauf hingewiesen,³³ dass Musil in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik von 1925 Lehrbücher wie Ernst Kretschmers Medizinische Psychologie als anregend bezeichnete: „Dieses kleine Buch, hier vielfach benützt, gibt wertvolle Ansätze zur Psychologie der Gefühle, die bisher von der experimentellen Psychologie mit zu wenig Erfolg, von der Psychologie zu einseitig behandelt worden ist.“³⁴ Musil setzt eine solche Fußnote, um im Kontext von „sehr alten Kulturzuständen“ sich die „späte Entwicklungsform jener Frühwelt“ zu vergegenwärtigen, die für ihn mit einer Psychopathologie verbunden ist. Bereits 1925 verortet Musil die medizinische Psychologie in einem Kontext, der als Vorstufe eines ästhetischen Erlebens betrachtet werden kann, auf die hin sein Interesse an der Gefühlspsychologie ausgerichtet ist. Die medizinische Forschung ist im Flegeljahr-Alter anzusiedeln, in dem sich eine Reife der Entwicklung erst andeutet. Folglich wird die begriffliche Unklarheit der medizinischen Gefühlspsychologie kritisiert. Hinsichtlich der Frage, was ein Trieb sei, herrsche in der Forschung völlige Unklarheit, ohne Bedenken würden die Begriffe verwendet, teilweise sei von drei, in anderen Lehrbüchern von sieben Trieben die Rede.³⁵ In diesem wissenschaftlichen Begriffswirrwarr taucht, das wundert nicht, nun auch die Psychoanalyse auf, die lange Zeit nur einen Trieb zu kennen schien. Und, so Ulrichs Volte, hinter diesen naturwissenschaftlichen Begriffsunklarheiten in den Lehrbüchern tauche letztlich wiederum nur die alte Vorstellung auf, dass der menschliche Körper
33 Vgl. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. 2. Aufl. Münster 1969, S. 119 f. 34 Robert Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: ders., Prosa und Stücke, S. 1137–1154, hier S. 1141. 35 Nach Catrin Misselhorn liegt Ulrichs Hauptkritikpunkt an den Gefühlstheorien seiner Zeit auf der „Unangemessenheit der logisch-grammatikalischen Analyse, also auf gut deutsch der Zergliederung von Begriffen als Methode, weil sie der empirischen Evidenz zu wenig Rechnung trägt“ (dies.: Musils Gefühlstheorie im Kontext der neueren emotionstheoretischen Debatte und die Möglichkeit falscher Gefühle. In: Mulligan/Westerhoff [Hg.], Robert Musil, S. 33–54, hier S. 38).
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Lust suche und Unlust meide. Dieser Ansatz sei nun nicht mehr allein auf die Gefühlspsychologie beschränkt, sondern auf die Volkswirtschaftslehre und die allgemeine Lebenslehre erweitert. Triebbefriedigung wird dabei von Ulrich im materialistischen Modell als Auspuff eines Fahrzeugs bezeichnet, der damit zum treibenden Teil des Motors erhoben werde. In einem letzten Schritt, der auch als der entscheidende analytische Gedankengang bezeichnet werden könnte, zeigt Ulrich jene Reduktion von Gefühlen auf Triebe und Triebhandlungen als Komplexitätsreduktion auf, die aus einem zusammengesetzten Gefühl eine Zerlegung in das Einfache und das Kleine vornehme. Letztlich sei für eine wissenschaftliche Vorgehensweise aber das Zerlegen in das Einfache nur eine Zwischenstufe der Erkenntnis, die in einem weiteren Schritt auf allgemeingültige Gesetze und Gesetzmäßigkeiten abziele. Ulrich kritisiert mit aller Schärfe jenen Glauben an das Einfache, der das Geheimnis der Natur auf einfache und damit einfältige Prinzipien zurückzuführen hoffe. Ulrichs Tendenzen, sich gegen ein Vereindeutigen und gegen die Bestimmtheit von allgemeinen gefühlspsychologischen Gesetzen auszusprechen, zeigt seine Argumentationslinie auf, die sich objektiven Gesetzmäßigkeiten widersetzt. Bei aller Differenziertheit der Analyse von Ulrichs Ausführungen ließe sich doch hervorkehren, dass dem geschichtlichen Abriss der Gefühlspsychologie ein Verfahren in drei Schritten zugrunde liegt, bei dem zuerst die philosophisch-geisteswissenschaftliche Gefühlspsychologie einer Kritik unterzogen und im nächsten Schritt die naturwissenschaftlich-medizinische Methode als noch unreif charakterisiert wurde. Der dritte Schritt, die Darstellung der neueren Gefühlspsychologie, so darf vorab vermutet werden, zielt nun auf eine Synthese geistes- und naturwissenschaftlicher Ansätze, wie sie Musil vor allem in der Gestalttheorie vorfand. Wollte man kritisch fragen, wieso es überhaupt eines solchen historischen Abrisses in seiner Ausführlichkeit bedurfte, so ließe sich insbesondere herausstellen, dass Ulrich die Desiderate und Unzulänglichkeiten vergangener Positionen klar benennen möchte, bevor der eigene Ansatz aufgezeigt wird. Die Entwicklungsgeschichte der Gefühlspsychologie ist dabei zugleich auch eine geschichtsphilosophische Skizze, in der die zu naturwissenschaftlichen Gesetzen vereindeutigten Gefühle einer Welt der Gewalt und des Krieges zugeführt werden können. Der historische Abriss zur Gefühlspsychologie ist nicht (nur) Psychologie, sondern „Weltbeschreibung“³⁶. Zu den Flegeljahren der Psychologie zählt dabei nicht nur der rein empirisch-naturwissenschaftliche Ansatz, sondern eben, wie gezeigt werden sollte, auch Freuds Psychoanalyse. Nun gilt es, die hervorgekehrten Unzulänglichkeiten zu überwinden und in der Forschung voranzuschreiten.
36 Zu dieser Formulierung Musils vgl. Gies, Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘, S. 184.
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3 Ästhetische Relativierung der Objektivität Die Musil-Forschung konnte für die Druckfahnen-Kapitel zur Gefühlspsychologie die zahlreichen Einflüsse und Impulse rekonstruieren, die in Ulrichs Ausführungen von der Gestalttheorie Carl Stumpfs,³⁷ aber auch aus dem Umkreis von Franz Brentano und seiner Schüler Alexius Meinong und Christian von Ehrenfels aufzuzeigen sind.³⁸ Insbesondere das der deskriptiven Psychologie im Sinne Brentanos verpflichtete Kapitel „Naive Beschreibung, wie sich ein Gefühl bildet“ hat etwa in Christian von Ehrenfels’ Vorführung eines konkreten Beispieles vom Entstehen eines Begehrens einen konkreten historischen Vorläufer.³⁹ Ulrich skizziert in seinen Auffassungen hier zentrale Positionen von Musils akademischen Lehrmeistern. Strategisch eindeutig werden diese Positionen als die in der Gegenwart vorherrschenden und erfolgreichsten wissenschaftlichen Ansätze präsentiert. Ulrich hierzu: „Die Schule der theoretischen Psychologie, die gegenwärtig am erfolgreichsten ist, behandelt das Gefühl und die Gefühlshandlung als eine unlösliche Gemeinschaft. Was wir handelnd fühlen, ist für sie die eine, und wie wir fühlend handeln, die andere Seite ein und desselben Vorgangs.“ (S. 205) Doch wird rasch deutlich, dass über die gefühlspsychologischen Erörterungen Ulrichs nicht nur Positionen der wissenschaftlichen Forschung als überwunden dargestellt werden sollen, sondern am Beispiel der Gefühlspsychologie die Wirklichkeitserfassung einer empirisch-naturwissenschaftlichen Methode insgesamt hinterfragt werden soll. Musil hat dabei originär das aus der Gestalttheorie entlehnte Beispiel der Melodie in Ulrichs Aufzeichnungen auf seine Gefühlpsychologie übertragen. Am berühmten Beispiel der Melodie aber nun lässt sich zeigen, dass Ulrichs Interesse an der Gefühlspsychologie sich von einem genuin wissenschaftlichen Fokus hin zu einer ästhetischen Wahrnehmung verschiebt: Man denkt es sich nach dem Beispiel der Melodie. In dieser haben die Töne ihre Selbständigkeit und lassen sich einzeln erkennen, und auch ihre Nachbarschaft, ihr Beisammen, Nacheinander, und was sich sonst hören läßt, ist kein bloßer Begriff, sondern bis an den Rand voll sinnlicher Darbietung; aber obwohl sich alles das also trotz seiner Verbundenheit einzeln
37 Zur frühen Rezeption der Theorien Stumpfs bei Musil vgl. Sergej Rickenbacher: Von der Gefühlspsychologie zur Poetologie der „Stimmung“. Musils Weiterschreiben von Carl Stumpf. In: Robert Musil’s Intellectual Affinities. Hg. v. Brett Martz und Todd Cesaratto. Bern/Bruxelles u. a. 2017 (Musiliana, Bd. 17), S. 37–66, hier bes. S. 40–53. 38 Grundlegend hierzu nach wie vor Kevin Mulligan: Musils Analyse des Gefühls. In: Hommage à Musil. Genfer Kolloquium zum 50. Todestag von Robert Musil. Hg. v. Bernhard Böschenstein und Marie-Louise Roth. Bern/Berlin u. a. 1995 (Musiliana, Bd. 1), S. 87–110. 39 Vgl. hierzu Uwe M. Maier: Sinn und Gefühl in der Moderne. Zu Robert Musils Gefühlstheorie und einer Soziologie der Emotionen. Aachen 1999, S. 140 f.
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hören läßt, läßt es sich auch verbunden hören, denn gerade das ist die Melodie, und wird sie gehört, so ist nicht neben den Tönen, Tonabständen und Zeiten etwas Neues da, sondern mit ihnen. Die Melodie kommt nicht als eine Beigabe hinzu, sondern als eine zweite Art zu erscheinen, eine besondere Existenzform, unter der sich die Form der Einzelexistenz gerade noch ausnehmen läßt; und auch das gilt vom Gefühl im Verhältnis zu den Gedanken, Bewegungen, Empfindungen, Absichten und stummen Kräften, die sich in ihm vereinen. Auch so empfindlich, wie es eine Melodie gegen jede Veränderung an ihren ,Teilen‘ ist, so daß sie gleich eine andere Gestalt annimmt oder ganz zerstört wird, so empfindlich kann ein Gefühl gegen eine Handlung oder einen hineinsprechenden Einfall sein. (S. 207)
Der Komplexitätsreduktion, die Ulrich am Beispiel der naturwissenschaftlichen Gefühlsanalysen festgestellt hatte, die Gefühle auf klar und einfach zu benennende Triebe zurückführen, setzt Ulrich eine zweite Art zu erscheinen entgegen, eine besondere Existenzform. Im Verlaufe der Druckfahnen-Kapitel zur Gefühlspsychologie tritt mit anderen Worten zusehends ein Primat der ästhetischen Wahrnehmung gegenüber der naturwissenschaftlichen in Erscheinung, die nicht im Widerspruch zu jener empirischen Welterfassung steht, deren Alleingültigkeitsanspruch aber merklich relativiert. Die Gefühlpsychologie im Sinne Ulrichs setzt folglich nicht auf eine Aufwertung des Subjektiven gegenüber einer objektiv-empirischen Wirklichkeitserfassung, sondern zielt auf eine umfassende Freilegung des Möglichkeitssinns, der letztlich nicht allein auf rationaler Erkenntnis allein ein den ganzen Menschen beteiligendes Verhalten entwickeln kann. Das bestimmte Gefühl, das mit Mulligan auch als penetratives Gefühl bezeichnet werden kann, endet für Musil in einer Sackgasse.⁴⁰ Fühlen ist allerdings eben als Prozess zu fassen, an dessen Anfang sich nicht die Entwicklung hin zu einem bestimmten Gefühl oder einer bestimmten Handlung ausmachen lässt.⁴¹ Döring führt hierzu aus, Musil wende sich grundsätzlich gegen die Subjektivierung der ästhetischen Erfahrung und argumentiert für deren epistemische Gleichwertigkeit gegenüber dem wissenschaftlichen Weltzugriff: So wie die praktische Einstellung des Wissenschaftlers dem ratioïden Gebiet angemessen sei, erfülle die kontemplative, ethisch-ästhetische Einstellung des Künstlers ihren Zweck auf nicht-ratioïdem Gebiet.⁴²
Ulrichs Ausführungen zur empirischen Erfassung der Gefühle schmälern folglich nicht den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn der Methode, sie begreifen diese
40 Vgl. Mulligan, Musils Analyse des Gefühls, S. 97. 41 Vgl. Maier, Sinn und Gefühl in der Moderne, S. 184. 42 Döring, Ästhetische Erfahrung, S. 91.
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allerdings als eine Reduktion der menschlichen Anlagen auf einen nüchternen und zugleich gelähmten Gefühlszustand. Wir schalten sie [sc. die Gefühle] aus, um ‚objektiv‘ zu sein, oder versetzen uns in einen Zustand, worin sich die verbleibenden Gefühle gegenseitig unwirksam machen, oder überlassen uns einer Gruppe kühler Gefühle, die, mit Vorsicht behandelt, dem Erkennen selbst förderlich sind. Was wir in diesem nüchternen Zustand erkennen, ziehen wir zum Vergleich heran, wenn wir in anderen Fällen von ‚Täuschungen‘ durch das Gefühl sprechen; und somit ist ein Nullzustand, ein Neutralisationszustand, kurz ein bestimmter Gefühlszustand, die stillschweigende Voraussetzung der Erfahrungen und Denkvorgänge, mit deren Hilfe wir das, was uns andere Gefühlszustände vorspiegeln, bloß für subjektiv halten. (S. 254 f.)
Die Kritik an der naturwissenschaftlich-empirischen Gefühlspsychologie hat sich erweitert zu einer Kritik an jenem reduzierten Gefühlszustand, der wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt erst ermöglicht. Der Wirklichkeitssinn allein erzwingt eine repressive Körperkultur, ließe sich in der Konsequenz sagen, die mit Kühle und Neutralisierung umschrieben wird. Im Gegensatz dazu erscheinen in Ulrichs Argumentation emotionale, ekstatische Zustände, die nicht nur das gesamte geschöpfliche Verhalten erfassen, sondern auch schöpferische Erkenntnismöglichkeiten ausloten, die dem Wirklichkeitssinn überlegen sind: „Es ist vieles der Wirklichkeit fähig und weltfähig, was in einer bestimmten Wirklichkeit und Welt nicht vorkommt.“ (S. 258) Hatte Ulrich zunächst die rein materialistisch-empirisch verfahrende Gefühlspsychologie als eine Art Flegeljahre der wissenschaftlichen Entwicklung bezeichnet, so ließe sich im Hinblick auf die Geschöpflichkeit des Menschen und sein Verhalten gar von einer Art reduzierten Zustand menschlichen Verhaltens sprechen. Ulrich versäumt es dabei nicht, auch den Neutralisationszustand der Gefühle explizit als Gefühlszustand zu bezeichnen, so dass eine gefühllose Erfassung der Wirklichkeit im Sinne von Objektivität als fragwürdiges Konstrukt kenntlich wird. Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, dass die Psychologie für Ulrich als zentrale Hilfswissenschaft fungiert, die Wirklichkeit ästhetisch zu erfassen und in der Konsequenz schöpferisch-gestaltend zu wirken. Dieser Transformationsprozess, der die Abhandlungen zur Gefühlspsychologie charakterisiert, wendet die psychologischen Analysen hin auf eine ästhetische Welterfassung, die die sinnlichen Erfahrungsweisen des Menschen gegenüber der objektiven Wirklichkeitserfassung rehabilitiert, im ästhetischen Sinne diese dem Neutralisationszustand der Gefühle im Wirklichkeitssinn sogar überordnet. Dem korreliert eine Tendenz zum unbestimmten Gefühl, das Ulrich dem bestimmten, zur Handlung tendierenden Gefühl gegenübergestellt hatte, ein unbestimmtes Gefühl, das „zwischen Zustand und Vorgang“⁴³ schwebt, sich ziellos ausdehnt und damit in 43 Mülder-Bach, Robert Musil, S. 429.
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gewisser Hinsicht die Endlosigkeit des Romans spiegelt. Im Hinblick auf diese zentrale Unterscheidung ist vor einem geschichtsphilosophischen Hintergrund die Entscheidung Ulrichs zu Ungunsten der appetithaft-weltlichen Gefühle gefallen: Während das weltliche Gefühl und die appetithafte Art der Leidenschaft zur Tat drängen und sich in einer Idee, einem Werk oder einer Überzeugung verwirklichen, bleibt das mystische Gefühl und die nicht-appetithafte Seite der Leidenschaft außerhalb der Wirklichkeit, ist schüchtern und unentschlossen […].⁴⁴
Der geschichtliche Abriss der Gefühlspsychologie kennt kein Telos, keine historische Entwicklung, die auf Gesetzmäßigkeiten zielt, vielmehr gilt es, teleologische Erzählverfahren zu unterwandern und auf eine Unbestimmtheit hin zu öffnen. Die Welt des Gefühls, so stellt Ulrich fest, dies ist die Welt des Innern, die dennoch auf eine Wirkung hin nach außen zu denken sei: Man stellt die äußere Welt und die ‚Persönlichkeit‘ einander gegenüber; man nimmt an, daß die äußere Welt in einer Person innere Vorgänge erregt, die sie befähigen müssen, zweckentsprechend zu erwidern; und indem man in Gedanken diese Bahn herstellt, die von einer Veränderung der Welt durch die Veränderung einer Person wieder auf eine Veränderung der Welt führt, gewinnt man die eigentümliche Zweideutigkeit, die es uns gestattet, die Welt des Inneren als den eigentlichen menschlichen Hoheitsbereich zu ehren, und doch von ihr vorauszusetzen, daß alles, was in ihr vorgeht, zuletzt die Aufgabe habe, wieder in eine ordentliche Wirkung nach außen zu münden. (S. 265)
Diese hier skizzierte Wendung hin zur Innerlichkeit als dem eigentlichen menschlichen Hoheitsbereich lässt sich programmatisch wiederum unter dem Vorzeichen des Möglichkeitssinns lesen, anders zu leben. Die „ordentliche Wirkung nach außen“ wäre in diesem Sinne auch als Wendung gegen ein teleologisches Geschichtsverständnis zu begreifen, das in Gewalt und Krieg mündet. Blickt man hier etwa zum Vergleich auf die wirkmächtige Gefühlsphilosophie Schelers,⁴⁵ so lässt sich auf Fantasiegefühle verweisen, die Scheler bereits bei Husserl und Meinong vorgefunden hatte,⁴⁶ und denen eine Tendenz zum Mög-
44 Gies, Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘, S. 185. 45 Vergleiche Musils mit Scheler haben sich in der Forschung zur Gefühlspsychologie vielfach etabliert. Beispielgebend hierfür Kevin Mulligan: Geist (and Gemüt) vs Life. Max Scheler and Robert Musil. In: Le Ragioni del Conoscere e dell’Agire. Scritti in onore di Rosario Egidi. Hg. v. Rosa M. Calcaterra. Milano 2006, S. 366–378. Aber auch in der Anthropologie verweist zentral auf Scheler etwa Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musil Essays. Heidelberg 2009, S. 132 f. 46 Vgl. Kevin Mulligan: Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann. In: Landweer/Renz (Hg.), Klassische Emotionstheorien, S. 589–612, hier S. 608.
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lichkeitssinn inhärent ist. Diese Gefühle machen nicht Erlebtes nachfühlbar: „Denn ein nie erlebtes seelisches Gefühl kann ich mir gefühlsmäßig vor die Seele führen, kann ein nie faktisch so Gefühltes (phantasiemäßig) durchfühlen.“⁴⁷ Scheler hat dabei insbesondere auch auf Romanfiguren einen Blick, deren Qualitäten des Leidens und der Freude nachempfunden werden können.⁴⁸ Schelers umfassender Ansatz, dass „das Fühlen für die Gesamtheit der menschlichen Welterschließungsvorgänge fundierenden Charakter besitzt“⁴⁹, lässt sich folglich parallel zu Musils Vorhaben rekonstruieren.⁵⁰ Der Erste Weltkrieg hatte ekstatische Gefühlszustände entfesselt, die es einer umfassenden Deutung und intellektuellen Bewältigung zuzuführen galt.
4 Fazit Die hier vorgelegten skizzenhaften Ausführungen sollten darlegen, wie sehr Ulrichs gefühlspsychologische Überlegungen in Form von Abriss, Tagebuch und Essay – die Gattungsfrage ist auch hier ‚unbestimmt‘ – nicht nur als poetologische Ausführungen zu einer nicht mehr verwirklichbaren Bestimmtheit des Romanendes verstanden werden können. Ulrichs Misstrauen gegenüber der Bestimmtheit appetithafter Gefühle lässt sich auch als Misstrauen gegenüber großen geschichtsphilosophischen Narrativen begreifen, die letztlich in Krieg und Gewalt als unausweichlichen ‚anderen Zuständen‘ enden. Walter Fanta hat herausgearbeitet, wie sehr das Romanende zur Unbestimmtheit der geschwisterlichen Gefühle tendiert: das Begehren im „Gespräch aufgehoben“⁵¹, die theoretischen Studien zur Gefühlspsychologie und damit das Schreiben Ulrichs „bis Ekstase“⁵² getrieben, die Ratio-
47 Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. 7., durchges. Aufl. Bern/ München 2000 (Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 336 f. 48 Vgl. Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie. In: Ders.: Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart. 7. Aufl. Bern/München 2005 (Gesammelte Werke, Bd. 7), S. 107. Auch bei Carl Stumpf verfügt im Übrigen die Dichtung über die Fähigkeit, „die Wirkungen von Gefühlsempfindungen zu reproduzieren und somit auf den Leser zu übertragen“, wie Rickenbacher, Von der Gefühlspsychologie, S. 45, erläutert. 49 Angelika Sander: Normative und deskriptive Bedeutung des ordo amoris. In: Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens. Hg. v. Christian Bermes, Wolfhart Henckmann und Heinz Leonardy. Würzburg 2003 S. 63–79, hier S. 73. 50 Vgl. Mulligan, Geist (and Gemüt) vs Life, S. 366 f. 51 Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Klagenfurt 2015, S. 337. 52 Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe, S. 342.
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nalisierung der „Liebe unzulässig“⁵³ und fortwährend bis zur Zergliederung der Liebe vorgestellt, so dass diese Unbestimmtheit eben als eine „Funktion der Libido“⁵⁴ beschrieben werden kann (ein Begriff, den Ulrich im Kontext seiner Gefühlspsychologie nicht an zentraler Stelle nennen würde). Ruft man sich in Erinnerung, dass Musil früh der Kunst eine erobernde Tendenz zugeschrieben hat („Kunst zeigt, wo sie Wert hat, Dinge, die noch wenige gesehen haben. Sie ist erobernd, nicht pazifierend“⁵⁵), so lässt sich für die Spätphase des Romans eine Neuakzentuierung dieser Tendenzen konstatieren, die den erobernden Gestus der Kunst ganz auf den Bereich der Innerlichkeit lenken, um freilich von dort aus eine andere Wirklichkeit als möglich erscheinen zu lassen. Musils Auseinandersetzung mit der Gefühlspsychologie ist dabei getragen von der „Forderung nach einer neuartigen Synthese, die zur Überwindung obsoleter dichotomischer Denkmodelle beitragen soll“.⁵⁶ So wäre erst nach einer umfassenden Entfaltung des Möglichkeitssinns im Bereich der nicht-appetithaften Gefühle eine Wirklichkeit vorstellbar, auf die es die bestimmte, zielgerichtete Gefühlsentwicklung zu lenken gälte. Die Ekstase ist folglich geradezu mathematisch-präzise auszuloten, bevor sie entfesselt werden kann. Denn schließlich belegt es die Existenz der Mathematiker „exemplarisch, daß erst der durch die Spekulation freigesetzte ‚Möglichkeitssinn‘ den ‚Bauwillen‘ und ‚bewußten Utopismus‘ erzeugt, der, wie es im Mann ohne Eigenschaften heißt, ‚die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt‘“.⁵⁷ Ein solcher konkreter, auf die Wirklichkeit gerichteter Bauwille und Utopismus ist in der Gefühlspsychologie noch nicht absehbar. Die Flegeljahre der Psychologie sind noch nicht vergangen.
Literaturverzeichnis Albrecht, Andrea: Mathematische und ästhetische Moderne. Zu Robert Musils Essay „Der mathematische Mensch“. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 218–250. Arntzen, Helmut: Musil-Kommentar zu dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1982.
53 Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe, S. 343. 54 Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe, S. 351. 55 Robert Musil: Das Unanständige und das Kranke in der Kunst. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 977– 983,, hier S. 981. 56 Barbara Neymeyr: „Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen“. Robert Musils Konzept einer ,emotio-rationalen‘ Literatur im Kontext der Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. v. Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Berlin/New York 2007, S. 199 Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe, 226, hier S. 205. 57 Andrea Albrecht: Mathematische und ästhetische Moderne. Zu Robert Musils Essay „Der mathematische Mensch“. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 218–250, hier S. 250.
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Franz Fromholzer
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Sebastian Hüsch
Zur Frage des strengen Denkens bei Heidegger und Musil Abstract: In dem vorliegenden Beitrag wird die These entwickelt, dass es zwischen Martin Heidegger und Robert Musil im Bemühen um eine methodisch strenge Phänomenologie eines eigentlichen Selbstseins bemerkenswerte Parallelen gibt. Jedoch, so argumentiere ich, schlägt Musil insofern einen überzeugenderen Weg ein, als er in der Lage ist, die Frage bedeutungsvoller Formen des Selbstseins durch den Rückgriff auf eine methodisch operierende Ironie zu thematisieren, während bei Heidegger das eigentliche Selbstsein, wie es als Ergebnis des für die Philosophie charakteristischen strengen Denkens emergiert, durch das Fehlen diesbezüglicher methodischer Mittel in den Horizont des Apodiktisch-Dezisionistischen gerät.
1 Einleitung In den Grundbegriffen der Metaphysik sucht Martin Heidegger nach einer für das philosophische Fragen besonders geeigneten Grundstimmung. Im Kontext seiner einführenden methodologischen Überlegungen zu dieser Aufgabe macht er eine bemerkenswerte Feststellung. In Umkehrung der verbreiteten Betrachtungsweise, wonach sich die Naturwissenschaften durch eine besondere begrifflich-methodische Strenge auszeichnen, während die Metaphysik zu problematischer Spekulation neigt, betont Heidegger forsch, dass philosophisches Fragen in einem wesentlichen Sinne in einem Maße auf begrifflicher Strenge beruhe, die „dem in sich gleichgültigen und unverbindlichen wissenschaftlichen Scharfsinn ewig verschlossen“¹ bliebe. Diesen Gedanken formuliert er später, in Was heißt Denken, noch provokanter, wenn er sagt, dass die Wissenschaft im Grunde überhaupt nicht denke. Das Denken sei vielmehr der ureigenste Bereich der Philosophie.² Die Betonung Hei-
1 Martin Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Frankfurt a. M. 2004, S. 9. 2 Vgl. Martin Heidegger: Was heißt Denken? Frankfurt a. M. 2002, S. 9. In einem Gespräch präzisiert er: „Die Wissenschaft bewegt sich nicht in der Dimension der Philosophie. Sie ist aber, ohne daß sie es weiß, auf diese Dimension angewiesen.“ (Martin Heidegger: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Frankfurt a. M. 2000, S. 705, Herv. i. O.). Diesen Gedanken erklärt er am Beispiel der Physik: Obwohl sie sich in Raum und Zeit und in der Bewegung bewegt, kann sie (und mit ihr die Wissenschaft als Wissenschaft überhaupt) nicht entscheiden, was sie an sich ist.Vielmehr können wir mit physikalischen Methoden nicht sagen, was die Physik selber https://doi.org/10.1515/9783110988352-004
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deggers, dass philosophisches Denken umso strenger sei, je weniger es sich dem Modell der Wissenschaft unterwerfe, zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk und die Überzeugungskraft dieses Postulats hängt sicherlich in erheblichem Maße davon ab, wie man den Begriff der Philosophie bestimmt und welche Aufgabe man der Philosophie zuweist. Man kann wohl davon ausgehen, dass Robert Musil weder Heideggers Abwertung der Wissenschaften noch dessen Überhöhung der Philosophie in dieser Form zustimmen würde.³ So kann man bei Musil, anders als bei Heidegger, sicher eine – wenn auch immer ironisch gebrochene – Affinität zum wissenschaftlichen Denken und zu wissenschaftlicher Methodik konstatieren. Andererseits scheint mir aber auch eine Bemerkung von Jacques Bouveresse zuzutreffen, der betont, dass Musil Ulrich, die Hauptfigur im Mann ohne Eigenschaften, zu der Einsicht gelangen lässt, dass „au sens important du mot ‚important‘ les questions scientifiques ne sont pas importantes et les questions importantes ne sont pas des questions scientifiques“⁴ – dass also Fragen, die die Wissenschaft beantworten kann, nicht die in einem eigentlichen, das heißt existenziell relevanten Sinne wichtigen sind. Es ist durchaus auffällig, dass Musil im Mann ohne Eigenschaften immer genau dann, wenn die Sprache auf das kommt, was Bouveresse die „questions importantes au sens important du mot important“ nennt, die Unzulänglichkeit einer wissenschaftlichen Methodik nicht bloß konzediert, sondern performativ vorführt. Diese in einem eigentlichen Sinne wichtigen Fragen, und konkret die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit bedeutsamer Formen des Selbstseins, teilt Musil aber meines Erachtens durchaus mit Heidegger. In meinem Beitrag möchte ich die These entwickeln, dass es bei Heidegger und Musil in der Tat bemerkenswerte Parallelen im Bemühen um eine methodisch strenge Phänomenologie eines eigentlichen Selbstseins zu konstatieren gibt. Jedoch, so werde ich argumentieren, schlägt Musil insofern einen überzeugenderen Weg ein, als er in der Lage ist, die Frage bedeutungsvoller Formen des Selbstseins⁵ durch den Rückgriff auf eine methodisch operierende Ironie zu thematisieren, während
ist. Eine solche Reflexion kann nur über das Denken erfolgen. Vgl. Martin Heidegger: Wissenschaft und Besinnung. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Teil I. Pfullingen 1985, S. 61. 3 Seine Einteilung der menschlichen Erkenntnis in die Gebiete des Ratioïden und des Nicht-Ratioïden würde möglicherweise beiden Bereichen denkerische Strenge zuordnen, jedoch in je eigener Weise. Vgl. zu diesem Begriffspaar Robert Musil: Essays und Reden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978 (Gesammelte Werke VIII), S. 1025–1030. 4 Jacques Bouveresse: La Voix de l’âme et les chemins de l’esprit. Paris 2001, S. 108. 5 Wenn hier von Authentizität die Rede ist, ist damit selbstverständlich nicht ein romantisches Authentizitätsverständnis anzusetzen, sondern ein post-nietzscheanisch nicht-essentialistisches Authentizitätsverständnis.
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bei Heidegger das eigentliche Selbstsein, wie es als Ergebnis des für die Philosophie charakteristischen strengen Denkens emergiert, durch das Fehlen diesbezüglicher methodischer Mittel in den Horizont des Apodiktisch-Dezisionistischen gerät.⁶ Dazu möchte ich in einem ersten Teil Heideggers Anspruch auf philosophische Strenge in Bezug auf seine Daseinsauslegung entwickeln und diese anschließend der Musil’schen Konzeption gegenüberstellen. Letztere möchte ich wesentlich anhand der performativen, ironiebasierten Methode entwickeln, wie sie sich im Mann ohne Eigenschaften umgesetzt findet.
2 Strenges Denken und eigentliches Selbstsein bei Martin Heidegger Ein zentrales Element, das sich in Martin Heideggers Denken von der Früh- bis in die Spätphase durchhält, ist das Bemühen, der Philosophie einen ausgezeichneten Rang in Bezug auf die Wissenschaften zuzuschreiben, und zwar nicht im Sinne einer prima inter pares, sondern derart, dass Philosophie grundsätzlich etwas anderes sei als wissenschaftliches Forschen. Von daher, so sein Postulat, könnten die Wissenschaften und ihre Methodik gerade kein Vorbild für das philosophische Fragen sein. Insofern es mir im Folgenden um die Frage des Selbst geht, die vor allem in Sein und Zeit und in den Grundbegriffen der Metaphysik eine vorrangige Rolle spielt, werde ich mich bei der Skizzierung seines Konzeptes eines philosophischen strengen Denkens an Überlegungen orientieren, die aus diesen beiden Texten stammen.⁷
6 So spricht etwa Habermas in Bezug auf Heideggers Eigentlichkeitsdiskurs von einem „Dezisionismus der leeren Entschiedenheit“ (Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985, S. 168). In Bezug auf Musil wären zumindest partielle Parallelen zu Hans Blumenbergs skeptischer phänomenologischer Anthropologie auszumachen. Denn wenn auch das Blumenberg’sche Projekt wohl m. E. weniger ehrgeizig ist als das Musil’sche, treffen sich doch beide im Bewusstsein der Defizienz jedweder den Menschen betreffenden Erkenntnis und der Unabschließbarkeit des Fragens. Benjamin Dober fasst hier die erkenntnisskeptische Haltung Blumenbergs sehr treffend zusammen: „Eine skeptische Disziplin kann Anthropologie sein, indem sie die von ihr angestrebten Konstanten nicht mehr als Bestimmungen, sondern als Beschreibungen auffasst, indem sie also phänomenologische Anthropologie wird. Damit bekennt sie sich zu ihrer Vorläufigkeit. […] Die begründeten geschichtsphilosophischen Einreden gegen anthropologische Wesensaussagen entfallen gegenüber Beschreibungen, die ihren skeptischen Vorbehalt stilistisch mit dem unbestimmten Artikel oder durch den Konjunktiv verbürgen“ (Benjamin Dober: Ethik des Trostes. Hans Blumenbergs Kritik des Unbegrifflichen. Weilerswist 2019, S. 48). 7 Mit der ‚Kehre‘ verschiebt sich der Schwerpunkt weg vom Dasein und es ist fraglich, ob die hier vertretene Parallele im Horizont dieser Neuausrichtung weiterhin aufzuweisen wäre. Heideggers
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In Sein und Zeit thematisiert Heidegger explizit die Frage, ob und inwieweit die Philosophie sich als Wissenschaft zu verstehen habe und ob und inwieweit sie nur einen Wert habe, wenn sie sich in ihrer Methodologie an den Naturwissenschaften orientiert.⁸ Die Zurückweisung der Vorbildlichkeit der Wissenschaften für die Philosophie und das Postulat einer grundsätzlichen Differenz zwischen wissenschaftlichen und philosophischen Fragen wird dann in den Grundbegriffen weiter ausgeführt, wo Heidegger in fast schon karikaturaler – aber durchaus das Selbstverständnis bestimmter philosophischer Strömungen treffender – Art und Weise den seines Erachtens falschen Anspruch jener Philosophie formuliert, die sich die Wissenschaften zum Vorbild nehmen will: Die Philosophie und erst gar als Metaphysik hat eben noch nicht die Reife der Wissenschaft erreicht. Sie bewegt sich auf einem zurückgebliebenen Stadium. Was sie seit Descartes, dem Beginn der Neuzeit, versucht, sich zum Range einer Wissenschaft, der absoluten Wissenschaft, zu erheben, ist ihr noch nicht gelungen. Also müssen wir einzig alle Anstrengung darein legen, daß ihr das eines Tages gelinge. Dereinst wird sie unerschütterlich stehen und den sicheren Gang einer Wissenschaft nehmen – zum Segen der Menschheit. Dann werden wir wissen, was Philosophie ist.⁹
Dieses Bemühen der Philosophie, zu einer absoluten Wissenschaft zu werden, die erst dann ihren Dienst zum Nutzen der Menschheit erfüllen könne, hält Heidegger für einen Irrweg. Vielmehr muss die Philosophie Heidegger zufolge, wenn sie als Philosophie von Interesse sein wolle, ganz andere methodische Maßstäbe an sich anlegen. Diesen Gedanken vertieft Heidegger, wenn er betont, dass gerade das Wesen der Wissenschaft, nämlich das Fokussieren auf den wissenschaftlichen Beweis, der Philosophie wesentlich fremd ist.
grundlegendes Methodenproblem bleibt hingegen weiterhin augenfällig (vgl. hierzu auch Sebastian Hüsch: Langeweile bei Heidegger und Kierkegaard. Zum Verhältnis philosophischer und literarischer Darstellung. Tübingen 2014). 8 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1979, S. 8–11. Heideggers Überlegungen sind selbstverständlich vor dem Hintergrund der Philosophie seines Lehrers Husserl zu deuten, der, zumindest in seiner Frühphilosophie, just die Wissenschaftlichkeit der Philosophie als Ziel ausgegeben hat. Heidegger bezieht hier eindeutig Stellung, und zwar in einer Art und Weise, die den positivistischen und proto-analytischen Tendenzen, wie sie in Österreich zu jener Zeit in Mode waren, gerade entgegenläuft. Vgl. zu diesen Trends Kevin Mulligan: Genauigkeit und Geschwätz – Glossen zu einem paradigmatischen Gegensatz in der Philosophie. In: Paradigmen der Moderne. Hg. v. Helmut Bachmaier. Amsterdam 1990, S. 209–236. Dabei weist er einen Anspruch, wie er z. B. von Franz Brentano expliziert formuliert wird, wonach die „wahre Methode der Philosophie […] keine andere als die der Naturwissenschaft“ (Franz Brentano: Über die Zukunft der Philosophie. Leipzig 1929, S. 136) sein könne, grundlegend ab. 9 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 2.
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Was wurde in der Philosophie nicht schon alles bewiesen und als bewiesen ausgegeben – und doch! Wie steht es mit dem Beweisen? Was ist eigentlich beweisbar? Vielleicht ist beweisbar immer nur das wesenhaft Belanglose. Vielleicht ist das, was bewiesen werden kann und demzufolge bewiesen werden muß, im Grunde wenig wert.¹⁰
Auch hier provoziert Heidegger wieder bewusst: Das Beweisbare, der Stolz der Wissenschaften, sei das wesentlich Belanglose. Jedoch wehrt Heidegger unmittelbar den naheliegenden Verdacht ab, dass dann Philosophie im Grunde etwas Willkürliches, Beliebiges werde. Vielmehr müsse man die Wahrheit der Philosophie grundlegend anders denken, wenn sie etwas Wesentliches mitzuteilen haben soll. Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen kommt Heidegger nun auf jenen Begriff zu sprechen, den ich bei der Wahl meines Beitragstitels in den Mittelpunkt gerückt habe: den Begriff der Strenge im Zusammenhang mit einer genuin philosophischen Methodik. Und zwar betont Heidegger Folgendes: Die metaphysischen Begriffe bleiben dem in sich gleichgültigen und unverbindlichen wissenschaftlichen Scharfsinn ewig verschlossen. Die metaphysischen Begriffe sind nichts, was wir da lernen könnten und davon ein Lehrer oder einer, der sich Philosoph nennt, verlangen dürfte, daß sie ihm nachgesprochen und angewendet werden. / Vor allem aber, diese Begriffe und ihre begriffliche Strenge werden wir nie begriffen haben, wenn wir nicht zuvor ergriffen sind von dem, was sie begreifen sollen.¹¹
Heidegger reklamiert also ebenso selbstbewusst wie provokativ den Begriff der Strenge für ein eigentliches metaphysisches Fragen, während er umgekehrt diese Strenge den Wissenschaften abspricht. Das wahrhaft strenge Denken finde sich nicht aufseiten der Wissenschaft, sondern es sei „inbegriffliches“ Denken. Wie bei Heidegger üblich, wird der Begriff des „inbegrifflichen“ Denkens im Sinne eines – vermeintlichen oder tatsächlichen – ursprünglichen Sinngehaltes ausgelegt, nämlich dahingehend, dass er dieses im Sinne von „ergriffen“, von den metaphysischen Begriffen „mitgenommen“ begreift. Das bedeutet, dass ein im Heidegger’schen Sinne wahrhaftiges Philosophieren nicht absehen darf von dem besonderen Status des In-der-Welt-Seins des Fragenden. Worauf er damit hinauswill, das ist selbstverständlich die Überzeugung, dass man nur bedeutungsvoll philosophisch fragen kann aus einer bestimmten Stimmung heraus. Während er in Sein und Zeit und in 10 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 20. Aus anderer Perspektive betont auch Blumenberg, dass das philosophisch Wichtige nicht beweisbar ist. Seine narrative Philosophie „ist der Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen“, weshalb sie aber gerade „etwas verstehen lassen [kann], was uns sonst als ganz und gar Unbekanntes und Unheimliches gegenüberstehen müsste.“ (Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt a. M. 1989, S. 22). Vgl. hierzu auch Dober, Ethik des Trostes, S. 193. 11 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 9.
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Was ist Metaphysik? der Angst eine besondere philosophische Erschließungsfunktion attribuiert, ist es in den Grundbegriffen der Metaphysik die Langeweile, die als jene Grundstimmung fungiert, die dem Fragen zugrunde liegt. Entscheidend ist in jedem Falle die grundlegende Abhängigkeit der Daseinsanalyse und der Erschließbarkeit von Seinsmöglichkeiten vom jeweiligen Modus des In-der-Welt-Seins. Bevor ich auf die Erschließung der Möglichkeit eines eigentlichen Selbstsein näher eingehe, möchte ich noch einmal die Frage der Strenge in den Blick nehmen. Denn interessanterweise führt Heidegger zufolge eine wesentliche Konsequenz des strengen Denkens wiederum in die exakte Gegenrichtung dessen, wofür die Wissenschaften stehen. Strenges inbegriffliches Denken führt nämlich gerade nicht zu Eindeutigkeit, sondern zu Ambivalenz. Dies betont Heidegger bereits in Sein und Zeit, wo er der Zweideutigkeit ein eigenes Kapitel widmet; und in den Grundbegriffen kommt er wiederum in einem eigenen Abschnitt ausführlich auf dieses Phänomen der Zweideutigkeit zu sprechen.¹² Insofern nämlich das Philosophieren aus einer Grundstimmung heraus sich vollzieht, hängt das Be-greifen von der Ergriffenheit ab, die jedoch, als auf einer – auslegungsbedürftigen – Stimmung gegründet, immer zweideutig bleiben muss. Strenges philosophisches Denken im Sinne Heideggers ist also gerade ein Denken unter Inrechnungstellung von Ambivalenz. Letztere darf gerade nicht beseitigt, sondern es muss ihrer eingedenk philosophiert werden. Genau dies zeigt sich auch bei der von Heidegger entwickelten Daseinsanalyse. In Sein und Zeit tritt die Zweideutigkeit zutage im Zusammenhang mit der phänomenologisch erschlossenen Differenzierung in Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, eine Unterscheidung, die er mit leicht veränderter Begrifflichkeit, auch in den Grundbegriffen beibehält.¹³ Heidegger beginnt seine Untersuchung ausgehend vom Dasein in seiner Alltäglichkeit, um die sich hier offenbarenden ontisch primären Erschlossenheitsformen des Daseins phänomenologisch als Verfallenheit zu deuten, das heißt als derivierte und uneigentliche Möglichkeiten des Daseins, denen die Möglichkeit eines eigentlichen Selbstseinkönnens ontologisch zugrunde liegt. Insofern Heidegger in seiner Methodenexplikation betont, dass es in der Daseinsanalyse um das gehe, „was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt“, da dieses „gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist“¹⁴, ist naheliegend, dass die Identifizierung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Modi der Existenz im Lichte des Problems der Zweideutigkeit zu begreifen ist, insofern, 12 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 173–175, und ders., Grundbegriffe der Metaphysik, S. 17–20. 13 Statt von „eigentlich“ und „uneigentlich“ spricht er in den Grundbegriffen nun von „wesentlich“ und „unwesentlich“. Jedoch ist eine größere Differenz in der Konzeptualisierung nicht auszumachen. Ich verwende sie von daher in meinen Ausführungen synonym. 14 Heidegger, Sein und Zeit, S. 35 (Herv. d. Verf.).
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wie gesagt, Heidegger zufolge eigentliches Philosophieren grundsätzlich und unhintergehbar im Horizont dieser Zweideutigkeit sich vollzieht. Denn die Erschlossenheit, aus der heraus etwas gesagt oder gedacht ist, unterliegt immer der Ambivalenz. So heißt es in Sein und Zeit zur Unmöglichkeit, sich der dem Philosophieren zugrundeliegende Erschlossenheit zu versichern: Alles sieht so aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch. [Denn] die Zweideutigkeit […] hat sich schon im Verstehen als Seinkönnen, in der Art des Entwurfs und der Vorgabe von Möglichkeiten des Daseins festgesetzt.¹⁵
Mit anderen Worten bleibt immer zweideutig, was eigentlich beziehungsweise uneigentlich erschlossen wurde, weshalb Peter Sloterdijk zu Recht anmerkt, dass die hier von Heidegger eingeführte grundlegende Differenz aus positivistischer Perspektive schlicht nicht existiere.¹⁶ Die Schlüsselstelle des Heidegger’schen Philosophierens ist also genau dort, wo es aus positivistischer Perspektive nichts mehr zu entdecken gibt – und genau dort setzt auch die von Heidegger postulierte Strenge des Denkens ein, die konsequenterweise eine andere sein muss als die, welche die positiven Wissenschaften für sich in Anschlag bringen. Heideggers strenges Denken richtet sich somit im Grunde genau auf jenen Bereich, den Ludwig Wittgenstein im Tractatus als das Mystische bezeichnet, also jenen Bereich, für den, dem frühen Wittgenstein zufolge, keine sinnvollen Aussagen möglich sind.¹⁷ Andererseits ist es aber, mit Bouveresse gesprochen, genau der Bereich der in einem eigentlichen Sinne wichtigen Fragen. Heideggers Versuch geht mithin dahin, das im positivistischen Sinne Inexistente und das im Wittgenstein’schen Sinne Unsagbare phänomenologisch einzuholen.
3 Musils Mann ohne Eigenschaften als Phänomenologie eigentlichen Existierens An dieser Stelle gehe ich nun zu Robert Musil über, der, so möchte ich argumentieren, mit einer ganz ähnlichen Herausforderung konfrontiert ist, nämlich mit dem, was Wittgenstein als „das Anrennen gegen die Grenzen der Sprache“¹⁸ be15 Heidegger, Sein und Zeit, S. 173. 16 Vgl. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Band I. Frankfurt a. M. 1983, S. 376. 17 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt a. M. 1963, S. 114. 18 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Malden, Mass. 1999, S. 48: „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und die Beulen, die
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zeichnet. Dabei möchte ich als das zentrale Thema des Mannes ohne Eigenschaften, wie eingangs gesagt, die Suche nach Möglichkeiten eines eigentlichen Selbstseins begreifen. Diese Suche entfaltet sich in einem doppelten Spannungsfeld. Zum einen spannt sich ein solches Spannungsfeld auf in Bezug auf das Problemfeld, welches im vorliegenden Kontext im Vordergrund steht, nämlich jenes zwischen wissenschaftlicher und – wenn man so will – existentieller Welterschließung. Ein zweites Spannungsfeld bildet die Illustration der sich hieraus ergebenden existentiellen Herausforderungen, wie sie sichtbar werden in der Opposition von Menschen mit und ohne Eigenschaften und dem zweideutigen Verhältnis beider zueinander. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass Musils Erkenntnisinteresse letzten Endes ein solches ist, das auf ein begründetes Wie des Existierens geht, derart, wie es der Erzähler im Mann ohne Eigenschaften in Bezug auf die Hauptfigur Ulrich formuliert: „Wann immer man [Ulrich] bei der Abfassung mathematischer oder mathematischlogischer Abhandlungen gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage des Denkens wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.“¹⁹ Ich lese diese Stelle so, dass hiermit eine klare Hierarchisierung vorgegeben ist, die sich auch im narrativen Verlauf des Romans insgesamt bestätigt, dass nämlich die Frage des rechten Lebens im Bouveresse’schen Sinne bedeutend ist. Die Grundorientierung Musils scheint mir insofern näher an der des Mathematikers Blaise Pascal zu sein als an der des Mathematikers Descartes – und in ähnlicher Weise auch näher an Heidegger als am Positivismus. Freilich stellt sich die Frage, wie dieses Denken, das sich auf die einzig wirklich lohnende Frage des „rechten Lebens“ richtet, auszusehen hat – ob es sich um ein strenges Denken im Sinne einer wissenschaftlichen Methodik handelt oder um ein strenges Denken im Sinne Heideggers, das heißt um inbegriffliches Denken. Meine Antwort wäre die Verbindung eines Sowohl-als-Auch mit einem Weder-Noch. Denn es scheint mir charakteristisch für den Mann ohne Eigenschaften zu sein, dass er einerseits die Strenge des Denkens der wissenschaftlichen Geistesverfassung gerne anwenden würde auf die Frage nach dem Wie des rechten Lebens, zugleich aber erkennt, dass letztere sich dem positiv Fixierbaren entzieht; dass er aber andererseits einem mystifizierenden Jargon der Eigentlichkeitspostulate wenig abzugewinnen vermag.²⁰ Dieses Sowohl-
sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen.“ 19 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978 (Gesammelte Werke I–V), S. 255. 20 „Das wissenschaftliche Verfahren – so hatte er es doch erst kurz zuvor als rechtmäßig erläutert – besteht, außer aus Logik, daraus, daß es die an der Oberfläche, an der ,Erfahrung‘ gewonnenen
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als-Auch-Weder-Noch ist sicherlich eine adäquate Positionierung (beziehungsweise Nicht-Positionierung) für den ironischen Zugriff auf diese existentielle Thematik. Die Negativität, die jeder Ironie im Allgemeinen und der methodisch verwendeten Musil’schen im Speziellen eigen ist, findet ihre präziseste positive Wendung vermutlich in dem paradoxen Begriff einer „taghellen Mystik“ als Horizont, wie er sich in den nachgelassenen Fragmenten zu einer Fortführung des Mannes ohne Eigenschaften findet.²¹ Die Frage ist nun, wie Musil die Aufgabe einer Phänomenologie des Selbst in diesem doppelten Spannungsfeld methodisch angeht. Meinem Verständnis nach ist sein Ansatz charakterisiert dadurch, dass er systematisch die Reflexionen bis an die Grenze des Sagbaren vorantreibt, um sie dann ironisch in ihrem – unvermeidlichen – Scheitern erkennbar werden zu lassen. Dieses Verfahren weist, wie ja bereits vor einiger Zeit Manfred Frank gezeigt hat, deutliche Parallelen auf zum Alternieren von Enthusiasmus und Ironie als den beiden komplementären Elemente der Transzendentalpoesie Friedrich Schlegels.²² Die Strenge des Denkens bricht sich gleichsam an der Grenze des Denk- und damit Sagbaren, um auf das zu verweisen, was jenseits dieser Grenze ist. Dieses der Grenze des Sag- und Denkbaren Jenseitige ist ebenfalls wieder jener eigentlich wichtige Bereich, für den auch Wittgenstein den Begriff des Mystischen verwendet. Die Ironie jedoch erlaubt Musil, die Grenze des Sagbaren hinauszuschieben dadurch, dass das Sagen im Modus ironischer Negativität erfolgt. So gelingt es Musil, eine Analyse des Selbst zu entfalten, in der die ihr zugrundeliegende Strenge gerade darin zum Ausdruck kommt, dass jene Zweideutigkeit performativ in die Reflexionen eingeschrieben wird, welche Heidegger nur statisch konstatieren kann. Wie genau dies geschieht, möchte ich im Folgenden kurz skizzieren. Die Hauptfigur Ulrich bringt an verschiedenen Stellen die Genauigkeit ins Spiel, die sich als Begriff in den Kontext der Frage nach der Strenge der Naturwissen-
Begriffe in die Tiefe der Erscheinungen senkt und diese aus jenen erklärt; man verödet und verflacht das Irdische, um es beherrschen zu können […]“ (Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16). 21 Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1112. Freilich ließe sich mit diesem Begriff einer „taghellen Mystik“ auch das keineswegs paradoxe Mystik-Konzept von Tugendhat treffend beschreiben, wie er es in Egozentrizität und Mystik entwickelt. Denn Tugendhat postuliert eine rational und intersubjektiv zugängliche Form der Mystik (vgl. Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München 2006). Bei Musil freilich verstehe ich den Begriff so, dass er jene Spannung adressiert, die besteht zwischen der allgemein gebräuchlichen Assoziation des Mystischen mit dem Dunklen und Esoterischen auf der einen Seite und der Forderung nach Klarheit und Genauigkeit auf der anderen. Die Orientierung geht auf ein Gefühl des Erhebenden, das sich diesseits von opakem Esoterismus erfahren ließe. 22 Vgl. Manfred Frank: Du style et de la signification. Wittgenstein, Musil et les premiers romantiques. In: Hommage à Musil. Hg. v. Marie-Louise Roth. Bern 1995, S. 63–110.
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schaften bzw. der Philosophie einschreibt. „Genauigkeit“ dient im Roman als Orientierungsbegriff, den Ulrich auch im Zusammenhang mit der Frage des rechten Lebens thematisiert. Freilich erweist sich ein vorderhand so genauer Begriff wie „Genauigkeit“ durchaus als ambivalent. In diesem Sinne erfolgt im Roman eine Einteilung in „phantastische Genauigkeit“ auf der einen und „pedantische Genauigkeit“²³ auf der anderen Seite. Wie bereits im einschlägigen vierten Kapitel in Bezug auf Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn²⁴ erfolgt auch hier wieder eine Art von „Überkreuzzuordnung“. Hieß es in Bezug auf Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn, dass ersterer sich auf die Wirklichkeiten – nämlich die „möglichen Wirklichkeiten“ – erstrecke, letzterer hingegen auf die Möglichkeiten – nämlich als „wirkliche Möglichkeiten“²⁵ –, ist es hier so, dass die „phantastische Genauigkeit“ auf die Tatsachen gehe, während die „pedantische Genauigkeit“ sich auf Phantasiegebilde ausrichte. Die positivistische Zurückweisung jedweden – den Bereich des wissenschaftlichen transzendierenden – Wissensgehaltes wäre in diesem Verständnis Ausdruck einer pedantischen Genauigkeit, insofern fixierte Regeln dogmatisch, vorbehaltlos und ironiefrei appliziert werden.²⁶ Denn eine solche Genauigkeit hypostasiert eine Festigkeit und Abgeschlossenheit, denen die Realität gerade nicht entspricht.²⁷ Wenn wir nun auf die bei Heidegger grundlegende Differenzierung zwischen einer Daseinserschlossenheit und Selbstkonzeption im Modus der Eigentlichkeit beziehungsweise der Uneigentlichkeit zurückkommen, dann scheint mir die von Musil im Mann ohne Eigenschaften entfaltete Reflexion auf die Frage des exakten Lebens hier anschlussfähig zu sein, die im Kapitel „Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens“ thematisiert wird.²⁸ Denn signifikanter Weise folgt auf die Überlegungen zur pedantischen und phantastischen Genauigkeit ein ebenso reflektierter wie im Grunde melancholischer Abschnitt, in dem gerade die Frage des Hineinwachsens des jungen Menschen in jene Fiktion thematisiert wird, die die Welt der Erwachsenen darstellt, jenes Seinesgleichen, das erstarrt und ohne Leben ist. Und wenn Heidegger für das eigentliche Selbstsein betont, es handle sich keineswegs um eine Art „erweckten“ Zustands, von dem aus die Welt „richtig“ gesehen werde, dem der verfallene Zustand der „Uneigentlichkeit“ gegenüberstehe, sondern dass es sich vielmehr um „Momente“ des eigentlichen Selbstseins handelt,
23 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 247. 24 Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16–18. 25 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 17. 26 Im Kapitel über den „Tugut“ Lindner gibt Musil ein eloquentes Beispiel pedantischer Genauigkeit. Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1046–1056. 27 Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 250. 28 Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 244–247.
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in denen sich die Welt in einer ursprünglicheren Art und Weise offenbart,²⁹ dann ließe sich Musils Reflexion über das exakte Leben in durchaus ähnlicher Weise lesen. Musil lässt Ulrich einen Gedankengang entwickelt dahingehend, dass es eventuell den Versuch wert wäre, eine Essenz des Eigentlichen aus dem Ballast des Seinesgleichen zu destillieren: Es hieße also ungefähr, soviel wie schweigen, wo man nichts zu sagen hat; nur das Nötige tun, wo man nichts Besonders zu bestellen hat; und was das Wichtigste ist, gefühllos bleiben, wo man nicht das unbeschreibliche Gefühl hat, die Arme auszubreiten und von einer Welle der Schöpfung gehoben zu werden! Man wird bemerken, daß damit der größere Teil unseres seelischen Lebens aufhören müßte, aber das wäre ja vielleicht auch kein so schmerzlicher Schaden.³⁰
Das Problem ist freilich, wie eine solche Bezogenheit zur Wirklichkeit zu realisieren ist, denn sie sitzt gleichsam zwischen den Stühlen der Wissenschaft und einer Philosophie, die die Frage des „rechten Lebens“ in existentiell relevanter Weise in den Blick zu nehmen vermag. Dieses Dilemma bringt Ulrich auf den Punkt, wenn er fragt: „Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt?“³¹ Hier wäre dann möglicherweise die Antwort: das Verständnis des Selbst als Frage und unter Vorbehalt. Ein solches Selbst wäre eines auf Widerruf, wie es die Idee des hypothetisch leben darstellt, die Ulrich folgendermaßen formuliert: Hypothetisch leben bezeichnet „den Mut und die unfreiwillige Unkenntnis des Lebens […], wo jeder Schritt ein Wagnis ohne Erfahrung ist, und den Wunsch nach großen Zusammenhängen und den Hauch der Widerruflichkeit, den ein junger Mensch fühlt, wenn er zögernd ins Leben tritt.“³² Wenn diese Idee also zunächst auf den „jungen Menschen“ gemünzt scheint, so betont Ulrich unmittelbar im Anschluss, dass er das Gefühl habe, davon auch jetzt, aus der Perspektive des Erwachsenen, nichts zurücknehmen zu müssen. In dieser Haltung des hypothetisch leben drückt sich letztlich ein Selbstkonzept aus, das, ähnlich wie das der Eigentlichkeit bei Heidegger, sich nicht mit den ausgetretenen Wegen und Bahnen der Konvention zufriedengeben, ein Alternativmodell jedoch immer nur im Modus der Widerruflichkeit leben kann – eines Existenzmodus „ohne Garantie“, das heißt einer Existenzweise, die immer unhintergehbar ambi-
29 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 179: „Das Dasein kann nur verfallen, weil es ihm um das verstehend-befindliche In-der-Welt-sein geht. Umgekehrt ist die eigentliche Existenz nichts, was über der verfallenden Alltäglichkeit schwebt, sondern existential nur ein modifiziertes Ergreifen dieser.“ 30 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 246. 31 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 254. 32 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 249.
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valent bleibt. Diese Ambivalenz bleibt unhintergehbar, da sie dem epistemologischen Horizont der Moderne gemäß ist, der Gewissheiten im Bereich der Existenz nicht mehr zu bieten vermag. Dabei wird dieser Unhintergehbarkeit der Ambivalenz, und dies scheint mir das Charakteristische des methodischen Vorgehens zu sein, wie es im Musil’schen Roman umgesetzt ist, auch narrativ Rechnung getragen dadurch, dass sämtliche Versuche einer sich konkretisierenden Phänomenologie des Selbst stets wieder ironisch gebrochen werden, um damit einen epistemologischen Modus zu erzeugen, der allein der Ambivalenz und dem Sich-Entziehen der Antwort auf die Frage des „rechten Lebens“ zu entsprechen vermag, wie sie der Moderne gemäß ist. Genau dies ist jener performative Aspekt, auf den ich eingangs hingewiesen habe: Anders als Heidegger, der explizit auf die Ambiguität seines Philosophierens verweist, dies jedoch durch seinen Sprachduktus immer wieder unterläuft, kann Musil diese theoretisch fixierte Ambiguität performativ aus dem literarisch-ironischen Text emergieren lassen. Dabei ist auffällig, dass Musil das immer genau dann tut, wenn das Narrative ins Konzeptualisierende ausgreift, das heißt immer dort, wo die Erzählung phänomenologisch konzeptualisierbare Deutungen entwickelt, die auf den Horizont einer das Seinesgleichen transzendierenden Selbstkonzeption verweisen.³³ Ein Beispiel soll illustrieren, was ich damit meine. In dem Kapitel Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus ³⁴ entwickelt der Erzähler in einer längeren Reflexion die Haltung des Essayismus als Versuch, dem Phänomen einer paradoxen Spannung zwischen dem Willen zum logischen Ordnen und einem Widerstreben gegen einen derartigen, auf Eindeutigkeit strebenden Willen gerecht zu werden. Essayismus, so Musil, sei keineswegs zu verstehen als der Ausdruck der „Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit der Einfälle, die man Subjektivität nennt“³⁵, aber auch „wahr und falsch, klug und unklug“ seien keine Begriffe, „die sich auf solche Gedanken anwenden“ ließen, die „dennoch Gesetzen unterstehn, die nicht weniger streng sind, als sie zart und unaussprechlich erscheinen“³⁶, womit Musil in ähnlicher Weise den Begriff der Strenge in einen Bereich jenseits des eindeutig Sagbaren verschiebt. Musils Verweis auf den Essayismus als die Gleichzeitigkeit von Strenge und Unaussprechlichkeit wird anschließend auf eine existentielle Ebene gehoben, wenn es heißt: „Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben
33 Musil tut dasselbe selbstverständlich auch in der„Gegenrichtung“, das heißt, er„denunziert“ das Seinesgleichen der Menschen mit Eigenschaften, um diese Denunziation ihrerseits wieder ironisch zu unterlaufen und damit die darin enthaltene Wertung in Frage zu stellen. 34 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 247–258. 35 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 253. 36 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 253 (Herv. d. Verf.).
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[…]; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion […].“³⁷ Diese Beschreibung eines „Typus“, wie er dem Gesagten zufolge eine Art exemplarischen Charakters aufzuweisen scheint, wird dann aber vom Erzähler unmittelbar im Anhang an den letzten Satz in einer ironischen Wendung annihiliert, wenn es heißt: „[…] und manchmal sind sie auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben“³⁸. Ob diese Haltung des inneren Schwebens also in irgendeiner Form einer existentiellen Wahrheit entspricht, das lässt sich ‚von außen‘ nicht erkennen, und auch ‚von innen‘ allein in zweideutiger Art und Weise. Da Musil hier die Begriffe des „Heiligen“ und der „Religion“ verwendet und damit die Reflexionen in den Kontext des Religiösen stellt, möchte ich eine kurze Parallele zu Søren Kierkegaard aufmachen, dessen „religiöse Schriftstellerei“ in gleicher Weise auf diese radikale unhintergehbare Ungewissheit der Existenz verweist. Bekanntlich findet sich von Musil nur ein kurzer – und sehr negativer – Hinweis auf Kierkegaard,³⁹ aber mir scheint darin vor allem zum Ausdruck zu kommen, dass Musil von Kierkegaard allein im Kontext der zeitgenössischen Rezeption hat sprechen hören und vor allem, ohne von dessen philosophisch-mäeutischer Methode Notiz zu nehmen, die verblüffende Ähnlichkeiten zu seiner eigenen aufweist.⁴⁰ Worauf es mir aber im vorliegenden Zusammenhang ankommt, das ist die Tatsache, dass Kierkegaard dieselbe Frage der Zweideutigkeit in Bezug auf existentielle Wahrheit in ihrer radikalsten Zuspitzung stellt, und zwar in Furcht und Zittern. Am Beispiel Abrahams wird die Abgründigkeit der Zweideutigkeit greifbar: Ist die Tatsache, dass Abraham bereit ist, seinen eigenen Sohn zu opfern, Ausdruck dafür, dass er ein Heiliger ist oder zeigt sich hier ein Essayist, der sich auf die erschreckendste Weise in einem Abenteuer verirrt hat? Kierkegaard lässt dies offen, sowohl für sich, als auch für den Leser, aber auch für Abraham selbst. Ebenso interessant – und näher an der methodischen Herausforderung, der sich Musils Roman stellt – ist eine ebenfalls in Furcht und Zittern zu findende kurze
37 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 254. 38 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 254. 39 Vgl. Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchges. u. erg. Aufl. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 901 f.: „Heute zitieren selbst Fachphilosophen, wenn sie schöngeistig sind, Kierkegaard. Ich mag u. mochte ihn nicht u brauche ihn nicht: wie kommt das? Vielleicht so: das Positive, was man sich heute bei ihm holt, lag damals schon in der Luft, ich brauche nicht mehr ihn selbst dazu; und so ist mir das Negative, Unangenehme, dem Typ fin de siècle-Ähnliche allein aufgefallen.“ 40 Vgl. hierzu Sebastian Hüsch: Möglichkeit und Wirklichkeit. Eine vergleichende Studie zu Sören Kierkegaards ‚Entweder/Oder‘ und Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘. Stuttgart 2004.
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Reflexion auf den „Ritter des Glaubens“, die die Problematik der Zweideutigkeit noch auf andere, sehr eloquente Weise, illustriert. Dort heißt es: Die hingegen, welche das Kleinod des Glaubens tragen, täuschen leicht, dieweil ihr Äußeres eine auffallende Ähnlichkeit hat mit dem, was […] dem Glauben tief verächtlich ist – mit der Spießbürgerlichkeit. […] / Wüßte ich […], wo solch ein Glaubensritter lebte, so würde ich, so wie ich steh und geh, mich auf den Weg zu ihm machen […]. […] [I]ch habe keinen solchen gefunden, immerhin kann ich ihn mir denken. Da ist er. Die Bekanntschaft wird gemacht, ich werde ihm vorgestellt. In dem Moment, wo ich ihn in Augenschein nehme, schüttle ich […] ihn von mir ab, tue selbst einen Sprung rückwärts, schlage die Hände zusammen und sage halblaut: „Herrgott! Das ist der Mensch, das ist er wirklich? Er sieht ja aus wie ein Rottmeister.“⁴¹
Der Glaubensritter kann also aussehen wie der vermeintlich größte Spießer – genau in dem Sinne, wie Heidegger sagte, eigentliches Philosophieren kann so aussehen, als sei es ein banales Gespräch. Genauso ist es in Musils Roman: in Bezug auf die Einteilung in Menschen mit beziehungsweise ohne Eigenschaften und Möglichkeitssinn beziehungsweise Wirklichkeitssinn – hier gilt stets: „Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“⁴² Es bleibt eine unhintergehbare Inkommensurabilität zwischen Außen und Innen und eine innere Ambivalenz der Erschlossenheit. Hinzu kommt das Problem der sprachlichen Einholbarkeit. Hier kann ich zur Illustration wieder zu Musil selbst zurückkommen, der jenes Problem, das, was existentiell als das Große betrachtet werden kann, sprachlich einzuholen, gleich im Anschluss an die Überlegungen zu den „Heiligen mit und ohne Religion“ adressiert: Nichts ist übrigens bezeichnender als die unfreiwillige Erfahrung, die man mit gelehrten und vernünftigen Versuchen macht, solche großen Essayisten auszulegen, die Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen umzuwandeln und der Bewegung der Bewegten einen „Inhalt“ abzugewinnen; es bleibt von allem ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat. Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn […].⁴³
Hier spannt mithin die Ambivalenz ihr äußerstes Spannungsfeld auf, dessen Extrempunkte das Bedeutungsvolle und der Unsinn sind: Ersteres kann das letztere sein beziehungsweise letzteres ersteres, wie es sich tatsächlich verhält, dies bleibt unhintergehbar zweideutig.
41 Sören Kierkegaard: Furcht und Zittern. Der Begriff Angst. Die Krankheit zum Tode. Düsseldorf 1971, S. 47 f. [„Rottmeister“, dän. Rodemester, hießen in Kopenhagen die städtischen Steuereintreiber, ist vom Übersetzer Emanuel Hirsch an dieser Stelle zu erfahren. – Anm. d. Hg.] 42 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16. 43 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 254.
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Diese Überlegungen bringen mich zurück zu Heideggers Postulat, dass die Phänomenologie die Aufgabe habe, das Verborgene als solches phänomenal zu deuten, und seine methodologische Überlegung, dass dies, die ureigenste Aufgabe der Philosophie, eine größere denkerische Strenge erfordere, als sie für die Wissenschaften überhaupt vorstellbar sei. Ich denke, dass man dem Konzept des strengen Denkens in diesem Sinne durchaus eine Legitimität zugestehen kann, wenn man damit die von mir entfaltete Dimension des Zweideutigen beziehungsweise Unsagbaren bezeichnet, die nur dann überhaupt gehaltvoll in den Horizont geholt werden kann, wenn auf das Unsagbare auf bestmögliche Weise durch das Sagbare verwiesen wird.
4 Fazit Ich denke, es ist deutlich geworden, dass der Begriff der „Strenge“, wie er von Heidegger verwendet wird, vielleicht nicht unbedingt die Zustimmung Musils gefunden hätte, dass jedoch zumindest auf einer grundsätzlichen und existenzphilosophisch relevanten Ebene Heidegger und Musil dennoch möglicherweise eine gewisse Nähe aufweisen. Zumindest hilft meines Erachtens der Blick auf Heidegger, um auch bei Musil jene „questions importantes“ in den Fokus zu rücken, die Bouveresse zufolge keine wissenschaftlichen Fragen sind und die wissenschaftliche Fragen nie sein können. Heidegger selbst versucht, mit einer phänomenologischen Aufweisung der Möglichkeit eigentlichen Existierens einen Weg aufzutun hin zu einem ursprünglicheren Selbstsein, der durchaus Parallelen aufweist zu Musils Fragen nach einer Eigenschaftlichkeit, die nicht im Seinesgleichen geschieht aufgeht. Dies kleidet Musil in paradoxe Konstellationen, wie sie im Postulat einer taghellen Mystik kulminieren. Meine Vermutung wäre, dass Musil im Grunde bis zuletzt – und womöglich notwendigerweise vergeblich? – darum gerungen hat, seine Erwartungen an die Genauigkeit in Einklang zu bekommen mit einer als relevant erlebten Existenzform. Im Bemühen um eine Fassbarkeit dieser problematischen Konstellation bewegt sich Musil in jedem Falle immer am Rande der Sagbarkeit – und im Horizont der Zweideutigkeit. Hier wiederum hat er gegenüber Heidegger einen entscheidenden Vorteil, den nämlich, dass ihm die Ironie als methodisches Werkzeug zur Verfügung steht. Da, wo bei Heidegger der Sprachduktus die unhintergehbare Zweideutigkeit unterläuft, kann Musil die Ironie als jene Brücke verwenden, die durch die ihr intrinsische und für sie konstitutive Ambivalenz das Sagbare und das Unsagbare miteinander verbindet.
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„Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind“. Das Erhabene und das Erzählen in Musils Novelle Die Amsel Abstract: Konfrontationen mit dem Erhabenen sind Grenzsituationen; in ihnen wird sich der Mensch seiner eigenen Endlichkeit und Ohnmacht bewusst. Robert Musils autobiografisch motivierte Novelle Die Amsel rückt drei existenzielle Begegnungen dieser Art ins Zentrum einer Suche nach tauglichen Lebensentwürfen und erkundet damit einhergehende Möglichkeiten authentischer (Selbst‐) Wahrnehmung. Zum Schlüsselelement der Verarbeitung wird dabei ein experimentellliterarisches Erzählen.
Seit jeher ist der Mensch fasziniert von Erfahrungen, die seine Fassungskraft übersteigen. Das Erhabene begegnet ihm entweder unmittelbar in seiner Lebenswirklichkeit oder vermittelt durch die Kunst. Schon in der aristotelischen Poetik soll das Publikum epischer Dichtung durch die Konfrontation mit Erhabenem „in wechselnde Zustände [versetzt]“¹, also emotional erschüttert oder bewegt werden. In A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful aus dem Jahre 1757 beschreibt Edmund Burke das Erhabene als eine Form von Erfahrung, in welcher ein Wahrnehmungsgegenstand² aufgrund seiner enormen Ausmaße die Sinne des Menschen überwältigt. Nach Burke wird der Mensch im Anblick des Erhabenen mit den Grenzen der eigenen Physis konfrontiert; seine Endlichkeit und Ohnmacht werden ihm bewusst. War das Erhabene bis dato im religiösen Kontext der Physikotheologie verortet, so vollzieht Burke seine Emanzipation zu einem Phänomen der subjektiven Wahrnehmung, wodurch es von einem göttliche Allmacht bezeugenden Wunder zu 1 Aristoteles: Poetik. In: ders.: Aristoteles’ Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 5: Poetik. Hg. v. Hellmut Flashar. Übers. u. erl. v. Arbogast Schmitt. Berlin 2008, S. 35. 2 Burke zufolge kann eine ganze Reihe von Phänomenen als Auslöser eines erhabenen Eindrucks fungieren, den Folgenden widmet er sogar ein gesondertes Kapitel: Obscurity, Power, Privation, Vastness, Infinity, Succession and Uniformity, Magnitude in Building, Infinity in Pleasing Objects, Difficulty, Magnificence, Light, Light in Building, Colors, Sound and Loudness, Suddenness, Intermitting, The Cries of Animals, Smell and Taste. Feelings – Pain. Vgl. Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. London 1757. https://doi.org/10.1515/9783110988352-005
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einer urpersönlichen Angelegenheit wird. Doch „[a]bgelöst vom klassizistischen Pathos, von der christlichen Moral markiert das Sublime die Erhebung der ‚reinen Seele‘, eine Leerstelle, die noch besetzt werden muß.“³ Im Anschluss an Burkes Überlegungen stellen die extensiven ästhetischen Reflexionen des 18. Jahrhunderts das Erhabene dem Schönen gegenüber und situieren es im Konnex Emotion – Ratio – Zeitlichkeit. Ausgehend von Kants Kritik der Urteilskraft erfährt es abermals eine drastische Umorientierung: Nicht das Unermessliche der äußeren Natur ist erhaben, sondern das menschliche Vermögen, das eigene physische Ohnmachtsempfinden durch Vernunftideen zu überwinden. Kant greift Burkes Hinweis auf, dass das Erhabene ein ästhetisches Gefühl sei, welches Lust und Unlust in schnellem Wechsel evoziere. Er definiert es wie folgt: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß […], was [also] über alle Vergleichung groß ist“⁴. Hierbei wird ein Maßstab zugrunde gelegt, der „zu keiner logischen (mathematisch-bestimmten), sondern nur ästhetischen Beurtheilung der Größe brauchbar ist, weil er ein bloß subjectiv dem über Größe reflectirenden Urtheile zum Grunde liegender Maßstab ist“⁵. Somit ist das Erhabene keine Eigenschaft des Betrachteten selbst, sondern „allein in unsern Ideen zu suchen“⁶. Kant unterscheidet das ‚Mathematisch-Erhabene‘ vom ‚Dynamisch-Erhabenen‘.⁷ Ersteres gründet in der Vorstellung von Naturerscheinungen in einer unendlichen, die menschliche Einbildungskraft überfordernden Größe.⁸ Letzteres bezeichnet das Erleben roher Naturgewalten, deren überwältigende Macht jederzeit in der Lage erscheint, die physische Existenz des Menschen zu vernichten.⁹ Beide Weisen der Überforderung äußern sich in einer Unlust, in der das Symptom einer Krise im Weltverhältnis und Selbstverständnis gesehen werden darf. Sie rufen jedoch im Subjekt das Bewusstsein einer„Selbsterhaltung von ganz andrer Art“ [Kant, S. 261] hervor: In der Unlust am widrigen, für die Einbildungskraft unzweckmäßigen Eindruck wird dem Subjekt in dem
3 Jörg Heininger: Erhaben. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent-Grotesk. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Weimar 2010, S. 275–310, hier S. 300. 4 Immanuel Kant: Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1: Werke. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1908, S. 248. 5 Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1, S. 249. 6 Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1, S. 250. 7 Diese Kategorisierung geht auf eine Einteilung in Kants Kritik der reinen Vernunft zurück. 8 Vgl. Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1, S. 248–260. 9 Vgl. Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1, S. 260–266.
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„Gefühl, daß wir reine, selbstständige Vernunft haben“ [Kant, S. 258], seine übersinnliche Bestimmung bewusst.¹⁰
Zur unabdingbaren Voraussetzung dafür wird ein existenzversichernder Abstand: Erst wenn die unmittelbare Ausgesetztheit überwunden ist und sich das erlebende Subjekt „in Sicherheit befinde[t]“¹¹, kann der ästhetische Eindruck verarbeitet werden. In Schillers theoretischen Schriften werden diese Überlegungen fortgesetzt und historisch perspektiviert: Zwar ist der Mensch als ‚Sinnenwesen‘ einer unbändigen Gewalt ausgeliefert, doch kann er sich als ‚Vernunftwesen‘ zu einer von äußeren Einflüssen unabhängigen Moral erheben.¹² Dergestalt Autonomie und Souveränität des Subjekts beanspruchende Konzepte stoßen schon bei Jean Paul¹³ auf zeitgenössischen Widerspruch; ihre transzendentale Begründung wird durch Nietzsches Kritik an metaphysischen Erklärungssystemen mindestens vorläufig verworfen. Im Kontext der literarischen Moderne spitzt Hofmannsthals Ein Brief das Problem dann sprachskeptisch zu: Dem fiktiven Verfasser des titelgebenden Briefs scheint die Welt zwar sinnhaft organisiert, doch muss Lord Chandos seine Erfahrungen nach genauerer Prüfung als funktionale Vereinfachungen entlarven, woraufhin sich ihm die Welt in einer fremden Ordnung offenbart.¹⁴ Deren genuine Sinnzusammenhänge entziehen sich radikal seinem Verständnis, sodass Chandos sich eingesteht, die Dinge zwar noch benennen, aber nicht mehr erreichen zu können. Da die Welt sich dem sprachlichen Zugriff ent-
10 Birgit Recki: Analytik des Erhabenen. In: Kant-Lexikon. Bd. 1: a priori / a posteriori – Gymnastik. Hg. v. Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin. Berlin/Boston 2015, S. 80 f., hier S. 81. 11 Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1, S. 261. 12 „‚Erhaben‘ nennen wir ein Objekt, bey dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Ueberlegenheit, ihre Freyheit von Schranken fühlt“. Friedrich von Schiller: Vom Erhabenen. In: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20.1: Philosophische Schriften I. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 171–190, hier S. 171. 13 In seiner Vorschule der Ästhetik definiert Jean Paul „das Erhabene als das ‚angewandte Unendliche‘“; er kritisiert die Begriffsbestimmungen Kants und Schillers („Den ungeheuren Sprung vom Sinnlichen als Zeichen, ins Unsinnliche als Bezeichnetes – welchen die Pathognomik und Physiognomik jede Minute thun muß – vermittelt nur die Natur, aber keine Zwischen-Idee.“) und rubriziert das Erhabene in drei bzw. fünf Kategorien: das mathematische oder optische Erhabene, das dynamische oder akustische Erhaben sowie das sittliche oder handelnde Erhabene. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Jean Paul Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd.V,1–3: Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Hg. von Florian Bambeck. Berlin/München/Boston 2014, hier S. 151–153. 14 „alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden.“ Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. v. Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1991, S. 45–55, hier S. 50.
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zieht, verlieren die Worte ihren referenziellen Wert. Chandos’ Brief ist paradigmatisch für die Krise des modernen Subjekts, in Worte fassen zu müssen, was nurmehr erahnbar ist und sich sprachlich nicht begreifbar machen lässt.
1 Identitätskonflikte zwischen Schicksal und Selbstbestimmung Mit unterschiedlichen Akzentverschiebungen und auf historisch je unterschiedliche Weise evoziert die Konfrontation mit dem Erhabenen Orientierungsverluste, wodurch eine unmittelbare, intuitive Qualität von Erfahrung möglich wird.¹⁵ Das Dilemma der notwendigen, aber unmöglichen Mitteilung von Nicht-Sagbarem bzw. Nicht-Darstellbarem fordert dabei zu experimentellem Erzählen heraus. Solchermaßen problembehaftete Konzeptionen des Erhabenen finden sich auch im Werk Robert Musils, besonders markant in seiner Novelle Die Amsel. Vom Tod seiner Mutter zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Ursprung, Sinn und Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Existenz veranlasst,¹⁶ verarbeitet Musil hierin autobiographische Ereignisse zu einer Suche nach tauglichen Lebensentwürfen. Die darin erörterten Bemühungen um Alternativen zum Modus Vivendi eruieren Möglichkeiten authentischer (Selbst‐)Wahrnehmung und erarbeiten prekäre Identitätskonzepte. Auf der ‚histoire‘-Ebene¹⁷ erzählt ein Mann nach langer Abwesenheit einem Jugendfreund seine Lebensgeschichte. Beachtlich ist dabei, dass entwicklungspsychologische Stationen wie die Emanzipation von den Eltern, die Integration in die Arbeitswelt, die Wohnungs- und Partner*innensuche zwar offensichtlich erfolgreich absolviert werden, aber für die Persönlichkeitsentwicklung keine Rolle spielen. Im Gegenteil wird die bürgerliche Normalbiographie für Azwei zum Ausgangspunkt des eigentlichen Problems. Am Ende dieses Weges beginnt seine (selbst‐)skeptische Identitätssuche, für die drei Erlebnisse besonders bedeutsam werden. Von außen betrachtet, mag es sich jeweils um Nebensächlich-
15 Vgl. Heininger, Erhaben, S. 277. 16 Darauf weisen die folgenden beiden Tagebucheinträge hin: „In welchem Maße tritt auch ein positives, metaphysisch beeinflusstes Verhältnis hinzu? Wende beim Tod meiner Mutter.“ „Es ist mir in der Amsel nicht gelungen, die Stärke meiner Mutter auszudrücken“, Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, hier S. 914, 948. Zur Werkgenese vgl. Marie-Louise Roth: La genèse de la nouvelle ‚Le Merle‘ de Robert Musil. In: Littérature et culture allemandes. Brüssel 1985, S. 345–364 sowie Peter West Nutting: Uncaging Musil’s Amsel. In: Publications of the Modern Language Association of America (PMLA) 98 I (1983), S. 47–59, hier S. 48 f. und 57 f. 17 Im erzähltheoretischen Sinne Todorovs.
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keiten handeln, für Azwei jedoch initiieren sie entscheidende Entwicklungsprozesse. Gemeinsam ist ihnen jeweils eine Konfrontation mit dem Erhabenen. Auf einer novellentypisch vorgelagerten metadiegetischen Erzählebene wird besagtes Setting als Versuchsanordnung im Stile psychologischer Studien eingeführt. Beide Erzählebenen exponieren den Akt des Erzählens als wesentlich für die Bedeutung der Geschichte. Das seitens der Forschung zur Amsel bislang wenig¹⁸ beachtete Verhältnis zwischen dem Erhabenen und dem Erzählen steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Im Spannungsgefüge zwischen Fremd- und Selbstbestimmung versucht der autodiegetische Binnenerzähler Azwei, von einem narzisstischen Egozentriker – ironisch urteilt schon der anonyme Rahmenerzähler über „dieses kleine, alberne, ichige Scheusal“¹⁹ – zu einem besseren Menschen zu werden. Fragen nach Identität und Autonomie werden hierbei mit moralischen Parametern verwoben. Azwei möchte ein „guter Mensch“ (GW 7, S. 562) werden; er bemüht sich um ein gelingendes Leben.²⁰ Dass es hierbei keinesfalls um die individuelle Entfaltung einer spezifischen Persönlichkeit geht, sondern die Geschichte vielmehr modellhaften Charakter beansprucht, wird gleich zu Beginn deutlich: Dort erklärt der anonyme Rahmenerzähler ‚Ich‘ zur unbeständigen Variablen. Problematisiert wird der Anspruch dieses ‚Ichs‘, sich überzeitlich als ein und dieselbe Person begreifen zu wollen. Strukturalistisch gesprochen wird die Bezeichnung ‚Ich‘ in der Folge zur rein funktionalen Bezugsgröße reduziert, da der Signifikant konstant bleibt, wäh-
18 Ausnahmen sind Busch, Pickerodt und Wiethölter, die das Erhabene zwar erwähnen, seine Verbindung mit dem Erzählen aber nicht dezidiert analysieren; siehe Walter Busch: Die ‚Sekunde einer gelungenen Gebärde‘. Robert Musils Novelle Die Amsel. In: Robert Musil, „Die Amsel“. Kritische Lektüren. Materialien aus dem Nachlaß. Hg. v. Walter Busch u. Ingo Breuer. Innsbruck/Wien 2000, S. 183–224, hier S. 188; Gerhart Pickerodt: Robert Musils Die Amsel als narratives Modell. In: Musil, „Die Amsel“, S. 61–75, hier S. 69, sowie Waltraud Wiethölter: Von Odysseus nach Azwei: HerKunft, mit Musils Amsel buchstabiert. In: Herkünfte. historisch · ästhetisch · kulturell. Beiträge zu einer Tagung aus Anlaß des 60. Geburtstags von Bernhard Greiner. Hg. v. Barbara Thums, Volker Mergenthaler, Nicola Kaminski u. Doerte Bischoff. Heidelberg 2004, S. 39–65, hier S. 57. 19 Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten IV. Die Amsel. In: ders.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 7: Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 548–562, hier S. 548 (im Folgenden direkt im Text unter der Sigle GW 7 mit Seitenangabe). 20 Schon in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 beschreibt Kant, inwiefern moralische Intuitionen mit Momenten der Negativität einhergehen, welche das ästhetische Gefühl des Erhabenen hervorruft. Recki spricht diesbezüglich von einem „Gefühl des Moralisch-Erhabenen“ (Birgit Recki: Erhabene, das. In: Kant-Lexikon. Bd. 1: a priori / a posteriori – Gymnastik. Hg. v. Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin. Berlin/ Boston 2015, S. 536–540, hier S. 538). Vgl. hierzu vor allem Schillers Bemühungen um eine geistige Emanzipation des Menschen sowie Jean Pauls sittlich-handelnde Kategorie des Erhabenen, Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, S. 153.
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rend sich das Signifikat verändert.²¹ Azwei formuliert dies folgendermaßen: „Wenn etwas vorbei ist, dann bin ich auch an mir vorbei“ (GW 7, S. 558). Gegenüber naiven²² Normierungstendenzen im Umgang mit solchen Persönlichkeitsvarianten bleibt er skeptisch: „dieses Ich-Sparkassen-System ist mir völlig unbegreiflich.“ (GW 7, S. 558) Auf die Frage nach identitätsstiftenden Konstanten bietet Azweis bisherige Sozialisation drei Antwortmöglichkeiten an: Gott, Geld und das Geschenk der Geburt. Nacheinander werden sie systematisch auf ihre Tauglichkeit hin geprüft. Anstatt sich als Jugendlicher „den religiösen Grundsätzen“ (GW 7, S. 548) eines Erziehungsinstitutes zu unterwerfen, erfindet Azwei „Herausforderungen Gottes“, die unter anderem „Selbstvertrauen“ (GW 7, S. 548) erfordern.²³ Wenn er in seiner Studienzeit einen dezidiert materialistischen Lebensstil annimmt, geht es ihm dabei vordergründig um eine Absage an religiöse Seinsweisen. Die geographische Distanzierung während seines Russlandaufenthaltes stellt sich als für seine Persönlichkeit irrelevante, da nur äußerliche Veränderung seiner Lebenssituation heraus. Allerdings erfüllt ihn auch das kapitalistische Leben nicht; im Gegenteil erfährt er sich im gutbürgerlichen Milieu der Berliner Mietskasernenhöfe als „physiologische oder wirtschaftliche Maschine“ (GW 7, S. 549) und reflektiert das Schablonenhafte eines solchen Lebens kritisch: „Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstandswohnungen schon vorgerichtet, wenn man einzieht“ (GW 7, S. 550). Die individuelle Freiheit reduziere sich hierbei auf die Fragen, „wo und wann man etwas tut, denn was die Menschen tun, ist fast immer das gleiche“. In Azweis Fall lautet der Zuordnungsschlüssel: eine Wohnung, eine Frau, ein sortiertes bürgerliches Leben, im Standardmaß.²⁴ Zwar lassen sich hier bereits eindeutige, wenn auch vorläufig noch unproduktive Ahnungen von etwas Mathematisch-Erhabenem ausmachen: „Ich gebe übrigens heute noch zu, dass etwas Gewaltiges in dieser Regelmäßigkeit liegt […]
21 Dieses philosophische Problem ist Musil aus Ernst Machs Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen bekannt; vgl. dazu Franziska Bomski: Die dialogische Identität in Robert Musils Novelle Die Amsel. In: Leib/Seele – Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900. Hg. v. Markus Dauss u. Ralf Haekel. Würzburg 2009, S. 339–356, hier S. 341–344 sowie S. 349. 22 Löser spricht in diesem Zusammenhang passend von „[g]leiche[m] Bezug trotz verschiedener Substanz“; Kai Löser: Das Ich und das Andere: Identität, Sinn und Erzählen in Die Amsel von Robert Musil. In: The German Quarterly 83 III (2010), S. 297–316, hier S. 300. 23 Mauser weist darauf hin, dass Azwei fortwährend die Grenzen seiner Umwelt auslotet, was sich im Falle seiner religiösen Erziehung auf die Macht Gottes übertrage. Wolfram Mauser: „Es hat sich eben alles so ereignet…“. Zu Musils Erzählung „Die Amsel“. In: Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik. Hg. v. Sebastian Goeppert. Freiburg 1978, S. 100–123, hier S. 109. 24 Mauch spricht von einer„Zwangsjacke der Konformität“; Gudrun Mauch: Das Märchen in Musils Erzählung „Die Amsel“. In: Literatur und Kritik 113 (1977), S. 146–166, hier S. 151.
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und damals glaubte ich, in diesem Geist der Massenhaftigkeit und Öde etwas wie eine Wüste oder ein Meer zu sehen“ (GW 7, S. 550). Doch schon die Formulierung „damals glaubte ich“ lässt erahnen, dass der erzählende Azwei sich bereits seines Irrtums bewusst geworden ist. Solchermaßen abgestumpft und standardisiert lässt sich die Selbstlüge, „ein Leben aus eigener Kraft geschaffen“ (GW 7, S. 551) zu haben, jedenfalls nicht aufrechterhalten. Wie sehr seine Existenz von äußeren Faktoren abhängt, wird deutlich, als er sich eingestehen muss, dass aller materiellen Selbstständigkeit eine viel wesentlichere Grundlage voransteht: das Geschenk des Lebens. Dieses hat er von seinen Eltern ohne Möglichkeit erhalten, es fordern oder verweigern zu können; ein Gedanke, der für ihn noch in der Rückschau „einen Schatz von Unregelmäßigkeit und Unberechenbarkeit“ (GW 7, S. 549) birgt.²⁵ Selbstständigkeit entpuppt sich immer rigoroser als Illusion. Nach eingehender Prüfung weisen alle herkömmlichen Identifikationsangebote dasselbe Problem auf: ein wesentliches Ausmaß an Fremdbestimmung. Wenn aber weder sein äußeres Erscheinungsbild noch sein inneres (und damit verbunden auch moralisches) Empfinden unveränderlich bleiben, wenn darüber hinaus allerorts versichert scheint, wie wenig selbstbestimmt das eigene Leben ist – inwiefern ist die Konstitution einer Identität dann überhaupt möglich?²⁶ Als unbeantwortete Fragen stehen diese Erkenntnisse am Ende einer krisenhaften Bestandsaufnahme einer bürgerlichen Normalbiographie im Raum. Sein ernüchterndes Zwischenergebnis weckt in Azwei das Bedürfnis, etwas Grundlegendes zu ändern. Seine Suche nach neuen Perspektiven macht ihn dabei nicht nur bereit für Veränderungen, sondern geradezu veränderungsbedürftig. Doch mit Orts-, Job- oder Beziehungswechsel scheint es nicht mehr getan, und so beginnt Azwei, sich intensiv mit seiner eigenen Wahrnehmung zu beschäftigen, wobei er – nicht ohne Selbstironie – versucht, sie zu ‚entkonventionalisieren‘: „Ich bin einmal auf einen Schrank geklettert, nur um die Vertikale auszunutzen, und kann sagen, daß das unangenehme Gespräch, das ich zu führen hatte, von da ganz anders aussah. Azwei lachte über seine Erinnerung und schenkte sich ein“ (GW 7, S. 550).
25 Mit Mauser lässt sich in dieser „Konflikt-Konstante“ (Mauser, S. 107) der innere Beweggrund für Azweis Handeln ausmachen. 26 Busch fragt treffend: „unter welchen Bedingungen [erlaubt] die objektive Welt eine subjektive Hervorbringung von Kreativität, Abweichung, Neuartigkeit oder […] eine Schöpfung[?]“ Busch, S. 186.
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2 Von der „physiologischen Maschine“ zum erlebenden Subjekt Tatsächlich werden alle Begegnungen mit dem Erhabenen von einer Passage eingeleitet, in welcher ein perzeptorisches Feintuning stattfindet. Gleich zu Beginn markiert Azwei seinen akustikzentrierten Fokus, wenn er die Berliner Innenhofkulisse – den Ort seiner ersten Begegnung mit dem Erhabenen – eindeutig auditiv ausstaffiert:²⁷ Köchinnen sitzen mitten in den Wänden, in viereckigen Löchern, und singen. Man sieht es dem roten Kupfergeschirr auf den Borden an, wie laut es klappert. Tief unten grölt eine Männerstimme Scheltworte zu einem der Mädchen empor, oder es gehen schwere Holzschuhe auf dem klinkernden Pflaster hin und her. (GW 7, S. 550; Herv. d. Verf.)
Im Gegensatz zu visuellen Reizen fehlt bei akustischen jedwede Distanz; sie wirken unmittelbar auf das hörende Subjekt ein. Für Jean Paul ist das Ohr daher auch „der unmittelbare Gesandte der Kraft und des Schreckens“²⁸. Deshalb nimmt insbesondere die Musik in ästhetischen Reflexionen über das Erhabene eine Sonderstellung ein. Erstaunlich ist, dass Azwei keinen Grund für seine nun einsetzenden Selbstbeobachtungen und philosophisch-existenziellen Gedankengänge anführt – im Gegenteil betont er mehrfach das Bekannte bzw. den Wiederholungscharakter²⁹ der Situation. Um seinem Zuhörer den Ausgangspunkt einer so bedeutsamen Reflexion über den Ursprung des eigenen Lebens nachvollziehbar zu machen, genügen Azwei wenige akustische Reizsignale; der Ausgangspunkt scheint so alltäglich, dass er sich vom zuhörenden Aeins mühelos vervollständigen lässt. Im dunklen Herrenzimmer sitzend, gibt Azwei sich ganz seiner Wahrnehmung hin. Während sich die Geräusche der Nacht allmählich mit „Trunkenheit und Späte“ (GW 7, S. 551) berauschen, wird Azwei plötzlich „bewußt“, dass er auf „etwas“ wartet, ohne eine konkrete Vorstellung davon zu haben, was das sein könnte. Zeit vergeht, ohne dass etwas Weiteres geschähe. Seine überspannte Erwartungshaltung wird 27 Ausführlicher betrachtet hat dieses Phänomen Eva-Maria Thüne: Töne wie Leuchtkugeln. Zur sprachlichen Repräsentation akustischer und optischer Wahrnehmung in Robert Musils Die Amsel. In: Musil, „Die Amsel“, S. 77–93, bes. S. 80; vgl. auch die knappen, aber treffenden Ausführungen von Fred Lönker: Nachwort. In: Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten. Stuttgart 2013, S. 165–189, hier S. 186 f. 28 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, S. 151. 29 „Sie begann mit einem Abend wie viele andere. […] der einzige Unterschied von ähnlichen Abenden […] aber auch das war schon vorgekommen“ (GW 7, S. 551).
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enttäuscht und er geht missmutig-„geräuschlos“ (GW 7, S. 551) zu Bett. Mit der Erkenntnis, dass sich das Außergewöhnliche nicht erzwingen lässt, ist diese Episode indes noch nicht vorbei: Ich erwartete nun nichts mehr als den Schlaf und am nächsten Morgen einen Tag wie den abgelaufenen. Ich wußte bald nicht mehr, ob ich wachte oder schlief. Zwischen den Vorhängen und den Spalten der Rolläden quoll dunkles Grün auf, dünne Bänder weißen Morgenschaums schlangen sich hindurch. Es kann mein letzter wacher Eindruck gewesen sein oder ein ruhendes Traumgesicht. Da wurde ich durch etwas Näherkommendes erweckt; Töne kamen näher. Ein-, zweimal stellte ich das schlaftrunken fest. Dann saßen sie auf dem First des Nachbarhauses und sprangen dort in die Luft wie Delphine. Ich hätte auch sagen können, wie Leuchtkugeln beim Feuerwerk; denn der Eindruck von Leuchtkugeln blieb; im Herabfallen zerplatzten sie sanft an den Fensterscheiben und sanken wie große Silbersterne in die Tiefe. Ich empfand jetzt einen zauberhaften Zustand; ich lag in meinem Bett wie eine Figur auf ihrer Grabplatte und wachte, aber ich wachte anders als bei Tage. Es ist sehr schwer zu beschreiben, aber wenn ich daran denke, ist mir, als ob mich etwas umgestülpt hätte; ich war keine Plastik mehr, sondern etwas Eingesenktes. Und das Zimmer war nicht hohl, sondern bestand aus einem Stoff, den es unter den Stoffen des Tages nicht gibt, einem schwarz durchsichtigen und schwarz zu durchfühlenden Stoff, aus dem auch ich bestand. Die Zeit rann in fieberkleinen schnellen Pulsschlägen. Weshalb sollte nicht jetzt geschehen, was sonst nie geschieht? – Es ist eine Nachtigall, was da singt! – sagte ich mir halblaut vor. (GW 7, 551 f.)
In jenem Augenblick, da sein Bewusstsein zwischen Schlafen und Wachen oszilliert, beginnen die altvertrauten Strukturen seiner Weltwahrnehmung ineinanderzufließen. Die dichten Metaphern- und Symbolkomplexe – Licht, Wasser, Töne, Farben, Vogel, Traum, Tod – verquicken Sinnliches und Existenzielles miteinander und werden in den beiden folgenden Begegnungen mit dem Erhabenen wieder aufgegriffen. Ebenso allmählich, wie der neue Tag in die Isolation seiner künstlich verdunkelten Mietskasernenwände einbricht, erfüllt den Dahindämmernden ein befremdlicher (Sinnes‐)Eindruck. Wie das Wort bereits nahelegt, geht es um eine Einwirkung von außen, und damit um etwas nicht Intentionales, etwas nicht Steuerbares. Jetzt, da er nicht mehr forciert, widerfährt ihm etwas. Akustische Vorgänge rufen „einen zauberhaften Zustand“ in ihm hervor. Das Wort zauberhaft bezeichnet hier tatsächlich etwas Wunderbares, Übernatürliches – und betont Azweis Verlegenheit, seinen Zustand nicht klarer beschreiben zu können. Seine Verunsicherung ist indes verständlich, denn was hier in sein Leben tritt, ist das völlig Unbekannte. Dass sich in dieser Szene eine Initiation vollzieht, gestaltet Musil sprachlich bis ins kleinste Detail: Azwei ist hier nicht bloß Schlafender; folglich wacht er weder auf, noch wird er geweckt. Stattdessen wird er erweckt. Wecken kann man häufig, erwecken indes nur ein einziges Mal. Und tatsächlich – auf die Initiation kann das Neue folgen. Azwei markiert dies mit der Frage: „Weshalb sollte nicht jetzt geschehen, was sonst nie geschieht?“. Für die Töne, die er vernimmt,
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bietet sein Verstand eine außergewöhnliche, doch zumindest verständliche Lösung an: Das ist Vogelgezwitscher. Und was da zwitschert, ist eine Nachtigall. Diese Nachtigall singt für mich. Motivgeschichtlich kulminieren im Gesang der Nachtigall drei Bedeutungsebenen:³⁰ 1) Liebe – etwa in Shakespeares „It was the nightingale, and not the lark“ 2) Tod – etwa in Ovids Philomele-Mythos 3) Dichtkunst – etwa in Percy Bysshe Shelleys Defence of Poetry oder Hölderlins An die Nachtigall In einer Traditionslinie, die sich bis zum mittelalterlichen Minnesang rückverfolgen lässt, symbolisiert die Nachtigall noch in der Romantik den unglücklich darbenden, schwärmerischen, sehnsüchtigen, einsamen Sänger in der Nacht. Vollkommen der Vorstellung hingegeben, ebenjene Nachtigall „sei weither zu mir geflogen. Zu mir!!“ (GW 7, S. 552) – mit doppelten Ausrufezeichen! – wähnt Azwei sich auserwählt.³¹ Wie ein romantischer Märchenheld – „Lebt wohl, Geliebte, Haus, Stadt..!“ (GW 7, S. 552) – beschließt er spontan, dem Ruf zu folgen. Aber Musils Azwei ist kein romantischer Märchenheld; noch bevor er seinen Entschluss fassen kann, ist der Vogel bereits fort. Und es kommt noch schlimmer: Denn nunmehr wieder wach, stellt Azwei ernüchtert fest, dass es weder Nachtigall noch Lerche – sondern eine schlichte Amsel gewesen sein muss, deren Gesang ihn so verzaubert hat. Diese Erkenntnis verfehlt ihren kathartischen Effekt nicht. Azwei versteht, dass sein Bedürfnis nach Außergewöhnlichkeit sein Empfinden blockiert hat. Denn „gerade daß es bloß eine ganz gewöhnliche Amsel gewesen ist, was mich so verrückt machen konnte: das bedeutet noch viel mehr!“ (GW 7, S. 552) Und tatsächlich – so ‚ganz gewöhnlich‘ wie die Amsel ist auch er selbst. Dass sich hier en passant auch eine habituelle Entsprechung findet, kann daher nicht verwundern: Amseln ahmen Verhaltensmuster anderer Vögel nach; genau wie Azwei die Verhaltensmuster seiner Gesellschaft.³² In der Retrospektion thematisiert Azwei die Schwierigkeit, dem Geschehen adäquaten Ausdruck zu verleihen, wobei er sich eines irrealen Vergleichs bedient: Bei dem Gedanken an das Erlebte ist ihm, „als ob mich etwas umgestülpt hätte“ (GW 7, S. 552). Dieses Umstülpen bezeichnet ein Kippmoment, bei dem das Innere zuäußerst gekehrt und das Äußere verinnerlicht wird. Azwei versucht hier zu schil30 Vgl. dezidierter Adam Lengiewicz: Nachtigall. In: Metzlers Lexikon literarischer Symbole. Hg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob. 2., erw. Aufl. Stuttgart/Weimar 2012, S. 290 f. 31 Vgl. Lönker, Nachwort, S. 186. 32 Busch verwendet diesbezüglich den aus der Biologie entlehnten psychologischen Terminus „Mimikry“ (Busch, S. 185).
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dern, wie etwas Fremdes in sein Bewusstsein gelangt ist, welches gewöhnlich hinter physischer Gegenständlichkeit verborgen bleibt. Das Weltverhältnis und Selbstverständnis des erlebenden Subjekts werden hier einen Moment lang krisenhaft erschüttert,³³ wovon auch die Wahrnehmung der Raum-Zeit-Strukturen tangiert wird – die Dinge verlieren an Kontur, sie scheinen ineinanderzufließen. Noch einmal: Das Umstülpen seiner Person geschieht dabei nicht wirklich, sondern erst retrospektiv scheint es ihm, als ob dergleichen geschehen wäre. Die Welt bleibt unverändert, allein die (Selbst‐)Wahrnehmung erweitert sich für einen Moment. Entscheidend für diese außergewöhnliche Bewusstseinserweiterung ist, dass weder die stupide Befolgung konventionalisierter Verhaltensmuster noch die intentionale Abkehr von ihnen den erwünschten Effekt erzielt. Stattdessen sensibilisiert sich Azwei für Veränderung, woraufhin dem nunmehr Hellhörigen etwas Anderes widerfährt; und kurz erlebt er sich auf ekstatische Weise als Teil davon – wähnt er doch, aus derselben Materie zu bestehen wie der Raum, der ihn umgibt: „Und das Zimmer war nicht hohl, sondern bestand aus einem Stoff, den es unter den Stoffen des Tages nicht gibt, einem schwarz durchsichtigen und schwarz zu durchfühlenden Stoff, aus dem auch ich bestand.“ (GW 7, S. 552) Azwei empfindet in dieser Situation nicht die Ohnmacht und Begrenztheit seiner eigenen Körperlichkeit, sondern im Gegenteil die Aufhebung klarer Grenzen. Diesen Zustand zu erklären, fehlt ihm das Ausdrucksvermögen, worin er Hofmannsthals Lord Chandos ähnelt, dem die Worte „im Munde [zerfallen] wie modrige Pilze“³⁴. „[D]ie Geschichte mit der Nachtigall“ (GW 7, S. 551) macht Azwei nicht zum Märchenhelden, veranlasst ihn aber, seine bürgerliche Existenz und mit ihr seine Frau zu verlassen. Er geht ohne Vorankündigung und ohne Abschied von der bezeichnenderweise Schlafenden fort. Diese Handlung passt nicht mehr in das Gefüge sozialen Anstands und formuliert daher seine Abkehr vom tradierten Moralverständnis.
3 Jenseits rationaler Verfügbarkeit – die Fliegerpfeil-Episode Noch zweimal begegnet Azwei dem Erhabenen. Beiden Geschichten geht eine Sensibilisierung der Wahrnehmung und das damit verbundene Ineinanderfließen festgeglaubter Strukturen voraus, wie sie bereits aus der Initiationserfahrung bekannt ist. In beiden Geschichten wird das Gefühl des Auserwähltseins und das 33 Vgl. Recki, Analytik des Erhabenen, S. 81. 34 Hofmannsthal, Ein Brief, S. 48.
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Geschenk des Lebens symbolisch wiederholt. Die zu ihrer Beschreibung verwendeten Metaphern-, Bild- und Motivkomplexe knüpfen ebenfalls an die erste Begegnung mit der Amsel an. In der Fliegerpfeil-Episode verarbeitet Musil ein persönliches Kriegserlebnis.³⁵ Im Niemandsland des Schlachtfelds vernimmt Azwei das „Klingen“ (GW 7, S. 556) eines heransausenden Geschosses; als er gewahr wird, dass nur er „diesen feinen Gesang“ hören kann, steigt diesem „etwas aus mir entgegen: ein Lebensstrahl; ebenso unendlich wie der von oben kommende des Todes“. Den Einschlag des anrasenden Geschosses nimmt Azwei wie folgt wahr: „Ich stand am gleichen Fleck, mein Leib aber war wild zur Seite gerissen worden und hatte eine tiefe, halbkreisförmige Verbeugung ausgeführt.“ (GW 7, S. 557) Ohne Verfügungsgewalt des Beschenkten wird das Geschenk des Lebens hiermit wiederholt. Das Handlungspassiv entzieht die ausführende Kraft auch sprachlich: Azweis Körper wird zur Seite gerissen. Etwas Anderes übernimmt hier die Kontrolle. Später wird Azwei in Bezug auf den Krankheitsverlauf seiner Mutter formulieren: Ich glaube, daß alles, was uns als Wille oder als unsere Gefühle, Empfindungen und Gedanken vorkommt und scheinbar die Herrschaft über uns hat, das nur im Namen einer begrenzten Vollmacht darf, und daß es in schweren Krankheiten und Genesungen, in unsicheren Kämpfen und an allen Wendepunkten des Schicksals eine Art Urentscheidung des ganzen Körpers gibt, bei der die letzte Macht und Wahrheit ist. (GW 7, S. 559)
Eine solche Urentscheidung trifft sein Körper in der Fliegerpfeil-Episode. Dieser Wille ist originärer als jede Entscheidung seiner Ratio. Hier also erlebt Azwei das Erhabene als urtümliches Vermögen seines eigenen Körpers – wohlgemerkt nicht als transzendentales Potenzial seiner Vernunft wie bei Kant oder Schiller; es bleibt unverfügbar und manifestiert […] die nicht-geistige Natur des Menschen als einen Eigenwert, bezogen auf die Einbildungskraft, die Imagination, die großen Leidenschaften wie Enthusiasmus, Bewunderung, Überra-
35 Am 22. September 1915 notiert Musil in seinem Tagebuch: „Das Schrappnellstück oder der Fliegerpfeil auf Tenna: Man hörte es schon lange. Ein windhaft pfeifendes oder windhaft rauschendes Geräusch. Immer stärker werdend. Die Zeit erscheint einem sehr lange. Plötzlich fuhr es unmittelbar neben mir in die Erde. Als würde das Geräusch verschluckt. Von einer Luftwelle nichts erinnerlich.Von plötzlich anschwellender Nähe nichts erinnerlich. Muß aber so gewesen sein, denn instinktiv riß ich meinen Oberleib zur Seite und machte bei feststehenden Füßen eine ziemlich tiefe Verbeugung. Dabei von Erschrecken keine Spur, auch nicht von dem rein nervösen wie Herzklopfen, das sonst bei plötzlichem Choc auch ohne Angst eintritt – Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe Stolz; aufgenommen in eine Gemeinschaft, Taufe. – –“; Musil, Tb, S. 312. Musil hat dieses Erlebnis mehrfach verarbeitet. Zu den verschiedenen Versionen vgl. Nutting, Uncaging Musil’s Amsel, S. 56.
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schung, Furcht oder Schrecken. Es dient der Horizonterweiterung und der Überschreitung herkömmlicher Erfahrungsmuster. Es erzählt eine Geschichte der Gewalt, der Erniedrigung und Erhöhung, des Umschlags von Unlust in Lust, von Ordnung in Chaos und umgekehrt.³⁶
Das horizontgeweitete Empfinden, welches diese erhabene Macht in Azwei evoziert, ist denn auch das einer Epiphanie: „ich war sicher, in der nächsten Minute Gottes Nähe in der Nähe meines Körpers zu fühlen“ (GW 7, S. 556), worüber sich eine Brücke zur im ‚Leib‘ markierten religiösen Konnotation schlagen lässt. Als sein Körper den Einschlag des Fliegerpfeils verhindert, wiederholt sich dieser Eindruck: „Wenn einer da gesagt hätte, Gott sei in meinen Leib gefahren, ich hätte nicht gelacht.“ (GW 7, S. 557) Eine solche Aussage ist desto beachtlicher, da sie von jemandem getätigt wird, der bereits als Jugendlicher durch kühne Mutproben Gottes Wirkmacht herausfordern wollte. Azweis Gemütszustand lässt sich im Kontext des Erhabenen weiter perspektivieren: The passion caused by the great and sublime in nature, when those causes operate most powerfully, is astonishment: and astonishment is that state of the soul in which all its motions are suspended, with some degree of horror. In this case the mind is so entirely filled with its object, that it cannot entertain any other, nor by consequence reason on that object which employs it. Hence arises the great power of the sublime, that, far from being produced by them, it anticipates our reasonings, and hurries us on by an irresistible force. Astonishment, as I have said, is the effect of the sublime in its highest degree […].³⁷
Kant vergleicht das ästhetische Gefühl des Erhabenen mit einer Gottesfurcht³⁸ und religiöser Demut; er spricht explizit von einer „Ehrfurcht für das Erhabene“³⁹. In unmittelbarer Nähe erlebt Azwei das Vorhandensein einer existenzbedrohenden Macht, die seine Aufmerksamkeit völlig beansprucht, während sie seine Fassungskraft übersteigt. Dieses Dynamisch-Erhabene gibt sich aber nicht als göttliche Entität zu erkennen; vorsichtiger akzeptiert Azwei – darin abermals Chandos ähnlich – das Ereignis weder abschließend begreifen noch erklären zu können.
4 Vergegenwärtigung als Grenzerfahrung Die dritte Geschichte schließt Lebens- und Todesprinzip noch einmal kurz. Aus psychologischer Sicht ist der Tod der Mutter für Azwei auch deshalb problematisch,
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Heininger, Erhaben, S. 277. Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, S. 57. Vgl. Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1, S. 260. Kant, Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 5 Abt. 1, S. 264.
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weil mit ihr die Urheberin seines Schöpfungsbefehls – und damit ein wesentlicher Orientierungspunkt seiner Selbstsuche – verloren geht. Zugleich wiederholt sich die Gabe des Lebens im Tod der Eltern – Azweis Vater stirbt kurz nach der Mutter – symbolisch abermals, wenn Azweis selbstverschuldeter finanzieller Ruin mit seinem Erbe überwunden und er materiell rehabilitiert wird. Im Elternhaus begegnet er zufällig konservierten Spuren seiner eigenen Kindheit. Überhaupt geriert sich die dritte Geschichte als große Wiederholung des bislang Erlebten. Erinnerungen, ja die Lebenswirklichkeit der eigenen Kindheit werden so intensiv empfunden, dass Azwei sich verändert: „ich reichte wirklich nicht mehr unter dem Tisch zur Erde“ (GW 7, S. 561).⁴⁰ Inmitten dieses übernatürlichen Vergegenwärtigungsprozesses, in dessen Rahmen sein vergangenes und sein gegenwärtiges Ich ineinanderzufließen scheinen, ist ihm erneut, „als ob das Unterste zu oberst gekehrt würde“ (GW 7, S. 561) – ein Umgestülptwerden wie in der ersten Geschichte; selbst die als-ob-Konstruktion wiederholt sich. In diesem Moment kehrt auch die Amsel zu ihm zurück. Wieder bei Nacht; wieder oszilliert seine Wahrnehmung zwischen Schlafen und Wachen und wieder wird in Erinnerung an das erste Erlebnis die Nachtigall als Selbsttäuschung erkannt und von der persönlichen Beziehung zur Amsel ersetzt. Azwei sieht die Amsel im Fensterrahmen seines Kinderzimmers sitzen; mit dieser exakten Platzierung zwischen dem Innen und Außen symbolisiert sie auch räumlich eine Grenzerfahrung. In seiner Wahrnehmung wird nun das kulturgeschichtlich tradierte Symbol der Nachtigall aus der ersten Geschichte durch die Mutter ersetzt. Mutter und Amsel verschmelzen miteinander: Der Ausruf: „Ich bin deine Amsel“ wird wenig später zu: „Ich bin deine Mutter“ (GW 7, S. 561). Bezeichnenderweise gibt Azwei diese Worte trotz analytischer Erzählsituation in direkter Rede wieder. Ob sich das Geschehen intradiegetisch tatsächlich so ereignet, lässt sich aufgrund der autodiegetischen Erzählperspektive nicht klarstellen, ist für die Geschichte aber auch irrelevant. Wichtig bleibt allein der subjektive Bezug, die Wirkung des Geschehens auf Azwei. Indem er die Amsel nun in einen Käfig sperrt, versucht Azwei, das Unbegreifliche auf naive Weise zu kontrollieren. Bislang hat er keine Möglichkeit gefunden, zu verhindern, dass auf Erweckung und Erleben das Gewöhnliche folgt; der Zustand ekstatischer Entrückung ist nicht konservierbar. Das Einsperren der Amsel sichert eben nicht das erstrebte ästhetische Gefühl, sondern lediglich dessen Auslöser – mit der Futterfrage dringt das Alltägliche in pervertierter Form zurück in die Erlebniswelt, da Azwei durch die synthetisierte Amsel-Mutter nun selbst in die Rolle des Versorgers gerät. Mit der
40 Für eine ausführlichere Analyse vgl. Sabine Mainberger: Visuelle Konjunktive. Überlegungen zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Die Amsel. In: MLN 125 III (2010), S. 602–625, hier S. 624, sowie Bomski, Die dialogische Identität in Robert Musils Novelle Die Amsel, S. 349.
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Verfügungsgewalt über die Mutter-Amsel wähnt er sich auch moralisch sublimiert: „ich bin nie im Leben ein so guter Mensch gewesen wie von dem Tag an, wo ich die Amsel besaß“ (GW 7, S. 562, Herv. d. Verf.). Das mit Besitz einhergehende Empfinden wird nicht mehr an einem sozialkonformen Moralkodex gemessen, sondern auf existenzieller Ebene bestimmt. Und so stellt er dem Jugendfreund gegenüber fest: „ich kann dir wahrscheinlich nicht beschreiben, was ein guter Mensch ist.“ (GW 7, S. 562)
5 Unsagbares erfahren: Die Funktion des Erzählens Über die Problematisierung des Kommunikationsaspekts werden Erleben und Erzählen miteinander in Beziehung gesetzt. Intradiegetisch referiert Azwei nicht primär als erlebendes Ich, sondern als erzählendes beim Versuch, das Erlebte sprachlich zu rekonstruieren. Wozu aber ein Erlebnis in Worte fassen, das subjektiv als einzigartig empfunden wurde? Inwiefern kann Sprache überhaupt geeignetes Medium der Vermittlung eines singulären Erlebnisses sein, wenn schon ihr Ursprung auf Konvention basiert? Die Intensität und Tragweite seiner übernatürlichen Erlebnisse wecken in Azwei das Bedürfnis, sich mitzuteilen, erfordern indes einen eigentümlichen Erzählansatz; schließlich lässt sich das Erhabene durch faktenorientierte Berichterstattung nicht adäquat wiedergeben – einmal mehr das Chandos-Problem. Azweis Erzählmodus ist weder kausal noch chronologisch noch raum-zeitlich strukturiert. In entscheidenden Momenten beansprucht er nicht einmal Souveränität über den eigenen Erzählgegenstand. Mit diesem Verfahren passt Azwei das Erzählen seinem Gegenstand an, denn das Erlebte ist nicht irrational, sondern metarational – es entzieht sich dem Verständnis. Die Geschehenswiedergabe im Modus der Narration wird damit zum Versuch seines performativen (Nach‐)Vollzugs. Mehr noch: Erst durch diese spezifische Form der Verbalisierung wird das Erfahrene in einen Bereich des Verständlichen überführbar. Azwei bemerkt deshalb: „Wenn ich den Sinn wüsste, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen“ (GW 7, S. 562). Je fragiler der Zugriff auf den Gegenstandsbereich, desto wichtiger wird das Erzählen für Azwei. Der metadiegetische Erzähler kommentiert das wie folgt: „Er schien unsicherer geworden zu sein, aber man konnte ihm anmerken, daß er gerade deshalb darauf brannte, sich diese Geschichte erzählen zu hören“ (GW 7, S. 557). Der zentrale Satz, mit welchem Azwei seinen Redeanlass fixiert, lautet: „Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind.“ (GW 7, S. 553) Damit formuliert er zunächst ein Erkenntnisinteresse. Dass die gesuchte Wahrheit
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der Geschichten durch Erzählen erfahrbar gemacht werden soll, ist insofern erstaunlich, da Erzählen qua definitionem auf subjektiv bedingten Selektionsprozessen basiert und daher niemals Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Wer um Erkenntnis oder Wahrheit bemüht ist, möchte üblicherweise ‚verstehen‘. Die Frage, weshalb sich Azwei mit dem Erfahren bescheidet, erübrigt sich: Er kann nicht anders. Denn was er nachvollziehen möchte, entzieht sich seiner Versprachlichung. In keiner seiner Geschichten konnte Azwei seinem Jugendfreund begreifbar machen, was eigentlich das Besondere an ihnen gewesen sein soll, ja nicht einmal, was genau überhaupt vor sich ging. Wenn das Erklären ausscheidet, so bietet das Erzählen die nächstmögliche kommunikative Annäherung an das Erleben. Entscheidend ist dabei ein grundlegender Unterschied zwischen Erfahren und Erleben: Während das Erleben etwas Emotionales, Intuitives, also Nicht-Intentionales ist, geht es beim Erfahren um eine kognitive, intellektuelle Verarbeitung des Erlebten. Das geschieht durch Versprachlichung. Aus diesem Grund ist Aeins’ Reaktion auf das Erzählte für Azwei irrelevant. Es genügt ihm, möglichst gut zu erzählen. Wie schwer ihm das angesichts der Tragweite und Opazität des Erzählgegenstands fällt, zeigt sich an der Vielzahl involvierender, rückversichernder Wendungen, die er regelmäßig einfließen lässt.⁴¹ Im Akt des Erzählens überführt Azwei etwas eigentlich Nicht-Sagbares in den Bereich des Erfahrbaren. Nur das Erzählen – und zwar das fiktionale – vermag, dieses Unsagbare erfahrbar zu machen. Erfahrbar durch den Referenzcharakter kühner Metaphern, Vergleiche, Symbole, Adjektivkonstruktionen; einer fließenden, umstülpenden, sprachlichen Annäherung im Modus des Als-ob. Mittels dieser Referenzen wird das Nichtsagbare in nachvollziehbare Muster eingesponnen, worin es sich aber nie restlos erschöpft. Der Kern des Erlebten bleibt nach wie vor eine Unbekannte; aber diese Leerstelle lässt sich sprachlich umschließen. Wie die Amsel in den Käfig sperrt Azwei das Erhabene in seine Geschichten ein. Zwar bleibt unklar, was er da eigentlich gefangen hat, doch der Käfig ist zu. Seine Erzählung endet bezeichnenderweise nicht mit seinem Triumpf, sondern mit dem Hinweis auf die eigene Verunsicherung: „Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!“ (GW 7, S. 562) Konstitutiv für diesen sonderbaren Erzählakt bleibt denn auch, dass er seinen Inhalt einholt. Die Geschichte ist im Augenblick des Erzählens nicht vorbei, sondern akut: „Du wirst annehmen, daß die Geschichte damit zu Ende ist? – Erst jetzt fing sie an, und ich weiß nicht, welches Ende sie finden soll!“ (GW 7, S. 552) Auch nach der 41 „Ist es so oder nicht?“ (GW 7, S. 550); „In einem solchen Augenblick, siehst du, ist man […]“ (GW 7, S. 552); „Du wirst annehmen, daß die Geschichte damit zu Ende ist?“ (GW 7, S. 550); „kurz gesagt; ich weiß nicht, ob du mich verstehst“ (GW 7, S. 553); „Du mußt trachten dir vorzustellen, wie schön das war“ (GW 7, S. 554) etc.
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letzten Geschichte verdeutlicht Azwei das Fragmentarische des Erzählten: „das ist die dritte Geschichte, wie sie enden wird, weiß ich nicht“ (GW 7, S. 562). Diese Offenheit ist notwendig, weil das Erzählen selbst zum integrativen Bestandteil der Verarbeitung geworden ist und über die konkrete Erzählsituation hinausdeutet.
6 Die Rahmung des Rahmens als Versuch einer Versuchsanordnung Weder die Schilderung des anonymen metadiegetischen Erzählers noch Azweis analytische Erzählung umfassen die üblicherweise als wesentlich erachteten Etappen einer Normalbiographie: Bildungsweg, Reisen, Hochzeit, Arbeit, soziale und finanzielle Verhältnisse oder mit dergleichen einhergehende Ängste und Hoffnungen bleiben ausgespart. Die Diegese konzentriert sich stattdessen auf eine Ausgangssituation und drei Geschichten, in denen jemand sein Leben radikal ändert, nachdem er dem Erhabenen begegnet ist. Die bislang vernachlässigte metadiegetische Rahmung eines anonymen homodiegetischen Erzählers bestätigt dies, indem Azwei nicht als Person, sondern als Konstrukt entworfen wird: „Die beiden Männer, deren ich erwähnen muß – um drei kleine Geschichten zu erzählen, bei denen es darauf ankommt, wer sie berichtet – waren Jugendfreunde; nennen wir sie Aeins und Azwei.“ (GW 7, S. 548, Herv. d. Verf.) Diese Erzählhaltung hat weitreichende Folgen für das Verständnis der Novelle: Zunächst wird der Fokus vom erlebenden Subjekt auf das Erlebnis selbst gelenkt. In der eingeschobenen Kausalsatzkonstruktion geht es aber auch nicht um das Erleben, sondern um das Erzählen des Erlebnisses des Erlebenden. Dafür aber ist es nicht notwendig, die Authentizität der Geschichten zu suggerieren. Der Rahmenerzähler exponiert die Beliebigkeit der Fiktion mit der befremdlichen Namensgebung, mittels derer Eigennamen unkonventionell durch Anspielung auf Variablen einer mathematischen Gleichung ersetzt werden – ohne diese aber konsequent zu setzen; möglich wären beispielsweise A1 und A2, a1 und a2 oder a1 und a2. Den Verfremdungseffekten im epischen Theater vergleichbar verhindern diese Fiktionalitätsmarker von vornherein eine rückhaltlose Immersion in die Geschichte. Sie markieren, dass es in der Amsel um ein Erzählexperiment geht. Auch der Rahmenerzähler beansprucht keinesfalls, seine Geschichten souverän erzählen zu können: „Wichtiger wäre es, wenn man genau zu beschreiben vermöchte, wie Azwei damals aussah […]. Aber das ist schwer.“ (GW 7, S. 549 f.)
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7 Schlussbetrachtung In der Novelle Die Amsel unternimmt Musil den Versuch, vom Nicht-Sagbaren zu erzählen. Sie umspannt, was sich einem direkten Zugriff entzieht. Damit verdeutlicht sie eine Qualität von Literatur: Sie kann einfangen, was sie nicht begreift. Konsequenterweise ist das Umschließen eines unbekannten Kerns dann am Ende auch in der Form des Textes angelegt, denn die Erzählkonstruktion lässt sich beliebig potenzieren: Letztlich ist auch der Rahmenerzähler ein bloßes Konstrukt, um das es nicht geht – hierauf deuten seine Anonymität und der Verzicht auf identitätsstiftende Eigenschaften. Seine Funktion ist der Entwurf eines Konstrukts zweiten Grades (Azwei), seinerseits dazu entworfen, Begegnungen mit dem Erhabenen zu erzählen. Damit bespiegeln die Erzählebenen einander letztlich wechselseitig, wodurch der von Kant geforderte existenzversichernde Abstand in der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Erhabenen gewährleistet ist und woraus sich zugleich eine skurrile Situation ergibt: Weder Erzählakt noch Erzählinhalt sind abgeschlossen, während die Novelle vollständig erzählt ist. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hat, geht der Rahmenerzähler spurlos in seinem Experiment auf und entzieht sich somit der Verantwortung für das Gesagte sowie dessen Beurteilung. Zurück bleibt eine hochgradig deutungsbedürftige Novelle als Einladung, die begonnene Sinnsuche fortzusetzen. Ziel dieses Beitrags war es, dem Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und dem Erzählen in Robert Musils Novelle Die Amsel nachzugehen. Auf der Suche nach identitätsstiftenden Konstanten erlebt das moderne Subjekt in der Konfrontation mit dem Erhabenen eine Entgrenzung seines Welt- und Selbstverhältnisses. Diese Entgrenzung findet auf einer prärationalen Ebene statt, welche sich weder abschließend begreifen noch erklären lässt; durch literarische Verweisverfahren kann sie jedoch im Erzählen erfahrbar gemacht werden. Der Modus dieses Erzählens ist nicht Logik oder Kohärenz verpflichtet; er ist auch nicht telisch. Stattdessen ist er offen und experimentell angelegt. Formelhaft durchzieht der Versuch einer Benennung den Text: Azwei ist, was auf Aeins folgt. Erst das Erleben, dann das Erzählen. Oder war es umgekehrt?
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Ricarda Hirte
Im Dreieck von Psychologie, Literatur und Mythologie: Die Funktion des Vogelsymbols in Musils Novelle Die Amsel Abstract: Der Aspekt der Mythologie in Musils Novelle Die Amsel sowie die Funktion, die den beiden Vogelarten zukommt, stellen eine Symbolik dar, die auf verschlüsselte Systeme rekurriert und deren Referenten in archaischen und anthropologischen Konstrukten zu finden sind. Diese helfen bei der Offenlegung psychischer Konflikte des Erzählers und tragen zu einer weiteren Interpretationsdimension bei.
1 Gestalt und Gestalttheorie Durch Musils Studium an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin, wo er Philosophie und Psychologie studierte, kam er am Lehrstuhl von Carl Stumpf mit der sogenannten Gestaltpsychologie in Kontakt. Besonders interessiert den Studenten die optische und räumliche Umkehrung. Diese Inversion bezieht sich auf Formen und strukturelle Gebilde, die bei unterschiedlicher Betrachtungsweise des Objekts ein und mehrere Bilder in sich haben, also verschiedene Bilder je nach Blickwinkel darstellen. Diese Vexier- oder Kippbilder unterliegen der Kognition und rekurrieren auf die individuelle Sicht- und Interpretationsweise. Die Gestaltpsychologie ist demnach auf die Wahrnehmung hin orientiert und bezieht sich auf die menschliche Fähigkeit, in Sinneseindrücken Strukturen und Ordnungsprinzipien zu erkennen. In der Berliner Schule der Gestaltpsychologie wurde dahingehend argumentiert, dass es eine Eigenschaft der menschlichen kognitiven Struktur sei, genaue und in sich harmonische Strukturen zu bilden, die sich erhärten und somit weiteren Veränderungen entgegenwirken. Daraus wurde abgeleitet, dass diese „guten Gestalten“ eine Omnipräsenz beanspruchen, was dann auch experimentell nachgewiesen wurde.¹ Das Experiment bestand vornehmlich darin, dass Proband:innen ein Punktmuster vorgelegt wurde, das sie dann aus dem Gedächtnis heraus nachbilden mussten. Diese Nachbildung wurde einem weiteren Probanden vorgelegt, 1 Vgl. Michael Stadler/Peter Kruse: The Self-Organization Perspective in Cognition Research: Historical Remarks and New Experimental Approaches. In: Synergetics of Cognition. Proceedings of the International Symposium at Schloß Elmau, Bavaria, June 4–8, 1989. Hg. v. Hermann Haken und Michael Stadler. Berlin 1990, S. 32–52. https://doi.org/10.1515/9783110988352-006
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der dementsprechend die Reihe der Nachbildungen mit anderen Proband:innen fortführte. Ab einem bestimmten Punkt in dieser Reihe der Nachbildungen wurde die Form nicht mehr verändert und es kristallisierte sich eine beständige Konfiguration heraus, die sich auch bei weiteren Durchläufen der Proband:innen nicht veränderte. Die Erklärbarkeit der sich nicht mehr verändernden Nachbildung liegt im zugrundeliegenden Prinzip der Konvergenz begründet. Durch Parallelstudien konnte abgeleitet werden, dass sich in der Natur Übereinstimmungen von grundlegenden Formen finden lassen, die die Fähigkeit der Anpassung haben und sich ihrer selbst genüge sind, da sie keiner weiteren Veränderung unterliegen. Dies ist einer der Gründe, warum sich das Konvergenzprinzip in der Weiterentwicklung der Gestalttheorie in „Form der allgemeinen Theorie selbstorganisierender Systeme“² wiederfinden lässt. Die letztgenannte Theorie hielt Einzug in die Analytische Psychologie und entwickelte sich dort weiter. Saunders und Skarr benutzten die Theorie selbstorganisierender Systeme, um das Konzept der Archetypen, wie sie C.G. Jung definierte, nachzuvollziehen.³ Es wurde versucht zu erklären, wie der Prozess der Selbstorganisation des Gehirns funktioniert und auf nicht veränderbare Formen rekurriert, da auffiel, dass auch das Gehirn gleichartige Modelle hervorbringt, die universell zu sein scheinen, zumindest aber nicht nur auf eine Kulturgruppe beschränkt sind, sondern interkulturell und transkulturell agieren. An gegebener Stelle wird auf diesen Aspekt weiter eingegangen. Die Gestaltpsychologie geht auf den Philosophen Christian von Ehrenfels zurück und leitet sich aus einer seiner Arbeiten aus dem Jahr 1890 ab. Erst mit drei Studenten von Carl Stumpf begründete sich die neue psychologische Richtung zuerst im deutschsprachigen Raum und erlangte später internationalen Einfluss, auch wenn der Begriff als solcher wissenschaftlich nicht klar definiert wurde; vielmehr handelt es sich um einen organisch gewachsenen Begriff, der sich aus seiner Benutzung ergab. Mit der Gestalttheorie erweiterte sich der Begriff der Gestaltpsychologie, die über die Wahrnehmung hinausging und mit drei Konditionen verknüpft wurde: Demnach ist die Wahrnehmung als kognitives Erleben an drei Arten gebunden, die sich aus der Struktur (Geometrie), der Ganzbeschaffenheit (Lichtdurchlässigkeit und Körnung) und dem Wesen (Gefühlswert/Charakter) ergibt. Das sich daraus ergebende Gestaltgesetz ist das Zusammenspiel aller Teile zu einem Ganzen. „Der Zusammenschluss erfolgt derart, dass die entstehenden Ganzen in irgendeiner Weise vor anderen denkbaren Einteilungen gestaltlich ausgezeichnet 2 Christian Roesler/Milena Sotirova-Kohli: Das psychische Erbe der Menschheit. Forschungsstand und empirische Studien zum Archetypenkonzept C.G. Jungs. In: Forum der Psychoanalyse 30 (2014) 2, S. 133–155, hier S. 139. 3 Vgl. Peter Saunders/Patricia Skarr: Archetypes, complexes and self organisation. In: Journal of Analytical Psychology 46 (2001) 2, S. 305–323.
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sind, so dass möglichst einfache, einheitliche, …geschlossene, …symmetrische, … gleichartige Ganzgebilde entstehen.“⁴ Eine Definition hinsichtlich seiner Erklärbarkeit wurde zugunsten einer beschreibenden vorgezogen, wobei sich ein erhebliches Problem aus der Definierbarkeit kognitiver und individueller Prozesse ergibt. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten, die sich im Gestaltgesetz widerspiegeln, ableiten: Zu ihnen gehören das Gesetz der Nähe, das der Ähnlichkeit, der guten Gestalt, der guten Fortsetzung, der Geschlossenheit und des gemeinsamen Schicksals, die Wertheimer 1923 für die sechs wesentlichen Faktoren hält, die bei der Herausbildung des Zusammenhangs in der Wahrnehmung operieren. Später, in den 1990er Jahren, kommen mit Stephen Palmer drei weitere Faktoren hinzu: das Gesetz der gemeinsamen Region, der Gleichzeitigkeit und der verbundenen Elemente. Vor allem ist die Gestaltpsychologie bei kognitiven Vorgängen von Bedeutung und trägt nach Karl Duncker dazu bei, die funktionale Gebundenheit zu überwinden und ist somit ein Intelligenzfaktor. Gestalt als Begriff hat aber nicht in der Psychologie, sondern in der deutschsprachigen Geistesgeschichte ihre Wurzeln, wobei das Problem der Auflösbarkeit bei dem Prozess von äußerlich wahrnehmbarer Welt zur inneren Vorstellungswelt zu einer Gestalt heranreift. Die Dualität von aktiver Handlung und passiver Wahrnehmung verschmilzt in ihr, so dass die Anschauung und die Bedeutung eins werden. Hinsichtlich des Begriffs lässt sich eine lange Tradition ausmachen, die sich aus der Begrifflichkeit der Ästhetik loslöste, um zu einer holistischen Kategorie zu werden. Erst später wurde der Begriff dank seiner Verbindungsmöglichkeit von Form und Biologie in der Psychologie verortet. Das der Gestalt innewohnende erkenntnistheoretische Problem bleibt aber trotz der Begriffsentwicklung bestehen. So lässt sich bereits bei Winkelmann die Gestalt als Begriff ausmachen, wobei sie den „Inbegriff der höchsten, in Gott angeschauten Schönheit“⁵ verkörperte. Die Gottesverbundenheit kehrte Herder in eine Innerlichkeit um, denn Gestalt war für ihn „ein lebendes, ein Werk voll Seele, das da sei und daure“⁶. Mit Schillers Ästhetischer Erziehung des Menschen ist der Begriff erstmals dingfest geworden, denn er ist „ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich fasst“⁷. Eine vollständige Be-
4 Wolfgang Metzger: Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. Darmstadt 1954, S. 108. 5 Francesco Rossi: Gesamterkennen: Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis. Würzburg 2011, S. 181. 6 Johann Gottfried von Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Träume. Riga 1778, S. 26. 7 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Schillers sämtliche Werke, Bd. 4. Stuttgart 1838, 15. Brief, S. 558.
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griffsgenesis würde hier den Rahmen sprengen, aber wichtig ist hervorzuheben, dass der Begriff mit der Abwendung von der reinen ästhetischen Auffassung eine Eingliederung in die Wissenschaften erlebte und dort verschiedene Richtungen nahm. Als Bestandteil der philosophischen Strömung um Franz Brentano wurde ihm der Weg in die Psychologie geebnet: Die Gestalt stand für das Ergebnis der Bewältigung wahrnehmungsphysiologischer Fragestellungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Musil, der im Kreis der sich herausbildenden Gestaltpsychologie stand, die Idee und Konzeptualisierung der Gestalt auf sein Schaffen übertrug oder zumindest von ihr derartig beeinflusst war, dass dies unwissentlich geschah. Denn: Was in Musils Texten wiederkehrt, sind die Erzeugnisse einer psychophysischen Forschung, die auf der Basis medialer Übertragung optische und akustische Eindrücke manipuliert, in kleinste begrenzte Empfindungsspuren zerstreut, kontinuierliche Eindrücke an die Grenzen ihres Auseinanderfalls bringt, heterogene Eindrücke zur Unkenntlichkeit verschmelzt. Was begegnet ist Grenzwert-, Grenzfallforschung mit den Mitteln apparativer Reizerzeugung.⁸
Gestalt hat aber auch unwillkürlich mit Verfahrenstechniken zu tun und durchdringt jegliches Betrachtenswerte. Somit ist die Gestalt auch in das dichterische Werk Musils eingedrungen, und die immer wieder diskutierte Kontroverse, ob sein Schreiben nicht ein Mitteilen ist und somit sich einem Therapiegespräch nähert, ändert nichts an der Tatsache, dass sich in seinem Schaffen Gegensätzlichkeiten gebildet haben, die sich unter anderem in den Konstellationen von Ich-Krise und Individualität, von Schweigen und Mitteilen, von Sinn und Verfahrenstechnik manifestieren. Zu diesen Konstrukten gesellen sich die strukturellen Analysen, die den Aspekt auf die Literaturtheorie legen und deren Anwendbarkeit auf die Novelle in den Vordergrund stellen.
2 Novellenstruktur Es lässt sich erkennen, dass sich Musils Rezeption des Begriffs Gestalt auch in der Novelle Die Amsel manifestiert. Zuallererst sieht sich der Leser mit typologisierten Figuren konfrontiert, die sich Aeins und Azwei nennen. Eine Anlehnung an mathematische Gleichungen könnte durchaus abgelesen werden. Die Novelle besitzt, wie Hoffmann anführt, eine doppelte Struktur. 8 Christoph Hoffmann: „Wir schreiben und wir wissen nichts“. Text und Experiment bei Robert Musil. Colloquium vom 28.01.1999. http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/berichte3/hoffmann.htm (letzter Zugriff: 29.09. 2021), III; vgl. Christoph Hoffmann: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997.
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Eine innere Novelle umfasst drei merkwürdige Begebenheiten aus dem Leben einer Person namens Azwei sowie einen Erzählrahmen, in dem Azwei dieser Begebenheit seinem Freund und Zuhörer Aeins berichtet. Eine äußere Novelle umfasst wiederum diese innere Novelle mit einer Einführung durch einen anonymen Berichterstatter. Während in der inneren Novelle der Zusammenhang der drei Begebenheiten Thema ist, stellt sich als Thema der äußeren Novelle gerade die Herstellung dieses Zusammenhangs im Akt des Erzählens heraus.⁹
Wieder kristallisiert sich als Struktur ein aus vielen Teilen zusammensetzbares Etwas heraus, das je nach Lesart ein anderes Bild evoziert. Denn auch wenn Hoffmann im Novellenaufbau in der Binnenhandlung eine zweckorientierte Erzählung erkennt, die „eine Lehre, Absolution, Heilung, Rettung, Unterhaltung“¹⁰ zu geben versucht, ist nicht automatisch in der äußeren Rahmenhandlung ein „performative[r] Akt des Erzählens“¹¹ zu ersehen. Beide Novellenstrukturen ergeben zusammen ein Ganzes und bedingen sich aus ihren Teilen, die wiederum, wie in der Gestalttheorie, auseinanderfallen und zusammengesetzt werden können. So entspricht die Amsel ganz der von Musil vertretenen Novellenstruktur: Demnach ist die Novelle eine auf den Augenblick einer Erkenntnis ausgerichtete geistige Manifestation. „Eine plötzliche und umgrenzt bleibende Erregung ergibt die Novelle; […]. In diesem einen Erlebnis vertieft sich plötzlich die Welt oder seine Augen kehren sich um.“¹² Scheint es Musil bei der Erzählung um eine Erregung zu gehen, kann man diese auch hinsichtlich seiner eigenen Erfahrung interpretieren, seiner selbst erlebten Ich-Erkenntnis und der damit verbundenen Erfahrung eines „anderen Zustands“. Da Die Amsel starke autobiographische Züge aufweist und Musil auch hier eine Art von „Vexierspiel mit Erzähleridentitäten und das ausdrückliche Thematisieren des Erzählens im Erzählten“¹³ integriert, hebt sich die Novelle von anderen ab. Es geht hier um Identität, die sich aus vielen Teilen zusammensetzt, und daher ist es interessant, vor dem Hintergrund von Musils ,anderem Zustand‘ die in der Amsel verwendete Symbolik der Vögel näher zu betrachten.
9 Hoffmann, „Wir schreiben und wir wissen nichts“, IV. 10 Hoffmann, „Wir schreiben und wir wissen nichts“, IV, unter Verweis auf: Hugo Aust: Novelle. Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler, Bd. 256) bzw. Fritz Lockemann: Die Bedeutung des Erzählrahmens in der deutschen Novellendichtung. In: Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung, Bd. 55), S. 335–351. 11 Hoffmann, „Wir schreiben und wir wissen nichts“, IV. 12 Robert Musil: Die Novelle als Problem. In: Novelle. Hg. v. Josef Kunz. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung, Bd. 55), S. 87–89, hier S. 87. 13 Kai Löser: Das Ich und das Andere: Identität, Sinn und Erzählen in Die Amsel von Robert Musil. In: German Quarterly 83 (2010) 3, S. 297–316, hier S. 297.
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3 Symbolik Aus der Forschung und aus den Quellen kann man ableiten, dass für Musil die Mystik eine wichtige Rolle spielte und für das Verständnis auch dieser Novelle von Bedeutung ist. Die Mystik ist, worauf bereits Martina Wagner-Egelhaaf hinweist,¹⁴ „als Innerlichkeitsbewegung in allen Religionen zu finden, allerdings keinesfalls mit Irrationalität gleichzusetzen“¹⁵ und ist auch für Musil, der, als kritischer Denker bekannt, der Rationalität und dem kritischen Geist seiner Zeit den Vorrang gab, nicht ausgeschlossen. Musil setzte sich „auf kritisch-rationale Weise mit den Denkangeboten der mystischen Tradition auseinander“¹⁶, und auf der beständigen Suche nach einem neuen Selbstverständnis des Ichs erschien ihm die Mystik als eine mögliche Variable, um dem Ich ein neues, ein anderes Antlitz zu geben. Denn die Mystik ist nicht an eine Vergangenheit gekoppelt, die mit dem historischen Weltgefühl einhergeht, sondern rekurriert auf eine quasi vorgeschichtliche Zeit, außerhalb rationaler Prüfbarkeit. Die Mystik bedeutet für Musil vielmehr eine intellektuelle Herausforderung, die synonym für „eine rationale Infragestellung von scheinbar gegebenen Welt- und Selbstverhältnissen“¹⁷ steht. Auch wenn die „Sanftmut der Mystik“¹⁸ die Dichotomie von Rationalität und Irrationalität in Frage stellt, ist durchaus eine Verbindung zu einer rückbezüglichen Religiosität in Musils Erzählen feststellbar. Religiosität ist aber auch der Punkt, an dem der ,andere Zustand‘ in die Nähe einer Verwirklichung rückt, die Schwelle zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen, zwischen dem Orientierbaren und dem losgelassenen Sein. Mystik referiert in einer erweiterten Begriffsbestimmung auf die Mythologie, in der die in der Novelle auftretenden Tiersymbole verankert sind: die Nachtigall und die Amsel. Mythos ist, wie Bischof anführt,¹⁹ Erinnerung, denn „das mythische Bewusstsein ist also wesentlich rückwärts gewandt“²⁰, da Handlungsstränge aus der Vergangenheit in die Gegenwart reichen und diese auch „begangen“ werden kön-
14 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Mentale Konstruktionen. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin 2016, S. 705–710. 15 Wagner-Egelhaaf, Mentale Konstruktionen, S. 705. 16 Wagner-Egelhaaf, Mentale Konstruktionen, S. 705. 17 Wagner-Egelhaaf, Mentale Konstruktionen, S. 709. 18 Robert Musil: Die Amsel. In: Ders.: Nachlaß zu Lebzeiten. Zürich 1936, S. 183–217. Zit. n. ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Walter Fanta. 12 Bde. Salzburg/Wien 2016–2021, Bd. 8, S. 522–545, hier S. 524. Diese Ausgabe wird im Folgenden im Fließtext in Klammern unter der Sigle GA mit Band- und Seitenangabe zitiert. 19 Vgl. Norbert Bischof: Das Kraftfeld der Mythen. München 1996. 20 Bischof, Das Kraftfeld der Mythen, S. 5.
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nen, um das Jetzt der Gegenwart zu verändern. In der Gegenwart manifestiert sich die Wirklichkeit, und ihr Pendant ist nicht die Fantasie, wie man annehmen könnte, sondern das Profane, da das Belanglose und Flüchtige „ohne mythische Bilder auskommen muss“.²¹ Unwidersprechlich wird mit dem Mythos auf eine Zeit referiert, die außerhalb unserer Vorstellung liegt und daher imaginär ist, denn „ihre Achse steht quer zu der der physikalischen Abläufe“.²² Der Mythos folgt somit einer eigenen Zeiteinteilung und stellt sich der historischen entgegen, und dennoch beeinflusst er sowohl die Vergangenheit wie die Gegenwart und die Zukunft, auch wenn der Mythos sich in einer anderen Zeit verwirklicht hat. Schelling verortet daher den Mythos und seine Zeitlichkeit in „eine schlechthin vorgeschichtliche Zeit“, die „ihrer Natur nach unteilbare, absolut identische Zeit“ ist, „in der das Ende wie der Anfang und der Anfang wie das Ende ist, eine Art von Ewigkeit“²³. Der aktuelle Forschungsstand hat dem Aspekt der Mythologie in der zu behandelnden Novelle allerdings kaum Raum gelassen, und dementsprechend ist es auffallend, dass auch der Symbolik der von Musil ausgewählten Vögel wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Symbole haben Aussagekraft und verweisen auf verschlüsselte Systeme, deren Referenten in archaisch und anthropologischen Konstrukten zu finden sind, die es zu dechiffrieren und in einen Sinnzusammenhang zu stellen gilt. Vögel haben in den verschiedenen Mythologien (von den archaischsten bis zu der modernsten) eine lange Tradition: Von steinzeitlichen Abbildungen in der Höhlenmalerei an waren sie fester Bestandteil der griechischen und ägyptischen Mythologie, die Germanen zollten ihnen ihre Ehrfurcht und auch in der Thora und der Bibel sind sie vorhanden. Es lässt sich ableiten, dass Vögel als Symbole in allen Mythologien der Erde zu finden sind. Sie sind die Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde, zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Sie werden von oben, dort, wo die Götter wohnen, nach unten ausgesandt und in dieser Bewegung haben sie eine Bedeutung des Erkennens und des Wissens, aber sie können auch den umgekehrten Weg nehmen, so dass sie zu Begleitern der menschlichen Seele zum Himmel werden. Es muss allerdings angemerkt werden, dass einzelne Vogelarten eine Verschiebung innerhalb ihrer mythologischen Bedeutung erfuhren und sich von einer Ur-Konnotation hin zu einem kulturell-sozial geschaffenen Verständnis entwickelt haben: So wurde der Rabe bei den Germanen als Götter-
21 Bischof, Das Kraftfeld der Mythen, S. 5. 22 Bischof, Das Kraftfeld der Mythen, S. 3. 23 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Stuttgart 1856 (Sämmtliche Werke, 2. Abt., Bd. 1), S. 182, zit. n. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. 2. Aufl. Darmstadt 1953, S. 131, hier zit. n. Bischof, Das Kraftfeld der Mythen, S. 4.
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vogel verehrt. Odin (Wotan) besaß die Fähigkeit, sich in einen solchen zu verwandeln, und jeden Tag schickte er seine zwei Raben aus, um zu erfahren, was in der Welt vor sich ging. Aus dem verehrten Raben wurde mit Aufkommen des Christentums und dem Rückgang der Naturreligionen ein unheilbringender Vogel. Er stand von nun an in Verbindung mit dem Tod und der Hexerei. Im Mittelalter wurden den Rabenvögeln unheilbringende Kräfte zugesprochen, man sagte ihnen nach, dass sie in Verbindung mit der Unterwelt standen und den Tod ankündigten. Bei Musil wird in Die Amsel auf drei Vögel Bezug genommen: die Nachtigall, die Amsel und den Himmels- und Todesvogel. Letzterer ist nicht weiter spezifiziert und lässt Raum für einige Überlegungen: „Ein Himmelsvogel! Das gibt es also wirklich! – In einem solchen Augenblick, siehst du, ist man auf die natürlichste Weise bereit, an das Übernatürliche zu glauben […].“ (GA 8, S. 529) Musil verortet hier klar den Himmelsvogel in das Reich des Übernatürlichen, das wiederum einen transzendentalen Charakter besitzt. Es ist das Übertreten in den anderen Zustand, den man nur in einer Schwellensituation erfährt. Dieser Zustand kann zu Lebzeiten auf Erden erfahrbar sein und manifestiert sich in Träumen, Visionen und eigentümlichen Begebenheiten, für die der Mensch rationale Erklärungsversuche zu finden bereit ist. Allerdings ist dieser Zustand auch der Wunschgedanke des Überstiegs in eine bessere, ewige Welt, nach dem irdischen Ableben. Musils Himmelsvogel ist ein von oben ausgesandter Helfer bei Azweis Entscheidungsfindung. Dieser Vogel erhält in der zweiten Geschichte ein Bild, sofern man bei der Rede vom Himmels- und Todesvogel von einer Kreatur ausgeht, die durchaus in der Mythologie ihre Bestätigung findet. Azwei erzählt seine Erfahrung im Schützengraben, eine Situation zwischen Leben und Tod, in einem Zustand der ständigen, erlebten Schwelle: „Trotzdem habe ich in jeder solchen Nacht oftmals den Kopf über den Grabenrand gehoben und ihn vorsichtig über die Schulter zurückgedreht wie ein Verliebter […]“ (GA 8, S. 532) Ein Verliebter – aber verliebt in was, stellt sich die Frage: in die Liebe zum Tod, zur Transzendenz, zum Übernatürlichen? Sie bleibt unbeantwortet. Und doch teilt sich im Weiterlesen das Bild in ein Oben und Unten, in dessen Mitte Azwei im Graben ist: „[…] da sah ich dann die Brentagruppe hell himmelblau, wie aus Glas steif gefältelt, in der Nacht stehen.“ (GA 8, S. 532) Das ist fast andächtig beschrieben, und wenn dann noch die „mädchenhafte Mondsichel“ im blauen Firmament vor „Entzücken“ darin schwamm (GA 8, S. 532), sind dies Wörter, die Naturverbundenheit und Liebe ausdrücken. Von dem rational denkenden Analytiker ist in den Worten nicht viel wiederzuerkennen. Daher bekennt sich auch Azwei, denn dieser Anblick ist „so schön [wie] nichts im gesicherten Leben“ (GA 8, S. 532). Das gesicherte Leben ist hier klar hervorgehoben und mit den Menschen in ihrem täglichen Gang und Überleben verbunden. Der beschriebene Anblick der Nacht aus dem Schützengraben aber, der andere Zustand, gehören einem Ort im Dazwischen an. So „kroch [Azwei] vor Glück und Sehnsucht in der Nacht spazieren“ (GA 8, S. 533) aus
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seinem Versteck, „bis zu den goldgrünen schwarzen Bäumen“ (GA 8, S. 533), inmitten derer er sich aufrichtete „wie eine kleine braungrüne Feder im Gefieder des ruhig sitzenden, scharfschnäbeligen Vogels Tod, der so zauberisch bunt und schwarz ist, wie du es nicht gesehen hast“ (GA 8, S. 533). In seinem Wunsch nach Tod, Freiheit und Einssein verbildlicht sich der Vogel. „Es ist so, als ob die Angst vor dem Ende, die offenbar immer wie ein Stein auf dem Menschen liegt, weggewälzt worden wäre, und nun blüht in der unbestimmten Nähe des Todes eine sonderbare innere Freiheit.“ (GA 8, S. 533) Der Vogel breitet seine Flügel aus²⁴ und setzt zum Flug an, ein Flug ohne Rückkehr, hinauf zum Himmel, das Irdische hinter sich lassend. So nimmt in dieser Textpassage auch das Symbol des Vogels Gestalt an: die eines Rabenvogels, und es lässt sich eine Elster darin erkennen. Musil verortet demnach seine Vogelsymbolik in der germanischen Mythologie. Der Rabenvogel, speziell die Elster, wurde von den Germanen mit der Todesgöttin Hel verbunden, die über die Unterwelt herrschte, und in keltischen Dichtungen (wobei man von wechselseitigen Einflüssen in beiden Mythologien durch die Nähe des Zusammenlebens ausgehen kann) wird die Elster als Prophet und Bote der Göttin des ,Lebens im Tod‘ begriffen. Die Funktion der Nachtigall hingegen scheint darin zu bestehen, das Dazwischen zu symbolisieren, sie steht für Melancholie und Liebe. Dichter ließen sich von ihrem Gesang inspirieren und Gläubige erkannten in ihren Melodien einen Weg hin zur Musik oder hin zu Gott. So steht die Nachtigall als Traumsymbol für unerfüllte Sehnsüchte, Liebeskummer und den Wunsch nach Freiheit. Im Volksglauben hingegen ist ihr Gesang annoncierend, ein Gruß einer nahestehenden Person wird angekündigt, und im Allgemeinen versüßt die Nachtigall und hilft, Schwellen zu überwinden: Singt sie für Sterbende, so verleiht sie einen sanften Tod, und für Kranke tritt die Heilung ein. „Und dann kam eben die Geschichte mit der Nachtigall“ (GA 8, S. 527), sagt Azwei und bettet sie ein in einen Halbschlaf, den Zustand zwischen Wachen und Schlafen, wo man der Welt entrückt und doch gleichzeitig noch anwesend ist. Sie versetzt Azwei in „einen zauberhaften Zustand“ (GA 8, S. 528). Immer wieder in einer Todesszenerie, befindet sich Azwei auf einer Grabplatte liegend, als er den Gesang der Nachtigall hört; er ist wach, in seinem Halbtraumerleben, und empfindet, „als ob mich etwas umgestülpt hätte“ (GA 8, S. 528). Das Umgestülpte, das Innere nach Außen zu wenden und die Sichtweise zu ändern, erlaubt ihm, sich in einem Zwischen aufzuhalten, wo das Warten auf Bevorstehendes fast greifbar ist, denn: „Weshalb sollte nicht jetzt geschehen, was sonst nie geschieht?“ (GA 8, S. 528)
24 Eichendorffs Gedicht Mondnacht (1837) scheint hier in Erinnerung gerufen worden zu sein, wo es in der letzten Strophe heißt: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“
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Die Nachtigall übernimmt die Vorbereitung auf das Bevorstehende, weckt die Sehnsucht, ebnet den Weg in ein Anderes und hilft bei der Entscheidung: Azwei schaut bei der ersten Begegnung mit der Nachtigall auf seine Frau, er liebte sie wie nichts anderes auf der Welt und doch sieht er jetzt nur„eine ausgebrannte Hülse der Liebe“ (GA 8, S. 530). Der Gesang hat ihn so betört, dass er mit einmal, unwissend noch, die melodische Verheißung als Gefühl erfährt: „[…] als ob ein Gefühl ein Herz durchbohren könnte wie einen Berg, auf dessen anderer Seite eine andere Welt mit dem gleichen Tal, den gleichen Häusern und kleinen Brücken liegt.“ (GA 8, S. 530) Es ist die Vorahnung der Überschreitung der Schwelle, ausgedrückt im Durchbohren eines Berges. Auch Azwei ist in dieser Situation zwiespältig: Sein Außen als rationaler Mensch und sein Inneres in seinem Impuls verraten die Dichotomie. Die Nachtigall weist ihm an, seinen Impuls auszuleben, sodass er die Kraft findet, sich auf den Weg zu machen, er verlässt im doppelten Sinn seine Frau. „Da machte ich mich über mich lustig und spottete über die Nachtigall; aber ich zog mich heimlich an. Ich glaube, daß ich geschluchzt habe, aber ich ging wirklich fort.“ (GA 8, S. 531) Diese Textpassage muss allerdings auch mit dem anderen Vogelsymbol, mit der Amsel, gelesen werden, damit der doppelte Sinnzusammenhang klar wird: Als die Nachtigall zu Beginn der zweiten Geschichte zu einem anderen Haus fliegt und singt, erkennt Azwei, dass es sich um eine Amsel handelt. Er kehrt aber im Moment der Trennung und im Fortgehen zur Nachtigall zurück, obwohl er in ihr eine Amsel erkannt hatte. Er verschiebt seine Innerlichkeit von der Nachtigall auf die Amsel. Im Fortgang der Novelle manifestiert sich die Amsel als seine Mutter; allerdings ist auch hier, in der zweiten Geschichte, bereits die Verschiebung von seiner Frau auf die Mutter in einem Verschiebungsprozess zu konstatieren. Es ist das Abnabeln, das in die Ferne Ziehen, das die Nachtigall ihm verheißt: den Aufbruch zu anderen Gestaden, hindurch durch den Berg. Deswegen kann er auch nicht mehr zurück, sondern nur noch vorwärts: „Ich habe natürlich oft daran gedacht zurückzukehren; manchmal hätte ich durch die halbe Welt zurückkehren mögen […]. Sie war unberührbar für mich geworden […].“ (GA 8, S. 531) Das schlechte Gewissen, das sich bei Azwei einstellt, und sein Empfinden, dass er mit seinem Fortgang ein Unrecht begangen hat, liest sich auf zwei Ebenen. Zum einen auf der Mitteilungsebene: Das „sie“ ist demnach seine Frau, die er verließ. Auf der anderen Ebene, durch die Verschiebung, ist das „sie“ die Mutter, die Amsel, die er verlässt. Er kann nicht mehr zurück, denn er ist geboren worden. Sein unbewusster Wunsch nach der pränatalen Phase, die Sehnsucht nach der Geborgenheit und dem Schutz, den nur der Mutterleib vor der Geburt für den Menschen symbolisiert, der Weg zurück ist durch die Geburt versperrt. Er muss außerhalb der symbiotischen Vereinigung leben und überleben. Musil geht in einem seiner Tagebucheinträge auf die Muttersymbolik ein: „In welchem Maße tritt auch ein positives, metaphysisch beeinflußtes Ver-
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hältnis hinzu? Wende beim Tod meiner Mutter“.²⁵ Musil verweist auf die Metaphysik, auf die empirisch nicht erfahrbare Welt, und verbindet diese mit seiner Mutter. So stehen sich Metaphysik mit dem „Muttersymbol“ und die Rationalität der Mathematik, Physik und Mechanik gegenüber. Für Musil war es zeitlebens wichtig, die äußere wie die innere Natur beherrschen zu können, was nur mit rationalen Methoden möglich sei, denn die Welt der Gefühle, des scheinbar Irrationalen, in der sich die Leidenschaft und die Moral manifestieren, war für ihn mit Unsicherheiten behaftet. Berücksichtigt man das sozial-moralische Umfeld, in das Musil hineingeboren wurde, und den Charakter der Mutter, die großen Einfluss auf ihn ausübte, lässt sich eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung erahnen: Das Kind reibt sich an der Mutter, die liebend, streng und dominierend ist, und erlebt den Vater als einen zurückhaltenden Mann, denn: „Nicht der etwas weiche, wohlwollende Vater, der noch die Rute einweichte, ehe er die von seiner Gattin angeordnete Strafe an dem Knaben exekutierte, war die dominierende Figur in Musils Kindheit, sondern die Mutter“²⁶. Hinzu kommt, dass neben dem Vater auch stillschweigend ein Hausfreund der Mutter akzeptiert wird, der das Kind nur durch seine Präsenz prägen wird. Der zurückhaltende Vater und der Hausfreund seiner Mutter können die Rolle des Mannes im psychologischen Sinn nicht übernehmen, die der Heranwachsende für seine Entwicklung und hin zu einem männlichen Rollenverständnis in seiner Kulturepoche benötigt. Auch die Militärschule, in der Ausbildung mit Drill, Demütigung und Strafe verwechselt wird, kann das Fehlen einer klaren Vaterfigur und somit Identifikation des eigenen Ichs nicht ersetzen. Dieses unklare Bild der väterlichen Präsenz und Autorität wird auch den erwachsenen Musil stets in seinen Handlungen begleiten und ist Thema in seinem literarischen Schaffen. So versucht er, wie in der Novelle Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), eigenes Erleben literarisch zu verarbeiten, und es sind im Besonderen die Zusammenhänge von Macht, Sexualität und Sozialpsychologie, die ihn interessieren. So wird das Erfahrene aus seinen jungen Jahren ein Lebensbegleiter: ein gestörtes Verhältnis zu Familie und Sexualität mit dem Verlust eines sicheren Ortes, den er im ,anderen Zustand‘ zu kompensieren versucht. In dem Sinn gesteht Musil später ein: „Die versenkte Phantasie des stillen Kindes, durchkreuzt von einer gewissen Anlage zum Geschichtenausdenken, ist meine gewesen.“²⁷ Musil als Einzelkind, was eine prägende Kondition in der psychischen Entwicklung ist, und die Wichtigkeit der Be-
25 Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe u. nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen u. Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino. Klagenfurt 2009 (DVD), Transkriptionen: Heft 33, S. 86. Diese digitale Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle KA mit Ordner- und Seitenangaben zitiert. 26 Oliver Pfohlmann: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 13. 27 KA/Transkriptionen/Nachlass/Heft 33/77.
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deutung der Spiegelphase des Kindes, auf die Lacan in seinen Studien zum Spiegelstadium verweist, stehen zwischen den Moralvorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der familiären Konstellation, die für ihn die Mutter in seinem kindlichen Verständnis in einen unergründbaren Gefühlszusammenhang stellt, in dem Eifersucht und sehnsüchtige Liebe dominieren. Es ist somit nur allzu verständlich, dass der erwachsene Musil sich an messbare und feste Eckdaten hält, wie sie ihm die Naturwissenschaften bieten, um auch die inneren psychischen Prozesse ergründen zu können. So ist der ,andere Zustand‘, in dem Unmögliches mit dem Möglichen konfluiert, die Überwindung der kindlich empfundenen Melancholie und Einsamkeit, die so erträglich wird. Psychologisch könnte man in abgeschwächter Form von einer Dissoziation sprechen, einer Art der Verteidigung der menschlichen Psyche: Es handelt sich um einen unbewussten Abwehrmechanismus. Freud führt den Begriff in die Psychoanalyse ein und benennt damit verschiedene Operationstypen, in die sich die Abwehr gliedern kann. Allgemein geht man davon aus, dass das Ich die Fähigkeit besitzt, Mechanismen einzusetzen, um den Einfluss von außen auf das Ich abzuschwächen. So sind diese Mechanismen psychische Phänomene, die beobachtet und auch wissenschaftlich analysiert werden können. Da allerdings Freud die Mechanismen vor allem in Verbindung mit der Hysterie untersuchte, war zuerst nicht klar, ob als Basis immer die Existenz eines geordneten Ichs vorhanden sein muss. Ab 1926 wurden die psychischen Abwehrmechanismen eingehender untersucht, so dass sie zu einem Forschungsgegenstand in der Psychoanalyse wurden. Durch die Studien Anna Freuds, die die Abwehrmechanismen mit konkreten Beispielen erklärbar machen wollte, konnte die Komplexität und die Ausbreitung der Mechanismen aufgezeigt werden, und sie kam zu dem Schluss, dass „sich die Abwehr der verschiedensten Aktivitäten bedienen kann (Phantasie, intellektuelle Aktivitäten) und sich nicht nur gegen Triebansprüche richtet, sondern gegen alles, was Angst hervorrufen kann: Emotionen, Situationen, Über-Ich-Forderungen etc.“²⁸ Die Dissoziation als Abwehrmechanismus zeigt sich in der Spaltung von Idee und begleitendem Effekt, vergleichbar mit dem ,anderen Zustand‘ bei Musil, das heißt: Das Entrücken und gewünschte Erleben in einer anderen Sphäre, die Erfahrbarkeit einer anderen Dimension, ist der verbale Ausdruck einer Gruppe von mentalen Prozessen, die vom übrigen Denken der Person getrennt ist und zu einem unabhängigen Funktionieren dieser Gruppe von Prozessen und damit zu einem Verlust der üblichen Zusammenhänge führt. Psychoanalytisch gesehen handelt es sich dabei um einen Prozess der Verteidigung des Ichs gegen Reize, die auf einer be-
28 Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1980, S. 31.
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wussten oder unbewussten Ebene in einem bestimmten Krisenmoment als gefährlich wahrgenommen werden. Emotionale Konflikte und belastende Lebenssituationen überlagern sich und bilden ein Netz oder eine Sackgasse, die der Patient aufgrund der übermäßigen Angst vor den möglichen Lösungen nicht überwinden kann. Und genau dieser Mechanismus wird bei Musil als Kind in seinem Zimmer ausgelöst, wenn er sich in seinen ,anderen Zustand‘ versetzt, und er wiederholt sich auch in Krisensituationen: in der Amsel im Moment der Beschreibung des Fliegerpfeils. Den zugrundeliegenden Mutter-Sohn-Konflikt beschreibt Musil später als eine immer auf Konfrontation angelegte Beziehung und gesteht, dass er „kein angenehmer Sohn gewesen“²⁹ sei. Aber dennoch, die Amsel ist seine symbolisch gewordene Mutter, die durch ihre Gefangennahme in dem Käfig die Dominanz über ihn verliert, so dass er sich seelisch sanieren kann, indem er sie in der Novelle nährt. Musil sagt: „Es ist mir in der Amsel nicht gelungen, die Stärke meiner Mutter auszudrücken“³⁰, und er hebt damit seine unerfüllte kindliche Sehnsucht nach dem mütterlichen Schoss ins Wort, die auch in der Hülse als Bild der Geburt zum Ausdruck kommt. Die Amsel allerdings erfüllt in der mythologischen Konzeption genau diese Rolle. Die Amsel als Schwarzdrossel, oder als schwarzer Druide, hat die Fähigkeit, im mythologischen Sinn den Kontakt zu den Ahnen, der Magie und den alten Bräuchen herzustellen. Sie ist der Vermittler zwischen den Welten und animiert den Menschen, sich seinen Ängsten zu stellen, damit sie sich auflösen, und sich seinem Schatten zu stellen, damit er sich transformieren kann. So ist sie mit der Rune Raidho verbunden, die das Reisen durch andere Welten symbolisiert. Ist die Nachtigall der Vogel, der den Weg ebnet, so ist die Amsel das Medium, um in andere Zustände zu transzendieren. Verschob sich bei Azwei dank der Amsel die eigene Frau auf die Mutter, ist auch der Fortgang der dritten Geschichte erklärbar: Azwei sagt selbst, er konnte nicht zurück, und entsprechend verwehrt die Mutter ihm in der dritten Geschichte das Zurückkommen. Nur im ,anderen Zustand‘, in der archaischen Transzendenz, kann er sich wieder mit ihr vereinigen. [E]ine Härte, die mich umgeben hatte, schmolz augenblicklich weg, und ich kann nicht mehr sagen, als daß der Zustand, in dem ich mich von da an befand, viel Ähnlichkeit mit dem Erwachen in jener Nacht hatte, wo ich mein Haus verließ, und mit der Erwartung des singenden Pfeils aus der Höhe. (GA 8, S. 541)
29 KA/Transkriptionen/Nachlass/Heft 33/27. 30 Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchges. u. erg. Aufl. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 914.
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So wird die Begegnung mit seiner Vergangenheit eingeleitet. Azwei hat nach dem Tod beider Eltern in seinem alten Kinderzimmer sein Bett aufgestellt, und da kommt die Amsel wieder, die allerdings durch ihren Gesang an eine Nachtigall erinnert: Und da kam dann die Amsel wieder. Einmal nach Mitternacht weckte mich ein wunderbarer, herrlicher Gesang. […] Es war der Gesang einer Nachtigall; aber sie saß nicht in den Büschen des Gartens, sondern auf dem Dach eines Nebenhauses (GA 8, S. 543),
um gleich wieder zurück zur Amsel zu gelangen: das Vexierspiel der Vögel, von Amsel und Nachtigall, von Schlaf und entrücktem Halbschlaf, der in einen Schlaf mit offenen Augen überleitet. Und dort in der anderen Welt, im Reich des ,gelebten Schlafs‘, kann er die Transzendenz vollbringen. Als die Amsel, der schwarze Vogel, im offenen Fenster sitzt, erklärt sie sich: „Ich bin deine Amsel“ (GA 8, S. 544). Diese seine Amsel ist seine Mutter. Die Verschiebung von der Amsel zur Mutter bestätigt sich auch linguistisch: Die sich anschließende kurze Unterhaltung zwischen Azwei und dem Vogel ist die Phase des Erkennens, die einhergeht mit der Verschiebung der Pronomen; aus ,der Vogel‘ wird ,die Amsel‘, der verschiebt sich zu einem personifizierten sie. Azwei ist im übertragenen Sinn wieder zurück zur Mutter gelangt. Auch wenn er sie in einen Käfig sperrt und sie ernährt, ist dies im Sinne Musils zu verstehen. In der pränatalen Phase wurde er von ihr genährt, aber jetzt, nachdem er den mütterlichen Schoß verlassen hat, kann er nur auf einem inversen Weg wieder zurück: Jetzt muss er für die Mutter in Amselgestalt sorgen, damit sie am Leben bleibt und mit ihr er selbst. Für diese Sehnsucht nach der mütterlichen Vereinigung, hin zur pränatalen Phase, wo jeder und alles gut ist, gibt es zwei Textindizien: Das eine ist, als Azwei sagt, dass die Amsel bereits in seiner Kindheit dagewesen, aber leider entflogen war und erst jetzt, nach dem physischen Tod der Mutter, wieder zurückgekehrt ist. Das zweite ist, dass die Amsel auch ein Glückssymbol ist und die Fähigkeit zur Änderung besitzt; daher kann Azwei von sich behaupten: „[…] ich bin nie im Leben ein so guter Mensch gewesen wie von dem Tag an, wo ich die Amsel besaß […]“ (GA 8, S. 545) Das Sehnen zurück zur Mutter, die nicht bewältigte Lacan’sche Spiegelphase, gelingt Azwei in der Vereinigung mit der Mutter im Amselsymbol, daher hat er „sie seither nicht mehr von mir gelassen“ (GA 8, S. 545). Stellt man sich wie Aeins die Frage nach dem Sinn, so muss dies in einem transzendentalen Verschiebungsakt verstanden werden. In der Selbstentrückung oder im ,anderen Zustand‘ konnte Azwei seinen Schatten besiegen, sich somit von seinen Ängsten und Nöten befreien, um im Amselsymbol in die pränatale sichere Phase zurückzukehren. Somit steht die Amsel für das Überschreiten der Schwelle und das Hineintauchen in eine andere Welt, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten
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folgt. Deswegen kann die Geschichte auch nicht weitergehen, sie muss hier enden. Und da dies alles in einer nicht dinglichen Welt passiert, kann auch der Sinn nur erahnt werden, denn Azwei transzendiert in die andere Welt nur durch die Amsel, ansonsten ist er im Hier und Jetzt verankert. Daher kann er das Flüstern vom Rauschen nicht oder noch nicht unterscheiden. Die Verbindung zwischen Mythologie, Wirklichkeit (die von Musil) und Psychologie leitet über zu einer kurzen Betrachtung des von C.G. Jung geschaffenen Begriffs der Archetypen: Archetypen lassen sich in symbolischen Bildern erfahren und stellen unter anderem eine Verbindung her zu der eingangs erwähnten Funktion von Mythen, die nach Bischof ein Erinnern sind, und auf archaische Strukturen zurückblicken. Mythen, denen auch die von Musil ausgewählten Vogelsymbole entstammen, bilden ein unbewusstes anthropologisches Wissen, das aus biologischer Sicht auf eine Instinktgrundlage hinweist. Auch wenn Jung davon ausging, dass die Archetypen angeborene Erlebnis- und Verhaltensmuster sind, konnte dies nicht eindeutig nachgewiesen werden, da der Begriff selbst bei Jung unterschiedliche Entitäten bezeichnet. Vielmehr stellt er das transzendentale Verständnis einer biologisch-genetischen Anlage der Archetypen gegenüber, ohne auf die Inkohärenz einzugehen. In der Analytischen Psychologie werden die Archetypen daher mit zwei Funktionen besetzt: Einerseits haben sie eine kulturtheoretische Funktion, da sie interkulturelle Übereinstimmungen hinsichtlich von Ritualen, Bildmotiven und religiösen wie mythologischen Vorstellungen zu erklären versuchen, und andererseits dienen sie innerhalb der psychotherapeutischen Arbeit als Begründungsschemata dafür, „dass die universell vorhandenen Archetypen in Krisensituationen bzw. bei psychischen Störungen wirksam werden […,] sich in Träumen und symbolischem Material äußern und Heilungsprozesse in der individuellen Psyche anstoßen bzw. strukturieren“³¹. Die Archetypen liegen demnach in einem Bereich des Transzendentalen, vor jeglicher menschlichen Erfahrung, und sind an einem Nicht-Ort angesiedelt, also nicht verortbar. Zudem sind sie nicht repräsentierbar und verweigern somit das bewusste Erfahren ihrer selbst. Jung sagt: „Die wahre Natur des Archetyps ist nicht bewusstseinsfähig, das heißt, sie ist transzendent, weswegen ich sie als psychoid bezeichne“³². Fraglich bleibt aber bei Jung immer noch, wo diese „Urbilder“, die die Archetypen bilden, herkommen. Auch wenn angenommen wird, dass das Unbewusste eines Menschen durch das archetypische Symbol einen Bezug zu einem Wissen herstellen will, das diesem nicht bekannt oder zugänglich ist, wird von einer Universalität des Archetyps ausgegangen. Dass es trotzdem empirische Beweise für die Existenz der Archetypen
31 Roesler/Sotirova-Kohli, Das psychische Erbe der Menschheit, S. 137 f. 32 C[arl] G[ustav] Jung: Gesammelte Werke. Olten 1976, Bd. 9/I, § 68.
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gibt, zeigte Jung selbst durch seine Assoziationsstudien, die die Reaktion der Proband:innen auf emotional bedeutsame Begriffe erforschten. Mit ihrer Hilfe konnte er empirisch nachweisen, „dass es in der menschlichen Psyche unbewusste, affektiv aufgeladene und teilautonome Wirkfaktoren gibt, die er Komplexe nannte“³³. Die Komplexe wiederum wiederholten sich bei unterschiedlichen Proband:innen, und es kristallisierte sich ein inhaltlicher Kern heraus, der interindividuell ist, das heißt, dass der Kern auf ein Urbild referiert, das später von Jung als Archetyp betitelt wurde. Daraus wurde die empirische Feststellung abgeleitet, dass es zum einen unbewusste thematische Komplexe gibt, die sich um ein spezifisches Thema, den Kern, drehen, und dass es zum anderen nur sehr wenige solche Kernthemen gibt. Der Kern ist somit ein Archetyp, der an sich das Erleben eines Individuums beeinflusst und auf einer interindividuellen Ebene agiert: Die Wiederholung von Kernthemen in einem interkulturellen und interindividuellen Kontext bildet die UrThemen heraus, die universell sind. Die Gestaltpsychologie der Berliner Schule griff diesen Aspekt auf und benannte die in der Natur immer wiederfindbare Übereinstimmung grundlegender Formen als Konvergenz. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Musil die Assoziationsstudien Jungs kannte und auch mit der Konzeptualisierung der Archetypen vertraut war. Daher scheint es angebracht, den Archetyp der Mutter hier nochmals mit Musil in Verbindung zu bringen. Der Mutterarchetypus repräsentiert neben der Mutter als solcher auch die Vorstellung einer Erlösungssehnsucht, wie das Paradies oder das Reich Gottes. Er ist mit der Idee des urzeitlichen Schönen verbunden, das gleichzeitig beschützt und Leben gibt. So kann dieser Archetyp in Form von Wald, Quelle, Meer oder Hohlraum symbolisiert werden oder, wie es Musil tat, mit der Vorstellung der Hülse. In diesem Typus stehen sich auch die Pole von Gut und Böse gegenüber, die sich in der magischen Autorität des Weiblichen, des Nahrungsspendenden und der Wiedergeburt zeigen, aber auch in der Finsternis, dem Angsterregenden und dem Verführerischen. In der Psychologie des Mannes oder des Männlichen verbindet sich der Archetyp nach Jung mit der Anima. Da die Mutter das erste weibliche Wesen im Leben des zukünftigen Mannes ist, wirkt sie nach Jung erheblich auf die Psyche ein, da ihre Präsenz das Erleben eines fremden Gegenübers erlaube, in dem das latente Unbewusste die Bilderwelt erzeugt; es kann gleichermaßen erotisch anziehend wie abstoßend sein. Heute gehen Psycholog:innen davon aus, dass die Mutter-Sohn-Beziehung die gesamte Psyche des erwachsenen Mannes prägt und vor allem seine eigene Haltung gegenüber anderen Frauen bestimmt sowie in sein späteres Liebesleben eingreift. Autobiographische Parallelen lassen sich bei Musil nicht nur in der Novelle erkennen, sondern vor allem zu
33 Roesler/Sotirova-Kohli, Das psychische Erbe der Menschheit, S. 139.
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seinem Privatleben ziehen. Die Mutter und somit der Mutterarchetyp schaffen das zukünftige weibliche Bild des Jungen und zeichnen den Umgang mit Frauen im Allgemeinen vor: Das Bild der Frau verbirgt sich in der Beziehung, die die Mutter zum Sohn einnimmt. Wird der Junge allmählich erwachsen und entwickelt sein Ichbewusstsein, wird die erste Symbiose zwischen Mutter und Sohn aufgekündigt und das Bewusstsein stellt sich in einen Gegensatz zum Unbewussten. Die Polarisierung bewirkt die Unterscheidung zwischen dem Ich und der Mutter, wobei die Mutter mit ihren persönlichen Besonderheiten immer klarer zu einer Person heranreift. Alles Geheimnisvolle fällt von dem idealisierten Bild ab und zerfällt in zwei Hälften, entweder in das Bild des gütigen oder des strafenden Weiblichen, ins Bild der Fee oder der Hexe. Der Archetypus hat eine mythologische Gestalt angenommen, die zwischen den Orten des Liebenden und Tötenden oszilliert.
4 Schlussfolgerung Bedenkt man Musils Biografie, so können der Novelle autobiographische Züge nicht abgesprochen werden. Die Vogelsymbole, als erkenntnistheoretischer Ansatz im Zurück zu den Ahnen, definieren den Titel der Novelle: Folglich lautet ihr Titel auch nicht Die Nachtigall – obwohl in der Novelle viel häufiger auf diese Bezug genommen wird als auf die Amsel –, denn nur die Amsel ermöglicht aus mythologischer Sicht ein Zurück und eine Heilung durch das Versetzen in den ,anderen Zustand‘. Das Korrelat Symbol und Sinn bewirkt in der Novelle einen Paradigmenwechsel, der in Relation mit dem Wechsel des Tiersymbols gelesen werden muss. Dieses referiert auf Autobiographisches und steht in einem direkten Verhältnis zur psychologischen Aussagekraft des Textes, es thematisiert im Besonderen den Weg vom Individuum zur Identität und überwindet das irdische Ich. Der ,andere Zustand‘ hingegen ist der Zwischenort, an dem Musil Rationalität und Irrationalität situiert.
Literaturverzeichnis Aust, Hugo: Novelle. Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler, Bd. 256). Bischof, Norbert: Das Kraftfeld der Mythen. München 1996. Brentano, Franz: Briefe an Carl Stumpf. 1867–1917. Hg. v. Peter Goller. Graz 1989. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. 2. Aufl. Darmstadt 1953. Duncker, Karl: Zur Psychologie des produktiven Denkens. Berlin 1935. Herder, Johann Gottfried von: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Träume. Riga 1778.
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III
Harald A. Wiltsche
Das Gedankenexperiment als Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft. Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften Abstract: Die Debatte um Gedankenexperimente, die seit den späten 1980ern und frühen 1990er Jahren Fahrt aufgenommen hat, war lange Zeit vornehmlich auf Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie beschränkt. Der nachstehende Aufsatz reiht sich demgegenüber in die Liste neuerer Arbeiten ein, die auf die Rolle von gedankenexperimentellen Techniken in anderen Bereichen wie etwa der Literatur hinweisen. Obwohl ich im ersten Teil meines Artikels wiederum von der Physik ausgehe, um einige grundlegende Funktionsweisen von Gedankenexperimenten zu illustrieren, geht es mir in weiterer Folge um den Nachweis, dass Literatur von sehr ähnlichen Funktionsweisen Gebrauch macht, um einen epistemischen Mehrwert zu erzielen. Als konkretes literarisches Beispiel dient mir Kapitel 100 des Mann ohne Eigenschaften, in dem sich Musil—so meine These—in bester gedankenexperimenteller Manier mit Fragen der Mathematik und Metamathematik beschäftigt.
1 Einleitende Bemerkungen Obwohl es mit Ernst Mach, Paul Feyerabend, Thomas Kuhn oder Karl Popper einige historische Vorläufer gibt,¹ besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die moderne Debatte um Gedankenexperimente (im Folgenden kurz: GEs) erst in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren begonnen hat. Für weite Teile dieser Debatte ist es bis heute charakteristisch, dass die angebliche Leistung von GEs, Wissen zu produzieren und/oder zu rechtfertigen, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.² Dies mag speziell angesichts der historischen Dimension überraschen: Blickt man auf die Wissenschaftsgeschichte und damit auf den Bereich, in dem GEs die wohl
1 Michael T. Stuart/Yiftach Fehige: Motivating the History of the Philosophy of Thought Experiments. In: HOPOS: The Journal of the International Society for the History of Philosophy of Science 11 (2021), S. 212–221. 2 Ein allgemeiner Überblick zur Debatte um GEs findet sich u. a. hier: James Robert Brown/Yiftach Fehige: Thought Experiments. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy. Hg. v. Edward Zalta u. Uri Nodelman. Palo Alto 2022. https://plato.stanford.edu/entries/thought-experiment/ (letzter Zugriff: Oktober 2022). https://doi.org/10.1515/9783110988352-007
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größte Bedeutung zukommt, so ist zwar nicht zu bestreiten, dass es vereinzelte Fälle gibt, in denen GEs zu Rechtfertigungszwecken eingesetzt wurden. Sehr viel häufiger scheinen GEs jedoch anderen Aufgaben zu dienen, wie etwa der Identifikation und Elimination von innertheoretischen Widersprüchen oder – vielleicht sogar noch wichtiger – dem Versuch, den Prozess des Verstehens von Theorien sowie ihrer Konsequenzen zu befördern. Angesichts dieses Umstands mag es verwundern, dass es bis heute nur wenige Studien gibt, die sich systematisch mit der Frage beschäftigen, wie GEs Verstehen generieren. Eine stärkere Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen Verstehen einerseits und GEs andererseits erscheint auch aus anderen Gründen wünschenswert: Während sich die moderne Debatte um GEs lange Zeit auf deren wissenschafts- bzw. erkenntnistheoretische Dimension beschränkt hat, macht sich neuerdings ein gesteigertes Interesse an der Bedeutung von GEs für andere Bereiche bemerkbar. In jüngster Vergangenheit haben Philosoph:innen etwa vermehrt auf interessante Bezugspunkte zwischen GEs und Literatur hingewiesen.³ Die Vermutung, dass ein diesbezüglicher Vergleich ein lohnendes Unterfangen sein könnte, erscheint naheliegend: Ähnlich wie GEs verlangen auch literarische Werke von ihren Leser:innen, sich kognitiv mit fiktionalen Narrativen zu beschäftigen, in denen hypothetische oder kontrafaktische Szenarien beschrieben werden. Und wie im Fall von GEs erlauben es viele literarische Werke, etwas über die Welt zu lernen, und das obwohl diese Werke üblicherweise ohne „fidelity constraint“⁴ geschrieben sind, d. h. ohne die Beschränkung auf Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben. Aber auch in Bezug auf diese Thematik zeigt sich, dass es gewinnbringender ist, bei der epistemischen Leistung des Verstehens anzusetzen und nicht bei Fragen nach der Produktion und Rechtfertigung von Wissen. In einem trivialen Sinn mag es natürlich zutreffen, dass die Lektüre eines literarischen Werkes die Erweiterung des Bestands propositionalen Wissens zur Folge hat: Die Lektüre von Ecos Der Name der Rose erweitert den Bestand propositionalen Wissens über die Welt, weil der Roman viel faktische Information über das Mittelalter enthält. Und wenn wir Bernhards Das Kalkwerk gelesen haben, haben wir automatisch unseren Bestand propositionalen Wissens um das Wissen, Bernhards Das Kalkwerk gelesen zu haben, erweitert. Sieht man jedoch von derartigen Trivialitäten ab, erscheint es einfach nicht sehr naheliegend, den epistemischen Wert von Werken wie Orwells 1984
3 Stellvertretend seien hier folgende Arbeiten genannt: Catherine Elgin: Fiction as thought experiment. In: Perspectives on Science 22 (2014) 2, S. 221–241; Johan De Smedt/Helen De Cruz: The epistemic value of speculative fiction. In: Midwest Studies in Philosophy (2015), S. 58–77; David Egan: Literature and thought experiment. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 74 (2016) 2, S. 139–150. 4 David Davies: Thought experiments and fictional narratives. In: Croatian Journal for Philosophy 19 (2007), S. 29–45, hier S. 31.
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an Fragen der Produktion oder Rechtfertigung von propositionalem Wissen festzumachen. Selbst wenn es nichts gibt, was ich nach der Lektüre dieses Werks über die wirkliche Welt gelernt habe, so habe ich doch verstanden, warum das Korrumpieren der freien Medien im Interesse totalitärer Regimes liegt. Es erscheint fragwürdig, dieses Verstehen auf den kognitiven Besitz einer bestimmten Proposition zu reduzieren. Worum es mir im Folgenden im Rahmen dieses Aufsatzes gehen wird, ist dies: Nachdem ich bereits andernorts auf Parallelen zwischen GEs, wie sie im Bereich der Physik zur Anwendung kommen, und literarischen Werken aus der Gattung der „harten Science Fiction“⁵ hingewiesen habe,⁶ möchte ich meine diesbezügliche These nun auf Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (im Folgenden kurz: MoE) ausweiten. Wie ich am konkreten Beispiel von Kapitel 100, in dem General Stumms Besuch in der Staatsbibliothek beschrieben wird, aufzeigen möchte, macht Musil im MoE von kognitiven Werkzeugen Gebrauch, die auch in physikalischen GEs zur Anwendung kommen, um das epistemische Ziel des Verstehens von theoretischen Implikationen zu erreichen. Um meine Hypothese auch auf Seiten der Physik mit einem konkreten Beispiel zu veranschaulichen, werde ich eines der berühmtesten GEs der neueren Physikgeschichte diskutieren, nämlich das Zugexperiment Albert Einsteins.
2 Einsteins Zugexperiment Einsteins kanonischer Darstellung zufolge beruht die Spezielle Relativitätstheorie auf lediglich zwei expliziten Postulaten.⁷ Das seit Galilei bekannte Relativitätspostulat besagt, dass die Naturgesetze in allen Inertialrahmen dieselben sind. Das zweite Postulat – häufig als das Lichtpostulat bezeichnet – ist bei näherer Betrachtung eine Konsequenz des ersten: Wenn die Maxwell’schen Gleichungen in allen Inertialrahmen in gleicher Weise gelten, dann muss die Lichtgeschwindigkeit in all diesen Inertialrahmen einen konstanten Wert, nämlich c, haben. Basierend auf diesen beiden Postulaten führt Einstein eine operationale Definition des Begriffs der Gleichzeitigkeit ein: Zwei Ereignisse e1 und e2 sind dann und genau dann
5 Als „hart“ bezeichnet man jene Formen von Science-Fiction-Literatur, die Wert darauf legen, dass die vorgestellten hypothetischen Zukunftsszenarien im Einklang mit unserem vorhandenen naturwissenschaftlichen Wissen stehen. 6 Harald Wiltsche: The Forever War: understanding, science fiction, and thought experiments. In: Synthese 198 (2021), S. 3675–3698. 7 Albert Einstein: Zur Elektrodynamik bewegter Körper. In: Annalen der Physik 332 (1905), S. 891– 921.
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als gleichzeitig zu bezeichnen, wenn sich Lichtimpulse, die von e1 and e2 emittiert werden, genau am räumlichen Mittelpunkt zwischen e1 and e2 treffen. Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Postulate und die auf ihnen aufbauende Definition unverdächtig: Während das Relativitätspostulat besagt, dass Experimente unabhängig vom Inertialrahmen, in dem sie durchgeführt werden, dieselben Ergebnisse liefern, legt das Lichtpostulat fest, dass die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialrahmen konstant und von der Geschwindigkeit der Emissionsquelle unabhängig ist. Hierauf aufbauend scheint Einsteins Definition nichts anderes zu tun, als sich dieser beiden Postulate zu bedienen, um in einer metaphysisch möglichst sparsamen Weise die Bedeutung des Begriffs der Gleichzeitigkeit operational zu fixieren. Blickt man jedoch auf die Konjunktion der beiden Postulate und der Definition, dann treten überaus überraschende Konsequenzen zutage: Es folgt beispielsweise, dass die Frage, ob sich zwei räumlich getrennte Ereignisse gleichzeitig ereignen, keine absolute, von einem bestimmten Inertialrahmen unabhängige Antwort haben kann. Oder, um es anders zu sagen: Es zeigt sich, dass es empirische Situationen gibt, in denen Beobachterinnen A und B zu gegenteiligen Urteilen hinsichtlich der Gleichzeitigkeit von e1 and e2 kommen, in denen A und B aber gleichermaßen recht haben. Anders als traditionellerweise vorausgesetzt, erweist sich „Simultaneität“ mithin nicht als ein absoluter, sondern als ein relationaler Begriff. Bislang habe ich die Relationalität des Gleichzeitigkeitsbegriffs lediglich postuliert, nicht aber gezeigt, wie diese zentrale Einsicht aus dem Theorierahmen der Speziellen Relativitätstheorie folgt. Blickt man auf die innerhalb der Didaktik der Physik etablierten Wege, genau dies zu tun, dann scheint es grob gesprochen zwei Strategien zu geben. Die erste besteht darin, die Relationalität der Simultaneität direkt aus dem Formalismus der Speziellen Relativitätstheorie abzuleiten, nämlich aus ihrem mathematischen Herzstück, der sogenannten Lorentz-Transformationsregel. Diese lautet ! vx $ " " " " x ) $#x % vt!" y ) y" z ) z" t ) $ t % 2 " c wobei 1 $ ) "########## # v2 1 % c2 Wendet man diese Transformation an, um die Koordinaten von e1 and e2 zueinander in Beziehung zu setzen, so zeigt sich in der Tat, dass die Frage nach der Gleichzeitigkeit von e1 and e2 nicht in einem absoluten Sinne beantwortet werden kann: Nehmen wir an, dass e1 and e2 für eine Beobachterin in Ruheposition iden-
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tische Werte der t-Koordinate haben. Ein klein wenig Algebra genügt, um zu zeigen, dass dieselben Ereignisse e1 and e2 für eine Beobachterin, die sich relativ zur ersten Beobachterin mit uniform-gleichbleibender Geschwindigkeit bewegt, andere Werte " der t -Koordinate haben. Und dies ist äquivalent zur Aussage von weiter oben: Wir haben es mit einer empirischen Situation zu tun, in denen Beobachterinnen A und B zu gegenteiligen Urteilen hinsichtlich der Gleichzeitigkeit von e1 and e2 kommen, in denen A und B aber gleichermaßen recht haben. Das soeben Gesagte soll zeigen, dass die Relationalität der Simultaneität direkt vom mathematischen Kern der Speziellen Relativitätstheorie abgelesen werden kann. Der Nachteil dieser Strategie dürfte jedoch offenkundig sein: Ist man nicht von vornherein mit der Bedeutung des mathematischen Formalismus vertraut, dann ist der epistemische Wert einer mathematischen Herleitung gleich Null. Oder, um es anders zu sagen: Da die Interpretation des mathematischen Formalismus bereits ein gewisses Vorverständnis des Theorierahmens voraussetzt, ist eine didaktische Strategie, die sich auf innermathematische Ableitungstechniken beschränkt, nicht geeignet, um ein erstes Verstehen der Relationalität der Simultaneität zu gewährleisten. Hierin ist, wie ich meine, der Grund zu sehen, warum die meisten Physiklehrbücher von GEs Gebrauch machen, um ein ebensolches Erstverständnis zu erreichen, bevor sie dann erst in einem zweiten Schritt zu einer mathematischen Ableitung übergehen. Sehen wir uns also dasjenige GE an, mit dem Einstein selbst die Relationalität der Simultaneität einsichtig gemacht hat, ohne hierbei auf mathematische Formalismen zurückgreifen zu müssen.⁸ In seinem berühmten Eisenbahnexperiment lädt uns Einstein ein, uns einen Zug vorzustellen, der sich mit uniformer Geschwindigkeit v entlang einer geraden Bahnstrecke bewegt. Nehmen wir außerdem zwei Ereignisse e1 and e2 an, die sich an den entgegengesetzten Enden des Zugs ereignen und zwei Lichtblitze emittieren. Stellen wir uns zuletzt eine Beobachterin A vor, die in Ruheposition an der Seite der Bahntrasse exakt am räumlichen Mittelpunkt zwischen e1 and e2 positioniert ist und registriert, dass sich die von e1 and e2 emittierten Lichtblitze exakt an ihrer Position treffen. Da Beobachterin A mit Einsteins Definition der Gleichzeitigkeit vertraut ist, kommt sie richtigerweise zu dem Schluss, dass e1 and e2 gleichzeitig stattgefunden haben. Einstein lädt uns nun aber ein, dieselbe physikalische Situation aus der Perspektive einer Beobachterin B, die sich nicht neben der Bahntrasse, sondern im fahrenden Zug befindet, zu betrachten. Obwohl Beobachterin B zunächst auch exakt am räumlichen Mittelpunkt zwischen e1 and e2 positioniert ist, wird der Licht-
8 Albert Einstein: Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. Berlin/Heidelberg 2009, S. 15–18.
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impuls von e1 etwas später an ihrer Position ankommen als der Lichtimpuls von e2. Es ist einfach einzusehen, warum das so ist: Beide Lichtimpulse benötigen Zeit, um die Strecke zwischen ihrem Ausgangspunkt und der Beobachterin B zurückzulegen. Während dieser Zeit bewegt sich der Zug aber mit Geschwindigkeit v in die Richtung von e2, was bedeutet, dass der Lichtimpuls von e1 eine größere räumliche Distanz zurückzulegen hat, bevor er an der Position von Beobachterin B ankommt. Das wiederum bedeutet, dass sich aus der Perspektive von Beobachterin B die beiden Lichtimpulse nicht am räumlichen Mittelpunkt zwischen e1 and e2 treffen. Beobachterin B, die wie Beobachterin A mit Einsteins Definition der Gleichzeitigkeit vertraut ist, kommt dementsprechend – und ebenfalls folgerichtig – zu dem Schluss, dass e1 and e2 nicht gleichzeitig stattgefunden haben.
3 Wissenschaftliche GEs und Verstehen Treten wir einen Schritt zurück und vergleichen die beiden soeben dargestellten Strategien: Während sich der epistemische Wert einer mathematischen Ableitung speziell dann, wenn man mit der Speziellen Relativitätstheorie nicht ohnehin schon vertraut ist, gegen Null geht, gelingt es Einsteins Eisenbahnexperiment in beinahe spielerischer Weise, die Relationalität der Gleichzeitigkeit unabhängig von spezieller Terminologie und mathematischen Werkzeugen verständlich zu machen. Wie aber, so die entscheidende Frage, sind GEs hierzu imstande? Da eine umfassende Antwort auf diese Frage den mir hier zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde, möchte ich nur einige der zentralsten Aspekte hervorheben.⁹ Ganz allgemein gesprochen befürworte ich einen manipulationistischen Verstehensbegriff, der den Unterschied zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen vom Vorliegen „kognitiver Kontrolle“ und damit davon abhängig macht, ob eine Akteurin mit dem jeweiligen Objekt des Verstehens in einer geeigneten Weise umzugehen imstande ist. Diese abstrakte Bestimmung lässt sich leicht anhand von Beispielen konkretisieren: Eine Mechanikerin versteht einen Motor, weil sie dazu in der Lage ist, am Motor diejenigen Handlungen durchzuführen, die ein Rearrangieren und zielgerichtetes Verändern seiner funktionalen Einzelteile und damit ein Wiederinstandsetzen des Gesamtsystems erlauben. Demgegenüber können wir von einer Studentin dann behaupten, elementare Algebra verstanden zu haben, wenn sie dazu in der Lage ist, an einer Gleichung wie 2x * 1 ) 3 diejenigen mathematischen Operationen durchzuführen, die ein Rearrangieren und zielgerichtetes Verändern ihrer funktionalen Einzelteile und damit eine Lösung der Gleichung erlauben.
9 Für eine detailliertere Darstellung vgl. Wiltsche, The Forever War.
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Verstehen ist also – so mein Vorschlag – ein epistemischer Zustand, dessen Vorliegen davon abhängt, ob eine kognitive Akteurin über bestimmte Fähigkeiten zur zielgerichteten Handlung verfügt. Beide soeben angesprochenen Beispiele machen aber auch deutlich, dass Verstehen nicht von der faktischen Durchführbarkeit der geeigneten Operationen abhängig gemacht werden kann: Ebenso wenig, wie wir einer Mechanikerin nicht schon deshalb absprechen würden, einen Motor zu verstehen, weil sie die für die Reparaturschritte notwendigen Werkzeuge gerade nicht griffbereit hat, würden wir eine Mathematikstudentin nicht bereits deshalb bei der Prüfung durchfallen lassen, weil Bleistift und Papier ausgegangen sind. In all diesen und vergleichbaren ähnlichen Fällen ist es für das Verstehen vollkommen ausreichend, die fraglichen Operationen nicht realiter, sondern in Gedanken und damit an einer geeigneten mentalen Repräsentation durchführen zu können. Diese Einsicht ist für eine vorläufige Bestimmung des manipulationistischen Verstehensbegriffs, wie er diesem Kapitel zugrunde liegt, entscheidend: Wir können von einer kognitiven Akteurin dann behaupten, P verstanden zu haben, wenn die Akteurin erstens eine geeignete mentale Repräsentation von P zu generieren imstande ist, und wenn die Akteurin zweitens dazu in der Lage ist, die geeigneten Operationen an der mentalen Repräsentation von P (oder an P selbst) durchzuführen. Der Hinweis auf die Rolle von mentalen Repräsentationen ist nicht nur deshalb wichtig, um einen manipulationistischen Verstehensbegriff vor etwaigen externen Einwänden zu schützen. Mentale Repräsentationen sind im Rahmen dieses Kapitels auch deshalb besonders hervorzuheben, weil sie – so meine Ansicht – die entscheidende Schnittstelle zwischen GEs, Literatur und der epistemischen Leistung des Verstehens darstellen. Im Fall von GEs ist dies leicht einzusehen: Folgt man dem hier vorgestellten manipulationistischen Verstehensbegriff, so befördert das Einstein’sche Zugexperiment unser Verstehen deshalb, weil wir in einem Schritt lernen, wie ein mentales Modell zu entwerfen ist, das zur Exemplifikation des zur Debatte stehenden Phänomens der Relationalität der Simultaneität geeignet ist. Das GE bleibt hierbei aber nicht stehen: Das Narrativ des GEs vermittelt darüber hinaus die Fähigkeit, konkrete Operationen umzusetzen, um das betreffende Phänomen im mentalen Modell auch tatsächlich auftreten zu lassen. Nachdem wir also zunächst gelernt haben, wie wir aus Zugwaggons, Eisenbahntrassen, Lichtblitzen und Beobachterinnen ein geeignetes mentales Modell konstruieren können, lehrt uns das GE in einem zweiten Schritt, wie das Modell in zwei unterschiedlichen Etappen zu modifizieren ist, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Eine letzte Erläuterung fehlt noch, um meine Überlegungen zu wissenschaftlichen GEs abzuschließen: Wie ich weiter oben betont habe, ist eine auf innermathematische Techniken beschränkte Strategie, die Relationalität der Simultaneität direkt aus den Lorentz-Transformationen abzuleiten, von minimalem epistemi-
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schem Nutzen, wenn man mit der Speziellen Relativitätstheorie nicht ohnehin schon vertraut ist. Dies liegt meiner Ansicht nach auch daran, dass eine ausschließlich innermathematische Strategie nicht dazu geeignet ist, das für das Theorieverständnis entscheidende Problem der Koordination zwischen abstrakten mathematischen Symbolen und konkreten empirischen Situationen, die mittels dieser Symbole repräsentiert werden sollen, zu lösen. Genau diese Koordinationsleistung ist jedoch eine der großen Stärken von wissenschaftlichen GEs: Diese beziehen ihre intuitive Kraft nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sie bei alltagsweltlich vertrauten Gegenständen wie Zügen, Katzen, Eimern, Schiffen oder Liftkabinen ansetzen, um diese zur Exemplifikation genuin theoretischer Einsichten und – häufig eher nebenbei – zur semantischen Fixierung abstrakt-theoretischer Terme zu nützen. Einsteins Zugexperiment veranschaulicht dies gut: Ziel des GEs ist nicht nur die Vermittlung der Fähigkeit, mit alltagsweltlich vertrauten Gegenständen eine geeignete mentale Repräsentation zu generieren und diese so zu manipulieren, dass ein bestimmtes theoretisches Phänomen zutage tritt. Ein entscheidendes Nebenprodukt des GEs liegt darüber hinaus darin, an eine theoretische Begrifflichkeit heranzuführen, die für die spätere Verwendung der Theorie unverzichtbar ist: Wer ein mentales Modell konstruiert hat, in dem sich eine Beobachterin in einem Zugabteil entlang einer geraden Bahntrasse mit uniformer Geschwindigkeit v bewegt, hat erfolgreich die Bedeutung des theoretischen Begriffs eines Inertialrahmens fixiert. Wechselt man von hier aus zur Perspektive einer Beobachterin, die sich an der Bahntrasse und damit in Ruheposition befindet, so ist man – ob man sich dessen bewusst ist oder nicht – erfolgreich zum Konzept der Koordinatentransformation vorgedrungen. Neben der Exemplifikation singulärer innertheoretischer Konsequenzen liegt eine entscheidende Leistung von GEs mithin darin, die Koordination zwischen abstrakten theoretischen Konzepten und konkreten empirischen Situationen durch die geschickte Manipulation von mentalen Modellen, die aus lebensweltlich vertrauten Objekten konstruiert sind, zu erleichtern. Es ist diese Funktion von GEs, gewissermaßen als kognitive Brücken zwischen konkreter Lebenswelt und abstrakter Theoriewelt zu fungieren, die sich auch bei der Interpretation literarischer Werke und deren epistemischer Leistung als entscheidend erweist, wie ich nun mit Blick auf Musils MoE zeigen möchte.
4 Stumms Besuch in der Nationalbibliothek General Stumm von Bordwehr beschreibt die Ausgangssituation des Kapitels 100 von MoE wie folgt:
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„Du erinnerst dich,“ sagte er „daß ich mir in den Kopf gesetzt habe, den erlösenden Gedanken, den Diotima sucht, ihr zu Füßen zu legen. Es gibt, wie sich zeigt, sehr viele bedeutende Gedanken, aber einer muß schließlich der bedeutendste sein; das ist doch nur logisch? Es handelt sich also bloß darum, Ordnung in sie zu bringen. Du hast selbst gesagt, daß das ein Entschluß ist, der eines Napoleon würdig wäre.“¹⁰
Es ist für Musil typisch, dass die Motive für das Tun des Generals sowohl „ratioïder“ als auch „nicht-ratioïder“ Art sind. Auf ratioïder Seite ist es die Logik, die Stumms Handeln die Richtung gibt: Es ist, wie der General selbst sagt, die Logik, die gebietet, dass es im System der Gedanken einen „obersten“ Gedanken geben muss, der über allen anderen, weniger bedeutenden Gedanken thront. Zielt man nun wie Stumm auf eine Identifikation dieses obersten Gedankens ab, dann wirft dies das grundlegende Problem der Vollständigkeit der Repräsentation aller zur Verfügung stehenden Gedanken auf. Dieses Problem besteht darin, dass die Möglichkeit der Identifikation des obersten Gedankens davon abhängt, wissen zu können, dass man von einer vollständigen Kollektion aller Gedanken ausgegangen ist. Kann hiervon nicht ausgegangen werden, so besteht die Gefahr, nicht den absolut obersten, sondern lediglich den relativ zu einer zufälligen Teilmenge obersten Gedanken identifiziert zu haben. Bemerkenswert ist aber, dass die Gründe, warum dieses Problem für General Stumm überhaupt virulent wird, eindeutig nicht-ratioïder Natur sind: So ratioïd Stumms Vorhaben der Sache nach auch sein mag, sein Ordnungsstreben sowie sein Fokus auf die Identifikation des obersten Gedankens ist keinem theoretischen Interesse geschuldet, sondern dem nicht-ratioïden Impuls, der von ihm verehrten Diotima zu imponieren. Um der Realisierung seiner Absichten näher zu kommen, begibt sich Stumm an den Ort, der seiner Ansicht nach der richtige ist, wenn man an einer vollständigen Repräsentation aller Gedanken interessiert ist: die kaiserliche Hofbibliothek. Die Situation, die sich ihm dort darbietet, beschreibt der General wie folgt: Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müßte das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müßte ich damit zu Ende kommen und dürfte dann eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich ein oder das andere auslasse. Aber was glaubst du, antwortet mir der Bibliothekar wie unser Spaziergang kein Ende nimmt und ich ihn frage, wieviel Bände denn eigentlich diese verrückte Bibliothek enthält? Dreieinhalb Millionen Bände, antwortet er!! Wir sind da, wie er das sagte, beim siebenhunderttausendsten Buch gewesen, aber ich habe von dem Augenblick an ununterbrochen gerechnet: − ich will es dir ersparen, ich habe es im Ministerium noch
10 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé. Berlin 1994, S. 459. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle MoE mit Seitenangaben zitiert.
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einmal mit Bleistift und Papier nachgerechnet: Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen! (MoE, S. 460)
Das Problem, das dem General schmerzlich zu Bewusstsein kommt, ist dieses: Will man die Suche nach dem obersten Gedanken operationalisieren, so bedarf es eines Algorithmus, der die Einzelschritte festlegt, die für das Erreichen des stipulierten Ziels notwendig sind. Einem eher naiv erscheinendem Erstimpuls folgend, hatte General Stumm zunächst offenbar den simpelsten aller Algorithmen im Sinn gehabt, nämlich jenen, einfach ein Buch nach dem anderen abzuarbeiten. Obwohl an diesem Algorithmus prinzipiell nichts auszusetzen ist – rein theoretisch betrachtet ist er zweifellos operationalisierbar –, ist es die schiere Menge an Büchern, die Stumm einen Strich durch die Rechnung macht. Der General sieht sich deshalb gezwungen, seinen Algorithmus zu modifizieren. [I]ch sage noch etwas von etwas wie von Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden Anschluß herzustellen, da wird er [sc. der Bibliothekar] geradezu unheimlich höflich und bietet mir an, mich ins Katalogzimmer zu führen und dort allein zu lassen, obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von den Bibliothekaren benützt werden darf. (MoE, S. 461)
Meiner Ansicht nach ist der Umstand, dass der in Mathematik und Logik versierte Musil General Stumm gerade an dieser Stelle eine Bemerkung über Eisenbahnfahrpläne in den Mund legt, von großer Bedeutung. Sehen wir uns jedoch, bevor ich auf diesen Punkt zurückkomme, den Rest dieser Schlüsselpassage an: Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über¹¹ Bücher: es hat ordentlich nach Gehirnphosphor gerochen, und ich bilde mir nichts ein, wenn ich sage, daß ich den Eindruck hatte, etwas erreicht zu haben! (MoE, S. 461)
Woran denkt der General hier, wenn er vom Eindruck spricht, etwas erreicht zu haben? Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass Musil hier auf etwas anspielt, das mit dem theoretischen Schritt vergleichbar ist, den die Formalwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Übergang von der Mathematik zur Metamathematik vollzogen hat. Wie ich weiter unten zu zeigen beabsichtige, ist
11 Es ist erwähnenswert, dass dieses „über“ in Musils Handexemplar durch Unterstreichung hervorgehoben ist.
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diese These nicht nur durch Musils Hinweise auf Bibliographien – Bücher über Bücher – und schließlich sogar auf Bibliographien über Bibliographien – Bücher über Bücher über Bücher – gestützt, sondern auch durch die scheinbare zufällige Erwähnung von Eisenbahnfahrplänen. Bevor ich diese Punkte jedoch im Detail erläutern kann, sind einige Bemerkungen zur metamathematischen Debatte des späten 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und zu Cantor’schen Diagonalbeweisen im Speziellen angebracht.
5 Cantors Diagonalbeweis Unbestritten ist, dass dem deutschen Mathematiker Georg Cantor ein bedeutender Platz in der neueren Wissenschaftsgeschichte zukommt. Seine 1878 formulierte Kontinuumshypothese belegt nicht nur Platz eins auf David Hilberts berühmter Liste der dreiundzwanzig drängendsten Probleme der Mathematik, sie war auch ein maßgeblicher Impulsgeber für die Entwicklung der modernen Mengenlehre und spielt bis heute in mathematischen Grundlagendebatten eine große Rolle. Das Problem, das am Anfang von Cantors Überlegungen steht, betrifft die Frage, ob die Kardinalität der natürlichen Zahlen dieselbe ist wie jene der reellen Zahlen, ob also die Menge aller natürlichen Zahlen in derselben oder einer qualitativ anderen Art unendlich ist wie die Anzahl aller reellen Zahlen. Um dieses Problem aber überhaupt thematisieren zu können, muss zunächst eine andere, noch grundlegendere Frage beantwortet werden: In Bezug auf endliche Mengen finden wir nichts Besonderes daran, Vergleiche hinsichtlich der Anzahl der in ihnen enthaltenen Elemente zu anzustellen, etwa wenn wir uns fragen, ob die Anzahl der Bücher in der kaiserlichen Hofbibliothek kleiner, größer oder gleich der Anzahl der Bücher in der Preußischen Staatsbibliothek ist. Wie aber sollte ein entsprechender Vergleich im Fall von Mengen aussehen, die eine unendliche Anzahl von Elementen beinhalten? Das Problem, das hier auftritt, ist eine Radikalisierung des Dilemmas, mit dem sich Stumm konfrontiert sieht: Obwohl die Pläne des Generals, sich einen vollständigen Überblick über alle in der Hofbibliothek aufbewahrten Bücher zu verschaffen, „nur“ an der Endlichkeit seiner eigenen Existenz und nicht wie bei Zahlen an der Unendlichkeit der zur Debatte stehenden Elemente scheitert, so gilt im Fall von Büchern ebenso wie im Fall von Zahlenmengen, dass ein einfacher, sequentiell verfahrender Algorithmus des Durchzählens nicht geeignet ist, der Anzahl der jeweils relevanten Elemente Herr zu werden. Im einen wie im anderen Fall stellt sich also das Problem, wie mit Mengen umzugehen ist, deren Elemente sich nicht auf konventionelle Art und Weise zählen lassen. Cantor hat zur Lösung dieses Problems eine Methode vorgeschlagen, die maßgeblich vom Werkzeug der Bijektion Gebrauch macht. Die Grundidee ist, zwi-
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schen den Elementen der betreffenden Mengen eine eineindeutig-symmetrische Relation herzustellen, was etwa im Fall der natürlichen und der geraden Zahlen kein großes Problem darstellt. Da wir zwischen den jeweiligen Elementen sehr einfach eine bijektive Koordination der Art 1'2 2'4 3'6 "" " n ' 2n konstruieren können, lässt sich schließen, dass die Menge der natürlichen Zahlen und die Menge der geraden Zahlen gleichmächtig sind. Oder, um es anders zu sagen: Die natürlichen und die geraden Zahlen sind im qualitativ selben Sinn unendlich, da sich jedem Element der einen Menge ein entsprechendes Element der anderen Menge zuweisen lässt. Wie steht es nun aber, um auf Cantors eigentliches Problem zurückzukommen, mit dem Verhältnis zwischen der Menge der natürlichen und der Menge der reellen Zahlen? Lässt sich auch hier eine bijektive Koordination der soeben skizzierten Art durchführen? Cantor hat zur Beantwortung dieser Frage mit der Cantor-Diagonalisierung eine Beweisstrategie entworfen, die die Geschichte der Mathematik nachhaltig beeinflusst hat. Trifft meine These zu, dann ist es Musils MoE, in dem die Cantor-Diagonalisierung zudem auch ihre literarische Verarbeitung findet. Gehen wir zunächst von der Stipulation aus, dass sich zwischen den natürlichen Zahlen und den reellen Zahlen in exakt derselben Weise eine bijektive Koordination herstellen lässt wie zuvor im Fall der natürlichen und der geraden Zahlen. Beschränken wir uns zudem der Einfachheit halber auf das Intervall zwischen 0 und 1, dann könnte eine entsprechende Koordination wie folgt aussehen: 0 ' 0" 76012 " " " 1 ' 0" 12408 " " " 2 ' 0" 87319 " " " 3 ' 0" 12682 " " " 4 ' 0" 34824 " " " "" " Der entscheidende Schritt an der Cantor-Diagonalisierung besteht nun darin, mittels eines speziellen Algorithmus eine Zahl r zu generieren. Der Algorithmus ist
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vergleichsweise simpel und sieht bloß vor, zuerst die Ziffer auf der ersten Nachkommastelle der ersten reellen Zahlen zu identifizieren und von dieser 1 zu subtrahieren, dann die Ziffer auf der zweiten Nachkommastelle der zweiten reellen Zahl zu identifizieren und von dieser 1 zu subtrahieren, dann die Ziffer auf der dritten Nachkommastelle der dritten reellen Zahl zu identifizieren und von dieser 1 zu subtrahieren, und so weiter, ad infinitum. Die Zahl r, die auf diese Weise gebildet wird, sieht wie folgt aus: 0
0,76012 ...
1
0,12408 ...
2
0,87319 ...
3
0,12682 ...
4
0,34824 ...
r=
0,61273 ...
Es mag nicht auf den ersten Blick klar sein, worin die Besonderheit von r liegt. Sieht man jedoch genauer hin, wird rasch deutlich, dass r über zumindest eine überraschende Eigenschaft verfügt: Da r ganz offensichtlich eine reelle Zahl ist, müsste man einerseits annehmen können, dass sie sich irgendwo auf der rechten Seite der Liste in einem Koordinationsverhältnis mit einer natürlichen Zahl findet. Genau dies ist aber andererseits ausgeschlossen, weil wir wissen, dass sich r von jeder reellen Zahl in der Liste in genau einer Nachkommastelle unterscheidet. Dies ist logisch notwendig, weil ja der Algorithmus, mittels dessen wir r konstruiert haben, genau darin besteht, von der x-ten Nachkommastelle der x-ten reellen Zahl 1 zu subtrahieren. Hieraus folgt, dass die bijektive Koordination zwischen natürlichen und reellen unvollständig bleiben muss, weil es immer eine Zahl r geben wird, die zwar reell ist, aber dennoch nicht mit einer natürlichen Zahl bijektiv koordiniert ist. Die Kardinalität der reellen Zahlen ist mithin größer als die der natürlichen Zahlen, quod erat demonstrandum.
6 Stumm und die Metamathematik Kommen wir nun zurück zur Interpretation des im vorigen Abschnitt Gesagten und vor allem zur Frage, was Cantors Diagonalbeweis mit Musils MoE zu tun hat. Der erste wichtige Hinweis besteht darin, dass Cantors Arbeit im engen Zusammenhang mit dem zu Ende des 19. Jahrhunderts erfolgten Sprung von der Mathematik zur Metamathematik zu sehen ist. Cantors Beweis, dem zufolge die Kardinalität der
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reellen Zahlen größer ist als die der natürlichen Zahlen, bezieht sich nicht auf die Objektebene mathematischer Entitäten und der zwischen ihnen bestehenden Relationen. Worauf Cantors Beweis abzielt, ist vielmehr eine Metaebene, auf der wir mit den Mitteln der Mathematik über Mathematik urteilen. Erinnern wir uns an die Situation, in der sich der General bei seinem Besuch in der Hofbibliothek befunden hat, dann sollte der Konnex zu Musils MoE leicht zu erkennen sein: Nachdem Stumm eingesehen hat, dass der Menge aller Bücher nicht durch Anwendung eines simplen, sequentiell verfahrenden Algorithmus Herr zu werden ist, stellt sich der entscheidende Sprung erst ein, als ihm der Bibliothekar den Weg in das Katalogzimmer weist: In direkter Analogie zur Metamathematik erlaubt es das „Allerheiligste der Bibliothek“, sich nicht mehr bloß mit Büchern, sondern mit Bibliographien und damit mit Büchern über Bücher beschäftigen zu können. Der Zusammenhang mit Cantor-Diagonalisierungen wird aber noch deutlicher, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass der Bereitschaft des Bibliothekars, das Katalogzimmer zu öffnen, eine scheinbar beiläufige Bemerkung des Generals über Eisenbahnfahrpläne vorangegangen war. Dies mag auf den ersten Blick rätselhaft erscheinen, weil nicht unmittelbar klar ist, wie Eisenbahnfahrpläne mit Bibliotheken im Allgemeinen oder mit der speziellen Situation des Generals in Verbindung stehen. Setzt man Stumms zufällig wirkende Bemerkung aber in den Kontext unserer Überlegungen zur Metamathematik und stellt man historische Eisenbahnfahrpläne, wie sie zur Zeit Musils üblich waren, Diagonalbeweisen, wie sie seit Cantor in der metamathematischen Praxis anzutreffen sind, gegenüber, dann lässt sich ein Zusammenhang auch auf einer rein visuellen Ebene nur schwer von der Hand weisen, wie die folgenden beiden Abbildungen belegen.
Abbildung 1: Aufzählung der rationalen Zahlen mit bijektiver Koordination; Quelle: https://commons. wikimedia.org/wiki/ File:Diagonal_argument.svg.
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Abbildung 2: Grafischer Fahrplan der Gotthardbahn im Jahr 1899; Quelle: https://de.wikipedia.org/ wiki/ Datei:Grafischer_Fahrplan_1899.jpg
Meiner Ansicht nach sprechen die visuellen Ähnlichkeiten zwischen Diagonalbeweisen und historischen Eisenbahnfahrplänen eine recht eindeutige Sprache. Obwohl es in der Sekundärliteratur umstritten ist, wie fundiert Musils Kenntnis der
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mathematischen Grundlagendebatten tatsächlich war,¹² erscheint es mir unglaubwürdig, dass Musil in einem Kapitel, das sich mit Problemen der Logik, Ordnung und Repräsentation sowie mit allgemeinen Selbstanwendungsproblemen, wie sie für metamathematische Debatten typisch sind, beschäftigt, wie aus dem Nichts von Eisenbahnfahrplänen spricht, ohne hiermit etwas Konkretes im Sinn zu haben. Weitaus naheliegender ist es, die visuelle Ähnlichkeit zwischen Diagonalbeweisen und historischen Eisenbahnfahrplänen ernst zu nehmen und meinem Vorschlag folgend die in Kapitel 100 beschriebene Szene als eine Anspielung an Cantor-Diagonalisierungen und die metamathematischen Debatten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu sehen. Musils Bezugnahmen auf metamathematische Grundlagenprobleme finden mit der Erwähnung von Eisenbahnfahrplänen aber noch nicht ihr Ende, wie die folgende Passage eindrucksvoll belegt: Aber natürlich war mir, wie der Mann mich allein lassen will, auch ganz sonderbar zumute, ich möchte sagen, unheimlich; andächtig und unheimlich. Er fährt wie ein Affe eine Leiter hinauf und auf einen Band los, förmlich von unten gezielt, gerade auf diesen einen, holt ihn mir herunter, sagt: „Herr General, hier habe ich für Sie eine Bibliographie der Bibliographien“ – du weißt, was das ist? – also das alphabetische Verzeichnis der alphabetischen Verzeichnisse der Titel jener Bücher und Arbeiten, die sich in den letzten fünf Jahren mit den Fortschritten der ethischen Fragen, ausschließlich der Moraltheologie und der schönen Literatur, beschäftigt haben – oder so ähnlich erklärt er es mir und will verschwinden. (MoE, S. 461 f.)
Bereits die Einladung ins Katalogzimmer hat es dem General erlaubt, den Fokus von Büchern auf Bücher über Bücher zu lenken und somit einen ähnlichen Sprung wie von der Mathematik zur Metamathematik zu vollziehen. Da ihm nun aber mit einer Bibliographie der Bibliographien noch eine weitere, metametatheoretische Ebene angeboten wird, könnte man meinen, dass Stumm der Lösung seines Ausgangsproblems, das ja in der Identifikation des obersten Gedankens besteht, nun tatsächlich nähergekommen ist. Während es bereits Bücher über Bücher erlauben, sich einen vollständigen Überblick über den Bibliotheksbestand zu verschaffen, ohne sich hierbei mit ihrem eigentlichen Inhalt herumschlagen zu müssen, bringt eine Bibliographie der Bibliographien den zusätzlichen Vorteil, den Gesamtbestand auf den Umfang eines einzelnen Buches herunterzubrechen. Der General verfügt nun also nicht nur über eine vermeintlich vollständige Repräsentation aller in der Hofbibliothek gespeicherten Inhalte. Da diese Inhalte zudem auf den Umfang eines einzelnen Buches komprimiert wurden, scheint auch ihre operationale Handhabe in den Bereich des Machbaren gerückt zu sein.
12 Franz Gustav Kollmann: Robert Musil und die Mathematik. Stuttgart 2007.
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In der Sekundärliteratur ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Musils Bibliographie der Bibliographien als eine Anspielung auf die Russell’sche Antinomie gelesen werden muss.¹³ Russell hatte 1903 im Anschluss an die Arbeiten von Cantor und Frege darauf hingewiesen, dass der Mengenbegriff der naiven Mengenlehre Paradoxien aufwirft, wenn man annimmt, dass M ) (x ! x!$x& eine Menge ist, dass es also die Menge aller Mengen gibt, die sich nicht selbst enthalten. Mit einer Bibliographie der Bibliographien verhält es sich nun ähnlich wie mit der Russell’schen Menge aller Mengen: Nehmen wir an, eine Bibliographie der Biographien stellt den Anspruch einer vollständigen Repräsentation aller in einer Bibliothek enthaltenen Bücher. Klar ist, dass die Bibliographie der Bibliographien einen Eintrag über sich selbst enthalten sollte, weil es sich bei ihr ja ganz zweifellos um ein Buch handelt. Entspricht sie diesem Anspruch aber tatsächlich, dann ist die in ihr enthaltene Repräsentation immer genau dann unvollständig, wenn wir sie aus dem Regal nehmen, um ihren Inhalt zu konsultieren. Wie immer wir die Situation also auch drehen und wenden – die Bibliographie der Bibliographien scheint ihrer Aufgabe aus prinzipiellen Gründen niemals gerecht werden zu können. Der Versuch des Generals, die kaiserliche Hofbibliothek unter seine intellektuelle Kontrolle zu bringen, um seiner verehrten Diotima imponieren zu können, scheitert also auf der ganzen Linie. Stumm realisiert, dass die Bibliothek auch nichts anderes ist als ein – wie er sagt – Tollhaus, und dass die Einzigen, die sich in der Bücherflut zurechtfinden, diejenigen sind, die niemals auch nur ein einziges Buch lesen. Die abschließende Resignation des Generals ist kaum zu überhören. Bemerkenswert ist aber, dass Musil auch in diesem Zusammenhang nicht auf eine ausdrückliche Referenz zur Mathematik verzichtet: Stell dir Ordnung vor. Oder stell dir lieber zuerst einen großen Gedanken vor, dann einen noch größeren, dann einen, der noch größer ist, und dann immer einen noch größeren; und nach diesem Muster stell dir auch immer mehr Ordnung in deinem Kopf vor. Zuerst ist das so nett wie das Zimmer eines alten Fräuleins und so sauber ein ärarischer Pferdestall; dann großartig wie eine Brigade in entwickelter Linie; dann toll, wie wenn man nachts aus dem Kasino kommt und zu den Sternen „Ganze Welt, habt acht; rechts schaut!“ hinaufkommandiert. Oder sagen wir, im Anfang ist Ordnung so, wie wenn ein Rekrut mit den Beinen stottert und du bringst ihm das Gehen bei; dann so, wie wenn du im Traum außer der Tour zum Kriegsminister avancierst; aber jetzt stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommene zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie! Ich habe mich mit meinem Bibliotheksdiener darüber unterhalten. Er hat mir vorgeschlagen, daß ich Kant lesen soll oder so etwas dergleichen, über die Grenzen der Begriffe und des Erkenntnisvermögens. Aber ich will eigentlich nichts mehr lesen. Ich so etwas Komisches im Gefühl: ein Verständnis dafür, warum
13 Catrin Misselhorn: Musil’s Metaphilosophical View: Between Philosophical Naturalism and Philosophy as Literature. In: The Monist 97 (2014), S. 104–121.
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wir beim Militär, die wir die größte Ordnung haben, gleichzeitig bereit sein müssen, in jedem Augenblick unser Leben hinzugeben. (MoE, S. 464 f.)
7 Konklusion: Der Mann ohne Eigenschaften als gedankenexperimentelle Anordnung Wie ich im dritten Abschnitt etwas detaillierter ausgeführt habe, beziehen wissenschaftliche GEs ihren epistemischen Nutzen aus der Fähigkeit, uns mit mentalen Repräsentationen und geeigneten Operationen vertraut zu machen, mittels derer sich bestimmte, ansonsten unanschauliche Implikationen von Theorien verständlich machen lassen. Wissenschaftliche GEs sind hierzu in der Lage, weil sie bei lebensweltlich vertrauten Objekten wie Zügen, Schienen, Katzen oder Liftkabinen ansetzen, diese aber in Weisen nützen, die uns die Koordination zwischen abstrakttheoretischen Begriffen und konkreten empirischen Situationen erlauben. Wenngleich ich nicht behaupten will, dass literarische Werke demselben Ziel dienen wie wissenschaftliche GEs, so hoffe ich mit meiner Analyse doch nahezulegen, dass im Hintergrund des Kapitels 100 des MoE ähnliche Funktionsweisen am Wirken sind wie in Einsteins Zugexperiment. Die erste offenkundige Parallele zwischen dem MoE und Einsteins Zugexperiment besteht darin, dass beide das epistemische Ziel verfolgen, einen bestimmten, theoretisch relevanten Umstand verständlich zu machen. Während es im Fall des Zugexperiments primär um die Relationalität des Simultaneitätsbegriffs geht, zielt das Kapitel 100 des MoE meiner Interpretation folgend auf eine Reihe von Paradoxien ab, die im Zusammenhang mit Fragen der logischen Ordnung, der Operationalisierbarkeit von Algorithmen und der Selbstreferentialität von Regeln zu sehen sind. Ähnlichkeiten lassen sich aber auch hinsichtlich der Weise, in der die jeweilige epistemische Zielsetzung realisiert wird, konstatieren: Wie zuvor beschrieben, setzt Einstein bei lebensweltlich vertrauten Gegenständen an, um eine mentale Repräsentation eines Szenarios zu konstruieren, das zur Veranschaulichung bis dahin unbekannter theoretischer Implikationen dient. Da wir alle aufgrund unserer Erfahrungen mit Zügen wissen, was es bedeutet, die Welt aus dem Blickwinkel unterschiedlicher bewegter und unbewegter Bezugsrahmen wahrzunehmen, eignet sich das GE hervorragend, um als eine kognitive Brücke zwischen konkreter Lebenswelt und abstrakter Theoriewelt fungieren. Die Sequenz, die in Kapitel 100 des MoE beschrieben wird, verfährt meiner Ansicht nach in durchaus ähnlicher Weise: Wenn meine Hypothese zutrifft und es in Kapitel 100 wirklich um eine Verarbeitung bestimmter logischer und metamathematischer Paradoxien geht, so handelt es sich hierbei um vergleichsweise ab-
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strakte Themen, die ohne entsprechende Vorkenntnisse keineswegs selbsterklärend sind. Was Musil dementsprechend tut, ist uns eine Anleitung zur Konstruktion einer mentalen Repräsentation an die Hand zu geben, die uns – ähnlich wie im Fall des Einstein’schen Zugexperiments – dabei hilft, die Kluft zwischen bekannter Lebenswelt und abstrakter Theoriewelt zu schließen. Wir alle wissen, was es bedeutet, die Gänge einer bis oben hin mit Büchern gefüllten Bibliothek entlangzuschreiten. Und wir alle können uns mit dem General identifizieren, wenn diesen das Gefühl beschleicht, von der Informationsflut schlicht überrollt zu werden. Stumms Aufenthalt in der kaiserlichen Staatsbibliothek wird aber erst an dem Punkt zu einer vollwertigen gedankenexperimentellen Anordnung, an dem Musil manipulative Schritte andeutet, mittels derer die mentale Repräsentation in theoretisch relevanten Weisen manipuliert werden kann. Wir lernen unterschiedliche Algorithmen kennen, die es dem General dem ersten Anschein nach erlauben, sich im Labyrinth gespeicherter Gedanken zurechtzufinden. Jedes Mal aber, wenn einer dieser Algorithmen an seine Grenzen stößt, erkennen wir ein weiteres Problem, das im Zusammenhang mit Fragen nach der prinzipiellen Ordenbarkeit von Information und der operationalen Handhabe des in dieser Weise Geordneten auftritt. Es ist genau in diesem Sinne, in dem das Kapitel 100 in Musils MoE einer ganz ähnlichen Zielrichtung folgt wie Einsteins Zugexperiment: Beide dienen – ganz unabhängig von ihrem ästhetischen Wert – als kognitive Brücken zwischen konkreter Lebenswelt und abstrakter Theoriewelt.
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Stuart, Michael T./Yiftach Fehige: Motivating the History of the Philosophy of Thought Experiments. In: HOPOS: The Journal of the International Society for the History of Philosophy of Science 11 (2021), S. 212–221. Wiltsche, Harald A.: The Forever War: understanding, science fiction, and thought experiments. In: Synthese 198 (2021), S. 3675–3698.
Pascal Zambito
Experimentieren im Großen. Über Summativität und Übersummativität (MoE I, 81–84) Abstract: Der Beitrag untersucht Musils originelle Integration gestalttheoretischer Ansätze in seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Anhand der Kapitelsequenz 81–84 wird rekonstruiert, wie er zunächst anhand des kakanischen Vereinswesens eine Karikatur summativer, „gestaltblinder“ Denkweisen skizziert, um ihr sodann in Gestalt von Clarisse ein nicht minder überzeichnetes, unreflektiertes Streben nach Größe und Ganzheit entgegenzustellen. Ein zwischen den beiden Extrempositionen vermittelnder Gedankengang führt dialektisch zu Ulrichs ausgereifterer Position, in der das Prinzip der Übersummativität auf Fragen der Moral erweitert und mit der Poetologie des Romans enggeführt wird: Wesentlich ist ihr die Verbindung des holistischen Denkens mit der Offenheit des Möglichkeitssinnes.
Dass Robert Musil Überlegungen der Gestalttheorie rezipiert und in seinem dichterischen Schaffen verarbeitet hat, ist in der Forschung gut belegt. Seine Bekanntschaft mit gestaltpsychologischen Ansätzen ist schon biographisch naheliegend, da er zur selben Zeit bei Carl Stumpf in Berlin studierte wie die bedeutendsten Vertreter dieser Denkschule. Die Ideen von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka, in denen sich naturwissenschaftliches Denken mit einer nicht-reduktionistischen Philosophie verbindet, fielen bei Musil auf fruchtbaren Boden. Von seiner anhaltenden Beschäftigung mit diesen Überlegungen zeugen sowohl zahlreiche erhaltene Exzerpte in Musils Nachlass als auch deren Niederschlag in veröffentlichten Essays und Dichtungen.¹ In Der Mann ohne Eigenschaften finden sich gestalttheoretisch informierte Passagen etwa in den Beschreibungen von Wahrnehmungsphänomenen, den dichterisch umrissenen Ansätzen einer Gefühlstheorie oder in der Darstellung sozialer Dynamiken.²
1 Zum Einfluss der Gestalttheorie auf Musil allgemein vgl. Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Bern u. a. 1998. Zu seinen Leseerfahrungen und Exzerpten gestalttheoretischer Texte im Speziellen vgl. bes. S. 146 u. S. 216 f. 2 Zu einer umfassenden Typologie gestalttheoretischer Einflüsse auf Musil vgl. Florence Vatan: Gestalttheorie. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin/ Boston 2016, S. 533–535. https://doi.org/10.1515/9783110988352-008
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Die Attraktivität des Gestaltansatzes beruht nicht zuletzt auf seiner vielseitigen Anwendbarkeit. Zur Minimaldefinition des Begriffs der Gestalt gehören die Kriterien der Übersummativität und Transponierbarkeit. Im Folgenden soll die Übersummativität im Mittelpunkt stehen: die Ansicht, dass die Teile einer bestimmten Konstellation von Gegenständen, ein „Zusammen“, wie Köhler es nennt, nicht unabhängig voneinander, als bloßes summatives Nebeneinander oder „Undverbindung“ zu betrachten sind,³ sondern dass sie sich in ihren Verhältnissen zueinander gegenseitig erst ihre Bedeutung geben. Kurz: dass das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Die Melodie ist kein Nebeneinander von Tönen, sondern bildet als ganze eine Einheit; ein Rechteck ist nicht reduzierbar auf die isoliert betrachteten Seiten, sondern ist, was es ist, erst durch deren bestimmte Relationen zueinander. Musil selbst verwendet diese Beispiele in seinem Essay Literat und Literatur und betont: Derlei Gestalten „seien ein Ganzes, aber es muß hinzugefügt werden, daß sie kein summatives Ganzes sind“ (GA 11, S. 445). Das zweite Kriterium, Transponierbarkeit, benennt die Tatsache, dass übersummative Gestalten erkennbar bleiben, wenn bestimmte Parameter verändert werden. Eine Melodie kann in eine andere Tonart übertragen werden, ein geometrische Figur vergrößert, verkleinert oder in bestimmter Weise projiziert werden, ohne dass sie ihre Gestaltqualitäten einbüßt. In einem anderen Sinne transponierbar ist jedoch der Grundbegriff der Übersummativität selbst: Die Methode, ganzheitliche Systeme anstelle von isolierten Individuen zu betrachten, kann von ihrer ursprünglichen Anwendung in der Wahrnehmungspsychologie auf andere Bereiche ausgedehnt werden. Der Begriff Gestalttheorie anstelle von Gestaltpsychologie deutet diese erweiterte Anwendbarkeit an. Ein Beispiel ist etwa Köhlers Versuch, Psychologie, Biologie und Physik unter dem Dach einer gestalttheoretisch inspirierten Naturphilosophie zu vereinen.⁴ Darüber hinaus sind jedoch auch ökonomische und soziale⁵ sowie letztlich auch ethische Betrachtungen unter dem Aspekt der Gestalt denkbar. Der vorliegende Aufsatz widmet sich einer solchen Übertragung des Gestaltbegriffs, und zwar auf jene Frage, von der Ulrich im Mann ohne Eigenschaften sagt, sie sei die einzige, die „das Denken wirklich lohne“, nämlich „die des rechten Lebens“ (GA 1, S. 408 f.).
3 Wolfgang Köhler: Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Berlin 1920, S. 42. 4 Der Untertitel der Physischen Gestalten ist Eine naturphilosophische Untersuchung. Vgl. Bonacchi, Die Gestalt der Dichtung, S. 137. 5 Anwendungen des Gestaltbegriffs auf ökonomische und soziale Fragen finden sich etwa in den Arbeiten Kurt Lewins, die Musil ebenfalls rezipiert und literarisch verarbeitet hat. Vgl, Roland Innerhofer/Katja Rothe: Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin. In: Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010), S. 365–381.
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Die genannten Ansätze und Betrachtungsweisen durchziehen den Roman in einem derartigen Ausmaß, dass Silvia Bonacchi vorschlägt, ihn insgesamt als „gestalttheoretisches Konstrukt“⁶ zu betrachten. Freilich ließe sich der Kontext jeder konkreten Textstelle beliebig erweitern, um solcherart ein „Ganzes“ in den Blick zu bekommen. Ein Argumentationszusammenhang, der für die hier untersuchte Übertragung des Gestaltbegriffs auf das Gebiet der Moral einschlägig ist, lässt sich allerdings besonders gut aus der Kapitelsequenz 81–84 rekonstruieren. Sie ist eingebettet zwischen die Einführung der Figur General Stumm von Bordwehr (Kapitel 80) und dessen „Bemühung, Ordnung“ – ein zentraler Begriff der Gestalttheorie und des Romans – „in den Zivilverstand zu bringen“ (Kapitel 85). Der Aufbau der Sequenz weist eine dialektische Struktur auf: Die summative Betrachtungsweise, die Ulrichs Zeit und Umfeld dominiert, wird von ihm als ungenügend und unbefriedigend erlebt; der sich dagegen erhebende Widerspruchsgeist findet Anknüpfungspunkte in einem ebenfalls zeittypischen Streben nach Ganzheit und Größe, wie es werkimmanent durch Ulrichs Freundin Clarisse, philosophisch durch Nietzsche vertreten wird, der in den moralkritischen Passagen des Romans intertextuell sehr präsent ist. Die Unschärfe dieser Forderungen sowie ihre an Wahnsinn grenzende Radikalität lassen jedoch die Gegenthese zur Summativität ebenfalls zweifelhaft erscheinen. Ulrichs Antwort auf das Problem, die als Ergebnis eines längeren und verwickelten Denkweges präsentiert wird, zeugt letztlich von Musils eigenständiger und origineller Adaption gestalttheoretischer Ansätze. Ihr Einfluss beschränkt sich nicht auf Einsichten der Psychologie, sondern erstreckt sich auf die immer wieder in den Blick genommene Moraltheorie sowie nicht zuletzt auf das poetologische Programm des Romans. Essentiell ist ihr die Verbindung eines ganzheitlichen Blicks auf die Welt mit den Prinzipien der Offenheit und Potentialität, wie sie in den Schlüsselkonzepten des Romans „Möglichkeitssinn“ und „Essayismus“ formuliert werden.
1 Zur Komposition der Kapitelsequenz Zu Beginn des Kapitels 84 kehrt Ulrich nach Hause zurück und findet auf seinem Schreibtisch ein „Paket wirklicher Welt“ (GA 2, S. 75) vor. Nach kurzer Überlegung schiebt er es – offenbar gelangweilt – beiseite und bricht wieder auf in die Richtung, aus der er gekommen ist. Was stößt ihn so ab an der wirklichen Welt? Wohin wendet er sich, indem er sich von ihr abwendet?
6 Bonacchi, Die Gestalt der Dichtung, S. 309.
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In der Komposition der Kapitelsequenz 81–84 verweben sich zwei Gedanken, die für das erste Buch des Mann ohne Eigenschaften konstitutiv sind: 1) die Kritik an einer additiven Auffassung des Lebens, in der Zufälliges und Seinesgleichen ungeordnet nebeneinander stehen, anstatt zu einem Ganzen vereinigt zu werden; 2) das Bestreben, nicht nur in Ganzheiten zu denken, sondern auch und besonders deren Offenheit und Veränderbarkeit zu leben. Die Schlüsselkonzepte „Möglichkeitssinn“ und „Essayismus“ beinhalten den Holismus des ersten Gedankens⁷ und betonen die Kreativität des zweiten. Es wird in Systemen gedacht, aber kein System wird als starres Gegebenes anerkannt. Wäre die Utopie eines perfekten Lebens verwirklicht, wäre diese „ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichterische Gesinnung“ (GA 2, S. 77 f.) am Ende. Auf ironische Weise ähneln sich so die revolutionären Bestrebungen Ulrichs und die Behäbigkeit Walters, der seine Begabung einer bürgerlichen Idylle opfern will – so kommt es zur Behauptung des Titels von Kapitel 84, „daß auch das gewöhnliche Leben von utopischer Natur ist“. Das „Paket wirklicher Welt“ besteht aus Zuschriften zur Parallelaktion, die Musil mit seiner typischen Ironie beschreibt, die Gegensätze vereinigt und „einen Klerikalen“ so darstellt, „daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist“.⁸ Ein Industrieller fördert die militärische Erziehung der zivilen Jugend; die Erzdiözese lehnt ein Waisenhaus wegen „konfessioneller Vermischung“ ab. Eine Ahnung bürokratischer Blindheit und der unbefriedigenden Tendenz, sich zu wiederholen, ohne vom Fleck zu kommen, gibt ein Komitee, dessen „definitiv vorläufige“ Anregung eines „Friedenskaiser-und-Völker-Österreichs-Denkmals“ nach etlichen Sitzungen und unter mehreren Bedingungen darin mündet, „einen Wettbewerb um die beste Idee eines Wettbewerbs in Hinsicht auf das eventuell zu errichtende Denkmal auszuschreiben“. Nach Auflistung weiterer Zuschriften des „Stenographievereins Öhl“ und des „Volksgesundheitsvereins Balkenbuchstabe“ bricht die Reihe ab: „Und in solcher Art ging es weiter.“ (GA 2, S. 75) Durch die Nennung der Vereine wird ein Faden aus Kapitel 81 aufgenommen, der in den Folgekapiteln gewissermaßen durch den Komplex „Weltgeschichte“ verstärkt und mit dem Faden der Beziehung Ulrich-Walter-Clarisse verflochten wurde. Nahezu programmatischen Charakter hat sowohl die Fadenmetapher in Kapitel 82 („Diese beiden Reden flochten sich ineinander“; GA 2, S. 60) als auch die Identifikation Clarissens mit Moosbrugger, dem sie Musikalität zuschreibt – „er kann bloß nicht komponieren“ (GA 2, S. 58). In der Kapitelsequenz wird kunstvoll verflochten und komponiert. Der Aufbau ist etwa der folgende: Das aus der Ge7 Der Möglichkeitsmensch „will gleichsam den Wald“ anstelle der Bäume (GA 1, S. 22); dem Essayisten erscheint der Wert von Handlungen abhängig „von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten“ (GA 1, S. 400). 8 KA/Lesetexte/Bd. 14/Selbstkommentare aus dem Nachlaß/Vermächtnis.
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stalttheorie bekannte Thema nicht-holistischer, summativer Auffassungen wird zunächst in Form der Vereine parodistisch eingeführt und schwillt in Ulrichs Reflektionen zur Kakophonie der Weltgeschichte an, die ihm als unerträgliche und unverbundene Abfolge zufälliger Einzelereignisse erscheint; später genügt ein kurzes Anklingen des Motivs (die Zuschriften auf dem Schreibtisch), um ihn zur Umkehr zu bewegen. Es ist eine Umkehr zurück zu Clarisse, die bereits vorher ihre Gegenstimme zur Summativität erhoben hat, wenn auch auf eine zunächst dissonante Weise, die Ulrich irritiert. Jedoch gewinnt sie an Kraft, je mehr sich Ulrich in Kapitel 83 mit ihr beschäftigt und sie mit seiner eigenen möglichkeitssuchenden, essayistischen Denkweise anreichert. Sie mündet in dessen Plädoyer für Ideengeschichte im Kapitel 84, das die Aspekte der Übersummativität und des Möglichkeitssinns vereint.
2 Das summative Denken der Vereine Die Vereine, die sich mit ihren Anliegen und Vorschlägen zur Parallelaktion an Graf Leinsdorf und seinen Sekretär Ulrich wenden, scheinen zunächst gewöhnliche bis kuriose Liebhabereien wie Philatelie, Typographie, Stenographie zu sein; doch darf, nicht nur aufgrund ihrer Rolle als wiederkehrendes Motiv, eine dramaturgische Funktion des Kapitels 81 angenommen werden. Vereinigt und vereint wird viel in Musils Schreiben: Mann und Frau, die „Völker Österreichs“, überall herrscht ein, oft genug problematisches, Bedürfnis nach Ganzheit. Auch die vorgestellten Vereine streben danach, erstaunen Ulrich allerdings durch ihre Vielzahl und dadurch, dass sie einander so feindselig gegenüberstehen. Als eine Art Nationalismus im Kleinen konterkarieren sie das vereinigte Kakanien – dessen Status hinsichtlich „Undverbindung“ ohnehin nicht ganz klar ist (vgl. GA 2, S. 218–221) – sodass in diesem vermeintlichen Ordnungsstaat „jeder Mensch noch einer Räuberbande angehört… !“ (GA 2, S. 48) Was die Vereine vereint, ist ihre Blindheit für das Ganze und das Bestreben, ihr partikulares Interesse der Allgemeinheit aufzudrängen. Das Ganze, das aus dem Blick gerät, ist in allen drei Fällen die menschliche Kommunikation. Der Philatelist preist die Vorzüge des Markensammelns, aber erwähnt mit keiner Silbe ihre Funktion, Briefe frei zu machen. Das totale Absehen dieses „Idealisten“ vom Gebrauchswert überhöht die Marke zum Fetisch. Der Stenograph Öhl mit seiner leuchtenden „Märtyrerstirn“ verfolgt die „scheinbar harmlose Alltagsschrift mit einem unerbittlichen Haß“. Mit religiösem Eifer verachtet er ihre „Häkelchen, Weitschweifigkeiten, Ungenauigkeiten, verwirrenden Wiederholungen ähnlicher Teilbilder“ (GA 2, S. 52).
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Am seltsamsten aber ist wohl der Vorstand des Vereins „Balkenbuchstabe“. Anstatt Schilder in der Stadt zu lesen, addiert er die Balken, aus denen jeder Buchstabe besteht, und die Buchstaben, aus denen die Wörter bestehen, und macht sein Glück davon abhängig: Buchstaben mit vier Balken (W, E, M) machen froh, solche mit einem (O, I, C) „durch ihre Unergiebigkeit traurig“. Trotz der parodistischen Darstellung wird betont, dass der Mann „eigentlich nicht den Eindruck eines Geisteskranken“ mache und den „besseren Ständen“ angehöre. Auch durch seinen Hinweis auf die Statistik als Leitprinzip erscheint er als Vertreter eines Zeitgeists, dem über das summative Zählen von Einzelereignissen der Sinn fürs Ganze abhanden gekommen ist. (GA 2, S. 50 f.) Er schlägt damit einen Bogen zu Kapitel 16 ,Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit‘, in dem Anspielungen auf die Gestalttheorie in Ulrichs Vorstellungen verwoben sind, wie Inka Mülder-Bach herausgearbeitet hat:⁹ Ulrich stellt sich vor, Thomas von Aquino habe, „nachdem er die Gedanken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung hatte“, weiter an seiner Summa theologica gearbeitet, sei „noch gründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden“ (GA 1, S. 91). Derart gedanklich ins frühe 20. Jahrhundert versetzt, wird der Kirchenphilosoph konfrontiert mit der Moderne. Seine summative Sichtweise wird herausgefordert durch das Konzept der Übersummativität, wie es u. a. Wolfgang Köhler entwickelt hat, der mehrfach mit dem Kapitel assoziiert wird: Der o-armige, o-beinige Motorradfahrer erinnert nicht nur an Köhlers Versuche mit Anthropoiden, sondern fungiert auch als Bild einer dynamischen Bewegung, die neben dem Gleichgewichtszustand (die Fotografie der Tennisspielerin) und dem stationären Zustand (die Fotografie der ruhenden Schwimmerin) zu den Zuständen physikalischer Systeme zählt, die er in den Physischen Gestalten untersucht. Wenn Mülder-Bach recht hat, dass auch die „Elektrische“, die Thomas an der Nase vorbeisaust, auf Köhlers Beschäftigung mit Elektrizität anspielt, dann ist es vielleicht auch bedeutsam, dass dem wunderlichen Vorstand des Vereins „Balkenbuchstabe“ im Kapitel 81 seine Leidenschaft „noch viel aufregender“ vorkommt, „wenn man auf der Elektrischen fährt“ (GA 2, S. 50). Tatsächlich ist es ein Paradebeispiel für Gestaltblindheit, für Summativität nach Köhler, wenn man bei Buchstaben die Balken addiert, anstatt deren Sinn zu erfassen, der in ihren ganzheitlichen Gestalten liegt. Der Verein versteht Schrift buchstäblich summativ auf Kosten der Kommunikation.
9 Inka Mülder-Bach: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, hier S. 128–133.
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3 Sehnsucht nach Ganzheit und Größe angesichts der summativen Weltgeschichte In Kapitel 82 erhebt sich hierzu eine Gegenstimme, die in einem Ausmaß aufs Ganze geht, das Ulrich ausgesprochen irritiert: Clarisse verlangt zuerst ein Nietzsche-, dann ein Ulrich-Jahr, ohne genau sagen zu können, was ihr vorschwebt. Man müsse nach einer großen Idee leben, fordert sie. Gedanken (im Gegensatz zu den Vorhaben der Vereine) könne man nicht umsetzen, kontert Ulrich. Doch die Freundin bohrt weiter, bringt Walters Eifersucht ins Spiel und trifft Ulrich merklich, als sie seine Passivität mit der ihres Gatten gleichsetzt: Beiden fehle der Mut zur großen Idee. Es ist bemerkenswert, dass der sonst so souveräne Ulrich sich nicht verteidigen kann und nur den noch leeren Begriff „aktiver Passivismus“ (GA 2, S. 63) in den Raum wirft, der ihn von Walter unterscheiden soll. Auf dem Heimweg folgt er seinen sprunghaften Gedanken: Er reflektiert und assoziiert über Teil-Ganzes-Verhältnisse, über Gott und Mathematik, über das kapitalistische Zeitalter der Arbeitsteilung und Spezialisierung, das in den Bienenstaat führe – und hält letztlich „die Teile in seiner Hand“, denen das berühmte „geistige Band“ fehlt. Als er das Unbehagen an einer partikularen Gesellschaft ohne einenden Geist als Vorurteil abtun will, drängt sich ein anderes Goethe-Wort auf. In der Scheibe der „Elektrischen“ spiegelt sich sein Gesicht und verlangt nach einer Ergänzung – „Denn was innen, das ist außen“ stellt Köhler einem Kapitel seiner Physischen Gestalten voran, in dem er nachzuweisen sucht, wie den gestaltartigen Wahrnehmungsphänomenen gestaltartige Strukturen in der Realität entsprechen.¹⁰ Erneut geht die Köhler-Anspielung mit einer Kritik der Summativität einher: Die „Weltgeschichte“ wirft Ulrich zwar durchaus signalhafte Brocken zu (Balkan, Entente, Gefährdung des Weltfriedens), stellt diese aber unverbunden nebeneinander, sodass sie ihren Sinn verlieren, austauschbar werden. Das Wort „Seinesgleichen“, das in den Überschriften des Kapitels sowie des gesamten zweiten Romanteils Seinesgleichen geschieht zunächst rätselhaft wirkt, wird an dieser Stelle zitiert, um das Uneigentliche jener geschichtlichen Ereignisse zu fassen. Ulrich empört sich gegen das Zufällige, dem man sich anpasst, das „eigentlich menschenunwürdige Mitmachen der Jahrhunderte“ (GA 2, S. 69 f.). Eingedenk Clarissens Forderungen scheint er nun tatsächlich Sympathie für Nietzsches Bestreben zu entwickeln, „jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher
10 Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, S. 173–194.
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,Geschichte‘ hieß, ein Ende zu machen“¹¹. Die Weltgeschichte erscheint ihm unkreativ und summativ, zwar durchaus ein „Zusammen“ von Teilen, wie es Köhler nennen würde, aber eines, in dem die Veränderung eines Teils alles andere unberührt lässt. Ulrich steigt aus der Elektrischen aus und setzt seinen Weg zu Fuß fort. Zunächst erfolglos versucht er, die Gedanken zu ordnen, seine Unzufriedenheit zu artikulieren. Auf seine Leitfrage „Wie entsteht Weltgeschichte?“ entwickelt er eine nur scheinbar luzide nummerierte Folge von Antworten, die zunehmend zerfasert. 1. Es fällt den Autoren nichts Neues ein. Fantasielos schreibt einer vom anderen ab. Über die Bedeutungsverschiebung von Weltgeschichte zu literarischen Geschichten erhält die Überlegung poetologisches Gewicht. 2. Es gibt keine Autoren, sondern es liegt in den Umständen, am Ort des Einzelnen im System. Es treten also die Teile hinter das Ganze zurück, ohne sich aber dessen bewusst zu sein. Abschweifung 1: Die „stille Post“, die Ulrich in den Sinn kommt, ähnelt gestalttheoretischen Experimenten: Die Ordnung des Ursprungssatzes löst sich auf, aber aufgrund der Tendenz zur spontanen Neubildung von Gestaltordnungen erhalten die Silben einen neuen und vollständigen Sinn. So wird aus dem Satz „Der Wachtmeister soll vorreiten“, den man schlecht versteht, ein anderer geordneter Satz „Acht Reiter sollen sofort erschossen werden“. Ein derart zufälliges Lösen und Bilden von Ordnung sei auch die Weltgeschichte. 3. Heutige Europäer, die man als Kinder ins alte Ägypten versetzte, würden zunächst nicht auffallen, dann aber neue Ordnungen und einen neuen Lauf der Weltgeschichte verursachen nach unbekannten Gesetzen, denen Ulrich ebenfalls eine gewisse Beliebigkeit unterstellt. Abschweifung 2: Das Gesetz der Weltgeschichte gleicht dem „Staatsgrundsatz des ,Fortwurstelns‘“, das in Kakanien zu unerreichter Blüte kommt. 4. oder Abschweifung 3? Den Assoziationen zur Planlosigkeit planlos folgend, kommt Ulrich zu dem Schluss, die Weltgeschichte gleiche dem Sich-verlaufen in einer Stadt – und stellt zugleich fest, dass er sich dabei „ein wenig vergangen“ (S. 362) habe. Dabei bleibt unklar, inwieweit es sich nur um ein Verirren im Stadt- und Gedankenraum handelt (was innen, das ist außen) oder ob in diesem „Vergehen“ bereits das „Verbrechen“ anklingt, als das Nietzsche die Herausforderung der herrschenden Zufallsmoral bezeichnet¹² und das als solche ein wesentliches Motiv im dritten Teil den Mann ohne Eigenschaften bilden wird. (GA 2, S. 70–72)
11 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, § 203. In: Ders.: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999 (Kritische Studienausgabe, Bd. 5). 12 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, § 98. In: Ders.: Morgenröthe. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999 (Kritische Studienausgabe, Bd. 3).
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Das Ergebnis dieser Irrwege ist in jedem Fall: „Die kleine verrückte Clarisse hatte also ganz recht, man sollte Geschichte machen, man müßte sie erfinden“ (GA 2, S. 72); man sollte nicht summatives Seinesgleichen erleiden, sondern aktiv Ganzheit gestalten, also letztlich übersummativ leben. Als weitere Gegenstimme imaginiert sich Ulrich den je nach Sichtweise pragmatischen oder opportunistischen Bankdirektor Fischel, der die Idee, aktiv Geschichte zu gestalten, ablehnt. Seine Signalworte (balance of power, bewaffneter Ideenfriede) legen erneut Assoziationen von der summativen Auffassung zum projizierten Ende des Mann ohne Eigenschaften nahe, zum Verhängnis des Ersten Weltkriegs. Doch da endet das Kapitel, indem Ulrich zu Hause ankommt.
4 Die Verbindung von Übersummativität und Möglichkeitssinn Um Ulrichs Ausführungen in Kapitel 84 besser zu verstehen, ist es hilfreich, die Komposition der Sequenz zu rekapitulieren: Die Vereine legen ein summatives Verständnis der Welt, vor allem der Sprache, an den Tag; kennzeichnend ist die Überbetonung von isolierten Einzelaspekten, vom Nebeneinander der Dinge, die unverbunden neben „ihresgleichen“ stehen. Im Gegensatz dazu verlangt Clarisse, aktiv nach einer großen Idee zu leben, und verunsichert Ulrich zutiefst. Auf dem Rückweg wird ihm die Summativität nicht nur der Vereine, sondern der Weltgeschichte bewusst. Aus seinem Widerwillen dagegen leitet er ab, dass Clarisse in gewissem Sinne recht hatte. Bei der Ankunft am heimischen Schreibtisch wird er erneut mit der Sinnlosigkeit der Weltgeschichte, mit dem „Paket wirklicher Welt“ in Form der Zuschriften der Vereine, konfrontiert. Der dadurch ausgelöste gesteigerte Widerwille gegen das Summative veranlasst ihn, das Haus wieder zu verlassen und sich zurück zu Clarisse zu begeben, um ihr, sich selbst und den Lesern seine nunmehr gereifte Ansicht zu ihren übersummativen Ambitionen mitzuteilen. Bei Clarisse angekommen, erscheinen ihm die gleichen Gegenstände, die er vor kurzer Zeit erst gesehen hat, in anderer Gestalt, in einem anderen übersummativen Gesamtzusammenhang. Nachdem ihm Clarisse in Kapitel 82 noch als nietzscheanische Prophetin „in der gespenstigen Einsamkeit des Hochgebirgswinters“ (GA 2, S. 56) erschienen war, ist die Szenerie jetzt ein bürgerliches Abendessen. Walter blinzelt auffällig, wie der „letzte Mensch“ im Zarathustra, ¹³ was der Rollenverteilung im sich entspinnenden Streitgespräch entspricht. Ulrich macht sich sofort 13 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999 (Kritische Studienausgabe, Bd. 4), I, § 5.
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daran, seine jetzt greifbarere übersummative Moral zu erläutern, in der Ereignisse nur in einem sie umfassenden System Bedeutung haben, und verbindet sie mit den bereits bekannten Überlegungen zu Fantasie und Essayismus. Schon im berühmten Kapitel 4 des Romans wird Ulrichs Gesinnung abgegrenzt von einem schwachen Möglichkeitssinn, wie ihn auch Wirklichkeitsmenschen haben. Dieser variiere zwar ebenfalls Möglichkeiten, aber nur innerhalb eines vorgegebenen Systems; er verhält sich also opportunistisch-affirmativ, um „gut durch geöffnete Türen“ zu kommen, indem man deren „festen Rahmen“ akzeptiert (GA 1, S. 20). Obwohl es also durchaus auch für ihn Veränderungen gibt, werden es „in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen“ (GA 1, S. 22). Diese gleichen Möglichkeiten, d. h. Möglichkeiten gleicher Form, Möglichkeiten im gleichen System, deren Tatsächlichkeit vom Zufall abhängt,¹⁴ sind es, die später mit dem Wort „Seinesgleichen“ umrissen werden. Dagegen bemüht sich der Vertreter des starken Möglichkeitssinns um neue Möglichkeiten im Sinne neuer ganzheitlicher Systeme: „Er will gleichsam den Wald und der andere die Bäume“. Er„erweckt“ neue Möglichkeiten und gibt ihnen erst Sinn und Bedeutung, wobei freilich das bedeutungskonstitutive Ganze selbst kaum sinnvoll erfasst werden kann: „Wald, das ist etwas schwer Ausdrückbares, wogegen Bäume soundsoviel Festmeter bestimmter Qualität bedeuten“ (GA 1, S. 22). Versuche, es dennoch auszudrücken, werden in der Folge immer wieder unternommen, etwa im Kontext des „Essayismus“, für den Wert und Wesen der Dinge in ihren Umständen liegen, in dem „bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten“ (GA 1, S. 400). Das Gemeinsame jener Versuche, der „Drang zum Angriff auf das Leben“, äußert sich „als Ablehnung bestehender oder als wechselndes Streben nach neuer Ordnung“. Möglichkeitssinn und Essayismus gehören Ulrich zufolge zu einer Reihe von „wirklichkeitsfeindlichen Fassungen“, zu der er ebenso die Forderungen zählt, „daß man Geschichte erfinden müßte, daß man Ideen-, statt Weltgeschichte leben sollte“ (GA 2, S. 451), wie sie in den Kapiteln 83 und 84 formuliert werden. Nachdem die summativen Bestrebungen der Vereine beiseite geschoben wurden und Clarissens etwas wirre, aber inspirierende Gedanken verdaut sind, entwickelt Ulrich eben dieses „Programm, Ideengeschichte statt Weltgeschichte zu leben. Der Unterschied […] würde zunächst weniger in dem liegen, was geschähe, als in der Bedeutung, die man ihm gäbe, in der Absicht, die man mit ihm verbände, in dem System, das das einzelne Geschehnis umfinge“ (GA 2, S. 76). Das Programm 14 Vgl. die Gegenüberstellung eines umfassenden Systems der Logik, welche eine Gesamtheit von Möglichkeiten konstituiert, und der zufälligen Wirklichkeit einer jeden dieser möglichen Tatsachen im Werk von Musils Wiener Zeitgenossen Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus. London 1922, Satz 2.012–2.0121.
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orientiert sich also an jenem Ganzen, an jener übersummativen Idee, die in den vorhergehenden Kapiteln als Forderung oder Kontrastfolie präsent war. Es führe zu einer Zurücknahme des Persönlichen, „einer Wendung der Ereignisse nach oben und außen“; die Isolierung des Individuums in der Weltgeschichte werde ersetzt durch Einbettung in ein sinnreiches Ganzes, durch ein kollektives „Kellern und Keltern und Eindicken des geistigen Saftes“ (GA 2, S. 77). Es ist interessant, dass Ulrichs Gegenspieler Walter diesem systemischen und übersummativen Gedanken durchaus zustimmt und ihm lediglich die Originalität abspricht: „Als ob alle Erziehung etwas anderes als Einführung in ein System des Geistes wäre!“ (GA 2, S. 77). Die Ironie liegt darin, dass er selbst gerade Originalität in Wort und Tat vermissen lässt, wenn er sich dem herrschenden System des Geistes unterwirft.¹⁵ Er übersieht den anderen wichtigen Gedanken Ulrichs: den fantasievollen Möglichkeitssinn und die essayistische Offenheit für die Wandelbarkeit geistiger Systeme. Anknüpfend an die Gedanken in Kapitel 83 zur summativen Weltgeschichte, die nur ein zufälliges Nebeneinander von Einzelereignissen sei, dem man Einhalt gebieten müsse, lehnt Ulrich, anders als Walter, das herrschende System, die gegenwärtige Gestalt des Geistes ab, weil sie eigentlich eine Gestalt- und Geistlosigkeit ist, in der der Zufall regiert. Das System gleiche – er greift seine frühere Reflexion über Weltgeschichte auf – einem schlechten Theaterstück, dessen Autoren von einander abschreiben, voll von Altbekanntem und Seinesgleichen, von Klischees und Wiederholungen. Was Ulrich betont, ist die Verbindung von Holismus und Möglichkeitsdenken: Es ist weder die Affirmation des Status quo, und sei es als ganzheitliche Gestalt, noch die Erfindung von Tatsachen, die im gegebenen System zufällig nicht der Fall sind; sondern der Aufruf, das System als ganzes selbst infrage zu stellen, neue Systeme zu entwickeln, welche neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn geben; „um Geist zu gewinnen“, müsse man vor allem erst überzeugt sein, „noch keinen zu haben“ – denn der Status quo ist durch geistlosen Zufall zustande gekommen: „Eine ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung nannte er das.“ (GA 2, S. 77 f.) Walters Entgegnung, das sei ja „bestenfalls“ Literatur, deutet, freilich ironisch gebrochen, die poetologische Bedeutung jenes Gedankens für den Mann ohne Eigenschaften an. Sogleich wendet Ulrich die polemische Behauptung ins Positive: „Wenn du mir erlaubst, darunter auch alle anderen Künste zu verstehen, die Lebenslehren, Religionen und so weiter, dann will ich allerdings etwas dem Ähnliches 15 Ähnlich ironisch mutet das Goethe-Wort von „Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung“ an, das Walter zitiert, kurz bevor er Ulrich erstmals einen „Mann ohne Eigenschaften“ nennt (GA 1, S. 98 f.). Tatsächlich, kommt Ulrich dem zitierten Ideal näher als sein Rivale, dessen „passiver Passivismus“ gerade jene Beweglichkeit vermissen lässt.
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behaupten, daß unser Dasein ganz und gar aus Literatur bestehen sollte!“ (GA 2, S. 78) Clarisse springt ihm bei, was ihren Gatten erst recht anspornt. Er wendet das Paradox des Utopismus auf Ulrichs Ausführungen an: Im perfekten Leben dieser Art gäbe es keine Kunst mehr. Ulrich gibt dies erneut zu, provoziert aber weiter, indem er Walter vorwirft, er selbst mache mit der Kunst Schluss, nur aus entgegengesetzten Motiven, nämlich indem er sich für ein angepasstes bürgerliches Leben entscheidet. Indem auch sein gewöhnliches Leben zum Ende der Kunst führt, ist es „von utopischer Natur“. Zuletzt ist es Clarisse, die den Unterschied zu Walter mit Ulrichs Begriff des „aktiven Passivismus“ akzentuiert und dem Begriff eine Bedeutung gibt (GA 2, S. 83). Er bestehe darin, sich dem gegenwärtigen System zu verweigern, kein Teil der Summe werden, solange noch kein anderes übersummatives System möglich ist. Walters passivem Passivismus ist vielleicht der Gedanke der Übersummativität gar nicht fremd, er lässt aber jeglichen Möglichkeitssinn vermissen und passt sich allzu gern dem Bestehenden an. Ich fasse zusammen. Die Kapitelsequenz ist geprägt von der Adaption und Modifizierung der gestalttheoretischen Begriffe Summativität und Übersummativität, deren Gegensatz zunächst deutlich, fast überdeutlich bis zur Karikatur gezeichnet wird. Auf die gestaltblinden Vereine und ihre verbissen verteidigte kleine Nische folgt Clarissens an Wahnsinn grenzende Forderung nach nicht artikulierbarer Größe. In Ulrichs Reflexionen über die Weltgeschichte scheint sich die Beliebigkeit und Summativität der Vereine in globalen Dimensionen zu wiederholen. Demgegenüber hat Clarisse in der Tat recht: Das, was Sinn in die Sprache, Sinn in die Geschichte bringt, das, was in der Sprache über die bloßen Balken und Buchstaben und in der Geschichte über die Einzelereignisse hinausgeht, ist die Idee, die alles zu einem Ganzen ordnet. Andererseits ist es Ulrich aber wichtig, dass dieses Ganze kein statisches, affirmatives System ist wie bei Walter, sondern dass es sich mit dem Möglichkeitssinn verbindet. Kurz: Sein Programm ist, auf der Ebene der holistischen Gestaltordnungen „im Großen“ zu experimentieren.¹⁶
16 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Am Rand des Wiener Kreises: System und Dichtung in Wien um 1930, das von der Alexander von Humdoldt-Stiftung gefördert wurde.
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Literaturverzeichnis Bonacchi, Silvia: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern u. a. 1998. Innerhofer, Roland/Katja Rothe: Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin. In: Ber. Wissenschaftsgesch. 33 (2010), S. 365–381. Köhler, Wolfgang: Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand: Eine naturphilosophische Untersuchung. Braunschweig 1920. Mülder-Bach, Inka: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013. Musil, Robert: Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta unter Mitwirkung v. Rosmarie Zeller. DVD-ROM Klagenfurt 2009, Update 2015. (Klagenfurter Ausgabe) Musil, Robert: Gesamtausgabe. 12 Bände. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg/Wien 2016–2021. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999. Vatan, Florence: Gestalttheorie. In: Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin/Boston 2016, S. 531–537. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus Logico-Philosophicus. Logisch-Philosophische Abhandlung. London 1922.
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Zur Selbstkonstitution in der Moderne. Die Gestaltung der Mentalitätstransformation im 20. Jahrhundert in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften Abstract: Aufgrund der Unreife des Menschen bei seiner Geburt, die nicht nur eine körperliche und neurologische Unreife ist, sondern auch eine Unreife der Instinktregulation, hat der Homo sapiens die Fähigkeit, sich eigene Lebenswelten zu schaffen, die sich im Lauf der Geschichte in einer fortlaufenden Transformation befinden. Künstler können in ihrem Werk diese Transformationen repräsentieren. Dies geschieht auch im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, der die Gestaltung der Mentalitätstransformation im 20. Jahrhundert im Medium des Romans zugänglich macht und darüber zur Selbstkonstitution in der Moderne beiträgt.
1 Einleitung Es geht in der Moderne im Unterschied zu den überkommenen Kulturen um die Erreichung einer reflexiven Emotionalität des Einzelnen und damit einer Verantwortung für die eigenen Gefühle. Demgegenüber war dort die Kohärenz des Einzelnen durch die Anbindung an weltliche und geistliche Autoritäten gesichert, die wiederum irdische Vertreter „jenseitiger“ Mächte waren. Die jeweilige Zugehörigkeit bestimmte wesentlich die Eigenschaft des Einzelnen, konkret als Protestant oder Katholik und Kaisertreuer oder Königstreuer. Im 19. Jahrhundert begannen sich dazu die Zugehörigkeiten zu bestimmten Nationen als Deutscher oder Franzose als wesentliche Eigenschaften herauszubilden. Im späten 19. Jahrhundert wurden dann noch die Zugehörigkeiten zu bestimmen Ideologien und Weltanschauungen als persönliche Eigenschaften wichtig. Es ging hierbei um eine kollektivpsychologische Identitätssicherung, insofern man in diesen Zugehörigkeiten Schutz und Heil suchte wie früher bei den Eltern. Sie waren so etwas wie ein Zuhause und wurden entsprechend verteidigt. Demgegenüber finden die Tiere ihr Zuhause in ihren vorgegebenen Instinkten und der dadurch bestimmten Umwelt, sodass sich eine zusätzliche Sicherung erübrigt. Wegen dieses komplexen Hintergrunds der menschlichen Selbstkonstitution ist einleitend ein längerer psychobiologischer Exkurs erforderlich, bevor ich dann die besondere Perspektive von Robert Musil auf die Selbstkonstitution in der Moderne zu bestimmen versuche. Dieser Vorspann https://doi.org/10.1515/9783110988352-009
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scheint mir für ein wirkliches Verständnis der Leistung Musils zu diesem Thema unumgänglich.
2 Die Besonderheiten in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen beim Homo sapiens Die Kindheitsentwicklung hat beim Homo sapiens spezifische Besonderheiten. Die Tiere werden durch ihre Instinkte gewissermaßen durch die Phasen der Kindheit und der Jugend hindurchgeführt, um dann in der ebenfalls durch Instinkte bestimmten Lebenswelt des ausgewachsenen Tiers zu landen.¹ Durch die große Unreife und Unfertigkeit des menschlichen Säuglings besteht in den ersten zwei bis drei Lebensjahren eine elementare Abhängigkeit: Der Säugling und das Kleinstkind müssen nicht nur äußerlich versorgt werden, sondern sind für ihre Kohärenz auf eine ‚emotionale Koregulation‘ durch die Beziehungspersonen angewiesen, was durch den Begriff attunement in der Säuglingsforschung nur teilweise erfasst wird.² Der evolutionsbiologische Hintergrund für diese Situation ist die physiologische Frühgeburtlichkeit,³ also eine Geburt in einem Zustand fötaler Unreife, die eben durch die Fürsorge der Eltern ausgeglichen werden muss. In der aktuellen wissenschaftlichen Situation wird dieser Zusammenhang auch als birth dilemma verhandelt.⁴ Der Hintergrund hierfür wiederum ist die Entwicklung des aufrechten Ganges, der einen festen Beckenring erforderte, und die Vergrößerung des Gehirns. Um unter diesen Bedingungen überhaupt eine Geburt zu ermöglichen, wurde in einer Art evolutionsbiologischer Notkonstruktion die Schwangerschaft von ca. 21 Monaten auf neun Monate verkürzt. Ein kleiner Elefant, der uns nach Portmann in bestimmter evolutionsbiologischer Hinsicht nahesteht, wird mit 21 Monaten reif geboren und kann sich nach seiner Geburt im Raum und im sozialen Gefüge seiner Herde eigenständig orientieren und bewegen. Das charakterisiert ihn biologisch als „Nestflüchter“. Dabei nimmt Portmann an, dass die Menschen ursprünglich „Nestflüchter“ waren und durch die genannten Bedingungen zu „sekundären Nesthockern“ wurden. Die besondere Situation im ersten Lebensjahr und noch darüber hinaus hat Portmann deshalb als „extrauterines Frühjahr“ bezeichnet. Die 1 Vgl. Nico Tinbergen: Instinktlehre. Berlin 1966. 2 Vgl. Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Frankfurt a. M. 1992. 3 Vgl. Adolf Portmann: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Basel 1969; Stephen Jay Gould: Human Babies as Embryos. In: Ders.: Ever since Darwin. Reflections in Natural History. New York 1992, S. 70–77. 4 Vgl. Martin Haeusler u. a.: The obstetrical dilemma hypothesis: there’s life in the old dog yet. In: Biological Reviews 96 (2021) 5, S. 2031–2057. https://doi.org/10.1111/brv.12744 (letzter Zugriff: 11.11. 2022)
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biologische Reifung findet also außerhalb des Mutterleibes in der Beziehung zu den Eltern statt. Deshalb haben menschliche Beziehungen auch eine solch existenzielle Tiefe. Wir befinden uns schon in einer realen Beziehung, zu der wir von der neurologischen Unreife auf einer instinktiven Ebene noch gar nicht in der Lage sind. Darum erfolgt sie in einer Persistenz des fötalen magischen und mythischen Erlebens.⁵ Dazu kommt, dass sich der Säugling wegen seiner Unreife und Hilflosigkeit auch nicht, wie das Affenbaby, an der Mutter festhalten kann, was durch deren fehlendes Fell auch noch erschwert wäre. Der Verhaltensforscher Hassenstein hat deshalb die menschlichen Säuglinge als „Traglinge“ bezeichnet. Äußerlich müssen sie getragen und innerlich eben durch die verlässliche Zuwendung der Beziehungspersonen gehalten werden. Das ist die berühmte holding function des Psychoanalytikers Wilfred Bion oder der ebenso berühmte „Übergangsraum“ von Donald Winnicott. Erst heute können wir diese Bezüge herstellen. Der Säugling und das Kleinkind leben also in einer innigen und existenziellen Verbundenheit mit den Eltern, deren Verhalten und Zuwendung alles bestimmt. Sie erscheinen ihm wie göttliche Personen, mit denen man in einer magischen und mythischen Weise verbunden ist. Alles reale Geschehen wird durch sie gelenkt und bestimmt. Auf der neurologischen Ebene bedingt die Vorzeitigkeit der Geburt eine Unreife der präfrontalen und parietalen Hirnregionen, weshalb der Säugling seine Erfahrungen auch nicht verarbeiten kann. Sie können nur ereignishaft in seinem Eindrucksgedächtnis abspeichert werden. Die menschliche Entwicklung wird also im Unterschied zu den anderen Säugetieren durch zwei grundlegende Formationen bestimmt: zum einen eben durch die geschilderte existenzielle Beziehung und Abhängigkeit von den Eltern und zum anderen durch die aus dem Primatenerbe mitgegebenen Instinkte. Die Wechselwirkung dieser beiden Formationen macht die Besonderheit des Homo sapiens aus und ist der Wurzelgrund für seine so kreativen kulturellen und zivilisatorischen Gestaltungen.⁶ Menschen müssen also diesen doppelten Bezug, einmal zur realen Welt und zum anderen zu einer gefühlten magischen und mythischen Abhängigkeit von höheren Wesen, mit denen sie ganzheitlich verbunden waren, in ihrem Lebensbezug kreativ immer wieder neu balancieren. Dies geschah auf der Ebene der
5 Vgl. Ludwig Janus: Homo foetalis et sapiens – das Wechselspiel des fötalen Erlebens mit den Primateninstinkten und dem Verstand als Wesenskern des Menschen. Heidelberg 2018, sowie ders.: Mythos ist Erinnerung. Eine Vertiefung der entwicklungspsychologischen Dimension von Mythen, Märchen und Heldensagen. In: Mundus foetalis. Die pränatale Dimension in Gesellschaft und Geschichte. Heidelberg 2021, S. 47–76. 6 Vgl. Ludwig Janus: Otto Rank: Der Mensch als Künstler – Kreativität als Wesenskern des Menschen. In: Lebenskunst im 20. Jahrhundert – Stimmen von Philosophen, Künstlern und Therapeuten. Hg. v. Günter Gödde u. Jörg Zirfaß. Paderborn 2014, S. 303–320, sowie ders., Homo foetalis.
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Stammeskulturen durch magische Beschwörungen und auf der Ebene der mythischen Kulturen durch einen komplexen Bezug zu den göttlichen Mächten, die in der Kulturentwicklung entsprechend der patriarchalen Ausgestaltung der Gesellschaften schließlich in dem einen männlichen Hochgott mündeten, dessen irdische Repräsentanten der Papst und der Kaiser waren. Die Balancierungen zwischen frühkindlicher Abhängigkeitserfahrung und realer Lebensgestaltung erfolgte also in der Menschheitsgeschichte zunächst in einer projektiven Weise, indem der frühkindliche Abhängigkeitsbezug in der Abhängigkeit im Bezug auf Götter oder den einen Gott externalisiert war. Die zivilisatorische Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen von jeher aus dem Scheitern der magischen und mythischen Erwartungen an ein Fortdauern der elterlichen Versorgung den elementaren Impuls hatten und haben, die Welt kreativ so zu verändern, dass sie die primären Wünsche in Bezug auf die Eltern von umfassender Nährung und Versorgung erfüllt, also gewissermaßen ein Ersatz für die zu früh verlorene Mutter ist.⁷ Das sind dann die zivilisatorischen Errungenschaften des Feuers, der Kleidung, des Schutzes durch Behausungen, der Ernährung durch Landwirtschaft und Viehzucht usw. Diese „Erfindungen“ bedeuteten aber gleichzeitig eine zunehmende Nutzung der kognitiven Potenziale und die Entwicklung daraus resultierender eigener Handlungsfähigkeit, sodass die Menschen sich in den geschichtlichen Kulturen zunehmend eigene, von der Natur unabhängige Lebenswelten aufbauen konnten. Das zentrale menschliche Radikal ist in diesem Sinne seine genuine Kreativität, wie dies Otto Rank umfänglich herausgearbeitet hat.⁸ Ein großer Umschlag in der beschriebenen Entwicklung war die Aufklärung. Durch die zunehmende Beobachtung der Natur in den sich entwickelnden Naturwissenschaften, die Erkundung der realen Welt in den Entdeckerfahrten und die zunehmende staatliche Organisation wurde es möglich, dass die Menschen sich von der Abhängigkeit von den himmlischen Mächten und deren irdischen Repräsentanten unabhängig machten und auch in ihrem Selbstverständnis ihr Leben und ihre Lebensgestaltung in die eigene Hand nahmen. Dies geschah im Rahmen des vielfältigen Geschehens der Aufklärung, das eine gesellschaftliche Veränderung hin zu Demokratie und Menschenrechten war und eine Veränderung der Mentalität in Richtung zu einer „Bestimmung aus sich selbst“ (Kant) und zur Übernahme einer Verantwortung für sich selbst und die eigene Lebensgestaltung, wie Schiller es formulierte: „Und nimmst du die Gottheit in dein Leben auf, steigt sie von ihrem 7 Vgl. Ludwig Janus: Mundus foetalis. Die pränatale Dimension in Gesellschaft und Geschichte. Heidelberg 2021. 8 Vgl. Otto Rank: Kunst und Künstler. Studien zur Genese und Entwicklung des Schaffensdranges. Erstveröff. des dt. Urmanuskriptes von 1932. Gießen 2000, sowie Janus, Otto Rank.
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Weltenthron“.⁹ Diese „Mutation des Bewusstseins“¹⁰ setzte die unglaublich kreative gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts mit ihren enormen wissenschaftlichen und sozialen Entdeckungen und Schöpfungen in Gang, die die moderne Lebenswelt geschaffen haben. Die Literatur hat im 19. Jahrhundert diese Entwicklung mit ihren Entwicklungsromanen und den immer differenzierteren Beschreibungen der menschlichen Innerlichkeit und der menschlichen Beziehungen begleitet und mitgestaltet.¹¹ Der amerikanische Literaturwissenschaftler Meyer Howard Abrams formulierte den darin zum Ausdruck kommenden Mentalitätswandel als einen Übergang in der Literatur vom „Spiegel“ (der „jenseitigen“ Welt) zur „Lampe“,¹² womit ausgedrückt ist, dass die modernen Schriftsteller und Dichter aus der Helle ihres inneren Erlebens in erhellender Weise das Geschehen in der Welt darstellen. Im 20. Jahrhundert war es dann über die Entwicklung der verschiedenen Psychotherapien möglich, dass jeder Mensch sich mit seinen Elternabhängigkeiten auseinandersetzen konnte und sogar mit den Anfangsstadien seines Lebens und seiner Geburt, um dadurch in ein eigenes, selbstverantwortliches Leben zu gelangen.¹³ Rückblickend können wir deutlicher erkennen, dass die religiösen Vorstellungen und deren gesellschaftliche Inszenierungen gewissermaßen kollektivpsychologische Mittel zu einer emotionalen Beheimatung in einer unsicheren und bedrohlichen Welt waren. Aus der zunehmenden Beherrschung der äußeren Welt resultierte der Impuls der Aufklärung, sich aus dieser „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) herauszulösen und über die Entwicklung einer Reflexion der inneren Bedingungen und der Beziehungen eine verantwortete Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Das ist das Projekt, in dem wir immer noch stehen und dessen emotionale Seite eben von den Dichtern und mit ihnen auch den Philosophen kreativ begleitet wurde,¹⁴ etwa in der Forderung Nietzsches „Werde, der du bist“,
9 Friedrich Schiller: Das Ideal und das Leben [1795]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1, München 1987, S. 204. 10 Willy Obrist: Die Mutation des Bewußtseins. Frankfurt a. M. 1988; vgl. ders.: Der Wandel des Menschheits- und Menschenbildes im Laufe der Neuzeit unter dem Blickwinkel der Bewusstseinsevolution betrachtet. In: Die Psychologie der Mentalitätsentwicklung – vom archaischen zum modernen Bewusstsein. Hg. v. Ludwig Janus. Münster 2013, S. 11–24. 11 Vgl. Ludwig Janus: Die Widerspiegelung der Evolution der Mentalitätsstrukturen und Lebensbezüge in der Literatur. In: Ders., Homo foetalis, S. 133–160. 12 Vgl. Meyer Howard Abrams: Spiegel und Lampe. München 1978. 13 Vgl. u. a. Otto Rank: Das Trauma der Geburt [1924]. Repr. Gießen 1997, sowie Artur R. Boelderl/ Peter Widmer (Hg.): Von den Schwierigkeiten, zur Welt zu kommen. Transdisziplinäre Perspektiven auf die Geburt. Gießen 2021. 14 Vgl. Ludwig Janus: Die emotionale Dimension der Aufklärung – Verantwortung für unsere Gefühle. In: Verantwortung für unsere Gefühle – die emotionale Dimension der Aufklärung. Hg. v.
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was nur möglich ist, wenn ich mich in meiner Entwicklung verstanden habe. Dabei stieß man in der Philosophie mit Kierkegaard auf die basalen Ängste im Menschen, in der Literatur mit Kafka auf die primären Schrecken in unseren Elternbeziehungen und mit Freud auf die in jedem Menschen präsenten elementaren Ängste, Schuld- und Schamgefühle und destruktiven Tendenzen bis hin zum ‚Todestrieb‘. Das würde also bedeuten, dass wir, indem wir die himmlischen und höllischen Jenseitswelten verlassen haben, in den Hoffnungen, Ängsten und Verzweiflungen unseres Kindheitsunglücks landen. Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde erkannt, dass sich in den geschichtlichen Höllenvorstellungen die Schrecken der historisch durch fehlende Einfühlung und gesellschaftliches Elend massiv traumatisierten Kindheiten verbargen.¹⁵ Dies ist wohl immer noch nicht Allgemeinwissen, weil der„Albtraum“ deprivierender Kindheitsbedingungen in den Familien gar nicht weit zurückliegt oder auch der Zustand noch fortdauert, wo man die Säuglinge durchschreien ließ, „um die Lunge zu durchlüften“, und eine „Tracht Prügel noch niemand geschadet hatte“. Und damit gelange ich zu Musil und seinem Versuch, mit dieser so herausfordernden Situation umzugehen.
3 Der Umgang Musils mit der zeitgenössischen kulturellen Situation Die kulturelle Wende in der westlichen Mentalität zu einer modernen Subjektivität vollzog sich um das Jahr 1900, als die alten Obrigkeiten zwar noch gesellschaftlich präsent waren, aber infolge des durch die Aufklärung angestoßenen Entwicklungsprozesses zunehmend unglaubwürdig geworden waren, jedenfalls in der bürgerlichen Oberschicht. Dies manifestierte sich in der bekannten vielfältigen Weise in den verschiedenen Ebenen der Kunst, wie zum Beispiel dem Expressionismus, und der gesellschaftlichen Organisation, wie in den Bewegungen zu demokratischen Strukturen und sozialer Gerechtigkeit. Musil hatte mit den Verwirrungen des Zöglings Törleß paradigmatisch einen Adoleszenzprozess beschrieben,¹⁶ der zum einen die Wiederholungen der überkommenen kulturellen und geselldems. u. a. Heidelberg 2015, S. 13–48; ders.: Vom Kosmos zur Erde –vom Mythos zur Psychologie. Heidelberg 2019, sowie ders.: Grundstrukturen menschlichen Seins: Unfertig – Werdend – Kreativ. Psychologische Ergänzungen zu Ontologie, Erkenntnistheorie und zur Philosophie des Parmenides. Heidelberg 2020. 15 Vgl. Lloyd deMause: Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt a. M. 1979. 16 Vgl. Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Wien/Leipzig 1906.
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schaftlichen Abhängigkeits- und Ausbeutungsstrukturen im Verhalten der Jugendlichen beschrieb, aber auch die Lösung umriss, dass man sich, um zu einer eigenen Entwicklung zu kommen, aus den im Bildungswesen immer noch präsenten kollektiv-autoritären Strukturen herauslösen müsse, um zu einer eigenen individuellen Entwicklung im Rahmen einer persönlichen förderlichen Begleitung und Unterstützung zu gelangen. Auf diesem Hintergrund kann er im Mann ohne Eigenschaften Lösungsmöglichkeiten für eine Selbstbestimmung und eine selbstbestimmte Lebens- und Beziehungsgestaltung sondieren und experimentierend ausprobieren. Das geschieht im ersten Teil im Rahmen der Vergegenwärtigung der sogenannten „Parallelaktion“. Diese lässt gewissermaßen noch einmal den ganzen Zauber der Kultiviertheit und gleichzeitig das zunehmend Imaginäre und unglaubwürdig Werdende einer kollektiven Orientierung an der kultischen Vergegenwärtigung früher Elternabhängigkeit im Kaisertum deutlich werden. Deshalb kann man sich nicht mehr durch eine Abhängigkeit von einem Kaiser oder später von weltlichen Ideologien wie dem Kommunismus oder Nationalismus in seiner Identität und seinen Eigenschaften bestimmen (lassen). Eine solche Identifizierung mit gesellschaftlich Vorgegebenem hatte Heidegger als eine Einstellung des „Man“ bezeichnet. Das Gleiche meint bei Musil der Begriff des „Seinesgleichen“. In der Charakterisierung Ulrichs als „Mann ohne Eigenschaften“ formuliert Musil die Herausforderung, sich eben nicht mehr Eigenschaften aus den Vorgaben der gesellschaftlichen Autoritäten zu holen, sondern aus sich selbst, wie Kant es gefordert hatte, und das konkret in der Beziehung zu sich selbst und zur Wirklichkeit. Wie kann nun der in jedem und jeder von uns fortlebende Wunsch nach kindlicher Aufgehobenheit, der bis dahin kollektivpsychologisch in der Aufgehobenheit in der geistlichen und weltlichen Obrigkeit gestillt worden war, auf einer individuellen Ebene im Bezug zu sich selbst und in seinen Beziehungen realisiert werden? Die Antwort ist, dass ich die Verantwortung der Balance zwischen meinen kindlichen Einheitswünschen und den Erfordernissen der Realität in die eigene Regie nehmen muss. Wie ist dies nun im Roman gestaltet?
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4 Der Versuch eines Kontakts mit dem ,anderen Zustand‘ als Vermittlung von Erwachsenenrealität und kindlichem Einheitswunsch in Beziehungen Paradigmatisch wird dies in einer experimentierenden Weise in der Vertrautheit der Geschwisterbeziehung zwischen Ulrich und Agathe versucht, wo die Geschwisterlichkeit einen Zugang zu dem Zauber der frühkindlichen Einheitsbeziehung ermöglicht, was in den früher im Roman beschriebenen, mehr fragmentarischen Liebesbeziehungen nicht möglich war. Aber auch dieser Versuch scheitert trotz sehr sublimer Annäherungen. Aus tiefenpsychologischer Perspektive konnte dieser Versuch unter anderem wegen der durch die Nähe aktivierten biologisch begründeten Inzestängste¹⁷ nicht gelingen, die uns hindern, mit Familienangehörigen eheverbindliche Beziehungen einzugehen. Warum dieser Bezug zum ,anderen Zustand‘ nicht in den früheren Liebesbeziehungen, die im Mann ohne Eigenschaften versucht und geschildert werden, möglich ist, bringe ich mit der latenten, aber sehr wirksamen Verformung der Mann-Frau-Beziehungen in unserer patriarchalen Geschichte, mit der düsteren und destruktiven Entwertung und Erniedrigung der Frauen und der dadurch bedingen Fremdheit zwischen den Geschlechtern zusammen.¹⁸ Paradigmatisch, wie sie in der Beziehung zu Bonadea geschildert wird: Eine wirkliche Beziehung kann sich wegen der genannten Verformung nicht entfalten. Dadurch kommt es zu einer Einschränkung der eigentlichen Potenziale einer Mann-Frau-Beziehung – auf der Seite Ulrichs zur Reduktion auf sexuelle Lust und auf der Seite Bonadeas zur Reduktion auf manipulatives Verhalten, um hierdurch die gespürte Entwertung zu kompensieren. Dazu kommt noch in bedeutsamer Weise die Aussage, dass Ulrich von sich sagt, er sei eine „Persönlichkeit“, die „sich nicht liebt“, weshalb er Agathe als „Inkarnation seiner Selbstliebe“ bezeichnet,¹⁹ was seinen tiefen Selbstwertmangel kompensieren soll. Aus der psychologischen Forschung wissen wir heute, dass diese
17 Vgl. Norbert Bischof: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts von Intimität und Autonomie. München 1991. 18 Vgl. Ludwig Janus: Psychohistorische und pränatalpsychologische Hintergründe der Spannungen zwischen den Geschlechtern. In: Geschlechterspannungen. Hg. v. Ingrid Moeslein-Teising. Gießen 2019, S. 193–204. 19 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1970, S. 153 bzw. S. 899; im Folgenden im Fließtext in runden Klammern unter der Sigle MoE und Seitenangabe zitiert.
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Unfähigkeit, sich zu lieben und wertzuschätzen, mit einem Mangel an mütterlicher Liebe und bestätigender Beziehung besonders in der Anfangszeit des Lebens zusammenhängt, was bei den Sozialisationsbedingungen im 19. Jahrhundert mit der Abwertung der Frauen und der uneinfühlsamen Betreuung oder der Weggabe der Kinder ans Personal eine allgemeine Bedingung war. Deshalb auch die von Freud beschriebene, aber in ihrem Bezug auf eine frühe Beziehungstraumatisierung nicht ausreichend reflektierte Überwertigkeit der Sexualität in dieser Zeit, die den beschriebenen Mangel kompensieren soll, wie dies in erschreckender Weise von Florian Illies in seinem Buch Liebe in den Zeiten des Hasses für die Zeit von 1929 bis 1939 ausgebreitet wird.²⁰ Charakteristisch ist die zitierte Aussage: „Man liebt zu viel, ohne Lieb.“
5 Die Vermittlung von kindlichem Einheitswunsch und gesellschaftlicher Realität durch sorgfältige Beobachtung und den Bezug auf ein traumartiges Bewusstsein Viele Schriftsteller der Moderne thematisieren die aus einem Leben in einer entgötterten Welt resultierenden Nöte: so etwa Franz Kafka die primäre Angst und Hoffnungslosigkeit besonders in der Vaterbeziehung, oder Samuel Beckett die todesnahe Verlorenheit, wenn man nach der Geburt keinen Halt oder Schutz findet; oder auch Thomas Mann, der im Kleinen Herrn Friedemann beschrieben hat, dass eine frühe Traumatisierung einen Bruch im Lebensbezug zur Folge hat, wie es dann im Tonio Kröger nachklingt. Auf der Ebene der Malerei wären es bei Munch in seinem Bild Der Schrei etwa die Schreckensgefühle bei der Geburt nach vorhergehender Schwächung durch eine Melancholie und Überforderung seiner an Tuberkulose leidenden Mutter, oder bei Salvador Dalí die existenzielle Entfremdung durch eine Depression und Unbezogenheit der Mutter am Lebensanfang, wie ich dies an anderem Ort im Einzelnen beschrieben habe.²¹ Bei James Joyce könnte man vielleicht formulieren, dass eine große Verlorenheit durch die Präsenz eines dem kindlichen Erleben nahestehenden Bewusstseinsstroms ein Stück weit kompensiert wird, wie er dies schon im Portrait of the Artist as a Young Man durch die Verwendung von Kindersprache getan hatte.
20 Vgl. Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls in den Jahren 1929–1939. Frankfurt a. M. 2021. 21 Vgl. Ludwig Janus: Wie die Seele entsteht! Heidelberg 2011.
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Das Besondere bei Musil sehe ich darin, dass er die Sondierung einer Selbstkonstitution nach dem Verlust oder dem Aufgeben einer Sicherung der Identität durch kollektive Schutzmächte, also einer traumhaften Projektion und oder Externalisierung kindlicher Einheitserfahrung, konsequent verfolgt. Das gelingt ihm m. E. dadurch, dass Beobachtungen in der Realität immer seelisch in gleichnishaften traumartigen Bezügen verankert werden. Ich möchte hier von einer persönlichen Mythologie im Unterschied zu einem Bezug auf eine kollektive Mythologie sprechen, in der sich der Einzelne notwendig verlieren muss bzw. seine Individualität aufgeben muss. Diese traumartigen Gleichnisse wurzeln in dem gleichen frühkindlichen traumartigen Bewusstsein wie die kollektiven Mythologien und Märchen, aber sie sind eben aus dem persönlichen Erleben motiviert und zeigen,²² dass eine persönliche Mythologie möglich ist und damit eine persönliche Verantwortung der dem Menschen durch die Besonderheiten seiner frühkindlichen Entwicklungssituation aufgegebenen Balance der in ihm wirksamem seelischen Entwicklungsebenen. Diese Zusammenhänge sollen jetzt im Einzelnen dargestellt und erläutert werden. Dabei stellen ‚Gleichnisse‘, wie auch ‚alternative Ordnungen‘, ‚schöpferische Ungenauigkeit und Auslassungen‘, eine ‚essayistische Perspektive‘ und ‚lebendige Gedanken‘ gewissermaßen Medien eines Bezugs zum ‚anderen Zustand‘ dar, den ich als eine innere Verbindung zum frühkindlichen Einheitserleben verstehe.
5.1 Das Medium der Verwendung von ‚Gleichnissen‘ Die Bedeutung der Verwendung von Gleichnissen hat Lilith Jappe in dem gleichnamigen Kapitel ihres Buches Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse paradigmatisch herausgearbeitet²³ und dabei hervorgehoben, dass das Erleben des Gleichnisses für Ulrich ein Vorbild für den ‚anderen Zustand‘ bildet.²⁴ Dies erläutert sie facettenreich an verschiedenen Beispielen, und ich will ihre zusammenfassenden Bemerkungen dazu zunächst ausgiebiger zitieren:
22 Vgl. Norbert Bischof: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, als wir die Welt erschaffen haben. Gießen 2020, sowie Ludwig Janus: Rezension von Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, als wir die Welt erschaffen haben von Norbert Bischof. In: Mundus foetalis. Die pränatale Dimension in Gesellschaft und Geschichte. Heidelberg 2021, S. 329–340, und ders., Mythos ist Erinnerung. 23 Vgl. Lilith Jappe: Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im Mann ohne Eigenschaften. München 2011. 24 Vgl. Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 273.
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Mithilfe des „Gleichnisses“ werden einzelne Gegenstände und Bereiche des Lebens zu anderen in Beziehung gesetzt und poetisiert. Dabei wird die Wirklichkeit gewissermaßen ‚verwandelt‘. […] Das Gleichnis verweist auf etwas Abwesendes und erhält daraus seine erhebende Wirkung. […] Bei all diesen Verfahren geht es darum, die Wirklichkeit durch den Bezug auf etwas Imaginäres zu erhöhen […]. […] Etwas Reales kann durch den Bezug auf etwas Imaginäres oder bloß Abwesendes mit Bedeutung versehen werden […].²⁵
Hierzu ein Beispiel aus dem Mann ohne Eigenschaften: Aus irgendeinem Grund hatte Ulrich auf das stärkste den Eindruck, in eine mildkalte Oktobernacht hinauszustarren, obgleich es Spätwinter war, und es kam ihm vor, die Stadt sei in sie eingehüllt wie in eine ungeheure Wolldecke. Dann fiel ihm ein, daß man ebensogut von einer Wolldecke sagen könnte, sie sei wie eine Oktobernacht. (MoE, S. 580)
Jappe kommentiert: […] Ulrich kennt die Erlebensform des Gleichnisses. Bilder und Vergleiche stellen sich in seinem Erleben unwillkürlich ein. […] Ulrich interessiert sich auf andere Weise [als Bonadea] für das Gleichnis. Er will vom Gleichnis aus nicht in ungenau begründete Handlungen innerhalb der Wirklichkeit zurückgeführt werden, sondern es schwebt ihm vor, in die Dimension dessen, worauf das Gleichnis verweist, zu gelangen. […] Ähnlich wie die ‚Seele‘ verweist das Gleichnis unbestimmt auf etwa[s] Unerreichtes oder Unerreichbares.²⁶
Das ist mit einer Lockerung und Erweiterung der Ichgrenzen verbunden, wie Guntram Vogt dies eindrücklich beschrieben hat,²⁷ ohne es aber mit der Situation in der frühen Kindheit in Verbindung zu bringen, für die diese Offenheit der Ichgrenzen ‚normal‘ ist. Aus meinem entwicklungspsychologischen Hintergrund, der auch die frühesten vorsprachlichen Erlebnisformen miteinbezieht,²⁸ möchte ich die so differenziert-sensiblen Darlegungen von Lilith Jappe in folgender Weise fortführen und ergänzen. In meinem Verständnis geht es bei dem ,anderen Zustand‘ um einen Bezug zum frühkindlichen Erleben der ersten anderthalb bis zweieinhalb Lebensjahre, in denen Mutter und Kind noch in einer Einheit des Erlebens mitein-
25 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 260–262. 26 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 264–267. 27 Vgl. Guntram Vogt: Die offenen Grenzen des Ich bei Robert Musil. Mit einem Blick auf Freud und Wittgenstein und einem Exkurs zu Ingeborg Bachmann. Vortrag Musil-Sommerseminar 1989. In: RAPIAL. Zeitschrift für Kultur und Wissenschaft des Robert-Musil-Archivs Klagenfurt 3 (1993), S. 9– 14. 28 Vgl. Janus, Wie die Seele entsteht, sowie ders.: Die prä- und perinatale Zeit des Lebens (‐9 Monate bis 0 Monate/Geburt). In: Handbuch Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft. Hg. v. Gerald Poscheschnik u. Bernd Traxl. Gießen 2016, S. 241–262.
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ander verbunden sind, dessen mythologisches Vor- bzw. Nachbild ‚natürlich‘ das Paradies als Projektion vorgeburtlicher Seligkeit ist. Wie wir aus den sogenannten ‚Erlebnistherapien‘, die auf die vorsprachliche Ebene der Empfindungen und Gefühle fokussieren,²⁹ wissen, hat dieses Erleben einen traumartigen Charakter, der auch ein Charakteristikum der Musil′schen Gleichnisse ist. Durch die Verbindung der momentanen realistischen Situation mit der traumartigen Ebene des frühen Einheitserlebens wird eine Balance zwischen diesen so unterschiedlichen Entwicklungsebenen im unmittelbaren Erleben hergestellt. Sie ermöglicht eine innere Vollständigkeit und damit eine Selbstkonstitution, die nicht mehr auf die kollektiven Projektionen frühkindlichen Erlebens zurückgreifen muss, um Kohärenz zu erreichen. Darüber hinaus ist meine Intuition, dass das mit dem ‚anderen Zustand‘ Gemeinte dem ‚Sein‘ bei Heidegger entspricht.³⁰ Wie es bei Heidegger um einen neuartigen ,Seinsbezug‘ geht, so bei Musil um einen neuartigen Bezug zum ‚anderen Zustand‘. Was Heidegger auf einer philosophischen Ebene formuliert, wird von Musil auf einer künstlerischen Ebene erkundet und auf einer psychologischen Ebene in der Psychoanalyse Freuds und Ranks. Alle reagieren aus ihrer Zeitgenossenschaft heraus auf die Herausforderung, in einer entgötterten Welt zu sich selbst zu finden und Verantwortung zu übernehmen – und eben nicht in den pseudoreligiösen Ismen des 20. Jahrhundert zu landen, deren Inszenierungen durch die technischen Möglichkeiten so ungeheuer destruktiv wurden und sich damit selbst ad absurdum führten.
5.2 Das Medium der ‚alternativen Ordnungen‘ In der Beziehung von Ulrich und Agathe geht es, wie Jappe erläutert, um die Vermutung, „die gesamte Wirklichkeit [beruhe] auf gleichnishaften Beziehungen“³¹: „Zum Teil nehme man an der Wirklichkeit nur das wahr, was man selbst in sie hineinlege […]. Zugleich wirke, wie die Menschen ihre Wirklichkeit sehen, auf sie zurück […].“³² Dies wird von Jappe im Sinne von Musil am Beispiel der Liebe erläutert: „Die Liebe gelte einer persönlichen Einbildung, die durch die reale Person bloß vertreten werde […]. Niemals liebe man den anderen selbst, sondern erschaffe
29 Vgl. u. a. Peter Schindler (Hg.): Am Anfang des Lebens. Basel 2010, William Emerson: Die Behandlung von Geburtstraumata bei Säuglingen und Kindern. Heidelberg 2012, sowie Ludwig Janus (Hg.): Die pränatale Dimension in der Psychotherapie. Heidelberg 2013 30 Vgl. Janus, Wie die Seele entsteht, S. 210. 31 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 275. 32 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 275 f.
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sich ein inneres Bild, dem die Liebe gilt, eine Art […] ‚wild-religiöses Gebilde‘.“³³ Im Roman selbst heißt es: „Durch ein Lebensverhalten, dem das Hiersein bloß ein Gleichnis des Dort-seins wäre, sollte es möglich sein, bis ins Letzte eins zu sein und zu zweit mit einer Seele zu leben.“ (MoE, S. 1347) Nach Ulrichs Entwurf könnten die Geschwister ihre Verschmelzung zu einem Wesen vollziehen, indem sie ihr Erleben darauf einstellen. Sie müssten dazu imstande sein, „alles was sie erleben, nur als Gleichnis hinzunehmen“ (MoE, S. 1347). Es geht Musil in den Überlegungen zu den alternativen Ordnungen um ein „bewegliche[s] und wechselseitige[s] Verhältnis von Selbst und Wirklichkeit“, in dem „lebende Gedanken“ möglich sind.³⁴ Die gefühlsmäßige Präsenz der in der ‚alternativen Ordnung‘ symbolisierten Lebendigkeit des frühen Einheitserlebens ist eine individuelle Formulierung der universellen Vorstellung von einer himmlischen Jenseitswelt, die in meinem Verständnis als Symbol der vorgeburtlichen Einheit aufgefasst werden kann. Die innere Wahrnehmung eines Bezuges zu dieser Daseinsdimension führt zum Gefühl von Vollständigkeit, wie dies in den Märchen in den Figuren des Helden oder der Heldin symbolisiert ist, die, wie der russische Märchenforscher Vladimir Propp es formuliert hat, „zwischen dieser und jener Welt hin und her gehen können“³⁵, psychologisch ausgedrückt also auch als Erwachsene in innerem Kontakt zu ihren Ursprungserfahrungen in der Kindheit bleiben können.
5.3 Das Medium der ,schöpferischen Ungenauigkeit‘ und des ‚Lebens wie Literatur‘ Lilith Jappe fasst diese Aspekte so mit Musil zusammen: „Beim Lesen gerate man in einen Zustand fließender und intensiver Bedeutungen, der vor der Erstarrung und den Festlegungen des Lebens fühlbar gewesen sein soll. Das Leben sei ähnlich schwer zu fassen, [sic] wie die Bedeutungen der Literatur.“³⁶ Der Autor selbst formuliert: „alle […] Begriffe, auf die wir unser Leben stützen, sind nichts als erstarren gelassene Gleichnisse […] Das ist wie ein Hauch, der mit jedem Atemzug seine Gestalt ändert, und nichts ist fest, kein Eindruck und keine Ordnung.“ (MoE, S. 574) Jappe resümiert Musil wie folgt:
33 34 35 36
Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 277. Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 274. Vgl. Vladimir Propp: Die Morphologie des Märchens. Frankfurt a. M. 1975. Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 281.
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Die weichere Verfassung vor der ,Erstarrung der Gleichnisse‘ und die größere Tendenz, sich ergreifen zu lassen, seien für die Kindheit typisch. Beim Lesen nähere man sich ihr wieder an. Durch das Auslassen des ‚Störenden‘ stelle man den „ursprünglichen Zustand des Lebens wieder[her] [sic]“ (MoE, 574). […] Das Lesen wird hier in die Nähe des offenen, entgrenzten Erlebens des anderen Zustands gerückt. […] Der schwebende Zustand nicht festgelegter Bedeutung wird als besonders glückliche Verfassung gewertet.³⁷
Hier nimmt Musil direkt Bezug auf das kindliche Erleben, dem es gilt, auch als Erwachsener nahe zu kommen und es in sich zu vergegenwärtigen, um zu einer Vollständigkeit im Selbstgefühl zu gelangen und frei von den Verfremdungen der erstarrten kollektiven Ordnungen zu werden.
5.4 Das Medium der ‚Utopie Essayismus‘ Im Roman wird dies für Ulrich so eingeführt: Ungefähr wie ein Essay in der Folge seine Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. (MoE, S. 250)
Jappe erläutert: In der Haltung des ,Essayismus‘ lässt man das Leben auch insofern ‚offen‘, als jedes moralische Ereignis nach seiner [sc. Ulrichs] Auffassung in „ein unendliches System von Zusammenhängen“ eingebunden ist, aus deren jeweiliger Konstellation es erst seinen bestimmten Charakter erhält. […] Der Essay ist selbst eine Kristallisation des inneren Lebens, „die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt“ (MoE, 253).³⁸
Diese Formulierungen beschreiben in meiner Sicht, wie im unmittelbaren Erleben die Lebendigkeit des kleinkindlichen Erlebens mitschwingend beteiligt sein kann.
5.5 Das Medium der ‚lebenden Gedanken‘ Sie werden von Ulrich so formuliert:
37 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 282. 38 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 283 f.
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Ein lebender Gedanke ist einer, der zum Mittelpunkt einer augenblicklichen Kristallisation unseres ganzen Wesens zu werden scheint. […] [Er sei e]twas, das nicht dem Verstand, sondern der Seele etwas sagt. Aber was ist Seele? also: tiefere Gefühlseinbettung? Genügt nicht. Es muß etwas sein wie: Gefühls- und Ideenaufbau […]. (MoE, S. 1917)
Man könnte wiederum sagen, es handele sich um ein Denken, in dem kindliche Spontanität lebendig ist, „ein Weltverhältnis, bei dem Ergreifen und Ergriffenwerden nicht gänzlich voneinander zu trennen sind“³⁹, es ginge um „ein Grundverhältnis wechselseitiger Partizipation – mit fließenden Grenzen, beweglichen Bedeutungen und einer Bereitschaft dafür, ergriffen zu werden“⁴⁰. Der Hintergrund hierfür ist die anfängliche Unreife des Hypothalamus, sodass innere und äußere Wahrnehmungen und Gefühle ineinander übergehen können.
6 Zusammenfassender Kommentar Wie schon angedeutet, sehe ich die große Leistung Musils im Mann ohne Eigenschaften darin, in einer konstruktiven Weise die Bedingungen moderner Subjektivität und Selbstkonstitution in einer entgötterten Welt zu umreißen, also einer Selbstkonstitution ohne den Rückgriff auf kollektivpsychologische Projektionen frühkindlichen Erlebens magischer Elternsicherheit. Man könnte sagen, dass diese Projektionen ein biopsychologisches Mittel des seelischen Überlebens in einer Welt existenzieller Unsicherheit und elementaren Unwissens waren. Der geschichtliche Prozess fortschreitender Differenzierung zwischen Ich und Welt mit dem Herauswachsen aus der animistischen pränatalen Mutterleibsprojektion in die postnatale Projektion einer Welt, die durch göttliche Personen bestimmt ist, und weiter in eine Welt, die durch den Willen eines Hochgotts bestimmt ist, hin zu einem Heraustreten aus diesen Projektionen und der Entdeckung eigener Individualität, Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit im Prozess der Aufklärung führte zu dem Ideal einer Bestimmung aus dem Potenzial der Rationalität, die die vielen wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen des 19. Jahrhunderts ermöglichte. Dies führte jedoch zu einer Einseitigkeit im Verhältnis von Selbst und Welt, das zur Gegenbewegung der seelischen Kräfte im „Unbewussten“ im Rahmen der Psychologie, im Rahmen der Kunst zum Expressionismus und im Rahmen der Philosophie zur Entdeckung der existenziellen Angst in den Menschen durch Kierkegaard, der ‚Seinsvergessenheit‘ im Sinne Heideggers und der primären Ausgesetztheit im Existenzialismus führte. Diese Perspektiven relativierten die Einseitigkeit einer 39 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 290. 40 Jappe, Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse, S. 291.
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Existenzbestimmung nur durch die Rationalität. Es ging also in den genannten Bewegungen der Moderne um die Gewahrwerdung der elementaren Bedeutung der Kindheitserfahrungen, insbesondere der vorsprachlichen, und damit der elementaren Bedeutung der primärmütterlichen Dimension in unserem Leben.⁴¹ In den Entwürfen Freuds war mit der Entdeckung des „Unbewussten“ als dem „Infantilen“ in einer vaterbezogenen Weise der Zugang zur frühkindlichen Erfahrung eröffnet, die dann bei Rank durch die Entdeckung des mutterbezogenen Unbewussten ergänzt wurde.⁴² Für die damalige ungebrochen patriarchalisch geprägte Mentalität waren diese Dimensionen noch nicht miteinander zu integrieren. In der Psychoanalyse erfolgte nach dem Tode Freuds gewissermaßen von oben her eine stückweise Erforschung von einzelnen Segmenten frühesten mutterbezogenen Erlebens. Dementsprechend unvollständig waren auch die psychoanalytischen Konzepte einer integrierten Selbstwerdung. Wie gesagt, das große Verdienst von Musil besteht darin, dies in einer Zeit großer Zerrissenheit in einer konstruktiven Weise sondiert und eindrucksvolle Entwürfe zur Entwicklung einer verantworteten Selbstkonstitution gemacht zu haben, die wir heute auf dem Hintergrund des gewachsenen entwicklungspsychologischen Wissens erst voll würdigen können. In geistesgeschichtlicher Hinsicht könnte man Musil vielleicht sogar als einen „Weiterentwickler der Romantik“ sehen, insofern mit seinem Projekt der ‚Poetisierung‘ des persönlichen Erlebens in einer Art ‚persönlichen Mythologie‘ das Projekt einer ‚Romantisierung der Welt‘ der Romantik von Musil in einen persönlichen Bezug zur Welt und eine persönliche Verantwortung verwandelt wurde. Damit wird eine Bewusstseinsformation oder Selbstkonstitution möglich, die Jean Gebser in seiner Kulturgeschichte einer Evolution des Bewusstseins Ursprung und Gegenwart als „integrales Bewusstsein“ bezeichnet hat,⁴³ das sich in einer inneren Resonanz zum in uns lebendigen, magischen und mythischen und rationalen Erleben befindet, wie es sich in der Kulturgeschichte in der magischen Mentalität der Stammeskulturen, der mythischen Mentalität der antiken Kulturen und der rationalen Mentalität der Neuzeit entfaltet hat. Diese kulturgeschichtliche Herleitung eines „integralen Bewusstseins“ bei Gebser kann heute im Rahmen der Pränatalen Psychologie auch individualgeschichtlich erfasst werden. Um die mentalitätsgeschichtlich allgemeine Bedeutung von Musils Werk zu verdeutlichen, möchte ich dazu zwei bekannte Aussagen von Freud und C.G. Jung anführen, die die moderne Mentalität in einer psychologischen Weise charakteri41 Vgl. Ludwig Janus u. a. (Hg.): Die weiblich-mütterliche Dimension und die kindheitliche Dimension im individuellen Leben und im Laufe der Menschheitsgeschichte. Heidelberg 2017. 42 Vgl. Rank, Das Trauma der Geburt, und ders., Kunst und Künstler. 43 Vgl. Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. Stuttgart 1949.
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sieren. Zunächst das berühmte Diktum Freuds, „Wo Es war, soll Ich werden“: Insofern er das Unbewusste auch als das „Infantile“ bezeichnet hat, kann man dies auch so verstehen, dass es in der Moderne darauf ankommt, sich zu seinen frühen Kindheitserfahrungen in einen konstruktiven Bezug zu setzen. Und C.G. Jung formulierte noch eindeutiger: „Bewußtsein kann nur existieren bei stetiger Anerkennung und Berücksichtigung des Unbewußten […]“,⁴⁴ worunter ich die frühe vorsprachliche Erfahrung verstehe. Was hier von den Psychologen ausgesagt wird, verfolgt Musil in meinem Verständnis auf der Ebene der Literatur, was sich stimmig ergänzt und von Musil in seinen Bezügen auf die Psychoanalyse und die zeitgenössischen Gefühlstheorien ja auch so gesehen wurde. Dabei überschreitet er jedoch in bedeutsamer Weise die theoretische Enge der psychologischen Theorien seiner Zeit, was heute aber reflektierbar ist, wie ich in diesem Beitrag zeigen wollte.
Literaturverzeichnis Abrams, Meyer Howard: Spiegel und Lampe. München 1978. Bischof, Norbert: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts von Intimität und Autonomie. München 1991. Bischof, Norbert: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, als wir die Welt erschaffen haben. Gießen 2020. Boelderl, Artur R./Peter Widmer (Hg.): Von den Schwierigkeiten, zur Welt zu kommen. Transdisziplinäre Perspektiven auf die Geburt. Gießen 2021. DeMause, Lloyd: Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt a. M. 1979. Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt a. M. 1992. Emerson, William: Die Behandlung von Geburtstraumata bei Säuglingen und Kindern. Heidelberg 2012. Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart. Stuttgart 1949. Gould, Stephen Jay: Human Babies as Embryos. In: Ders.: Ever since Darwin. Reflections in Natural History. New York 1992, S. 70–77. Haeusler, Martin, u. a.: The obstetrical dilemma hypothesis: there’s life in the old dog yet. In: Biological Reviews 96 (2021) 5, S. 2031–2057. https://doi.org/10.1111/brv.12744 (letzter Zugriff: 11. 11. 2022) Illies, Florian: Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls in den Jahren 1929–1939. Frankfurt a. M. 2021. Janus, Ludwig: Wie die Seele entsteht! Heidelberg 2011. Janus, Ludwig (Hg.): Die pränatale Dimension in der Psychotherapie. Heidelberg 2013.
44 C.G. Jung: Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus. In: Ders.: Gesammelte Werke. Olten 1963, Bd. 9/I, § 178, S. 110.
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Selbstliebe und Seele. Das andere Erleben in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften mit Blick auf Geburt und vorgeburtliche Welt Abstract: Seele und Selbstliebe (zumindest ,die gute‘) verweisen im Mann ohne Eigenschaften auf etwas Jenseitiges (Stichwort anderer Zustand). Dies Jenseits wird hier mit der pränatalen Psychologie, mit dem Erfahrungsraum vor unserer Geburt in Verbindung gebracht. Brücken ins Imaginäre schlagend, wird betrachtet, welche Auswirkungen die Integration dieses Erlebens für die Verbindung von Selbst und Wirklichkeit und im Speziellen auf Ulrichs männliche Identität und Sexualität haben könnte. Gewaltsame Bilder von Geburt scheinen einer solchen Integration jedoch im Wege zu stehen.
1 Seele Der Begriff Seele wird vom Erzähler mit äußerster Vorsicht gebraucht, ja fast mit spitzen Fingern. „Seele“ wird als etwas dargestellt, das ‚fehlt‘: als ein leerer Raum im Rücken,¹ als „großes Loch“, das mit Idealen und Moral gefüllt wird.² Sie ist ein Verlegenheitsbegriff, denn im „Lauf des Lebens“ mache sich etwas „immer fühlbarer, […], für das man dringend einen Namen braucht, ohne ihn zu finden, bis man schließlich den ursprünglich verschmähten dafür widerstrebend in Kauf nimmt“ (MoE, S. 184). Oder auch: „Weiß Gott, wie gesagt, was überhaupt eine Seele ist!“ (MoE, S. 186). Sie ist das „was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört“, doch es „entzieht sich erfolgreich […] allen Bemühungen, die es fassen wollen“ (MoE, S. 103). Schon in der Passage, aus der ich gerade zitiert habe, zeigt sich jedoch der wichtige Stellenwert der „Seele“ im Gedankengefüge des Mann ohne Eigenschaften, denn es geht hier um das Empfinden, dass im Leben das Entscheidende fehlt: „so
1 Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hg. v. Adolf Frisé. Band I und II, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 31. Im Folgenden im Fließtext in runden Klammern unter der Sigle MoE mit Seitenangabe zitiert. 2 Vgl. die Überschrift zu Kapitel I, 46: Ideale und Moral sind das beste Mittel, um das große Loch zu füllen, das man Seele nennt (MoE, S. 185). https://doi.org/10.1515/9783110988352-010
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vollständig dabei alles verständlich und in sich geschlossen erscheint, wird es doch von einem dunklen Gefühl begleitet, dass es bloß etwas Halbes sei. Es fehlt etwas am Gleichgewicht, und der Mensch dringt vor, um nicht zu wanken, wie es ein Seilläufer tut. Und da er durchs Leben dringt und Gelebtes hinter sich läßt, bilden das noch zu Lebende und das Gelebte eine Wand, und sein Weg gleicht schließlich dem eines Wurms im Holz, der sich beliebig winden, ja auch zurückwinden kann, aber immer den leeren Raum hinter sich läßt. (MoE, S. 184; Herv. d. Verf.)³
Und dieser Dimension, die fehlt und die mit dem anderen Erleben, dem ,anderen Zustand‘⁴ zusammenhängt, gilt ja die Erkenntnissuche von Musils großem Roman.
2 Selbstliebe Und Selbstliebe? Bekanntlich liebt sich Ulrich „einfach selbst nicht“ und entdeckt eher bei seinem Gegenspieler Arnheim die „trübe Selbstliebe“, eine Art Selbstgefälligkeit, die alles so zurechtrückt, dass die Welt perspektivisch verkürzt wird und auf ihn sich ausrichtet – als eine selbstgefällige Täuschung, in der sich geschickt „alle Lücken schließen“ und die Welt sich auf einen selbst hin perspektivisch zentriert oder „verkürzt“. „Die Welt war in Ordnung, sobald Arnheim sie betrachtet hatte“ (MoE, S. 178). Das ist eine Selbstliebe, die Ulrich nicht erstrebenswert erscheint, weil sie zu verlogen ist, zu viel auslässt und zu viel Erstarrung mit sich bringt. Dann gibt es eine Selbstliebe ,zu zweit‘, zwischen Ulrich und Agathe, als einer dyadischen Einheit in diesem ganz anderen Seinsraum, der sich im zweiten Teil des Romans eröffnet. „Ich weiß jetzt, was du bist: du bist meine Eigenliebe!“ sagt Ulrich
3 Die Bilder sind wie immer erstaunlich präzise: Das Gelebte bildet eine Wand und im Rücken bleibt ein leerer Raum, der sich nicht fassen lässt. Ähnlich wird im Kapitel zu Arnheim, der die Seele verrät, indem er sie zu Geist verwandelt (und so in passende Konserven fertig zum Gebrauch presst) beschrieben, wie sich sein Leben mehr und mehr in eine Wand aus Stein (wenn auch aus Brillanten) verwandelt. (Vgl. MoE S. 186, S. 384, S. 390 und S. 392). 4 Den Begriff ,anderer Zustand‘ verwendet Musil in seinen Manuskripten und Entwürfen, seinem Tagebuch und auch seinen theoretischen Schriften für ein bestimmtes, dem gewöhnlichen Erleben oder Alltagsbewusstsein entgegengesetztes, verschmelzendes Erleben. Im Mann ohne Eigenschaften erforscht er ihn systematisch über die Erlebnisse und Lebensfragen seiner Figuren. Siehe dazu Lilith Jappe: Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im Mann ohne Eigenschaften. München 2011 (Musil-Studien, Bd. 38), S. 116–177.
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zu Agathe: [Sie ist] offenbar, durch Irrtum oder Schicksal, in dir verkörpert gewesen, statt in mir selbst!“ (MoE, S. 899).⁵ Eine Selbstliebe, die dyadisch, in einer Verschmelzung erlebt wird: Da führt die Fährte ganz deutlich zum primären Narzissmus, diesem Konzept in der Psychoanalyse, das ein ursprüngliches Einheitserleben vom Säugling mit seiner Mutter (oder auch mit seiner gesamten Erlebenswelt) beschreibt. Im selben Kapitel, in dem Ulrich den Satz „Du bist meine Eigenliebe“ ausführt, spricht er auch davon: „Wenn ich mich an meine früheste Zeit erinnere, so möchte ich sagen, daß damals Innen und Außen noch kaum getrennt waren.“ (MoE, S. 902). Musil hat sich hier vermutlich auch bewusst auf das frühkindliche primärnarzisstische Erleben bezogen als eine der verschiedenen Formen des ,anderen Zustands‘. Wie hängen Selbstliebe und Verschmelzung zusammen? Ermöglicht die Verschmelzung den Beteiligten, sich selbst zu lieben und kann vielleicht aus einer gelungenen Ablösung aus der Verschmelzung eine Selbstliebe eines jeden für sich selbst resultieren?
3 Brücken ins Imaginäre Diese Frage und die ,Lebensfrage‘ bzw. der große Schmerz des Protagonisten Ulrich, der sich da einen Urlaub von seinem Leben nimmt, seine verzweifelte Suche nach einem Leben mit Bedeutung, nach einem Selbst, das sich erfüllt und verbunden fühlt, haben mich seinerzeit dazu bewegt, eine Dissertation zu Selbstkonstitution im Mann ohne Eigenschaften und in der Psychoanalyse ⁶ zu schreiben. Im Roman wird keine ,Selbstkonstitution‘ vollzogen. Auch in den Entwürfen ist sie nicht wirklich zu finden oder herauszudeuten. Allenfalls kann es sich um die verborgene Möglichkeit von Selbstkonstitution handeln, die bedacht und achtsam unter aller Skepsis und Selbstdementierung hervorzuholen ist. Und ich halte es dennoch für sehr ergiebig, mit dieser Art Fragen an den Roman heranzutreten, weil – das ist explizit Teil von Musils Poetologie – die Dichtung
5 „Weshalb sprachen sie von ‚Selbstliebe‘? Vielleicht weil sie eng nebeneinander lagen und die Wärme des einen Körpers zu der des anderen kroch wie zwei Wesen, die keinen Kopf haben. Vielleicht auch gerade deshalb, weil keiner von ihnen sich selbst liebte, und sein früheres Leben, und weil sie für das, was ihnen im gewöhnlichen Sinn fehlte, ineinander Entschädigung suchten. Und vielleicht, weil es die schmerzlich selige Zwillingsfrage war, daß einer den anderen genau so lieben wollte wie sich selbst.“ (MoE, S. 1352) Oder auch: „das Ursprungserlebnis ist doch wohl dieser Zustand von Ich und Du und von Mensch und Natur, daß sie sich wiegen wie auf demselben Ast“ (MoE, S. 1354). 6 Jappe, Selbstkonstitution.
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Brücken ins Imaginäre schlägt. Mit dem Möglichkeitssinn, mit dem er spielt, zugleich mit den präzisen Beschreibungen und Bildern für die Gefühle, sind wir eingeladen mitzuforschen und fühlend zu erkunden. Dichtung ist für Musil Experimentallandschaft. Ihm lag nicht daran, Dichtung als eine Psychologie zu betreiben, die einfach beschreibt, wie Menschen funktionieren. Das war für ihn uninteressant, nein er war auf der Suche nach etwas, was sein könnte, was es noch nicht gibt. Aufgabe des Dichters war für ihn, „den inneren Menschen [zu] erfinden“.⁷ Er „möchte Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben. Auch durch den Roman“.⁸ Und das ist womöglich ein wichtiger Grund für die große Faszination, die dieser Roman auf uns ausübt. Weshalb auch so viele Menschen bereit sind, so tief einzutauchen in sein Bedeutungsgefüge und sich mit den eigenen Fragen daran abzuarbeiten. Weil es da eine so starke Tendenz in das Imaginäre und in das ,was wäre möglich‘ hinein gibt, dass wir fast das Bedürfnis haben, es zu ergänzen, es zu erkunden, es zu verstehen: Was wäre der mögliche Fluchtpunkt?
4 Mögliche Selbstkonstitution Angesichts der Selbstliebe-Dyade von Ulrich und Agathe stellt sich die Frage: Gibt es eine Möglichkeit, dass Ulrich sich nach der heilsamen Verschmelzung mit der Schwester so herauslösen kann, dass es noch einmal eine Selbstliebe für ihn selbst gibt? In Anlehnung an psychoanalytische Entwicklungsmodelle lässt sich nach einer Ablösung aus der Symbiose mit Agathe ein Selbst mit flexiblen Grenzen denken, das sich die Welt fließend aneignen und diese Grenzen immer wieder zu erneutem Verschmelzen und Einheitserfahrungen öffnen kann.⁹ Es fehlt jedoch, wenn man Ulrich betrachtet, die für eine solche Konstitution von Grenzen erforderliche Integration und Balance der aggressiven Komponente. Es zeigt sich, dass sowohl Ulrichs Aggression wie auch seine Handlungsbereitschaft 7 Robert Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918). In: Ders.: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978 (Gesammelte Werke Bd. 2 [=GW 2]), S. 1025–1030, hier S. 1029 (Herv. i. O.). 8 Aus dem Interview mit Oskar Maurus Fontana zu dem geplanten großen Roman Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil (30. April 1926). In: GW 2, S. 939–942, hier S. 942. Und laut Ulrich würde „nur eine Frage das Denken wirklich lohne[n], und das sei die des rechten Lebens“ (MoE, S. 255). 9 Dieser Gedankengang findet sich in Teil C und D meiner Dissertation genauer ausgeführt, wobei verschiedene psychoanalytische Entwicklungstheorien betrachtet werden. Das Selbst mit den fließenden Grenzen ist nach dem Verständnis späterer Psychoanalytiker (wie etwa Donald Winnicott und seinem ,Übergangsraum‘) gebildet, die die Bedeutung des frühkindlichen Erlebens für kreatives Menschsein hervorheben. Vgl. Jappe, Selbstkonstitution, S. 298–450, bes. S. 387 f. und S. 412–450.
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in gewisser Weise außerhalb seiner in der Figur Moosbrugger verkörpert sind. (Ähnlich, wie die Seite der Liebe von seiner Schwester Agathe repräsentiert wird). Die Nicht-Integration der beiden Lebenshälften Liebe und Gewalt wird auch vom Erzähler selbst als die Spaltung von Ulrichs Leben in die zwei „Bäume“ „Liebe“ und „Gewalt“ beschrieben, „in denen getrennt sein Leben [wuchs]“ (MoE, S. 592). Diesen zwei „Grundsphären der Menschlichkeit“ (MoE, S. 594) widmet Ulrich in den Entwürfen zur Fortsetzung des Romans Abhandlungen zu einer „Gefühlspsychologie“. Darin entwickelt er zweierlei Art zu denken (entweder begrifflich erfassend oder anteilnehmend verstehend), zweierlei Entwicklungsmöglichkeiten für Gefühle (die sich in einer Handlung entladen oder sich ausdehnen und die Welt färben, gewissermaßen eine eigene Welt erschaffen), zwei Seinszustände (entrückt verbundener ,anderer Zustand‘ und Normalzustand) und sogar zwei Arten der Selbstliebe (die trübe Selbstgewissheit oder die mystisch verbundene), die sich den Sphären ,Liebe‘ und ,Gewalt‘ zuordnen lassen, wie sie ihm an früherer Stelle im Sinnbild der zwei Bäume begegnet sind (MoE, Kap. 116).¹⁰ Verwandt dazu beschreibt auch die Psychoanalyse zwei Formen, in denen sich das psychische Leben organisiert, den Primärprozess und den Sekundärprozess.¹¹ Hier geht es mir weniger um das Modell eines abstrakten Selbst als direkt um die Beziehung des Selbst zur Wirklichkeit und zu sich selbst. Seele ist im Bedeutungsgefüge des Romans oft das Abwesende und andere und hat viele Verbindungen zum ,anderen Zustand‘. Die wiedergefundene Selbstliebe Ulrichs hängt ebenfalls mit dem ,anderen Zustand‘, mit einer Verschmelzung mit Agathe zusammen. Dieser Zustand trägt sie allerdings fort aus ihrer alltäglichen Wirklichkeit. Was hat es mit dem innigeren, beseelten Erleben (aus dem Kreis des ,anderen Zustands‘ oder dem Baum der Liebe) auf sich, und gibt es eine Möglichkeit, dass dieses Erleben die Beziehung zur Wirklichkeit verändern, vielleicht heilen oder beleben könnte?
5 Wie gestaltet sich die Beziehung von Selbst und Wirklichkeit im Roman? Dazu beschreibe ich zunächst, wie die Beziehung von Selbst und Wirklichkeit im ersten Teil des Romans dargestellt wird. Dort finden sich immer wieder Bilder von
10 In Teil B, Kapitel IV meiner Dissertation gebe ich einen systematischen Abriss dieser Gefühlspsychologie Ulrichs, ihrer Organisation in die Gegensätze Liebe und Gewalt. Vgl. Jappe, Selbstkonstitution, S. 179–237. 11 Vgl. Jappe, Selbstkonstitution, S. 357–373.
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einem „Nebel“ oder dasjenige „eines kleinen entlassenen Atemzuges“ (MoE, S. 596) gegenüber einer versteinerten, erstarrten Welt. In dem „Widerstreben“ (MoE, S. 596) des Atemzuges, dem Empfinden, unverbunden neben der fertigen Wirklichkeit zu stehen, entsteht der Wunsch ,ohne Eigenschaften‘ zu sein, explizit undefinierbar zu sein und zu dieser in sich geschlossenen Welt nicht dazuzugehören. „das alles ist ja manchmal so steif wie spanische Wände und so hart wie der geschnittene Stempel einer Presse und so – man kann gar nicht anders sagen als vollständig, so vollständig und fertig, daß man ein überflüssiger Nebel daneben ist, ein ausgestoßener Atemzug, um den sich Gott nicht weiter kümmert. In diesem Augenblick wünschte er es sich, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein.“ (MoE, S. 130; Herv. d. Verf.) Es scheint eine Frage des Überlebens (der eigenen Innenwelt) zu sein, sich nicht an die äußeren Formen zu verlieren. In dem erfrorenen, versteinten Körper der Stadt fühlte er ganz zu innerst sein Herz schlagen. Da war etwas in ihm, das hatte nirgends bleiben wollen, hatte sich die Wände der Welt entlang gefühlt und gedacht, es gibt ja noch Millionen anderer Wände; dieser langsam erkaltende, lächerliche Tropfen Ich, der sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben wollte. (MoE, S. 153)
Das Empfinden einer Welt der vorgeprägten Formen, in der alles schon so fertig und so vollständig ist. Ein wichtiges Bild ist das des ,zehnten Charakters‘ neben den neun Charakteren, die uns nur ,auswaschen‘. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt. (MoE, S. 34; Herv. d. Verf.)
Als leerer, ‚unausgefüllter‘ Raum besteht das Selbst ausschließlich in der Distanz zur Wirklichkeit. Die „passive Phantasie“ verweist auf eine Sehnsucht des Menschen, die das Gegebene überschreitet. Die „passive Phantasie“ ist dem „Möglichkeitssinn“ vergleichbar: Das Interesse ist weniger auf das gerichtet, was ist, als auf das, was sein könnte. Immer wieder zeigt sich eine Konstellation, die sich benennen ließe als: Die Bedeutung, oder dasjenige, worum es geht, ist anderswo. Wie wir es bereits in Bezug auf die ‚Seele‘ sahen. Gegenüber Agathe spricht Ulrich von zwei „Lebensschichten“ oder zwei „Schicksalen“, von denen das wesentlichere, das „reglos-wichtige“ hinter
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dem „regsam unwichtige[n]“ verborgen sei (MoE, S. 724). Ähnlich, wie es von dem Baum der Liebe heißt: „Blätter und Zweige des Baums trieben seither auf der Oberfläche umher, aber dieser blieb verschwunden, und es ließ sich nur an solchen erkennen, daß er noch vorhanden war“ (MoE, S. 592).
6 Umschwung. Anderes Erleben oder andere Wirklichkeit Im zweiten Teil begegnet Ulrich seiner Schwester wieder und ein großer Umschwung hebt an. Innige Erfülltheit in der Begegnung, die Selbstliebe scheint zurückgekehrt, außerhalb seiner, verkörpert in der Gestalt der Schwester. Mit ihr gemeinsam erkundet er die Möglichkeit eines anderen Erlebens. Sie treten in der Ruhe eines sommerlichen Gartens die Reise an den Rand des Möglichen an. Lesen die Schriften der Mystiker auf der Suche danach, ob der Weg zur Seligkeit auch mit dem Kraftwagen zu befahren sei. Dieses technische Vehikel besteht aus den Mitteln von Ulrichs ,Gefühlspsychologie‘. ¹² In seinen Untersuchungen entwickelt Ulrich eine zweite Art zu erleben, die sozusagen das Vehikel bilden soll, mithilfe dessen man sich in eine andere Wirklichkeit begeben könnte. Mithilfe der Psychologie soll die andere Wirklichkeit angesteuert werden, und gerade die Schwester Agathe fasst das ganz abenteuerlustig und konkret auf: als Tür zu einer anderen Wirklichkeit. „[W]enn ich dich recht verstanden habe“, fragte sie, „bist du doch sicher, daß es zu jedem Gefühl zwei Welten gibt und daß es von uns abhängt, in welcher wir leben wollen – ! […] Lach mich nicht aus, aber ich habe daraus geschlossen, daß man auf diese Weise ins Paradies kommen müßte, so man bloß nach dem andern Teil seiner Gefühle lebt, wie du es nennst.“ (MoE, S. 1279)
Ulrich schränkt ihre Erwartungen ein. Es handele sich nur um verschiedene „Weltbilder“ in „nur eine[r] Wirklichkeit“, doch könne man in dieser „vielleicht auf die eine wie auf die andere Art leben“ (MoE, S. 1279). Hier ist also der Kulminationspunkt der Verheißung, auf den es in dieser Suche immer wieder hinstrebt. Und danach verläuft es sich bekanntlich im Stillstand. Was nun? Wir erinnern: Von Beginn an war da: Die Bedeutung, das, worum es geht, ist woanders. Im zweiten Teil wird erprobt, das zu leben. Diese Idee scheitert. Die
12 In den ,Tagebuchkapiteln‘ und den Gesprächen mit Agathe in den Entwürfen zur Fortsetzung des Romans entwickelt Ulrich ,partielle Theorien‘ in Bezug auf je zwei verschiedene Seiten des Fühlens, Denkens und Zustands. Vgl. MoE, S. 1138–1146, S. 1156–1174, S. 1193–1203, S. 1235–1253. Ausführlich dargestellt habe ich sie in Jappe, Selbstkonstitution, S. 179–237.
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große Hoffnung auf ein anderes, bedeutungsvolles Leben hat sich zerschlagen. Bedeutet dies: Es ist alles verloren? Wir können nur noch ,in den Krieg ziehen‘? Oder lässt sich etwas davon erhalten und integrieren? Besteht die Möglichkeit einer Herauslösung oder eines Abschieds so, dass dieses Potenzial zum anderen Erleben erhalten bliebe? Könnten wir sinnerfüllt leben, in der Art, dass sich die Phantasie der verlassenen Steinbaukastenstadt wieder zuwendet? Oder in der absurden Weise persönlich leben, wie diejenigen, deren Welt „Privatwelt [wird], sobald sie mit ihnen zu tun bekommt und leuchtet wie ein Regenbogen“ (MoE, S. 150)? Oder sogar nach Ulrichs Utopien ,Leben wie Literatur‘ oder Gleichnis?¹³ Wäre es möglich, in diesem Anderen Erleben verankert zu bleiben – in diesem „Zustand von Ich und Du und von Welt und Natur, dass sie sich wiegen wie auf demselben Ast“ (MoE, S. 1354)? Kann das als Ressource, als eine zweite Welt, in die man immer wieder tröstlich eintauchen kann, mitgenommen werden in ein Dasein nach der Herauslösung aus dieser Symbiose oder nach dem Abschied von dieser absoluten Idee?
7 Pränatale Psychologie Wenn ich mich an die pränatale Psychologie als weitere Inspirationsquelle wende, erhalte ich noch eine andere Perspektive auf dieses Erleben: Der pränatalen Psychologie zufolge tragen wir alle eine Form von nicht bewusster und doch sehr prägender Erinnerung an die Zeit vor unserer Geburt in uns, als wir noch im Mutterleib waren. Ludwig Janus zufolge hat diese Prägung, dieses Erleben einer ganz anderen Welt für uns eine große Relevanz.¹⁴ Diese große Relevanz lasse sich einerseits an den meisten Kulturerzeugnissen aufzeigen, auf der anderen Seite sei uns der Zugang zu dieser Erfahrung meistens recht versperrt: nicht nur, weil es schwer ist, so Frühes zu erinnern, sondern auch durch die meist 13 Das Verhältnis von Selbst und Wirklichkeit wird im Roman auch unter dem Gesichtspunkt ,künstliche Ordnungen‘ behandelt. Durch ,literarische‘ Mittel wie den epischen Faden, die schöpferische Ungenauigkeit und das Gleichnis geben die Figuren ihrem persönlichen Leben Bedeutung. Karikieren Ulrich oder der Erzähler immer wieder die starren Festlegungen von Bedeutung, so fasziniert Ulrich doch die Vorstellung, mit diesen Verfahren (statt sie ,ungenau‘ zu verwenden) ganz bewusst ein literarisch schwebendes Verhältnis zur Wirklichkeit aufzunehmen. So entwickelt er Utopien zu ,Leben wie Literatur‘, ,Gleichnis‘ oder dem Essayismus. Die persönlichen Ordnungen der Figuren sowie Ulrichs Ideen dazu fasse ich zusammen in Kapitel V Phantasie und Persönliches Leben in: Jappe, Selbstkonstitution, S. 238–292. 14 Vgl. Ludwig Janus: Wie die Seele entsteht. Unser psychisches Leben vor, während und nach der Geburt. Heidelberg 2011.
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traumatische Erfahrung der Geburt, die sich dazwischen stelle.¹⁵ Dies hat in unserer Gesellschaft eine „massive Verleugnungstendenz“ gegenüber dieser vorgeburtlichen Erfahrungswelt in uns selbst zur Folge. Vielleicht ganz ähnlich verschollen, wie es Ulrich vom zweiten Baum, vom Baum der Liebe sagt: „Blätter und Zweige des Baums trieben seither auf der Oberfläche umher, aber dieser blieb verschwunden, und es ließ sich nur an solchen erkennen, daß er noch vorhanden war“ (MoE, S. 592). Auch die klassische, freudianische Psychoanalyse ist beteiligt an dieser Verleugnungstendenz, indem sie sich immer auf die etwas spätere Phase der Entwicklung konzentriert hat. (Sigmund Freud war die Ergründung des Ozeanischen Gefühls eingestandenermaßen unheimlich.¹⁶ Dies ist auch Musil aufgefallen.¹⁷) Ludwig Janus’ Buch enthält den Appell, dass wir das vorgeburtliche Leben viel mehr in unser Leben integrieren dürfen und einen Bezug dazu aufbauen, da es tatsächlich ein Teil unserer Lebenswirklichkeit ist und uns zutiefst prägt oder in uns fortlebt, auch wenn wir uns nicht so bewusst daran erinnern. Immer wieder erscheint es in verschiedensten kulturellen Formen als eine Anderswelt, in die man Eintauchen und aus dem anderen Erleben etwas mitnehmen kann – wie in den Märchen, in schamanischen Reisen oder Initiationsriten. Jene vorgeburtliche ,Anderswelt‘ lässt sich fast als das Ursprungsland der Seele bezeichnen: eine Bezugswelt von fließenden Grenzen und Verbundenheit, die wir insgeheim als unsere Heimat empfinden. So enthalte der Begriff „Seele“ ja auch in sich das Wort „See,“ sie stammt aus den vorgeburtlichen Wassern.¹⁸ Und ebenso verweist sie im Roman immer auf etwas anderes, auf etwas nicht Diesseitiges, und kann damit auch auf diese vorgeburtliche Welt hinweisen, die ja eine Welt der Geborgenheit, des Getragenseins und des Verschmelzens ist wie der
15 Trotzdem wurde in Therapieformen der neueren Zeit und experimentellen, bewusstseinserweiternden Zugängen manches von diesem Erleben, auch von ganz konkreten Elementen der Geburtserfahrung, in ganz erstaunlichen Beispielen eingeholt; vgl. Janus, Wie die Seele entsteht, Kapitel III und V. 16 Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud u. a. Band XIV. Frankfurt a. M. 1999, S. 421–506. 17 Musil bemerkt diese Marginalisierung des ‚ozeanischen Gefühls‘ in seinem Exzerpt zu Freuds Unbehagen in der Kultur: „Das ‚ozeanische‘ religiöse Gefühl […] bereitet Fr. eingestandenermaßen Schwierigkeiten. Schließlich führt er es aber doch auf den Kindheitszustand zurück, wo Subjekt und Welt noch nicht auseinander getreten sind. Meint aber, daß es nicht die Quelle der religiösen Gefühle sein könne, weil es keine starke Energiequelle ist.“ (Robert Musil: Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta unter Mitwirkung v. Rosmarie Zeller. DVD-ROM Klagenfurt 2009, Update 2015. Transkriptionen/Nachlass/Mappe VI/1/157. Diese digitale Klagenfurter Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter der Sigle KA mit Band-/Mappen- und Seitenangabe.) 18 Vgl. Janus, Wie die Seele entsteht, S. 161–223.
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,andere Zustand‘. Auch an Arnheim lässt sich denken, der die Königin Seele verbannt hat, die ihn nur ,aus dem Exil‘ zu seinen Schriften inspiriert (vgl. MoE, S. 390) – ist das nicht ein Abbild dieser gesellschaftlichen Marginalisierung der Erfahrung Seele oder ihres vorgeburtlichen Ursprungs? Da, wie es bei Arnheim geschildert wird, dieser Einbruch des ,anderen Zustands‘ viel zu bedrohlich wäre für seine wohldefiniert-kunstvoll arrangierte Persönlichkeit.¹⁹
8 Was sagt Musil zum Thema Geburt? Bevor ich mich der Frage nach dem Erkenntnisgewinn aus diesem Bezug zur pränatalen Psychologie widme, möchte ich einen Seitenblick wagen auf Musils Äußerung zum Thema Geburtserfahrung. In Corinos umfassender Musil-Biographie findet sich ein skizzierter Brief „An einen Imaginären“, in dem Musil sein offensichtlich sehr ambivalentes Verhältnis zur Geburt zum Ausdruck bringt. Am Tag nach meiner Geburt: … Meine Situation ist entschieden unsympathisch. Ich bin doch nichts als ein Schlauch[,] durch den die Nahrung auf der einen Seite herein[‐,] und auf der andern herausrinnt. Meine Mutter nimmt mich an die Brust, ich finde das ekelhaft, milchig u fett – Mein Vater steht dabei und glotzt – ich begreife nicht, wie man das erotisch finden kann. Und dabei muss ich fortwährend diese Saugbewegungen machen. Irgend etwas in mir will weg davon. Aber trotzdem muß ich – mit einem runden Mund wie ein Fisch. Man nennt das Instinkt. […] Ich möchte wieder zurück woher ich kam, aber ich vermag auch nicht diese häßliche schleimige Gegend dort als begehrenswert zu empfinden.²⁰
Auch wenn wir Musil sicherlich zugestehen dürfen, dass er hier nicht nur einiges überzeichnet, sondern sich höchstwahrscheinlich auch explizit ironisch überspitzt gegen psychoanalytische Thesen wendet, die das Ausmaß der Sehnsucht nach dem vorgeburtlichen Raum betonen, ist es doch ein sehr starker Ausdruck von Ambivalenz oder Widerwillen gegenüber dem leiblichen Geburtsgeschehen.²¹ „Einer der dunkelsten Punkte im Leben des Menschen ist die Geburt“, schreibt Musil, „nichts weiß man davon, als daß eingehüllt von urweltlichen Massen etwas Quiekendes,
19 Vgl. MoE, S. 509–511. Es gibt zwar „schwindelnde Augenblicke, wo er kein anderes Bedürfnis kannte, als einem irrenden Satelliten gleich in die Sonnenmasse Diotimas zu stürzen“, doch schließlich fasst er sich, und das Erlebte „kristallisiert“ sich zum Gedanken: „Ein seiner Verantwortung bewußter Mann […] darf schließlich auch, wenn er Seele schenkt, nur die Zinsen zum Opfer bringen und niemals das Kapital!“ (MoE, S. 511) 20 Robert Musil: Skizzierter Brief „An einen Imaginären“, zit. n. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 25 f.; vgl. KA/Nachlass/Mappe/IV/2/139–140. 21 Ebenfalls wich er„kleinen Kindern“ aus, die er so wenig mochte „wie Schnecken“; Corino, Robert Musil, S. 25.
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Blaurotes, wie eine Wursthaut Glänzendes mit fessellosem Wehgebrüll in die Welt gestoßen wird“.²²
9 Eine Schwester im Jenseits Vor Musils Geburt war seine Schwester Elsa mit einem Jahr gestorben. Sie hat ihn immer wieder beschäftigt,²³ und mit ihr bringt er den als Kind zeitweilig gehegten Wunsch, ein Mädchen zu sein, in Verbindung. Für seinen Helden Anders in den Entwürfen zum späteren Mann ohne Eigenschaften drückt er diesen Wunsch so aus: In solchen Augenblicken fühlte er gegen die Türe eines Wunderraums zu lehnen, die er nicht öffnen konnte. Da seinem Alter der Unterschied der Geschlechter nicht klar ist, war die Wirklichkeit zwar ein unüberwindlicher, aber ein blutwarmer Widerstand, den der von keinem Nachdenken über die Art der Verwirklichung gehemmte Wunsch durchdrang. […] Diese Güte der Liebe als Schwesterlichkeit, Verwischung der Ich-Polarität udgl. Und dazu stimmt auch, daß die Vorstellung Schwester für ihn trotz aller geschlechtlichen Erlebnisse einen seltsamen Zauber behielt.²⁴
Der „Wunderraum“ auf der anderen Seite wird durch den Ausdruck „blutwarmer Widerstand“ in die Nähe gerückt zum Geburtskanal oder Uterus als einem nicht mehr zugänglichen, vorgeburtlichen Jenseits. Ebenfalls in einem Jenseits, wenn auch anders gefärbt, befindet sich für Musil seine Schwester. Beide biographischen Bezüge, Musils Formulierungen zur Geburt und der Hinweis auf seine Schwester, möchte ich als Horizont für die hiesigen Überlegungen stehen lassen, ohne unmittelbare Schlüsse daraus abzuleiten. Sie unterstreichen vielleicht, dass der vorgeburtliche Raum für Musil ein teils abschreckendes, teils anziehendes Jenseits darstellte. Die Konstellation der verstorbenen Schwester Elsa lässt vielleicht noch mehr verstehen, weshalb Musil seinen Helden das innige Verschmelzungserleben gerade mit einer Schwester (die als Zwilling empfunden wird) erleben lässt und nicht etwa mit einer mütterlichen Figur.
22 So Robert Musil im Artikel „Seine Hochwohlgeboren!“ in: Soldatenzeitung, Nr. 39, 4. 3.1917, zit. n. Corino, Robert Musil, S. 25. 23 Als Kind habe er mit ihr „einen gewissen Kultus“ betrieben, bzw., so korrigiert er sich: „Ich trieb in Wahrheit keinen Kultus; aber diese Schwester interessierte mich. Dachte ich manchmal: wie, wenn sie noch am Leben wäre; ihr stünde ich am nächsten? Setzte mich an ihre Stelle?“ (T[agebücher, S.] 953), zit. n. Corino, Robert Musil, S. 31. 24 [Robert Musil, ]T[agebücher, S.] 613, zit. n. Corino, Robert Musil, S. 31 f.; Herv. d. Verf.
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Doch zurück zu unseren Überlegungen am Text und zur Frage, die sich vielleicht an dieser Stelle aufdrängt:
10 Was ist der Erkenntnisgewinn aus dem Bezug zur pränatalen Psychologie? Es geht nicht darum, bei anderem Zustand nun jedes Mal an einen ,Embryo im Fruchtwasser‘ oder besser: an ein werdendes Kind im Mutterleib zu denken. Vielmehr meine ich, dass in uns die Fähigkeit ist, seelisch-geistig in eine andere Beziehung zur Wirklichkeit zu treten, als unser Tagesbewusstsein es vorschreibt, und dass Musil hier sehr wertvolle Fragen aufgeworfen und ihnen nachgeforscht hat. Die pränatale Psychologie weist uns darauf hin, dass die Matrix einer so anderen Erfahrung, wie wir sie im Mutterleib gemacht haben, einer Anderswelt, in uns eingeschrieben und sowohl kulturell als auch durch das Trauma der Geburt für uns oft verschüttet ist. Und sie legt nahe, dass es unser Menschsein bereichern oder vervollständigen würde, den Bezug zu dieser frühen Lebenswelt in unser Leben mit einzubeziehen. Diesen Hinweis halte ich für sehr bedenkenswert und er passt sehr gut zu Ulrichs Frage, was es mit der Bedeutung des ,anderen Zustands‘ auf sich hat und wie er sich in unser Leben integrieren ließe. Die neue Perspektive ist: Das Erleben ,anderer Zustand‘ gehört als Begleitdimension zu unserem Normalleben dazu, die unser tägliches Leben ergänzt und relativiert. Das passt auch sehr gut zu all den Entwürfen von Ulrichs Utopien, in denen es immer wieder darum geht, die Bedeutungen schwebend zu erhalten, fließend und sie nicht zu fixieren.²⁵ Stellen wir uns vor, dass diese andere Ebene, in die Ulrich mit Agathe eintauchen konnte, eingeladen ist, ein Teil des Lebens zu sein wie ein Bezugs-Horizont, wie eine zweite Wirklichkeit, die neben der tätigen, diesseitigen Wirklichkeit bestehen kann. Eine Ebene, um die wir wissen, die uns vertraut ist, auch wenn wir nicht beständig in dieser Erlebensform verweilen können.
25 Vgl. Anm. 13. Ulrichs utopischen Entwürfen ist gemeinsam, dass Bedeutungszuschreibungen beweglich bleiben und kein festgelegter Sinn existiert. Es ist ein wechselseitiger Vorgang von Ergreifen und Ergriffenwerden, der jeder Interpretation und jedem Versuch, das Vieldeutige beherrschbar zu machen, vorausgeht. Diese wechselseitige Auslegung ist nur aufgrund der ‚Seinsdimension‘ möglich, die Ulrich im ,anderen Zustand‘ entdeckt: Diese besteht darin, dass unterhalb der Unterscheidungen eine Verbundenheit von Selbst und Wirklichkeit besteht, die der Konstitution des Selbst vorausgeht. Vgl. Jappe, Selbstkonstitution, S. 274–292.
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Dann könnte es der Seele vielleicht möglich sein, präsent zu sein ohne die Furcht, sich in der Identifikation mit den Formen zu verlieren. Die Phantasie könnte sich der ,Steinbaukastenstadt‘ Wirklichkeit zuwenden und spielerisch, ohne Verfestigungen, Bedeutung hineintragen in die Beziehung zu dieser Welt. Es würde womöglich das Leben in poetischen Ordnungen erlauben, die Ulrich in seinen Gedankenexperimenten skizziert.²⁶ Und die Selbstliebe wäre keine trübe Selbstgewissheit, sondern ebenfalls beweglich, und aus der Verbundenheit sich nährend.
11 Vorgeburtliche Seinswelt und die gute Selbstliebe Der ,andere Zustand‘ als eine Anderswelt, eine Bezugswelt, die wir mitnehmen, die unsere Welt ergänzt, eine frühkindliche oder vorgeburtliche Lebensdimension, Gefühle, die integriert werden könnten: Das positive Bild einer guten Selbstliebe, das Ulrich gegenüber Agathe zeichnet, spräche dafür. Diese Selbstliebe stamme aus dem „Ursprungserlebnis […] von Ich und Du“ oder dem „Zustand […] von Mensch und Natur, daß sie sich wiegen wie auf demselben Ast“ (MoE, S. 1354). Das erinnert an Formulierungen von Janus zu dem intensiven Beziehungsstrom zwischen Mutter und Kind. Wo der Säugling gewissermaßen mit der Stimme der Mutter mitschwingt und auf sie mit einer Art Tanz antwortet.²⁷ In Ulrichs Überlegungen ermöglicht diese Form von Selbstliebe, diese Philautia, ein grundsätzliches Gut-Sein, bei dem das Gutsein „gegen andere mit dem Gutsein gegen sich selbst“ (MoE, S. 1353) in eins fällt. „Das ist also eine schöpferische Art Selbstliebe ohne Schwäche und Unmännlichkeit, eine kriegerische Übereinstimmung von Glück und Tugend, eine Tugend im stolzen Sinn!“ (MoE, S. 1352). Diese Form von Gutsein bezeichnet Ulrich sogar als „männlich“, als „männlich schöne[s] Verhältnis zu sich selbst“ (MoE, S. 1352; Herv. d. Verf.). Es ist dies eine der ganz wenigen Stellen, in der eine positive Selbstliebe, die Ulrich für sich selbst in Anspruch nehmen könnte, eine männliche Selbstliebe, angedeutet oder skizziert wird. Dies könnte auch eine neue Möglichkeit für seine Männlichkeit oder männliche Identität eröffnen.
26 Vgl. Anm. 13 und 25. 27 Diese Erfahrung wurde laut Janus durch filmisch belegte Forschungen objektiviert. Und dieses Mitschwingen sei auch bereits vorgeburtlich schon wahrzunehmen. Vgl. Janus, Wie die Seele entsteht, S. 42.
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12 Männliche Identität, außen und innen Ulrichs männliche Identität wird im Roman mehrfach als ambivalent dargestellt. Seine äußere Erscheinung spiegelt eine Art zu sein, eine „gangbare Männlichkeit“ vor, der sein Innenleben nicht entspricht:²⁸ Nach seinem Gefühl war er groß, seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß wie ein gewölbtes Segel am Mast, und die Gelenke seines Körpers schlossen wie schmale Stahlglieder die Muskeln ab, sobald er sich ärgerte, stritt oder Bonadea sich an ihn schmiegte. Er war dagegen schmal, zart, dunkel und weich wie eine im Wasser schwebende Meduse, sobald er ein Buch las, das ihn ergriff, oder von einem Atem der heimatlosen großen Liebe gestreift wurde, deren In-der-Welt-Sein er niemals hatte begreifen können. (MoE, S. 159)
Wieder sind es die beiden Bäume: der verborgene Baum der Liebe und der offensichtliche der Gewalt, des „harten Gewirrs“, mit seinem männlichen „Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber“ (MoE, S. 592). Und es fragt sich: Wenn die andere Dimension dazugehören kann, gibt es dann Ausblicke auf ein erweitertes Mannsein, bei der die innerliche Dimension genauso zu einem Bild von Männlichkeit dazugehören könnte, anstelle eines militärisch reduzierten Bildes dessen, was als ,Männlichkeit‘ verstanden wird? Gegenüber Diotima gesteht Ulrich: „Denken Sie doch einmal daran, wie Sie ein Kind waren: ganz weiche Glut. […] In mir wenigstens lehnt sich etwas dagegen auf, daß das sogenannte reife Mannesalter der Gipfel solcher Entwicklung sein soll“ (MoE, S. 289 f.). Die Transformation von einem weichen, zarten Wesen zu einem ,harten Mann‘ ist ihm fast unheimlich, er vergleicht sie mit dem Bild der sich verwandelnden und ihr Geschlecht wechselnden „Myrmeleonina“: „Wenn ich die libellenartige Myrmeleonina, die Ameisenjungfer wäre, würde mir furchtbar davor grauen, daß ich ein Jahr vorher der breite, graue, rückwärtslaufende Myrmeleon, der Ameisenlöwe war, der am Rand der Wälder eingegraben unter der Spitze eines Sandtrichters lebt und mit seiner unsichtbaren Zange Ameisen um die Taille faßt, nachdem er sie vorher durch eine geheimnisvolle Beschießung mit Sandkörnern erschöpft hat. Und zuweilen graut mir wirklich ganz ähnlich vor meiner Jugend, auch wenn ich damals eine Libelle gewesen und jetzt ein Untier sein sollte.“ (MoE, S. 290)
28 Dies führt zu Verwicklungen mit dem anderen Geschlecht: „Die Abneigung, die er schließlich gegen diese Art Liebe erwarb, erstreckte sich schließlich auch auf seinen eigenen Körper, der das Zustandekommen solcher verkehrten Verbindungen immer begünstigt hatte, indem er den Frauen eine gangbare Männlichkeit vorspiegelte, für die Ulrich zu viel Geist und innere Widersprüche besaß“ (MoE, S. 285).
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Libelle und Untier: Die Integration des ,anderen Zustands‘ ins Leben würde vielleicht erlauben, beides anders zu verbinden. Einerseits scheint Ulrich der Zustand weicher Glut wahrer als der des ,reifen Mannesalters‘, auf der anderen Seite flößt ihm die andere Seinsweise seiner Jugend und noch mehr die der frühen Kindheit Schrecken ein: „Dann wurde er noch einmal kleiner und kehrte, weiter bildlich gesprochen, in die leidenschaftliche erste Moral der Kindheit zurück, in deren Auge Verlockung und Schreck ist, wie im Blick einer Gazelle“. (MoE, S. 287; Herv. d. Verf.) Agathe erlaubt Ulrich, diese weiche Seite gefahrlos zu zeigen. Sie weckt in Ulrich auch Erinnerungen an seinen Kindheitswunsch, selbst ein Mädchen im Ballkleid zu sein (vgl. MoE, S. 690). Durch Agathe vollzieht sich in Ulrich eine Umkehr, und er hinterfragt seine bisherige männliche Identität. Die erste Begegnung mit Agathe wirkt in ihm dergestalt nach, dass er über verschiedene ‚härtere oder weichere‘ ‚Zustände‘ des Menschseins nachdenkt und es als Offenbarung empfindet, man könne auch in einer anderen, ‚geöffneteren Weise‘ existieren: „Der Mensch kommt in zweien [in zwei Zuständen] vor, als Mann und als Frau.“ Das dachte er eine ganze Weile, scheinbar reglos vor Staunen, als ob es Wunder was für eine Entdeckung bedeutete, daß der Mensch in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe. Nur verbarg sich unter diesem Stillstand seines Denkens eine andere Erscheinung. Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich Soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge. (MoE, S. 687; Herv. d. Verf.)
Diese zweite Möglichkeit zu sein berührt ihn, und er erläutert gegenüber Bonadea (als Grund für seinen Entschluss, mit seiner Schwester zusammenzuleben): „Meine Natur ist als eine Maschine angelegt, die unaufhörlich Leben entwertet. Ich will einmal anders sein“ (MoE, S. 891). Die Männlichkeit, die ‚Leben entwerten‘ muss, scheint eine zu Musils Zeiten gesellschaftlich vielleicht weit verbreitete, doch reduzierte, traumatisierte Form von Männlichkeit zu sein. Sie kann aus Sicht der pränatalen Psychologie sicherlich aus traumatischen Geburtserfahrungen und dem gesellschaftlich abgespaltenen Umgang mit diesem Lebensbereich resultieren. Es wäre zu wünschen, dass die „gute Selbstliebe“²⁹, dies „männlich schöne[] Verhältnis[] zu sich selbst“ (MoE, S. 1352; Herv. d.Verf.) Ulrich erlauben könnte, beide Seiten als Teil seines Mannseins zu empfinden: die männlich nach außen geprägte, aktive (doch ohne den destruktiven Zwang, Leben zu entwerten) und auch die zarte, ausgedehnte Dimension, ohne mit ihr aus dem Leben fliehen zu müssen. Es würde 29 Die er in Anlehnung an Aristoteles als „Philautia“ bezeichnet (MoE, S. 1352).
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auf ein anderes Selbstverständnis des Mannes hinauslaufen, das dem Mann ermöglicht, auch weich zu sein und die Heimaterfahrung aus dem Mutterschoß zu integrieren. Heute stehen wir an einer anderen Stelle – die Frage nach der männlichen Identität wird in unserer Zeit neu verhandelt. Vielleicht darf ich die Frage auch an die Männer abgeben: wie weit das möglich ist – eine abgegrenzte Männlichkeit und einen heilen Bezug zu dieser Anderswelt zu verbinden.
13 Sexualität Für Ulrich im Roman würde es auch die Möglichkeit einer anderen Art von Sexualität eröffnen. Der Erzähler drückt mehrfach aus, wie widersprüchlich Ulrich die allein triebhaft aggressive Sexualität erlebt, wie sie sein eigenes feineres Wesen manchmal gewissermaßen überrennt oder überfordert.³⁰ Alle seine Beziehungen zu Frauen waren seither³¹ unrecht gewesen, und bei einigem guten Willen auf beiden Seiten geht das leider sehr einfach. Da gibt es ein Schema von Gefühlen, Handlungen und Verwicklungen, das Mann und Frau, sobald sie nur den ersten Gedanken daran wenden, bereit finden, sich ihrer zu bemächtigen, und es ist ein im inneren Sinn verkehrter Ablauf, bei dem die letzten Geschehnisse voran sich aufdrängen, kein Strömen von der Quelle mehr […]. (MoE, S. 284; Herv. d. Verf.)
„[U]nd wie mechanisch hat sich dann wieder alles vollzogen“, heißt es von den Begegnungen mit Bonadea, „jetzt, nachdem es geschehen war, fühlte er wieder, wie wenig es ihn anging“ (MoE, S. 115). Noch drastischer in der verzweifelten Verführungsszene mit Gerda, wo er alles an Gedanken aufbieten muss, was sich dazu eigne, um seine erwartete Rolle als männlicher Liebhaber durchzuziehen und nicht „die Flucht aus dem Bett“ zu ergreifen (MoE, S. 620). Dürfte er seine Zartheit als Teil seiner selbst, auch seiner männlichen Identität leben, könnten andere Vereinigungen möglich werden – mit Verweilen, nach Art
30 Seine „Natur […] wurde durch ihre Sinnlichkeit zur Frau hingetrieben, aber durch ihre höhren Kräfte von dem fremden, nicht zu ihr passenden Menschen zurückgehalten, den sie plötzlich unerbittlich deutlich vor sich sah, so daß sie sich immer in lebhaften Widersprüchen zwischen Neigung und Abneigung befand“ (MoE, S. 284). 31 Seit dem Liebeserlebnis mit der Frau Major, das ein Beispiel einer großen Erfahrung des ,anderen Zustands‘ in Ulrichs Jugend darstellt, in Form eines nicht konkret erfüllten, sondern in Liebesund Sehnsuchtsgefühlen ausgedehnten Liebeserlebnisses. Vgl. MoE, Kap. 32, S. 120–126, hier S. 125: „Er war ins Herz der Welt geraten; von ihm zu der weit entfernten Geliebten war es ebenso weit wie zum nächsten Baum; Ingefühl verband die Wesen ohne Raum.“
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des ,anderen Zustands‘ tantrisch sich ausdehnendem Gefühl und Versinken – wie es in den Entwürfen zum Inzest mit Agathe zum Teil geschildert wird. Sie fühlte sich in diesem Augenblick von ihrem Bruder umarmt, daß es nichts Ähnliches gab. Ihre Körper wurden nicht bewegt und wurden nicht verändert, dennoch floß ein sinnliches Glück durch sie, dessengleichen sie noch nie erlebt hatten. Das war kein Gedanke und keine Einbildung! Wo immer sie sich berührten, sei es an den Hüften, den Händen oder einer Strähne des Haars, drangen sie ineinander ein. (MoE, S. 1657)
Trotz dieser berührenden Stelle geht dieses Gedankenexperiment doch etwas über den Text hinaus.
14 Kriegseuphorie und Verbrechen als Ausbruch Denn im Roman zeigt sich immer wieder, wie Ulrich die Integration der beiden Erlebenswelten Liebe und Gewalt nicht gelingt. So endet auch das Kapitel zur Selbstliebe: Ulrich war „gereizt. Sollte er bekennen, daß ihm in diesem Augenblick neben seiner Schwester Männerstreit und Tapferkeit noch einmal beneidenswert und als das einzige männliche Glück vorkamen, und bloß wegen der bittersüßen Erfahrung, wie feig und unentschlossen jedes andere Glück mache?“ (MoE, S. 1355; Herv. d. Verf.). Er gerät darüber in einen Vorstellungskreis von Kampf und „Männerstreit“: „Ein guter Mann kann auch töten. […] Ein tiefer und im Grunde glücklicher Ernst, der das Gegenteil der kämpfenden Rohheit ist, wird auch in seine Feindseligkeit mehr Seligkeit als Feindlichkeit legen!“ (MoE, S. 1355) Hier wird die Kriegsbegeisterung vorweggenommen, die in den Ersten Weltkrieg führen sollte. Musil selbst kannte diese Euphorie und hat sie, wie wir in Pfohlmanns wunderbarer Monographie nachlesen können,³² auch später weniger dementiert als andere ehemals davon angesteckten Schriftsteller. Er deutete das „Sommererlebnis 1914“ als ein „Bedürfnis nach metaphysischem Krach“, als eine „Revolution der Seele gegen die Ordnung, in manchen Zeiten führt sie zu religiösen Erhebungen, in andren zu kriegerischen“.³³ Nach Janus’ Untersuchungen hat Kampf und Kriegsbereitschaft oft Beziehung zur Geburt. Dabei sei die „perinatale Symbolik im Erlebnis des Kämpfens […] vor allem bei Ausbruch des Krieges deutlich.³⁴ 32 Vgl. Oliver Pfohlmann: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 70. 33 GW 2, S. 1060, zit. n. Pfohlmann, Robert Musil, S. 70. 34 Vgl. Janus, Wie die Seele entsteht, S. 197: „Der Krieg ist gewissermaßen die Lösung für die als perinatale Einengung erlebten Konflikte oder Notlagen. In den Kriegserklärungen haben in Worte gefasste Geburtsempfindungen wie gepresst, erdrückt, erwürgt einen zentralen Platz. So sagte etwa
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Ähnlich fasziniert Ulrich im Mann ohne Eigenschaften immer wieder das Bild eines Verbrechens, das einen Ausweg aus seiner Situation inneren Stillstands herausführen könnte – als eine Lösung für ihn selbst oder auch gesellschaftlich. Die Vorstellung eines ,Verbrechens‘ bietet ihm einen Ausweg aus der quälenden Passivität, in der er das Seinesgleichen vorläufig erduldet. Eine solcher Art ‚rettende Gewalt‘ lässt sich ebenfalls wie eine gewaltsam erfahrene Geburt deuten. Seine Sehnsucht nach einer Tat, einem Verbrechen, nach irgendetwas, woran er mit „Blut und Armen und Beinen teilhaben“ könnte (MoE, S. 633), wird immer wieder mit seinen Gedanken an Moosbrugger in Verbindung gebracht. Moosbrugger evoziert in ihm „wie eine Blendung das Bild eines Handelns, worin das Zugreifen, wie es aus höchster Erregung erfolgt, und das Ergriffenwerden in einem unbeschreiblich gemeinsamen Zustand eins wurden, der Lust von Zwang, Sinn von Notwendigkeit, höchste Tätigkeit von seligem Empfangen nicht unterscheiden ließ“ (MoE, S. 652 f.). Moosbrugger ersticht die Frau, die sich ihm ,wie ein zweites Ich‘ angehängt hat. Er löst also sein Ich aus einer unfreiwilligen Symbiose. Der frühe Held Anders beißt im Traum einer Geliebten die Zunge ab. Vielleicht lassen sich diese Gewaltbereitschaft, die Formen einer destruktiven Ablösung wie eine traumatische Reinszenierung einer Geburt lesen, als Ausdruck eines nicht verarbeiteten Traumas, das sich in aufflackernden Gewaltphantasien wiederholt. Als der Versuch, sich gewaltsam aus der Einheit zu lösen. In einer Weise, die das Paradies zerstört, statt eine Verbindung dazu aufrechtzuerhalten oder die paradiesische Verfassung in ein Leben nach einer Trennung mitzunehmen.
15 Integration und Verbindung zur ursprünglichen Erfahrung Demgegenüber können wir uns andere Bilder von ,Geburt‘ vorstellen, die den Herkunftsraum nicht vernichten müssen. Bei denen die Schwelle zu diesem Seelenraum durchlässig bleibt oder die ermöglichen, ihn als inneren Raum im Leben zu integrieren. Es zeigt, wie wichtig die Heilung unserer Beziehung zur vorgeburtlichen Welt sein kann. Wird der Schrecken verarbeitet, der uns von jener Erfahrung trennt – heilen wir unsere Traumata, individuell und kollektiv, wäre dann ein menschlicheres Kaiser Wilhelm, als er den Beginn des Ersten Weltkrieges verkündete, dass er sich ‚erdrosselt‘ fühle, weil plötzlich ‚ein Netz über unsere Häupter geworfen wurde‘.“
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Leben möglich, wo wir aus unserem eigenen ,Gutsein‘, unserer Verbindung zu unserem ursprünglichen geborgenen Sein uns selbst lieben, uns seelisch erfüllt und verbunden fühlen und im Einklang mit dem Ganzen handeln?
Literaturverzeichnis Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud u. a. Band XIV, Frankfurt a. M. 1999, S. 421–506. Janus, Ludwig: Wie die Seele entsteht. Unser psychisches Leben vor, während und nach der Geburt. Heidelberg 2011. Jappe, Lilith: Selbstkonstitution bei Robert Musil und in der Psychoanalyse. Identität und Wirklichkeit im Mann ohne Eigenschaften. München 2011 (Musil-Studien, Bd. 38). Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hg. v. Adolf Frisé. Band I und II, Reinbek b. Hamburg 1978. Musil, Robert: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. (Gesammelte Werke, Bd. 2) Musil, Robert: Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta unter Mitwirkung v. Rosmarie Zeller. DVD-ROM Klagenfurt 2009, Update 2015. Pfohlmann, Oliver: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012.
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Barbara Neymeyr
Konflikte zwischen Libido und Sublimierung. Zum Hysterie-Syndrom in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften Abstract: Der Beitrag beleuchtet das Hysterie-Syndrom zunächst im Spiegel der Diskursgeschichte von Psychiatrie und Psychoanalyse und problematisiert dabei genderspezifische Einseitigkeiten traditioneller Hysterie-Konzepte. Mit Bezug auf Theorien von Freud, C.G. Jung und Klages zeigt er dann, wie facettenreich Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften das hysterische Syndrom und das AndrogynieIdeal der Clarisse-Figur gestaltet, die zugleich zum Medium kritischer Kulturdiagnose avanciert. Dabei repräsentiert das hysterische Verhalten der Figuren Clarisse und Gerda auch Aspekte eines anarchischen Eros, dessen Symptomatik den Roman auf vielfältige Weise subversiv durchwirkt.
1 Musils Psychologie des anarchischen Eros vor dem Horizont zeitgenössischer Hysterie-Diskurse Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften gestaltet den Eros als subversive Kraft, und zwar durch ein weites Panorama sexueller Aberrationen, die den bürgerlichen Normenkodex sprengen.¹ Dies gilt für Phänomene wie Hysterie, Nymphomanie, Promiskuität, Prostitution, Ehebruch, Vergewaltigung, Inzest sowie Fetischismus, Pädophilie, Exhibitionismus und Voyeurismus.² Phänomene eines anarchischen Eros inszeniert der Roman im Verhalten mehrerer Figuren. Den Extremfall bilden
1 Der Psychiatrie-Professor Richard von Krafft-Ebing verfasste das Standardwerk Psychopathia Sexualis. Eine klinisch-forensische Studie (1. Aufl. 1886, 16./17. Aufl. Stuttgart 1924). – Zur Erotik und Sexualität in der Literatur des Fin de siècle vgl. z. B. Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin/New York 1973 (Komparatistische Studien, Bd. 2). Vgl. auch Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977. 2 Zahlreiche Textbelege dazu nennt Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 218), S. 202. https://doi.org/10.1515/9783110988352-011
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hier die Sexualverbrechen des Mörders Moosbrugger.³ Aber auch hysterische Symptome sind im Zusammenhang mit der anomischen Libido relevant, die der Roman literarisch inszeniert, psychologisch reflektiert und dabei zugleich in aufschlussreicher Weise mit Kulturdiagnose verbindet. In der Décadence, die das Faszinosum des Abnormen, Schockierenden, Perversen und den provokanten Normbruch kultivierte, radikalisierte sich in der Literatur zusehends die sexualpathologische Symptomatik.⁴ Die moderne Identitätskrise, die unter dem Einfluss von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Ernst Mach seit dem Fin de siècle wirksam war und sich in der zeitgenössischen Literatur facettenreich spiegelt, grundiert auch Musils Roman. Als besonders interessantes Beispiel erscheint das androgyne Selbstbild der Clarisse-Figur, das eine inhomogene Geschlechtsidentität verrät und durch charakteristische Entgrenzungen in die Sphäre des Psychopathologischen weist. Themenfelder der Psychologie gestaltet Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften auf vielfältige Weise. Nach eigenem Bekunden hatte er schon in seinem ersten Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß „die Kämpfe der Pubertät mit neuen psychologischen Mitteln“ durchleuchtet (GW II, S. 950),⁵ allerdings nicht durch „‚bloße‘ Analyse“ oder „‚bloße‘ Psychologie“, sondern im Sinne „ethische[r] Experimente“ (GW II, S. 1008).⁶ Und in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften macht Musil die eigene intellektuelle Provenienz aus der Experimentalpsychologie literarisch fruchtbar und greift zugleich auf Gestaltpsychologie und Psychoanalyse zurück. Angesichts der Bedeutung verschiedener Richtungen der Psychologie für Musils Œuvre sollte man sich also nicht dadurch irritieren lassen, dass Musil selbst sich
3 Abnormität, Intensität und Exzess kennzeichnen Moosbruggers Sexualverbrechen, Clarisses pathologisch grundierte Libido, aber auch die exotische Utopie mystischer Erotik bei Ulrich und Agathe. 4 Vgl. Dieter Borchmeyer: Décadence. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegač. Frankfurt a. M. 1987, S. 68–76. Vgl. auch Wolfdietrich Rasch: Die Darstellung des Untergangs. Zur literarischen Décadence. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 414–434. Musil rezipierte das Buch des Freud-Schülers Otto Rank: Das InzestMotiv in Dichtung und Sage. Leipzig/Wien 1912. 2., wesentlich vermehrte und verbesserte Aufl. 1926. Reprint Darmstadt 1974. 5 Ich zitiere Musils Œuvre nach der Edition: Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Zwei Bände. Reinbek b. Hamburg 1978. Bd. I: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Die Belege zu Bd. I erscheinen einfachheitshalber ohne die Sigle MoE; den Belegen zu Bd. II wird die Sigle GW II vorangestellt. 6 Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Experimente im „Ideenlaboratorium“. Musils avantgardistische Literaturtheorie. In: Sprachkunst 41 (2010) 2, S. 203–219.
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gegen den „Ruf des Psychologen“ wehrt (GW II, S. 967), zumal er explizit auf „verwirrende Folgen“ einer Äquivokation hinweist: „was an einer Dichtung für Psychologie gilt, ist etwas anderes als Psychologie“ im Sinne der Wissenschaft (GW II, S. 967): „Objekt der Psychol. ist der allgemeine Fall“, Gegenstand der „Dichtung der persönliche“ (GW II, S. 1334). Musil betont die Differenz „von gelehrter und dichterischer Psychologie“⁷ und versteht literarische Psychologie als „Menschenkenntnis und Fähigkeit der Motivation“ (GW II, S. 1052). Wenn er „Psychologie“ mit dem analogisiert, „was in der Zeit Marco Polos die Geographie war“ (GW II, S. 1192), dann konzediert er immerhin deren Bedeutung bei der Erschließung unbekannten Terrains durch die Literatur. Seine umfassende Kenntnis psychoanalytischer Konzepte macht Musil im eigenen Œuvre auf unterschiedliche Weise fruchtbar: Während sein Roman Der Mann ohne Eigenschaften beispielsweise Aspekte des ‚Narzissmus‘⁸ inszeniert (mit Bezug auf Ulrich und Agathe sowie auf Arnheim und Diotima), entfaltet der Text Der bedrohte Ödipus in Musils Nachlaß zu Lebzeiten (GW II, S. 528–530) eine subversive Kritik am Ödipus-Komplex und an der psychoanalytischen Paratheorie zur Selbstimmunisierung gegen Kritik.⁹ Allerdings ist die satirische Perspektive auf die Psychoanalyse gemäß dem Text Der bedrohte Ödipus kein Indiz für eine grundsätzliche Skepsis Musils gegenüber der Tiefenpsychologie. Und auch Musils Romanprotagonist Ulrich erklärt im Rahmen seiner eigenen Gefühlspsychologie, er lasse in ihr„die Psychoanalyse“ trotz ihrer Omnipräsenz „nicht deshalb beiseite, weil er die Verdienste dieser bedeutenden Theorie nicht anerkenne, die voll neuer Begriffe wäre und als erste vieles zu erfassen gelehrt habe“, was zuvor „gesetzlose Privaterfahrung“ war (1138 f.), sondern weil er selbst Reflexionen anderer Art intendiere. Dem aktuellen Forschungsstand¹⁰ zufolge hat sich Musil mit den Theorien der Psychoanalyse auf produktive Weise auseinandergesetzt – essayistisch und fiktional. Dem steht nicht entgegen, dass Musil auf der Basis seiner differenzierten Kenntnis psychoanalytischer Konzepte auch Vorbehalte gegen bestimmte Theoreme
7 Zu Musils komplexem Verhältnis zur Psychoanalyse vgl. Oliver Pfohlmann: ‚Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‘? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003 (Musil-Studien, Bd. 32), S. 330–345. 8 Vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 75–105. 9 Vgl. Barbara Neymeyr: Kulturkritik als „Gleichgewichtsstörung“. Subversive Strategien der „Unfreundlichen Betrachtungen“ in Musils Nachlaß zu Lebzeiten (Triëdere – Der bedrohte Ödipus – Denkmale). In: Musil-Forum 35 (2017/2018), S. 62–98, hier S. 78–89. 10 Vgl. dazu den substantiellen Überblicksartikel von Oliver Pfohlmann: Psychoanalyse. In: RobertMusil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 538–546. Pfohlmann formuliert hier auch eine überzeugende Kritik an früheren Positionen der Musil-Forschung, in der Musils Affinität zur Psychoanalyse bezweifelt wurde (z. B. von Karthaus, Corino, Cremerius); vgl. S. 538 f.
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formulierte. Einerseits betont er den „Wahrheitsgehalt“ der psychoanalytischen Theorien, „dessen Dasein heute kein Sachkundiger mehr bestreitet“, andererseits sieht er deren „Wahrheitskern noch unsicher abgegrenzt und von Übertreibungen entstellt“ (GW II, S. 1401). Dass „Musil zu den besten Kennern der Tiefenpsychologie“ gehörte,¹¹ zeigt nicht nur der Gebrauch einschlägiger Fachtermini wie ‚Libido‘ oder ‚Narzissmus‘. Denn schon im Frühwerk Die Verwirrungen des Zöglings Törleß zeigt er seine Vertrautheit mit Triebdimensionen, ödipalen Konflikten und Traumsymbolik. Außerdem ist Musils Rezeption wichtiger Schriften Freuds belegt, darunter die Studien über Hysterie von Freud und Breuer sowie Freuds Werke Traumdeutung, Zur Einführung des Narzißmus, Jenseits des Lustprinzips oder Das Unbehagen in der Kultur. ¹² Und über Freuds Œuvre hinaus setzte sich Musil auch mit zeitgenössischen Standardwerken wie Ernst Kretschmers Werk Medizinische Psychologie und Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie intensiv auseinander. In seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) beruft sich Musil explizit auf „wertvolle Ansätze zur Psychologie der Gefühle“ (GW II, S. 1141) in Kretschmers Buch Medizinische Psychologie. ¹³ Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften entfaltet vielfältige Manifestationen und Aberrationen der Libido in einem Kontinuum, das von der Normalität bis zu Abnormitäten eines anarchischen Eros reicht. Gemäß dem Prinzip ‚Natura non facit saltus‘ konstatiert Musil zuvor bereits in seinem Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922): „Die Psychologie zeigt, daß die Phänomene vom übernormalen bis zum unternormalen Menschen stetig und ohne Sprung sich aneinanderbreiten“ (GW II, S. 1080).¹⁴ Auch Ernst Kretschmers Standardwerk Medizinische Psychologie (1922) weist auf Entgrenzungen hin, die rigide Schemata und fixierte Ordnungen transzendieren: „[E]s sind immer wieder dieselben Grundmechanismen, die hier im Traum, in der Künstlerphantasie und in der Völkerpsychologie, dort in Schizophrenie und Neurose, hier in den tierischen und kindlichen Reaktionsweisen, dort in Hysterie und Katatonie wiederkehren.“¹⁵
11 Das betont Pfohlmann, Psychoanalyse, S. 539. 12 Vgl. dazu Pfohlmann, Psychoanalyse, S. 539 f. Musils Interesse an der Psychoanalyse schloss auch Schriften von Freud-Adepten oder Freud-Renegaten (wie C.G. Jung und Alfred Adler) mit ein. Zu Musils Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse (mit Lob und Kritik) vgl. S. 542–544. 13 Vgl. Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays. Heidelberg 2009 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 265), S. 40. 14 Laut Musil ist „die Welt der Gesundheit […] aus den gleichen Grundstoffen gemacht wie die der Krankheit, und bloß die Verhältnismaße sind andere […]“ (vgl. Entwürfe zum Mann ohne Eigenschaften. In: Wilhelm Bausinger: Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek b. Hamburg 1964, hier: 33a). 15 Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie. Leipzig 1922, S. 3.
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Abweichungen von regulären Verhaltensweisen erscheinen mithin als interessante Grenzfälle, die zugleich Grunddispositionen und latente Möglichkeiten des Menschen zu erkennen geben, und zwar individualpsychologisch und phylogenetisch. Insofern sind die sexualpathologischen Phänomene, die Musils Roman inszeniert, für Anthropologie und Kulturdiagnose relevant.¹⁶ Auch für Musils Romanfiguren Clarisse und Gerda ist es aufschlussreich, dass Kretschmer „in Hysterie und Katatonie“, in „Traum“, „Völkerpsychologie“ und „Künstlerphantasie“ sowie „in Schizophrenie und Neurose“ analoge „Grundmechanismen“ diagnostiziert. Die von Musil rezipierten psychoanalytischen Studien über Hysterie (1895) von Freud/Breuer haben schon für die Vereinigungen (1911) und dann vor allem für die Profilierung der beiden Hysterikerinnen Clarisse und Gerda im Roman Der Mann ohne Eigenschaften Bedeutung. – Nicht zufällig führt Musils Epochenroman die hysterische Symptomatik an zwei Frauenfiguren vor. Die problembelastete Libido von Clarisse und Gerda unterscheidet sich grundlegend vom Sexappeal der bis zur Promiskuität sinnlich aufgeschlossenen Frauen Leona und Bonadea. Der anarchische Eros¹⁷, der in Musils Roman so viele Devianz-Phänomene generiert und sogar die Geschwisterliebe von Ulrich und Agathe als aporetischen „Versuch des Anarchismus in der Liebe“ erscheinen lässt (1876), zeigt sich auf spezifische Weise in den hysterischen Exaltationen von Clarisse und Gerda. Die psychopathologische Symptomatik deutet sich schon an, wenn vom „substanzlos flammenden Willen“ der Clarisse-Figur die Rede ist (62). Clarisses Ehemann Walter erahnt einen „geheimen Hohlraum in ihrem Wesen, den man ängstlich verschlossen halten mußte“ (62): Er beschreibt ihn als „die Kaverne des Unheils, das Arme, Kranke, unselig Genialische in Clarisse“, als „den geheimen leeren Raum, wo es an Ketten riß, die eines Tags ganz nachlassen konnten“ (63). Und diese symptomatische Vorstellung wiederholt sich später in Walters Eindruck vom perniziösen Einfluss Ulrichs auf Clarisse (147). Diese im Roman sogar zweimal markant hervortretende Raumsemantik präfiguriert bereits Clarisses psychopathologische Entwicklung. Zugleich signalisiert gerade dieser „Hohlraum“, den Walter in ihr erahnt, ein mentales Vakuum, das auch Assoziationen an traditionelle Hysterie-Mythen nahelegt. Denn etymologisch geht der Begriff ‚Hysterie‘ auf das griechische Wort ‚hystera‘ (ὑστέρα) zurück, das die Gebärmutter bezeichnet. Mit deren Erkrankung erklärt bereits das sogenannte ‚Corpus Hippocraticum‘ die hysterischen Sympto16 „Die heuristische Funktion des Pathologischen“ betont schon Erhard von Büren: Zur Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils. Zürich/Freiburg 1970 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, Bd. 37), S. 113. Vgl. hier auch S. 110–117. 17 Zum Themenkomplex „Der anarchische Eros als Symptom: Die sexualpsychologische Fundierung der Kulturkritik“ vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 201–314.
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me.¹⁸ – Schon Mediziner der Antike meinten, der Uterus sei ein Tier, das man durch Begattung beruhigen könne, das jedoch auf Abstinenz unzufrieden reagiere, im Leib umherirre und durch Druck auf Organe verschiedener Körperregionen hysterische Symptome hervorrufen und sich sogar am Gehirn festbeißen könne: Solche Ansichten, die Platon im Timaios referiert,¹⁹ verbreiteten sich auch durch die autoritative Wirkung des Hippokrates. So dominierte jahrhundertelang „der Mythos von einem sexuell unbefriedigten Organ in der Ätiologie und Therapie der Hysterie“.²⁰ Heutzutage erscheinen solche vorwissenschaftlichen Spekulationen über die Ursache hysterischer Symptome als eher kuriose Phantasien. Nachdrücklich distanziert sich Ludwig Klages vom etymologisch bedingten Missverständnis des Hysterie-Begriffs, wenn er feststellt, „dem Namen Hysterie, von ὑστέρα = Gebärmutter“ liege „die längst als irrig erkannte Meinung“ zugrunde, „Hysterie sei eine Störung nur des weiblichen Wesens und ihr Herd das Geschlechtsorgan“.²¹ Auch im folgenden Lexikoneintrag fehlt ein expliziter etymologischer Bezug auf die ‚Gebärmutter‘: Hysterie [grch.], Sammelbegriff für eine Reihe seelisch bedingter Verhaltensstörungen mit wechselnden psych. und körperl. Symptomen (z. B. Lähmungen, Krampfanfällen, Ticks, Zittern, Beeinträchtigung der Wahrnehmung und des Bewußtseins, Sprachstörungen), deren organ. Bedingtheit nicht nachweisbar ist. / Der hyster. Charakter ist ein zur H. neigender Persönlichkeitstyp, der durch emotionale Labilität, Geltungssucht und theatralisch-rollenhaftes, unechtes Gefühlsleben gekennzeichnet ist.²²
Man könnte eine kleine Kulturgeschichte der Hysterie schreiben, um zu zeigen, wie archaische Wissenschaftsmythen auch in psychiatrische Konzepte späterer Epo-
18 Vgl. dazu die instruktive Arbeit von Regina Schaps: Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau. Frankfurt a. M./New York 1992, S. 19. 19 Platon: Timaios 91c–d. (Platon erwähnt Hippokrates in den Schriften Phaidros und Protagoras.) 20 Schaps, Hysterie und Weiblichkeit, S. 22. Diese These referiert Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993 (Hermaea: Germanistische Forschungen N.F., Bd. 70), S. 203. – Während sogar der Fremdwörter-Duden in den 1980er Jahren zum Lemma ‚hysterisch‘ als obsoleten Aspekt noch angab: „(veraltet) an der Gebärmutter erkrankt (Med.)“, konzentriert sich der Artikel dort inzwischen ganz auf die psychologische Bedeutung: „zu nervöser Aufgeregtheit neigend, übertrieben leicht erregbar; übertrieben nervös, erregt; überspannt“ (Duden. Bd. 5: Fremdwörterbuch. 8., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hg. von der Dudenredaktion. Mannheim u. a. 2005, S. 433). 21 Ludwig Klages: Die Grundlagen der Charakterkunde. 14. Aufl. Bonn 1966 [Erstpublikation 1910 mit dem Titel: Prinzipien der Charakterologie], S. 111. 22 dtv-Lexikon in 20 Bänden [erarbeitet nach den lexikalischen Unterlagen von F.A. Brockhaus]. Mannheim/München 1995. Bd. 8, S. 231.
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chen hineingewirkt haben. Zu berücksichtigen wäre dabei, inwiefern spekulative Hypothesen zur Genese und Symptomatik der Hysterie Eingang in psychologische Diskurse fanden und welche Beispiele für deren Poetisierung die Literaturgeschichte bietet. Allerdings gilt der Fokus dieser Arbeit der Symptomatik von Musils Figuren Clarisse und Gerda im Kontext der Hysterie-Diskurse in der Kulturgeschichte. – Die vorwissenschaftlichen Spekulationen über somatische Symptome und psychische Folgen der Hysterie führten zum weit verbreiteten Mythos von der unbefriedigten Gebärmutter als geschlechtsspezifische Krankheitsursache. Generell wurden auch Nervosität oder Neurasthenie auf sexuelle Abstinenz zurückgeführt.²³ Und Nymphomanie sah man ebenfalls als Ursache hysterischer Symptome an.²⁴ In diesem Sinne inszeniert Musil die Mentalität seiner Clarisse-Figur, die in der Ehe mit Walter zwar frigide erscheint, aber auch zu promiskuitiver „Lüsternheit“ (832) tendiert. Hinsichtlich der Ätiologie der Hysterie ist Walters Reflexion über Clarisse interessant, wenn er den „geheimen Hohlraum in ihrem Wesen“ (62) ominös als „Kaverne des Unheils“ deutet (63). Denn gemäß den Hysterie-Mythen erscheint dieser „Hohlraum“ potentiell geschlechtsspezifisch konnotiert. Dazu passt die auffällig heterogene Sexualproblematik der frigiden Clarisse, die in der Ehe mit Walter zwar energisch die Mutterrolle verweigert, aber von Ulrich mit geradezu vehementem Nachdruck „den Erlöser der Welt empfangen“ will (660) oder sich sogar selbst als Gottesmutter imaginiert, die der Welt den Erlöser beschert. Bezeichnenderweise gerät die biologische Funktion der Gebärmutter mehrfach ins Zentrum von Clarisses Gedanken und Obsessionen. Zum Syndrom der Hysterie gehören gemäß der Psychoanalyse auch theatralisch-histrionische Tendenzen und Inszenierungen. In diesem Sinne agiert Musils Exzentrikerin Clarisse ihre pathologischen Symptome im Roman mehrfach auf unauthentische und pathetischtheatralische Weise aus.²⁵ Das alte Uterus-Theorem der ursprünglich monokausalen Ätiologie der Hysterie wurde in der Medizin und Psychologie späterer Epochen revidiert: Obwohl fehlende sexuelle Befriedigung oder eine Liebesenttäuschung nicht den Uterus schädige, könne dadurch doch ein pathogener Spannungszustand in der Psyche entstehen.²⁶ In neurologischen und gynäkologischen Diagnosen galt die Hysterie auch
23 Vgl. auch Sigmund Freud: Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908). In: Ders.: Studienausgabe in zehn Bänden und einem Ergänzungsband. Hg. v. A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey. Frankfurt a. M. 1982. Bd. IX, S. 11–32, hier S. 23–27. 24 Vgl. Schaps, Hysterie und Weiblichkeit, S. 79, und Thomé, Autonomes Ich, S. 198, 209. 25 Vgl. dazu exemplarische Belege in Musils Roman (368, 442, 609, 656, 783, 790). 26 Vgl. Thomé, Autonomes Ich, S. 205. Thomé erwähnt „obsolet gewordene, zum Teil ins Volkswissen abgesunkene Konzeptionen“ der Hysterie (S. 197), etwa die (von Charcot und Krafft-Ebing bestrit-
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als ‚genitale Reflexneurose‘, sofern eine organische Erkrankung der Gebärmutter auch das Nervensystem schädigen könne. So zog man als Ursachen hysterischer Symptome außer dem Uterus die ‚Nerven‘ in Betracht. Durch ihren Proteus-Charakter erhielt die Hysterie jedenfalls einen speziellen Nimbus, der sie zur Projektionsfläche für Phantasien und Ängste, für psychologische und kulturkritische Diagnosen werden ließ.²⁷ Vor allem in der Décadence avancierte die Hysterie zu einem psychosomatischen Krankheitssyndrom sui generis. Oft galt die Hysterie als Ausdruck von Hypersensibilität oder affektiver Instabilität und geriet dadurch in eine Nähe zu Nervosität und Neurasthenie. Richard von Krafft-Ebing nimmt progrediente Verlaufsformen an, die von der Nervosität über die Neurasthenie bis zur Hysterie oder Psychose reichen und mit ‚Krampfanfällen‘ als differentialdiagnostischem Merkmal einhergehen können.²⁸ Mitunter rückte man sogar schon weibliche Charaktereigenschaften in die Nähe hysterischer Symptome.²⁹ In seiner Schrift Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908) sieht Sigmund Freud „die eigentlichen Formen des nervösen Krankseins“ auch durch Hektik, Reizüberflutung und Überforderung in der Moderne bedingt, führt diese pathologischen Phänomene aber vor allem auf „die schädliche Unterdrückung des Sexuallebens“ durch die „herrschende ‚kulturelle‘ Sexualmoral“ zurück.³⁰ In diesem Sinne hält Freud auch die Symptome „der Hysterie“ für „psychogen“, mithin „von der Wirksamkeit unbewußter (verdrängter) Vorstellungskomplexe“ abhängig, wenngleich er„hereditäre[n] Einfluß“ nicht ausschließt.³¹ Zugleich betont Freud die symptomatische Häufigkeit der „Frigidität“ bei verheirateten Frauen.³² Heutzutage relativiert man längst die pejorativen geschlechtsspezifischen Konnotationen der Hysterie. In der medizinischen Nomenklatur gilt die Diagnose
tene) Meinung, sexuelle Abstinenz disponiere zur Hysterie (vgl. S. 204). Krafft-Ebing führt das hysterisch-frigide Syndrom auf genitale Anästhesie zurück (vgl. S. 209). 27 Vgl. Thomé, Autonomes Ich, S. 197–200. Hervorgehoben sei die Pionierarbeit von Ilza Veith: Hysteria. The History of a Disease. Chicago/London 1965. Vgl. auch Otto Binswangers monumentales Handbuch Die Hysterie (Wien 1904; vgl. Veith, Hysteria, S. 1–31) und Stavros Mentzos: Hysterie. Zur Psychodynamik unbewußter Inszenierungen. München 1980. 28 Vgl. dazu Thomé, Autonomes Ich, S. 199 (auch über G. M. Bearts Thesen zu hysterischen ‚Krampfanfällen‘ sowie zu hysterischen Anfällen als typischen Symptomen). 29 Laut Schaps hat sich „die von den Ärzten erlebte Frustration bei der Analyse der Hysterie“ zum „misogynen Gesamtsyndrom verdichtet“ (Schaps, Hysterie und Weiblichkeit, S. 16 f.). 30 Vgl. dazu Freud, Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral, S. 16. Zu geschlechtsspezifischen Differenzen der Triebunterdrückung durch die „‚doppelte‘ Sexualmoral“ vgl. S. 24–31. Freud fragt sich, „ob unsere ‚kulturelle‘ Sexualmoral der Opfer wert ist, welche sie uns auferlegt“ (S. 32). 31 Freud, Die ,kulturelle‘ Sexualmoral, S. 17. 32 Freud, Die ,kulturelle‘ Sexualmoral, S. 30.
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‚Hysterie‘ daher inzwischen als obsolet. Stattdessen spricht man mittlerweile von einer‚dissoziativen‘ oder‚histrionischen‘ Persönlichkeitsstörung. Dennoch spielt die Vorstellung des ‚Hysterischen‘ in der Alltagssprache, aber auch in der Psychoanalyse durchaus noch eine Rolle: mit Bezug auf einen psychogenen Konflikt, der spezifische physische Symptome hervorruft, und in gewisser Affinität zu Freuds Begriff ‚Konversionsneurose‘. Vor allem gilt ein theatralisch-übertriebenes, mitunter sexuell getöntes Verhalten als ‚hysterisch‘.³³ Musils Clarisse-Figur entspricht durch ihre „nervöse Feinfühligkeit“ (913) und ihre ererbte übermächtige Libido Kriterien der tradierten Degenerationspsychiatrie, in der Hypersexualität auf hereditärer Basis als Entartung durch Nervenschädigung galt.³⁴ Pseudo-religiöse Phantasien, Erlösungssehnsucht und sexuelle Obsessionen ergänzen das Syndrom dieser Figur.³⁵ Zugleich scheint Clarisse durch ihre hysterische Instabilität und ihr Doppelwesen-Konzept in eine Affinität zur sogenannten ‚multiplen Persönlichkeit‘ zu geraten. Freud führt diesen pathologischen Extremfall auf Verdrängung zurück; und Janet sieht die multiple Persönlichkeit durch eine spezifische Synthetisierungsschwäche bedingt, die für Hysteriker/innen ebenfalls charakteristisch sei.³⁶ Dass Musils Clarisse-Figur ihre disparaten Persönlichkeitsanteile nicht zu integrieren vermag, weist auf eine dissoziative Persönlichkeitsstörung hin. Und ihre hysterischen Hyperreaktionen und abrupt wechselnden Affekte im Verein mit Egozentrik, Geltungsbedürfnis und artifizieller Selbstinszenierung zeigen eine histrionisch-theatralische Disposition. In Musils Roman agiert Clarisse mehrfach „wie eine Schauspielerin“ (442) – gemäß ihrem „Lieblingsgedanke[n]“, das „Leben“ sei „eine schauspielerische Aufgabe“ (656). Clarisses theatralische Inszenierung 33 Zum wissenschaftshistorischen Kontext vgl. z. B. Mark S. Micale: Hysteria and its histeriography: the future perspektive. In: History of Psychiatry 1 (1990), S. 33–124; Thomas Maria Mayr: Hysterische Körpersymptomatik. Eine Studie aus historischer und interkultureller Sicht. Frankfurt a. M. 1989. 34 Vgl. Thomé, Autonomes Ich, S. 207 f. 35 Ein Hysterie-Verdikt bestimmt auch Nietzsches späte Polemik Der Fall Wagner: Hier attestiert er Wagners Musik einen „Hysterismus“ und behauptet, er bringe „Hysteriker-Probleme“ auf die Bühne (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [=KSA]. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1980. KSA 6, S. 27, 22). Zum WagnerNietzsche-Komplex in Musils Roman im Kontext von Kulturpsychologie und Zeitkritik vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 107–200. 36 Vgl. Thomé, Autonomes Ich, S. 216 f. In seinem Buch Les maladies de la personnalité von 1885 beschreibt Théodule Ribot das Syndrom der multiplen Persönlichkeit. Die Fallstudie von Morton Prince The Dissociation of a Personality. A Biographical Study in Abnormal Psychology (1905) zog Hofmannsthal für die Persönlichkeitsspaltung in seinem Andreas-Roman heran. Dieses Syndrom bestimmt auch Kafkas Beschreibung eines Kampfes (1904).Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Heidelberg 2004 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 206).
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„Jubelnde Weltschräge“ (656) gehört ebenso dazu wie ihre pathetische NietzscheDeklamation (368) und ihre Selbstpräsentation „wie auf einer Bühne“ (366). Hinzu kommen ihre unauthentischen Emotionen in Gestalt der sogenannten ‚Klaviergefühle‘ (783, 609, 444) und ihre unechte, vom Ehrgeiz überlagerte Sinnlichkeit (790). Libido und Voluntarismus bilden bei Clarisse eine Einheit: „Seit sie ihren Willen durchgesetzt hatte, waren alle ihre Gefühle in eine leichte Wollust getaucht“ (838).³⁷ Inwiefern ihr Eros auf andere emotionale Bereiche übergreift, zeigt auch ihre forcierte Forderung an Walter: „Wollust des Genies“ statt „Wollust […] des Geschlechts“ (921). Insofern verlangt Clarisse von ihrem künstlerisch sterilen Mann Genialität statt Genitalität.³⁸ Musil selbst charakterisiert das hysterische Syndrom in Tagebuch-Aufzeichnungen gemäß den Hysterie-Konzepten der Psychoanalyse durch nervöse Reizbarkeit, Labilität, Gefühlskälte, Exzentrizität, eine mitunter virtuose Theatralik und krampfartige Anfälle.³⁹ Gemäß Freuds Konzepten führt Musil das hysterische Syndrom auf eine Wiederkehr des Verdrängten zurück. Zugleich eröffnet er kulturkritische Dimensionen, indem er Krankheitsdiagnosen auch historisch kontextualisiert: „was 1913 zur Geisteskrankheit“ werde, nämlich „zirkuläres Irresein, Hysterie“, könne in früheren Jahrhunderten „eine bloße Exzentrizität gewesen sein. Gewisse Geisteskrankheiten“ sind laut Musil nicht nur „individuelle, sondern auch soziale Erscheinungen“: Das habe Freud hinsichtlich „der Hysterie […] wahrscheinlich gemacht“.⁴⁰ Diese Notiz ordnet Musil später der Clarisse-Figur zu (1734). Musil rekurriert damit auf Freuds und Breuers Studien über Hysterie (1895), nach denen die Therapie auf Aktualisierung und Abreagieren verdrängter Affekte zielt.⁴¹
37 Hier scheint Musil dem Wollust-Begriff von Klages zu folgen. Vgl. dazu seine Exzerpte zu Klages’ Buch Vom kosmogonischen Eros in: Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frisé. Zwei Bände. Reinbek b. Hamburg 1976. Bd. I, S. 615; Bd. II, S. 420 f. Vgl. hier auch Musils Notiz: „Wollust auf das Sexuelle beschränkt, ist eine Verengung. Wollust ist auch im Sieg, im Triumph, in der Grausamkeit“ (Bd. I, S. 615). 38 Zur Romanfigur Walter im Kontext von Wagnerismus-Kritik und Décadence-Analyse vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 107–158, 189–200. 39 In Heft 33 seiner Tagebücher (1937–1941) thematisiert Musil die „nervöse Reizbarkeit“ seiner Mutter, attestiert ihr „hysteroide Züge“ und bekennt: „Auch ich steigere mich nervös“ (Tagebücher, Bd. I, S. 935). Schon früher überlegt er, ob ihm selbst „eine Art männlicher Hysterie“ zukomme (Bd. I, S. 22). 40 Musil, Tagebücher, Bd. II, S. 978. In Musils Roman wird betont, dass „Nationalismus und Rassenideologie […] halb Europa in hysterische Gedanken verwickelten“ (312). Und in seinem Tagebuch erscheint der Krieg als „eines jener unterdrückten Erlebnisse, die sich als Hysterie rächen“ (Bd. I, S. 543). 41 Musil, Tagebücher, Bd. II, S. 29 f.
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Und das „Weib der Zukunft“ hält Musil für „nervös, labil, zu hysterischen Mechanismen geneigt“: „Eigentlich, horribile dictu, mein eigener Typ“.⁴² Ludwig Klages, den Musil 1909 kennenlernte und von dem er sich später zu seiner Romanfigur Meingast inspirieren ließ,⁴³ betont in seinem Werk Die Grundlagen der Charakterkunde die Labilität, Exaltiertheit und Suggestibilität der Hysteriker.⁴⁴ Zu deren Syndrom könne eine Vielzahl „an körperlichen Störungen“ gehören, aber auch spezifische Amnesien sowie Phänomene „einer inneren Spaltung“ oder einer „Entzweiung von Leib und Seele“, die bei hysterisch-asketischer Religiosität sogar „Orgien der Selbstzerfleischung“ implizieren können.⁴⁵ Klages schreibt: „Als Träger bildschwach gewordener Ichgefühle sind Willensmensch und Hysteriker“ als „effektkundige Regiekünstler“ mit dominantem Darstellungsdrang eng verwandt:⁴⁶ durch Tendenzen zu theatralischer Selbstinszenierung. Dabei bestimme die „Lust am Wollen das Ziel“, so dass oft gerade „diese Wüteriche der Willkür Hysteriker sind“.⁴⁷
2 Clarisses Hysterie-Syndrom und Androgynie-Ideal im diskursiven Kontext Charakteristika der Hysterie gemäß zeitgenössischen Diskursen (auch mit Bezug auf Freud und Klages) bilden sich in Musils Clarisse-Figur ab. Sie wird im Roman nicht zufällig auch mit der Klages-Figur Meingast korreliert. Aufgrund ihres maskulinen oder androgynen Selbstbildes zeigt sich Clarisse von Ulrichs Äußerung „Du bist noch immer mädchen- und heldenhaft zugleich …“ (49) sehr beeindruckt (49, 54, 435)⁴⁸ – ebenso wie von Meingasts Bemerkung „Du hast etwas Knabenhaftes“ (919).⁴⁹
42 Musil, Tagebücher, Bd. I, S. 684. 43 Musil legte 1923 Exzerpte zu Klages’ Buch Vom kosmogonischen Eros an: als Basis für das Konzept des „anderen Zustands“. Vgl. Musils Tagebücher, Bd. I, S. 615–623, 659–661; Bd. II, S. 419–436, 471. 44 Vgl. Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, S. 110–129, hier S. 117, 124, 120, 115. 45 Vgl. Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, S. 118, 123, 122. 46 Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, S. 115, 125, 127. 47 Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, S. 126. 48 Als Clarisse beim Besuch im Irrenhaus von zwei dementen Patienten als ‚Herr‘ tituliert wird (983 f., 987 f.), hält sie dies für ein „gutes Zeichen“ (984). 49 Dieses Prädikat weist in die Vergangenheit zurück, in der Clarisse von Meingast erotisch bedrängt wurde (439–441): „– Ich bin keine Frau! – rief Cl. aus u. sprang auf. (– Hast du nicht, wie ich 15 Jahre alt war, kleiner Bub zu mir gesagt?! –)“ (1538). Auch Ulrich empfindet Clarisse als knabenhaft (661).
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Kulturdiagnostische Relevanz erhält das Hysterie-Syndrom, wenn es auch als Charakteristikum des suggestiblen, substanzlosen, maskenhaft agierenden modernen Massenmenschen angesehen wird. Anton Delbrück prägte schon 1891 den Terminus ‚Pseudologia phantastica‘ und reflektierte die Tendenz der Hysteriker/ innen zu Täuschung und Selbstbetrug.⁵⁰ Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie, zwischen absichtlicher Irreführung und pathologischer Obsession, wie Ludwig Klages konstatiert: „Der typische Hysteriker ist unfähig, seiner Darstellungsneigung nicht zu folgen“; er ist weniger„ein Schauspieler als ein Maskenträger, dem die Maske ins Fleisch gewachsen“ ist.⁵¹ In diesem Sinne erklärt Klages, dass hysterische Personen dazu neigen, „Scheingefühle mit echten zu verwechseln“, und zugleich „Aufsehen erregen“ wollen, so dass etwa „eine Hysterika lügt, sie sei vergewaltigt worden“.⁵² Das könnte möglicherweise auch für Clarisses Vater-Trauma gelten. C.G. Jung bezeichnet die Hysterie in seinem Werk Psychologische Typen als „die weitaus häufigste Neurose des extravertierten Typus“, der „sich interessant zu machen“ suche und durch „krankhaft gesteigerte Phantasietätigkeit“ zur „Übertreibung“ und zur „hysterischen Lüge“ tendiere.⁵³ Jung betont auch Labilität und „Suggestibilität“ der hysterischen Persönlichkeit, die zudem „psychogen“ vielfältige Symptome anderer Krankheiten entwickeln könne.⁵⁴ Die für Hysteriker/innen charakteristische Tendenz zu Selbstinszenierung, artifizieller Pose und emotionaler Exaltation prägt sich auf symptomatische Weise in Musils Clarisse-Figur aus, deren pathologisches Verhalten sich bis zur Psychose steigert. Über die bereits genannten Hysterie-Charakteristika hinaus spiegelt Clarisses manische Fixierung auf eine große ‚Tat‘ zugleich allerdings den zeitgenössischen Aktivismus und die mit ihm verbundene Tat-Ideologie – unter dem Einfluss von Nietzsches Voluntarismus.⁵⁵ Hier eröffnen sich mithin zusätzliche kulturkriti-
50 Vgl. dazu Anton Delbrück: Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler. Eine Untersuchung über den allmählichen Übergang eines normalen psychologischen Vorgangs in ein pathologisches Symptom. Stuttgart 1891. 51 Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, S. 127. 52 Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, S. 128. 53 C.G. Jung: Psychologische Typen. 9., revidierte Aufl. Olten 1967. 13. Aufl. 1978, S. 364 f. 54 Jung, Psychologische Typen, S. 364. 55 Zu Nietzsches Ecce homo notiert Musil: „In die Augen springend die Parallele mit Alice. Wie sie als Karrikatur [sic!] wörtlich nach den persönlichen Erkenntnissen u. Rezepten Nietzsches lebt“ (Tagebücher, Bd. I, S. 251).Vgl. auch Bd. I, S. 88–95, 227–230, 251. Zum Thema „Clarisses Nietzsche-Kult im Kontext des Nietzscheanismus und des Diskurses über ‚Genie und Wahnsinn‘“ vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 159–188.
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sche Dimensionen. Schon Klages spielt hinsichtlich der Hysterie auf Nietzsche an, wenn er den Menschen „als Vollzieher des Willens zur Macht“ bezeichnet.⁵⁶ Da Musils Nietzscheanerin Clarisse in mehrfacher Hinsicht Tendenzen der Epoche verkörpert, avanciert sie im Roman zum aufschlussreichen Medium einer kritischen Kulturdiagnose. Denn diese Figur bildet nicht nur ein Konzentrat individueller Symptome, sondern repräsentiert zugleich auch problematische Zeittendenzen. Ihre eigene manisch-depressive Psychodynamik deutet Clarisse sogar selbst zeitdiagnostisch, wenn sie Walter fragt: „Glaubst du nicht, daß in der Welt Zeiten der Manie mit Zeiten der Depression wechseln? […]“ (1302). Insofern erhellt die psychologische Analyse pathologisch deformierter Triebstrukturen in Musils Roman Bedingungen von Ideologiebildung, und zwar im Dienst kritischer Kulturdiagnose. Bekanntlich fungierten Musils Jugendfreund Gustl Donath und dessen Verlobte Alice Charlemont (später Donath) als Modell für Ulrichs Jugendfreunde Walter und Clarisse. Dabei griff Musil wiederholt sogar en détail auf Alices Krankengeschichte zurück.⁵⁷ Wenn sich die anomische Libido der Clarisse-Figur mit ihrem „substanzlos flammenden Willen“ (62) und dem „geheimen Hohlraum in ihrem Wesen“ (62) verbindet, scheint der tradierte Hysterie-Uterus-Mythos relevant zu sein. Clarisse selbst betont ein Sexual-Trauma, das sie durch das inzestuöse Begehren ihres Vaters erlitten habe (294 f.).⁵⁸ Retrospektiv deutet Clarisse das Muttermal an ihrem Oberschenkel magisch als „Auge des Teufels“, das sie damals in der MissbrauchsEpisode gerade noch vor dem inzestuösen Akt bewahrt und ihren Vater dadurch „erlöst“ habe (294 f., 436 f.). Insofern entspricht die Vorgeschichte ihres hysterischen Syndroms durchaus der Kasuistik, die Freud und Breuer in den Studien über Hysterie (1895) entfalten. Denn sie führen hysterische Dissoziationen auch mit Fallbeispielen auf Traumata durch sexuelle Übergriffe während der Pubertät zurück.⁵⁹ Bereits im Vortrag Über
56 Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, S. 123, 126. 57 Die Analogien zwischen Alice Donath und Musils Clarisse-Figur betont Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 449–466. Markante Affinitäten zu Interessen, Symptomen und Wahnideen von Alice Donath zeigt Musils Clarisse-Figur durch Nietzsche-Lektüre (S. 462), Klavierspiel (S. 463), erotische Triebhaftigkeit (S. 451), manisch-depressive Tendenzen (S. 454), Hermaphrodit-Ideen hinsichtlich eines Griechen (S. 452), Christus-Phantasien, die Imago eigener Teufelsbesessenheit (S. 454), heterogene Selbstbilder als weiße Teufelin und blutrote Madonna (S. 453), Gewissensbisse und Bußwahn (S. 464). – Schockiert entdeckte Musils Jugendfreund Gustl Donath später, wie sehr die Krankengeschichte seiner Frau in Musils Roman eingegangen war (vgl. S. 465 f.). 58 Zum Inzest-Motiv als Topos der Décadence-Literatur vgl. Rank, Das Inzest-Motiv, S. 604–622. 59 Josef Breuer/Sigmund Freud: Studien über Hysterie [1895]. Einleitung von Stavros Mentzos. Frankfurt a. M. 1991, S. 148–153. Freud beschreibt detailliert die Hysterie einer Patientin, die als
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den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (1893) konstatiert Freud, dass „jede Hysterie als traumatische Hysterie aufgefaßt werden kann im Sinne des psychischen Traumas“; zudem hält er es für „wahrscheinlich, daß es sich bei jeder Hysterie um ein Rudiment der sogenannten double conscience, des doppelten Bewußtseins handele und daß die Neigung zu dieser Dissoziation“, mithin zum „Auftreten abnormer Bewußtseinszustände, die wir als ‚hypnoide‘ bezeichnen wollen, das Grundphänomen der Hysterie sei“.⁶⁰ Und in seiner Schrift Zur Ätiologie der Hysterie erklärt Freud, „daß sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmäßig auf einen psychischen Konflikt zurückführen läßt, indem eine unverträgliche Vorstellung die Abwehr des Ichs“ hervorruft; und er konstatiert: „Die hysterischen Symptome sind Abkömmlinge unbewußt wirkender Erinnerungen“.⁶¹ In mehrfacher Hinsicht hat Musil also Aspekte von Freuds Hysterie-Konzept für die Gestaltung seiner Clarisse-Figur adaptiert. Übrigens ist eine Anspielung auf den psychoanalytischen Hysterie-Diskurs überraschenderweise sogar in einer Roman-Szenerie präsent. Denn Musil hat einen expliziten Hinweis auf Freuds Hysterie-Theorie in einen nachgelassenen Romanentwurf eingefügt. Hier avanciert Freud zum Gedankeninhalt der an „Neurasthenie“ (1732) erkrankten Clarisse, die im Sanatorium (vermutlich mit apologetischer Absicht) notiert: „Gewisse Krankheitsbilder sind nicht persönliche, sondern auch soziale Erscheinungen – diesen Satz unterstrich sie. In Klammern warf sie einige Worte dazu: ,(Hysterie. Freud. Rausch […])“ (1734). Zuvor hat Clarisse beim Besuch eines Irrenhauses auch den „Saal der hysterischen Frauen“, ihrer„Schwestern“, betreten (1692): Auch hier ist der Bezug zu ihrem eigenen Hysterie-Syndrom evident. Außer den (erlebten oder phantasierten) erotischen Traumata wirkt offenbar die genetische Disposition zu einer übermächtigen Libido in Clarisses Syndrom hinein: „Die Sinnlichkeit ging in ihrer Familie um, wie der Wein unter Weinbauern. Es war ein Schicksal. Sie trug schwere Last“ (437). In diesem Sinne erscheint Clarisses Familie als ein durch Triebanarchie unterminiertes Sozialgefüge: Denn ihr Vater vollzog nicht nur beinahe den Inzest mit seiner damals erst 15-jährigen Tochter (294 f.), sondern war auch der Geliebte ihrer Freundin Lucy (292 f.). Zudem zeigten sich Clarisse und ihre Schwester Marion
Jugendliche von ihrem Vater sexuell belästigt wurde. Musil erwähnt die Studien über Hysterie (Musil, Tagebücher, Bd. II, S. 29, 978). 60 Sigmund Freud: [Vortrag] Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (1893). In: ders.: Studienausgabe Bd. VI, S. 9–24, hier S. 20, 24. 61 Sigmund Freud: Zur Ätiologie der Hysterie (1896). In: ders., Studienausgabe Bd. VI, S. 51–81, hier S. 71, 72.
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empfänglich für pädophile Übergriffe des Meingast-Schülers Georg (438 f.).⁶² Zu berücksichtigen ist aber, dass diese erotischen Episoden (292–295, 437–439) der Figurenperspektive von Clarisse entstammen. Ihr im Wagnerrausch (713) gezeugter Bruder Siegmund, der nicht zufällig den Namen von Wagners berühmtem Opernhelden trägt, erscheint als notorischer Ehebrecher (926). Später sucht Clarisse ihre voreheliche Erotik mit Walter (441 f., 831 f.) durch die Autosuggestion zu rechtfertigen, sie beide seien auserwählt zur Inkarnation einer großen unfleischlichen, überpersönlichen Aufgabe (442, 832). Auf psychologisch plausible Weise zeigt Musils Roman, dass familiäre Prädispositionen in Clarisses Sexualtrauma hineinzuwirken scheinen und bei ihr Hysterie-Symptome, kompensatorische Phantasien, Sublimierungswünsche und Erlösungssehnsucht auslösen. In einer grotesken Überkompensation der eigenen Erlösungsbedürftigkeit⁶³ stilisiert sich Clarisse sogar selbst zur Erlöserin (295, 660, 713) oder phantasiert sich als gebärende Muttergottes: „Es ging jetzt etwas in ihrem Körper vor. Die Brüste füllten sich, durch die Adern an Armen und Beinen rollte ein dickerer Blutstrom, sie spürte ein unbestimmtes Drängen gegen Blase und Darm. Ihr schmaler Körper wurde nach innen tief, empfindlich, lebendig, fremd, eins nach dem andern“ (436). Gemäß Clarisses Phantasievorstellung lag nach dem Geburtsakt „ein Kind […] licht und lächelnd in ihrem Arm; von ihren Schultern strahlte das Goldkleid der Gottesmutter zu Boden, und die Gemeinde sang. Es war außer ihr, der Herr war der Welt geboren!“ (436). Diese hybride Vision zielt auf In-karnation, die den „geheimen Hohlraum in ihrem Wesen“ ausfüllt (62) und insofern dem alten Hysterie-Mythos zu folgen scheint. Später steigern sich Clarisses Exaltationen beim Zeitunglesen mit ausgebreiteten Armen sogar bis zur Christus-Imitatio: „plötzlich fühle ich hartes Holz, bin ans Kreuz genagelt“ (712). Wenn sich Clarisse einerseits als Gottesmutter und andererseits als Crucifixa imaginiert, wird zugleich ihre instabile Geschlechtsidentität evident. Sie hängt mit ihrer durch das (faktische oder imaginäre) Vater-Trauma bedingten Sexualproblematik zusammen und trägt zu ihrer Ehekrise wesentlich bei. In nachgelassenen Romanentwürfen hebt Musil sogar eine variable Komplementarität möglicher Geschlechterbeziehungen hervor: „Die Frau hat weibl. Emp-
62 Musils Rückgriffe auf die Biographie seiner Jugendfreunde Gustl und Alice erläutert Corino, Robert Musil; vgl. hier das Kapitel „Szenen einer Tragikomödie. Gustl, Alice und ihr Seelenführer Ludwig Klages“ (S. 291–307). Zu Clarisses Vorgeschichte vgl. Ruth Hassler-Rütti: Wirklichkeit und Wahn in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Bern u. a. 1990, S. 177–189. 63 Vgl. auch Clarisses Idee, „Walter und sie hätten die Sünden des noch unverwandelten Meingast auf sich nehmen müssen“, um ihm „den Aufstieg zu ermöglichen“ (789): die Verwandlung vom „oberflächlichen Lebemann“ zum „Propheten“ (789) und „berühmten Denker“ (441).
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findungen für den überlegenen Mann, männliche für den unterlegenen[.] Es entsteht also etwas Hermaphroditisches, ein seelisches Verschlungensein zu dritt“ (1540). Im Hinblick darauf erscheint es konsequent, dass Clarisse im Roman mehrfach mit dem Androgynie-Motiv korreliert wird. So behauptet sie emphatisch: „ich bin der Hermaphrodit!“ (1538). Psychologisch plausibel im Sinne einer variablen Geschlechterkonstellation wirken auch konkrete Verhaltensweisen in eroticis, die Clarisse im Umgang mit Walter und Ulrich mitunter geradezu demonstrativ inszeniert. Denn dabei erscheint die Ehe der schmalen, knabenhaften Clarisse mit dem eher feminin-weichlichen Walter als Inversion der traditionellen Geschlechterpolarität. Sie selbst erklärt nämlich: „Ich habe den Charakter und die Pflichten eines Mannes erworben! Ich habe im Umgang mit Walter männliche Empfindungen erlernt!…“ (922). Im Sinne der variablen Komplementarität von Geschlechterkonstellationen (1540) erscheint es psychologisch konsequent, dass die auf knabenhafte Weise maskuline Clarisse zwar dem passiven, künstlerisch sterilen Walter, der eher feminin wirkt (64, 116, 217), ein gemeinsames Kind verweigert (53, 368, 436, 609, 615), den ausgesprochen maskulinen Ulrich⁶⁴ jedoch massiv mit ihrer eigenen femininen Seite und mit ihrem Kinderwunsch konfrontiert (660 f.). In Clarisses erotischer Attacke auf Ulrich kehrt auch das zuvor bereits symptomatische Madonna-Motiv (436, 444) wieder: Sie rückt ihm „auf den Leib“ und stammelt „von ihrer Kraft zu erlösen“ und dass sie von ihm „den Erlöser der Welt empfangen werde“ (660). So könnte man spekulieren, ob es gewissermaßen Clarisses psychische Virilität ist, die ihre physische Mutterschaft verhindert. In diesem Sinne inszeniert der Roman eine singuläre psychosomatische Kausalität. Im Gespräch mit dem (nach Ludwig Klages modellierten) Meingast-Prototyp Ld., mit dem sie sich ebenfalls ein Kind vorstellen kann, behauptet Clarisse: „Ich bin kein Weib Ld!, ich bin der Hermaphrodit!“ (1538). Hier entsteht der Eindruck, dass sie ihren Mangel an Weiblichkeit⁶⁵ zu kompensieren sucht, indem sie ihr Selbstbild vermännlicht. Denn ihr Geständnis „Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes vergangen“ (921) wird hier auf symptomatische Weise mit männlicher Sexualpraxis
64 Vgl. dazu die auktoriale Wertung: „Er hielt sich mit Recht für einen männlich empfindenden Mann“ (938). Die Bedeutung der variablen sexuellen Komplementarität für Clarisses Kinderwunsch bzw. Schwangerschaftsverweigerung entgeht Pekar, der Clarisses Wunsch nach einem Kind von Ulrich für „um so überraschender“ hält, „wenn man bedenkt, daß sie Walters Kinderwunsch abschlägt“ (Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989 [Musil-Studien, Bd. 19], S. 251). 65 Ein latentes Defizienzgefühl bestimmt Clarisses Phantasie, sie sei „eine wunderbar schöne Frau […], deren Körper so süß und weich war wie Südwein und gar nicht widerspenstig“ (146 f.). Zuvor wird betont: „Clarissens kleiner, nervöser Leib war nicht mütterlich“ (53).
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assoziiert, die Clarisse aber für sich selbst reklamiert. Denn sie verkündet mit unmissverständlicher Drastik: „Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes ‚vergangen‘; ich stoße! ich durchdringe ihn!“ (1539). Maskulin erscheint auch Clarisses bizarrer Annäherungsversuch, als ihre Hand Meingasts „Arm in der Art umklammerte und an ihm hinanstieg, wie sich ein vielbeiniges Tier auf sein Weibchen schiebt“ (919). Zugleich deutet Clarisse die Frigidität, die Meingast bei ihr vermutet,⁶⁶ ganz positiv: „Wenn man nachgibt, ertrinkt alles in Geschlechtslust“; und sie fährt fort: „Ich erlaube der Lust der Männer nicht, sich von ihnen zu trennen und meine Lust zu werden“ (920). Die eigentliche Problematik attestiert sie der Gegenseite: „Es ist etwas mit der Lust der Männer nicht in Ordnung“ (920). Gemäß nachgelassenen Romanpartien forciert Clarisse ihr Androgynie-Ideal sogar bis zur Imago einer Metamorphose: „Ich habe die Kraft, mich in einen Hermaphroditen zu verwandeln“ (1538). In der hybriden Autosuggestion, allein durch Willensenergie zum Mann (1284) oder zum Hermaphroditen werden zu können, setzt sie imaginär die eigene Freiheit zur Überschreitung der Geschlechtergrenzen voraus. Und mit ihrem Androgynie-Anspruch „Ich bin in erster Linie Mann und Frau“ (1305) eskamotiert Clarisse nonchalant die Einschränkungen ihres Sexualempfindens durch libidinöse Erbanlage, Kindheitstraumata, neurotische Obsessionen, manisch-depressive Schübe und hysterische Symptome. Solche antagonistischen Reflexe, die im Roman als reaktive Kompensation oder als Sublimierung erscheinen, zeigen Clarisses labile Persönlichkeit, die sich auch in ihrer diffusen Geschlechtsidentität manifestiert und noch mit anderen pathologischen Symptomen einhergeht: Je stärker sie einem substanzlosen Aktivismus verfällt, desto mehr dominiert ihre maskuline Komponente. So versetzt sie Meingast „durch den wahrhaft seherischen Zuruf in Schrecken […], daß auch sie sich verwandeln u ein Mann sein könne“ (1284). In einer nachgelassenen Romanpassage begegnet Clarisse im Sanatorium einem homosexuellen Griechen, einem „willensschwachen und weiblich empfindenden Mann“ (1760), den sie umwirbt,⁶⁷ weil er als „der große Hermaphrodit“ die
66 Auf Meingasts Frage „Bist du überhaupt gegen Männer frigid?“ (920) antwortet Clarisse: „Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes vergangen“ (921). Betont wird, dass Clarisse „noch nie geliebt hatte“ (1763). 67 Auch dieser Brief signalisiert Clarisses Nietzscheanismus. Vgl. dazu Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 159–188. Implizit zitiert Clarisse aus Nietzsches Ecce homo, wenn sie als „Folge der Gesamterschöpfung die tiefste Schwäche des gastrischen Systems“ betont (1758) – vgl. Nietzsche: „Gesammterschöpfung, die tiefste Schwäche des gastrischen Systems“ (KSA 6, S. 265). Nietzsches Begriffe ‚décadent‘ und ‚morbid‘ (KSA 6, S. 266) übersetzt Clarisse mit ‚krank‘ (1758). Zu Affinitäten zwischen Alice Charlemont, nach der Musil seine Clarisse-Figur modellierte, und Nietzsches Ecce homo vgl. Musils Tagebücher, Bd. I, S. 251.
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Welt vom „unsagbaren Zwiespalt der Liebe erlösen“ werde (1759).⁶⁸ Welche Bedeutung Clarisse der Androgynie beimisst, zeigt sich daran, dass sie diesem Griechen suggeriert, er verfüge über ein singuläres Erlösungspotential: „Du bist der große Hermaphrodit – sagte sie – der weder die Frauen zu lieben vermag, noch die Männer! Und deshalb bist gerade du berufen, sie von der Erbsünde, die sie schwächt, zu erlösen!“ (1761). Dass die frigide Clarisse hier Androgynie mit Liebesunfähigkeit assoziiert, ist symptomatisch. Denn auch sie selbst betrachtet sich ja als Hermaphrodit (1538, 1759, 1762), wenn sie pathetisch erklärt: „Ich aber bin der große weibliche Herm-aphrodit. Dem kein Mann zu genügen vermochte. Einsam trage ich den Zwie-Spalt […]“ (1759). Nachdem sich Clarisse „schon in Gedichten als Hermaphrodit bezeichnet“ hatte, glaubt sie „nun zum erstenmal an ihrem Körper zwitterhafte Eigenschaften bemerken zu können“ (1762). Wie stark sich hier bereits ihre maskuline Komponente ausprägt, zeigt eine Szene, in der sich der Grieche vor ihrer erotischen Attacke⁶⁹ mit dem Geständnis zu retten versucht, er sei homosexuell. Symptomatisch ist Clarisses Replik, „daß er sie gerade deshalb lieben müsse“ (1760). Ihre Androgynie als „Doppelwesen“ (922), das zur Ich-Spaltung tendiert, lässt Dissoziation und Duplizität als Komponenten desselben Grundproblems erscheinen. Allerdings verweisen Clarisses Androgynie-Phantasien zugleich auf den Epochenkontext des Fin de siècle, in dem solche Einheitsutopien auch als typische Krisen-Symptome galten: Bis zum Autarkie-Kult reichten kompensatorische Selbststilisierungen in einer durch Orientierungslosigkeit und Isolation bestimmten Zeit. Und diese charakteristische Epochenstimmung spiegelt sich auch in der Literatur um 1900. Überdies sind die Androgynie-Konzepte im Fin de siècle⁷⁰ durch medizinische und sexualpsychologische Forschung maßgeblich beeinflusst. Übrigens konstatierte man schon im 19. Jahrhundert die bisexuelle Potenz aller Organismen einschließlich des Menschen: Außer physiologisch-anatomischen Merkmalen sind dabei die psychische Verfassung und das Sozialverhalten für die Geschlechtsbestimmung relevant.⁷¹ Indem der Mediziner Wilhelm Fließ eine 68 Schon früher reflektiert Clarisse über die Zwiespältigkeit der Liebe (144). 69 Clarisses erotische Attacke auf den Griechen (1759–1762) erscheint als Vergewaltigungsversuch gemäß einem anarchischen Eros. Sie selbst beruft sich dabei groteskerweise auf die angebliche Homosexualität Gottes, der die Gläubigen „vergewaltigt“ (1761). 70 Die Erfahrung der Einsamkeit um 1900, die Arthur Schnitzler im Drama Der einsame Weg (1903) gestaltete, motiviert zur Flucht in narzisstische Phantasien von androgyner Geschwisterlichkeit (vgl. dazu Musil, Trakl, Thomas Mann). Kritisch hinterfragt und historisch relativiert wurde die sexuelle Dichotomie in kulturhistorischen und philosophischen Schriften von Bachofen und Nietzsche, von Georg Simmel und Walter Benjamin. 71 Vgl. Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln/Wien 1986 (Literatur und Leben N.F., Bd. 30), S. 211.
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„dauernde Doppelgeschlechtlichkeit aller Organismen“ und die Bisexualität auch des Menschen behauptete, schloss er an „das neue biologische Weltbild“ an.⁷² Sigmund Freud, der in seiner Sexualtheorie auf Wilhelm Fließ rekurrierte, betonte biologische und soziologische Komponenten der Geschlechter-Dichotomie und beschrieb mit Bezug auf Fließ zudem Aspekte einer bisexuellen Veranlagung.⁷³ Die These vom psychischen Hermaphroditismus entwickelte der Sexualforscher Magnus Hirschfeld zur Konzeption fließender Übergänge weiter, durch die er die binäre Geschlechterordnung überwunden glaubte.⁷⁴ In seinem auflagenstarken Werk Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903) entwarf Otto Weininger mit ausgeprägter Tendenz zu Misogynie, Antisemitismus und Körperfeindlichkeit die Utopie eines reinen, sexuell enthaltsamen Mannes, der die Dichotomie der Geschlechter und die minderwertige weibliche Sexualität überwinde, durch Askese die bisexuelle Anlage zur idealen Androgynie sublimiere und dadurch Erlösung und Glück erlange.⁷⁵ In einer Selbstanzeige seines Buches bekannte sich Weininger zu den „Antifeministen“ und erklärte prononciert, er habe „dem weib-
72 Fließ attestierte vor allem Künstlern eine hermaphroditische Vollkommenheit (Wilhelm Fließ: Vom Leben und vom Tod. Biologische Vorträge. 2. Aufl. Jena 1914, S. 105, 73). Den Prioritätsanspruch, den Fließ auf das Konzept der Bisexualität erhob, erwähnt Freud, der im Forschungsüberblick aber auch Vorgänger nennt, u. a. Krafft-Ebing (vgl. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: ders., Studienausgabe Bd. V, S. 54 f.). 73 Freud erklärt: „Jede Einzelperson weist […] eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf“ – „im biologischen“ und „im soziologischen Sinne“ (Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 123). Er meint, die „Bisexualität“ sei „zum Verständnis der […] Sexualäußerungen von Mann und Weib“ wesentlich (S. 124). 74 Hirschfeld gab das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen heraus (1899–1923) und verfasste eine dreibändige Sexualpathologie (1917–1920). Bereits Schopenhauer vertritt die These, „daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade zulassen“ – bis zum „vollkommene[n] Hermaphroditismus“ als reproduktionsunfähiger Zwischenform (Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Fünf Bände. Darmstadt 1976–1982. Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 698 f.). 75 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien/Leipzig 1903. 10. Aufl. 1909. Mehrere Jahre vor Weininger entwarf schon Grabowsky eine auf Sublimierung basierende androgyne Utopie (vgl. Norbert Grabowsky: Die Zukunftsreligion und Zukunftswissenschaft auf Grundlage der Emanzipation des Mannes vom Weibe. Leipzig 1897); vgl. Aurnhammer, Androgynie, S. 213–217. Aurnhammer kritisiert zu Recht Weiningers „unpräzisen und inkonsistenten Gebrauch der Begriffe ‚männlich‘ und ‚weiblich‘“, seine „manische Sexualisierung allen menschlichen Verhaltens“, seine misogyne Charakterologie und seine Radikalisierung der Geschlechterdichotomie (S. 214 f.).
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lichen Einfluß im heutigen Kultur- und Geistesleben überall nachzuforschen und ihn zu bekämpfen gesucht“⁷⁶. Gewisse Affinitäten zu solchen spekulativen Phantasien und utopischen Projektionen lässt in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften der Sublimierungsanspruch der Clarisse-Figur vermuten, für die der homosexuelle Grieche „der große Hermaphrodit“ ist, der die Welt vom „unsagbaren Zwiespalt der Liebe erlösen“ werde (1759). Allerdings unterscheidet sich Clarisses Sehnsucht nach Erlösung durch Sublimierung von stärker libidinös akzentuierten Verhaltensweisen: So wird Clarisses ‚Tatkraft‘ „in der Lüsternheit […] wie später in der Verweigerung“ betont (832). Ihre libidinös bedingte antagonistische Psychodynamik mündet sowohl in Androgynie-Phantasien und hysterisch-theatralische Selbstinszenierung als auch in einen manisch-depressiven Erlebnisrhythmus (356). Hier zeigt Musils Roman gleichfalls deutliche Affinitäten zum psychopathologischen Syndrom von Alice Charlemont, der Verlobten von Musils Jugendfreund Gustl Donath, deren Krankheit damals als „manisch-depressives Irresein“ diagnostiziert wurde.⁷⁷ Im Falle von Musils Clarisse-Figur reichen Tendenzen zu mentaler Diffusion und Ich-Entgrenzung bis zur Imago psychophysischer Duplizität. Symptomatisch erscheint dabei das Bild der ‚Siamesischen Zwillinge‘: So glaubt sich Clarisse in manisch-exaltierten Phasen „mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden“ (659)⁷⁸ und meint, sie könne mühelos „außer sich in der Welt spazieren“ gehen, während sie sich in depressiven Perioden „wie eingekerkert“ fühlt und alles als „eng und traurig“ empfindet (356).⁷⁹ Intensiviert wird Clarisses Symptomatik noch durch ein katathymes Denken⁸⁰, das sich kausaler Logik entzieht und sich in der affektiv getönten AssoziationenFülle ungeordneter Impressionen verliert: „In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarisses Denken;
76 Zitiert nach Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und des Antisemitismus. Wien 1985, S. 42. Le Rider sah durch den ‚Fall‘ Weininger die Kulturkrise des Fin de siècle diagnostisch dokumentiert. 77 Vgl. dazu Corino, Robert Musil, S. 454. 78 Clarisse schildert Ulrich ihre manischen Zustände als synästhetische Erfahrungen, in denen die Grenze von Innenwelt und Außenwelt permeabel wird: „Ich habe Tage, wo ich aus mir herausschlüpfen kann. […] Es ist ein unerhört großartiger Zustand; alles geht ins Musikalische und Farbige und Rhythmische“ (659 f.). 79 Auch der geistesgestörte Frauenmörder Moosbrugger ist einem manisch-depressiven Erlebnisrhythmus unterworfen: „Nach den leichten Tagen und Wochen, wo Moosbrugger fast aus seiner Haut schlüpfen konnte, kamen immer wieder die langen Zeiten der Einkerkerung“ (397). 80 Exemplarisch genannt sei Clarisses eruptive Assoziation „Schlangen, Schlingen, schlüpfrig“ und „Leben“ beim Klavierspiel und beim faszinierten Nachdenken über Moosbrugger (146). Symptomatische Analogien bestimmen das katathyme Denken von Clarisse und Moosbrugger.
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[…] oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da, oft gar keiner“ (144). Musil rezipierte das Standardwerk Medizinische Psychologie von Ernst Kretschmer, der hinsichtlich bestimmter Formen assoziativen Denkens markante Korrespondenzen zwischen Onto- und Phylogenese betont, wenn er in „Traum“, „Völkerpsychologie“ und „Künstlerphantasie“ sowie „in Schizophrenie und Neurose“, „in Hysterie und Katatonie“ analoge „Grundmechanismen“ glaubt konstatieren zu können.⁸¹ Zu Clarisses pathologischem Extremismus gehört der erwähnte „Zwie-Spalt“ (1759) ihrer androgynen Phantasien ebenso wie ihre manisch-depressive Psychodynamik und ihre disparaten Selbstbilder: Expressiv inszeniert Musils Roman derartige Dispositionen, wenn sie sich im Spiegel „bald als weiße Teufelin, bald als blutrote Madonna“ wahrnimmt (1764)⁸² und wenn sie Ulrich Attribute eines Teufels oder Verbrechers sowie Qualitäten eines Gottes attestiert (357, 658). Zudem manifestiert sich Clarisses Extremismus in Eis- und Feuermetaphorik (352 f., 436, 785). Sofern Clarisse zu erotischen „Ausschweifungen“ (442) und zur „Lüsternheit“ (832) tendiert, aber auch frigide erscheint (920 f., 62, 1760, 1763), verkörpert sie in sexueller Hinsicht diesen inneren „Zwie-Spalt“ (1759), der durch ihren manisch-depressiven Erlebnisrhythmus noch verstärkt wird. Mehrfach geraten Eros und Wahn bei Clarisse in eine symptomatische Affinität, und zwar durch „Übertreibungen, worin sich die Liebe nicht vom Irrsinn unterscheidet“ (913): So leidet Walter daran, mit seiner Frau „im offenen Irrwahn der Liebe und persönlichen Gesetzlosigkeit zu treiben“ (611). In dieser Vorstellung libidinöser Anomie ist der anarchische Eros präsent, der Musils Roman in vielfältigen Konstellationen durchwirkt.⁸³ Clarisses Frigidität in der Ehe mit Walter und ihre Disposition zu einer übermächtigen Sinnlichkeit bestimmen als komplementäre Faktoren ihre Sexualproblematik. Sie prägt auch ihr kompensatorisches Selbstbild als Madonna, die den Erlöser gebiert (436, 444, 660) oder sogar selbst über Erlöserqualitäten verfügt (295, 660, 713). Doch führt Clarisses Ringen um Sublimierung nur zeitweilig zu psychischer Entlastung, wie Musils Erzählinstanz in einer nachgelassenen Romanpassage auktorial mit Nullfokalisierung pointiert: Diese frigide junge Frau, welche den Rausch des Geschlechts nicht kennen gelernt hatte, solange sie gesund war, empfing ihn wie eine Marter, die in ihrem Körper mit solcher Gewalt tobte, daß er nicht einen Augenblick stillhalten konnte und von fürchterlichstem Nervenhunger umhergetrieben wurde, während ihr Geist beglückt an dieser Gewalt feststellte, daß die
81 Kretschmer, Medizinische Psychologie, S. 3. 82 Selbstbilder als weiße Teufelin oder blutrote Madonna bestimmten schon die Wahnideen von Alice Donath, die Musil für die Clarisse-Figur übernahm. Vgl. Corino, Robert Musil, S. 453. 83 Vgl. dazu Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 201–314.
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grenzenlose Macht aller Geschlechtsbegierde, von der sie die Welt erlösen mußte, in sie gefahren sei. (1760)
In forcierter Form kommt hier die Überwältigung durch die Gewalt des Eros⁸⁴ zum Ausdruck, den die Ambivalenz-Erfahrung von Qual und Glück begleitet. Dabei erscheint Clarisses Erlösungssehnsucht als ein kompensatorischer Reflex, der ihrem pathologischen Leidensdruck entspringt. Indem sie ihre eigene Erlösungsbedürftigkeit jedoch im Selbstbild einer Erlöserin nach außen projiziert, vermag sie diese zugleich zur Selbstinszenierung zu nutzen. So wirkt die Sexualproblematik, die Clarisse zwischen Frigidität und Lüsternheit changieren lässt und sich mit einer hysterisch-histrionischen Theatralik verbindet, auch in ihre pseudo-heroische Selbststilisierung hinein. Dabei steigert sich Clarisse imaginär zur autarken Totalität eines Hermaphroditen. Solche eskapistischen Impulse gehören ebenso zum pathologischen Syndrom der Clarisse-Figur wie der durch einen manisch-depressiven Erlebnisrhythmus gesteigerte Extremismus ihrer Selbst- und Fremdbilder.
3 Gerdas hysterischer Anfall als ‚Lustselbstmord‘ Einige Symptome, die Clarisse als hysterisch-histrionische Persönlichkeit kennzeichnen, wiederholen sich in Musils Roman bei Gerda, der halb mädchenhaften, halb altjüngferlichen⁸⁵ Tochter des Bankdirektors Fischel. Eine wichtige Analogie zwischen der 25-jährigen Clarisse (49) und der 23-jährigen Gerda (206) betrifft den Zusammenhang von sexueller Frustration und nervösem Syndrom. Dabei schließt Clarisses „nervöse Feinfühligkeit“ (913) Charakteristika einer hysterischen Hypersensibilität mit ein, die auch zu Exaltiertheit und theatralischer Selbstinszenierung führen kann. Gerda, die als „nervös und blutarm“ erscheint (206), wird ebenfalls durch Symptome einer nervlichen Übererregbarkeit charakterisiert. Beide Frauen fallen durch exzentrische Tendenzen infolge fehlender Affekt-Balance auf. Zusätz-
84 Diesbezüglich adaptiert Musil ebenfalls die Krankengeschichte von Alice Donath: „Als Gustl nach Dresden kam, war Alice zum erstenmal in ihrer Ehe körperlich sinnlich. Unersättlich“ (Musil, Tagebücher, Bd. I, S. 227). Musil erwähnt auch Alices Verliebtheit „in einen im Sanatorium befindlichen Griechen“, der„homosexuell“ ist (S. 227), und übernimmt sie dann in die Romanentwürfe zu Clarisse (1759 f.). 85 Ulrich mochte Gerdas „Körper nicht, der halb schon schlaff und halb noch unreif war“ (622), und dachte an die „altjüngferliche Überhauchtheit ihres Wesens“ (563), die sich auch physisch manifestiert: „Ihr Körper war scharf, ihre Haut ermüdet und trüb“ (563). „Schlaffer Frühling, durchglüht von vorzeitiger Sommerstrenge“ (489) oder mit drastischer Pointierung: „die Farbe des Gesichts war ölig, so daß Gerda [….] beinahe wie eine Tote aussah“ (618).
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lich scheint die auffällig magere Gerda (309) an einer Anorexie-Problematik zu leiden. Offenkundig ist Gerda durch innerfamiliäre Konflikte belastet, die nicht nur durch die gemischtkonfessionelle Ehe der Eltern bedingt sind, sondern auch durch ideologische Inkompatibilitäten zwischen ihrem Vater, dem assimilierten Juden Leo Fischel, und ihrem deutschnational-antisemitisch gesonnenen Freundeskreis, der sich durch sektiererisch-forcierte, teils mystische, teils rassistische christ-germanische Parolen hervortut.⁸⁶ Zugleich sind Gerdas psychische Spannungen durch ihre nervenaufreibende Semi-Sexualität und Halb-Askese mit Hans Sepp bedingt. Obwohl Gerdas sexuelle Frustration sich von Clarisses pathologischem Syndrom unterscheidet, hat sie ähnliche Konsequenzen: Nervosität und hysterische Symptome. Der konkrete Bezug zur Libido wird evident, als der Mediziner Siegmund seinem Schwager Walter für Clarisse den therapeutischen Ratschlag gibt: „Nervöse Menschen brauchen eine gewisse Führung […]: zeig ihr, daß du ein Mann bist“ (929). Kurz zuvor rekurriert Siegmund sogar implizit auf Mephistos Plädoyer für die Medizin gemäß Goethes Faust I (V. 2024–2026), wenn er dieses Zitat mit seiner kaum verhüllten sexuellen Drastik aus dem Gedächtnis wiederzugeben sucht: „Der Weiber Weh und Ach ist immer von dem gleichen Punkt aus zu kurieren […]!“ (925). Musils Roman macht die individuellen psychischen Symptome von Clarisse und Gerda zugleich auf Aspekte einer Epochendiagnose hin transparent. Denn die Präferenz für das ‚Nervöse‘ gehört wesentlich zur ‚Nervenkunst‘ der Décadence.⁸⁷ So erklärt bereits Hermann Bahr: Das „höchste Gebot an jeden Einzelnen kann nicht anders lauten als dahin: bis in die Fingerspitzen nervös zu sein“⁸⁸. In seinem Essay Die Décadence hebt Bahr die „Romantik der Nerven“ hervor⁸⁹. Musil hingegen kultiviert im Anschluss an Nietzsche⁹⁰ bereits in frühen Tagebuch-Notizen den in-
86 Anderenorts habe ich Ideologiebildung in Musils Roman als kulturkritischen Hinweis auf ein „Zerfallsstadium des Idealismus“ analysiert: vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 354– 365. 87 Vgl. Michael Worbs: Nervenkunst: Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1988. 88 Hermann Bahr: Das transzendentale Korrelat der Weltanschauungen. In: Deutsche Worte 6 [1886], S. 322–331, hier S. 331. 89 Hermann Bahr: Die Décadence. In: ders.: Studien zur Kritik der Moderne. Frankfurt a. M. 1894, S. 19–26, hier S. 20. Zuerst erschien dieser Text in: Die Nation 8 (1890/91), S. 619–621. 90 In seiner Schrift Zur Genealogie der Moral propagiert Nietzsche ein radikales Experimentieren als Erkenntnismedium: „wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf“ (KSA 5, S. 357). Nietzsche empfiehlt den psychologisch ambitionierten Philosophen ein solches experimentelles Ethos: „Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und
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tellektuellen Gestus eines ‚vivisecteur‘,⁹¹ der eine (auch durch die Neue Sachlichkeit formierte) antiromantische Tendenz mit klinisch nüchterner Diagnostik verbindet. Eine solche Mentalität bestimmt im Roman auch die narrative Perspektive auf die Gerda-Episoden. Hervorgerufen wird Gerdas Nervosität von einem durch das Haus Fischel schwebenden „Hauch von unschuldiger Wollust“ (479), von „Übersinnlichkeit und Inbrunst“ und dem Komplementärgefühl von „Sinnlichkeit und Brunst“ (480). Für diese vibrierende Atmosphäre ist Gerdas deutschnationaler Freundeskreis verantwortlich, vor allem ihr „Seelenführer“ (313, 478), der Student Hans Sepp. Gerdas Begegnungen mit ihm gestalten sich als „ein un- und halbkörperliches Ineinanderverschlungensein“, das sie „vor Unbefriedigung am ganzen Leibe“ zittern lässt und ein starkes „Verlangen nach vollendeter Umarmung“ bei ihr auslöst (561). Hier besteht eine gewisse Analogie zu den „unendlich qualseligen Ausschweifungen“ (442), die Clarisse in den vorehelichen Eskapaden mit Walter erlebte – lange vor ihrer Frigidität in der Ehe mit ihm: Aus dem unerfüllten Sexualleben entspringt auch ihre Erlösungssehnsucht. Und im Hinblick auf Gerda meint Ulrich, „daß jeder andere wirkliche Mann […] als Erlösung auf sie wirken müßte“ (562). Da Gerda die „kindischen Zärtlichkeiten“ von Hans Sepp als nervenaufreibend empfindet (617), sucht sie mit „bis ans letzte“ (618) reichenden Absichten Ulrich auf, für den sie schon lange eine mutlos glühende Liebe hegt (551). Doch erscheint ihr Kontakt zu ihm „verwickelt“ (617) und von tiefreichenden Ambivalenzen geprägt: Denn Gerdas Grundkonflikt besteht in „den zwei einander widersprechenden Neigungen […], ein altes Fräulein zu werden und sich Ulrich hinzugeben“ (551), um ihre Virginität loszuwerden (310). Eine charakteristische Roman-Episode zeigt, wie diese Ambivalenz bei Gerda typische psychosomatische Symptome hervorruft, bis eine Szene mit Ulrich dann sogar in einem hysterischen Anfall kulminiert. Weitere Komplikationen entstehen dadurch, dass Gerdas Empfindungen für Ulrich „der Liebe zu einem Unwürdigen“ ähneln, „wo die beleidigte Seele von einem verächtlichen Hang nach körperlicher Unterwerfung geplagt wird“ (551). Diese quälende Neigung zu einer Devotheit mit masochistischer Komponente löst bei Gerda antagonistische Reflexe aus: Zwar flüchtet sie sich in spöttische Replik (492)
Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden: darin haben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall unser Raffinement, unsre Geschmacks-Verwöhnung“ (KSA 5, S. 335). 91 Musil, Tagebücher, Bd. I, S. 1–3. Zum Begriff der ‚Vivisektion‘ in Nietzsches Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral vgl. ebd. Bd. II, S. 4 f. In Stichworten zu den Aufzeichnungen eines Schriftstellers (1940/41) notiert Musil retrospektiv: „Dieser Spaltungsvorgang, die Selbstbeobachtung, wird etwas später besonders lebendig. Mr. le vivisecteur. Bei mir kam es überdies auch von der Zeitmode. À la Nietzsche: ein Psychologe. In summa kommt da etwas von außen. Die ‚Moderne‘ kam“ (GW II, S. 923).
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und demonstrative Verachtung (486), aber diese Reaktionen erscheinen bloß als hilflose Gegenwehr. Auf Ulrich wirkt Gerda jedenfalls „wie ein kleines Tier in Todesangst“ (492). Ihre forcierte Opposition verrät Furcht vor einer Nähe, die jeden inneren Widerstand aufheben könnte: „sie fürchtete mehr noch als Ulrichs Spott seine Zustimmung, die sie wehrlos ihm ausgeliefert haben würde“ (492). Und kurz zuvor heißt es: „Gerda spürte den Druck der Nähe des mächtigeren Manneskörpers, sie spürte ihn immer, gegen alle ihre Überzeugungen, wenn sie allein waren; sie lehnte sich dagegen auf und begann zu zittern“ (490 f.). Ihre psychischen Ambivalenzen im komplizierten Verhältnis zu Ulrich manifestieren sich auch physisch: „sie stieß diese Worte mit heftiger Verachtung aus, aber ihr Körper schwankte“ (486). Gerdas Changieren zwischen Hingabebereitschaft und altjüngferlicher Reserve steigert sich infolge ihrer Leib-Seele-Dichotomie (551, 618) bis zum Gefühl innerer Zerrissenheit. Zu den konkurrierenden psychischen Impulsen tragen auch Gerdas widersprüchliche Perspektiven auf Ulrich bei: „In ihrer Verwirrung mißtraute sie ihm und empfand mit Leidenschaft, daß er ein ihr im Heiligsten verwandter Mensch sei, der es bloß nicht zeigen wolle“ (494). In dieser komplexen innerpsychischen Konfliktsituation scheint ein konsequentes Handeln kaum möglich zu sein. Aber nicht allein in eroticis führen Gerdas Ambivalenzen und ihre Tendenz zu substanzloser Opposition ohne klaren eigenen Standpunkt zu divergierenden Handlungsimpulsen. Das erkennt Ulrich, der ihr zu bedenken gibt: „Irgendein Ziel muß man haben; Sie können nicht auf die Dauer von dem Gegensatz zu Ihren Eltern leben“ (493). Da sich Gerdas Protesthaltung allerdings bereits in bloßer Negativität erschöpft, bleibt sie innerlich orientierungslos und ohne eindeutige Position. So resultiert aus ihrer psychischen Diffusion sowohl ihre Anfälligkeit für ideologische Vereinnahmung durch den deutschnationalen Kreis um Hans Sepp als auch für eine sexuelle Verführung durch Ulrich, dem sie zunächst als willenlose Beute zuzufallen scheint (618, 620). Mit dem Entschluss, sich Ulrich auszuliefern, setzt sich Gerda in einem rigorosen Kraftakt über ihre Ambivalenzen, Ängste und berechtigten⁹² Bedenken hinweg. Dass sie den Konsequenzen dieser Entscheidung jedoch nicht gewachsen ist, zeigt anschließend ihr hysterischer Anfall, der ihre Konfliktsituation dramatisch zuspitzt und den geplanten Koitus mit Ulrich verhindert. In dieser Exaltation entladen sich Gerdas emotionale Spannungen. Zugleich entfesselt der hysterische Anfall anarchische Tendenzen, die Ulrich sogar potentiell Gewalttätigkeit nahelegen. Das Risiko problematischer Exzesse antizipiert bereits eine frühere Begegnung
92 Gerdas Einsicht „Er liebt mich nicht!“ (617) trifft ebenso zu wie ihr Gefühl, „daß der Mann, dem sie alles hingebe, sie nicht ernst genug nehme“ (620). Denn Ulrich „nahm Gerda nicht ernst“ (493) und empfand im Hinblick auf sie Gleichgültigkeit oder sogar Abneigung (489).
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mit Gerda; denn hier bietet interne Fokalisierung Einblick in Ulrichs Ambivalenzen: „Er wollte wirklich alles das nicht. Er fühlte die Unentschlossenheit dieser Seele und verachtete sich, weil sie in ihm Grausamkeit erregte“ (495). In der späteren Episode dominieren bei Ulrich und bei Gerda Ambivalenzen,⁹³ bis sich Ulrichs Wut über das „gewaltsame Du“ (618) der zitternden Gerda, die ihre Angst und Unsicherheit krampfhaft zu überspielen sucht, bis zur „Grausamkeit des Verführers“ potenziert, „der sich unwiderstehlich von der Unentschlossenheit einer Seele angezogen fühlt, die von ihrem eigenen Körper mitgeschleift wird wie ein Gefangener in den Armen seiner Häscher“ (618). In der Verführungsszene muss Ulrich bei seinen Küssen „einen leichten Widerwillen überwinden“ (618) und empfindet alles als „außerordentlich unangenehm“ (620). Selbst in schon entkleidetem Zustand fühlt er sich „erschreckt statt hingezogen“, ja von Gerdas Körper geradezu abgestoßen (622). Frappierend erscheint das große Spektrum von Gerdas Verhaltensweisen: Erst erscheint sie wie bewusstlos, einer „wachen Ohnmacht“ anheimgefallen (618), dann rafft sie sich zu „frischer Entschiedenheit“ auf (619) und setzt Ulrich „zarten Widerstand“ entgegen (620), bis die Szene im hysterischen Anfall endet. Ulrichs nonverbales Signal, „daß jeder weitere Widerstand vergeblich sei“, kommt nur scheinbar „ohne Gewalt“ aus (620). Denn sein schlanker, mächtiger Körper repräsentiert ein „Gleichgewicht von Gewalttätigkeit und Schönheit“ (621) und vermittelt Gerda, die sich in ihrer heterogenen Gefühlsmelange „jämmerlich“, „bestürzend häßlich und erbärmlich“, leer, erregt und „eiskalt“ fühlt (621),⁹⁴ den Eindruck unentrinnbarer Notwendigkeit: „Es muß sein!“ (621). Konsequenterweise kulminiert die Szene dann in Ulrichs Verführer-„Grausamkeit“ und in der psychischen Selbstvergewaltigung Gerdas, die als Gegenreflex dann ihren hysterischen Anfall auslöst. Dabei hat Ulrich spontan den Eindruck, es handle sich um „eine halb verrückte, an ein Gemetzel, einen Lustmord, oder wenn es das geben kann, einen Lustselbstmord erinnernde Ergriffenheit von den Dämonen der Leere, die hinter allen Bildern des Lebens zuhause sind“ (622).
93 Signifikant ist Ulrichs Geständnis: „Ich bin immer schwankend gewesen“ (486). Trotz seiner „Abneigung“ (489, 493) gegen Gerda hat Ulrich den Wunsch, „sich ihr anzuvertrauen“ (493), und versucht „sie in seine Arme zu schließen, obgleich er fühlte, daß es ihn Überwindung koste“ (491). Trotz inneren Widerstrebens lädt er sie zu sich ein, lächelnd, aber dabei sich selber „im höchsten Grade widerwärtig“ und mit der „Leere der männlichen Rücksichtslosigkeit“ im Blick (495). 94 In Musils Roman gelten Eis- und Feuermetaphern nicht nur Clarisse, sondern auch Gerda: „eiskalt“ (621), „flammend“ (494), „Feuer“ (495). Und Gerdas „Leere“ (621) korrespondiert mit dem „geheimen Hohlraum“ in Clarisses Wesen (62), dem „geheimen leeren Raum“ in ihr (63). Wenn Gerda „wie ein Knabe ins Bett“ schlüpft (621), erinnert sie an Clarisses spröde Knabenhaftigkeit. Ein Mangel an weiblichen Reizen ist beiden gemeinsam. Ulrich sieht in Bonadea und Gerda den „Gegensatz des Üppigen und des Kargen“ (1014).
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Mit dieser Assoziation von Lustmord und Verrücktheit stellt Ulrich implizit eine motivische Affinität zum geisteskranken Frauenmörder Moosbrugger her, von dem Clarisse so fasziniert ist, dass sie ihre Frigidität und sexuelle Abstinenz in der Ehe mit Walter auf bizarre Weise sogar mit Lustmord-Metaphorik zu rechtfertigen sucht: „ich wäre ein Lustmörder, wenn ich ihn gewähren ließe!“ (921).⁹⁵ Zugleich werden die psychopathologischen Dimensionen von Eros und Gewalt in Musils Roman erneut auch auf Aspekte von Kulturdiagnose hin transparent. Denn die Interaktion zwischen Ulrich und Gerda scheint von der ‚Grausamkeitswollust‘ bestimmt zu sein, die Theodor Lipps bereits 1904 in seinem Essay Zur Psychologie der Décadence reflektiert.⁹⁶ Zuvor proklamierte bereits Hermann Bahr in seinem für das Junge Wien bedeutsamen Roman Die gute Schule (1889/90): „Die neue Liebe muß ungeheuer sein, gewaltsam, roh, jäh, furchtbar, maßlos“.⁹⁷ Als Höhepunkt der erotischen Begegnung zwischen Ulrich und Gerda gestaltet Musils Roman einen gleichsam pervertierten Orgasmus, und zwar durch Gerdas hysterischen Anfall, der ihre psychische Selbstvergewaltigung abrupt beendet. Auf idealtypische Weise entspricht Gerdas Anfall der Auffassung, die Freud in seiner Schrift Allgemeines über den hysterischen Anfall (1909) geradezu definitorisch pointiert: „Der hysterische Krampfanfall ist ein Koitusäquivalent.“⁹⁸ Bereits in seiner frühen Schrift Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität (1908) erläutert Freud diese psychosomatische Symptomatik in aufschlussreicher Weise: „Das hysterische Symptom entsteht als Kompromiß aus zwei gegensätzlichen Affekt- oder Triebregungen, von denen die eine einen Partialtrieb oder eine Komponente der Sexualkonstitution zum Ausdrucke zu bringen, die andere dieselbe zu unterdrücken bemüht ist.“⁹⁹ Gerdas extreme Willensanspannung bei ihrem Versuch, die „schmähliche Angst“ zu unterdrücken, löst ein Gefühl aus, „als sollte sie hingerichtet werden“
95 Sexualität und Verbrechen werden motivisch auch korreliert, wenn Ulrich in der erotischen Begegnung mit Gerda darüber nachdenkt, „wie sehr das leidenschaftliche Eindringen in einen fremden Körper eine Fortsetzung der kindischen Neigung für heimliche und verbrecherische Verstecke ist“ (622). 96 Theodor Lipps: Zur Psychologie der Décadence. In: Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur 2 (1903), S. 397–422, hier S. 416. 97 Hermann Bahr: Die gute Schule. Seelenstände [sic!]. Mit einem Nachwort von Günter Helmes. Berlin 1997, S. 116. 98 Sigmund Freud: Allgemeines über den hysterischen Anfall (1909). In: ders., Studienausgabe Bd. VI, S. 197–203, hier S. 203. 99 Sigmund Freud: Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität (1908). In: ders., Studienausgabe Bd. VI, S. 187–195, hier S. 193.
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(622).¹⁰⁰ Diese Angst führt zur Revolte ihres Körpers und mündet sogar in ein bizarres Erlebnis passagerer Spaltung. Dabei erlebt Gerda ihren hysterischen Schreikrampf als „Empörung ihres Körpers gegen sie selbst“, der sie willenlos ausgeliefert ist. Zugleich aber hat sie „ganz und gar das Gefühl von Theater dabei“ (623). Hier liegen auch Assoziationen an Konzepte des Hysterie-Spezialisten Charcot nahe,¹⁰¹ der Freud zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere nachhaltig beeinflusste¹⁰² – noch bevor dieser dann die Psychoanalyse als neue Forschungsrichtung begründete. In Musils Roman impliziert der ambivalente Spannungszustand, in dem sich Gerda während der erotischen Begegnung mit Ulrich zugleich als Akteurin und Zuschauerin empfindet (623), eine hysterische Theatralik. Dabei evoziert die Situation extreme Affekte auf beiden Seiten: Ulrich erlebt „voll Grauen“ Gerdas Exaltation, in der sich „Wunsch und Verbot, Seele und Seelenlosigkeit“ verschränken, diagnostiziert sofort, „daß er einen hysterischen Anfall vor sich habe“, und erwägt reflexartig „ein heftiges Anbrüllen“ (623), einen plötzlichen Schlag, ja sogar Vergewaltigung als potentielle Gegenmaßnahmen.¹⁰³ – Allerdings bleiben seine inneren Ambivalenzen in dieser Situation unauffällig: Denn Ulrich versucht Gerda stattdessen flüsternd zu beschwichtigen, muss sich dabei aber „gegen die Versuchung wehren“, einfach mit einem „Arm voll Polster […] diesen Mund zu ersticken“ (623),
100 Hier prolongiert sich das Lustmord-Motiv aus Ulrichs Reflexion. Vgl. auch die Formulierung: „wie in tödlicher Wollust“ (622). 101 Jean-Martin Charcot als medizinischer Pionier in der Geschichte der Neurologie und Psychiatrie führte die Photographie als Methode klinischer Dokumentation ein, die auch als Medium der Didaktik diente. Vgl. Wanda Bannour: Jean-Martin Charcot et l’hystérie. Paris 1992; Jean Thuillier: Monsieur Charcot de la Salpêtrière. Paris 1993; Helmut Siefert: Jean-Martin Charcot. In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann. München 1995, S. 93 f. – Charcot unterschied vier idealtypische Phasen des hysterischen Anfalls, die er im Hörsaal von Patientinnen vorführen und mit Serienbelichtungskameras festhalten ließ. Dass er seine (angeblich auch theatralisch-manipulativ agierenden) Patientinnen regelrecht abrichtete, um seine Theorie der Hysterie bestätigen zu lassen, behauptet Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München 1997 (frz. Orig. 1982). 102 Freud studierte ab Sommer 1885 die Hypnose-Forschung bei Charcot an der Salpêtrière und übersetzte auch zwei seiner Bücher. 103 Gemäß Musils Romanentwürfen versucht der sexuell frustrierte Walter in einem Kampf „geschlechtlichen Ursprung[s]“, Clarisses „Willen zu brechen“ (1493), und vergewaltigt sie – mit einer „Brutalität“, die er für „sein Recht als Gatte“ hält (1494). Wie Gerda (622 f.) schreit beim erotischen Übergriff auch Clarisse (1494). Während Ulrich daraufhin von Gerda ablässt, verschärft Walter „zornig seine Bemühungen“ (1494). Entfremdete Körpererfahrung erleben beide Frauen. Gerdas Verteidigungsstellung, in der sie Ulrich „mit den Nägeln“ bedroht (623), ist parallel zu der Szene konstruiert, in der Walter seine Frau Clarisse erstmals für wahnsinnig hält: Sie „spreizte die Nägel ihrer zehn Finger wie ein Vogel gegen sein Gesicht“ (614).
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also die „Lustmord“-Phantasie selbst in eine verbrecherische Tat zu überführen. In Ulrichs spontanem Impuls zu Vergewaltigung und Mord manifestiert sich ein anarchischer Eros, der zugleich erneut Assoziationen an den Frauenmörder Moosbrugger nahelegt. Während sich Ulrichs spontaner Gedanke an einen „Lustselbstmord“ (622) in dieser Szene momenthaft zur veritablen Mordphantasie auswächst, repräsentiert Gerda den Komplementärfaktor dazu: Als ihr hysterischer Anfall, der als eine rein physische, willenlose, von ihrem Bewusstsein nicht beaufsichtigte Exaltation erscheint, endlich abklingt, fühlt sie sich „tief unglücklich und beschämt“ (624). Außerdem glaubt sie, Ulrich habe sie „krank gemacht“, und möchte am liebsten „nicht mehr da“ sein (624). In gewisser Weise scheint sich Gerdas suizidale Anwandlung mit Ulrichs Mordphantasie also zum Gesamtkomplex „Lustselbstmord“ zu verbinden (622). Und dieser wirkt in Musils Roman beinahe wie ein arbeitsteiliges Gemeinschaftsprojekt.
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Oliver Pfohlmann
Wagen und Landschaft. Gestaltpsychologisches und (quasi‐) psychoanalytisches Wissen in Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Abstract: Dass der Törleß in der literaturkritischen Rezeption als ‚psychologischer Roman‘ erschien, hielt Musil für ein ‚Missverständnis‘; psychologisches Wissen sollte ihm nur als Mittel für seine literarischen Intentionen dienen. Der Aufsatz untersucht, auf welche Weise in Musils Debütroman (gestalt‐)psychologisches und (quasi‐)psychoanalytisches Wissen ineinandergreifen. Dabei zeigt sich, dass die Verquickung von sexuellem und epistemologischem Begehren zu einem sich selbst dekonstruierenden Text führte, einem Vexierbild in Gestalt eines Romans.
1 Das „Mißverständnis“: Musils Törleß als „psychologischer Roman“ Im April 1907 hatte Harry Graf Kessler für seinen Freund Hugo von Hofmannsthal einen Literaturtipp. Aus Weimar schrieb Kessler, von dem man guten Gewissens sagen kann, dass er in Sachen moderner und avantgardistischer Kunst das Gras wachsen hörte: Auch Musils Verwirrungen habe ich inzwischen gelesen. Ein ganz ungewöhnliches Buch; nicht des Sujets wegen, das ja heute fast Mode ist, sondern wegen der Behandlung der Psychologie. Wie die Motive aus dem Unbewußten herauskommen, sich verschlingen, aneinander vorbeiwachsen, bis die That entsteht, ist ganz und gar merkwürdig und, ich glaube, bisher einzig.¹
Dem Autor des so angepriesenen Romans blieb dieses Lob zeitlebens unbekannt. Doch hätte Robert Musil davon erfahren, wäre es für ihn eine weitere Bestätigung Anmerkung: Der Beitrag kombiniert zu einem großen Teil in veränderter Form Passagen aus Oliver Pfohlmann: Kommentar. In: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Text und Kommentar. Berlin 2013, S. 222–252, sowie ders.: ‚Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‘? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003, S. 67 f. u. S. 220 f. 1 Brief vom 3. April 1907, in: Hugo von Hofmannsthal/Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898–1929. Frankfurt a. M. 1968, S. 155. https://doi.org/10.1515/9783110988352-012
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einer Befürchtung gewesen, die ihn schon vor Erscheinen seines Debütromans umtrieb, wie ein Brief vom 22. März 1905 an seine damalige Gönnerin Stefanie Tyrka belegt:² dass man seinen Romanerstling Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) für einen ‚psychologischen Roman‘ halten könnte. Mit Blick auf die literaturkritische Rezeption des Romans, die mit Alfred Kerrs Lobeshymne vom 21. Dezember 1906 im Berliner Tag begann, erwies sich diese Befürchtung durchaus als berechtigt, und zwar im Guten wie im Schlechten. Mal wurde der Törleß für seine literarische Psychologie gelobt und mal für eben diese verrissen. In den Sozialistischen Monatsheften zum Beispiel rühmte Hermann Rehlander den Autor als einen „geschulte[n] Seelenforscher, der sich aus den Büchern der Irrenärzte und der Philosophen über die Verschlingungen des ungelenken Geschlechtslebens aufgeklärt hat“³. Die Frankfurter Zeitung rühmte die „Schärfe und Eindringlichkeit seiner [d.i. Musils] psychologischen Sezierarbeit“⁴. Und für Franz Servaes in Das literarische Echo war der Törleß „im Grunde gar kein Roman, sondern ein mit tiefdringender psychologischer Analyse geführtes Bekenntnisbuch“.⁵ Im Gegensatz dazu war für konservative Kritiker gerade der psychologische Anteil am Roman ein Ablehnungsgrund. So schrieb Jakob Schaffner noch fünf Jahre nach Erscheinen des Romans in der Neuen Rundschau: „Es ist kein Leser verpflichtet, sich gefallen zu lassen, daß ein poetischer Bericht durch kapitellange abstrakte Psychoanalysen unterbrochen wird, die auch wieder imaginär sind und keine Sicherheit geben.“⁶ Dass Musils Roman von der damals noch jungen Psychoanalyse beeinflusst war, schien übrigens auch in der Zwischenkriegszeit, als Freuds Lehre längst zur Modetheorie geworden war, zeitgenössischen Leser:innen offensichtlich. So hieß es in einem Rundfunkbeitrag aus Anlass von Musils 50. Geburtstag: „Hier [im Törleß] wird zum erstenmal [!] die große Lehre Siegmund [!] Freuds auf die Gestaltung künstlerischer Probleme angewendet. […] Musil ging
2 „Das [die ‚Zeichnung der Charaktere‘] würde noch gut zum ‚psychologischen Roman‘ stimmen. Gleich aber geht es um einen Schritt weiter. Es findet sich keine reale Psychologie, wenigstens ist sie ganz ohne Interesse, willkürlich, dilettantisch behandelt.“ Robert Musil: Briefe 1901–1942. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1981, S. 13. 3 Zit. n. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 269. 4 Zit. n. Corino, Robert Musil, S. 269. 5 Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe u. nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen u. Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino. Klagenfurt 2009 [DVD-ROM], Kommentare & Apparate/Kontexte/ Zeitgenössische Rezensionen: Franz Servaes, am 1. Juni 1907 in Das literarische Echo. Diese digitale Klagenfurter Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle KA mit Mappen-, Heft- bzw. Ordner- und/ oder Seitenangabe zitiert. 6 KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Zeitgenössische Rezensionen: Jakob Schaffner im Dezember 1911 in Die neue Rundschau.
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voran.“⁷ Und 1935 urteilte der Lektor Karl August Kutzbach in seinem Gutachten für die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums: Sein erstes Werk, der Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß[,] erschien 1906 und behandelt mit ‚exakter‘ psychologischer Analyse die sexuellen Verirrungen und Ausschreitungen innerhalb eines Knaben-Internates. Musil ist wohl der erste, der seine Kenntnis Freudʼscher Theorien literarisch und ‚freimütig‘ verwertet hat.⁸
Man sieht: Die Lesart von Musils Romandebüt als ‚psychologischer Roman‘ gehört, neben der Lesart als ‚Bekenntnis- oder Schülerroman‘⁹, zu den frühesten der Törleß-Rezeption. Zieht man allerdings die Autorintention heran, so erscheint diese Lesart als „Mißverständnis[]“¹⁰. Dem Kritiker Paul Wiegler schrieb Musil am 21. Dezember 1906, „daß ich [im Törleß] nicht Psychologie in allen ihren Finessen geben will“¹¹. Und Matthias di Gaspero, einem Kollegen seines Vaters, erklärte Musil ca. Ende Juli 1907, sein Werk sei „nicht naturalistisch. Es gibt nicht Pubertätspsychologie wie viele andere, es ist symbolisch, es illustriert eine Idee“¹². Zur Ehrenrettung der zeitgenössischen Literaturkritik muss man jedoch sagen, dass dieses Missverständnis durchaus naheliegend war. Schließlich spricht Musils Erzähler im Roman selbst vom „psychologische[n] Problem“ (61)¹³ des heranwachsenden Protagonisten und analysiert zum Beispiel dessen anfängliches Heimweh so subtil, als wäre er an der phänomenologischen Emotionspsychologie von Musils Doktorvater Carl Stumpf geschult (9). Allgemein stand Psychologie als literarischer Wert um und nach 1900 bei Literaturkritik wie Publikum hoch im Kurs. Das Interesse an Erklärungen für Psychopathologien und sexuelle Abweichungen war seinerzeit enorm; für die Entdeckung der Sexualität durch die Wissenschaft in der anbrechenden Moderne sind
7 KA/Kommentare & Apparate/Kontexte/Zeitgenössische Rezensionen: Ben., in Der Deutsche Rundfunk, Jg. 8, 1930, Nr. 44. 8 Dokumentiert in Karl Corino: „Von der Seele träumen dürfen“. Nachträge zur Biographie und zum Werk Robert Musils. Würzburg 2022, S. 639–650, hier S. 644. Karl August Kutzbachs Gutachten erschien über weite Strecken wörtlich in Schöngeistiges Schrifttum Bücherkunde der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, Nr. 2/1935, S. 165–167. 9 Vgl. dazu Pfohlmann, Kommentar, S. 227–229. 10 KA/Transkriptionen/Mappe II/1/69. 11 Musil, Briefe, S. 24. 12 Musil, Briefe, S. 47. 13 Törleß-Zitate bzw. -Verweise werden im Fließtext mit einfacher Seitenangabe in runden Klammern belegt, Textgrundlage ist Robert Musil: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchges. u. verb. Ausg. Reinbek b. Hamburg 1978 u. ö.
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Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) nur das populärste Beispiel.¹⁴ Musil wiederum bekannte sich durchaus dazu, in seinen Texten auf psychologisches Wissen zu rekurrieren. In einem fallengelassenen Vorwort zum Nachlaß zu Lebzeiten schrieb er 1935: „Dichtung vermittelt nicht Wissen und Erkenntnis. / Aber: Dichtung benutzt Wissen und Erkenntnis. Und zwar von der inneren Welt natürlich genau so wie von der äußeren.“¹⁵ In diesem Sinne versuchte Musil schon im Dezember 1906, also kurz nach Erscheinen des Romans, zumindest einen Rezensenten auf die richtige Lektürebahn zu bringen. Dem schon erwähnten Kritiker Paul Wiegler schrieb er, er wolle „nicht begreiflich sondern fühlbar machen. Das ist glaube ich im Keim der Unterschied zwischen psychologischer Wissenschaft und psychologischer Kunst“.¹⁶ Ähnlich erklärte der Schriftsteller auch 1913 mit Blick auf sein Erstlingswerk, alle „Psychologie in der Kunst ist nur der Wagen, in dem man fährt; wenn Sie von den Absichten dieses Dichters [d.i. Musil] nur die Psychologie sehen, haben Sie also die Landschaft im Wagen gesucht“.¹⁷ Mit anderen Worten: Musils Texte sind zwar mit dem psychologischen Wissen ihrer Zeit unterfüttert, dieses Wissen soll aber nur als Mittel für die literarischen Intentionen des Dichters dienen.¹⁸
2 „Ein Roman von abweichender Art“ – Zur Erzähltechnik des Romans Vermutlich liegt es an Musils späteren Werken wie dem avantgardistischen Novellenband Vereinigungen (1911), dass die formal-ästhetischen Qualitäten von Musils Debütroman lange Zeit unterschätzt wurden, denn im Vergleich zu den folgenden Novellen wirkt der Törleß geradezu handlungssatt. Insofern mag es überraschen, dass Musil schon zu Beginn seiner Autorenkarriere mit dem Anspruch auftrat, die Literatur neu zu erfinden. Schon sein Debüt sollte zum Prototyp einer „phantasti-
14 Ein direkter Einfluss von Freuds Sexualtheorie auf den Törleß ist insofern unwahrscheinlich, als Musil seinen Roman bereits im September 1905, also dem Erscheinungsjahr von Freuds Abhandlungen, abgeschlossen hatte. Vgl. Karl Corino: Fortgesetzte Nachlese. Neu aufgefundene Korrespondenz Robert Musils. In: Musil-Forum 34 (2015/2016), S. 260–274, hier S. 261 f. 15 KA/Transkriptionen/Mappe II/1/70. 16 Musil, Briefe, S. 24. 17 Musil, Prosa und Stücke, S. 997. 18 Vgl. hierzu Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluß der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern 1998, sowie Pfohlmann, Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht?, Teil III.
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sche[n] […] Form des Romans“¹⁹ werden, wie er am 22. März 1905 an Stefanie Tyrka schrieb. Einem Verlag offerierte Musil sein Manuskript vermutlich am selben Tag als „einen Roman von abweichender Art“, der „einer neuen Weise zu schreiben“²⁰ zustrebe. Das erstaunt insofern, als die Erzählweise seines Erstlings auf den ersten Blick eher konventionell anmutet, gerade im Vergleich zu seinen späteren Erzählexperimenten, etwa in Die Amsel (1928). Wie ein gewiefter Unterhaltungsautor arbeitet der junge Autor zum Beispiel mit überraschenden Wendungen, Zuspitzungen oder Tempuswechseln, operiert mit einer Logik der Eskalation und setzt kalkuliert – vor dem Hintergrund seiner folgenden Werke durchaus bemerkenswert – auf Spannungserzeugung.²¹ Das ‚Abweichende‘ an diesem Roman liegt schon eher in Musils Figurenkonstruktion, wie der Autor selbst im Brief an Stefanie Tyrka betonte: Demnach sei ihm die innere Konsequenz seiner Figuren wichtiger gewesen als die Rücksicht auf psychologische Plausibilität.²² Als Ganzes gleicht sein Protagonistenquartett zunächst einem trivialen Seelenmodell: Verkörpert der Intrigant Reiting die kalte Ratio, so der Mystagoge Beineberg die überschießende Einbildungskraft und ihr Opfer Basini Geschlechtstrieb und Unbewusstes. Törleß, der als „geheimer Generalstabschef“ (41) der beiden Klassendiktatoren fungiert, erhält als zunächst charakter- bzw. eigenschaftsloser (13) Protagonist wie die Variable einer mathematischen Funktion seinen jeweiligen „Wert“ erst in Relation zu den anderen Figuren.²³ Auffallend sind dabei die „Ähnlichkeiten und unüberbrückbare[n] Unähnlichkeiten“ (61) bzw. die „äußerliche[n], äffende[n] Ähnlichkeit[en]“ (60) zwischen Törleß und seinen „Mitspieler[n]“ (35): Was Törleß zu Romanbeginn bei der Prostituierten Božena als geheime Erniedrigungsfantasie dominiert (30), der jähe Verlust seiner privilegierten Stellung, das muss Basini wenig später real, gleichsam stellvertretend, erleiden. Törleßʼ Suche nach einem „Tor“ (46), einem „Übergang“ (46) bzw. einer „Tür[]“ (92) zu einer anderen Wirklichkeit sieht Beinebergs Glauben an eine transzendente Wahrheit zum Verwechseln ähnlich. Und die Skepsis, mit der Törleß Beinebergs Irrationalismus begegnet, verbindet ihn wiederum mit dem Pragmatiker Reiting (118).
19 Musil, Briefe, S. 13. 20 Musil, Briefe, S. 15. 21 Zum Thema Musil und (literarische) Spannung vgl. Oliver Pfohlmann: Erzählen ohne Orgasmus. Zwischen „anderem Zustand“ und Ermüdung: Robert Musil und die Spannungslust. In: Literatur als Lust. Begegnungen zwischen Poesie und Wissenschaft. Festschrift für Thomas Anz zum 60. Geburtstag. Hg. v. Lutz Hagestedt. München 2008, S. 231–236. 22 Vgl. Musil, Briefe, S. 13. 23 Also durchaus ähnlich wie Ulrich im Mann ohne Eigenschaften, vgl. Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989, S. 178–184.
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Die Figurenkonstellation bildet daher ein „Kräfte- und Spannungsfeld“.²⁴ Dabei repräsentieren der Machtmensch Reiting (der laut Beineberg dem „Faden“ der Außenwelt folgt, vgl. 59) und der Fantast Beineberg (der dem Faden nach innen folgen will, vgl. 59) in jeweils übersteigerter Form die dominierenden intellektuellen Positionen der Epoche, die empirisch-rationale Erkenntnisweise der Naturwissenschaften einerseits und Irrationalismus bzw. Neo-Mystizismus andererseits.²⁵ Wie vielfach festgestellt wurde, hat sich dieser Epochengegensatz in Musils Denken und Werk als oszillierender Spannungsgegensatz schon früh eingeschrieben.²⁶ Am 13. Mai 1905 notierte Musil, zwischen philosophischen und literarischen Ansprüchen schwankend, ein Dichter sei „erst der, welcher einen […] [philosophischen] Gedanken in einen Menschen hineinsetzt, seine Wirkung in menschlichen Beziehungen schildert und dergleichen“.²⁷ Deshalb glich für Musil später die Literatur einem „Zitatenteich“²⁸ und ist schon der Törleß ein polyphoner Roman in der Tradition Dostojewskis und Huysmansʼ wie später der Mann ohne Eigenschaften: „Sechzehnjährige Knaben reden darinnen [im Törleß] wie Bücher. Und da mir doch davor bange wurde, wie schlecht geschriebene Bücher.“²⁹ So werden etwa Beineberg, meist in persiflierender Absicht, Maeterlinck-Philosopheme in den Mund gelegt.³⁰ Darüber hinaus versammelt der eher schmale Debütroman brennspiegelartig das Themen- und Motivarsenal der Jahrhundertwende: von der Krise der Sprache (18) bis zu dem von Nietzsche verkündeten Tod Gottes (66), vom Motiv des Narzissmus (14) bis zur Grundlagenkrise der Mathematik (81), von der Debatte um Linie und Ornament (11) bis zur Krise des Subjekts (108). Nicht ohne Grund sollte der Törleß „ein Genuß für Menschen mit intellektuellen Neigungen [sein] (und andere zählen ja doch nicht)“.³¹ Nicht erst Der Mann ohne Eigenschaften ist daher eine, mit
24 Roland Kroemer: Ein endloser Knoten? Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ im Spiegel soziologischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse. München 2004, S. 57. 25 „Rationalismus u. Mystik, das sind die Pole der Zeit“, lautet denn auch ein berühmt gewordener Hefteintrag Musils aus der Nachkriegszeit (KA/Transkriptionen/Heft 8/75). 26 Vgl. Roberto Olmi: Die Gegenwart Nietzsches. In: Beiträge zur Musil-Kritik. Hg. v. Gudrun Brokoph-Mauch. Bern 1983, S. 87–109, hier S. 103. 27 KA/Transkriptionen/Heft 11/19. 28 Musil, Prosa und Stücke, S. 1206. Vgl. dazu Mandy Dröscher-Teille/Birgit Nübel: Intertextualität. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 760– 791. 29 Musil, Briefe, S. 12. 30 Zu Musils Maeterlinck-Rezeption im Törleß vgl. Kroemer, Ein endloser Knoten?, S. 64–67 u. S. 135– 150. 31 Musil, Briefe, S. 13.
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Walter Moser gesprochen, „Diskurs-Enzyklopädie“,³² sondern in nuce bereits Musils Romandebüt. Das zeigt sich auch in der Modellierung psychischer Prozesse im Roman: Die inszenierten Figurenpsychen zeichnen sich durch eine zusätzliche, ihnen selbst verborgen bleibende Ebene psychischer Motivation aus, weshalb Musils Roman wie kein zweiter vom Faszinosum einer ganzen Epoche kündet, dem Unbewussten. Werden die Täter von „höheren“ Zwecken wie Erkenntnisinteresse (Törleß, Beineberg) oder Schulung in Strategien der Macht (Reiting) angetrieben, wie Basinis Peiniger vorgeben? Oder dienen ihnen diese nur als Vorwand, um ihre (ihnen selbst unbewussten) Triebbedürfnisse befriedigen zu können? Auf dem Dachboden, in ihrem Versteck, während sie beraten, was sie nun weiter mit dem als Dieb überführten und ihrer Willkür ausgelieferten Basini anstellen wollen, erklärt der diabolisch grinsende Beineberg wie nebenbei: „In Indien würde man ihm einen gespitzten Bambus durch den Darm treiben; das wäre wenigstens ein Vergnügen.“ (48) Eine Anregung, die offenbar gezielt dem Rivalen Reiting einen ‚Floh ins Ohr‘ setzen soll, um sich für eine frühere Niederlage im andauernden schulischen Machtkampf zu revanchieren (vgl. 40–41, 56–57). So heißt es denn auch im Roman, als tags darauf die drei Basini auf dem Sportplatz unter „Kuratel“ stellen, dass Beineberg mehr auf Reiting als auf Basini achtet (50). Warum? Weil seine Anregung noch eine andere, mit der indischen Bambusfolter gewissermaßen verwandte Möglichkeit eröffnet, wie sich Basinis Ausgeliefertsein ausnutzen ließe. Diese der eigenen Lustbefriedigung dienende Möglichkeit bleibt zwar unausgesprochen, stiftet aber im inszenierten Un- oder Halbbewussten der Beteiligten erfolgreich Verwirrung und treibt zunächst wie beabsichtigt Reiting, dann aber auch Beineberg selbst und endlich auch Törleß zum sexuellen Missbrauch Basinis. Derartige, von den Figuren und den Leser:innen bewusst oder unbewusst zu füllende Unbestimmtheitsstellen wurden von Musil durchaus kalkuliert im Dienste bestimmter Rezeptionseffekte eingesetzt. In seinen Tagebuchheften notierte er: Die Seele der Menschen soll durch deren Handlungen und Worte nur durchschimmern und nie deutlicher als im wirklichen Leben. / Man muß sich also gewisse Beschränkungen auferlegen, ebenso wie ein Maler nicht alles in sein Bild hineinzeichnen darf, was er sieht. / Für die Durchführung muß man natürlich die nötigen Griffe ‚lernen‘. Ein solcher ist etwa Folgender: In den Verwirrungen sagt Törleß freundlich zu Basini: Du wirst jetzt sagen, daß Du ein Schuft bist. Viel später erzählt ihm Basini, daß Beineberg die gewissen Erniedrigungen von ihm nicht herrisch sondern ‚freundlich‘ verlange. An dieser Stelle streift man den Gedanken, daß Beineberg von Törleß beeinflußt würde, was bei dem zwischen ihnen herrschenden Verhältnis
32 Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Robert Musil – Untersuchungen. Hg. v. Uwe Baur u. Elisabeth Castex. Königstein/Ts. 1980, S. 170– 197, hier S. 188.
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sehr merkwürdig wäre. Man hat gewissermaßen das Gefühl: in der Zwischenzeit geschieht auch etwas. Die Personen sind nicht nur das, was von ihnen gesagt wird, sondern sie leben auch dort wo sie nicht erscheinen, selbständig, sie kommen und gehen, und stets etwas verändert. Man würde sich um die Wirkung bringen, wenn man etwa eigens auf die Beeinflußung hinweisen würde.³³
Ebenso zielen aber auch Sprache und Stil des Romans auf das Unbewusste: Der für heutige Leser:innen manieriert anmutende Einsatz von vier und mehr Auslassungspunkten und ganzen Zeilen mit Gedankenstrichen soll in Maeterlinck-Manier Schweigen und Unaussprechbares kommunizieren.³⁴ 1899, also im Erscheinungsjahr von Freuds Traumdeutung, notierte Musil: Solange man in Sätzen mit Endpunkt denkt – lassen sich gewisse Dinge nicht sagen – höchstens vage fühlen. Andrerseits wäre es möglich, dass man sich so auszudrücken lernt, dass gewisse unendliche Perspektiven die heute noch an der Schwelle des Unbewussten liegen, dann deutlich und verständlich werden.³⁵
Das Zitat belegt, wie sehr Literatur und Wissenschaft um 1900 bei der Erhellung des Unbewussten kooperierten und konkurrierten.³⁶ Kurz nach Abschluss des Romans im April 1905 reflektierte Musil unter dem Eindruck von Ricarda Huchs Blütezeit der Romantik (1899) über das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem, wobei er Positionen der Psychologie, Philosophie, Mystik und Romantik aufführte und mit Sexualität in Beziehung setzte.³⁷ Auffallend an seinem – zur Blütezeit des Symbolismus entstandenen – Roman ist der exzessive Einsatz von Symbolen, die zwar nicht nur, aber sehr oft eben auch als Sexualsymbole zu verstehen sind: Wenn Törleß etwa seine transsexuellen Sehnsüchte mit dem Phantasma begründet, dass sich Mädchen jederzeit in ein „furchtbar tiefes Versteck“ (86) in ihrem Körper zurückziehen könnten, so scheint
33 KA/Transkriptionen/Heft 11/18. 34 Musils Verwendung der Interpunktion als Stilmittel ist in neueren Ausgaben des Romans nur mutiliert wiedergegeben, so auch in dem von Walter Fanta herausgegebenen Band 7 der neuen Gesamtausgabe (Salzburg/Wien 2019). Dagegen folgt die Törleß-Ausgabe in der Suhrkamp BasisBibliothek (SBB 130, Berlin 2013) in Orthografie und Interpunktion der Ausgabe letzter Hand (Berlin: Rowohlt Verlag 1931). Vgl. zur Editionsproblematik Mareike Giertler: In zusammenhanglosen Pünktchen lesen. Zu den Auslassungszeichen in Musils „Die Vollendung der Liebe“. In: Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz. Hg. v. dies. u. Rea Köppel. München 2012, S. 161–183. 35 KA/Transkriptionen/Heft 3/7. 36 Vgl. dazu Thomas Anz: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. In: Ders./Oliver Pfohlmann: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Eine Dokumentation. Band I: Einleitung und Wiener Moderne. Marburg 2006, S. 11–42. 37 Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 11/2–5.
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die Doppeldeutigkeit des Schlüsselwortes ‚Versteck‘ offensichtlich. Und ebenso die der „mit einem blutroten Fahnenstoff“ ausgekleideten Dachboden-Kammer, zu der erst ein „schmaler, schlauchartiger Durchgang“ (38) führt, später ein „Durchlaß […] gerade so breit, daß sich ein menschlicher Körper hindurchzwängen konnte“ (55). Auch die Bedeutung der von den Zöglingen getragenen Degen folgt kontextabhängig dem von Freud in der Traumdeutung beschriebenen ‚lang versus hohl‘-Schema, wonach längliche Objekte, insbesondere auch Waffen, das männliche Sexualorgan darstellen sollen, hohle Objekte, von Dosen und Schachteln bis hin zu Höhlen oder Zimmern, das weibliche.³⁸ Auch Roland Kroemer hat auf die Phallussymbolik der von den Zöglingen getragenen Degen hingewiesen: Anfangs verabschieden sich die Zöglinge voller Ehrerbietung vom Vater, bei Freud der Rivale im ödipalen Kampf um die Mutter, ‚wobei sie die zierlichen Degen straff an die Seite zogen‘. (15) Zwingt sie die väterliche Autorität zu einer Art vorübergehenden symbolischen ,Selbstkastration‘? Auf dem Weg zum Wirtshaus nimmt Törleß den Degen ‚eng an den Leib‘ (26), scheint ihn in seiner Erregung zu spüren. Dann schlägt eine der Waffen gegen die hölzerne Treppe des Wirtshauses, Anlaß für ‚unbändiges Gelächter‘ der Erwachsenen. (28) In Boženas Zimmer schließlich erkennt Törleß, wie klein und unerfahren er in sexuellen Dingen noch ist. Er muß an die Hände des Bauernburschen denken: ‚Der zierliche Degen kam ihm entgegen diesen groben Fäusten wie ein Spott vor.‘ (30)³⁹
Die von Freud beschriebene Tendenz von Träumen und Witzen, jede Gelegenheit von sexueller Zweideutigkeit zum Lustgewinn zu nutzen, ist auch Musils Roman zu eigen, der selbst vor Zoten nicht haltmacht, etwa wenn sich Törleß fühlt, wegen Basinis ‚Fall‘ „wie mit einer scharfen Spitze“ (46) bedroht zu sein. Sexuelle Konnotationen und Assoziationen, die für das un- oder halbbewusste Begehren des Zöglings stehen dürften, durchziehen den ganzen Roman: „Neben ihm, in einem feuchten, düsteren Winkel wucherte Huflattich und spreitete seine breiten Blätter zu phantastischen Verstecken den Schnecken und Würmern.“ (66) „Wurm“, „Versteck“ oder „Winkel“ gehören dabei ebenso wie „Staub“, „Schweigen“ oder „Mauer“ zu einem dichten Netz aus Schlüsselwörtern, „Knotenpunkte[n] im dichterischen Gewebe“⁴⁰, die aufgrund der zahlreichen wechselseitigen Bezüge den „irrationale[n] Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Worte“⁴¹ erzeugen, nach Musil das Charakteristikum einer Dichtung im emphatischen Sinn. Gerade das Gleichnis
38 Vgl. Kapitel VI, E: Die Darstellung durch Symbole im Träume von Freuds Traumdeutung, das aber größtenteils eine Ergänzung für die dritte Auflage 1911 darstellt. 39 Kroemer, Ein endloser Knoten?, S. 93. 40 Lars W. Freij: ‚Türlosigkeit‘. Robert Musils „Törleß“ in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dichters. Stockholm 1972, S. 102. 41 Musil, Prosa und Stücke, S. 1147.
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(von Musil auch als „Bild“ oder „Vergleich“ bezeichnet) wird im Törleß zur „Brücke […] zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem [Törleßʼ] Geiste stand“ (65). Und zwar deshalb, weil das Gleichnis Heterogenes miteinander vermittelt, Nichtidentisches miteinander identifiziert und damit die Grenzen der Sprache überschreitet und das Unsagbare indirekt doch sagbar macht – vergleichbar dem eigentlich unmöglichen, aber dennoch erfolgreichen Rechnen mit imaginären Zahlen.⁴² „Diese Worte und Gleichnisse, die weit über Törleßʼ Alter hinausgingen, kamen ihm in der riesigen Erregung, in einem Augenblicke beinahe dichterischer Inspiration leicht und selbstverständlich über die Lippen.“ (137 f.) Bemerkenswerterweise finden dabei jedoch im Roman zwischen Bild- und Sachebene irritierende Wechselspiele statt: Verbirgt Törleßʼ Mutter ihre Tränen „hinter ihrem dichten Schleier“ (8), so sieht gleich darauf der von Heimweh gequälte Zögling „alles wie durch einen Schleier“ (8). Unheimlicher wird es, wenn sich das, was zuvor als Bild oder Vergleich diente, in der erzählten Realität manifestiert: Erscheinen Törleß Beinebergs diabolische Ideen anfangs wie ein „Gewebe“, in dem er schon den ihrer Willkür ausgelieferten Mitzögling Basini „mit zugeschnürtem Hals“ zappeln sieht (57), so fällt ihm just während Basinis erster Folterung „ein kleines häßliches Spinnengewebe“ (70) ins Auge. Später verwandelt sich das Konvikt über die Feiertage (94) in eben jenes „leere[], finstere[] Haus“ (24), als das dem von seinem erwachten Triebleben beherrschten Zögling zu Romanbeginn die ganze Welt erscheint. Diese Wechsel zwischen Bild- und Sachebene lassen sich als Inversionen verstehen, als Umkehrungen, ähnlich denen, wie sie der Protagonist im Bereich des Sehens erlebt.
3 „Sind es Ungeheuer? Sind es nur Wolken?“ – Inversionen, die Grenzen der Sprache und die Krise des Subjekts „Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe. Alle Dinge; auch die Gedanken“ (137): Mit diesen Worten versucht Musils Protagonist gegen Romanende dem Lehrerkollegium seine Verwirrungen zu erklären. Irritierende Wahrnehmungsphänomene begegnen dem Leser bereits am Romananfang, etwa wenn es von einer staubigen Straße heißt: „Ihre Ränder verloren sich in dem ringsum zertretenen Boden und waren nur an zwei Reihen Akazienbäumen
42 Zu Musils Gleichnisbegriff vgl. Inka Mülder-Bach: Gleichnis. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 751–759.
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kenntlich […]“ (7). Es ist ein Gestaltgesetz, das die Unterscheidung von Straße und Umgebung bzw. von Figur und Grund ermöglicht, das später so genannte Gestaltgesetz der Nähe, in diesem Fall der Bäume zueinander. Friedrich Schumann (1863– 1940), der Assistent von Musils Doktorvater Carl Stumpf, an dessen wahrnehmungspsychologischen Experimenten der Autor in Berlin teilnahm, erforschte dieses Phänomen. Es etabliert für den Beobachter eine Zusammengehörigkeit und damit eine für das Erkennen notwendige Hierarchisierung. Diese Hierarchie erscheint bereits in der Eingangsszene des Romans als gefährdet und von Auflösung bedroht.⁴³ Für Törleß werden im Lauf des Romans Figur und Grund immer wieder ununterscheidbar werden oder die Plätze tauschen. Auch die Subjekt-Objekt-Differenz erweist sich als schockierend instabil. Was bereits in der Kindheit als erschreckendes Einzelphänomen beginnt, als sich der verlassene Knabe im Wald von den schweigenden Bäumen angeschaut fühlt (23 f.), verselbstständigt sich beim Pubertierenden und gerät mit Beginn der Handlung zunehmend außer Kontrolle: „Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden.“ (64) Törleßʼ Verwirrungen weiten sich aus erst in die Totale, dann ins Abstrakte. Zunächst scheint es nur um Einzeleindrücke zu gehen wie Beinebergs Hände, als dieser ihm in der Konditorei gegenübersitzt (21). Ziemlich genau in der Romanmitte, in der Himmelsszene, stülpt sich aber die ganze Welt wie eine gigantische Umspringfigur über den im Gras liegenden Zögling (66).⁴⁴ Im weiteren Romanverlauf sind auch mathematische Operationen (73), das zwischen Ja und Nein oszillierende Denken (84) und nicht zuletzt das im unendlichen Regress der Selbstreflexion gefangene Ich (105 f.) betroffen. Es ist vor allem der plötzliche Sturz Basinis (wie durch eine „Falltüre“, 46) vom gleichgestellten Mitzögling zu einem Vogelfreien, einem homo sacer im Sinne Giorgio Agambens, der auf Törleßʼ Verwirrungen wie ein „Katalysator“⁴⁵ wirkt. Denn dass Basini nun von dem infernalischen Trio aus Reiting, Beineberg und Törleß nach Belieben bestraft, gefoltert und missbraucht werden kann, gibt Törleßʼ Verwirrungen „eine ganz persönliche Wendung“ (46) gegen die Hauptfigur selbst. Nicht dieser Sturz selbst also, nicht das Reale, steht im Zentrum des Romans, sondern die von ihnen induzierten psychischen Zustände des Protagonisten, seine „Seelenstände“ (Hermann Bahr, Die gute Schule).
43 Vgl. Christoph Hoffmann: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997, S. 61–64. 44 Als solcher ist er auf dem Cover der Ausgabe von 1931 zu sehen. 45 Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. München/ Wien/Zürich 1997, S. 295.
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Gemeinsam ist diesen Konfusionsphänomenen die transitorische Plötzlichkeit ihres Auftretens.⁴⁶ Törleß erlebt sie als „Sprung“ (134) in seinem Inneren, er fühlt sich diesen Erlebnissen, Vorstellungen oder Zuständen ausgeliefert: „Was geschieht in solchem Augenblicke? Was schießt da schreiend in die Höhe und was verlischt plötzlich? …“ (47) Die Phänomene machen Angst, da sie – ein Grundmotiv der Literatur dieser Epoche – Identität und Souveränität des Subjekts in Frage stellen und es als machtlos und dissoziiert zeigen. So heißt es im Roman: „Die Vorstellung […] hatte Törleß völlig entzweigerissen“ (63), oder: „ging da nicht durch dein ganzes Wesen ein Riß?“ (103) Der Zögling weiß nicht, ob er „wahnsinnig“ (88) ist oder ein „Seher“ (89). Und zugleich erlebt Törleß diese Grenzerlebnisse als erregend: erstens, weil sie Geheimnis, Leben und Bedeutung in sein von „Gleichgültigkeit“ (16) und „Langeweile“ bestimmtes Zöglingsdasein bringen, und zweitens, weil sie auf rätselhafte Weise mit seiner „Sinnlichkeit“ (87) verknüpft sind: Als ob über seinem Leben nun beständig ein grauer, verhängter Himmel stehen werde – mit großen Wolken, ungeheuren, wechselnden Gestalten und der immer neuen Frage: Sind es Ungeheuer? Sind es nur Wolken? / Und diese Frage nur für ihn! Als Geheimes, den anderen Fremdes, Verbotenes … (50)⁴⁷
Gemeinsam ist den von Törleß erlebten Phänomenen auch, dass sie sich der Alltagssprache entziehen, die zum adäquaten Ausdruck „anderer Zustände“ nicht geschaffen ist („die Worte sagten es nicht; so arg, wie es die Worte machen, ist es gar nicht“, 18), was ihre bedrohliche Wirkung freilich erst recht steigert. Wenn „unscheinbarste[]“, „leblose Dinge“ (89) wie eine Mauer (66) oder der Staub auf dem Dachboden (104) aus dem von der Sprache geknüpften Sinnzusammenhang herausfallen, wenn sie dekontextualisiert betrachtet werden, erwachen sie für den Beobachter augenblicklich zu einem „unheimliche[n] Leben“ (66). Die stillgestellte, fokussierte Aufmerksamkeit des Subjekts erzeugt den Eindruck eines „plötzliche[n] Schweigen[s], das wie eine Sprache ist, die wir nicht hören“ (24)⁴⁸. In den 1920er Jahren vermutete Musil Erklärungen für das Phänomen der scheinbar lebendig gewordenen Dinge in den Forschungen des Psychologen Erich Rudolf Jaensch zur eidetischen Veranlagung bei Jugendlichen sowie in denen des Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl, wonach sich das Denken sogenannter primitiver Völker durch ein
46 „Plötzlich“ kommt einschließlich seiner Synonyme 91-mal im Text vor, vgl. Freij, ‚Türlosigkeit‘, S. 135. 47 Später wird Törleß dann tatsächlich im Gras unter dem Himmel liegen: wieder ein Wechsel von der Bild- zur Sachebene (62–66). 48 Vgl. Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge in der Moderne. Konstanz 2011, S. 71–84.
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Verhältnis der Partizipation zu den Dingen auszeichne.⁴⁹ Wo auch immer die Erklärung für die „wechselnde seelische Perspektive“ (139) seines Romanhelden zu suchen ist: Was Musil seinen jungen Protagonisten erleben lässt, sind die ersten erzählerischen Darstellungen einer den Autor zeitlebens faszinierenden gottlosen „taghelle[n] Mystik“⁵⁰. In dem erwähnten Brief an Stefanie Tyrka heißt es: Die Welt der Gefühle und die des Verstandes sind inkommensurabel. […] Erst wo wir vor einem Bilde fühlen, daß wir das nicht ausdrücken und nicht denken können[,] was wir empfinden, fängt sie [die Kunst] an. […] es ist, als ob ein Mensch in mir wäre, mit dem dieses Bild spricht, den es augenblicklich in seine Kreise zieht und so weiter. Und daß mein eigentlicher Mensch, als den ich mich besitze, (und zu besitzen glauben wir uns eben nur, soweit wir uns verständlich fassen können) gerade nur den Schatten davon erfaßte. / Das Ich wird förmlich zerspalten, es gewinnt einen doppelten Boden und durch die trüben Gläser des ersten und bisher alleinigen sieht man geheimnisvolle Bewegungen[,] ohne sie sich deuten zu können. / Ich finde darin Tragik. Ich machte sie zum eigentlichen Vorwurf meines Buches und nannte es Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. ⁵¹
Wie Hofmannsthals Lord Chandos wird auch Musils Törleß zum Zeugen der epochalen Sprachkrise um 1900, dem zeittypischen Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit des sprachlichen Mediums.⁵² Dieses Misstrauen ist eng verknüpft mit der zeitgenössischen Krise der Erkenntnis in Philosophie und Naturwissenschaften. Doch ist das „Versagen der Worte, das ihn da quälte“ (65), nur ein Symptom für Törleßʼ Verwirrungen, nicht ihre Ursache. Das zeigt sich in der Himmelsszene (62– 66), als sich der Referent des „Unendlichen“ von seinem Signifikanten befreit und wie entfesselt über das Subjekt triumphiert. Was Musils Protagonist erlebt, sind Inversionen, also Umkehrungen oder Umstülpungen.⁵³ Die Inversion ist, neben der Vereinigung, ein Leitmotiv, ja, eine „Leitstruktur“⁵⁴ von Musils gesamtem Denken und Werk, sie wird „zum generie-
49 Vgl. Musil, Prosa und Stücke, S. 1701 u. S. 1141, sowie weiterführend: Nicola Gess: Ethnologie. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 554–560. 50 Robert Musil: Gesamtausgabe. 12 Bde. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg/Wien 2016–2021, Bd. 5, S. 57. 51 Musil, Briefe, S. 13 f. 52 Zum Thema Musil und Sprachkritik vgl. Kroemer, Ein endloser Knoten?, S. 158–167, Mathias Mayer: Sprache/Sprachkritik. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 746–751, sowie Spörl, S. 283, der betont, dass „das Problem der Sprachskepsis und ihrer Überwindung nicht im Zentrum der Problematik steht“ (Herv. i. O.). 53 Vgl. Oliver Simons: Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur. München 2007, S. 279–292. 54 Sabine Mainberger: Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900. Berlin 2010, S. 168.
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renden Prinzip eines experimentellen Erzählens“:⁵⁵ von den frühen Tagebucheinträgen, in denen der junge Musil im Jahr 1900 in der Rolle des „monsieur le vivisecteur“ zwischen Innen- und Außenperspektive pendelt,⁵⁶ bis zum Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften. Schon dem jungen Musil begegnete die Umkehrung vielerorts: als erkenntnisgenerierende Methode in der Mathematik und Physik, als philosophische Denkfigur bei Nietzsche (Stichwort „Umwertung aller Werte“, „Perspektivismus“), in den Werken Ernst Machs, der z. B. in Gedankenexperimenten die Zeit rückwärts ablaufen ließ, vielleicht auch schon in den Schriften Freuds, der die Umkehrung als beliebtestes Mittel der Traumarbeit bezeichnete, gewiss aber am Institut von Carl Stumpf, wo sich am Phänomen der Vexierbilder eine ganze psychologische Schule, die der Gestaltpsychologie, entzündete. Denn Umspringfiguren wie der Necker-Würfel oder der Entenhase des amerikanischen Psychologen Joseph Jastrow, der später durch Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen berühmt wurde, bewiesen anschaulich, dass für die Wahrnehmung stets das Ganze vor den Elementen kam. Als „unmögliche“, ambivalente Figuren, als bildgewordene Paradoxien, versetzen solche optischen Täuschungen den Betrachter in einen „Zustand unauflösbarer Ambiguität“.⁵⁷ Für Musil wurde die Inversion zur Grundlage seiner Konzeption des ‚anderen Zustandes‘ als neomystisches Komplement des alltäglichen Weltverhältnisses, in dem Subjekt und Realität ihre Gestalt wechseln. Seine Protagonisten erleben solche Inversionserlebnisse als zärtliches Verschmelzen mit der Realität, wie in der Novelle Die Amsel, als sich Azwei in seinem Bett liegend wie „umgestülpt“ erlebt, nicht als „Plastik“, sondern als etwas „Eingesenktes“.⁵⁸ Der Aspekt einer beglückenden Vereinigung mit der Welt ist bei seiner ersten Hauptfigur zwar bereits angelegt, doch überwiegt für Törleß meist die Bedrohlichkeit seiner „Internat-Perspektiven“⁵⁹, er scheint dieser „Aufgabe der Seele […] noch nicht gewachsen“ (114). Immer verzweifelter sucht er nach Erklärungen, um der Alternation Herr zu werden. Der Versuch, seinen Verwirrungen im Medium der Schrift, also quasi-wissenschaftlich auf die Spur zu kommen (88), scheitert. Und ebenso der Versuch, die Inversion aktiv zu erzeugen (95) oder den Augenblick des Wechsels festzuhalten (105), um so zu lernen, seine „geheime, ganz persönliche Perspektive“ (61) zu kontrollieren. Der Esoteriker Beineberg (58–60, 80–83) kann ihm ebenso wenig eine Antwort liefern wie die Mathematik (76 f.), die Philosophie (80) oder die „Sinnlichkeit“, also die Sexualität (114). Zuletzt scheint sich auch die 55 56 57 58 59
Mainberger, Experiment Linie, S. 168. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft 4/3. Mainberger, Experiment Linie, S. 172. Musil, Prosa und Stücke, S. 552. KA/Transkriptionen/Heft 4/3.
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Befragung Basinis in der Rolle eines Versuchsleiters, besser: eines mitleidlosen Inquisitors (102 f.) als Sackgasse zu erweisen, denn auch Basini weiß nur zu sagen: „es geschieht im Augenblicke; es kann dann gar nicht anders geschehen; du würdest ebenso handeln wie ich“ (104). Törleß lernt, dass vor der Inversion nichts sicher ist, nicht die Mathematik, in die sich in Form der Quadratwurzel aus Minus Eins das Imaginäre einschleicht (73), nicht das Ich, das sich als Spielball von Trieb und Unbewusstem erweist („Das bin nicht ich! … nicht ich! … Morgen erst wieder werde ich es sein! …“, 108), und auch nicht die sexuelle Identität (86).⁶⁰ Das sich im Romanverlauf steigernde Wechselspiel von Illusionierung und Desillusionierung, von Ja und Nein, zersetzt die trügerische Stabilität der bürgerlichen Welt. Und doch gelangt Törleß, dank Basinis Zeugnis, zu einer, im Vergleich zu Beinebergs Spekulationen zunächst banal scheinenden Erklärung: „Alles geschieht: Das ist die ganze Weisheit.“ (125) Und: „Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl immer bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen … Und ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen …“ (138) Vier Jahre vor Rilkes Malte Laurids Brigge lernt also hier schon jemand das (ästhetische) Sehen: Was Musil, als Schüler Nietzsches, seinen Protagonisten am „Endpunkte des geistigen Prozesses“ (132) „stolz“ und „siegesbewußt“ (136) entdecken lässt, sind die unendlichen Möglichkeiten des Perspektivismus (139), womit Törleßʼ Zukunft als Künstler vorgezeichnet scheint – und nicht als Mystiker.⁶¹ Denn anders als für Beineberg gibt es für Musil/Törleß keine „Hinterwelt“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra), sondern nur ein „psychologisches Problem“ (61), wie es im Roman heißt, mit einer „natürliche[n] Erklärung“ (64): Es geht um eine Aktivität des Subjekts, wie eine Tagebuchstelle von 1923/24 verdeutlicht, eine veränderte, nämlich kontemplativ-ästhetische Einstellung des Erkennenden: „Die Dinge sind anders, weil meine Einstellung zu ihnen eine andere ist.“⁶² Deshalb betonte der Dichter in der Rückschau, sein Erstlingswerk falle zwar in die Zeit des Vordringens der ebenfalls von Wien ausgehenden Psychoanalyse, zieht aber die Umrisse einer ganz andersartigen Seelen- und Lebensdarstellung, die lebhaft auf die junge Generation wirkt, ihre gedankliche Auswirkung aber erst heute [ca. 1930, d. Verf.] findet, beispielsweise in den Anschauungen der Schule der Gestaltpsychologie.⁶³
60 Bemerkenswerterweise spricht die Sexualwissenschaft um 1900 von Homosexuellen als „Invertierten“. 61 Vgl. Kroemer, Ein endloser Knoten?, S. 167–174. 62 KA/Transkriptionen/Heft 25/12. Vgl. dazu Musils programmatischen Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918). 63 KA/Transkriptionen/Mappe III/3/6.
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4 „Es ging von den Augen aus“ – Das Motiv des Sehens und Törleßʼ ödipaler Konflikt Als sich Törleß am Romanende vor dem Lehrerkollegium rechtfertigt, wird ihm von seinen Erziehern unterstellt, er habe eine „Anlage zum Hysteriker“ (138). Tatsächlich gibt es zwischen Törleßʼ Verwirrungen und den Symptomen der damaligen Modekrankheit Hysterie deutliche Parallelen: ein dissoziiertes Ich, tranceähnliche Zustände unter der Herrschaft eines zweiten Bewusstseins (condition seconde) sowie Sprachnot. Allerdings galt Hysterie seinerzeit als Frauenkrankheit, eine Ansicht, mit der erst die Psychoanalyse aufräumte. Die These von Sigmund Freud und Josef Breuer, hysterische Patient:innen litten an verdrängten Traumata, die mittels einer ‚Redekur‘ bewusst gemacht und ‚abreagiert‘ werden konnten (Studien über Hysterie, 1895), faszinierte nachhaltig die Literatur der Moderne. Den Beginn machten die Autoren des Jungen Wien wie Hugo von Hofmannsthal mit seinem Stück Elektra (1903), das der Berliner Literaturkritiker Maximilian Harden auch prompt mit Freuds und Breuers Studien in Verbindung brachte.⁶⁴ Daher ist es denkbar, dass das Stichwort „Hysterie“ in Musils Roman Anspielungscharakter hat und den zeitgenössischen Leser auf versteckte, im Unbewussten des Protagonisten liegende Ursachen für seine Inversions-Erlebnisse aufmerksam machen sollte. Auf diese Ursachen dürfte sich auch der folgende, im Januar 1911 entstandene Tagebucheintrag Musils beziehen: „Im Törless wird das Unbegreifliche, Ahnungsvolle, nur ungefähr Vorstellbare, wo es auftritt[,] überall begreiflich zu machen gesucht, genetisch, psychologisch.“⁶⁵ Ungeklärt und in der Forschung umstritten ist jedoch, ob und wenn ja, was Musil von Freud vor 1906 tatsächlich rezipiert hat.⁶⁶ Konkret belegen lässt sich bislang nur, dass dem Dichter die Grundthesen von Breuers und Freuds Studien über Hysterie seit 1903/04 aus zweiter Hand bekannt waren, nämlich aus Hermann Bahrs Essay Dialog vom Tragischen. ⁶⁷ Der hieraus exzerpierte Terminus „Abreaktion“ ist der früheste genuin Freud’sche Begriff, der sich in Musils Nachlass nachweisen lässt. Außerdem verwies Musil in dem schon erwähnten Brief an den Kritiker Paul Wiegler vom 21. Dezember 1906 auf seine Kenntnis der „schönen Berichte[] der
64 Vgl. dazu Anz/Pfohlmann, Psychoanalyse in der literarischen Moderne. 65 KA/Transkriptionen/Heft 5/47. 66 Vgl. dazu Oliver Pfohlmann: ‚Die Landschaft im Wagen suchen‘. Ein kritischer Bericht nach knapp vier Jahrzehnten psychoanalytischer Musil-Forschung. In: IASL 26 (2001) 1, S. 119–183, hier S. 121–138, sowie zu Musils Freud-Rezeption allgemein ders.: Psychoanalyse. In: Robert-MusilHandbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 538–546. 67 KA/Transkriptionen/Heft 4/86.
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französischen Psychiater“,⁶⁸ womit wohl Koryphäen wie Jean-Martin Charcot und Hippolyte Bernheim gemeint waren. Bemerkenswert erscheint jedoch ein Bekenntnis des Schriftstellers in einem autobiografischen Entwurf, der Mitte der 1930er Jahre entstand: „Als ich begann [also zur Zeit der Arbeit am Törleß?; d.Verf.], fing sie [die Psychoanalyse] erst an, auf Laienkreise überzugreifen […]. Ich will dahingestellt sein lassen, wie groß ihr Wahrheitsgehalt ist (Ihr Anregungswert ist jedenfalls .. gewesen […])“.⁶⁹ Wie viel auch immer der Schriftsteller zur Zeit der Arbeit am Törleß von Freud gekannt hat: Bei der Darstellung von Triebentwicklung, Sexualsymbolik und Traummechanismen zeigte er sich auf der Höhe des medizinischen Diskurses seiner Zeit. Die psychoanalytisch orientierte Literaturwissenschaft hat darüber hinaus aufzeigen können, dass Musils Protagonist tatsächlich einen ihm mehr oder weniger unbewussten traumatischen Konflikt austrägt.⁷⁰ Dessen ödipale – besser gesagt präödipale – Natur offenbart sich etwa in jener sprachlichen Fehlleistung des Protagonisten gegenüber Basini in der roten Kammer. Törleß sagt zu seinem nackt vor ihm stehenden Opfer: „‚[…] ich könnte dich Bewegungen machen lassen – du weißt schon –, und du müßtest dazu seufzen: Oh meine liebe Mut …‘ Doch Törleß hielt jäh in dieser Lästerung inne. ‚Aber ich will nicht, will nicht, verstehst du?!‘“ (104) Ähnliche, die unbewusste Motivation eines Redners entlarvende Versprecher wurden von Freud in Zur Psychopathologie des Alltagslebens (erschienen 1901) analysiert. Mit Carl Niekerk lässt sich Törleßʼ Verhalten so verstehen, dass er zwischen zwei Einstellungen schwankt: einerseits dem Versuch, die frühere Symbiose mit der Mutter wiederherzustellen, andererseits dem Wunsch nach einer selbstständigen, ‚männlichen‘ Identität.⁷¹ Dieses Oszillieren (bzw. Invertieren) zwischen einer starken (‚männlichen‘) und einer schwachen (‚weiblichen‘) Position lässt sich am Motiv des Sehens im Roman verfolgen. Dabei lassen sich zwei Arten des Blicks unterscheiden: ein phallisch-sexualisierter, aggressiver Blick und ein entwaffnet-gelähmter, sich unterwerfender Blick. Zu Romanbeginn, auf dem Weg von der Bahnstation zurück zum Institut
68 Musil, Briefe, S. 24. 69 KA/Transkriptionen/Mappe II/1/70. 70 Hervorzuheben sind hier vor allem folgende Arbeiten: Jacqueline Magnou: „Törleß“ – Eine Variation über den Ödipus-Komplex? Einige Bemerkungen zur Struktur des Romans (1977). In: Robert Musil. Hg. v. Renate von Heydebrand. Darmstadt 1982, S. 296–318; Pekar, Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, S. 39–57; Andrew Webber: Sexuality and the Sense of Self in the Works of Georg Trakl and Robert Musil. London 1990; Carl Niekerk: Foucault, Freud, Musil – Macht und Masochismus in den „Verwirrungen des Zöglings Törleß“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), S. 545–566. 71 Vgl. Niekerk, Foucault, Freud, Musil, S. 560.
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blickt der Zögling noch mit „brennenden Augen“ (17) auf die slawischen Bäuerinnen. In der Božena-Szene wird die Diskrepanz zwischen „frühzeitig“ (31) erwachtem Triebanspruch und der Fähigkeit zur „Ausführung“ (30) offenbar, und der Anblick des begehrten Sexualobjekts wird vom Bedürfnis nach der beschützenden Mutter überlagert: „Törleß sättigte sich mit den Augen an Božena und konnte dabei seiner Mutter nicht vergessen […]“ (33). Die Erkenntnis der ihm ungeheuerlich anmutenden, bedrohlichen Nähe von Mutter und Hure im Unbewussten (32 f.)⁷² führt endlich sogar zur Lähmung des Zöglings unter Boženas medusenähnlichem Blick: „Er starrte mit einem versteinten Lächeln in das wüste Gesicht über dem seinen, in diese unbestimmten Augen […]“ (36). Törleßʼ Regressionsbedürfnis äußert sich somit im unbewussten Wunsch nach dem Blick der Mutter, der ihn zum begehrten Objekt werden ließe. Real ist dem Pubertierenden dieser Blick jedoch inzwischen verwehrt: symbolisch durch ihren „Schleier“ (8) in der Eröffnungsszene, der für das Nein der patriarchalischen Ordnung steht, und emotional durch seine Scham gegenüber seinen Kameraden (14). Das zeigt sich auf dem Dachboden, als das infernalische Trio Basini foltert und sich Törleß, während Reiting und Beineberg Basini schlagen, von der Lampe hypnotisieren lässt (69–71). Und es zeigt sich ebenso in der Himmelsszene: Zunächst bemüht sich der im Gras liegende Zögling, mit seinem Blick in „ein kleines, blaues, unsagbar tiefes Loch zwischen den Wolken“ (62) einzudringen („Es war, als ob die aufs äußerste gespannte Sehkraft Blicke wie Pfeile zwischen die Wolken hineinschleuderte und als ob sie, je weiter sie auch zielte, immer um ein weniges zu kurz träfe“, 62). Nach dem optischen Scheitern seines phallischen Begehrens fühlt Törleß nun umgekehrt den Himmel „riesig und schweigend auf sich herunterstarren“ (63), also auch hier eine Inversion. „Himmel“ wurde aber bereits zu Romanbeginn in der Božena-Szene mit der Mutter verknüpft: „[…] meine Mutter ein Geschöpf, das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte“ (33). Unter dem Blick des schweigenden, leichenhaften Himmels (leichenhaft, da nur ein mangelhafter Ersatz der realen Mutter) regrediert der Zögling am Ende der Himmelsszene sogar zum hilflosen Kleinkind, denn zum Schluss scheint sich auch noch die Mauer gleichsam mütterlich über den hilflos im Gras Liegenden zu beugen und ihn ebenfalls schweigend anzublicken (66). Als Erklärung für Törleßʼ Konfusionserlebnisse lässt sich somit aus psychoanalytischer Sicht das nach außen projizierte Begehren nach dem Blick der Mutter anführen. Erst postfreudianische Theoretiker wie Jacques Lacan und Melanie Klein
72 Eine seinerzeit virulente Vorstellung, vgl. etwa Kapitel X: „Mutterschaft und Prostitution“ in Otto Weiningers philosophischem Bestseller Geschlecht und Charakter (1903).
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sollten die Bedeutung des mütterlichen Blicks für die Entwicklung von Ich und Selbstbewusstsein erkennen. Immer wieder übernehmen die unbewussten Wünsche des Zöglings die Kontrolle: Törleß wird ‚schwach‘ und wechselt von der Subjektauf die Objektseite. Im Gegenzug wird dann das eigentlich harmlose Objekt, das als Ersatz- oder Übergangsobjekt die Mutter repräsentiert, für Törleß zum ambivalent bedrohlich-erregenden Subjekt, von dem sogar Kastrationsdrohungen ausgehen („Herrin der schwarzen Scharen“, „schwarze Eunuchen“, 24 f.), da es dem Triebanspruch opponiert. Zu Romanbeginn ist Törleß also zerrissen zwischen der bisherigen Kindesrolle, an der ein Teil von ihm festhalten oder zu ihr zurückkehren möchte, und dem erwachenden, ihn noch überfordernden Triebanspruch. Am Ende des Romans hat er in seiner psychosexuellen Entwicklung offenbar eine Stufe erreicht, die die Ausbildung einer ‚normalen‘, männlichen Geschlechtsidentität sogar übersteigt. Denn sie entspricht einem Ideal der Kunst und Literatur um 1900, nämlich der Androgynität: Wurde Törleß zuvor noch von Beineberg verspottet, dass er stets nur „halb“ bleiben werde, heißt es nun vom Protagonisten: Der „ganze Mensch“ (136), der das Institut verlässt, fühlt einerseits zukunftsfroh die „Gewißheit des befruchteten Leibes“ (140). Andererseits vermag er, mit „kühle[r] [also ‚männlicher‘; d. Verf.] Gelassenheit“ (140) seiner Mutter, die ihn am Bahnhof abholt, gegenüberzutreten. Bezeichnenderweise ist Frau Hofrat Törleß dieses Mal allein angereist und ist es dieses Mal ihr Sohn, der sie, wie zur Kontrolle des eigenen Fortschritts, „betrachtete“ (140) und als Frau wahrnimmt. Dazu passt, dass er sie von der Seite betrachtet, nicht von vorn, von wo aus er wieder ihrem mütterlichen Blick ausgesetzt wäre. Der letzte Satz des Romans lautet: „Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner Mutter aufstieg.“ (140) Sexuelles und epistemologisches Begehren sind in diesem Roman somit auf eigentümliche Weise miteinander verquickt; Musil selbst sprach kurz nach Abschluss der Arbeit am Roman im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Frühromantik von einer „Durchgeistigung der Sinnlichkeit“⁷³. Sein Romanheld will diese Verquickung aber gerade nicht wahrhaben: „Basini und dies [Törleßʼ Frage nach dem Ursprung seiner Verwirrungen] sind für mich zweierlei; und zweierlei pflege ich nicht im selben Topf zu kochen.“ (83) Die Suche des Zöglings nach dem Kipppunkt zwischen seinen Zuständen bzw. jenem Punkt im Unendlichen, in dem sich die Parallelen vereinigen, ließe sich aus psychoanalytischer Sicht als die Suche nach LʼOrigine du Monde (nach dem Titel des berühmt-berüchtigten Gemäldes von Gustave Courbet) deuten: nach dem Ort der Vereinigung von Mann und Frau, also dem „Versteck“ (86) oder „Winkel“ (111), für den im Roman symbolisch die in einem
73 KA/Transkriptionen/Heft 11/5, vgl. auch Heft 11/44.
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spitzen Winkel auslaufende rote Dachbodenkammer steht. Es ist jener Ort, der vexierbildartig zugleich das Objekt des (männlichen) Triebbegehrens ist wie der Ort des Zur-Welt-Kommens. Törleß gleicht damit dem Zeichner des liegenden Weibes in Albrecht Dürers Holzschnitt (1525)⁷⁴, der ein so genanntes „Pförtchen“ (also ein Törlein, ein Törleß) als Hilfsmittel zur Konstruktion zentralperspektivischer Bilder benutzt. Bei Dürer dient dieses netzartige Raster offenkundig als Alibi, als Vorwand, um die Schaulust am „Fluchtpunkt“ zwischen den gespreizten Beinen des vor dem Zeichner liegenden Modells stillen zu können, und auch Törleß tanzt es gerade beim Anblick nackter Kinder und arbeitender Dorffrauen „wie ein feines Netz vor den Augen“ (17). Bei Musil ist es das epistemologische Begehren des Protagonisten, das als Alibi dient, um von den ödipalen und sexuellen Hintergründen abzulenken. Dazu dienen übrigens auch die allgemeinen Reflexionen des Erzählers (65), die sich so gesehen mit der sekundären Bearbeitung durch die Traumarbeit vergleichen lassen, die den Schlafenden vor der Erkenntnis des eigentlichen Traumwunsches zu schützen sucht. Weil er den ödipalen Konflikt seines Protagonisten zugleich entund verhüllt, ist Musils Roman ein sich selbst dekonstruierender Text, ein Text mit doppeltem Boden, ein Vexierbild in Gestalt eines Romans: Dem vordergründigen Ja, also dem vom Erzähler gefeierten Wissensdrang des Protagonisten, steht ein desillusionierendes Nein, nämlich Törleßʼ ödipales Begehren als Erklärung, gegenüber.
Literaturverzeichnis Anz, Thomas/Oliver Pfohlmann: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Eine Dokumentation. Band I: Einleitung und Wiener Moderne. Marburg 2006. Bonacchi, Silvia: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluß der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern 1998. Corino, Karl: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003. Corino, Karl: Fortgesetzte Nachlese. Neu aufgefundene Korrespondenz Robert Musils. In: Musil-Forum 34 (2015/2016), S. 260–274. Corino, Karl: „Von der Seele träumen dürfen“. Nachträge zur Biographie und zum Werk Robert Musils. Würzburg 2022. Dröscher-Teille, Mandy/Birgit Nübel: Intertextualität. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 760–791. Freij, Lars W.: ‚Türlosigkeit‘. Robert Musils „Törleß“ in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dichters. Stockholm 1972. Gess, Nicola: Ethnologie. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin/Boston 2016, S. 554–560.
74 Der Holzschnitt erschien im ersten deutschsprachigen Mathematikbuch, Dürers Underweysung der messung mit dem zirckel un richtscheyt in Linien ebenen unnd gantzen corporen.
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„… in der glashellen Einsamkeit …“ Felddynamiken in Musils Triëdere und Ein Soldat erzählt Abstract: Das Problem der Regulation wird von Musil als Geflecht von ästhetischen, medientechnischen und experimentellen Fragen aufgefasst. Felddynamiken, die als regulatives Modell in den Naturwissenschaften und in der Psychologie entwickelt wurden, werden in den Kurztexten Triëdere und Ein Soldat erzählt experimentell als grenzwertige Erfahrungen der Wahrnehmung codiert. Durch den umwälzenden Verweis auf Regulationsverfahren, die in den Naturwissenschaften wirksam waren, inszeniert das Erzählen eine geplante Erschütterung der Ordnung in jenen Bereichen, deren Ansprüche die Modernität geprägt haben: Schlachtfeld und Labor.
Im Heft 3 der Tagebücher zitiert Musil ein interessantes Exzerpt aus einem Werk Hugo Münsterbergs, in dem die Ganglien-Gruppen des Nervensystems als „Zentralorgane“ beschrieben werden, die einerseits „relativ selbständig“ sind, aber gleichzeitig „subordiniert“, da „ihre Gesamtheit […] keine Republik von Gleichgestellten, sondern eine Hierarchie von Beamten [bildet]“. Das Zentralnervensystem selbst „gleicht dem System der Verwaltungsbehörden in einem Staat“.¹ Dieses Zitat, das vermutlich zwischen 1899 und 1901 von Musil in seine Tagebücher übernommen wurde, zeugt nicht nur von einem Interesse Musils für die Hirnforschung und ihre Wirkungen auf die Entwicklung einer psychophysischen Darstellung der Wahrnehmungsprozesse.² Es liegt hier vielmehr eine Neigung vor, die Fragen eines Bereiches der Naturwissenschaften und die der politischen Strukturen auf das gemeine Substrat der Organisationstrategien zusammenzubringen. Der Begriff „Organisation“ bezieht sich somit nicht ausschließlich auf die bloße Konfiguration der Elemente innerhalb eines Wissensbereiches, sondern beschreibt die mit der Verfertigung bzw. Darstellung einer Ordnung beauftragten Prozesse und Strukturen.³
1 Robert Musil: Tagebücher. 2 Bände. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchges. u. erg. Aufl. Reinbek b. Hamburg 1983 [1976] (=Tb), Bd. 1, S. 71 f. 2 Vgl. Claus Hoheisel: Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Kommentar. Berlin 2010, S. 353. 3 Vgl. Florian Kappeler: Situiertes Geschlecht. Organisation, Psychiatrie und Anthropologie in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 2012, S. 47 f. https://doi.org/10.1515/9783110988352-013
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Kulturhistorisch wurzelt diese praktische Ebene des Organisationsbegriffs in einer Metaphorik, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine Umschreibung der Verhältnisse sowohl in dem politischen Diskurs als auch in der wissenschaftlichen Begriffsbildung hinweist.⁴ Die Grundzüge dieser Umwälzung entsprechen gleichsam dem, was Kurt Lewin in einem folgenschweren Essay als Übergang von einer „abstraktiven“, aristotelischen Denkweise zu einem auf das Problem der Dynamik orientierten Denkstil bezeichnen wird.⁵ Musil, als einer der prominentesten Vertreter der „zwei Kulturen“, sogar als ihr Schnittpunkt,⁶ verdichtet in seinem Werk die große Komplexität eines solchen Übergangs, indem er gleichzeitig die kritischen Stellen und Ambiguitäten der sich daraus ergebenden wissenschaftlichen und sozialen bzw. politischen Organisationsstrategien programmatisch inszeniert. Der vorliegende Beitrag zielt folglich darauf ab, die Spuren dieser Ordnungssuche in Musils Texten zu rekonstruieren, die sich auf Feldmodelle zurückführen lassen. Und zwar geht es hier erstens um eine Prüfung des vor-wissenschaftlichen Ursprungs und der transdisziplinären Entwicklung solcher Modelle sowie ihrer Zentralität im wissenschaftlichen Diskurs, und zweitens um die Analyse ihrer Wirkung in Musils Texten, sowohl auf dem Niveau der essayistischen Überlegung als auch auf dem der erzählerischen Kodierung. Der Fokus wird auf zwei Texte gelegt, Ein Soldat erzählt und Triëdere. In beiden knüpfen die psychophysischen Fragen an ein experimentell ausgedachtes Erzählen an, dessen Spielraum aus der ständigen und subversiven Verschiebung der gegebenen Ordnung entsteht. Methodologisch gehen wir hier davon aus, dass sowohl die Literatur als auch die Wissenschaften ihre eigenen Gegenstände durch rhetorische Strategien erzeugen, die auf keinen objektiven Hintergrund festgelegt sind. Ihre scheinbare Objektivität ist vielmehr das Produkt von ästhetischen Entscheidungen, die wir als Formen ihrer Darstellung bezeichnen können.⁷ Infolgedessen wird hier ein kurzer Überblick über die historisch bzw. begrifflich andersartigen Formen des Feldbegriffes gegeben und dementsprechend seine Durchdringung in Musils erzählerischen bzw. organisatorischen Darstellungsformen untersucht.
4 Vgl. Albert Kümmel: Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation. München 2001, S. 166. 5 Vgl. Kurt Lewin: Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. In: Erkenntnis (1930), S. 421–466. 6 Vgl. Burkhardt Wolf: Erzählen im Experiment. Narratologie und Wissensgeschichte am Kreuzweg der zwei Kulturen. In: Experiment und Literatur: Themen, Methoden und Theorie. Hg. v. Michael Gamper. Göttingen 2010, S. 208–235, hier S. 232. 7 Vgl. Joseph Vogl: Robuste und idiosynkratische Theorie. In: KulturPoetik 2 (2007), S. 249–258, hier S. 254.
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1 Das Feld als Regulationsbegriff Das Wissen über die Regulierung von psychischen und physischen Vorgängen verdichtet sich schon seit den Blättern aus dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur in der problematischen Inszenierung der Beziehungen zwischen „innen“ und „außen“⁸, die ihrerseits den beherrschenden Code der psychologischen Forschung im 19. und frühen 20. Jahrhundert bilden.⁹ Die beiden Werte beziehen sich – in ihren dynamischen Varianten „nach innen“ und „nach außen“ formuliert – auf eine Sehpraxis, in der sich experimentelle Erfahrungen, Selbstbeobachtung und ästhetisch kodierte Formen des Sehens kreuzen.¹⁰ Letztendlich weisen sie auf eine gewisse Organisation des Raums des Lebens hin, die sowohl in den Naturwissenschaften als auch im politischen Diskurs sich als Metaphorik der Grenze gestaltet.¹¹ Eine erste Annäherung an ein solches Modell ereignet sich im Bereich der Physik als problematische Spaltung innerhalb der Raumvorstellungen. Die elektromagnetischen Kraftlinien bilden nach J. C. Maxwell ein System, in dem die einzelnen Elemente interdependent voneinander sind. Das heißt, jede Veränderung des Einzelnen ist durch eine Erklärung aufzufassen, die das ganze System einbezieht. Dieser Sachverhalt richtet unausweichlich auf die Vorstellung von einem ununterbrochen mit einem Medium gefüllten Raum aus, in dem sich die Veränderungen der einzelnen Elemente durch Feldwirkungen erklären lassen. Und nicht der Raum allein tritt als kontinuierlich auf, sondern auch das Medium, das ihn füllt. Mit anderen Worten bilden Medium und Raum eine Einheit: Its [sc. des Mediums] minute parts may have rotatory as well as vibratory motions, and the axes of rotation form those lines of magnetic force which extend in unbroken continuity into regions which no eye has seen, and which, by their action on our magnets, are telling us in
8 Musil, Tb 1, S. 1 f. 9 Historisch betrachtet beruht die frühe psychologische Forschung auf diesen beiden Parametern, die die jeweilige Zugriffsweise auf den Untersuchungsgegenstand markieren: Innen und außen, psychisch und physisch sind die zwei Pole, zwischen den der psychologische Diskurs im Laufe des 19. Jahrhunderts oszilliert; vgl. die Einleitung des Herausgebers in: Franz Brentano/Gustav Theodor Fechner: Briefwechsel über Psychophysik 1874–1878. Hg. v. Mauro Antonelli. Berlin/Boston 2015, S. 11. Aus der Sicht der inneren Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft weisen sie auf eine Abhängigkeit jeweils von der Philosophie und der mathematischen Ontologie (z. B. der Schule Herbarts) oder von Begriffen und Methoden aus der Physiologie hin. Einer der ersten und erfolgreichsten Versuche, diese kausal aufgefasste Abhängigkeit zu sprengen, lässt sich der Ausarbeitung des psychophysischen Parallelismus Fechners zuschreiben. 10 Burkhardt Wolf: Der befremdete Blick. Musils Sehversuche. In: Sprache und Literatur 2 (2018), S. 133–152, hier S. 133. 11 Kümmel, Das MoE-Programm, S. 206–208.
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language not yet interpreted, what is going on in the hidden underworld from minute to minute and from century to century.¹²
Somit liefert die Physik das Modell eines dynamisch gesteuerten Raums, in dem chaotische Teilchen einer Kraft untergeordnet sind, deren Natur sich nicht vollkommen durchschauen lässt. Statistisch betrachtet kann die Kontinuität des Mediums als theoretischer Notbehelf gedeutet werden, der die Ausnahmefälle „ins Reich des kaum Vorstellbaren“¹³ verbannt. Daraufhin findet sich die Physik vor der heiklen Frage der Beziehung zwischen Teil und Ganzem, die wenn nicht als radikale Spaltung, so zumindest als problematische Wendung zu verstehen ist, die sich als eine „genau zwischen der gegen Ende des 19. Jh. zunehmenden Tendenz zum Systemdenken innerhalb von Naturwissenschaft, Technik und Industrie, aber auch Soziologie, Philosophie“¹⁴ ereignet. Die Einführung des Felds in die Begriffsbildung der Psychologie stützt sich auf eine analoge Raumvorstellung. In seinem 1920 erschienenen Werk Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand geht Wolfgang Köhler davon aus, dass die Psychologie die neurophysiologischen Prozesse „in terms of field continua rather than that of particles or point-masses“¹⁵ behandeln muss, was wiederum die Rolle des Feldes nicht nur als eine rein begriffliche Struktur, sondern vielmehr als eine ästhetisch und wissensgeschichtlich fundierte Option beleuchtet. Der Feldbegriff erzeugt eine gewisse Raumvorstellung, er ist die Einrichtung einer organisatorischen Tätigkeit, die ihre eigene Logik hervorbringt. Köhler will nämlich die Denkgewohnheit der Naturwissenschaftler:innen, physische Systeme als Gesamtstrukturen zu behandeln, in denen kein Punkt für sich, sondern nur in Bezug auf alle anderen existiert, auf die Objekte der psychologischen Forschung ausweiten, die im Gegenteil die Erregungen im Wahrnehmungsprozess als die „rein summative Gruppe von Elementarvorgänge[n] nebeneinander“¹⁶ auffasst. Der Feldbegriff im Sinne Köhlers erzeugt somit eine Analogie zwischen physischen Systemen und spezifischen Sektoren des Nervensystems. In den ersteren können stationäre Zustände entstehen, wenn sie „as result of continuous processes […] toward minimum energy displacement and maximum entropy“¹⁷ neigen. Der-
12 J. Clerk Maxwell: On Action at a Distance. In: Proceedings of the Royal Institution of Great Britain, Vol. VII. London 1873–1875, S. 44–54, hier S. 54. 13 Kümmel, Das MoE-Programm, S. 185. 14 Kümmel, Das MoE-Programm, S. 203. 15 Mitchell Ash: Gestalt psychology in German culture, 1890–1967. Cambridge 1995. 16 Wolfgang Köhler: Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung. Braunschweig 1920, S. XVIII. 17 Ash, Gestalt psychology in German culture, S. 171.
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gleichen ereignet sich im Nervensystem, wo sich aus Gleichgewichtzuständen Gestalten formieren, „ausgedehnte Geschehenseinheiten […], die im Prinzip als ganze und an jeder Stelle der Gesamtheit der jeweiligen Reizbedingungen gemäß sind“.¹⁸ Ist das Feld der begriffliche Niederschlag der Interaktion zwischen wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Elementen, ästhetischen Entscheidungen und fachübergreifenden organisatorischen Ansprüchen, stellt es fruchtbare theoretische Gebilde für zahlreiche Disziplinen bereit: The terms „Gestalt,“ „whole,“ „field,“ and „system“ thus functioned as what Kurt Danziger has called „generative metaphors,“ organizing research and acquiring increasingly rich new meanings within particular laboratory settings while simultaneously connecting them with wider scientific and cultural discursive fields.¹⁹
Feldtheorien kündigen u. a. ein neues Verhältnis des Subjekts mit seiner Umwelt an. In dem durch mehrere Jahre von Kurt Lewin bearbeiteten Feldmodell artikuliert sich das neue Paradigma durch die Umschreibung der Kategorien von „innen“ und „außen“ im Sinne von Lebensraum, „der die Person und ihre Umwelt einschließt“.²⁰ Der Lebensraum entsteht aus dem Verhältnis zwischen Subjekt und seinem psychischen Raum, und seine Konfiguration bezieht sich immer auf die gegenwärtige Struktur des gesamten Felds: „Nach der Feldtheorie hängt das Verhalten weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft ab, sondern vom gegenwärtigen Feld.“²¹ Der Raum lässt sich somit nicht mehr als rein physikalisch verstehen, sondern eher als psychologisch, da die im Feld vorliegenden Dinge und Ereignisse einen gerichteten, vektoriell formulierten Aufforderungscharakter bekommen, dessen Wert von der spezifischen Gesamtsituation und nicht vom Wesen der Gegenstände abhängt: Was uns psychologisch als Umwelt gegeben ist, ist nicht eine Summe von optischen, akustischen, taktilen Empfindungen, sondern wir sehen uns Dingen und Ereignissen gegenüber. Die Erkenntnis von diesem Sachverhalt hat sich in der Psychologie allmählich durchgesetzt. Von alters her pflegt man überdies den Dingen und Ereignissen gewisse Gefühlsbetonungen zuzuerkennen, sie sind uns angenehm oder unangenehm, lustvoll oder unlustbetont.²²
18 Köhler, Die physischen Gestalten, S. XIX. 19 Ash, Gestalt psychology in German culture, S. 11. 20 Daniel Gethmann: Feld: Modelle, Begriffe und architektonische Raumkonzepte. Zürich 2020, S. 242. 21 Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Bern 1963, S. 71. 22 Kurt Lewin: Vorsatz, Wille und Bedürfnis. In: Psychologische Forschung 1 (1926), S. 330–385, hier S. 350.
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Diese Anerkennung der Psychologie stammt aber keinesfalls aus rein theoretischen Notwendigkeiten. Wie schon oben erwähnt, ist jede Wendung, wie die Umformulierung oder die Übertragung von wissenschaftlichen Begriffen und Vorstellungen, in ein dynamisches Beziehungssystem eingebaut, das auf die gesamte Organisation des Wissens – und nicht nur die Organisation des einzigen Wissensbereichs – hinweist. Im vorliegenden Fall wurzelt die von Lewin erarbeitete Raumvorstellung tief in der sowohl individuell wie kollektiv erlebten Erfahrung des Kriegs, an dem er als „Feldartillerist“²³ teilnahm. Die vom Kriegszustand hervorgerufenen Logiken geben den Anstoß zu einer topologisch geprägten psychologischen Analyse. Daraufhin fällt die Grenze der vom Soldat erlebten Kriegslandschaft nicht mehr mit dem reinen Wahrnehmungspotential des Subjekts zusammen, sondern sie wird topologisch determiniert. Die Friedenslandschaft dehnt sich also „weit über den Raum hinaus, den nach optischen Gesetzen die Netzhaut, selbst sukzessiv, widerspiegeln kann“.²⁴ In der Kriegslandschaft ereignet sich eine radikale Veränderung der Gesamtsituation, und zwar „eine Veränderung der Landschaft selbst“: „Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt.“²⁵ Diese erste Grenzziehung trennt einen außenpsychologischen Raum vom Lebensraum, der dem Handlungsbereich entspricht. Es geht hier nicht bloß um die Trennung zwischen Frieden- und Kriegslandschaft als abstrakte Gegenstände, sondern um eine Grenze, die den Bereich der gegenwärtigen, konkreten Handlungsmöglichkeiten definiert.²⁶ Der Schriftsteller und ausgebildete Psychologe Robert Musil wird sein Schicksal mit Lewin und vielen anderen Wissenschaftlern und Künstlern teilen, die am Krieg teilgenommen haben. Die Geschwindigkeit, die außergewöhnliche Technisierung
23 Kurt Lewin: Kriegslandschaft. In: Kurt-Lewin-Gesamtausgabe, Bd. 4: Feldtheorie. Hg. v. CarlFriedrich Graumann. Bern/Stuttgart 1982, S. 315–325, hier S. 315. 24 Lewin, Kriegslandschaft, S. 316. 25 Lewin, Kriegslandschaft, S. 316. 26 Der Krieg stellt zweifellos einen Idealfall für die Anwendung solcher Theorie dar, die die Akteure und die Gegenstände im Feld als gerichtete vektorielle Kräfte betrachtet. Darüber hinaus übt der Krieg einen entscheidenden Einfluss auf die Bearbeitung eines solchen Modells aus, allein schon für den Konfliktzustand, den es inszeniert. In seinen späteren Werken aber befreit sich Lewin teilweise – sowohl in Bezug auf die Sprache als auch auf die untersuchten Situationen – vom kriegerischen Substrat, das aber organisatorisch, strategisch und wissenshistorisch einer der einflussreichsten Wissensbereiche bleibt. Ich stimme in diesem Punkt Kümmel zu, wenn er schreibt: „psychologische Feldtheorie und Gruppendynamik à la Lewin modellieren ihre Gegenstände als strategische Situationen, die allerdings nicht notwendigerweise bürgerkriegsartig ausgefochten werden müssen“ (Kümmel, Das MoE-Programm, S. 207).
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der Kriegsführung, die extremen Wahrnehmungserlebnisse, denen Soldaten konstant ausgesetzt sind, tragen dazu bei, die Bestimmung der Landschaft als Kriegslandschaft durch die Erfindung neuerer Darstellungs- und Speicherungsmöglichkeiten der psychophysischen Erfahrungen zu ergänzen.²⁷
2 Kriegslandschaft und Schlachtfeld Die Spuren des Krieges in Musils Schriften differenzieren sich sowohl nach der Form als auch nach der Fragestellung, von der sie ausgehen. Allerdings besitzt der durch drei Fassungen hindurch ausgearbeitete Vorfall des Fliegerpfeils eine gewisse Beharrung, wobei „jeder der drei Texte auf die Frage, was sein Ereignis ist, eine andere Antwort zuläßt“.²⁸ Die zweite Fassung, welche die erstere Version explizit als Erzählung verfasst darstellt, erscheint, während Musil 1915/16 an der Front war, und thematisiert eine besondere akustische Erfahrung, die ein Soldat der österreichischen Armee während seiner Stationierung an der italienischen Front erlebt. Die Erzählung ist wie ein Experiment konzipiert, und zwar ein psychologisches. Die zentrale Erfahrung des Geräuschhörens stammt aus dem Kreuzpunkt zwischen dem Krieg als umfassende Situation und dem experimentell gewonnenen psychophysischen Wissen. Die Landschaft ist künstlich, „von Gott wie ein Posaunenstoß geschaffen“.²⁹ Die Landschaft ist bereitgestellt und der Posaunenstoß Gottes ähnelt qualitativ den „Stellungsbauten“ der Soldaten, da beide der Organisation eines materiellen Substrats durch technische Mittel entsprechen. Die Kriegslandschaft ist somit in jeder Hinsicht in die Umwelt vollkommen integriert. Diese Künstlichkeit und ihre Verbindung mit der Technik im Sinne der Manipulation der Umwelt und der Gegenstände herrschen auch auf der metaphorischen Ebene: „… wenn ich die Nase herausstreckte, sah ich die Brentagruppe hell himmelblau wie aus Glas steif gefaltet. Und in den Nächten waren die Sterne groß wie aus Goldpapier gestanzt und flimmerten fett wie aus Teig gebacken …“³⁰ An der künstlichen Landschaft entpuppt sich selbstreflexiv die programmatische Annäherung des Erzählens an die experimentelle Praxis. Speist sich Musils erzählerische Tätigkeit aus dem zeitgenössischen experimentellen Wissen, so stößt die erste wiederum an die brisantesten Probleme des
27 Vgl. Christoph Hoffmann: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997, S. 114–116. 28 Hoffmann, „Der Dichter am Apparat“, S. 121. 29 Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978 (=GW), Bd. 7, S. 752. 30 Musil, GW 7, S. 752.
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Erzählens, d. h. „das jeweilige Ausleseprinzip“³¹ und die Organisation des Materials im Text. Musil stellt im Kern der Erzählung nicht bloß eine Schlacht dar, sondern den Bericht eines Soldaten über ein grenzwertiges und vom Zufall gesteuertes Hörerlebnis, das dort stattfindet, „wo keiner weiß, daß er stirbt und doch in jeder Woche einige sterben“.³² In diesem Ort, „in dieser für ein froheres Ereignis geschaffenen Landschaft“³³, die der Raum der Erzählung ist, treffen sich Zufall und Ordnung als Wahrscheinlichkeitsfunktionen, die das Feld der Ereignisse steuern. Statistischen Wert besitzt vor allem das zentrale Ereignis: Die Battn. ringsum begannen sich wahnwitzig zu ereifern, der helle Himmel war im Nu von weißen Wölkchen wie mit einer Puderquaste betupft … und zwischendurch schwamm wundervoll mit ausgespannten Flügeln der Aeroplan. […] Im gleichen Augenblick während ich gänzlich hingerissen hinaufstarrte, fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß wir hier – eine Gruppe wie Rennbesucher beisammenstehender Offiziere, ein verlockendes Ziel bieten mußten. Im nächsten Augenblick hörte ich ein leises Singen. Ein Schuss war es nicht; aber natürlich kann es auch umgekehrt vor sich gegangen sein. Er hat einen Pfeil abgeworfen, dachte ich mir; aber ich war nicht erschrocken, sondern mehr verzückt. Ich wunderte mich, daß die anderen nichts hörten. Ganz fern aus dem Äther kam es näher (heran). Es war hoher, dünner, singender Laut. Lange, sehr lange hörte ich ihn näherkommen. Er wurde körperlicher, schwoll an, bedrohlicher. Aber das Musikhafte verlor er nicht.³⁴
Dass „in diesem Spiel Akustik und Statistik von Anfang an gekoppelt [sind]“,³⁵ ist eine Tatsache, die das Kriegserlebnis im Allgemeinen betrifft und dazu geführt hat, dass zahlreiche WissenschaftlerInnen sich große Mühe gaben, „[to employ] laboratory instruments and techniques to solve military problems, from the development of sound-ranging devices in physics to that of poison gas in chemistry“.³⁶ So wie die Hörexperimente darauf abzielen, eine akustische bzw. räumliche Ordnungsdarstellung aus einer statistischen Schwierigkeit zu erzeugen, geht die Erzählung von der Manipulation seiner Gegenstände nach einem Ausleseprinzip aus. Knapp zehn Jahre nach der Verfassung dieser Erzählung arbeitet Musil in einem berühmten Essay des Titels Ansätze zu neuer Ästhetik die Grundprobleme des literarischen Schaffens aus. Er nimmt an, die Kunst habe „die Aufgabe unaufhör-
31 Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums. In: Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1970 bis 1920. Hg. v. Jochen Hörisch u. Michael Wetzel. München 1990, S. 265–288, hier S. 281. 32 Musil, GW 7, S. 752. 33 Musil, GW 7, S. 752. 34 Musil, GW 7, S. 752. 35 Berz, Der Fliegerpfeil, S. 283. 36 Ash, S. 188.
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licher Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt und des Verhaltens in ihr, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt“.³⁷ In der Sprengung des formelhaften und alltäglichen Erlebnisses erschöpft sich aber nicht die Aufgabe des Kunstwerks, das letzten Endes darauf abzielt, „ein anderes Verhältnis des Erlebenden zum Erlebnis“ hervorzubringen, „dessen Inhalt sich nicht zu ändern braucht, aber gewissermaßen ein Lagezeichen, einen Vektor, eine andere Richtung erhält“.³⁸ Die direkte, unmittelbare Erfahrung ist somit teilweise ausgeschlossen vom Bereich des Kunstwerks. An ihrer Stelle tritt eine steuernde, vektorielle Kraft auf, die aus dem Unwahrscheinlichen und Zufälligen eine neue Ordnung in das statistisch regulierte Zerstreuungsfeld der Kriegslandschaft bringt: Bevor der Fliegerpfeil akustisch wird, ist er schon statistisch. Er ist „Streuung“ und „zufällige Verteilung“ zu einer Waffe kristallisiert, einer Waffe ohne Antrieb, ohne Explosivwirkung, mit minimalen ballistischen Einflußmöglichkeiten, „projiziert (geworfen)“ auf ein Wahrscheinlichkeitsschlachtfeld.³⁹
Eine „zufällige Verteilung“ bleibt zusätzlich zielgerichtet: Das italienische Flugzeug schießt seine Geschosse nicht bloß zufällig, sondern es richtet sie gegen „eine Gruppe wie Rennbesucher beisammenstehender Offiziere“⁴⁰, zwischen denen sich auch die erzählende Stimme befindet. Das körperliche, räumliche und akustische, aber nichtsdestoweniger diskursvermittelnde Ausleseprinzip der Erzählung entsteht genau aus dieser stetigen Spannung zwischen Berechenbarkeit und Zufall. Experimentelle Untersuchungen über die Wahrnehmung der Schallrichtung und der Schallentfernung werden Jahre später die wesentliche Verbindung zwischen physikalischem und akustischem Raum beweisen, so dass von einem „Hörraum“⁴¹ gesprochen werden kann. Die Umstände des Ersten Weltkriegs stellen aber die Soldaten der praktischen Dimension dieser Probleme gegenüber, denn, wie Hoffmann scharfsinnig betont, treten die Sehfähigkeiten zugunsten der Hörfähigkeiten entscheidend zurück.⁴² In dieser Hinsicht arbeiten die technischen Erfindungen und die politischen bzw. militärischen Strategien zur Verschleierung der Grausamkeit auf dem Schlachtfeld zusammen. Das strategische Zurücktreten der Sicht, die das Verhalten zwischen Menschen und Kriegslandschaft reguliert, eröffnet dem
37 Musil, GW 8, S. 1152. 38 Musil, GW 8, S. 1152. 39 Berz, Der Fliegerpfeil, S. 283. 40 Musil, GW 7, S. 752. 41 Erich M. von Hornbostel: Das räumliche Hören. In: Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie. Hg. v. Albrecht Bethe, Bd. 11: Rezeptionsorgane I. Berlin 1926, S. 602–618. 42 Hoffmann, „Der Dichter am Apparat“,S. 114.
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Psychologen Robert Musil die Möglichkeiten zu einer direkten Beobachtung der Hörerscheinungen und erlaubt ihm, ihren Platz im Erlebnis eines Soldaten experimentell einzuordnen. Wenn „die Gefechte, Toten usw., die sich vor den Stellungen abspielten“, dem Soldaten Musil „keinen Eindruck gemacht“⁴³ haben, üben im Gegensatz dazu die Hörerscheinungen der Gefechte eine eindrucksvollere Wirkung auf ihn aus: Der Laut des Geschosses ist ein anschwellendes und, wenn der Schuß über einen fortgeht, wieder abschwellendes Pfeifen, in dem der ei-Laut nicht zur Bildung gelangt. Große Geschosse nicht zu hoh über der eigenen Stellung lassen den Laut zum Rauschen anschwellen, ja zu einem Dröhnen der Luft, das einen metallischen Beiklang hat … Der Eindruck war der eines unheimlichen Aufruhrs in der Natur. Die Felsen rauschten und dröhnten. Gefühl einer bösartigen Sinnlosigkeit.⁴⁴
Während die militärische Technologie versucht, diese Geräusche ihrer Sinnlosigkeit durch die Entwicklung von akustischen Apparaturen zu entziehen, die die Herkunft und die Richtung der Laute mit wachsender Genauigkeit empfangen können, ist für Musil der Krieg als Experimentalraum „nicht allein Ort der Exploration, sondern Übungsinstrument eines experimentellen Verhaltens, das einen wissenschaftlich exakten Umgang mit dem Möglichen sucht“.⁴⁵ Anhand solchermaßen formulierter experimenteller Bedingungen wird es für den Dichter möglich, die zwanghaften, vom Krieg durchgesetzten Beziehungen zwischen den Tatsachen zu isolieren und sie erzählerisch auszuarbeiten.⁴⁶ Aus dem Gesichtspunkt des Soldaten bezieht sich jeder Gegenstand der Landschaft auf die gesamte Situation des Krieges. Die Kriegslandschaft, die immer „gerichtet“ und „begrenzt“ auftritt, funktioniert als Vorrichtung, die die dynamische Veränderung der Gegenstände vor den Augen der Soldaten zwingend reguliert: Auch die relativ großen, nicht durch Gräben zerstückelten Fläche, die man an und für sich sehr wohl als Feld oder Wald bezeichnen könnte, sind nicht Felder oder Wälder im Sinne der Friedenslandschaft; ebensowenig behalten die Dörfer den ihnen sonst zukommenden Cha-
43 Musil, Tb 1, S. 312. 44 Musil, Tb 1, S. 313. 45 Roland Innerhofer/Katja Rothe: Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin: Regulierungswissen. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 10 (2010), S. 365–381, hier S. 371. 46 Innerhofer schreibt in dieser Hinsicht: „Während die spezialisierten Wissenschaften die Tatsachen ihrer jeweiligen Gegenstände möglichst präzise zu analysieren hätten, sei es die Aufgabe der Dichter, die Beziehungen zwischen den Tatsachen und Einzelerkenntnissen zu erforschen.“ Roland Innerhofer: Robert Musils Netz-Werk. In: Musil-Forum 32 (2013), S. 130–146, hier S. 131.
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rakter. Sondern all diese Dinge sind reine Gefechtsdinge geworden; ihre wesentlichen Eigenschaften sind die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sie vom Feinde aus einsehen …⁴⁷
Die regulativen Dynamiken des Feldmodells bilden die Mechanismen eines Kontrolldispositivs ab, das medientheoretisch sich als „lutte contre le bruit“⁴⁸ [Kampf gegen das Rauschen] verstehen lässt, der seinerseits einen Kampf gegen die Abweichung von der Norm und für die gezwungene Einfügung in ein Netz vorbestimmter Beziehungen ist. Musil versteht im Gegenteil die Literatur als eine sezierende Tätigkeit, wo der vivisecteur die Gegenstände seiner Forschung „unter das Mikroskop setzt“⁴⁹ und ihre Beziehung mit dem Gesamtkontext kalkuliert auflöst. Isolieren bedeutet somit, die Norm aufzuheben, die Beziehung experimentell abzubrechen und die Komplexität des Systems zu erhöhen. In der phänomenologischen, militärstrategisch regulierten Kriegslandschaft offenbart sich so die Verknüpfung zwischen dem vektoriell orientierten Fliegerpfeil und der halluzinatorischen akustischen Erfahrung des Soldaten. Die steigernde Körperlichkeit und „das Musikhafte“⁵⁰ des Fliegerpfeils treten vom Kriegskontext isoliert auf, prüfen die Wahrnehmungsfähigkeit des Soldaten und verleihen den Geräuschen des Kriegs die unwahrscheinliche Konfiguration eines „leise[n] Singen[s]“⁵¹. Daraus ergibt sich letzten Endes der unauflösliche Widerspruch zwischen der gewalttätigen, militärischen und normativen Organisation des Schlachtfelds und der „bösartigen Sinnlosigkeit“ des Kriegserlebnisses.
3 Störungen im Sehfeld Das Interesse Musils für den Krieg weist nicht nur auf seine Lebensgeschichte hin. Der Krieg scheint vielmehr eine Situation zu sein, die in seiner erzählerischen Prosa selten thematisiert wird, und der seinem Großwerk wie ein verdrängter Gegenstand gegenübersteht, dessen Logiken aktiv und anwesend sind, ohne dass dieser direkt ins Spiel kommt. Er bleibt ein immer wieder nach vorne verschobener Horizont des Möglichen: Während mehr als 20 Jahren Romanproduktion, in denen aus einer Seite einige hundert werden, rutscht der Krieg ans unendliche Ende der Parabel. Der Roman mündet in einen Krieg,
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Lewin, Kriegslandschaft, S. 134. Michel Serres: Le Parasite. Paris 1980, S. 117. Musil, Tb 1, S. 3. Musil, GW 7, S. 753. Musil, GW 7, S. 752.
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der nie auftaucht. Von Kriegsgeschichten bleibt nicht viel mehr als ein paar Tagebuchnotizen und die Ankunft eines Fliegerpfeils im Zentrum der kleinen Dreifaltigkeit „Die Amsel“.⁵²
Für das Auge des vivisecteurs ist der Krieg auch ein Spielraum, in dem aus den außergewöhnlichen Verhältnissen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt die idealen Umstände für experimentelle Beobachtungen entstehen, die sich allerdings auch in alltäglichen Situationen kontrolliert wiederherstellen lassen. „Verschieden in Menschenleben sind weder die Fakta noch die innerlichen Zustände, sondern ihre raumzeitliche Anordnung“⁵³, schreibt Musil wenige Jahre nach dem Krieg in seinen Tagebüchern. Und die Arbeit des Dichters besteht gerade darin, die möglichen Konfigurationen dieser Anordnungen zu erforschen, gemeinsam mit den Bedingungen, die sie fördern. Der Text Triëdere zeigt beispielhaft – nicht zuletzt auf einer textgenetischen Ebene – wie die von dem Krieg geförderten Beobachtungsmöglichkeiten sich ins Alltägliche einschleichen: Eines Nachmittags langweilte er sich sehr. Da erinnerte er sich, daß er noch aus der Kriegszeit ein Triëder besitze, fand es in einer tiefen Lade eines hohen Sekretärs und stellte es auf sein Auge ein. Er benützte dazu einen Anschlag, den er am Tor des gegenüberliegenden Hauses bemerkt hatte, und las zu seinem Staunen, daß ein staatliches Institut war, von 9 bis 16 Amtsstunde habe.⁵⁴
Der Krieg stellt auch eine Quelle von technischen Einrichtungen der Beobachtung dar, deren Anwendung auf das Alltägliche nicht nur den ,normalen‘ Wahrnehmungsprozess erschüttern, sondern in den gesamten Wirklichkeitssinn des Beobachters eingreifen. In einer früheren Vorstufe zu Triëdere, 1919/1920 mit dem Titel Halluzinationen, Unfestigkeit des Weltbilds udgl. entstanden, thematisiert der Autor die Spannung zwischen der gewohnten Wahrnehmung und dem technisch gesteuerten, experimentellen Blick: Bei der Wahrnehmung tritt zu den eigentlichen Sinnesinhalten eine Auslese u. Erweiterung zentral hinzu. Man beachtet nicht die verschiedenen Schattierungen u. Tönungen eines Kleides, man begnügt sich damit „denselben“ Stoff zu sehn. Ebenso sind unwahrgenommene Doppelbilder im Gesichtsfeld, Nachbilder, subjektive Gesichtserscheinungen. Das Ohr überhört Geräusche des eigenen Körpers, die Haut, Gelenke, Muskeln, das Vestibularorgan wird durch Bewegungen gereizt. Organempfindungen auch … Wenn man etwas verkehrt ansieht zb. in der \Kamera| bemerkt man übersehene Dinge – Ein Hin u. Herschwanken von Bäumen u. Sträu-
52 Berz, Der Fliegerpfeil, S. 280. 53 Musil, Tb 1, S. 452. 54 Musil, GW 7, S. 578.
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chern oder Köpfen, das man sonst übersieht. Man ist erstaunt über die fortwährende Unruhe der Dinge. Der hüpfende Charakter des menschlichen Ganges kommt einem zu Bewußtsein.⁵⁵
Auf die Frage, ob die Veränderungen in der Wahrnehmung bloß von den technischen Apparaten abhängen oder ob sie sich als erkenntnistheoretische Haltung verstehen lassen, antwortet Musil in der letzten Fassung von Triëdere, die in der Sammlung Nachlaß zu Lebzeiten 1936 erscheint. Der beobachtete Soldat wird hier zum beobachtenden Voyeur, der durch eine bequeme, aber subversive Geste – „nämlich durch ein Fernrohr etwas betrachten, das man sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht“⁵⁶ – auf die stumme und labile Beharrlichkeit der alltäglichen Verhältnisse stößt. Das Potenzial der Seh- bzw. Hörapparaten liegt somit nicht nur in ihren technischen Eigenschaften, sondern vorwiegend in ihrer Verwendung. Triëdere ist wie ein Sehversuch strukturiert, der sich als „gerichtete Beobachtung“⁵⁷ beschreiben lässt. Das Ausleseprinzip, das die Beobachtung richtet, liegt aber in diesem Fall im „anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs“,⁵⁸ da sich die Erzählung genau aus der Spannung zwischen der experimentellen Besonnenheit und dem leichten Grauen der Entdeckung gestaltet. Schon die anfänglichen Beobachtungen verursachen in dem „Späher“⁵⁹ „eine Irritation durch Balance-Verlust“,⁶⁰ die durch eine plötzliche und radikale Verzerrung der geometrischen Perspektive entsteht: Es war ein altes Palais, mit Fruchtgewinden am Kapitäl der Steinpfeiler und schöner Gliederung nach der Höhe und Breite, und während der Späher noch die Beamten gesucht hatte, war ihm schon aufgefallen, wie deutlich sich dieses Pfeilerwerk, diese Fenster und Gesimse ins Fernglas hineinstellten; nun, da er sie mit einem gesammelten Blick erfaßte, erschrak er beinahe vor der steinernen perspektivischen Korrektheit, mit der sie zu ihm herüberblickten. Er wurde plötzlich inne, daß er bisher diese zu einem Punkt im Hintergrund zusammenlaufenden Waagrechten, diese, je weiter seitlich, umso trapezförmiger, zusammengezogenen Fenster, ja diesen ganzen Absturz vernünftiger, gewohnter Begrenzungen in einen irgendwo
55 Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe u. nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen u. Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino. Klagenfurt 2009 (DVD) (=KA), Transkriptionen/Nachlass/Mappe VII/6/252. 56 Musil, GW 7, S. 519. 57 Ludwig Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M. 1980, S. 115. 58 Musil, GW 7, S. 520. 59 Musil, GW 7, S. 519. 60 Barbara Neymeyr: Kulturkritik als „Gleichgewichtsstörung“. Subversive Strategien der „Unfreundlichen Betrachtungen“ in Musils Nachlaß zu Lebzeiten (Triëdere – Der bedrohte Ödipus – Denkmale). In: Musil-Forum 35 (2019), S. 62–98, hier S. 71.
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seitlich und hinten gelegenen Trichter der Verkürzung nur für einen Alp der Renaissance gehalten hatte …⁶¹
Dass diese Entschleierung sich mit einem experimentell bewiesenen Wahrheitsanspruch verknüpft, weist wiederum auf eine ästhetische bzw. rhetorische Praxis hin, die Musil in dem schon erwähnten Essay Ansätze zu neuer Ästhetik ausformuliert: „Treten die formalen Beziehungen einer Kunst plötzlich isoliert hervor, so entsteht, wovon vorhin halb im Scherz die Rede war, jenes schreckhafte Staunen vor einer irrsinnigen Welt.“⁶² Die Isolierung als „Einschließung in einem fremden Medium“⁶³ tritt schon in der ersten Seite seiner Tagebücher als intellektuelle bzw. künstlerische Übung Musils auf und ist grundlegend für den Aufbau des experimentellen Kontexts. Als Erkenntnisposition und experimentell erzeugtes Wissen verdichtet sich die Isolierung bei Triëdere als Erforschung der Bedingungen, die „die Funktionsweise medialer Produktion und Kommunikation“⁶⁴ koordinieren. Somit wird ein Hut, wenn das Fernglas ihn unter seinem Blick einfängt, „augenblicklich zu etwas Wahnsinnähnlichem“, das „ursprünglich und dämonisch“ ausschaut. Alltägliche Gegenstände erscheinen gewohnt, solange sie in ihrem üblichen Kontext vortreten. „Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich, schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten.“⁶⁵ Die Wirkung des Fernrohrs auf das relationale Wesen der Wirklichkeit weist auf die Erkenntnis hin, dass die Wahrnehmung keinesfalls rein auftreten kann, sondern immer Störfaktoren unterworfen ist, die „den Teil zu neuem Ganzen, das Abnorme zur neuen Norm, das gestörte zu einem andren Seelengleichgewicht“⁶⁶ machen. Die Störung als konstitutive Bedingung der Kommunikation ordnet Musils Verständnis von Wissensproduktion und Wissensübertragung in einen Rahmen ein, in dem das Psychische und das Physische sich an dem queren Begriff von Kraft organisieren. Als das mit dem Triëder bewaffnete Auge des Beobachters bei der Straßenbahn verweilt, erscheinen die Wagens, die der ordinären Sicht nach bloß einen „S-förmigen Doppelbogen“⁶⁷ vorzeigen, von einem ungeheuren Zusammen-
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Musil, GW 7, S. 519. Musil, GW 8, S. 1140. Musil, Tb 1, S. 2. Wolf, Der befremdete Blick, S. 135. Musil, GW 7, S. 520 f. Musil, GW 8, S. 1140. Musil, GW 7, S. 520.
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drücken verzerrt, das nicht nur die Gesamtstruktur aufwühlt, sondern ihr tatsächliches Aussehen verrät: Eine unerklärliche Gewalt drückte plötzlich diesen Kasten zusammen wie eine Pappschachtel, seine Wände stießen immer schräger aneinander, gleich sollte er platt sein; da ließ die Kraft nach, er fing hinten an breit zu werden, durch alle seine Flächen lief wieder eine Bewegung, und während der verdutzte Augenzeuge noch den angehaltenen Atem aus der Brust läßt, ist die alte, vertraute rote Schachtel wieder in Ordnung. Das geschah nun, als er mit dem Glas zusah, alles so deutlich an dem öffentlichen Ding, und nicht etwa persönlich bloß in seinem Auge, daß er darauf hätte schwören mögen, es sei nicht minder wirklich, als wenn ein Fächer geöffnet und geschlossen wird. Und wer es nicht glauben will, der kann es nachprüfen.⁶⁸
Einerseits ist der Zugang zum „ursprünglich[en] und dämonisch[en]“ der Dinge durch das störungserregende Experiment ermöglicht,⁶⁹ anderseits findet diese Umgestaltung in einem Raum statt, der wiederum als regulatives und dynamisches Kraftfeld strukturiert ist, in dem psychische und physikalische Kräfte durch den vom Fernrohr erzeugten Wahrheitsanspruch des Ereignisses eine Einheit finden. Die Grunddynamik des Feldes besteht nämlich darin, die vektoriell aufgefassten Beziehungen zwischen einem beobachteten Gegenstand und seiner Umwelt zu isolieren und sie als einzige Kräfte zu betrachten. Solche Beziehungen zeigen zusätzlich eine strategische Funktion, die zuerst auf eine Ökonomisierung der Verhältnisse hinweist und anderseits als kulturelles Kontrollsystem hervortritt. Beide Seiten finden in Triëdere eine scharfe Verbindung auf der metaphorischen Ebene: Zwischen unseren Kleidern und uns und auch zwischen unseren Bräuchen und uns besteht ein verwickeltes moralisches Kreditverhältnis, worin wir ihnen erst alles leihen, was sie bedeuten, und es uns dann mit Zinseszins wieder von ihnen ausborgen; darum nähern wir uns auch augenblicklich dem Bankerott, wenn wir ihnen den Kredit kündigen.⁷⁰
Ökonomisierung bedeutet keinesfalls eine Rationalisierung anhand eines abstrakten Prinzips der Sparsamkeit. Sie wirkt stattdessen innerhalb eines Steuerungsfelds, in dem die Beziehungen sich nicht nur durch die Gewohnheit rechtfertigen. „… [U]nter der unverrückbaren und offenbar etwas boshaften Ruhe des Triëderblicks“ gucken stattdessen die Züge „einer Macht, die sich selbst unsichtbar macht und performativ wirksam wird“⁷¹ hervor und die sich durch den Missbrauch eines 68 Musil, GW 7, S. 520. 69 Vgl. Ralf Bohn: Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004, S. 191. 70 Musil, GW 7, S. 521. 71 Innerhofer/Rothe, Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen, S. 377.
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optischen Werkzeugs entpuppt: „bloß das Trieder löste die kleine Gebärde der Hilflosigkeit aus der allseitigen Harmonie der Brutalität und ließ die heranwachsende Zukunft im Bild erscheinen!“⁷²
4 Conclusio Anhand dieser Betrachtungen kann man schließen, dass das Feldmodell sich als ein schwierig festzuhalten diskursives Objekt zeigt, das nicht nur den Übergang in die wissenschaftliche Denkweise markiert, sondern auch die Rolle der Kunst bestimmten sozialen und politischen Umgestaltungen gegenüber neu abwägt. Musils Totalitätsbegriff, der sich von der Gestalttheorie ableitet und nicht in die starre Polarität von Teil und Ganzem mündet, sondern von der „Bezüglichkeit der Elemente“⁷³ ausgeht, erlaubt ihm, den zwanghaften und richtungweisenden Charakter der begrifflichen und organisatorischen Strukturen, die der Ordnung in der Totalität übergeordnet sind, zu erkennen. Von dieser Erkenntnis aus versucht Musil, nicht zuletzt kraft seiner psychotechnischen Ausbildung, künstlerisch die Einheitlichkeit des Feldes augenblicklich aufzuheben und dadurch einen direkten Einfluss auf den/die Leser/in auszuüben. Dieser Versuch zeigt sich strukturell unendlich, da jede Ordnung auf die vorherige zurückweist und an die nächste anschließt. Er ist ein Programm, das letztendlich auf die Bestimmung einer neuen, dynamischen und nicht festhaltbaren Rolle des Dichters in der Gesellschaft abzielt.
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72 Musil, GW 7, S. 522. 73 Kümmel, Das MoE-Programm, S. 201.
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Gunther Martens
Die „motorische Extase“ des Gehirns in der Hand. Musil und die Neurophänomenologie Abstract: Der Beitrag widmet sich der Frage, wie sich Musils experimentell-psychologische Schulung auf sein Verhältnis zur Phänomenologie und zur Psychoanalyse auswirkt. Denn Robert Musil hat zeitlebens die Fortschritte der experimentellen Psychologie genauestens verfolgt und die Folgen für die Literatur reflektiert. Das Interesse an Depersonalisierung, das bislang vor allem im Rahmen wissenschaftshistorischer Studien zu Musils Rezeption von Primitivismus und Psychoanalyse untersucht worden ist, wird aus der Sicht von Musils ambivalenter Positionierung seinen „Lehrern“ (Mach, Ehrenfels, Stumpf ) gegenüber als Vorwegnahme zentraler Theoreme der verkörperten Erkenntnis (embodied cognition) neu beschrieben.
1 Einführung Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, wie sich Musils experimentellpsychologische Schulung auf sein Verhältnis zur Phänomenologie und zur Psychoanalyse auswirkt. Denn Robert Musil hat zeitlebens die Fortschritte der experimentellen Psychologie genauestens verfolgt und die Folgen für die Literatur reflektiert. Das Interesse an Depersonalisierung, das bislang vor allem im Rahmen wissenschaftshistorischer Studien zu Musils Rezeption von Primitivismus und Psychoanalyse untersucht worden ist, möchte ich im vorliegenden Beitrag aus der Sicht von Musils ambivalenter Positionierung seinen „Lehrern“ (Mach, Ehrenfels, Stumpf ) gegenüber als Vorwegnahme zentraler Theoreme der verkörperten Erkenntnis (embodied cognition) neu beschreiben. Wegweisend ist dabei die Hypothese, dass Musil die psychotechnisch bzw. neurologisch bedingte Basis sensorimotorischer Wahrnehmungsbesonderheiten, die bislang u. a. als Eidetik und Neurasthenie diskutiert worden sind, in seinen Texten ausgiebigst zur Geltung kommen lässt und möglicherweise auch am eigenen Körper wahrnehmen konnte. Es geht jedoch nicht darum, Musil einer Diagnose zu unterziehen, sondern umgekehrt aus seinem Umgang mit zeitgenössischen Bezeichnungen auf seine Gratwanderung zwischen phänomenologischen und experimentell-behavioristischen Ansätzen zu schließen. Im Hintergrund steht die Frage nach der Einordnung seiner Auseinandersetzung mit der Gestaltpsychologie des Stranges Kurt Lewin – Fritz Heider, auf den sowohl Musil als auch die aktuellen https://doi.org/10.1515/9783110988352-014
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Neurophänomenologen sich beziehen.¹ Im Mittelpunkt des Beitrags steht somit die Frage, ob Musils Verständnis von Körperlichkeit wegen der doppelten Ausrichtung an sowohl Phänomenologie als auch an experimenteller Psychologie als Vorläufer jener Literaturauffassung betrachtet werden kann, die im englischsprachigen Bereich mittlerweile als Neuroliteratur („Neuronovel“) bezeichnet wird. Eine vermittelnde Rolle spielt dabei die Neurophänomenologie (Kevin O’Regan, Alva Noë, Shaun Gallagher, Daniel Hutto, Thomas Fuchs, Hanne De Jaegher), die darauf abhebt, die (sowohl bei Musil als auch aktuell dominierenden) mechanistischen Versuche zur Erklärung von psychischen Phänomenen ihres kaum verborgenen Rationalismus und Reduktionismus zu überführen. Zentrales Anliegen ist dabei die Depathologisierung von Differenzen sensorischer Verarbeitung (Vanheule, Feyaerts), die ich anhand von Musils Glossen über Sport illustrieren werde.
2 Das Gehirn in der Hand Wenn nun dargelegt werden soll, wie Musil dem „kommenden Gehirnmenschen“ schriftstellerisch den Weg bereitet, so hat das mit Neurowissenschaften im engeren Sinne nur begrenzt zu tun. Was Musil über das Gehirn wusste bzw. damals wissen konnte, fällt also gar nicht ins Gewicht. Musil sei zwar, so sagt Corino im Vorwort seines Bildbands, ein guter Kenner der Gehirnanatomie gewesen, wie er in seinem Essay Über Robert Musil’s Bücher (GW 7, S. 995–1001) bewiesen habe, und er habe von den Ergebnissen der damaligen Hirnforschung ausgezeichnete Kenntnisse gehabt, wie die implizite Verwendung eines damals gängigen Gehirnmodells für den Törleß zeige.² Hoheisel hat diesen Eindruck in Frage gestellt und korrigiert Musils Wissen aufgrund neuerer Einsichten.³ Letztlich ist es aber ein Irrweg, sich bei Kognition nur den Kopf oder die Anatomie des Gehirns vorzustellen. So sehr Musil sich selbst oder anderen Augenzeugen auch als „a brain in a vat“ vorgekommen sein mag, so stark ist zugleich sein Schreiben von einer Idee überzeugt und angeleitet, die man heutzutage als „verkörpertes Denken“ bezeichnet. Die aktuelle Neurophänomenologie opponiert in diesem Sinne gegen „an overly intellectualized (conceptualized, languaged) conception of the mind – a mind that is not
1 Vgl. Ezequiel Di Paolo/Thomas Buhrmann/Xabier Barandiaran: Sensorimotor Life. An enactive proposal. Oxford 2017. 2 Vgl. Karl Corino und Robert Musil: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 16. 3 Vgl. Claus Hoheisel: Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“(dmoe): ein Kommentar. PhD Thesis, Dortmund, Univ., Diss., 2002. https://eldorado.tu-dortmund.de/bitstream/2003/2959/2/hoheisel2.pdf (letzter Zugriff: 19.06. 2023), S. 352.
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in the hand, or ready-to-hand, but one that is in the head“⁴. Die Neurophänomenologie setzt es sich dabei zum Ziel, den Zerebrozentrismus der Neurowissenschaften der letzten Jahrzehnte anhand einer Rückbesinnung auf die Phänomenologie rückgängig zu machen und die Interaktion zwischen Leib und Körper erneut in den Fokus zu rücken. Für die Literaturwissenschaft hält diese Tendenz ein großes Potenzial bereit, da man im Falle von toten Autor:innen notwendigerweise auf bildgebende Verfahren verzichten muss, trotzdem aber anhand des Schreibprozesses einen sehr intimen Einblick in das jeweilige Autorengehirn bekommt. Das ist in einem extremen Maße der Fall bei einem Autor wie Robert Musil, der nicht nur einen gewaltigen, auch longitudinal aufschlussreichen Schriftkörper, sondern zudem die Ergebnisse seiner psychotechnischen Tests hinterlassen hat.⁵ Für den vorliegenden Beitrag ist die wenig beachtete Tatsache ausschlaggebend, „dass Musil nach Berichten Gaetano Marcovaldis beidhändig war: eine so elementare Tätigkeit wie das Essen war Sache der linken Hand, anderes verrichtete er mit der Rechten. Ob Musil ursprünglich Linkshänder war und dann zum Rechtshänder umerzogen wurde, läßt sich nicht mehr klären“⁶. Auf dem berühmten „Familienfoto“, das Musil neben der menage-à-trois der Eltern mit Heinrich Reiter zeigt, hält das trotzige Kind den Wanderstab in der linken Hand. Auf die Hände des Kindes wurde viel negative Aufmerksamkeit verwendet.⁷ Wenn Musil mitteilt, die „endgültige Fassung“ der Affeninsel für Der Neue Tag (23. 3.1919) „mit der linken Hand geschrieben“ (Briefe, S. 174) zu haben, so meint er wohl, die Sache nebenbei erledigt zu haben. Dennoch wäre es lohnenswert, gerade angesichts des Inhalts dieser Geschichte, ihrer Feier der „motorischen Extase“ (Tb, S. 659), und ihrer Entstehung inmitten der aktivsten Opposition gegen die Eltern, sich das Manuskript einmal näher ansehen zu können. Arntzen vermutet, dass die einschlägige Notiz im Tagebuch auf eine Rom-Reise im Herbst 1913 zurückgeht.⁸ Beidhändigkeit ist eine besonders ausgeprägte Form von Neurodiversität, die heutzutage einerseits mit dem vermehrten Vorkommen von kognitiven und emotionalen Störungen oder Unausgeglichenheiten in Verbindung gebracht wird, andererseits, und zwar seit 4 Shaun Gallagher: The Practice of Thinking: Between Dreyfus and McDowell. In: Phenomenology of Thinking. Philosophical Investigations into the Character of Cognitive Experiences. Hg. v. Thiemo Breyer u. Christopher Gutland. London 2015, S. 134–146, hier S. 140. 5 „Ich stelle in jeder Hinsicht unanschaulich vor, etwa in ,Sachverhalten‘ der Überfülle an räumlichen Ausdrücken. Ich merke mir auch selten Einzelheiten, sondern immer nur irgend einen Sinn der Sache.“ (Tb, S. 314) 6 Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1349. 7 „Ich weiß, daß man mir immer anschaffte, beim Einschlafen die Arme oberhalb der Decke zu betten“ (Tb, S. 314 f.). 8 Vgl. Helmut Arntzen: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1980, S. 149.
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jeher, mit Genialität und künstlerischer Kreativität assoziiert wird. Die Beidhändigkeit verweist auf eine weniger ausgeprägte Lateralisierung des Gehirns, bei der auch die rechte Gehirnhälfte Funktionen übernimmt, und zwar nach dem ihr eigenen Prinzip, dabei weniger zielorientiert und weniger spezialisierend als die linke Gehirnhälfte vorzugehen. Musils Interesse an Ernst Mach galt ursprünglichen den Experimenten mit optischen Illusionen und Machs Vorlesungen enthalten Ausführungen zur Beidäugigkeit.⁹ Symmetrische Gehirne sind auch jenseits der Kunst eine Quelle sowohl der ewigen Faszination und Bewunderung als auch des Ärgernisses, was man an den Biographien beidhändiger bzw. beidfüßiger Genies (Künstler, Fußballspieler usw.) sieht.¹⁰ Es sollte nicht übersehen werden, dass z. B. Diego Maradona das Tor Gottes mit seiner linken Hand in die Wege geleitet hatte. Es kommt mir im Folgenden darauf an, zu zeigen, wie Musil von einem sehr psychotechnischen Blick auf den Körper zu einem mehr phänomenologischen gelangt. Die möglichen Begleiterscheinungen einer solchen abweichenden Lateralisierung sind der Musil-Forschung hinlänglich bekannt und unter den Bezeichnungen solcher Interessengebiete wie eidetische Veranlagung, das „zweite Gesicht“, Synästhesie, Autismus (im Sinne Bleulers) und Psychasthenie (heutzutage obsessive-compulsive disorder genannt)¹¹ verschiedentlich, zum Teil auch kontrovers diskutiert worden. Die Besonderheit in Musils Fall besteht nun darin, dass wegen seiner Nähe zur experimentellen Psychologie die Ergebnisse psychotechnischer Tests vorliegen, die nicht direkt über seine sensorischen Verarbeitungsdifferenzen, wohl aber über seinen experimentell gelagerten Zugang zu den genannten Phänomenen Auskunft erteilen. Cytowic fasst das Profil der Synästhesie folgendermaßen zusammen: [It] runs in families in a pattern consistent with X-linked dominant transmission. Female synesthetes predominate by a ratio of at least 3:1. Synesthetes are preponderantly non–right-
9 Vgl. dazu Steffen Arndal: Robert Musil und der wissenschaftliche Raumdiskurs in Berlin um 1900. In: Annette Daigger/Peter Henninger (Hg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern 2009 (Musiliana), S. 107–128; Sergej Rickenbacher: Wissen um Stimmung. Diskurs und Poetik in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ und „Vereinigungen“. München 2015, S. 196. 10 Am Beispiel eines anderen sportbegeisterten Modernisten, nämlich Beckett, entwickelt Connor eine an Michel Serres orientierte Phänomenologie des Sports: „One of the curious aspects of Beckett’s cricket was that he batted left-handed[…] but bowled his medium-pace off-breaks righthanded.“ (Bodies. In: Steven Connor: Beckett, Modernism and the Material Imagination. Cambridge 2014, S. 13–62, hier S. 20) 11 Vgl. Thierry Haustgen: À propos du centenaire de la psychasthénie (1903): Les troubles obsessionnels-compulsifs dans la psychiatrie française: revue historique. In: Annales Médico-psychologiques, revue psychiatrique 162 (2004) 6, S. 427–440. Musil beteuert 1938, dass er nicht an „einer Art Waschzwang des Textes leide“ (Briefe, S. 896).
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handed and have additional features consistent with anomalous cerebral dominance. They are mentally balanced and normal —indeed bright —in the conventional sense, and possess excellent memories. Despite an overall high intelligence, synesthetes as a group have uneven cognitive skills. Whereas a minority are frankly dyscalculic, a large proportion exhibit subtle mathematical deficiencies such as lexical-to-digit transcoding, right-left confusion (allochiria), and a poor sense of direction for vector as opposed to network maps. Fifteen percent of the current sample has a first-degree family history of dyslexia, autism, or attention-deficit disorder.¹²
Obwohl vereinzelt Forscher:innen auf die außerordentlich große Relevanz der Synästhesie für Musils Schreiben aufmerksam gemacht haben,¹³ ist die Reichweite dieses Phänomens für seine Art der „verkörperten Erkenntnis“ und für seinen Zugang zur Phänomenologie noch nicht erfasst worden. Musils Glossen über Sport gehen direkt auf diesen Zusammenhang zwischen Verkörperung und kognitiven Leistungen ein.
3 Als der Professorensohn Tennis spielte An dieser Stelle ist es sinnvoll, gegen das Komparatismusverbot der Musilforschung zu verstoßen und Musil mit einem Autor zu vergleichen, der ihm in mancher Hinsicht zum Verwechseln ähnlich sieht. Der Beitrag „Derivative Sport in Tornado Alley“ von David Foster Wallace erschien ursprünglich unter dem Titel „TENNIS, TRIGONOMETRY, TORNADOES“ in Harpers Magazine 1991 und könnte in dieser überraschenden Kombination von Sport, Mathematik und einem chaostheoretisch relevanten Wetterphänomen aus Musils Feder stammen. Die Geometrie drängt sich in mehrfacher Hinsicht dem Autor quasi auf: Berichtet wird von einer Jugend in der Midwest, die man sich als typische geometrisierte Fläche einer überamerikanischen Planstadt inmitten eines riesigen agrarischen Areals leicht visualisieren kann: „Philo, Illinois, is a cockeyed grid: nine northsouth streets against six northeast-southwest, fifty-one gorgeous slanted-cruciform corners (the east and west intersection-angles’ tangents could be evaluated integrally in terms of their secants!) around a three-intersection central town common.“¹⁴
12 Richard E. Cytowic: Synesthesia: A Union of the Senses. Cambridge, MA, 2002, S. 2. 13 Vgl. Corino, Robert Musil, S. 231; Rickenbacher, Wissen um Stimmung. Das von Corino genannte Beispiel der „splitternden Töne“ aus dem MoE-Auftakt passt direkt zu Cytowics Katalog: „a synesthete might describe music whose sound looks like „shards of glass“. 14 David Foster Wallace: Derivative Sport in Tornado Alley. In: ders.: A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again: Essays and Arguments. Boston, MA, 1997, S. 3–20, hier S. 8.
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Der Autor war in seiner Jugend ein verdienstvoller Tennisspieler, konnte aber eine relative körperliche Entwicklungsverzögerung nur wettmachen, indem er sich mit den Wetterverhältnissen, allem voran: dem allgegenwärtigen, in Intensität aber unvorhersehbaren Wind, anhand von komplizierten mathematischen Berechnungen verbündete. Wie Musil war David Foster Wallace Professorensohn, der unter elterlich bedingter Wertschätzung („parental conditional regard“) litt: Zwar ist nicht bekannt, dass Davids Vater seinem Sohn eine akademische Stelle an ebenjener Universität zu verschaffen versuchte, an die er selber gerne berufen worden wäre. Der Text thematisiert zwar die offene Enttäuschung des Vaters über das körperliche „Versagen“ des Sohnes, kontert diese aber, indem der Bewältigungsmechanismus, die abstrus anmutende Geometrisierung des Raumes, satirisch auf die Spitze getrieben und auf Beschreibungen geometrischer Verhältnisse in Belletristik ausgedehnt wird: „the only part of Proust that really moved me in college was the early description of the kid’s geometric relation to the distant church spire at Combray“¹⁵. Ich hebe an dieser Stelle die geometrisierenden Wahrnehmungsgewohnheiten hervor, weil sie meines Erachtens auch eine bislang unterschätzte Rolle in Musils Vereinigungen als Experimentanordnung spielen. David Foster Wallace schreibt, wie Musil, enzyklopädische Literatur und kennt sich (infolge eigener Erfahrungen mit Depressionen und Sucht) auch im Bereich der Neurowissenschaften aus, die er anderswo (im berühmten Augenzeugenbericht über Roger Federer) auch auf die Bewegungen beim Tennis anwendet: Successfully returning a hard-served tennis ball requires what’s sometimes called „the kinesthetic sense,“ meaning the ability to control the body and its artificial extensions through complex and very quick systems of tasks. English has a whole cloud of terms for various parts of this ability: feel, touch, form, proprioception, coordination, hand-eye coordination, kinesthesia, grace, control, reflexes, and so on. For promising junior players, refining the kinesthetic sense is the main goal of the extreme daily practice regimens we often hear about. The training here is both muscular and neurological. Hitting thousands of strokes, day after day, develops the ability to do by „feel“ what cannot be done by regular conscious thought. Repetitive practice like this often looks tedious or even cruel to an outsider, but the outsider can’t feel what’s going on inside the player—tiny adjustments, over and over, and a sense of each change’s effects that gets more and more acute even as it recedes from normal consciousness.¹⁶
Dass sich David Foster Wallaces Erzähler die Bewegungen anhand von mathematischen Formeln und neurowissenschaftlichen Bezeichnungen zurechtlegt, kommt einer Abstrahierung und Intellektualisierung der Sinne gleich, die gleichwohl
15 Wallace, Derivative Sport, S. 11. 16 David Foster Wallace: Federer both Flesh and not. In: ders.: Both Flesh and Not: Essays. London 2012, S. 5–36., hier S. 23 f.
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kontraintuitive Effekte zeitigt, da hier Sinne und deren körperliche Basis (Hand, Augen) benannt werden (Propriozeption), die häufig nicht beachtet oder als selbstverständlich betrachtet werden. (Beide Schriftsteller stellen sich Langeweile und Nichtstun folglich als einen äußerst aktiven, anstrengenden Zustand vor.) Trotzdem sind „abstrakt“ und „konkret“ relative Begriffe: Im MoE ist ja davon die Rede, dass sich heutzutage das Wesentliche im Abstrakten ereigne. Auch Musil assoziiert Gedankensprünge fast immer mit energischer, grobmotorischer Bewegung, und nicht mit den feinmotorischen Operationen des Zeigens und der (kognitiven) Manipulation, die der Sache eigentlich näher stehen. In seinen Glossen über Sport legt Musil großen Wert auf direkte Erfahrungsexpertise: Sie gehen „den Weg durch einen Menschen, der es mit allen Sinnen aufnimmt“ (GW I, S. 798), und nicht „durch das Gedächtnis“ der Zeitungsberichterstatter, deren Kompetenz, ironisch zwar, in Frage gestellt wird. Im Zentrum des Interesses steht das Paradox bei der Steuerung von Aufmerksamkeit: Für das Gelingen der Bewegung ist eine Art des Vergessens und des verringerten Bewusstseins (im Mann ohne Eigenschaften „Entrückung“ genannt) erforderlich. Die Begrifflichkeit ist an der Psychotechnik ausgerichtet und opponiert zwischen den Zeilen gegen die (Popularisierung der) Psychoanalyse, wenngleich sich der Autor ihr Potenzial zur Gesellschaftsanalyse¹⁷ nicht entgehen lässt, wenn er die Widersprüchlichkeit und Latenz der Kleidervorschriften kommentiert: Im Namen der Bewegungsfreiheit werden hartnäckige Kleidervorschriften („Korsett“) spontan gelockert, andererseits ist der Tennis als Sport der besseren „Gesellschaft“ sozial kodiert und deswegen konservativer, weshalb die karikaturhafte Verrenkung entsteht, die Musil im Mann ohne Eigenschaften dem kakanischen Gebilde insgesamt zuschreibt. Von Kunst und Literatur ist auf den ersten Blick, bis auf wenige abfällige Bemerkungen, die Ressentiments gegen Intellektualität und klischierte Vorurteile reproduzieren („die Rolle des Geistes ist es nicht die, eine im Sport zu spielen“; GW I, S. 698), kaum die Rede. Trotzdem drängt die Literatur sich ständig in den Vordergrund, denn die Glossen brillieren durch Wortwitz. Die „alte Crawltechnik der Großvaterzeit“ wird als „gemächlicher Mißbrauch des Wassers“ (GW I, S. 687) apostrophiert. Der Text strotzt vor aphoristischen apodiktischen Wertungen, Kontrasten, Verfremdungen von Redewendungen („die Seele seiner Seele verlassen“), türmt griffige und überraschende Bonmots aufeinander: „Geistesabwesenheit ist außerordentlich gesund, wenn man Geist besitzt“ (GW I, S. 691). Wie bei den „verbal pyrotechnics“¹⁸ von David Foster Wallace scheint das Thema nur der vordergrün-
17 Zu diesem Zusammenhang vgl. Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005. 18 Richard Stern: Verbal Pyrotechnics. In: Chicago Tribune 9 (1997), S. 1–11.
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dige Anlass gewesen zu sein, der Wortkombinatorik freie Hand zu lassen. Es sind die Finten desjenigen, der auch im Spiel selbst, anders als im Falle des symbolischen Gegners (des grassierenden Antiintellektualismus), anhand von Intellektualität einen körperlich stärkeren Gegner übervorteilen kann: „man konnte auf den romantischen Tenniswiesen bei Turnieren unerwartete Erfolge erzielen, wenn der Ball zufällig auf einen Maulwurfshügel fiel oder der Gegner über ein Grasbüschel.“ (GW I, S. 686)
4 Kippfiguren In seinen Sportglossen inszeniert Musil nicht nur verbale Kippfiguren. Insgesamt sind die Texte auch Kippfiguren. In der Schwebe bleibt, ob vom Sport oder von der Kultur die Rede ist, und ob die Exzesse des (politisierten) Körperkultes, die im Hintergrund anklingen, auf den falschen Geniekult im Bereich des Geistes und der Künste zurückzuführen sind. Wer hat jetzt bei wem die Metaphern geborgt? Wer am Ende sind die „Sportschriftsteller“? Die anhand der Antonomasie pathetisch benannten „Genies des grünen Rasens“ (GW I, S. 793)? Oder die rasenden Reporter? Das ,Zugpferd‘ der Mannschaft? Die Textur stiftet ein buntes Durcheinander, in dem Vordergrund und Hintergrund „wie in einem Teppich verwoben“ (GW II, S. 1273) sind. „In Brust und Gehirn eines genialen Rennpferdes“ befinden sich die gleichen psychotechnischen Fähigkeiten „wie in denen eines Dichters“ (GW I, S. 793)? In der Vorfassung kann sich der (vor Lachen wiehernde oder gebeutelte) Erzähler die Bemerkung: „Es ist das Wunderbare, dass man wie ein Pferd ist“ (GW I, S. 794) nicht verkneifen. Die Wortspiele sind zynisch, aktivieren zugleich eine rein körperliche, motorische Resonanz, die auch im Sportspiel selbst vorhanden ist: „Zweiundzwanzig Männer kämpfen mit der Mäßigung von Berufsmenschen um einen Ball und einige Tausende, von denen die meisten einen solchen Ball niemals berührt haben, geraten in die Leidenschaft, die sich die Ausspähenden ersparen.“ (GW I, S. 691) Musil beschreibt hier kontrastreich den – seit dem Pferd Kluger Hans bekannten – „audience effect“ (Publikumseffekt) aus der Psychologie, der das gelingende Zustandekommen von Aufmerksamkeit auf die Umgebung, also auf „joint attention“ (gemeinsame Aufmerksamkeit) ausdehnt. Der Publikumseffekt kann als eine weitere Variante von verkörperter Kognition aufgefasst werden: Er ist nicht zuletzt auch mit Blick auf das Kino untersucht worden.¹⁹
19 Vgl. Julian Hanich: Audience Effect: On the Collective Cinema Experience. Edinburgh 2017.
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Inhaltlich dürften die Texte zum Sport ziemlich wenig Neues enthalten,²⁰ aber ihre Zusammenschau ermöglicht einen Einblick in ein „Dunkel“, das sogar als „Störung“ apostrophiert wird und eine eingehendere Betrachtung legitimiert, da die Basis dieser Terminologie in Gestaltpsychologie, Psychotechnik und Wahrnehmungsphysiologie für Musils Verhältnis zur Phänomenologie sowie zur Psychoanalyse ausschlaggebend ist. Bei Robert Musil begegnet man eben nicht nur im Umfeld seiner Beschäftigung mit Sport einer großen Aufmerksamkeit für jene Aspekte der Propriozeption als Eigenwahrnehmung des Körpers. Dabei hebt er „die Störungen in der Koordination der Bewegungen“ sowie die Tatsache, dass „dabei allerhand Dunkles leuchtet“ („Als Papa Tennis lernte“; GW I, S. 689) und es gerade schiefgeht, „wenn unglücklicherweise auch nur der kleinste Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel falle“ (GA 1, S. 41; MoE, S. 29), hervor. Mit Vorliebe beachtet Musil Körper in diesem anderen Zustand der Müdigkeit, der Unaufmerksamkeit, der sexuellen Ekstase. Zum neurologisch relevanten Text wird folglich der Mann ohne Eigenschaften, wie auch bei Wallace, wenn er sich vorstellt, wie der Körper dem Geist bzw. dem Gehirn immer wieder den Rang abläuft. Musil hatte auch persönliche Gründe sich mit dem „Dunkel des Körpers“ zu beschäftigen, gaben ihm doch der eigene Reinlichkeitszwang²¹ sowie seine Hyperhidrose, die auch das Wahrzeichen des Schriftstellers David Foster Wallace war, hinlänglich Rätsel auf, die über die Grenzen der Steuerbarkeit und Konditionierung von Körpern grübeln lassen,²² wie das konkret im Aufsatz „Als Papa Tennis lernte“ geschieht. Die bisherige Forschung hat dieses Interesse im Bunde mit dem allgemeinen Interesse an Depersonalisierung gesehen; viele namhafte Autor:innen wie Benn und Döblin verfügten dazu auch über detaillierte Kenntnisse der Neurologie. Jüngere Beiträge zur Forschung haben die Relevanz der Neurologie für Musils Glossen zum Sport bereits erläutert.²³ An anderer Stelle habe ich ausgeführt, dass Musil stärker als bislang angenommen mit den tierpsychologischen Experimenten Wolfgang Köhlers vertraut war, die er noch 1937 im Vortrag Über die Dummheit auch konkret nennt. Ausschlaggebend war dabei die implizite phänomenologische Aus20 Vgl. dazu auch Walter Fanta: Arnautovic spricht mit Musil über Sport, Kunst und Moral. In: Artur R. Boelderl (Hg.): Kakanien oder ka Kakanien? Österreichs Geschick 1918–2018 im Spiegel der Literaturen. Innsbruck/Wien 2020, S. 150–172, der auf die Ähnlichkeit zu einer Zeitungsnotiz über einen Boxer verweist. 21 Vgl. Tb I, 936: „Meine Reinlichkeit heute noch eine Überkompensation? / Warum haben meine Eltern nicht protestiert? Heute noch unverständlich. Mensch!“ 22 Vgl. Wallace, Federer both Flesh and not, S. 23: „Conditioning is also important, but this is mainly because the first thing that physical fatigue attacks is the kinesthetic sense. (Other antagonists are fear, self-consciousness, and extreme upset—which is why fragile psyches are rare in pro tennis.)“. 23 Vgl. Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin 2008, S. 208.
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richtung von Köhlers Befunden im wissenschaftshistorischen Kontext. Köhlers Kontrahenten waren die behavioristischen Reiz-Reaktionsforscher, also die Vorläufer derjenigen, die sich das Gehirn als symbolische Kodierungsmaschine vorstellen. Mit dem aus der subjektiv-idealistischen Philosophie stammenden Begriff Gestalt akzentuiert Köhler eine andere, mehr hermeneutische und phänomenologische Sichtweise, die die körperliche und intra-individuelle Basis von Kognition betont, gleichwohl der behavioristischen Prämisse der reinen Nachahmung durch bloßes Nachäffen widersprechend. [E]r kann es bei seinem aufmerksamen Zusehen bisweilen nicht lassen, schnell Hand anzulegen, wenn eine Kiste zu fallen droht, sie zu stützen, wenn das andere Tier gerade eine entscheidende und gefährliche Anstrengung macht, oder sonst mit einer kleinen Bewegung im Sinne des fremden Bauens einzugreifen […]. Wir alle kennen ja Ähnliches: Versteht ein Mensch eine Art Arbeit aus langer Übung sehr gut, so ist es schwer für ihn, ruhig zuzusehen, wie ein anderer ungeschickt dabei verfährt; „es kribbelt ihm in den Fingern“, einzugreifen und „die Sache zu machen“.²⁴
Dieses Zitat ist fast deckungsgleich mit der Art und Weise, wie die aktuellen neurophänomenologischen Ansätze beschreiben, wie Kognition zugleich im Körper und zwischen den Körpern zustande kommt und stattfindet: Das Zitat ist deswegen so interessant, weil man ganz ähnliche Beschreibungen von partizipativer Verschränkung von Propriozeption und Allozeption bei Rilke und bei Musil findet: bei Rilke in Maltes Beschreibung eines Epileptikers und bei Musil in den Vereinigungen. Musil war mit der Stoßrichtung des vorherigen Köhler-Zitats nur allzu sehr vertraut, hatte er doch das Gefühl, dass seine eigenen Eltern (insbesondere: die Mutter) ihm ständig in die Quere kamen.
5 Belustigungen unter der Hirnschale Bislang hat man wenig beachtet, wie Musil sich anhand einer Auseinandersetzung mit der Gestaltpsychologie zu einer sensomotorischen Auffassung von Lernpsychologie durchringt, die sehr stark die Sinnesdaten der konkreten taktilen Erfahrung in den Vordergrund rückt. Der Vorrang der Sinnesdaten vor dem Abstrakten, diese Betonung der konkreten Sinnlichkeit ist vielleicht überraschend angesichts eines Autors, dem immer seine Hirnlastigkeit zum Vorwurf gemacht worden ist. Musil hat an anderer Stelle ironisch Bezug genommen auf das zerebrozentrische
24 Wolfgang Köhler: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Mit einem Anhang: Zur Psychologie des Schimpansen. Berlin 1963, S. 120 f.
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Bild des Gehirns, und zwar im kurzen Text mit dem Titel Über Robert Musil’s Bücher aus dem Jahr 1913 (vgl. GW I, S. 995–1001), in dem er diese überkommene und z.T. auch zu Physiognomie neigende Ikonographie korrigiert. Die dortige konkrete Beschreibung des Dichtergehirns erlaubt interessante Rückschlüsse auf das Einhergehen von Begrifflichkeit und Sinnlichkeit als besondere Form der verkörperten Kognition, die Musil vor Augen hatte. Die Rede von „Gefühlserkenntnissen und Gedankenerschütterungen“ (GW I, S. 997) verwischt die Grenzen zwischen Denken und Fühlen. Musil stellt, wie auch schon im Törleß-Roman, die physiologische Verarbeitung von Rede- und Sehimpulsen und die Einbettung von Nerven in Muskelstrukturen in den Vordergrund, den musculus longissimus dorsi, der das Gehirn mit dem Körper verbindet. Musil beschreibt das Gehirn wie einen Muskel. Musil geht es jedoch darum, vor allem die physiologische und physische Seite des Apperzeptionsapparates hervorzuheben. Auch hier wird also eher die physische Handlung als die psychische Wertigkeit des Vorgangs im Gedächtnis betont. In einem Beitrag über Musil und die Neue Sachlichkeit habe ich anhand der Affeninsel illustriert, wie Musil anhand der experimentellen Psychologie zu einem provokativ affirmativen Verständnis der „motorischen Extase“ (Tb, S. 659 f.) gelangt.²⁵ Die Beschreibung bezieht sich dabei auf jene nur experimentell sichtbaren Körperreflexe, die im Normalfall „während einer Zeit, für die es kein Maß gibt“, unterhalb der Schwelle der Wahrnehmbarkeit ablaufen: Quasi unermesslich sind „die Sprünge der Aufmerksamkeit […], die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten“. So beobachtet Musil banale Routinevorgänge, wie zum Beispiel den aufrechten Gang des Menschen (vgl. GA 1, S. 202; MoE, S. 128) und die Freiheit, die die Hände evolutionär erlangt haben, schon als kreative, unwahrscheinliche Leistungen. Noch im privatesten Bereich hat Musil diese technisch-analytische Sichtweise, die erst die kleinsten Bestandteile der zur Gewohnheit geronnenen Geste aufdeckt, erneut zur Geltung kommen lassen. Ich höre Dich das Nachthemd anziehn. Aber damit ist noch lange nicht alles zuende. Wieder gibt es hunderte kleine Handlungen. Ich weiß, daß du dich beeilst; offenbar ist das alles also notwendig. Ich verstehe: wir sehen dem stummen Gebaren der Tiere zu, erstaunt, wie sich bei ihnen, die doch keine Seele haben sollen, die Handlungen aneinanderreihn, von Morgen bis zum Abend. Es ist ganz das Gleiche. Du hast kein Bewußtsein, von den ungezählten Griffen, die Du vollführst, von allem, was dir notwendig erscheint und ganz belanglos bleibt. Aber sie ragen breit herein in dein Leben. Ich, der ich warte, fühle es zufällig. (Tb, S. 286 f.)
25 Vgl. Gunther Martens: Verhaltene Sachlichkeit. In: Neue Sachlichkeit im Kontrast – Deutschland und die Niederlande. Hg. v. Ralf Grüttemeier, Janka Wagner und Haimo Stiemer. Berlin 2020, S. 43–64.
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Die motorisch-somatische Resonanz macht also weder vor physischer Distanz, noch – wie in Vereinigungen – vor geschlossenen Türen Halt. Das Vermögen zur somatischen Empathie und das Körpergedächtnis, die hier beschrieben werden, lassen sich auf die verkörperte Erkenntnis zurückführen, die die Bedeutung von „Reize[n] und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie“ (GA 2, S. 98 f.; MoE, S. 378) auch für die Alltagskognition hervorhebt. Dieses Interesse für Motorik und für Handhabbarkeit klingt noch in der eigenwilligen, bislang kaum erörterten Beschreibung des Bibliothekars in der Bibliotheksszene an, dessen instinktiver Umgang mit Büchern, quasi wie in einem Naturfilm, als Angriff eines Raubtiers auf dessen Beute bezeichnet wird: „er fährt wie ein Affe eine Leiter hinauf und auf einen Band los, förmlich von unten gezielt, gerade auf diesen einen.“ (GA 2, S. 236; MoE, S. 461)
6 Eidetische Begabung oder Störung? Das Phänomen der multistabilen Wahrnehmung ist bei Autoren wie Beckett und Franz Kafka jüngst intensiver erforscht worden.²⁶ Bei Robert Musil führt es zu einem erhöhten Bewusstsein für das Funktionieren oder Fehlschlagen körperlicher Bewegung, inklusive der Bewegung der Hand und der Augen beim Schreiben, eine ständige Begleiterscheinung der Selbstwahrnehmung, ohne gleich notwendigerweise Zustände der Depersonalisation herbeizuführen. Ich schlage allerdings vor, diese Terminologie nicht als biographisches Erklärungsmuster zu verwenden, sondern als Heuristik, die, wie in diesem Rahmen allerdings nicht weiter ausgeführt werden kann, manche Körperbeschreibung im Text auf neuartige Weise zu erhellen vermag, und zwar nicht nur mit Blick auf stereotype Vorstellungen von Pedantismus. Allem voran wird dabei das Gehirn als vermeintlich selbstherrlicher Sitz der Kognition relativiert und an den Körper und seine Umgebung zurückgebunden, was der Wahrnehmung eine starke Körperlichkeit beschert: Quasi unermesslich sind „die lebendigen Kräfte vorüberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich ziehen, festhalten, loslassen, […] während einer Zeit, für die es kein Maß gibt.“ (GA 1, S. 14) Mehigan hat jüngst diesbezüglich von Musils „proto-posthumanist position“²⁷ gesprochen. Die Neurophänomenologie argumentiert, dass bei geringerer Auto26 Vgl. Joshua Powell: Samuel Beckett and Experimental Psychology: Perception, Attention, Imagery, London 2021; Sonja Boos: Reading Gestures: Body Schema Disorder and Schizophrenia in Kafka’s Modernist Prose. In: Modernism/modernity 26 (2019) 4, S. 829–848. 27 Tim Mehigan: Musil’s Theory of Vision. In: ders.: Robert Musil and the Question of Science. Ethics, Aesthetics, and the Problem of the Two Cultures. New York 2020, S. 51–62, hier S. 60.
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matisierung des unbewussten Körperschemas stärker das bewusste Körperbild auf die Selbstwahrnehmung angewendet wird. Anbindend an die phänomenologische Tradition greift Shaun Gallagher (2005) die ältere Unterscheidung von zwei Arten von Körpermodellen, das Körperbild (body image) einerseits und das Körperschema (body schema) andererseits, auf. Das Körperbild ist ein System von (typischerweise bewussten) Wahrnehmungen, emotionalen Einstellungen und Überzeugungen über den eigenen Körper. Das Körperschema ist demgegenüber ein unbewusstes, automatisches System von sensomotorischen Prozessen zur konstanten Regulierung von Körperhaltung und Körperbewegung. Es umfasst auch die präreflexive und propriozeptive Wahrnehmung des Körpers. Nach Gallagher wird diese Unterscheidung durch neurologische Dissoziationsphänomene bestätigt: Deafferenzierte Patienten, die keine taktilen oder propriozeptiven Reize empfangen, sind nur unter großer mentaler Anstrengung und höchster Konzentration in der Lage, koordinierte Körperbewegungen auszuführen. Bei ihnen ist das Körperschema geschädigt und muss durch die Leistungen des Körperbildes ersetzt werden.²⁸
Dieses Phänomen wird vom Törleß-Roman schlagartig illustriert, wenn sich Musils Protagonist, wie der kinästhetisch begrenzte Tennisspieler, anhand der Geometrisierung gegen die vom Internat ausgelöste sinnliche Überforderung zur Wehr zu setzen versucht: Seine Aufmerksamkeit war ganz durch das Bestreben gefesselt, jenen Punkt in ihm wieder aufzufinden, wo plötzlich jener Wechsel in der innerlichen Perspektive stattgefunden hatte. Aber sooft er in dessen Nähe kam, erging es ihm wie einem, der Nahes mit Fernem vergleichen will: er erhaschte nie die Erinnerungsbilder beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den kaum merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen des Blickes begleiten. Und jedesmal beanspruchte dies gerade im entscheidenden Momente die Aufmerksamkeit für sich, die Tätigkeit des Vergleichens drängte sich vor den Gegenstand des Vergleiches, es gab einen kaum fühlbaren Ruck, – und alles stand still. (GW II, S. 153)
Das ist an sich kein Symptom des Wahnsinns, aber als Wahrnehmungsdifferenz und als Koordinationsaufwand eine mögliche Ursache für die Neurasthenie, die hier ungleich präziser benannt wird als sie als privilegierte Diagnose durch den Zeitkontext geistert. Musil hat das Phänomen auch als Eidetik und als Synästhesie umschrieben: Denn beide sind gestalttheoretisch gesprochen Fälle, in denen die Unterscheidung zwischen Vordergrund und Hintergrund weniger als Kippphänomen und vielmehr als paradoxe Gleichzeitigkeit wahrgenommen wird. Das ist der Grund, weshalb manche Leute optische Illusionen anders wahrnehmen: „Bei ihm [= Rilke] sind die Dinge wie in einem Teppich verwoben; wenn man sie betrachtet, sind 28 Holger Lyre: Verkörperlichung und situative Einbettung (embodied/embedded cognition). In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hg. v. Achim Stephan und Sven Walter. Stuttgart 2013, S. 186–192.
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sie getrennt, aber wenn man auf den Untergrund achtet, sind sie durch ihn verbunden. Dann verändert sich ihr Aussehen, und es entstehen sonderbare Beziehungen zwischen ihnen.“ (GA 8, S. 382; GW II, S. 1238 f.) Für die körperlich-physiologischen Voraussetzungen kognitiver Leistungen hat Musil ein fast unheimliches Gespür, das tatsächlich die Theoretisierung der verkörperten Erkenntnis im Rahmen der Neurophänomenologie vorwegnimmt. Die Vermutung, dass es Musil bei seinen uferlosen Streifzügen durch die Wissenschaften auch darum ging, eine sehr persönliche, endogene Aufmerksamkeitsstörung in den Griff zu bekommen, bzw. dass hier Wahrnehmungsdifferenzen im Spiele waren, die Musil am eigenen Körper erfahren konnte, begründet Duttlinger in ihrer neuesten Studie.²⁹ Sie verweist auf Briefkorrespondenz, die zeigt, wie Musil sich selbst und seinen schwer zu disziplinierenden Körper anhand von Ratgeberliteratur und Selbsthilfebüchern in den Griff zu bekommen versuchte. Zeitlebens wurde Musil wegen irgendeines als Manko empfundenen psychologischen „Begabungskonfliktes“ (Hannah Arendt) immer wieder negativ (als faul, verwöhnt oder arrogant) begutachtet. Die Geschichte dieser Verwerfungen hat ihn möglicherweise doch nicht ganz kalt gelassen, denn die drei Versuche, ein Mann mit Eigenschaften zu werden, hat er an den Anfang seines Meisterwerks gerückt, sie dort aber als Geschichte dreier aktiver, autarker Entscheidungen umgeschrieben und so sublimiert, wie das auch der mutmaßliche Schicksalsgenosse Thomas Bernhard gemacht hat, als er von sich selbst behauptete, aus freien Stücken „in die andere Richtung gegangen“ zu sein. Wenngleich uns kein Urteil über kognitive Differenzen zusteht, sind die Spuren der Schreibkrise sichtbar und gut erforscht. Im Briefwechsel ist davon die Rede, dass Musils Frau ihrem Mann das psychoanalytische Selbsthilfe-Buch zur Autosuggestion von Charles Baudouin unters Kopfkissen legen wollte. „Ich kann das Gedankenmaterial für eine Arbeit zunächst nur bis zu einem ziemlich nahen Punkt ausdenken, dann zerstreut es sich mir unter der Hand.“ (Tb, S. 214) Das alternative exterioristische, behavioristische Rezept, eine große Aufgabe in kleinere Teilaufgaben zu zerlegen (vgl. Tb, S. 715 f.), ist laut der Neurophänomenologie nur bedingt wirksam; das Fliegenpapier könnte unter Umständen als eine bittere Anspielung auf die begrenzte Effizienz und Kontraproduktivität solcher psychotechnischen Ratschläge gelesen werden.³⁰ Es gibt auf jeden Fall, bis auf David Foster Wallace,³¹ kaum einen Schriftsteller, der die Steuerung von
29 Carolin Duttlinger: Threshold States: Robert Musil. In: Attention and Distraction in Modern German Literature, Thought, and Culture. Hg. v. ders. Oxford 2022, S. 157–203. 30 Vgl. GW II, S. 476: „Dann stehen sie alle forciert aufrecht, wie Tabiker, die sich nichts anmerken lassen wollen. Sie stehen da und ich fühle, wie ratlos sie sind.“ 31 Vgl. Wallace, Derivative Sport, S. 13: „my ability to accommodate and fashion the exterior was being undercut by the malfunction of some internal alarm clock I didn’t understand.“
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Aufmerksamkeit dermaßen bewusst an ihre körperliche Basis, nämlich an die Hand (und an die Koordination von Hand und Augen) zurückgebunden hat. Das auffälligste Symptom im Text ist die Agathe zugeschriebene mirror-touch-Synästhesie. „Agathe ist sein [sc. Ulrichs] Autismus“, schreibt Musil in seinen Notizen. Die Begegnung wird anhand des Tastsinns verglichen mit „Hände[n], die unter Mänteln an Stellen hervorkommen, wo man sie nie erwartete, und einander unvermutet anfassen“ (GA 3, S. 60; MoE, S. 701).
7 Der Griff in den Spiegel Die in letzter Zeit kontrovers diskutierte Frage, inwieweit Musil seine fiktionalen Figuren pathologisiert³² oder exotisiert³³, kann vor diesem Hintergrund neu verhandelt werden. Laut Hahn ist Musils „anderer Zustand“ eine Form der kulturellen Aneignung.³⁴ Es stimmt, dass Musil „sich nicht so sehr für das ethnologisch Fremde [interessiert], sondern, in der Inversion der ethnologischen Perspektive, für einen verfremdenden Blick auf die eigene Kultur und für ein Fremdes in ihr“³⁵. Kann aber eine Neigung zu „motorischer Extase“ als eine gewaltsame, illegitime (kulturelle) An-eignung gelten, wenn diese vorher schon als eigen und als Eignung vorhanden war? Es stimmt, dass das photographische Gedächtnis und die Aufmerksamkeit für Details und für Ephemeres, Transitorisches, beide Eigenschaften, die den Synästhetikern³⁶ auf den Leib geschrieben sind, theoretisch gewiss aus Quellen zur Volkskunde abgeleitet, die einen Superioritätsgedanken offen zur Schau stellen. Aber der Erzähler solcher Geschichten wie Die Affeninsel identifiziert sich mit den Affen, fühlt sich anhand somatischer Empathie und Spiegel-Berührung-Synästhesie problemlos in sie hinein. Die psychiatrischen Quellen beschreiben diese Erfahrungen als fundamentale „Ich-Schwäche“, als mangelnde Abgrenzung von Innen
32 Vgl. Norbert Christian Wolf: In bed with Gerda – Musils klinischer Blick und das Kino. In: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. v. Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner. Zürich 2011, S. 119–142, hier S. 127: „Theatralität“. 33 Vgl. Thomas Pekar: Exotismus und Exotikkritik in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften am Beispiel seiner Soliman-Figur. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 13 (2022) 1, S. 83–96. 34 So sinngemäß Marcus Hahn: Zusammenfließende Eichhörnchen: über Lucien Lévy-Bruhl und die Ethnologie-Rezeption Robert Musils. In: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. v. Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner. Zürich 2011, S. 47–72. 35 Nicola Gess: Ethnologie. In: Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin 2016, S. 554–560, hier S. 557. 36 Vgl. Rickenbacher, Wissen um Stimmung.
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und Außen, und zwar im Rahmen einer klassifikatorischen und abgrenzenden Sammelwu(ch)t, deren Folgen bis auf den heutigen Tag diagnostische und therapeutische Gewalt legitimieren. Die Neurophänomenologie versucht gerade, mit ihren Begriffen diese Gewalt sichtbar und rückgängig zu machen. Dem Tier in der Affeninsel ist vor allem die Beidhändigkeit eigen, allerdings auf Kosten der Tatsache, „schwer umgänglich“ (Tb, S. 936) zu sein, während laut der cognitive tradeoff hypothesis (Tetsuro Matsuzawa) beim Menschen die kognitive Entwicklung den Händen die stärkere Lateralisierung (im Normalfall) beschert habe. Gewiss sind es bei Musil eher die Frauen, die die Kontrolle über ihren Körper verlieren,³⁷ aber eben nicht nur sie. Musils Mann ohne Eigenschaften enthält mehrere Darstellungen von Figuren (Diotima, Arnheim, Rachel, …), die sich selbst im Spiegel überwachen. Das Motiv legt narzisstische Züge frei, zum Beispiel bei Arnheim, dessen Tagesablauf kalendermäßig durchgetaktet ist: „in einem seiner Bücher stand, daß ein Mann, der seinen Anzug im Spiegel überwache, zu einer ungebrochenen Handlungsweise nicht fähig sei.“ (GA 1, S. 281) Denn der Spiegel, ursprünglich zur Freude geschaffen, sei zu einem Instrument der Angst geworden, wie die Uhr, die ein Ersatz dafür ist, daß unsere Tätigkeiten sich nicht mehr natürlich ablösen. Die Porträts sind bislang als äußerst satirisch interpretiert worden, weil das Spiegel-Motiv natürlich Assoziationen von Oberflächlichkeit und Eitelkeit weckt und die betroffenen Figuren sich unschwer als unsicher und pedantisch zu erkennen geben. Aber Musils konstruktive Ironie verfährt ja nach dem Prinzip: „Einen Trottel so darstellen, dass der Autor plötzlich fühlt: das bin ja zum Teil ich selbst.“³⁸ Bereits im Nachtbuch des Vivisecteur ist die Rede davon, dass man unter der „schleierlosen“ Decke der Nacht „eine neue Empfindung von sich selbst bekommt, wie wenn man plötzlich mit einer Kerze in der Hand in einem dunklen Zimmer vor den Spiegel tritt, der tagelang kein Lichtstrahl empfangen hat, und gierig aufsaugend einem nun das eigene Gesicht entgegenhält.“ (GA 12, S. 10) Die Konzeption des Spiegelstadiums ist ein „Fremdkörper in der Psychoanalyse, denn sie geht auf Erkenntnisse einer beobachtenden oder experimentellen Psychologie zurück“³⁹. Wallon entwickelte „den mittleren, propriozeptiven Funktionsbereich der mit Gleichgewicht, Haltungen und Bewegungen verbundenen Empfindungen“. Dieser Funktionsbereich war für Musil, ohne diese Theorie kennen
37 Vgl. Michael J. Cowan: Cult of the Will: Nervousness and German Modernity. Wilmington, PA, 2008. 38 KA/Lesetexte/Bd. 14/Selbstkommentare aus dem Nachlass/Zum Roman/Vermächtnis; MoE, S. 1939. 39 Hans-Dieter Gondek: Gespiegelte Körper. In: Körperglossar. Hg. v. Heidi Wilm et al. Wien/Berlin 2021, S. 65–70, hier S. 65.
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oder die Begrifflichkeit nutzen zu können, überaus wichtig. Gleichwohl ist MerleauPontys Umdeutung als „aliénation“ auch für Musils Spiegelszenen konstitutiv.⁴⁰ Während aber die Psychoanalyse Propriozeption für „zu intellektualistisch“⁴¹ hält, gilt ihr trotzdem Musils Hauptinteresse: Das psychotechnisch messbare Geschick, mit dem man Kippfiguren („multi-stable perception“) als solche wahrnehmen kann, sagt sehr viel über Geschick, Intelligenz und kognitive Vermögen sowie das Potenzial, in schreckliche Depersonalisation hineinzugeraten, aus. Es gibt, aller Exaktheit der Messungen dieser Fähigkeiten zum Trotz, immer auch „Nebengeräusche“, die unter Laboratoriumsbedingungen möglichst weggefiltert werden, die aber die körperliche Basis der Kognition in Erinnerung rufen. So kippt im Normalfall die Wahrnehmung des Necker-Würfels im Rhythmus der Sakkaden der Augen, der Atmung und des Herzschlags.⁴² Während seiner wissenschaftlichen Laufbahn galt bekanntlich solchen optischen Illusionen und den philosophischen Leib-Seele-Fragen, die sie aufwarfen, Musils Interesse. Diese wissenschaftshistorischen Hintergründe können als sehr gut erforscht gelten, aber es sei an dieser Stelle erlaubt, sie in die neurowissenschaftliche Gegenwart hinein zu verfolgen, um ihre unterschwellige Relevanz für Musil zu deuten. Der Necker-Kubus ist eine optische Illusion, bei der eine zweidimensionale Zeichnung einer Anordnung von Würfeln gleichzeitig aus der Seite herausragt und in die Seite eindringt. Als solche taucht sie in Eschers „Konvex und Konkav“ und in Musils Konvex- und Konkavempfinden auf. Eine Variante des Necker-Würfels zeigt einige Ecken, die anfangs konvex (nach außen zeigend) aussehen, dann aber zu konkav (nach innen zeigend) wechseln. Während sowohl die Interpretationen „von oben“ („fap“, „from above perspective“) als auch die „von unten“ („fbp“, „from below perspective“) physikalisch gleichermaßen plausibel sind, zeigen Beobachter in der Regel eine a priori top-down-Vorliebe für die fap-Interpretation. Menschen auf dem Autismus-Spektrum sind dafür bekannt, ein verändertes Wahrnehmungsmuster zu zeigen, bei dem der Fokus entweder sehr stark auf sensorischen Details liegt und also die „from below“-Perspektive bevorzugt werden kann oder noch andere Gewichtungen vorgenommen
40 Gondek, Gespiegelte Körper, S. 65 f. 41 Gondek, Gespiegelte Körper, S. 66. 42 Über den Zusammenhang von Atem- und Herzfrequenz und Wahrnehmung vgl. Thomas Fuchs: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Berlin 2020, S. 300: „die perspektivische Wahrnehmung von Kippfiguren wie dem Necker-Würfel oder die Gestaltwahrnehmung der Rubin-Vase (Vase oder zwei Gesichter) schlägt circa alle 3 Sekunden spontan um. das ‚ausgedehnte Jetzt‘ – von Husserl (1969) bekanntlich als die Einheit von Urimpression, Retention und Protention konzipiert – tendiert zu einer Dauer von jeweils 3 Sekunden.“
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werden.⁴³ Die optische Täuschung des Enten-Hasen-Bildes ist ein berühmtes Beispiel für die bistabile Wahrnehmungsdynamik. Musil konnte sich seine gemischten Gefühle angesichts dieser Experimente nie wirklich erklären.⁴⁴ „Zuerst zeigen, warum ich anders denke“ (Tb I, S. 644), schreibt Musil 1923. Die Vereinigungen widersprechen nur scheinbar meiner 2005 formulierten Hypothese, dass Musil nicht den Weg der internen Fokalisation geht. Auch die Vereinigungen tauchen nicht unvermittelt in das Bewusstsein der Figuren ein, sondern bauen experimentelle Anordnungen auf, über die eine Stimme Protokoll führt. Die Verweise auf Geometrie gehören zu den Bewältigungsstrategien. Der Körper als „Zaubersack“ (GA 11, S. 401) schlottert, wie allenthalben bei Musil, gewaltig und kann sich nur anhand von sadomasochistischer Verausgabung an externe Reize stabilisieren. Seit Jahrzehnten rätselt die Musil-Forschung über Zuschreibungen von Intentionalität und Kausalität als narrative Ordnungsprinzipien in Die Vollendung der Liebe und in den Vereinigungen. Rickenbacher kommt das Verdienst zu, die Bezugnahmen auf Stumpf und Mach in einer Art und Weise herausgearbeitet zu haben, die es erlaubt, die Texte vor dem Hintergrund eben einer experimentellen Phänomenologie anzusiedeln, die zugleich auch die Grenzen der experimentellen Überprüfbarkeit vor Augen führt. Die Terminologie im Umfeld von Stumpf (und auch von Erich von Hornbostel) ist derart synästhetisch geprägt („Gefühlsbetonung“, „Gefühlsfarben“), dass der qualitative Sprung zu einer quasimystischen „Einheit der Sinne“ (Hornbostel) auf der Hand liegt. Das Interesse für Kippfiguren und Konvex-Konkav-Inversionen verrät, dass hier Wahrnehmungsdifferenzen im Spiel waren, deren Tragweite allerdings erst erst Jahrzehnte später verstanden wurde. Wollte das Heider-Simmel-Experiment, unter Verweis auf Fritz Heider, den letzten Doktoranden Alexius Meinongs, 1942 praktisch vorführen, dass Menschen spontan auch geometrische Figuren anthropomorphisierend mit Intention und Sinn ausstatten, so zielte das daraus abgeleitete Frith-Happé-Experiment, das darauf abzielt, Theory of Mind bei Autismusverdacht zu testen, eher umgekehrt auf die Fälle, in denen diese Zuweisung nicht zustanden kam. Daran knüpfen im kritischen Sinne die „Narrative Practice Hypothesis“ von Daniel Hutto und andere proto-enaktive Kognitionstheorien an, die sich der körperlichen Basis dieser kognitiven Unterschiede widmen. Es ist weiterhin ein Desiderat der Forschung, die Geschichte dieser experimentellen Forschung mit Musils Ausführungen im Mann
43 Vgl. Jürgen Kornmeier et al.: A different view on the Necker cube—Differences in multistable perception dynamics between Asperger and non-Asperger observers. In: PLoS ONE 12(12) [2017], e0189197. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0189197 (letzter Zugriff: 19.06. 2023). 44 Vgl. Michael McGillen: Orientation in pictures: multistable spaces in Kafka and Beckett. In: Word & Image 36 (2020) 3, S. 225–236.
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ohne Eigenschaften zur Rolle des Erzählerischen in der Weltwahrnehmung in Verbindung zu bringen.⁴⁵
8 Schlussfolgerung Weshalb bedarf es des Zusatzes eines modisch und anachronistisch klingenden Präfixes „Neuro-“ bei der Phänomenologie? Meines Erachtens ist dieser Zusatz unabdingbar, um Musils hybrid vorgehender Arbeitsweise gerecht zu werden. Eigentlich wäre der Begriff „experimentelle Phänomenologie“ noch besser geeignet, um Musils Spagat zwischen den Methoden zu erfassen. Großschriftsteller [wie Thomas Mann und Stefan Zweig waren] viel leichter bereit […], sich einer einzigen Form der Psychologie – in diesem Fall der Freudschen Psychoanalyse – anheimzugeben und ausschließlich bei ihr das Heil zu suchen, während Musil selbstverständlich die Lehre Freuds und seiner Schule, die Jungs und Adlers kannte und sich weigerte, die Welt bloß mit jenem halben Dutzend Begriffe zu erklären, mit dem seiner Meinung nach die Psychoanalyse arbeitete. Er kannte und nutzte darüber hinaus die Gestaltpsychologie von Stumpf, Köhler, Wertheimer, Hornbostel, Koffka, Levin [sic], die Entwicklungspsychologie Sterns, Gefühlspsychologie Felix Krügers, den Behaviourismus usf. und versucht aus dem psychologischen Wissen seiner Zeit eine Synthese zu ziehen. Ein unendlich mühsames Verfahren, dieses Wissen nicht nur zu erfassen und zu kompilieren, sondern in Dichtung zu verwandeln.⁴⁶
Die Neurophänomenologie wertet die Bedeutung des Körpers in diesem Verfahren auf und wendet sich gegen die Hypothese, der Körper werde vom Gehirn wie von einem Cockpit aus gesteuert. „Nicht das Gehirn erzeugt die Funktion, sondern umgekehrt schafft sich die Funktion ihr zerebrales Organ.“⁴⁷ Vor allem die sogenannte sensorimotor theory (SMT) setzt, im Rekurs auf Wittgenstein, auf eine radikale Verkörperung von Erkenntnis als Erfahrung, die nicht (primär) auf Symbolverarbeitung zurückgreift.⁴⁸ Die Theorie ähnelt bis zu einem gewissen Grade dem radikalen Monismus Ernst Machs,⁴⁹ auf den sie sich auch häufiger beruft, und
45 Vgl. Daniel D. Hutto: The narrative practice hypothesis: origins and applications of folk psychology. In: Royal Institute of Philosophy Supplements 60 (2007), S. 43–68. 46 Karl Corino: „Von der Seele träumen dürfen“. Nachträge zur Biographie und zum Werk Robert Musils. Würzburg 2022, S. 658. 47 Fuchs, Verteidigung des Menschen, S. 173. 48 Vgl. J. Kevin O’Regan/Alva Noë: A sensorimotor account of vision and visual consciousness. In: Behavioral and Brain Sciences 24 (2001) 5, S. 939–973. 49 Vgl. zu dieser Gretchenfrage der Forschung Artur R. Boelderl: MUSIL MACH STUMPF oder Der Roman als strenge Wissenschaft. In: Robert Musil und die modernen Wissenschaften. Hg. v. Károly Kókai. O. O. [Budapest] 2019, S. 47–74.
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führt zu Überlegungen über die „aktive“, handelnde Wahrnehmung der Farbe Rot, die sehr stark an Musils Überlegungen über das sprachliche Zustandekommen von Farbbegriffen erinnern.⁵⁰ Dieses Interesse für Sinnesphysiologie der Wahrnehmung ermunterte Musil dazu, Ernst Machs Auffassung vom Ich als einem „Konglomerat verschiedener Sinneswahrnehmungen“⁵¹ über die Grenzen des (damals) wissenschaftlich Vertretbaren und diskursiv Vermittelbaren nachzuhängen. „Personen eines Dichtwerks wie lebende Menschen behandeln ist die Naivität eines Affen, der in den Spiegel greift.“ (GA 12, S. 96) Das stimmt, aber sind wir wirklich in der Lage, die Naivität des Affen zu beurteilen? Die motorische Resonanz für Tastempfindungen ist ein neurologisches Phänomen, das auch beim Menschen beobachtet wird. Beim Lesen oder Hören von Erfahrungen mit taktilen Empfindungen können die gleichen neuronalen Wege im Gehirn aktiviert werden, die aktiviert werden würden, wenn die Person tatsächlich diese Berührungsempfindung erleben würde. Dieses Phänomen verweist auf höhere kognitive Aktivitäten wie Empathie und soziale Kognition. Dem Affen, der in den Spiegel greift, fehlt eine höhere kognitive Fähigkeit, die wir für ein Humanum halten. Aber die Geschwindigkeit, mit der er angreift und dabei auf eine visuell-kognitive Unterscheidung zwischen einem möglichen Angreifer und sich selbst verzichtet, schützt ihn in Situationen, in denen ein Mensch, dem „unglücklicherweise auch nur der kleinste Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel falle“ (GA 1, S. 41; MoE, S. 29), rettungslos verloren wäre, oder in denen derjenige, der „beim Erlernen des Tennisspiels zum erstenmal [s]einem Schläger absichtlich eine bestimmte Stellung“ gäbe, „sechs zu Null“ unterliegen würde. Stanislas Dehaene beschreibt evolutionspsychologisch diese Wahrnehmungökonomie als Überrest einer adaptiven Strategie im Rahmen seiner mirror invariance hypothesis. Wer sich von der visuell-okulomotorischen Überlegenheit und vom Zahlengedächtnis von Affen überzeugen möchte, kann sich im Internet die einschlägigen Experimente ansehen. Es sind solche Beobachtungen des lediglich vermeintlich Primitiven, die Musil zu seiner Gratwanderung zwischen den Disziplinen motiviert haben.⁵²
50 Vgl. J. Kevin O’Regan: Why Red Doesn’t Sound Like a Bell: Understanding the Feel of Consciousness. Oxford 2011. 51 Roland Kroemer: Ein endloser Knoten? Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß im Spiegel soziologischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse. München 2004, S. 69. 52 Der vorliegende Beitrag geht auf Ideen zurück, die ich erstmals 2018 an der Universität Oslo während eines Gastvortrags im Rahmen eines Vorläufers der Forschergruppe „Literature, Cognition and Emotions“ entfalten durfte. Für die freundliche Einladung danke ich Karin Kukkonen, für direkte und indirekte Anregungen bedanke ich mich bei der damaligen interdisziplinären Gesprächsrunde sowie bei den Herausgeber:innen.
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„Unfug“. „Unzeit“. „Unding“. Über Musils ‚Un-‘ Abstract: An Robert Musils Handhabung der Vorsilbe „Un-“ lässt sich eine Symptomatik verfolgen, in der nicht bloß, wie bei Sigmund Freud, Figuren der Negation aufgeweicht werden, sondern in der dieses „Un-“ wie ein Marker metonymischer Einebnung funktioniert, die das erzählerische Feld nach dem Gesetz unähnlicher Ähnlichkeit organisiert. Vorliegender Aufsatz zeichnet Aspekte der Symptomatik von Musils „Un-“ nach und liefert darin einen erzähltheoretischen Beitrag zum Mann ohne Eigenschaften.
1 Metapher, parodiert Versuche, Robert Musils Mann ohne Eigenschaften ¹ einer irgendwie sinnvollen Lektüre zu unterziehen, enden vielfach mit dem Eingeständnis, dass im Gegenstand – ob aus Gründen schierer Textmasse oder aus Gründen, die das Verstehen selbst angehen – immer ein Rest von Unverstandenem bleibt. Dies, so scheint es, gilt zumindest in zweifachem Sinne: Zum einen wird nach hermeneutischer Konvention darauf verwiesen, dass der Roman, der – auch wenn er „vom später nie ausgeführten Ende her angelegt“² ist – sowohl ein Dokument erzählerischer Monumentalität als auch fragmentarischer Vorläufigkeit geblieben ist, solches Verstehen schon durch seine Unabgeschlossenheit und „kalkulierte[] Endelosigkeit“³ versperrt, die es verhindert, ihn als verstanden im emphatischen und vor allem im abgeschlossenen Sinne zu bezeichnen. Zum anderen aber muss der Roman vielleicht auch darum als unverstanden gelten, weil in dem Begriff des Unverstandenen selbst jene eigentümliche Vorsilbe un- ihren Platz einnimmt, der sich die vorliegende Lektüre hier zuwenden möchte. Denn nicht allein rührt die Operation ‚Musil lesen‘ Probleme und Verfahrensweisen des Verstehens in grundsätzlicher Weise an. 1 Musils Mann ohne Eigenschaften wird im laufenden Text unter der Sigle MoE mit Seitenangaben zitiert nach Robert Musil: Der Mann und Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, andere Schriften des Autors unter der Sigle GW 2 mit Seitenangaben nach Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 2: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Reinbek b. Hamburg 1978. 2 Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans ‚Mann ohne Eigenschaften‘ von Robert Musil. Klagenfurt/Celovec 2015, S. 29. 3 Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe, S. 42. https://doi.org/10.1515/9783110988352-015
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Vielmehr stellt sie immer auch hermeneutische Verfahren insgesamt in Frage, die am methodischen Leitfaden der – wie es Gadamer einmal bezeichnete –„Transzendierung der ästhetischen Dimension“⁴ einem Wahrheitsbegriff entgegensteuern, der sich jenseits oder über der individuellen Erfahrung der Lektüre findet und darin als Kompass des Verstehens nicht bloß einen Sinn oder eine Bedeutung, sondern am Ende gar „die Erkenntnis von Wahrheit“⁵ selbst auf den Plan zu rufen versucht. Dabei ist bekannt, dass Musils Roman vielleicht noch viel unbedingter als andere Klassiker der literarischen Moderne einem Programm „ästhetische[r[ Selbstreflexivität“⁶ folgt und dabei immer wieder Stellen anspült, die nicht nur einen hermeneutischen Erwartungshorizont gründlich sabotieren, der nach etwas verlangt, was gewöhnlich als ‚Geschehen‘ bezeichnet wird. Die Suche nach diesem gilt es bei Musil wohl ebenso loszulassen wie jene „referentielle Illusion“, die noch der realistische Roman des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als „Wirklichkeitseffekt“⁷ versprach. Denn vielmehr weist schon das im Titel des zweiten Teils des ersten Buches (,Seinesgleichen geschieht‘) assoziativ anwesende Problem des Vergleichens eine Form der Abständigkeit aus, mit der sich der Roman gegenüber der Ebene des Plots als der Ebene der (mit Genette gesprochen) histoire der Erzählung verhält.⁸ Stattdessen stellt Der Mann ohne Eigenschaften immer wieder sein strenges Formwie auch Darstellungsbewusstsein zur Schau, durch das im Roman nicht nur „literarische Form“ und „Denkform“ zusammenfallen,⁹ sondern immer wieder auch eine Vielzahl von begrifflichen Elementen – die Rede fällt bekanntermaßen auf „Wirklichkeit“, „Möglichkeit“, „Eigenschaft“, „Genauigkeit“, „Analogie“, „Gleichnis“ oder „Essay“ – auftaucht. Diese verrichten zum einen an der Schnittstelle zwischen Literatur und Naturwissenschaft, Philosophie und Recht, aber auch Rhetorik und Psychologie ihr Werk, derweil sie zum anderen auch zeigen, dass der Roman nicht bloß Literatur sein will, sondern mindestens ebenso sehr – und zwar ganz im Sinne seines Formbewusstseins – Literatur über Literatur und natürlich auch Erzählen über das Erzählen. 4 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 2010, S. 9. 5 Gadamer, S. 103. 6 Richard David Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Stuttgart 1996. 7 Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt. In: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2006, S. 164–172, hier S. 171. 8 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. v. Andreas Knop. Paderborn 2010, S. 17. 9 Vgl. Peter Bürger: Prosa der Moderne. Unter Mitwirkung von Christa Bürger. Frankfurt a. M. 1988, S. 422. Zum Thema vgl. auch Olav Krämer: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin/New York 2009.
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Beispiele dieses Formbewusstseins liefert der Mann ohne Eigenschaften beinahe in jedem seiner Kapitel. Ein besonders einschlägiges findet sich in den bereits zum Druck gegebenen, aber wieder zurückgezogenen Kapiteln, die die Fortsetzung des dritten Buchs mit dem Titel ,Ins tausendjährige Reich (Die Verbrecher)‘ bilden sollten. Gegenstand hier ist unter anderem das vielbesprochene Verhältnis zwischen Ulrich und seiner Schwester Agathe, das im Umkreisen des Inzestuösen vielleicht die gründlichste Erörterung dessen ist, was schon früh im Roman als „Möglichkeitssinn“ (MoE, S. 16) markiert wurde. Das Verhältnis der Geschwister steht dabei ganz im Lichte von jenem „anderen Zustand“ (MoE, S. 755), den Musil zwar schon 1925 in seinem Aufsatz über Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films verhandelt,¹⁰ bei dessen Deutung aber in den späteren Schichten des Romans leicht einer teleologischen Suggestionskraft zu verfallen ist.¹¹ Aus der zunehmend von Gesprächskaskaden überblendeten Kargheit dessen, was „geschieht“, schimmert aus dem Kapitel ,Beginn einer Reihe wundersamer Ereignisse‘ jener in seiner erzählerischen Darstellung nicht widerstandslos zu greifende inzestuöse Tabubruch eines „gemeinsamen Zustands“ hindurch, „an dessen Grenze sie schon so lange gezögert, den sie einander schon so oft beschrieben und den sie doch immer nur von außen geschaut hatten.“ (MoE, S. 1083) Die Aussicht auf Grenzüberschreitung steht ganz im Zeichen dessen, was der Anfang des Kapitels als „das ‚Unmögliche‘“ (MoE, S. 1081) benannte und über das es an gleicher Stelle widerständig heißt: „und es geschah wahrlich, ohne daß irgenderlei geschah.“ (MoE, S. 1081)¹²
10 Vgl. dazu Ulrich Karthaus: Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werke Robert Musil. Berlin 1965. Neuere Ansätze zu diesem Komplex des ,anderen Zustands‘ finden sich in Martina WagnerEgelhaaf: Musil und die Mystik der Moderne. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwende II: um 1900. Hg. v. Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs u. Manfred Koch. Paderborn 1998, S. 196–215. 11 Für eine solche teleologische Lektüre dieses ,anderen Zustands‘, der vielleicht gar einer Formung von Endung im Sinne von Vollendung entgegenarbeitet, spricht eine Textstelle aus dem nicht veröffentlichten Material des Romans: „Etwas zu glauben und an etwas zu glauben, sind seelische Zustände, die ihre Kraft einem anderen Zustand entnehmen und für sich verwenden oder auch verschwenden; aber dieser andere Zustand war nicht nur, wie es am nächsten lag, der feste des Wissens, sondern konnte, im Gegenteil, auch ein noch weniger stofflicher Zustand als das Glauben selbst sein: Und daß gerade in diese Richtung alles führen, Was was ihn und seine Schwester bewege, drängte Ulrich zur Aussprache […].“ Allerdings lässt sich leicht der folgende Teilsatz übersehen, der dieser Teleologie entschieden ausweicht, „aber seine Gedanken waren noch weit von der Aussicht entfernt, sich dahin zu verbinden, und darum sprach er sich nicht aus, sondern wechselte lieber den Gegenstand, ehe er es tat.“ (MoE, S. 1254) 12 Vgl. zum Komplex der „letzte[n] Liebesgeschichte“ (MoE, S. 1094) und zumal ihres Zusammenhangs mit der Erzählordnung des Mann ohne Eigenschaften – auch und vor allem unter Berücksichtigung der nachgelassenen Handschriften – die Arbeiten von Walter Fanta, und zwar vor allem
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Im Nachspiel dieses eigentümlich unerzählt bleibenden ‚Geschehens‘ setzt sich der Roman an gleicher Stelle zwar nicht mit der (inzestuösen) Liebe selbst auseinander, aber doch immerhin mit der Semantik der Liebe selbst. Alles nämlich, so scheint es, steht für den Augenblick im Zeichen der Musil’schen Privatsemantik des Mondes.¹³ Kaum ist der Inzest erzählerisch dem Schein nach erledigt, fällt die Erzählung auf ihre begriffliche Schicht zurück, indem es heißt: Die Geschwister verharrten nun verwirrt und nachdenklich, und nachdem sie ihre Empfindungen besänftigt hatten, fingen sie zögernd zu sprechen an. Ulrich sagte sinnlos, wie man in die Luft spricht: „Du bist der Mond –“ Agathe verstand es. Ulrich sagte: „Du bist zum Mond geflogen und mir von ihm wiedergeschenkt worden –“ Agathe schwieg: Mondgespräche sind so von ganzem Herzen verbraucht. Ulrich sagte: „Es ist ein Gleichnis. ‚Wir waren außer uns‘, ‚Wir hatten unsere Körper vertauscht, ohne uns zu berühren‘, sind auch Gleichnisse! Aber was bedeutet ein Gleichnis? Ein wenig Wirkliches mit sehr viel Übertreibung. Und doch wollte ich schwören, so wahr es unmöglich ist, daß die Übertreibung sehr klein und die Wirklichkeit fast schon ganz groß gewesen ist!“ Er sprach nicht weiter. Er dachte: „Von welcher Wirklichkeit spreche ich? Gibt es eine zweite?“ (MoE, S. 1084)
Dann tritt der Erzähler in Erscheinung und die Sprache schlägt um in eine der Reflexion: Verläßt man hier das Gespräch der Geschwister, um einer Vergleichsmöglichkeit zu folgen, von der es zumindest mitbestimmt wurde, so wäre wohl zu sagen, daß diese Wirklichkeit fürwahr am nächsten mit der abenteuerlich veränderten in Mondnächten verwandt war. Begreift man doch auch diese nicht, wenn man in ihr bloß eine Gelegenheit zu etwas Schwärmerei sieht, die bei Tag besser unterdrückt bleibt, muß sich vielmehr, wenn man das Richtige bemerken will, das ganz Unglaubliche vergegenwärtigen, daß sich auf einem Stück Erde wirklich alle Gefühle wie verzaubert ändern, sobald es aus der leeren Geschäftigkeit des Tags in die empfindungsvolle Körperlichkeit der Nacht taucht! Nicht nur schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn. (MoE, S. 1084)
In dem Augenblick, in dem sich das Element erotischer Spannung plötzlich mit dem essayistischen Stil des Romans kreuzt, schlägt das ‚Geschehen‘, das der Inzest (vielleicht) ist, in Reflexion um. Dabei wird der formelhafte Gebrauch metaphoriders.: Liebe als Narrativ. Über den Ausgang der‚letzten Liebesgeschichte‘ bei Robert Musil. In: MusilForum 30 (2007/8), S. 37–72, sowie ders., Krieg. Wahn. Sex. Liebe, insbesondere S. 321–361. 13 Vgl. zur Sprache des Mondes zwischen Musil und seiner Frau Martha Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2005, S. 351, sowie Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe, S. 340–350.
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scher Rede – „Du bist der Mond“ – unmittelbar durch Ulrichs Wissen vom ,Gleichnis‘-Charakter derselben zwar nicht wieder getilgt, aber doch von jenem Form- und Darstellungsbewusstsein eingeholt, in welchem der Sprechende (und mit ihm der Roman) über die Weise seines Sprechens nachdenkt. Im Zeichen solcher Reflexion, die ganz unzweifelhaft den entschieden modernen Charakter eines Romans spiegelt, der um seine Stellung in der Entwicklung der Gattung weiß, erscheint die metaphorische Rede von Agathe als Mond ,verbraucht‘ in dem Sinne, als sich an ihm auch ihre latente Ungültigkeit ausstellt, die daher rührt, dass in der Sprache des Mondes, die ja spätestens seit Eichendorffs Marmorbild intimer Bestandteil romantischen Fantasierens und Fabulierens ist, eine historische Schicht ihr Werk verrichtet, die sich im 20. Jahrhundert schon lange erschöpft hat. Somit stellt Musils Roman auf eigentümliche Weise einen gattungsspezifischen Moment von ,Ungleichzeitigkeit‘ aus, weil er mit Metaphern und Bildern dasjenige geschehen lässt, was Ernst Bloch von den „Proletarisierte[n]“ im Nationalsozialismus sagte, als er schrieb: „Viele von diesen gingen im Jetzt gewiß nur nach. Blieben hinter seinem Zug nur zurück, weil ihr Gang zu lahm ist, obwohl sonst ganz und gar von heute.“¹⁴ Aus solcher Ungleichzeitigkeit zwischen dem eigenem Bewusstsein, das von seiner entschiedenen Modernität weiß, und einer im Grunde altertümlichen Metaphorik, auf die er formelhaft zurückfällt, geht denn auch sein spezifisch parodistischer Charakter hervor, der in der metaphorischen Rede vom Mond gerade dasjenige erkennt, was Adorno einmal als die „Verwendung von Formen im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit“¹⁵ markierte. So ist vielleicht nicht nur die konkrete Aussage „Du bist der Mond“ im Grunde ,sinnlos‘, sondern vielmehr stellt sie implizit natürlich auch das Selbstbewusstsein des Romans als Parodie seiner eigenen Gattung zur Schau, die nun um ihre eigene historische Stellung weiß und in der romantische Metaphorik bloß noch als Zitat einen Ort hat.¹⁶
14 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1985 (Gesamtausgabe. Bd. 4), S. 111. 15 Theodor W. Adorno: Versuch das Endspiel zu verstehen. In: ders.: Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1974 (Gesammelte Schriften, Bd. 11), S. 281–321, hier S. 302. 16 So unterscheidet sich modernes Formbewusstsein, in dem die Verwendung der Parodie zugleich die konkrete geschichtliche Konstellation markiert, in der sie entsteht, und die sie als ungültige, ja falsche ausstellt, entschieden von postmodernen Praktiken formaler Nachahmung im Zeichen des Pastiche. Vgl. zu diesem Komplex nach wie vor Fredric Jameson: Postmodernism, Or, The Cultural Logic of Late Capitalism. London/New York 1992, S. 16–25.
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2 „Nachbarsinn“, metonymisch Aber es geschieht noch mehr mit dieser Metapher. Denn die Reflexion über eben ihren Metapherncharakter selbst kommt mit einer eigentümlichen Verschiebung daher, in der das Verlassen des „Gespräch[s] der Geschwister“ auch dem Verlassen der „Wirklichkeit“ gleichkommt und ein Sich-hin-Wenden zu jener „zweite[n]“ Wirklichkeit bedeutet, die den Gegenstand von Ulrichs nachgeschobener Meditation bildet. Diese liefert eine Spur zu der für den Roman bekanntlich grundlegenden Welt der Möglichkeit, und zwar spezifisch zur Welt der ,Vergleichsmöglichkeit‘. Bei aller Sinnlosigkeit und Verbrauchtheit jener doch eigentlich bloß noch parodistisch zu legitimierenden Rede vom „Mond“ ist es nämlich nicht die Metapher selbst, die an der Situation Aufregung produziert, sondern die in ihr schlummernde Erkenntnis, dass sich die Wirklichkeit, in der sich Ulrich und Agathe in diesem Augenblick befinden, mit dem Wort „Mond“ einfangen lässt, ohne dass tatsächlich oder ‚wirklich‘ ein Mond gemeint oder gar lebensweltlich vorhanden wäre. Vieles hängt hier an dem Wort „verwandt“. So spannt sich zwischen Wirklichkeit und ,Vergleichsmöglichkeit‘ plötzlich – in der Erkenntnis, dass sich die erotische Situation mit der abgelebten Vorstellung einer „Mondscheinromantik“ (MoE, S. 1098) überhaupt abbilden lässt – ein Feld von bedeutender und bedeutsamer Ordnung im Zeichen des Symbolischen. Nun ist aber gerade der symbolischen Form der Metapher eigen, dass sie eine Substitutionstrope darstellt, weil sie – mit Aristoteles gesprochen – über die Scharniere von Analogie und Verwandtschaft „die Übertragung eines Wortes [bildet], das eigentlich der Name für etwas anderes ist“¹⁷. Das schließt mit ein, dass die Metapher symbolische Bedeutung durch die Übertragung von einer semantischen Ebene auf eine andere produziert, indem sie eine im weitesten Sinne vertikale Korrespondenz zweier Ebenen organisiert, die über einen „semantische[n] Mengendurchschnitt“¹⁸ (tertium comparationis) funktioniert, an dem beide Ebenen qua „Ähnlichkeitsassoziation“¹⁹ teilhaben. Zu sagen also „Du bist der Mond –“, wie es Ulrich tut, ist formal eine Lüge, metaphorisch aber unter der Voraussetzung legitim, dass über der Ebene des Gesagten eine irgendwie höhere, womöglich gar metaphysische Ebene angenommen
17 Aristoteles: Poetik. Übers. von Arbogast Schmitt. In: ders.: Werke in deutscher Übertragung. Begr. v. Ernst Grumach. Hg. v. Hellmut Flashar. Bd. 5. Darmstadt 2008, S. 29. 18 Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis. München 1974, S. 149. 19 Roman Jakobson: Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979, S. 192–211, hier S. 202.
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wird, die über das gemeinsame Sem eines ‚irgendwie schimmernden, schummrigen, weißen, farblosen Lichts‘ zugänglich wird und somit im „Mond“ Agathe anwesend sein lässt. Nun ist bei Musil die Metapher aber zugleich parodiert, wird sie doch vom Roman markiert als ein historisch Obsoletes, Überkommenes, ja Ungültiges. Das hängt auch damit zusammen, dass nicht nur Ulrich (wie auch der Roman) ganz zweifelsohne einem insgesamt unmetaphysischen Weltmodell entgegenstrebt, das keine ‚Höhe‘ und keine ‚Tiefe‘ und somit kein System metaphysischer Entsprechung zu tolerieren mehr in der Lage ist. So bedeutet das Abstreifen von Eigenschaften, das ja die Kerngeste von Ulrichs Versuchsanordnung eines „Urlaub[s] von seinem Leben“ (MoE, S. 47) bildet, zuletzt auch das Abstreifen jener Elemente, auf deren Basis eine solche Übertragung, wie sie in der Metapher „semantisch motiviert“²⁰ stattfindet, überhaupt möglich wäre. Im Grunde nämlich glaubt der Roman nicht mehr an die Metapher, sondern liefert somit bloß das Bild eines Mannes ohne Eigenschaften, an denen metaphorische Entsprechungen unmöglich geworden sind: einen Mann ohne Eigentlichkeit. Solches Versiegen metaphorischer (und mit ihr metaphysischer) Substitutionskraft schlägt sich konkret auch in Musils Erörterung der „Mondscheinromantik“ nieder. Denn noch einmal: „Nicht nur schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn.“ (MoE, S. 1084) „Eigensinn“ einbüßen und „Nachbarsinn“ annehmen – heißt das nicht doch metaphorisch werden? Im Gegenteil: Wenn dies der abschließende Kommentar Ulrichs zur Verwendung von „Mond“ ist, so heißt dies, dass das semantisch ‚Eigentliche‘ gleichsam entkernt wird. Denn „die inneren [Verhältnisse] auf eine neue Weise zusammen [zu rücken]“ bedeutet auch, dass ihre ‚Wesensmerkmale‘ mobilisiert und vor allem verschiebbar werden. Seinen „Nachbarsinn“ zu gewinnen heißt nämlich unter Bedingungen, nach denen das Geschäft der Metapher versiegt ist, dass diese Verschiebungen im semantischen Feld nicht mehr auf eine ‚höhere‘ oder‚tiefere‘ Ebene weisen, sondern sich vielmehr – als ‚flaches‘ Verfahren – auf ein und derselben Ebene zutragen. Hier geht es nicht um Sprünge im semantischen Spiel, sondern vielmehr darum, was Musil in einem frühen Versuch über Die gesuchte Moral einmal als „Nebeneinflüße“ (GW 2, S. 1305) bezeichnete. In tropologischer Hinsicht wird damit das Terrain der Metapher also planiert und eingeebnet, und es steht am Ende dieser Operation ein bloß horizontales Spielfeld, in welchem vor allem jene Grenzverschiebungstrope Fuß fasst, die keine
20 Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, S. 149.
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semantische Motivation im ‚höheren‘ Sinne kennt und – eben weil sie „keine gemeinsamen Seme“²¹, sondern bloß eine „syntaktische Verbindung zwischen Substituendum und Substituens“²² aufweist – in die Breite hin mäandriert: nämlich die Metonymie. An der Rahmung und Reflexion der ,Mondscheinromantik‘ wird in diesem Sinne darstellbar, was den Mann ohne Eigenschaften als Roman insgesamt kennzeichnet: dass sein Baugesetz eines ist, in dem sich die einzelnen Segmente immerfort auf dem Weg zu einem „Nachbarsinn“ befinden. Sie bilden dabei Glieder einer Kette, die nach dem „Schematismus einer Reihe“²³ operiert und entschieden mit jenem Komplex zusammenfällt, den Roman Jakobson einst als den der Erzählung markierte, als er bemerkte, dass ihm das Gesetz der „Berührungsassoziation“²⁴ eignet und sich seine Bewegung – ganz nach Musil – „vom Gegenstand zu seinem Nachbarn auf raumzeitlichen und Kausalitätswegen“²⁵ vollzieht. Schon im folgenden Kapitel, dem berühmten ,Mondstrahlen bei Tage‘, findet sich denn auch die Erläuterung zu diesem metonymischen Baugesetz: Und so geschah es denn, und zwar recht bald, daß er auf den vertrackten und oft verwünschten Widersinn zu sprechen kam, daß alles Verstehen eine Art von Oberflächlichkeit voraussetzte, einen Hang zur Oberfläche, was sich in dem Wort „Begreifen“ überdies ausspreche und damit zusammenhänge, daß die ursprünglichen Erlebnisse ja nicht einzeln, sondern eines am andern verstanden und dadurch unvermeidlich mehr in die Fläche als in die Tiefe verbunden würden. Er fuhr dann fort: „Wenn ich also behaupte, dieser Rasen hier vor uns sei grün, so klingt das sehr bestimmt, aber ich habe nicht eben viel gesagt. In Wahrheit nicht mehr, als wenn ich dir von einem vorbeigehenden Mann erzählt hätte, er gehöre der Familie Grün an. Und, du lieber Himmel, wie viele Grün gibt es! Da ist es gleich besser, ich begnüge mich mit der Erkenntnis, dieser grüne Rasen sei eben rasengrün, oder gar er sei grün wie ein Rasen, auf den es vor kurzem ein wenig geregnet hat –“ (MoE, S. 1089)
Was Ulrich seiner Schwester vor Augen führt, ist die Operationsweise einer Ordnung, in der sich die Elemente jeweils immer schon auf dem Weg zu ihrem „Nachbarsinn“ begeben haben. Was zuvor nämlich als die Eigenschaft ‚grün‘ zu bezeichnen war, schwappt hier nun – in einem bloß inzidentellen Moment grenzverschiebender Ausdehnung des Wortes – auf ein Nebenliegendes über. ‚Grün‘ also mäandriert in der Horizontalen, indem es vom „Rasen“ auf einen „vorbeigehenden Mann“ überspringt, sich an diesen – und zwar in der Form des Namens – haftet, um auch ihn am Ende womöglich fallen zu lassen und sich einem anderen Träger anzuschließen. Alles hier findet auf einer Ebene statt, ist metonymische Kette, 21 22 23 24 25
Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, S. 153. Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, S. 153. Rüdiger Campe: Die Institution im Roman. Robert Musil. Würzburg 2000, S. 72. Jakobson, Randbemerkungen zu Prosa des Dichters Pasternak, S. 202. Jakobson, Randbemerkungen zu Prosa des Dichters Pasternak, S. 202.
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Grenzverschiebung, und alles daran schaltet auch die Vorstellung aus, dass sich ‚unter‘ oder ‚über‘ einem „grün“ noch ein Eigentliches befinde. Diese Konstruktion horizontaler Verschiebungen kennt somit kein „Verstehen“ im emphatischen Sinne als eines, das unter die „Oberfläche“ vordringt. Vielmehr sind es buchstäblich ‚untiefe‘ Strukturen der semantischen Ordnung, die Der Mann ohne Eigenschaften sowohl als Figur (Ulrich) als auch als Roman anbietet. Denn beide, Figur und Roman, wollen nicht in Form einer Übersetzungsleistung, wie sie ja immer bei der Metapher zu erbringen ist, verstanden oder begriffen werden.²⁶ Der Roman lässt sich darum auch nicht als „Massiv“²⁷ begreifen, das in die Höhe ragt, sondern liefert vielmehr – wollte man sich bei Deleuze und Guattari bedienen – eine Form von (allerdings ebenerdigem) Rhizom, das „unaufhörlich semiotische Kettenglieder“²⁸ organisiert. Alles an ihm ist nämlich zunächst einmal bloß Ausweitung „in die Fläche“. Darin mag auch ein Grund dafür liegen, dass der Roman als monströse Erscheinung nicht abzuschließen ist und seine konsequente Fortsetzung bloß in jenen 12.000 Zetteln zu finden ist, die unbedingt zu seinem ‚Ganzen‘, das es doch eigentlich nicht gibt, hinzugehören. Als unüberschaubare Masse, bestehend aus Papier und Schrift, bildet sich vielmehr so etwas wie eine unkartografierbare Ebene, die sich unter Musils Händen unter ständiger Beifügung einer immer neuen „Zutat“ ausbreitet und in der als Gesetz gilt, was noch im ersten Teil Walter über Ulrich behauptet: „es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes ‚wie es ist‘, irgendeine Zutat, kommt es ihm immer an.“ (MoE, S. 65)
3 „Un-“, eingeebnet In dieses semantische Feld des Danebenlaufens, in welchem sich die je neuen Zutaten wie jene eigentümlich substanzlosen Weisen von ,grün‘ verhalten, die sich zum einen an Rasen, zum anderen (als Namen) an Menschen haften, fällt nun aber auch das stete Auftauchen der Vorsilbe „un-“. In ,Mondstrahlen bei Tage‘ heißt es nämlich von Ulrich im Gespräch mit Agathe: Ihr Bruder sagte: „Das Verstehen macht einem unstillbaren Staunen Platz, und das geringste Erlebnis – dieses Fähnchen Gras oder die sanften Laute, wenn deine Lippen da drüben ein
26 Nicht umsonst lautet der lateinische Begriff für die Metapher translatio. 27 Campe, Die Institution im Roman, S. 26. 28 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin 1992, S. 17.
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Wort aussprechen – wird unvergleichbar, welteinsam, hat eine unergründliche Selbstischkeit und strömt eine tiefe Betäubung aus…!“ (MoE, S. 1090)
Jenes „Verstehen“ also, das mit einem „Hang zur Oberfläche“ daherkommt, geht somit über in ein „unstillbares Staunen“. Dieses Staunen, das in das Reich dessen hineinragt, was als „unvergleichbar“ und „unergründlich[]“ bezeichnet ist, kapituliert gleichsam vor der Herausforderung des Verstehens selbst. An dessen Stelle setzt der Roman das „geringste Erlebnis“ und eben eine „Selbstischkeit“, die nicht bloß Goethes „selbstische[s] Prinzip“²⁹ als eines von Isolation und Abgeschottetsein zitiert, sondern im Grunde auch eine Form von „Reduktion“ im Verhältnis zu Dingen und Umwelt ins Auge fasst, wie sie zumal in Husserls phänomenologischer Fantasie darüber bezeichnet ist, dass „alles Transzendente (mir nicht immanent gegebene) […] mit dem Index der Nullität zu versehen“³⁰ sei. In diesem Sinne fällt die gehäufte Nennung der Vorsilbe ‚un-‘, die sich aus dem Schwund der Idee eines „Verstehens“ ergibt, zunächst einmal symptomatisch zusammen mit jenem Schwund von semantischer Höhe oder Tiefe, die der horizontalen Ordnung des Romans entspricht. Doch würde sich der zunächst einmal bloß symptomatische Befund einer plötzlichen Häufung von ‚un-‘ im Kontext der Wende von einem im weitesten Sinne hermeneutischen Prinzip des Verstehens hin zu einem – vorsichtig formuliert – mehr oder minder phänomenologischen „Staunen“ als konsequent oder gar prinzipiell erweisen, so wäre dieses ‚un-‘ zudem ein Marker für eine Ordnung, die sich von metaphorischer Tiefe abgewendet hat und auf eben bloß metonymischer Ebene operiert. Kurz: ‚un-‘ wäre der Marker von Flachheit, von Metonymie, von „Oberflächlichkeit“ und damit von einer Art von ‚Untiefe‘ in dem Sinne, dass sie sich von der Idee der ‚Tiefe‘ emanzipierte. Das volle Ausmaß dieser Spekulation wird erst nachvollziehbar, wenn sie vor der Folie jener Überlegungen zu einem ‚un-‘ erscheint, wie sie Musils Zeitgenosse Sigmund Freud anstellte, bei dem dieses ‚un-‘ – und zwar natürlich vor allem an der Gestalt des Unbewussten – einen begrifflichen Status annimmt. So besiedelt Freuds Unbewusstes bekanntermaßen jenes Feld, das vor allem mit der Figur der Verdrängung eng zusammenhängt, heißt es doch in der Abhandlung über Das Unbewußte (1915): Wir haben aus der Psychoanalyse erfahren, das Wesen des Prozesses der Verdrängung bestehe nicht darin, eine den Trieb repräsentierende Vorstellung aufzuheben, zu vernichten, sondern sie vom Bewußtwerden abzuhalten. Wir sagen dann, sie befinde sich im Zustande des „Un-
29 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zus. m. Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 13/1. München 1992, S. 357. 30 Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hamburg 1986, S. 6.
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bewußten“, und haben gute Beweise dafür vorzubringen, daß sie auch unbewußt Wirkungen äußern kann, auch solche, die endlich das Bewußtsein erreichen. Alles Verdrängte muß unbewußt bleiben, aber wir wollen gleich eingangs feststellen, daß das Verdrängte nicht alles Unbewußte deckt. Das Unbewußte hat den weiteren Umfang; das Verdrängte ist ein Teil des Unbewußten.³¹
In diesem Sinne bildet das Unbewusste also das abstrakte Vehikel, in dem Gegenstände, Wünsche, Fantasien oder Vorstellungen, die von der Apparatur der Verdrängung erfasst werden, aufgehoben werden. Das Unbewusste sperrt sich bei Freud aber zugleich einem direkten Zugriff, insofern keine unmittelbare Verbindung zu ihm besteht. Ja, noch mehr: Das Unbewusste ist ein grundsätzlich und in vollem Umfang abwesendes, das gerade darin das Prinzipielle auch eines ‚un-‘ zur Schau stellt, weil es gerade erst darin seine Bestimmung hat, dass es sich seiner vollumfänglichen Darstellung verweigert. Dabei gilt, dass – so Freud in seinem Aufsatz über Die Verdrängung – „die Triebrepräsentanz sich ungestörter und reichhaltiger entwickelt, wenn sie durch die Verdrängung dem bewußten Einfluß entzogen ist“.³² Denn: „Sie wuchert dann sozusagen im Dunkeln und findet extreme Ausdrucksformen“.³³ Darstellbar werden diese Ausdrucksformen nur indirekt, „[w]enn sich diese weit genug von der verdrängten Repräsentanz entfernt haben“,³⁴ und es lässt sich das verdrängte Material darum auch bloß in Form dessen wieder zur Darstellung bringen, was Freud als „ein wenig mehr oder weniger von Entstellung“³⁵ bezeichnet. So formiert sich „höchst individuell“³⁶ ein „jeder Abkömmling des Verdrängten“³⁷ als eine Form von verstellter, aber doch immerhin motivierter Ersatz- und Symptombildung, in der ein ‚ursprünglicher‘ Wunsch oder eine ‚primäre‘ Fantasie zwar zugestanden, aber bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird und in dieser Entstellung ihr eigentliches Objekt in einem, wie Freud über die „Verdrängungsarbeit der Zwangsneurose“ bemerkt, „erfolglose[n] und unabschließbare[n] Ringen“³⁸ stets von Neuem verfehlt. Nun aber liefert Freuds Modell der Psychoanalyse, darin deren medizinischen Charakter nie verleugnend, zugleich eine kurative Praxis, in der ja das Versprechen liegt, der Verstrickung in die Welt solcher Abkömmlinge irgendwie zu entrinnen.
31 Sigmund Freud: Das Unbewußte. In: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. 10 Bde. Frankfurt a. M. 1969–1975, Bd. 3 (1975), S. 125. 32 Sigmund Freud: Die Verdrängung. In: ders.: Studienausgabe, Bd. 3, S. 110. 33 Freud, Die Verdrängung, S. 110. 34 Freud, Die Verdrängung, S. 110. 35 Freud, Die Verdrängung, S. 111. 36 Freud, Die Verdrängung, S. 111. 37 Freud, Die Verdrängung, S. 111. 38 Freud, Die Verdrängung, S. 118.
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Zum einen nämlich – das gilt bereits seit Freuds Traumdeutung – erlaubt die Welt dieser Abkömmlinge, zu denen auch Träume gehören, grundsätzlich einen Zugriff über den Weg der Deutung; zum anderen aber verfügt dieser im weitesten Sinne hermeneutische Impuls des psychoanalytischen Projekts auch über ein spezifisches Instrument, das sich – zumal auf dem Feld des Verdrängten – Hoffnung machen darf, des Verschütteten, wenn zwar nicht in ‚eigentlicher‘ Gestalt, so doch zumindest funktional habhaft zu werden – nämlich das Instrument des Übersetzens. Freud bemerkt: Wie sollen wir zur Kenntnis des Unbewußten kommen? Wir kennen es natürlich nur als Bewußtes, nachdem es eine Umsetzung oder Übersetzung in Bewußtes erfahren hat. Die psychoanalytische Arbeit läßt uns alltäglich die Erfahrung machen, daß solche Übersetzung möglich ist. Es wird hiezu erfordert, daß der Analysierte gewisse Widerstände überwinde, die nämlichen, welche es seinerzeit durch Abweisung vom Bewußten zu einem Verdrängten gemacht haben.³⁹
„Die Vorsilbe ‚un‘“ ist also nicht nur, wie im einschlägigen Aufsatz über Das Unheimliche vermerkt, als „Marke der Verdrängung“⁴⁰ zu lesen, sondern legt darüber hinaus eine Fährte, die ins Feld von „Umsetzung und Übersetzung“ und also in das Feld von translatio und Metapher führt. Für den Bereich der Verdrängung ist dies ja bereits erkannt worden,⁴¹ aber die Verbindung zwischen Verdrängung (als Leistung des ‚un-‘) und Metapher erscheint hier umso dringlicher, als sich plötzlich ein
39 Freud, Das Unbewußte, S. 125. Berühmt in diesem Zusammenhang ist natürlich das einleitende Kapitel zur „Traumarbeit“, das Freud bereits in seiner Traumdeutung liefert und in dem es heißt: „Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind.“ (Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: ders.: Studienausgabe, Bd. 2, S. 280) 40 Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Studienausgabe, Bd. 4, S. 267. 41 Die Verbindung zwischen Verdrängung und Metapher ist bekannt, seit Lacan das Modell Jakobsons (syntagmatisch versus paradigmatisch/Metonymie versus Metapher) auf den psychoanalytischen Apparat an Begriffen übertrug und etwa in Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud bemerkte: „Der schöpferische Funke der Metapher entspringt nicht nur aus der Gegenüberstellung zweier Bilder, das heißt zweier gleichermaßen aktualisierter Signifikanten. Er entspringt zwischen zwei Signifikanten, von denen der eine sich an die Stelle des anderen gesetzt hat, indem er seinen Platz in der Signifikantenkette einnahm, wobei der verdeckte Signifikant durch seine (metonymische) Verbindung mit dem Rest der Kette gegenwärtig bleibt. (Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud. In: ders.: Schriften. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Bd. 1. Wien/Berlin 2016, S. 582–626, hier S. 599)
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entscheidender Unterschied zu Musils Behandlung des ‚un-‘ andeutet, insofern dieses ja gerade solche Metaphorizität und die mit ihr verbundene Vertikalität semantischer Zusammenhänge aus dem Feld zu schlagen scheint. So ließe sich zwar zum einen behaupten, dass sowohl bei Freud als auch bei Musil das ‚un-‘ nicht als Zeichen logischer Negation zirkuliert, weil sich beide weigern, einem Modell strikter Opposition zuzuarbeiten.⁴² Doch zum anderen operiert Freuds ‚un-‘ entschieden auf dem Gebiet eines Übersetzens, das sich immer auf zwei verschiedenen Ebenen abspielt, derweil Musil dieses Element im Grunde ausschaltet und das ‚un-‘ als Marker einer Horizontalität lesbar wird, in der die einzelnen Elemente als Glieder in einer Kette gleichwertiger wie auch gleichunwertiger Dinge ihren Platz einnehmen.⁴³ Diese Einebnung des ‚un-‘ rührt jedoch nicht nur Probleme des Verstehens an, sondern liefert auch ein Anordnungsprinzip für den gesamten Grundriss dessen, was im Zusammenhang mit Musils Mann ohne Eigenschaften einmal als „eine Grundkonstruktion der Moderne“ bezeichnet wurde, die der Roman reflektiere.⁴⁴ In der Navigation durch die Welt dieser Moderne, die der Roman nicht bloß mimetisch nachstellt, sondern im Grunde wie eine radiologische Apparatur durchleuchtet, löst sich damit die Vielschichtigkeit des Modells, wie sie Freud – wenn auch unter Abstrichen – noch zu retten versucht, in eine Ordnung auf, in welcher „in der feinen Unterwäsche des Bewußtseins“ (MoE, S. 10) gleichsam beide, das Bewusste wie auch das Unbewusste, als Bestandteil der bloß einen semantischen Schicht hindurchschimmern. Hier stehen alle Elemente – seien sie zeitlich oder räumlich, gesellschaftlich oder privat, lebensweltlich oder wissenschaftlich, historisch oder auch erzählerisch – zueinander in immer bloß metonymischem Verhältnis. Diese eine Ebene lässt sich darum auch nicht, wie es Freud mit den Träumen veranstaltete, „als ein sinnvolles psychisches Gebilde“⁴⁵ deuten, sondern ihr „Sinn“ ist immer zugleich auch ihr Gegenteil – ihr Gegenteil, das es zugleich nicht ist. So liefert Musils ‚un-‘ also kein Signal, das zum hermeneutischen Gefecht mit dem ‚Sinn‘ eines Textes
42 Bekannt ist Freuds Diktum: „Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ (Freud, Das Unheimliche, S. 250) 43 Dies bedeutet im Übrigen nicht, dass Freud notwendigerweise allein in ‚oben‘ und ‚unten‘ denkt. Jene vulgäre Vorstellung vom Unbewussten als einer Form von seelischem Tiefensediment im Sinne eines (von Freud behutsam gemiedenen) ‚Unterbewussten‘, das sich – wie etwa in Christopher Nolans Film Inception (2010) – mit einem Aufzug befahren ließe, ist eine falsche. Trotzdem aber gilt, dass Freud noch stets an der Vorstellung zweier Systeme als zweier voneinander ver- und geschiedener Ebenen (Bw/Ubw) festhält, zwischen denen Konstellationen semantischer Entsprechung im Grunde über eine mehr oder minder metaphorische Weise arbeiten. 44 Inka Mülder-Bach: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman. München 2013, S. 14. 45 Freud, Die Traumdeutung, S. 29.
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bliese, hinter dem sich eine Form von Ganzheit oder Totalität andeute. Vielmehr steht es im Zeichen steter Verschiebungsleistungen und produziert damit allenfalls Gesten jener „Diskontinuität“⁴⁶, von der Lacan bei der Verhandlung des ‚un-‘ sprach und durch die die einzelnen Teile eines niemals vollkommenen Ganzen zueinander so in Beziehung stehen, dass sie sie nie decken und ihr also nie ‚sinnvoll‘ entsprechen.
4 Ähnlichkeit, unähnlich Die Einebnung des ‚un-‘ berührt am Ende natürlich auch die Ordnung der Erzählung. In dieser nämlich firmiert es als so etwas wie ein zur Vorsilbe geschrumpftes Leitmotiv. Und anstatt ein „[S]innvolles“ vorzuspiegeln, geht es in Musils Roman zumindest auch um eine Form von „Unsinn“ (MoE, S. 55 und S. 310). Das heißt in anderer Form, dass der Erzählung nicht am Nachzeichnen wirklicher Referenzen gelegen ist, sondern eben bloß um das Freilegen von ‚Möglichkeiten‘ als koordinierende Organisationspraxis dessen, was, wie es im Zusammenhang mit Moosbrugger einmal heißt, „von einem Schatten der Unwirklichkeit ausgehöhlt wurde“ (MoE, S. 236). Mit und über Freud hinaus nämlich ist „Unwirklichkeit“ nie das Gegenteil, sondern immer zugleich auch eine Form von „Wirklichkeitseffekt“. Wie auch alle anderen Komplexe, die durch ein ‚un-‘ bestrichen werden, kommt diese „Unwirklichkeit“ nicht durch den grundsätzlichen Ausschluss von Wirklichkeit zu Stande, sondern wird durch eine (erzählerische) Struktur erzeugt, wodurch sie diese zwar ersetzt, aber doch noch mit ihr – eben metonymisch und damit auf einer Ebene – in Verbindung steht. Ausgesprochen kunstfertig entfaltet diese ‚Un-‘Logik der Erzählung ihr Spiel in Kapitel 99 des ersten Buchs, das den eigentümlichen Titel ,Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt‘ trägt. Das Kapitel handelt von einer Vielzahl von Formverschiebungen und steht schon im eigentümlich barock anmutenden Titel ganz im Zeichen der Verwirrung. Dass dabei das Drama jener Welt, die – wie Lukács noch im späten Vorwort zu seiner Theorie des Romans bemerkte – „aus den Fugen geraten ist“⁴⁷, zu bloßem „Unfug, den man die neue Zeit nennt“, geschwunden ist, scheint so thematisch wie symptomatisch zugleich. Denn das Kapitel beginnt mit der Diskussion des Zeitalters, in dem es „so 46 Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI (1964). Übers. v. Norbert Haas, Wien/Berlin 2015, S. 31. 47 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Bielefeld 2009 (Werkauswahl in Einzelbänden, Bd. 2), S. 12.
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schwer wie ein Nagel in einen Brunnenstrahl zu schlagen“ geworden ist, in dem „Wechsel der Erscheinungen Halt finden zu wollen“ (MoE, S. 454). „Halt finden“ hieße hier, sich in einer insgesamt flachen Ordnung, in der bloß metonymische deplacements ihr Werk verrichten, einen Überblick zu verschaffen, den es nun eben qua Einrichtung nicht gibt. Denn wie die Erzählarbeit des Romans, so auch die historische Situation: „das kulturelle Dilemma der Moderne“,⁴⁸ worin im Zeichen einer„verlorenen Festigkeit“ (MoE, S. 1837) alles in der Ordnung des Verschiebbaren aufgeht, stampft die Welt des Erhabenen oder Großen, das sich sinnmäßig über die Gesamtheit der „Erscheinungen“ erhöht, buchstäblich ein. Darum tauchen denn auch wieder Musils alte Bekannte in einem Zeitalter auf, in dem Heldentum und Genie nicht als historische, sondern allenfalls als sportliche Begriffe zirkulieren: „Rennpferd“, „Tennisspieler“ und eben die Frage nach dem „Begriff von Genie, den diese Zeit hat“ (MoE, S. 454), selbst. Und weil sich an ihnen das ‚Neue‘ symptomatisch herausbildet, entfaltet das Kapitel denn auch eine prinzipielle Diskussion des ‚Neuen‘ in der Zeit überhaupt. Dabei liefert es eine jener wenigen kleinen Binnenerzählungen, die das Bild von Tante Jane zeichnet, die jedoch weder Tante – sie ist nur Freundin von Ulrichs Großtante und „Klavierlehrerin“ – noch englisch ist. So hatte ihr Name „auf irgendeine Weise […] da […] seine englische Form angenommen“ (MoE, S. 455 f.), wo sie „als Mädchen für Franz Liszt geschwärmt hatte“ (MoE, S. 455). Was sie also tatsächlich ist, bildet bloß den Effekt einer vielfachen, im Kern aber metonymischen Verschiebungsleistung ab, die – obwohl Tante Jane ja „nur ein einziges Kleid durchs Leben [trug]“ – eine immer bloß verwandte, in jedem Fall aber grundlegend verschobene „Transvestitin“⁴⁹ hervorbringt, die sich „Tante Jane“ nennt.⁵⁰ Ihr liegt eine Logik zu Grunde, die sich in paradoxer Weise wie folgt formulieren lässt: Sie ist eine (englische) Jane, weil sie wohl eigentlich bloß Jane in der (deutschen) Kurzform von Christiane heißt; und sie ist Tante nur darum, weil sie eine Art Untante, also eine metonymische Statthalterin jener Tante darstellt, die sie zwar nicht wirklich ist, aber – und zwar der Möglichkeit nach – immerhin sein könnte. Im Zeichen solcher Verwirrung scheitert an dieser literarischen Figur auch der Versuch, sie über die logische Figur der Negation zu bewältigen, was in Musils Stil über Anwendung eines ‚un-‘ reguliert wird, denn: „In Tante Janes Leben war also nicht gar wenig romantische Unnatur“ (MoE, S. 456). Heißt nun aber „nicht gar wenig […] Unnatur“ zu sein zugleich auch, viel Natur zu sein? Oder doch nur ein 48 Bürger, Prosa der Moderne, S. 437. 49 Mülder-Bach, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 305. 50 Nicht umsonst liegt dem Kapitel eine Vielzahl von Referenzen zu Grunde, die von Platons Phaidon über Goethes Wilhelm Meister bis hin zu Fotografien der Pianistin Mary Petermandl sowie Franz Liszts reichen. Vgl. Mülder-Bach, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 298–317.
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wenig „Unnatur“? Oder gar nicht Natur? Und was ist ein Weniges vom Gegenteil von Natur? – Das Spiel der Negationen und seiner Schattierungen, wie es Musil hier treibt, veranschaulicht nichts weniger als das ‚Wesen‘ von jenem „Unfug“ in dem Sinne, als in ihm die Fugen, die Grenzen, die Unterschiede diffusieren, weil ‚von oben‘ niemand einzugreifen in der Lage ist, der – um es mit Carl Schmitt zu sagen – „über den Ausnahmezustand entscheidet“.⁵¹ Denn selbst noch in dem – für den Mathematiker und Ingenieur, der Musil ja auch ist – so sinnfälligen Gebiet der Negation hat das Prinzip Fuß gefasst, das alle Teile eines unübersichtlichen Ganzen lose, aber doch immerhin ‚irgendwie‘ zusammenhält: das Prinzip der Ähnlichkeit. So besteht das Baugesetz, das die Figuren, Elemente, Namen und Geschichten innerhalb dieser kleinen Erzählung über Tante Jane zusammenhält, eben in einem Typ von Ähnlichkeit, nach dem es sich nicht um organisch motivierte referenzielle Strukturen, sondern vielmehr um inzidentelle, um ‚irgendwie zustande gekommene‘ handelt. Dabei ist es nicht einmal Tante Jane selbst, an der sich die im Titel benannte Frage nach „der Ähnlichkeit zweier Zeitalter“ entspinnt, sondern vielmehr ihr Mann, der ihr ein uneheliches Kind hinterlässt, das sie – gemäß dem Gesetz metonymischer Ersetzung – „an eigen Statt und […] unter Opfern groß[zog]“ (MoE, S. 456). Dieser Mann war „natürlich ein Künstler“, und wenngleich es sich bei ihm bloß um einen trinkenden Provinzfotografen handelte, sah er doch immerhin „wie ein Genie aus“ (MoE, S. 456). Darin bindet das Kapitel die Geschichte von Tante Jane, die der Oberfläche nach der ästhetischen Herzkammer des 19. Jahrhunderts entstammt, an die Frage „der Ähnlichkeit zweier Zeitalter“. Denn jener trinkende Fotograf nahm dort die Stellung des Genies ein, die hier – im Zeitalter Ulrichs, der metonymisch an ihrer „Statt“ steht – bloß noch von Rennpferd oder Tennisspieler besetzt werden. Was im 20. Jahrhundert von einem „Mißtrauen gegen die ganze höhere Sphäre“ (MoE, S. 454) als Innovation erscheint, bildet jedoch bloß eine letzte Stufe in der im Grunde beliebigen Abfolge metonymisch gereihter Erscheinungen: Liszt – trinkender Fotograf – Rennpferd. An der am Ende wesenlosen Idee eines „Genies“ hängt sich bloß zufällig auf, was nie aus Gründen tatsächlicher Kausalität geschieht. Sprach Benjamin einmal mit Bezug auf Prousts Recherche von einer „im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt“,⁵² in der etwa das Glücksversprechen des ersten Satzes verhallt, weil er bonheur bloß als entstelltes zu liefern vermag,⁵³ so muss von Musils
51 Carl Schmitt: Politische Theologie.Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 2009, S. 13. 52 Walter Benjamin: Zum Bilde Prousts. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 310–324, hier S. 314. 53 Der erste Satz lautet bei Proust bekanntermaßen: „Longtemps, je me suis couché de bonne heure.“ Vgl. zu den buchstäblich unglücklichen Implikationen dieser Verschiebungsleistung auch
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Mann ohne Eigenschaften gelten, dass in ihm Dinge, Ideen, aber auch die „bewegliche Art Mensch“ (MoE, S. 454) im Stand einer „Ungenauigkeit“ gefesselt sind, der sich auch als ‚Stand der Unähnlichkeit‘ bezeichnen ließe. Im Sinne einer Art unähnlicher Ähnlichkeit, die auch zugleich ähnliche Unähnlichkeit bedeutet, bringt sie in Tante Jane eine irgendwie ‚queere‘ Figur als „männliche Frauenart“ (MoE, S. 455) hervor, an der sich die Kategorie einer Ähnlichkeit der Geschlechter zugleich so sinnlos erweist wie die Frage nach der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, in dem das eine dasjenige einer „nicht gar wenig romantische[n] Unnatur“, das andere hingegen bloß das eines genialen Rennpferde ist. Musil schreibt: Und oft frug sich Ulrich dabei, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dieser Zeit, wo sich ein Photograph für genial halten konnte, weil er trank, einen offenen Halskragen trug und den seelischen Adel, den er besaß, mit Hilfe des modernsten Verfahrens auch an allen Zeitgenossen nachwies, die sich vor sein Objektiv stellten, und einer gewissen anderen Zeit, wo man nur noch Rennpferde, wegen ihrer alles übersteigenden Fähigkeit, sich zu strecken und zusammenzuziehen, aufrichtig für genial hält. Sie sehen verschieden aus; die Gegenwart sieht stolz auf die Vergangenheit herab, und wenn die Vergangenheit zufällig später gekommen wäre, so würde sie stolz auf die Gegenwart herabsehen, aber in der Hauptsache kommen beide auf etwas sehr Ähnliches hinaus, denn es spielen da wie dort Ungenauigkeit und Auslassung der entscheidenden Unterschiede die größte Rolle.
Denn: Es wird ein Teil des Großen für das Ganze genommen, eine entfernte Analogie für die Erfüllung der Wahrheit, und der leergewordene Balg eines großen Worts wird nach der Mode des Tags ausgestopft. (MoE, S. 457 f.)
„Ungenauigkeit und Auslassung“ und „ein[en] Teil des Großen für das Ganze“: Das gerade sind die Funktionen horizontaler Verschiebungen und Metonymie. Es handelt sich nämlich hier um eine Form der parsprototischen Imitation von ‚Sinn‘ dort, wo doch im Grunde bloß „Unsinn“ herrscht. Was sich emphatisch die „neue Zeit“ (MoE, S. 458) nennt, ist bloß die verschobene Selbstwahrnehmung einer anderen Zeitschicht, deren „entfernte Analogie“ sie nicht als horizontale Korrespondenz erkennt, sondern sie vielmehr zur vertikalen Wahrheit erklärt, um sich daran als vervollkommnete Zeit, als die letzte und höchste Stufe einer Teleologie, also auch einer Geschichte des Fortschritts auszurufen, die sie doch eigentlich niemals ist. Was jedoch dazwischen kommt, liegt in der Formulierung „etwas sehr Ähnliches“ und es gilt:
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Diese Art Menschen hat sich zu allen Zeiten die neue Zeit genannt. Es ist das ein Wort wie ein Sack, in dem man die Winde des Aeolus fangen möchte; dieses Wort ist die beständige Entschuldigung dafür, die Dinge nicht in Ordnung zu bringen, das heißt, nicht in ihre eigene, eine sachliche Ordnung, sondern in den eingebildeten Zusammenhang eines Undings. (MoE, S. 458)
In der Weise, wie sich die jeweils „neue Zeit“ denkt, ruft sie in ihrer Selbstwahrnehmung einen „Zusammenhang“ aus, der „eingebildet[]“ ist, aber nicht als „eingebildet[]“ erkannt wird. Solcher Zusammenhang bildet im Grunde eine Illusion, einen Effekt, ja vielleicht auch schlichtweg Ideologie. Denn so wie diese Zeit ihre Dinge nicht in eine „sachliche“, gleichsam von den Dingen her gedachte Ordnung zu bringen in der Lage ist, sondern sie bloß (als Parallelaktion) in eine ‚Geschichte‘ oder auch (im Fall von Tante Jane) in eine Erzählung verpackt, so suggeriert sie Sinn, „Wahrheit“, „das Ganze“, und zwar dort, wo doch am Ende bloß der „eingebildete Zusammenhang eines Undings“ steht. So produziert in dieser Ordnung jede Zeit, gleich ob als Geschichte oder als Erzählung, ihre „Auslassungen“ wie auch ihre „Übertreibungen“, die – auch weil sie an dem Effekt einer stets nur falschen vertikalen und metaphorischen ‚Tiefe‘ eines ‚Sinns‘ mitwirken – zwar semantische Überschüsse generiert, nie aber ein Ding tatsächlich erkennt oder es zumindest „unstillbar“ bestaunt. Überhaupt mag die Geschichte von Tante Jane in diesem Sinne womöglich gar nicht als Geschichte gelten, ja vielleicht ist sie nicht einmal eine Erzählung. Denn wie auch schon in Musils Tonka sind auch hier „Ereignisse […] nichts anderes als Unzeiten und Unorte“ (GW 2, S. 278). Hier mäandriert das Fabulieren, und in der Imitation geschichtlicher Entsprechung zweier Zeitalter, die über „etwas sehr Ähnliches“ funktioniert, liegt die Vermutung, dass es auch ‚etwas sehr Unähnliches‘ sein könnte. Alles läuft dabei auf die Auslegung des Freud’schen Diktums von „ein wenig mehr oder weniger von Entstellung“ hinaus. Denn nichts an der Geschichte ist wahr, was nicht auch unwahr sein könnte, und zwar in eben dem Sinne, wie Adorno einmal Hegels berühmtes Diktum korrigierte und vom „Ganzen“ als dem „Unwahren“ schrieb – und damit doch im Grund nichts anderes meinte, als dass das Wahre, von dem bei Hegel die Rede ist, immer auch eine Form des Unwahren bedeutet.⁵⁴ Zwischen hier und dort, zwischen Natur und „Unnatur“, Ding und „Unding[]“, Fug und „Unfug“ liegt demnach bloß ein Feld von endlosen Verschiebungen. Hier kommt alles, wie Walter einmal über Ulrich bemerkt, „zur Unzeit“ (MoE, S. 63) und alles folgt gereiht jenem „Prinzip des unzureichenden Grundes“ (MoE, S. 134), das am Ende das Baugesetz liefert von jenem schwierigen Koloss, der sich Natur,
54 Bekannt ist Adornos Satz: „Das Ganze ist das Unwahre.“ [Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. 1980 (Gesammelte Schriften, Bd. 4), S. 55]
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Ding und Fug einverleibt, um sie als „Unnatur“, „Unding[]“ und „Unfug“ wieder auszuspeien: dem Koloss der Erzählung. Womöglich ist dies zuletzt auch die ‚Wahrheit‘ des „andere[n] Zustand[s]“: dass er als förmlich immer nur anderer, als immerzu metonymisierter am Ende immer auch einen ‚Unzustand‘ abbildet. Er ist in jedem Fall ein erzählter⁵⁵ und korrespondiert darin mit jenem „Weltzustand des ‚Und‘“ (MoE, S. 1865), in dem im Grunde bloß jene Reihungslogik der Erzählung ihr Werk verrichtet und in der ‚Ding‘ und „Unding[]“ aneinandergereiht werden und nacheinander eine unabschließbare Kette, eine „ewige Geschichte“ liefern. Wahrscheinlich liefert uns Musil also mit diesem Zustand wie mit dem Mann ohne Eigenschaften überhaupt „keine Methode […], mit dieser ruhelosen Reihe richtig umzugehn“ (MoE, S. 736), sondern immer bloß einen „nächsten „Schritt“ (MoE, S. 735):⁵⁶ nämlich einen Weltzustand des ‚un-‘.
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55 So Musil: „Europäisch muß aZ als aktives Abenteuer erzählt werden.“ (MoE, S. 1838) 56 Im Gespräch mit Agathe lautet die Passage: „Ich habe gesagt, es käme nicht auf einen Fehltritt an, sondern auf den nächsten Schritt nach diesem. Aber worauf kommt es nach dem nächsten Schritt an? Doch offenbar auf den dann folgenden? Und nach dem nten auf den n plus ersten Schritt?! Ein solcher Mensch müßte ohne Ende und Entscheidung, ja geradezu ohne Wirklichkeit leben. Und doch ist es so, daß es immer nur auf den nächsten Schritt ankommt. Die Wahrheit ist, daß wir keine Methode besitzen, mit dieser ruhelosen Reihe richtig umzugehn.“ (MoE, S. 735 f.)
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Artur R. Boelderl
Herrn Ulrichs letzte Liebe(sgeschichte) Abstract: Der Beitrag verfolgt die These, dass Musils Novellenband Vereinigungen und hier insbesondere Die Vollendung der Liebe thematisch im Mann ohne Eigenschaften in Agathes Rede von der „letzten Liebesgeschichte“ (GA 4, S. 92) mündet, welche die Geschwisterliebe zwischen ihr und Ulrich sein solle, ja sein werde, und propagiert eine Abkehr von der ,psychobiographischen‘ Lesart zugunsten einer strukturalen: Analog zu Hegels Rede vom ,Ende der Geschichte‘ sind auch im Falle von Musils ,Vollendung der Liebe‘ die Rollen verteilt, die Plätze zugewiesen und die Liebesgeschichte zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe im Roman daher die letzte: Ihre literarische Darstellung durch Musil verwirklicht ein Programm, das in unverkennbarer Nähe zu Lacans durchaus pessimistischer struktural-psychoanalytischer Auffassung vom inexistenten Geschlechtsverhältnis liegt, dem die Liebe diskursiv zu Hilfe kommt, um letztlich zu scheitern. „[…] die Weltgeschichte ist mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte!“ (Ulrich im Druckfahnen-Kapitel 49. General Stumm läßt eine Bombe fallen. Weltfriedenskongreß, GA 4, S. 129; vgl. Vorspruch Zürich, GA 12, S. 468) „[…] dies ist keine Liebesgeschichte mehr; das ist überhaupt die letzte Liebesgeschichte, die es geben kann!“ (Agathe im Druckfahnen-Kapitel 46. Mondstrahlen bei Tage, GA 4, S. 91 f.) Wie komme ich also dazu, sogar einen Exkurs über Psychologie einzuschieben?! In zehn Jahren kann das eingeholt, und damit überholt, sein. Aber die Schwere des Schrittes, die Verantwortung der Wendung zu Gott zwingen größte Gewissenhaftigkeit auf. Auch der Charakter des Abenteuers im induktiven Weltbild. Auch der der „letzten“ Liebesgeschichte. Und der des Zögerns. (Zum Nachwort und Zwischenvorwort)¹ (Und ich bin viel zu sehr identifiziert mit meiner „letzten Liebesgeschichte“!) (Autobiographie 1937–1942)² Der Weg auf der Höhe des Buchs „ziagt“ sich. Da ich ja sozusagen die letzte Liebesgeschichte schreibe, mi[t] der dieser interessante Gegenstand untergehen wird, gibt es eine Menge von Nebenblicken ins Soziale, Religiöse und so weiter, die sich immer unerwartet einstellen und dem eilenden Wanderer die Pfeife aus dem Mund fallen machen. (An Franz Blei, 9. Juli 1934)³
1 KA/Bd. 14/Selbstkommentare aus dem Nachlass/Zum Nachwort und Zwischenvorwort. 2 KA/Bd. 17/Späte Hefte/Heft 33/Autobiographie 1937–1942. 3 KA/Bd. 19/Wiener und Berliner Korrespondenz/An Franz Blei, 9. Juli 1934. https://doi.org/10.1515/9783110988352-016
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Es ist \nur eine Liebesgeschichte, aber es ist| die *letzte* \*einzige*| erlaubte Liebesgeschichte.° (Notizen zur Reinschrift 1–22/Zu NR 4 a 1)⁴ Fürs Ganze: Die letzte Liebesgeschichte: gesteigertster Versuch des Individualismus. °Ablehnung des Sozialen, mehr gefühlsmäßig. (Notizen zur Reinschrift 1–22/NR 11 8)⁵
1 Vorspiel an der Tafel: eine Leseanweisung für Musil – Lacans Formeln der Sexuierung oder: Es sagt sich nichts vom Geschlechtsverhältnis In seinem Seminar XX, Encore, von 1972–73,⁶ dem ersten in einer damit eröffneten Reihe, die im Titel auf ein Spiel mit in der französischen Originalsprache gegebenen Homophonien setzt (hier: frz. „encore“ = dt. „noch“, „wieder“ bzw. frz. „en corps“ = dt. „im Körper“), gibt Lacan die konziseste Version der sogenannten Formeln der Sexuierung, mathematische oder genauer: logische Formeln, mit denen er zwischen 1971 und 1974 die verschiedenen Möglichkeiten und Konsequenzen dessen zu fassen versucht, was er als Einschreibung eines sprechenden Subjekts in den Bereich männlicher resp. weiblicher Existenz versteht – ein Akt, dessen es bedarf, um ein geschlechtliches Wesen bestimmter Art zu werden, da für Lacan, mit anderen Worten, Geschlecht keine (allein) natürliche Kategorie ist, noch weniger eine biologische Gegebenheit. Ohne im Detail auf die Hintergründe und Probleme dieser Sexuierungsformeln – die sich der Zeichensprache der Prädikatoren- bzw. Quantorenlogik bedienen – einzugehen, verdient als für unseren Zusammenhang bemerkenswert hervorgehoben zu werden, dass die – im nachstehenden, der StaferlaVersion des Seminars (S. 64) entnommenen Schema – linke (männliche) Seite der von Lacan vorgelegten Darstellung mit der rechten (weiblichen) auf durchaus paradoxe Weise korreliert (Abb. 1⁷).
4 KA/Nachlass/Mappengruppe II/3/Notizen zur Reinschrift 1–22/Zu NR 4 a 1. 5 KA/Nachlass/Mappengruppe II/3/Notizen zur Reinschrift 1–22/NR 11 8. 6 Vgl. Jacques Lacan: Encore. Das Seminar, Buch XX (1972–1973). Übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas u. Hans-Joachim Metzger. Weinheim/Berlin 1986; 21991, Reprint Wien/Berlin 2015, S. 83. Zu Kontext und Bedeutung der Formeln bei Lacan selbst vgl. die instruktive Darstellung von Rolf Nemitz: Die Formeln der Sexuierung. https://lacan-entziffern.de/phallische-funktion/die-formeln-der-sexuierung/ (08.07. 2018, letzter Zugriff: 03.11. 2021). 7 Lacan, Encore, S. 83.
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Abb. 1
So gilt etwa für das männliche Sprechen die Formel (in welcher x für ein x-beliebiges Element steht): „Es existiert ein x, das sich der phallischen Funktion entzieht“, für das weibliche hingegen: „Es existiert kein x, das sich der phallischen Funktion entzieht“, wie für das männliche zugleich gilt: „Alle x folgen der phallischen Funktion“, für das weibliche hingegen: „Nicht-alle (einige) x folgen der phallischen Funktion“. Die jeweilige Seite zusammengefasst, heißt das: Männliche Sexuierungslogik: „Ein x entzieht sich der phallischen Funktion, aber alle x folgen ihr“ – weibliche Sexuierungslogik: „Einige x folgen der phallischen Funktion, aber kein x entzieht sich ihr“. Ungeachtet der psychoanalytischen Aussagekraft, die Lacan diesen Formeln beimisst, lässt sich auch abseits des einschlägigen Diskurses unschwer erkennen, dass er damit zwei verschiedene Formen des Widerspruchs differenziert, mit denen er männliches bzw. weibliches Sprechen charakterisieren zu können meint: Hinsichtlich des einen Elements (für Lacan: des Phallus, den er mitunter auch als Herrensignifikanten bezeichnet) befinden sich beide Sprechweisen, die männliche wie die weibliche, in einer unauflöslichen Aporie, mit der die jeweiligen Subjekte, die sich ihrer befleißigen, indes unterschiedlich umgehen. Neben diesen unterschiedlichen Umgangsweisen mit ihr, an welchen Lacan zufolge männliche und weibliche Sprech- (für ihn zugleich: Seins‐)Weisen jenseits des biologischen Geschlechts sich ausdifferenzieren und um die es ihm hier als Psychoanalytiker geht, ließe sich diese Aporie als solche auch wie folgt formalisieren: Es existiert kein x, aber kein-x existiert auch nicht. Und auf die mit dieser Formel ausgedrückte prekäre Situation würden nun, so Lacan, männliche Diskurse mit ihrem Zug zur universal bejahenden Aussage „Alle x sind y“ antworten, weibliche ihr indes die partikulär bejahende „Nicht-alle x sind y“ dagegenhalten – auf ersterer, der linken Seite in Lacans Schema kämen daher die Wirklichkeit und das Wissen zu stehen, auf zweiterer, der rechten Seite hingegen die Möglichkeit und das Ungewusste [sic!], in Musils Terminologie ,ratioïd‘ vs. ,nicht-ratioïd‘, wie er es etwa in seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters 1918 differenziert: „War das ratioïde Gebiet das der Herrschaft der,Regel mit Ausnahmen‘, so ist das nicht-ratioïde Gebiet das der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel. Vielleicht ist das nur ein gradueller Unterschied,
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aber jedenfalls ist er so polar, daß er eine vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden verlangt.“ (GA 9, S. 307) Wollte man in formaler Orientierung (unbeschadet der Tatsache, dass sich auch die Sondierung allfälliger inhaltlicher Konvergenzen durchaus lohnte)⁸ Lacans Darstellung dieser Formeln der Sexuierung und insbesondere seine Notation derselben in Richtung einer allgemeinen ,Logik‘ des Musil’schen Schreibens extrapolieren, böte sich eine Formel an, die zugleich zum Verständnis dessen, was bei Musil „konstruktive Ironie“⁹ besagen will, und der Art und Weise, wie solche Ironie in Musils Schriften in Erscheinung tritt, beitragen könnte. Sie lautet: Die Annahme, dass x existiert, soll heißen: eine bestimmte Funktion stützt, ist unhaltbar, aber das Gegenteil – dass kein x existiert – nicht minder, denn die Funktion ist als unhaltbare in Kraft, sie funktioniert; wie gesagt: Kein x ist auch keine Lösung. In dieser ,Musil-Formel‘ konvergierte die konstruktive Ironie mit dem „Prinzip des unzureichenden Grundes“ (GA 1, S. 211) als Grundlage für eine ins Positive gekehrte Version der (am Expressionismus zunächst kritisch festgemachten) „struktive[n] Weltauffassung“ (GA 2, S. 223), welcher „die Ursachenkette [als] eine Weberkette“¹⁰ gilt, die ihre Funktion als Ursache nicht ohne einen „Einschlag“¹¹ zu leisten vermag, der ihr von außen (d. h. auf traumatische Weise) beigebracht werden muss: Dem jeweils verhandelten x – was es auch sei – begegnet Musil mit „Feindschaft und Mitgefühl“¹² zugleich, mit ,leidender‘ Ironie statt Besserwisserei,¹³ genau jener Haltung also, die sein Œuvre über weite Strecken kennzeichnet, die politischen Essays wie etwa die Spengler-Kritik Geist und Erfahrung und Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit ebenso wie die hier zur Debatte stehenden „psychologischen“ (oder wenigstens dem Anschein nach „psychologisierenden“) Teile des8 Einen beiden Diskursen, dem psychoanalytischen wie dem literaturwissenschaftlichen, gleichermaßen Rechnung zu tragen bemühten Ansatz hat der 2018 verstorbene Franz Kaltenbeck entwickelt. Vgl. Franz Kaltenbeck: Robert Musils unvollendbare Liebe. https://lacan-entziffern.de/ sexuierung/franz-kaltenbeck-robert-musils-unvollendbare-liebe/ (03.01. 2016, letzter Zugriff: 02.11. 2021), und ders.: Über zwei Frauen im Werk Robert Musils. In: Schreiben und Begehren. Hg. v. Corinna Sigmund. Berlin 2016 (Y – Revue für Psychoanalyse 2015), S. 69–80, sowie zum Umgang mit Lacan in literaturwissenschaftlicher Perspektive allgemein: Ders.: Lesen mit Lacan. Aufsätze zur Psychoanalyse. Berlin 2013, bes. die Aufsätze S. 259 ff. (über Joyce, Hölderlin, Kafka, Schnitzler, Stifter und Priessnitz). Zur Relevanz Lacan’scher Überlegungen für die Geschlechterthematik bei Musil bzw. zu letzterer überhaupt vgl. auch Peter C. Pohl: Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses. Köln/Wien 2011. 9 KA/Lesetexte/Bd. 14/Vermächtnis. 10 KA/Nachlass/M II/8, S. 97. 11 Ebd. 12 KA/Bd. 17/Späte Hefte, S. 32. 13 Vgl. ebd.
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selben, darunter die beiden Novellen der Vereinigungen und bestimmte Kapitel des Mann ohne Eigenschaften, in denen es jeweils um die Liebe geht. An nahezu allen Texten, so die gewagte These, lässt sich die Anwendbarkeit der Formel – die freilich nicht dazu dienen soll, Musil in toto darauf zu reduzieren, sondern lediglich heuristischen Wert hat (den aber, so meine Überzeugung, immerhin) – erproben und illustrieren. Zum Einstieg konkret am Beispiel des sonst mit unserem gegenständlichen Thema relativ unverwandten Nationen-Essays gesprochen, würde die Formel besagen: Keine Nation (und a fortiori: kein Nationalismus) ist auch keine Lösung. Denn: „Die, für welche die Nation einfach nicht existiert, machen es sich zu leicht“ (GA 9, S. 556), schreibt Musil, lässt indes aber auch keinen Zweifel daran, dass jene anderen, die den „Begriff der Nation nicht institutiv als etwas zu Bildendes zu[] geben, sondern konstitutiv als etwas Vorhandenes behaupte[n]“ (ebd., S. 575), nicht minder falsch liegen. Der Schluss, den er aus dieser Diagnose zieht, bedient sich nicht zufällig desselben mathematischen Ausdrucks wie Lacans Formeln der Sexuierung: Welches „ethische Geschehen“, sprich: welche (politische) Ideologie man auch betrachtet, es hat, „wenn es wirklich erlebt wird, ,Seiten‘; nach der einen ist es gut, nach der anderen bös, nach einer dritten irgend etwas, von dem erst recht nicht feststeht, ob es gut oder bös ist“ (GA 9, S. 577). Wie das Prädikat „gut“, um das es im gegebenen Kontext des Essays geht, erscheint jedes Element x „nicht als Konstante, sondern als variable Funktion“ (GA 9, S. 577, Herv. d. Verf.), und es ist, so Musil, „einfach eine Schwerfälligkeit des Denkens, daß wir für diese Funktion noch keinen logischen Ausdruck gefunden haben, der dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit genügt, ohne die Vieldeutigkeit der Tatsachen zu drücken“ (ebd.). Aus dem solcherart markierten Desiderat leitet sich für Musil das Ziel seines literarischen Schreibens ab, nämlich mittels der so konzipierten konstruktiven Ironie in unterschiedlichen Diskursen vorfindliche bzw. unhinterfragt vorausgesetzte Annahmen und Begriffe auf eine solche Weise kritisch zu beleuchten, dass deren Unhaltbarkeit in eins mit ihrer Unverzichtbarkeit deutlich wird: Wie im konkreten Beispiel die Nation, sind sie notwendig und unmöglich (d. h. unhaltbar) zugleich, um eine weitere Formel anzuführen, die Jacques Derrida rund 50 Jahre nach Musils Tod in seinen beiden großen politischen Essays über Europas „vertagte Demokratie“ ins Spiel bringt.¹⁴ Das Ins-Wort-Heben dieser Gleichzeitigkeit von Unhaltbarkeit und Unverzichtbarkeit eines Begriffs, einer Idee, einer Überzeugung besitzt daher strategischen Wert, es bekämpft die denkerische Bequemlichkeit der
14 Vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt a. M. 1992. Die entsprechende formelhafte Wendung bildet überhaupt einen basso continuo der Schriften Derridas, auch in anderen Kontexten als unmittelbar politischen.
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allzu eilfertigen und einfachen Differenzierung im Sinne von „Alle x sind y“, die eine vermeintliche Taghelle ratioïder Eineindeutigkeit zu bewerkstelligen verspricht, ebenso wie jene andere Bequemlichkeit der laschen Indifferenz des „Nichtalle x sind y“, die unweigerlich in den nicht-ratioïden und unwissenschaftlichen Relativismus der Nacht führt, in der alle Katzen grau erscheinen, ohne es zu sein. Dass dies auch und vielleicht sogar insbesondere für das neben dem einen Hauptthema Musil’schen Schreibens, dem Komplex Politik und Geschichte, der im großen Roman am Krieg exemplifiziert wird, andere Hauptthema desselben gilt, den Komplex Geschlecht und Liebe, möchte ich in der Folge zu zeigen versuchen. Das Gemeinsame dieser beiden Themenkomplexe heißt im Übrigen Gewalt bzw. Aggression, wovon Musil nicht minder überzeugt gewesen zu sein scheint als der Begründer der Psychoanalyse selbst.
2 Ein Wort zur Methodologie: zwischen Psychoanalyse und Literatur, zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft – der Ort des Textes zwischen Wissenschaft und Wahrheit Anders als Freud, auf den er sich gleichwohl berufen zu können meint, stimmt Lacan von vornherein in einem wesentlichen Punkt mit Musil überein: in der Ablehnung jeglicher Form von Künstler-„Psychobiographie“.¹⁵ Dies gilt nicht nur, aber auch für psychologische und psychoanalytische Deutungen literarischer Figuren, die Musil im Entwurf einer Besprechung von Theodor Reiks Buch Arthur Schnitzler als Psycholog (1913) ebenso für fehlgeleitet erachtet wie den Rückschluss von jenen auf diesen, ihren Autor: Dieses Buch psychoanalysiert Personen Schnitzlerscher Dichtungen. Es nimmt ihre Seele heraus, setzt an ihre Stelle die der psychoanalytischen Theorie, konkludiert und siehe, die Folgerungen stimmen. Die Gestalten des Dichters tun und sprechen manchmal das gleiche auch mit dieser. Manche entlegenen Stellen der Werke erhalten dabei Verbindung, und unterbücherliche Zusammenhänge tauchen auf. Der Irrtum ist: Gestalten eines Dichters haben keine Seele. Keine kausale. Keine in sich selbst verständliche. Das ganze Unterfangen geht von einer falschen Voraussetzung aus. Personen eines Dichtwerks wie lebende Menschen behandeln ist die Naivität eines Affen, der in den Spiegel greift. Was man im Dichtwerk Psychologie nennt, scheidet sich an diesem Punkt von der wissenschaftlichen. Nie sind diese Personen kausal erklärbar. Andere Interessenzu-
15 Vgl. Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien 2002, S. 169.
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sammenhänge schieben sich in den psychologischen. Insgesamt bilden sie das noch recht unbekannte Land: Ästhetik. Es ist auffallend, wie unempfindlich Reik für deren Vorhandensein ist, wenn er sich eine Stelle zu erklären sucht. (GA 12, S. 95 f.)
Mehr noch als wegen seiner Integration bestimmter linguistischer Theoreme in die Psychoanalyse zur Verdeutlichung und Erweiterung ihrer ursprünglichen Freud’schen Fassung erweist sich Lacan in diesem spezifischen Zusammenhang als strukturalistischer Denker: Nicht nur erlaubt er sich wie der Strukturalismus (und davor schon der Formalismus und die Close-Reading-Methode des angelsächsischen New Criticism) ganz im Sinne Musils keine Rückschlüsse vom literarischen Text auf die Psyche des Autors noch auf die darin beschriebenen Figuren, es ist ihm, wann immer er – mit schöner Regelmäßigkeit – auf literarische Texte zu sprechen kommt, überhaupt um etwas ganz anderes zu tun als um deren Interpretation nach Maßgabe der psychoanalytischen Theorie; um etwas, das er sogar als vorrangiges Ziel seines Seminars bezeichnet (welches stets in erster Linie der Ausbildung von Psychoanalytiker:innen diente): Man muß vom Text ausgehen, und zwar so, wie Freud es tut und empfiehlt, wie von einem heiligen Text. Der Autor, der Schreiber ist bloß ein Schreiberling und kommt an zweiter Stelle. […] Ebenso bitte ich Sie, wenn’s um unsere Patienten geht, mehr Aufmerksamkeit auf den Text zu verwenden als auf die Psychologie des Autors – das ist die ganze Orientierung meines Unterrichts.¹⁶
So treibt Lacan im Unterschied zu manchen Literaturwissenschaftler:innen, die sich auf ihn stützen, auch keine ,psychoanalytische Literaturwissenschaft‘ in dem Sinn, dass er beanspruchen würde, mit seiner Art des Heranziehens literarischer Texte diese als solche zu erläutern oder gar zu erhellen; vielmehr dient diese dem Ziel der Veranschaulichung, wie die Analytiker:innen mit dem Text, den die Analysant:innen (sic!) ihnen in der Kur anbieten, umzugehen haben (etwa indem sie die Abstinenzregel beachten, die für Lacan noch vor aller sexuellen Dimension die Enthaltsamkeit im hermeneutischen Sinn vorschreibt: nicht vorschnell zu verstehen und recht eigentlich auch gar nicht verstehen zu wollen, was die Analysant:innen sagen); und darüber hinaus exemplifizieren sie bestimmte psychoanalytische Begrifflichkeiten. In keinem Fall jedoch liefert die psychoanalytische Sichtweise für Lacan einen Generalschlüssel zum Verständnis literarischer Texte, wie manche Literaturinterpretationen Freuds dies suggerieren: Nicht die Literaturwissenschaft soll oder kann von der Psychoanalyse lernen oder sich in ihrer
16 Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch II (1954–1955). Übers. v. Hans-Joachim Metzger. Olten 1980; Weinheim/Berlin 21991; Reprint Wien/Berlin 2015, S. 197.
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eigenen Tätigkeit an dieser orientieren, sondern umgekehrt: Die Psychoanalyse kann sich mit theoretischen wie praktischem Gewinn auf bestimmte literarische Texte beziehen, um sich Klarheit über ihren Status und ihr Tun zu verschaffen; angewandt werden kann sie hingegen nicht auf Texte, sondern eben nur als Kur, das heißt „an einem Subjekt, das spricht und hört“.¹⁷ Im günstigen Fall kommt es daher zwischen Psychoanalyse und Literatur zu wechselseitigen Erhellungen, deren Registrierung Aufgabe einer psychoanalytisch informierten Literaturwissenschaft wäre – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es handelt sich um nicht ineinander übersetzbare oder aufeinander abbildbare Diskurse, die indes gerade infolge ihrer Verschiedenartigkeit aufeinander bezogen zu werden verdienen, im Blick auf gewisse Ähnlichkeiten, deren Feststellung dem jeweilig vorrangigen Erkenntnisinteresse dienen mag. Bei der Lacan’schen Psychoanalyse ist eine solche interdiskursive Parallelaktion nicht zuletzt deshalb vielversprechend (und näherliegend als vielleicht im Falle der klassisch freudianischen Analyse, die noch ungleich mehr mit „Tiefen“-Psychologie zu tun hat), weil sie den eingangs bereits ansatzweise deutlich gewordenen Hang zur Formalisierung, ja Mathematisierung ihrer Konzepte mit Musils poetologischer Grundhaltung (soweit diese in Selbstzeugnissen dokumentiert ist) ebenso teilt wie dessen dezidiertes Bemühen um eine zwar nicht selbst wissenschaftliche, sehr wohl aber an der modernen Wissenschaft orientierte und dieser jedenfalls ebenbürtige, ja deren Mängel idealiter kompensierende Ausdrucks- bzw. Schreibweise.
3 Alle Linien münden in den Krieg, alle Geschichten enden in der Liebe: Die Voll-Endung der Vereinigung in der letzten Liebesgeschichte oder L’insu que sait de l’une-bévue s’aile à – mort? Kein x ist auch keine Lösung:¹⁸ Bezogen auf die Problematik der Geschlechterbeziehung im Rekurs auf Lacans Formeln der Sexuierung stünde x in dieser ,Musil-
17 Vgl. Evans, S. 170 f. 18 Zum Abschnittstitel vgl. Jacques Lacan: L’insu que sait de l’une-bévue s’aile à mourre. Le séminaire XXIV (1976–1977). Unveröff. Eine red. Mitschrift der Tonbandaufzeichnungen findet sich hier: http://staferla.free.fr/S24/S24.htm (letzter Zugriff: 04.11. 2021). Wörtlich übersetzt bedeutet der Titel laut Rolf Nemitz: „Das Ungewusste, den [sic!] von einem Schnitzer weiß, flügelt sich zum Knobeln“, vgl. https://lacan-entziffern.de/texte/die-seminare-2-seminar/ (letzter Zugriff: 04.11. 2021);
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Formel‘ für das Geschlecht, näherhin für den Phallus. Da dieser selbst im Unterschied zum biologischen männlichen Organ nichts einfachhin Gegebenes ist, sondern als vorhanden/nicht-vorhandener im Kontext des sogenannten Ödipus-Komplexes Zeichen eines Mangels, trägt er im einen wie im anderen Fall – das heißt: bei Mann wie Frau – nichts zur Lösung bei, in Lacans Worten: Es gibt kein Geschlechterverhältnis. Das ist der existenzielle, um nicht zu sagen: ontologische Grund oder Abgrund der Misere, als welche schon Freud das menschliche Leben erkannt hatte. Ihm, also diesem nicht-existenten Geschlechterverhältnis, suppliert, so heißt es bei Lacan weiter, die Liebe – die kein Gefühl ist und kein Affekt, sondern der Umstand, dass beim Sprechwesen (parlêtre) Mensch das Sprechen, das Symbolische, dort einsetzt, wo es im Realen hapert oder, eleganter ausgedrückt: mangelt, wo also zwischen den Geschlechtern eine Kluft herrscht, die auch durch raffinierteste Symptombildungen im Imaginären nicht wirklich überwunden werden kann, denn: Nicht erst zwischen den Geschlechtern herrscht diese Kluft, sie ist dem Subjekt vielmehr von Anfang an eingeschrieben in Gestalt des Anderen, der symbolischen Ordnung, die ihm je schon vorausliegt. Mit den Worten von Musils Erzähler im Mann ohne Eigenschaften gesagt: Der Mensch, recht eigentlich das sprechende Tier, ist das einzige, das auch zur Fortpflanzung der Gespräche bedarf. Und nicht nur, weil er ohnehin spricht, tut er es auch dabei; sondern anscheinend ist seine Liebseligkeit mit der Redseligkeit im Wesen verbunden, und das so tief geheimnisvoll, daß es fast an die Alten gemahnt, nach deren Philosophie Gott, Menschen und Dinge aus dem „Logos“ entstanden sind, worunter sie abwechselnd den Heiligen Geist, die Vernunft und das Reden verstanden haben. Nun, nicht einmal die Psychoanalyse und die Soziologie haben Wesentliches darüber gelehrt […]. Man muß sich also selbst den Reim darauf bilden, daß Gespräche in der Liebe fast eine größere Rolle spielen als alles andere. Sie ist das gesprächigste aller Gefühle und besteht zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit. (GA 4, S. 404 f.)
Im sog. Spiegelstadium – das Lacan zufolge (auch hierin Musil ähnlich, wie zu zeigen bleibt) kein Stadium im Sinne einer Phase ist, die sich in ein entwicklungs-
gibt man ihn bei einem verbreiteten Online-Übersetzungs-Tool ein, erhält man als Resultat: „Das Unwissen, das von dem einen Fehler weiß, breitet sich zu Tode aus“ – wobei Mourre, worauf Nemitz (ebd.) hinweist, der französische Name des beliebten Knobelspiels Schere, Stein, Papier ist. Was man hört, wenn man den Titel laut liest, ist: „L’insuccès de l’Unbewu, c’est l’amour“, also: „Der Misserfolg des Unbewu[ssten], das ist die Liebe“. Unter Verweis auf Erik Porge erläutert Nemitz weiter: „Schere, Stein und Papier verhalten sich zueinander wie drei borromäischen Ringe: jedes Element dominiert ein anderes und wird von einem anderen dominiert […]. Auf das Mourre-Spiel bezieht Lacan sich bereits in Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse, Sitzung vom 9. Juni 1965; die Entsprechungen zu Schere, Stein, Papier sind dort Wissen, Wahrheit, Geschlecht.“ (Ebd.)
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psychologisches Narrativ einordnen ließe, sondern tatsächlich ein Stadion repräsentiert, also ein räumliches Feld von Positionen, zwischen denen bestimmte vektorielle Beziehungen bestehen oder vielmehr: sich etablieren – konsolidiert sich der vom präverbalen Infans (das noch kein Subjekt ist) als unkoordiniert-fremdartig und insofern in seiner Funktionalität weitestgehend unkontrollierbar erlebte eigene Körper durch verkennende Identifikation mit dem als ganz wahrgenommenen Spiegelbild, dem anderen, dessen Identität mit dem Ich durch das Medium der Spiegelung, die sprachliche Intervention des die symbolische Ordnung repräsentierenden Anderen: „Das bist du!“ garantiert wird, ohne dessen/deren Intervention das Ich daher gar nicht bestünde und von dem es daher weiterhin abhängig bleibt als auf seinen eigenen Seinsmangel verwiesen – als gebarrtes Subjekt. Diese me-connaissance (Ich-Erkenntnis) als mé-connaissance (Verkennung) ist primärer Ansatzpunkt der psychoanalytischen Kur, zu deren maßgeblichen Prozessen bzw. Techniken die Übertragung gehört (neben dem Unbewussten, der Wiederholung und dem Trieb), die sich als Übertragungsliebe manifestiert, mehr noch: Die Liebe ist überhaupt und immer ein Übertragungsgeschehen; in der psychoanalytischen Situation ist sie lediglich bestimmten Regeln unterworfen, um sie für die Selbsterkenntnis der Analysant:innen fruchtbar zu machen, welche indes ihrerseits auch im gelungensten Fall in keiner Aufhebung der Verkennung besteht, der sich das Subjekt bleibend verdankt (und mit der es notgedrungen selbst zugrunde ginge), sondern vielmehr in einer Anerkennung derselben – von Slavoj Žižek in seiner idiosynkratischen Art auf die Parole gebracht: Enjoy your symptom – Liebe dein Symptom wie dich selbst!¹⁹ Die Liebe, die also dem inexistenten Geschlechtsverhältnis suppliert, ihm als Sprache der Liebe, ihr Diskurs, wie Roland Barthes ausführte,²⁰ zu Hilfe kommt oder besser gesagt: in die Bresche, die Kluft zwischen den Geschlechtern springt im so eitlen wie aussichtslosen Bemühen, diese zu überbrücken oder zu füllen, die Liebe also bildet nach Lacan den Kern der Psychoanalyse, ist weniger in thematischer als in gleichsam technischer Hinsicht als Übertragung das Um und Auf der
19 Vgl. Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin 1991. 20 Vgl. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Erweiterte Neuausgabe. Übers. v. HansHorst Henschen und Horst Brühmann. Berlin 2015, sowie Verf.: Verrückte Bejahung der obszönen Askese festlicher Verausgabung im nächtlichen Herzen des monströs entstellten Körpers der zugrunde gegangenen Kindheit, oder: die Liebe, eine Montage. In: Peter Clar/Julia Prager (Hg.): Was bleibt von „Fragmente einer Sprache der Liebe“? Wien/Berlin 2021, S. 53–65, bzw. ders.: Aufhebungen der Ökonomie: Liebe & Krieg in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Paul Keckeis/ Gerda E. Moser/Viktoria Take-Walter (Hgg.): Liebe und Ökonomie. Literarische Aushandlungen. Berlin 2022 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 164), S. 287–301, bes. S. 294–298.
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Kur. Daher hat er ihr, in verschiedenen Rücksichten, schon rein quantitativ wohl vergleichsweise mehr Aufmerksamkeit in seinen Seminaren gewidmet als den zumindest in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in der internationalen und insbesondere deutschsprachigen Rezeption, nicht nur, aber vor allem seitens der Literaturwissenschaft, in seiner Theorie fast ausschließlich wahrgenommenen Begriffen vorwiegend sprachwissenschaftlicher Provenienz wie Signifikat, Signifikant, Metapher und Metonymie – ohne deren Bedeutung mit dieser Bemerkung schmälern zu wollen. Im psychoanalytischen Feld im engeren Sinn ist dieser Umstand hingegen sehr wohl berücksichtigt worden; nicht von ungefähr widmet Julia Kristeva, selbst nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch praktizierende Analytikerin, einen erklecklichen Teil ihrer 1983 erschienenen Histoires d’amour / Geschichten von der Liebe der Auseinandersetzung mit Lacans thematisch einschlägiger Relektüre von Freud.²¹ Was nun Musil betrifft, so agiert er seinem eigenen Text gegenüber mehr wie der ideale Analytiker nach Lacan’scher Fasson denn wie ein Autor im üblichen Verständnis; er ist sozusagen der Adressat seiner eigenen unbewussten Botschaft und deren Urheber bzw. besser: Sender zugleich, in einer fragilen Personalunion, die der Position des gebarrten Subjekts bei Lacan ähnelt – wie jener den Analysant:innen gibt er sie, diese seine eigene und eigentliche Botschaft, sich selbst in der Rolle des Analytikers seiner selbst in umgekehrter, will sagen: unendlich variierter und ständig umgeschriebener Form zurück. In strukturaler Analogie mit Lacans berühmter Lesart von Heideggers Heraklit-Aufsatz über dessen Logos-Begriff,²² vorgelegt im Zuge bzw. in Gestalt der von ihm angefertigten französischen Übersetzung des nämlichen Textes, in welcher das dem altgriechischen Nomen Logos etymologisch zugrunde liegende Verb legein in der Heidegger’schen Eindeutschung als Beisammen-vor-liegen-lassen kurzerhand zu einer Beschreibung der psychoanalytischen Grundsituation des Auf-der-Couch-Liegens umgedeutet wird,²³ hat bekanntlich auch Musil im Nachhinein, beim Entwurf eines Vorworts zur Neuausgabe seiner beiden zu den Vereinigungen zusammengefassten Novellen Die
21 Vgl. Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe. Übers. v. Dieter Hornig u. Wolfram Bayer. Frankfurt a. M. 1989, bes. Kap. I. – Von deutschsprachiger literaturwissenschaftlicher Seite diesem Aspekt der Lacan’schen Theorie eine umfassende Untersuchung gewidmet hat erst in jüngster Zeit Achim Geisenhanslüke: Die Sprache der Liebe. Figurationen der Übertragung von Platon zu Lacan. Paderborn 2016; eine „Kurzfassung“ dieser Studie findet sich hier: Ders.: Wege der Übertragung. Über die Sprache der Liebe bei Platon, Shakespeare, Freud und Lacan. https://literaturkritik.de/id/ 22432 (01.09. 2016, letzter Zugriff: 02.11. 2021). 22 Vgl. Martin Heidegger: Logos (Heraklit, Fragment 50). In: Ders.:Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 6 1990, S. 199–221. 23 Vgl. Martin Heidegger: Logos. Übers. v. Jacques Lacan. In: La psychanalyse 1 (1956), S. 57–79.
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Vollendung der Liebe und Die Versuchung der stillen Veronika, deren distanzierende Verräumlichung gefordert und gemeint, um zu „sehen, was es ist“ (sc. kein Buch nämlich), solle man „zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln“²⁴, ganz wie eine heilige Schrift. Meine These, dass die Vereinigungen und schon von der Wortwahl des Titels her insbesondere Die Vollendung der Liebe im Mann ohne Eigenschaften in Agathes Rede von der „letzten Liebesgeschichte“ mündet, welche die Geschwisterliebe zwischen ihr und Ulrich sein solle, ja sein werde, wie sie sich im Druckfahnen-Kapitel 46. Mondstrahlen bei Tage (GA 4, S. 79–93, hier S. 92)²⁵ findet, folgt in den Grundzügen ganz der Lesart, die Hartmut Böhme den beiden Novellen hat angedeihen lassen und die sich als durch und durch psychoanalytisch, ja lacanianisch informiert präsentiert, ohne dass freilich die entsprechenden Eigennamen der Bezugsautoren, Freud und Lacan, je genannt würden, ja ohne dass auch vom Unbewussten mehr als nur beiläufig gesprochen würde.²⁶ Diesem doch immerhin erwähnenswerten und im Grunde auch erklärungsbedürftigen Umstand des sorgsamen Verbergens aller einschlägigen Referenzen zum Trotz stellt Böhmes Essay, erschienen 1990 als Nachwort zu einer Ausgabe der Vereinigungen bei Suhrkamp, bis zu den beiden 2016 veröffentlichten Arbeiten des 2018 verstorbenen, in Lille und Paris tätigen österreichischen lacanianischen Psychoanalytikers Franz Kaltenbeck, der sich seinerseits auf Böhme bezieht,²⁷ die einzige nicht nur an der Oberfläche wenn nicht des Musil’schen Textes, so jedenfalls der Lacan’schen Lehre bleibende, verbindende Lektüre des einen wie des anderen dar. Es ist die Herstellung des Zusammenhangs zwischen den Vereinigungen einerseits und dem erwähnten Druckfahnen-Kapitel zur Fortsetzung des Zweiten Buches des Mann ohne Eigenschaften andererseits, die bei aller Zustimmung zu und Übereinstimmung mit Böhmes Lesart der ersteren doch eine andere Nuancierung zu setzen erlaubt, ja m. E. erfordert als seine, was die Position des Musil’schen Erzählers sowohl wie die laut Böhme daran hängende poetologische Absicht des Autors Musil betrifft (schon der hierin implizierte Rückgriff auf die von Lacan, wie oben betont, strikt abgelehnte ,psychobiographische‘ Dimension von Literatur zeigt ein gewisses Maß des Verfehlens von literaturwissenschaftlicher Seite an): Die in den Vereinigungen in den zwei unterschiedlichen Anläufen der beiden Novellen thematisierte Vollendung der Liebe findet in dem Sinne ihre Voll-Endung in der letzten Liebesgeschichte zwischen Ulrich und Agathe im Roman, wie die 24 KA/Bd. 16/III/II/Vermischte Notizen/76. 25 Zu einer kürzeren früheren Fassung Mondstrahl bei Tage vgl. GA 5, S. 54–65. 26 Vgl. Hartmut Böhme: Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle. In: Robert Musil: Vereinigungen. Zwei Erzählungen. Mit einem Essay von Hartmut Böhme. Frankfurt a. M. 1990, S. 185–221. 27 Vgl. Kaltenbeck (s. Anm. 8).
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Geschichte in Hegels Philosophie ihr Ende findet, indem sie zum Abschluss gelangt (und das tut sie, die Liebesgeschichte nämlich, ungeachtet des Nichtabschlusses der Arbeit am Roman und dessen daraus resultierender Fragmentarität, auch bei Musil sehr wohl): Das vieldiskutierte Ende der Geschichte nach Hegel bedeutet nämlich keineswegs ein Ende der Geschichte im empirischen Verstande, weder der res gestae als solcher noch der sie in ein Narrativ einordnenden historia; die Bedingungen der letzteren allerdings sind mit dem Zu-sich-Kommen des Geistes in der Hegel’schen Phänomenologie in formaler Hinsicht vollkommen und endgültig ausbuchstabiert, so dass in einem strengen Sinn nichts (mehr) geschehen kann, was sich dem solcherart seiner selbst als erste und letzte Realität bewussten und insofern absoluten Geist nicht eo ipso erschlösse. Anders gesagt, die Rollen sind verteilt, die Plätze zugewiesen in einem logischen und, für Hegel, deswegen zugleich auch metaphysischen Sinn: Was faktisch passiert, ist freilich offen und unvorhersehbar (die Philosophie ist keine Spekulation im landläufigen Verständnis, keine Kunst der Prophezeiung und aller Wahrsagerei abhold, wie Hegel von Kants Kritik an Swedenborg in den Träumen eines Geistersehers gelernt und bestens behalten hatte); wie es aber passiert, d. h. nach welchem unabänderlichen Muster, nämlich der Dialektik mit ihrem Dreischritt von These, Antithese und Synthese, das steht unweigerlich fest. Und in exakt diesem Sinn ist auch die Liebesgeschichte zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe im Roman die letzte, abzüglich freilich der von Hegel unverbrüchlich aufrechterhaltenen Zuversicht in das Moment der glücklichen Aufhebung qua Versöhnung aller Widersprüche, denn auch sie, als letzte, ist zum Scheitern verurteilt – und was könnte das besser bezeugen als die Tatsache, dass der Roman unvollendet bleibt? So trifft es zwar zweifellos zu, dass, wie Böhme überzeugend herausarbeitet, die Vereinigungen „den inneren esoterischen Kreis (bilden), um den herum als gewaltige exoterische Architektur der Mann ohne Eigenschaften errichtet werden wird“²⁸ (dasselbe ließe sich mit Recht übrigens auch, wie Musil selbst es getan hat, von seinem Gedicht Isis und Osiris behaupten); im Rückblick von der Warte der Fortsetzung des Zweiten Buchs des Mann ohne Eigenschaften aus dem Nachlass gesprochen, lässt sich indes Böhmes Urteil, der Erzähler der Vollendung der Liebe gebe „in der sprachlichen Verschmelzung mit Claudine insgeheim die Poesie als das einzige Medium zu verstehen […], worin das verfluchte Zerschnittensein der Geschlechter aufgehoben werden kann zum Bild der Androgynie“²⁹; ja, mehr noch: „Nur die Sprache der Kunst, so scheint Musil zu meinen, kann die unhintergehbare Spaltung der Gattung und den Riß zwischen
28 Böhme, S. 191. 29 Böhme, S. 218.
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Zeichen und Bedeutung mit der unveräußerlichen Sehnsucht nach Überwindung von beidem zur widersprüchlichen Einheit vermitteln“³⁰ – just dies hieße, das von Böhme zurecht als „höchst anspruchsvoll“ bezeichnete „Programm“³¹ der Novellen im Besonderen und Musils im Allgemeinen in diesem seinen hohen Anspruch zu unterschätzen. Weit davon entfernt, im Bild der Androgynie – bei aller Faszination, die dieses auf ihn wie einen Gutteil der ideengeschichtlichen Tradition seit Platons Erzählung des Mythos durch Aristophanes im Symposion ausgeübt hat – einen (und sei’s nur dichterisch realisierbaren) Ausweg aus der Bredouille der Geschlechterproblematik zu sehen, verwirklicht Musils literarische Darstellung vielmehr ein Programm, das ungleich näher an Lacans durchaus pessimistischer strukturalpsychoanalytischer Auffassung vom inexistenten Geschlechtsverhältnis liegt, dem die Liebe diskursiv zu Hilfe kommt, um letztlich zu scheitern, als sowohl an Hegels optimistischer Vorstellung des im durchaus positiv-utopischen Sinn verstandenen kontinuierlichen geschichtlichen Fortschritts zum Besseren, ja Guten und letztlich Idealen wie auch an der dieser Lacan’schen Auffassung diametral zuwider laufenden Position der von ihm konsequent als Anpassung an den American Way of Life kritisierten Anknüpfung an Freuds Grundlegung der Psychoanalyse in Gestalt der diese grob verfälschenden sogenannten Ego Psychology mit ihrem deklarierten Ziel der Stärkung des Ichs im Laufe der Kur. Wie Lacan ist es auch Musil um eine am Vorbild der modernen Naturwissenschaften und hier insbesondere der Physik, Mathematik und Logik orientierte, weitestgehende Formalisierung der erzählten (und überhaupt erzählbaren) Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu tun, eine als Entschleunigung im Sinne kontinuierlicher Verlangsamung bis hin zum völligen Erlahmen der Narration in Erscheinung tretende Verräumlichung derselben zugunsten des Hervortretenlassens aller denkbar möglichen Kombinationen und Permutationen der als literarische Figuren realisierten Elemente (diese ,reine‘ Struktur, vergleichbar den Lacan’schen Formeln, Mathemen und topologischen Darstellungen, ist es, die zwischen zwei Glasplatten betrachtet idealiter zum Vorschein käme, ohne durch das psychologische Moment des identifikatorischen, lebwie leibhaften Interesses der Leserin des literarischen Textes abgelenkt, irritiert und verdeckt zu werden).³²
30 Böhme, S. 220. 31 Böhme, S. 219. 32 Vgl. Böhme, S. 199: „Die Verräumlichung löst die biographische Erzählweise auf […].“ Auf den logischen, eigentlich sogar ontologischen, jedenfalls nicht chronologischen und somit nicht narrativen Status des in der Vollendung der Liebe geschilderten Geschlechtsverhältnisses als unmöglichen im Sinne Lacans weist auch der offenkundige Widerspruch zwischen Claudines beiden kurz aufeinander folgenden Aussagen hin: „wir waren einander untreu, bevor wir einander kannten“ vs.
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Ob dieser poetologischen Strategie, der sich der Text verdankt und die er in jedem Sinn des Ausdrucks ,verrät‘, auch noch jenes „symbiotische Muster“ zugrunde liegt, von dem Böhme unter Verweis auf Musils autobiographische Selbstkommentare angelegentlich der Vereinigungen spricht und von dem er behauptet, dass es in Gestalt einer„Formel der ineinandergehenden Identitäten von Robert und Martha“ „Musils Objektbeziehungen […] grundlegend prägt“³³, tut in Wirklichkeit nichts zur Sache und wird in seiner von Böhme insinuierten Bedeutung vom literarischen Text zumindest entkräftet, wenn nicht widerlegt: In diesem nämlich, und zwar sowohl in den frühen Novellen als auch im späteren Roman, geht just diese vermeintliche, der biographischen Selbstinterpretation des Autors abgelauschte Formel vom Ineinandergehen der Identitäten, seien es Claudine und ihr Mann (oder ihr Verführer) einerseits, seien es Agathe und Ulrich andererseits, nicht auf – oder wenigstens nicht ganz, und dieses Nicht-ganz / pas-tout(e) ist, als das Moment des Unbewussten sowohl in der Geschlechterbeziehung wie auch im Akt des Schreibens, symbolisches Unterpfand jenes Anderen, um das in Gestalt sowohl der geliebten Anderen, der Zwillingsschwester, wie der anderen Geliebten im Roman als auch des darin angestrebten anderen Zustands Musils Texte gravitieren und dessen abgründige Negativität auch und gerade von keinem ,Bild‘ (wie dem der Androgynie) imaginär kompensiert oder aufgehoben werden kann. In der Tat zeigen die Vereinigungen, wie das Ich dort, wo es zunehmend bei sich ist, just „auf dem Grund seiner Leidenschaft“³⁴, durch seine Einschreibung in unpersönliche, allgemeine Beziehungen subjektiviert wird, wie das Ich sich also im Sinne Freuds als ,Oberflächenphänomen‘ erweist und auflöst, in Analogie zu jenen Prozessen, die Musil sowohl von seinen philosophischen Studien bei Carl Stumpf in Berlin her (mit der Promotion über Ernst Mach als Abschluss) als auch durch seine Auseinandersetzung mit der mystischen Tradition (in Gestalt u. a. der Lektüre Martin Bubers) vertraut waren. Wie Lacan auf die zum Teil immer noch romantische Tradition, in der Freuds Psychoanalyse wurzelt, so reagiert indes auch Musil darauf nicht (wie zu seiner Zeit Spengler, den er dafür kritisiert, und später in zunehmendem Maße auch Heidegger, wie Musil früh erkennt) mit einer Betonung dieser zum spekulativ-Irrationalen neigenden, anti-modernistisch-reaktionären Schlagseite, sondern im Gegenteil mit einer Hinwendung zur modernen Logik und den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Formalisierung, die diese bietet. Unter Rekurs auf Peano, den er im Profil eines Programms von 1912, in dem er die kurz zuvor erschienenen Vereinigungen poetologisch reflektiert, neben Einstein, Mach, „wir liebten einander, bevor wir einander kannten“; vgl. Böhme, S. 209, und Kaltenbeck, Über zwei Frauen, S. 73. 33 Böhme, S. 189. 34 Böhme, S. 197.
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Russell und anderen als diejenigen nennt, von denen „wir“, d. h. die Künstler:innen, lernen werden, wie es heißt – und zwar „[m]athematischen Wagemut, Seelen in Elemente auflösen, unbeschränkte Permutation dieser Elemente“³⁵ –, konzipiert Musil seine Figuren entgegen allem Anschein (und auch mancher literaturwissenschaftlichen Deutung) eben gerade „nicht als psychologische Personen“, sondern so, dass sie „eine Ein-Element-Klasse mit spezifischen Eigenschaften und Funktionen bilden“³⁶. Wie Lacans Formeln der Sexuierung jene logischen Plätze zu bestimmen suchen, die ein sprechendes Subjekt im Hinblick auf seine Einschreibung in die Geschlechterordnung einnehmen kann, so versteht Musil seine Novellen als jene Form, „die ein Element alle seine definierenden Möglichkeiten und Verbindungen entfalten läßt bis zu ihrer Umkehrung“³⁷ „Die Kombinationen mit anderen Elementen [sc. in die Claudine und Veronika eintreten] – Männern, Tieren, Dingen, Räumen, Atmosphären – dienen nicht dazu, eine Handlung zu bilden, sondern um die ,inwendigen‘ Momente der Person hervorzutreiben und zu permutieren“³⁸, wobei dieses „Inwendige“ freilich kein Inneres im Sinne der Psychologie, sondern ein nachgerade absolut Äußerliches ist eine Extimität (so Lacan mit einem Neologismus), insofern es nirgends anders und erst durch und in seinem Zutagetreten als weniger chronologisch denn vielmehr logisch vorgängig sich konstituiert, ganz wie Lacan Freuds Rede von der Nachträglichkeit als Zeitform des Unbewussten aufgegriffen und ausgearbeitet hat. Auch in Musils „,Architektur‘ von tropischen Zeichen“³⁹, so Böhme, ist das Innere zugleich Außen und vice versa, das Frühere später und das Spätere früher wie in Lacans nachmaliger Topologie, der (mathematischen, von ihm auf die Psychoanalyse übertragenen) Lehre von den gleichbleibenden Eigenschaften von Körpern ungeachtet ihrer faktischen (geometrischen) Form. Was Musil vor diesem Hintergrund „Vereinigung“ nennt, ist weniger eine gleichzeitige Identität und Nichtidentität des Subjekts mit sich als vielmehr dessen unaufhebbare Spaltung, zu deren Kittung sprachliche Ausdrucksweisen wie Metapher und Metonymie samt deren poetischen Formen zwar ansetzen und in Szene treten, die sie aber niemals ganz zu leisten vermögen, oder anders ausgedrückt: Wo solche „Vereinigung“ gelingt, ist sie nicht, wie Böhme meint, pathisch-poetisch⁴⁰, sondern – das weiß Lacan, das weiß und zeigt aber auch Musil – pathologisch. Just solcher pathologischen Verirrung – dem Anhängen an der Utopie einer vollkom-
35 KA/Bd. 15/Essayistische Fragmente/Profil eines Programms. 36 Böhme, S. 198. 37 Böhme. S. 198. Im hier nicht gezeigten unteren Teil des Schemas von Lacan wäre auch noch ein Pendant zu dieser Umkehrung ausfindig zu machen, worauf ich nicht näher eingehen kann. 38 Böhme, S. 199. 39 Böhme, S. 199. 40 Böhme, S. 200; vgl. auch S. 201 f. u. ö.
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menen Selbsterkenntnis, einer uneingeschränkten Autonomie des Ichs, der Möglichkeit vollen Sprechens (eines Diskurses, der – so Lacan im Titel seines Seminars XVIII von 1971 – nicht vom Schein wäre)⁴¹ – wehrt Musil mit seinem Hinweis im Druckfahnen-Kapitel 46 des Zweiten Buchs des Mann ohne Eigenschaften, den er Agathe in den Mund legt, dass nämlich „überhaupt die letzte Liebesgeschichte, die es geben kann“ zugleich auch „keine Liebesgeschichte mehr“ (GA 4, S. 91 f.) sei. Mag für die Vereinigungen (wogegen indes auch manches spricht) vielleicht noch zutreffen, was Böhme Musil unterstellt: die „versuchte Wiederholung des ursprungshaften Einsseins von Zeichen und Bezeichnetem nach ihrer traumatischen Zerreißung“⁴², so vollendet sich die Liebe (die im Freud-Lacan’schen Sinn stets nicht anders denn als Übertragungsliebe verstehbar ist) in der unvollendeten Fortsetzung des Romans durch die Einsicht in genau diese Übertragungsstruktur, die ihr eignet; und nach deren Formulierung durch Ulrich im Druckfahnen-Kapitel 49. General Stumm läßt eine Bombe fallen. Weltfriedenskongreß (GA 4, S. 122–137) ist auch an eine versuchsweise Wiederholung bzw. Fortsetzung der Liebesgeschichte schlechterdings nicht mehr zu denken, sie ist ein für alle Mal zu Ende (nicht von ungefähr findet Agathe im folgenden Kapitel 50 „zu ihrem Mißvergnügen“, wie es heißt, Ulrichs Tagebuch mit dem darin enthaltenen und im Kapitel 52 wiedergegebenen „geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie“): „[…] Ich liebe ,dich‘, ist eine Verwechslung; denn ,dich‘, diese Person, von der die Leidenschaft hervorgerufen wird und die man mit Armen greifen kann, glaubt man zu lieben, und die von der Leidenschaft hervorgerufene Person, dieses wildreligiöse Gebilde, liebt man wirklich, aber sie ist eine andere.“ „Wenn man dich hört,“ unterbrach Agathe ihren Bruder mit einem Vorwurf, der ihre innere Teilnahme verriet „so sollte man meinen, daß man die wirkliche Person nicht wirklich liebt und eine unwirkliche wirklich –!“ „Genau das habe ich sagen wollen, und ähnliches habe ich schon von dir gehört.“ „Aber in Wirklichkeit sind die beiden schließlich doch eins!“ „Da ist gerade die Hauptverwicklung, daß die der Liebe vorschwebende Person in jeder äußeren Beziehung von der wirklichen Person vertreten werden muß, ja mit ihr eins ist. Dadurch kommt es zu allen den Verwechslungen, die dem einfachen Geschäft der Liebe etwas so anregend Gespenstisches verleihen!“ (GA 4, S. 126 f.)
Nach diesem Begräbnis erster Klasse nicht nur für die Liebesgeschichte zwischen Ulrich und Agathe, sondern damit in eins für jede mögliche Liebesgeschichte tritt als wahre Bombe, die General Stumm in Kapitel 49 fallen lässt, nicht so sehr der 41 Vgl. Jacques Lacan: D’un discours qui ne serait pas du semblant. Le Séminaire, livre XVIII (1971). Paris 2007. Dt. Übers. v. Rolf Nemitz: https://lacan-entziffern.de/uebersetzung-von-lacans-seminarueber-einen-diskurs-der-nicht-vom-schein-waere/ (13.05. 2016–10.03. 2017, letzter Zugriff 03.11. 2021). 42 Böhme, S. 212.
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Weltfriedenskongress in Erscheinung (wiewohl dieser Umstand ein weiteres markantes Zeugnis von Musils Talent für Ironie ablegt – den Weltfriedenskongress bzw. dessen Ankündigung aus der Perspektive eines der Hauptakteure der Parallelaktion metaphorisch als Bombe zu rubrizieren), sondern vielmehr die Schlussfolgerung, mit der der General Ulrichs Ausruf „[…] die Weltgeschichte ist mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte“ (GA 4, S. 129) quittiert: „Aber dann ist die andere Hälfte eine Geschichte des Zorns.“ (Ebd.) Was nach der Vollendung der letzten Liebesgeschichte also offen bleibt, ist das Ende der anderen Hälfte der Geschichte, die andere Geschichte, die der Roman erzählt, indem er sie nicht erzählt: die des Kriegs, in den, so Musil, alle Linien münden und insofern – angesichts des Gesagten – auch die gescheiterte Utopie des anderen Zustands, den die Geschwisterliebe zu realisieren trachtete.
4 Zum Schluss: Musil, Lacan und kein Ende – la fin n’existe pas… Mit den Vereinigungen, so Franz Kaltenbeck, habe Musil „einen in der Literatur allein dastehenden Diskurs über das unmögliche Verhältnis zwischen den Geschlechtern“⁴³ geschaffen, dessen Formalisierung und Fruchtbarmachung zum Zwecke der psychoanalytischen Theoriebildung und Kur Lacan – der „ein abgenutztes Exemplar des Originals [sc. von Musils Mann ohne Eigenschaften] in der Bibliothek seiner Ordination“⁴⁴ hatte – einen Großteil seiner Arbeits- und Lebenszeit gewidmet hat.⁴⁵ Kaltenbecks vorsichtige Frage, ob Musil in den Vereinigungen „schon Einsichten in jene Logik gewinnen konnte, welche Lacan sechzig Jahre später schuf, um zu zeigen, dass Weiblichkeit und Männlichkeit in kein schriftlich fassbares Verhältnis treten“⁴⁶, ob er, Musil, also bereits vor Lacan das Reale als „das des Geschlechts-Unterschieds und der Nicht-Beziehung zwischen den Geschlech-
43 Kaltenbeck, Über zwei Frauen, S. 70. 44 Kaltenbeck, Robert Musils unvollendbare Liebe, S. 10. 45 Zum Zitat im Abschnittstitel vgl. Jacques Lacan: R.S.I. Le séminaire XXII (1974–1975). Unveröff. Eine red. Mitschrift der Tonbandaufzeichnungen findet sich hier: http://staferla.free.fr/S22/S22.htm (letzter Zugriff: 04.11. 2021); s. die Sitzung vom 17.12.1974, S. 21 (u. ö.): „La femme – qui n’ex-siste pas […].“ (Kursiv i. O.) Eine ausführliche Darstellung des gesamten, mit dieser durch die Verkürzung auf die Form eines (Halb‐)Satzes berühmt-berüchtigt gewordenen These Lacans verbundenen Zusammenhangs legt Rolf Nemitz hier vor: „Eine Frau ist ein Symptom des Mannes.“ https://lacan-entziffern.de/symptom/eine-frau-ist-ein-symptom-des-mannes/ (09.07. 2015, letzter Zugriff: 04.11. 2021). 46 Kaltenbeck, Robert Musils unvollendbare Liebe, S. 10 f.
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tern“⁴⁷ erkannt habe, ließe sich unter Einbeziehung auch des späteren Romanwerks und insbesondere der Fortsetzung des Zweiten Buches mit der letzten Liebesgeschichte zwischen Ulrich und Agathe, so das vorläufige Ergebnis meiner Überlegungen, ohne Weiteres mit Ja beantworten. Keineswegs ausgeschlossen also scheint es in der Tat, „dass einiges von Musils Wissen über die Liebesbeziehung von Agathe und Ulrich zu Lacan gedrungen ist“⁴⁸; sehr unwahrscheinlich mutet es hingegen an, dass Musils Textur (nicht die der Vereinigungen und noch viel weniger die des Mann ohne Eigenschaften) „die absolute Vergegenwärtigung des Weiblichen in der Sprache des Gegengeschlechts“ anstrebe und mit dieser „mythische[n] Bewegung“ qua „Wiederholung des aristophanesischen Mythos in Platons Symposion“ die dort firmierende ursprüngliche „Androgynität poetisch wiederherstellen“ wolle.⁴⁹ Solches Begehren würde ihn, Musil, unversehens von jenen Einsichten der spezifisch Lacan’schen Spielart der Psychoanalyse in das Verhältnis der Geschlechter und in die Rolle, die das Unbewusste darin spielt, entfernen, denen er sich doch gerade mit den hier diskutierten Texten gleichsam als Analytiker sui (und sui generis) recht unzweideutig angenähert zu haben scheint. „Es gibt“, so Julia Kristeva, mit der ich schließen möchte, ohne zu enden, „keine Analyse, wenn der Andere nicht ein Anderer ist, den ich liebe (mit der logischen Folge: den ich hasse), und zwar durch die Vermittlung ,dieses Mannes/dieser Frau ohne Eigenschaften‘, meines Analytikers.“⁵⁰
Literaturverzeichnis Texte Robert Musils werden wie folgt zitiert: Sigle GA + Bandziffer und Seitenangabe in runden Klammern im Fließtext = Gesamtausgabe. 12 Bde. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg/Wien 2016–2021. Sigle KA + Band- bzw. Stellenangabe in den Fußnoten = Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta unter Mitwirkung v. Rosmarie Zeller. DVD-ROM Klagenfurt 2009, Update 2015. (Klagenfurter Ausgabe) Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Erweiterte Neuausgabe. Übers. v. Hans-Horst Henschen und Horst Brühmann. Berlin 2015. Boelderl, Artur R.: Verrückte Bejahung der obszönen Askese festlicher Verausgabung im nächtlichen Herzen des monströs entstellten Körpers der zugrunde gegangenen Kindheit, oder: die Liebe,
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Kaltenbeck, Robert Musils unvollendbare Liebe, S. 15, Anm. 18. Kaltenbeck, Robert Musils unvollendbare Liebe, S. 11. Böhme, S. 201. Kristeva, S. 22.
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eine Montage. In: Peter Clar/Julia Prager (Hg.): Was bleibt von „Fragmente einer Sprache der Liebe“? Wien/Berlin 2021, S. 53–65. Boelderl, Artur R.: Aufhebungen der Ökonomie: Liebe & Krieg in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Paul Keckeis/Gerda E. Moser/Viktoria Take-Walter (Hgg.): Liebe und Ökonomie. Literarische Aushandlungen. Berlin 2022 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 164), S. 287–301, bes. S. 294–298. Böhme, Hartmut: Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle. In: Robert Musil: Vereinigungen. Zwei Erzählungen. Mit einem Essay von Hartmut Böhme. Frankfurt a. M. 1990, S. 185–221. Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt a. M. 1992. Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Übers. v. Gabriella Burkhart. Wien 2002. Geisenhanslüke, Achim: Wege der Übertragung. Über die Sprache der Liebe bei Platon, Shakespeare, Freud und Lacan. https://literaturkritik.de/id/22432 (01. 09. 2016, letzter Zugriff: 02. 11. 2021) Geisenhanslüke, Achim: Die Sprache der Liebe. Figurationen der Übertragung von Platon zu Lacan. Paderborn 2016. Heidegger, Martin: Logos (Heraklit, Fragment 50). In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 61990, S. 199–221. Heidegger, Martin: Logos. Übers. v. Jacques Lacan. In: La psychanalyse 1 (1956), S. 57–79. Kaltenbeck, Franz: Lesen mit Lacan. Aufsätze zur Psychoanalyse. Berlin 2013. Kaltenbeck, Franz: Robert Musils unvollendbare Liebe. https://lacan-entziffern.de/sexuierung/franz-kaltenbeck-robert-musils-unvollendbare-liebe/ (03. 01. 2016, letzter Zugriff: 02. 11. 2021) Kaltenbeck, Franz: Über zwei Frauen im Werk Robert Musils. In: Schreiben und Begehren. Hg. v. Corinna Sigmund. Berlin 2016 (Y – Revue für Psychoanalyse 2015), S. 69–80. Kappeler, Florian: Sexualwissenschaft. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert C. Wolf. Berlin/New York 2016, S. 572–578. Koppenfels, Martin von: Ein komisches Gefühl. Lacan als Leser des Symposion. In: Eckart Goebel/Elisabeth Bronfen (Hg.): Narziss und Eros. Bild oder Text? Göttingen 2009, S. 269–295. Kristeva, Julia: Geschichten von der Liebe. Übers. v. Dieter Hornig u. Wolfram Bayer. Frankfurt a. M. 1989. Lacan, Jacques: R.S.I. Le séminaire XXII (1974–1975). Unveröff. Eine red. Mitschrift der Tonbandaufzeichnungen findet sich hier: http://staferla.free.fr/S22/S22.htm (letzter Zugriff: 04. 11. 2021) Lacan, Jacques: L’insu que sait de l’une-bévue s’aile à mourre. Le séminaire XXIV (1976–1977). Unveröff. Eine red. Mitschrift der Tonaufzeichnungen findet sich hier: http://staferla.free.fr/S24/S24.htm (letzter Zugriff: 04. 11. 2021) Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI (1964). Übers. v. Norbert Haas. Olten 1978; Weinheim/Berlin 31987; Reprint Wien/Berlin 2015. Lacan, Jacques: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch II (1954–1955). Übers. v. Hans-Joachim Metzger. Olten 1980; Weinheim/Berlin 21991; Reprint Wien/Berlin 2015. Lacan, Jacques: Encore. Das Seminar, Buch XX (1972–1973). Übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas u. Hans-Joachim Metzger. Weinheim/Berlin 1986, 21991; Reprint Wien/Berlin 2015. Lacan, Jacques: Namen-des-Vaters. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 2006/2013. Lacan, Jacques: D’un discours qui ne serait pas du semblant. Le Séminaire, livre XVIII (1971). Paris 2007. Dt. Übers. v. Rolf Nemitz:
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Dominik Zechner
Kant avec Musil Abstract: Der Artikel liest Robert Musils Erstling Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) als einen Roman der Institution (Campe), in dem sich diverse Formen von Gewalt ineinander verwickeln. Wider die Annahme, dass Musils Roman auf die Darstellung sado-masochistischer Ausschweifungen abstellt, konzentriert sich mein Argument auf eine Szene des Lesens, welche die verschiedenen Gewaltpotentiale des Romans miteinander vermittelt: Erst in der Kant-Lektüre Törleß’ wird deutlich, welche Gewalt und welcher Schmerz in Musils Text gemeint sind. Der Roman wird so lesbar nicht als Ausstellung schulbübischen Begehrens, sondern als Einsicht in die gewaltsame Struktur der praktischen Vernunft selbst.
1 Romane der Institution Für diejenigen unter uns, die der literarischen Behandlung des sogenannten „pädagogischen Imperativs“, wie es bei Barbara Johnson heißt, eine besondere Bedeutung beimessen, markiert das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Zeitspanne beträchtlicher Tragweite.¹ Etwa mit Heinrich Manns Professor Unrat startet im Jahr 1905 eine Serie von Narrativen, deren Fokus auf der Erziehung Jugendlicher – hauptsächlich junger Männer – liegt. Dementsprechend befindet sich die soziale Einrichtung der Schule, zumal des Internats, im Zentrum einiger der wirkungsvollsten Anstrengungen der literarischen Moderne: An den Namen Heinrich Manns reihen sich etwa diejenigen Hermann Hesses, Rainer Maria Rilkes, Robert Walsers, Robert Musils, um nur einige zu nennen. Der genealogische Verlauf dieser neuen pädagogischen Dichtung ließe sich durch das sich entfaltende Jahrhundert weiterverfolgen, etwa im Hinblick auf Friedrich Torbergs Der Schüler Gerber und Ödön von Horváths Jugend ohne Gott in den dreißiger Jahren, Siegfried Lenzens Deutschstunde in den späten Sechzigern, bis hin zu Elfriede Jelineks Klavierspielerin im Jahr 1983, und darüber hinaus. Es versteht sich, dass diese tentative Genealogie keineswegs das Prädikat „erschöpfend“ beansprucht; es geht hier lediglich darum, eine gewisse Ahnung der absoluten Prominenz zu liefern, die dem Problem des Pädagogischen innerhalb einer deutschsprachigen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts zukommt.
1 Vgl. Barbara Johnson (Hg.): The Pedagogical Imperative. Teaching as a Literary Genre. Yale French Studies 63 (1982). https://doi.org/10.1515/9783110988352-017
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Viele der Texte, die hier in Frage stehen, ließen sich als Institutionenromane bezeichnen, mit einem Begriff, den Rüdiger Campe in zahlreichen Aufsätzen über Kafka, Walser, Musil, Thomas Mann und James Joyce entwickelt hat.² Ein Aspekt, der den Institutionenroman von der Tradition des Bildungsromans unterscheidet, mit welcher er dennoch auf komplexe Weise verquickt ist, bezieht sich auf seinen episodischen Charakter. Das heißt, dass der Roman der Institution kein holistisches Abbild eines Lebens, keine ausführliche, in sich geschlossene Biografie des Protagonisten liefern möchte, sondern sich eher für ein Leben zerschnitten in Scheibchen, also aufgeteilt in Kapitel und Episoden, interessiert.³ Der Institutionenroman liefert, episodisch, die Nahaufnahme eines bestimmten Lebensabschnitts, und zwar im Hinblick auf das institutionelle Gestell und seine diskursiven Mechanismen, von denen dies Leben und seine Form zuallererst produziert wird. Der episodische Charakter stellt sich her durchs Überschreiten der Schwelle zum institutionellen Dispositiv, welcher Akt üblicherweise mit dem Romananfang zusammenfällt: Es geht um den Eintritt in die Einrichtung, das Verbleiben darin und den endlichen Ausschied. Misslingt der Austritt aus dem institutionellen Rahmen, bleibt als Alternative oft nur der Tod – man denke etwa an Torbergs Gerber oder die Exekution Josef K.s am Ende von Kafkas Proceß. ⁴ Es lässt sich beobachten, wie das Leben innerhalb der Institution, also die inner-institutionellen Prozesse der Herstellung von Lebensform, strukturell durch die Applikation von Gewalt definiert ist. Dies geschieht zum einen auf eine traditionelle Weise, einem vertikalen Vektor entsprechend, als das Unter-Druck-Setzen des Subjekts gleichsam von oben. Repräsentiert und ausgeführt wird dieser vertikale Zwang von der Figur des sadistischen Schulmeisters, dessen Motiv in den Texten der
2 Die Aufnahme des Namens Joyce in diese Liste, konkret seines Portrait of the Artist as a Young Man, indiziert, dass die Präsenz von pädagogisch-institutionellen Narrativen sich nicht auf die deutschsprachige Tradition einschränken lässt. Dass Letzterer dennoch eine besondere Aufmerksamkeit gebührt, rührt daher, dass die infrage stehende Prosa sich als Verwandlung, vielleicht gar als Endpunkt, der Tradition des deutschen Bildungsromans verstehen lässt, der es um die Entwicklung des freien Individuums und weniger um institutionelle Dispositive zu tun war. 3 Vgl. Rüdiger Campe: James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man und die zwei Seiten des Romans. Bildung und Institution. In: IASL 41 (2016) 2, S. 356–375. 4 Zum Namen Kafka sollte noch angefügt werden, dass sich der Institutionenroman freilich nicht auf den Ort von Erziehung beschränkt; vielmehr ließe sich jede moderne Einrichtung oder institutionelle Praxis, die der Produktion und Regulierung von Lebensformen dient, als Schauplatz eines Romans der Institution denken. In seinen jüngsten Arbeiten verfolgt Campe das Problem sogar im Mann ohne Eigenschaften, einem Roman also, der der Frage nach der Institutionshaftigkeit moderner Prosa dahingehend auf den Grund geht, dass er nicht nur danach sich erkundigt, wie Institutionen Leben formen, sondern wie gesellschaftliche Einrichtungen selbst überhaupt erst zur Form gelangen. Vgl. Rüdiger Campe: Die Institution im Roman. Robert Musil. Würzburg 2020.
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Zeit ein oft und eingehend erkundetes ist. Man erinnere sich an Professor Unrat, Walsers Herrn Benjamenta oder Torbergs Gott Kupfer. Diese vertikale Kraftlinie, welche hierarchisierend zwischen Schulmeister und Schüler eine Unterscheidung trifft, wird zum anderen durch ein horizontales Gewaltgeschehen komplementiert, dementsprechend Schüler gegeneinander vorgehen und ihre Aggression gegen sich selbst eher denn gegen die Institution und ihre Repräsentanten einsetzen.⁵ Das horizontale Gewaltgeschehen, ist der Schülerschaft sozusagen immanent und oft verbunden mit einem Hochkochen jugendlicher Sexualität, wie es vielleicht am deutlichsten in den Verwirrungen des Zöglings Törleß zur Sprache kommt. Diese modernen wie zeitgenössischen Erkundungen des pädagogischen Imperativs ließen sich daher als Allegorien der Zucht bezeichnen, und zwar im dreifachen Sinne von Aufzucht, Züchtigung und Züchtung, dreier Begriffe, die allesamt in die Semantik des Begriffs Zögling eingeschrieben stehen. Was hier gezüchtet wird, ist allerdings nicht biologisches Leben per se, sondern jene Gewalt, die hinter und zwischen den agierenden Subjekten wirkt und ohne welche die institutionelle Fabrikation von Lebensform nicht denkbar wäre. Generell lässt sich sagen, dass der Institutionenroman der Erziehung ganz zentral auf die Vermehrung von Gewalt abstellt, diese Vermehrung abbildet, in die eigene Komposition einspeist, um endlich darüber vielleicht sogar die Kontrolle zu verlieren. In einem doppelten Sinn fungiert der Institutionenroman daher als Mediation von Gewalt: Während er uns auf der Ebene der Darstellung gewaltsame Begegnungen zeigt, findet er jenseits aller Darstellbarkeit im Prinzip der Gewalt die Möglichkeit seiner formalen Komposition. Anders gesagt, der Gehalt des Romans ist selbst Repräsentation der darin gezüchteten Gewalt. Was auch heißt, dass die Formen der Gewalt, die hier am Werk sind, stets vielfältiger und tiefgreifender sind, als das Urteil über ihre Repräsentation es einzuschätzen erlaubt.
2 Die Ökonomie des Masochismus Wenn wir uns für den Moment auf Musils Törleß konzentrieren, fällt sogleich ins Auge, dass das institutionelle Gestell, seine disziplinären Mechanismen sowie seine direkten Repräsentanten zunehmend in den Hintergrund treten, während das horizontale Gewaltgeschehen zwischen den Schülern mehr und mehr narrativen Raum einnimmt. Mit gutem Grund hat die Forschung am Roman den Misshandlungen des Schülers Basini, dessen Körper im Zentrum der Gewaltfantasien und
5 So ist etwa der Akt des Schülerselbstmords ein Topos, der in zahlreichen der in Frage stehenden Texte erkundet wird, etwa bei Hesse oder Torberg.
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-akte seiner Kollegen sitzt, große Aufmerksamkeit geschenkt. Freilich aber ist ein Gewaltgeschehen, das sich innerhalb der Institution abspielt, wobei es weder direkt der Institution entstammt (etwa als Druck von oben) noch sich als Rebellion gegen die Institution richtet, dennoch irgendwie von der Institution sanktioniert. Campe kann deshalb, mehr oder weniger im Vorbeigehen, behaupten, in den Sadismen, die sich im Laufe des Narrativs auf den Körper Basinis richten, kehre „die Gewalt des Grundes wieder, der im rechtstheoretischen wie im Musilschen Sinne der mystische Grund der Institution ist“.⁶ Diese Formulierung, die sich implizit an Jacques Derridas Argument in Force de loi orientiert, sieht im horizontalen Gewaltgeschehen zwischen den Zöglingen eine Wiederkehr jener Gewalt, die zur ursprünglichen Gründung der Institution allererst nötig gewesen war. Im Sinne Benjamins könnte man diese Gewalt als rechtssetzend bezeichnen, und zwar im Gegensatz zu konservativen, rechtserhaltenden Gewalten, die für den Fortbestand von Institutionen verantwortlich zeichnen. Benjamin erklärt denn auch konkret, dass das Verhältnis dieser beiden Gewaltformen eines von Urbild und Darstellung ist, etwa wenn er moniert, den deutschen Parlamenten fehle „der Sinn für die rechtsetzende Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist […]“⁷. Anders gesagt, jede existente Institution fungiert als Repräsentantin jener Grundgewalt, der sie ihre Existenz verdankt. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass der Roman der Institution diese Spannung auf eine komplexe Weise verhandelt, die seine eigenen formalen Prinzipien angeht: Die Gewalt innerhalb der Institution ist nicht bloß dargestellt, sondern die Darstellung selbst schuldet sich einer Grundgewalt, die sich im Dargestellten spiegelt.⁸ Das
6 Rüdiger Campe: Das Bild und die Folter. Robert Musils Törleß und die Form des Romans. In: Weiterlesen. Literatur und Wissen. Hg. v. Ulrike Bergermann u. Elisabeth Strowick. Bielefeld 2007, S. 121–147, hier S. 133. 7 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 2.1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 179–203, hier 190 (Herv. d. Verf.). In seiner Studie nimmt Benjamin überdies Bezug auf eine Form von Gewalt, die er „erzieherisch“ nennt und welche weder rechtssetzend noch rechtserhaltend wirkt. Ich gehe diesem enigmatischen Begriff nach im Band Forces of Education. Walter Benjamin and the Politics of Pedagogy, hg. v. Dennis Johannßen u. Dominik Zechner, London 2023, S. 5–8. 8 Campe weist in eine ähnliche Richtung, wenn er in Bezug auf den Mann ohne Eigenschaften schreibt: „Ich möchte […] zeigen, dass Institutionen […] nicht nur in bestimmten Momenten hervortreten, sondern Institutionalität darüber hinaus zu einem allgemeinen Programm der Kohärenz des Romantexts verallgemeinert ist.“ (Campe, Die Institution im Roman, S. 35 f.) Damit ist wiederum ein Argument gestärkt, dem Joseph Vogl schon 1987 das Fundament legte, indem er schrieb, der Törleß-Roman weise die „prozessuale Form“ von Erfahrung als „eigentlichen Gegenstand des Erzählens“ aus (Joseph Vogl: Grenze und Übertretung. Der anthropologische Faktor in Robert Musils ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.‘ In: Robert Musils „Kakanien“. Subjekt und Geschichte. Hg. v. Josef Strutz. München 1987, S. 60–76, hier S. 62).
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heißt, dass man sich den Roman selbst als Institution vorstellen kann, die eingerichtet werden will – und die in ihm dargestellten Gewaltphänomene sind sozusagen die apollinischen Nacheffekte der eigenen Instituierung. Die Weise, in der Campe so jene performative Gewalt, die eine Institution allererst ins Sein setzt, mit der Praxis des Sadismus in Beziehung bringt, spiegelt außerdem ein zentrales Argument von Gilles Deleuze in seiner Präsentation SacherMasochs. Dort geht Deleuze nämlich davon aus, dass der Masochist sich vom Sadisten dahingehend unterscheidet, dass Letzterer Institutionen gründen und errichten möchte, während jener das Abschließen von Verträgen anstrebt.⁹ Trifft diese Gegenüberstellung zu, dann lässt sich sagen, dass in den Sadismen, die sich innerhalb einer gegebenen Institution abspielen, nicht nur ein Echo jener Gründungsgewalt hörbar wird, die fürs Sein der Institution zuallererst verantwortlich ist.Vielmehr wäre diese Gründungsgewalt selbst in sich bereits sadistisch gewesen – sodass davon auszugehen ist, dass jedem institutionellen Gefüge – sei es medizinischer, militärischer, pädagogischer Natur – grundsätzlich ein sadistisches Element schon strukturell einmontiert ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Hinweis auf diese sadistische Gewalt, so grundlegend sie sein will, ausreicht, um Törleß’ Disposition verstehbar zu machen. Denn das Verhältnis des Zöglings zu diesen fundamentalen Akten sadistischer Gewalt nimmt sich recht kompliziert aus. Folgt man dem Argument, das Carl Niekerk vorschlägt, ist die Lage Törleß’ jedenfalls nicht auf jene Sadismen reduzierbar, in welchen Campe die Gründung der Institution gespiegelt sieht. So ist die Gewalt, die sich gegen Basini richtet, kontrastiert von Törleß’ Identifikation mit dem Opfer, was Niekerk als „einen grundlegenden Masochismus im Verhalten von Törleß“¹⁰ zu lesen empfiehlt. Es wäre zu simpel, diesen Masochismus schlicht als Pendant zu den ihn rahmenden sadistischen Ausbrüchen zu verstehen. Vielmehr eröffnet sich innerhalb der sadistischen Institution durch ihn etwas wie ein eroto-pädagogisches Gegenprogramm, das die Richtung von Törleß’ Entwicklungsgang vorgibt. Niekerk schlägt vor, dass dieser masochistische Entwicklungsgang im Laufe seiner Entfaltung drei Stufen durchschreitet: Erstens schließt der Zögling enge Freundschaft mit zwei jungen Männern, Beineberg und Reiting, deren aggressives Männerbild Törleß’ eigenem Mannsein krass widerspricht, wodurch er in eine quasi-feminine Haltung der Passivität und des Beobachtens gedrängt wird (eine passive Einstellung zum Sexualleben wird von Freud immer wieder als Masochismus gedeutet); zweitens 9 Vgl. Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus. In: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt a. M. 1980, S. 163–281, hier S. 176: „Der Sadist braucht Institutionen, der Masochist vertragliche Beziehungen.“ 10 Carl Niekerk: Foucault, Freud, Musil. Macht und Masochismus in den ‚Verwirrungen des Zöglings Törleß‘. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), S. 545–566, hier S. 552.
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sieht sich Törleß unfähig, sich an der sadistischen Gewalt gegen Basini, sobald diese ihren Lauf nimmt, zu beteiligen, stattdessen tut sich in der Position des skopophilen Beobachters die Möglichkeit der Identifikation mit dem Opfer auf, ja des Nacherlebens seiner Erniedrigungen am eigenen Körper; drittens und letztlich setzt sich Törleß über diese Identifikation hinweg, um die Haltung einer moralischen Überlegenheit einzunehmen. Man erinnere sich an jene Einvernahme, die Törleß am Ende des Romans vor der Internatsleitung vom Stapel lässt: Seine Haltung während der Befragung wird vom Erzähler als „trotzig“¹¹ bezeichnet, und die uneindeutige Reaktion der Zuhörer auf seine Ausführungen erzeugt bei ihm das „Gefühl einer hochmütigen Überlegenheit über diese älteren Leute, die von den Zuständen des menschlichen Inneren so wenig zu wissen scheinen“¹². Der Eindruck seiner moralischen Ausnahmestellung ist so stark, dass Törleß sich buchstäblich über seine Gesprächspartner erhebt, die Position desjenigen einzunehmen, der hier urteilt: „Er hatte sich aufgerichtet, so stolz, als sei er hier Richter […].“¹³ Nierkerk weist darauf hin, dass die drei Stadien der masochistischen Entwicklung Törleß’ eng mit jenem Schema korrespondieren, das Freud 1924 in ,Das ökonomische Problem des Masochismus‘ vorschlägt. Trotz seiner Kürze präsentiert dieser Text Freuds ausführlichste Befassung mit dem Phänomen. Seine Grundannahme liegt darin, den Masochismus als Effekt jener für das Leben so wichtigen „Legierung von Todestrieb und Eros“¹⁴ zu verstehen, die sich früh in der Entwicklung des Organismus abspielt. In diesem Stadium fallen der Masochismus und das, was Freud hier „Ursadismus“¹⁵ nennt, zusammen. In Freuds Darstellung wird jedenfalls zwischen drei Ausformungen der masochistischen Anlage unterschieden, die sich mit Niekerk auf Törleß rückbeziehen lassen: Zum einen gibt es den sogenannten „femininen Masochismus“, der auf die Herstellung einer radikalen Abhängigkeit und Passivität zielt und sich auf Törleß’ Zurückhaltung, ja seine Machtlosigkeit, was die Gewalt gegen Basini betrifft, umlegen lässt; dieser ist eingebettet in den „erogenen Masochismus“, die eigentliche Schmerzlust, welche sich in Törleß’ Identifikation mit dem Gewaltopfer spiegelt; und drittens spricht Freud 11 Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek b. Hamburg 2000 (Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 135. 12 Musil, Törleß, S. 136. Der Umstand, dass die offiziellen Vertreter der Institution erst zum Romanende auftauchen, um ihre Autorität abzusichern, bestätigt den oben angemeldeten Verdacht, dass die auffällige Abwesenheit der Schulmeister in Musils Roman einem horizontalen Gewaltgeschehen Platz macht. 13 Musil, Törleß, S. 136. 14 Sigmund Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: ders.: Studienausgabe. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1975, S. 339–361, hier S. 348. 15 Freud, Masochismus, S. 348. Dies ontologische In-eins-Setzen der beiden Perversionen wird im weiteren Verlauf des Jahrhunderts starke Kritik erfahren, zumal durch Deleuze am erwähnten Ort.
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vom „moralischen Masochismus“, der sich in der eben angedeuteten moralischen Überlegenheit äußert, die Törleß am Ende während der Einvernahme durch die Schulleitung an den Tag legt. Ohne die Stichhaltigkeit von Freuds Schema und Niekerks Annahmen weiter zu kommentieren, soll es im Folgenden vor allem um jenes Element im Masochismus gehen, worin Freuds Argument gipfelt, und das für ein Verständnis von Törleß’ Lage am unabdingbarsten sich erweist – nämlich das moralische. Diese dritte und vergeistigte Form des Masochismus spielt sich nicht, wie die anderen beiden, auf einer intersubjektiven Ebene ab, sondern vollzieht sich im Organismus selbst, als Konflikt zwischen Ich und Über-Ich, und zwar sofern letzterem die Funktion des Gewissens zugeschrieben werden kann. Das Über-Ich, schreibt Freud, „ist dadurch entstanden, daß die ersten Objekte der libidinösen Regungen des Es, das Elternpaar, ins Ich introjiziert wurden, wobei die Beziehung zu ihnen desexualisiert wurde, eine Ablenkung von den direkten Sexualzielen erfuhr“¹⁶. Dieser Vorgang ist grundlegend für die Überwindung des Ödipuskomplexes und zeitigt als weiteren Effekt die Installation einer moralischen Autorität im Gewissen, welche gleichsam von den Eltern „geborgt“ ist – desexualisiert und introjiziert bleibt von den externen Vorbildern rein deren Macht. Für den Konnex mit Musil ist entscheidend, dass sich Freud in diesem Zusammenhang explizit auf Immanuel Kant bezieht, dessen Moralphilosophie als Modell der finalen, post-erogenen Ausformung des Masochismus herangezogen wird. Freud argumentiert, dass sich der moralische Masochismus in der Form eines übertriebenen Strafbedürfnisses äußere, das sich an das im Über-Ich angesiedelte schlechte Gewissen adressiert. Die Introjektion der elterlichen Autorität, die endlich zur Einrichtung des Über-Ichs führte, wodurch der Ödipuskomplex ersetzt werden konnte, markiert Freud als den Ursprung aller subjektiven Moral: „Der Ödipuskomplex erweist sich so, wie bereits historisch gemutmaßt wurde, als die Quelle unserer individuellen Sittlichkeit (Moral).“¹⁷ Als philosophischer Zeuge dieses Umstands wird im selben Zusammenhang denn auch Immanuel Kant aufgerufen, hinsichtlich dessen Freud behauptet, „der kategorische Imperativ Kants ist so der direkte Erbe des Ödipuskomplexes“¹⁸. In ihm formuliert sich gleichsam die Härte, das Grausame, die Unerbittlichkeit des im Über-Ich wirksamen Gewissens. Der kategorische Imperativ leitet sich mithin nicht aus den Gesetzen der Vernunft ab, sondern findet seine organische Basis in der desexualisierten Verinnerlichung el-
16 Freud, Masochismus, S. 350. 17 Freud, Masochismus, S. 351. 18 Freud, Masochismus, S. 351.
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terlicher Autorität. In diesem Sinne ist Moral der Effekt einer Umwertung von Machtpotentialen.
3 Szenen des Lesens Kehren wir vor diesem Hintergrund zu Musil zurück, offenbart sich mehr als eine kuriose Koinzidenz, wenn wir daran erinnern, dass der Name Kant im Törleß-Roman eine durchaus nicht nebensächliche Rolle einnimmt. Verwirrt über den referentiellen Charakter irrationaler Zahlen sucht Törleß eines Tages das Gespräch mit seinem Mathematiklehrer, von dem er sich Aufklärung über die dunklen Klüfte der mathematischen Erkenntnis erwartet. Im bescheidenen Apartment der Lehrperson fällt Törleß’ Blick allerdings auf ein Buch, das sich als ein zentrales Werk Immanuel Kants herausstellt. Zu Beginn seiner Abhandlung über den Zynismus geht Peter Sloterdijk kurz auf diese Episode in Musils Roman ein und identifiziert den in Frage stehenden Kant-Band als die Kritik der reinen Vernunft. ¹⁹ Bei Musil lesen wir allerdings – und diese Worte sind dem Lehrer in den Mund gelegt –, dass jenes Buch, welches die Aufmerksamkeit des Zöglings so stark auf sich zieht, „die Bestimmungsstücke unseres Handelns“²⁰ enthalte. Es ist also davon auszugehen, dass sich die Episode nicht die reine, sondern die praktische Vernunft zum Problem macht, und dass also Törleß’ Mathe-Lehrer sich in seinen freien Minuten Kants Moralphilosophie widmet. Obwohl sein exakter Titel nicht genannt wird, handelt es sich also wohl entweder um die Metaphysik der Sitten, deren Grundlegung oder Kants Zweite Kritik – mithin genau um jene Texte, in welche laut Freud die Entwicklung und zunehmende Vergeistigung des Masochismus münden. Nach seiner Begegnung mit dem ominösen Gegenstand kann sich Törleß das Kant-Buch des Lehrers nicht mehr aus dem Kopf schlagen. So lesen wir, dass er sich am nächsten Tag gleich der Mission verschreibt, eine „Reklamausgabe jenes Bandes [zu kaufen], den er beim Professor gesehen hatte“²¹. Gleich die erste Pause reserviert er, um mit der Lektüre zu beginnen; jedoch führt die sich entfaltende Leseszene unmittelbar zur Enttäuschung: [V]or lauter Klammern und Fußnoten verstand er kein Wort und wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.
19 Vgl. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1983, S. 16. 20 Musil, Törleß, S. 77. 21 Musil, Törleß, S. 80.
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Als er nach etwa einer halben Stunde erschöpft aufhörte, war er nur bis zur zweiten Seite gelangt, und Schweiß stand auf seiner Stirne.²²
Sloterdijk kommentiert lapidar: „Der Schweißausbruch von Törleß nach zwei Seiten […] enthält soviel Wahrheit wie der ganze Kantianismus.“²³ Diese Wahrheit jedoch, so ist mittlerweile hoffentlich deutlich geworden, verhandelt einen masochistischen Mehrwert. Ist es doch schwer zu übersehen, dass die Szene des Lesens selbst zum masochistischen Ritus gerät, zu einer Lust am Schmerz, dessen Quelle die Lektüre selbst ist. Das Barthes’sche Diktum eines plaisir du texte legt somit die Patina einer eigentümlich negativen textuellen jouissance an. Obwohl die Lektüre schmerzt, setzt Törleß sie fort: Er beißt, schreibt Musil, „die Zähne aufeinander und las nochmal eine Seite weiter, bis die Pause zu Ende war“²⁴. Lesen ist ein masochistisches Verfahren. Vor dem Hintergrund dessen, was über die Entwicklung von Törleß’ Masochismus gesagt wurde, wird die Komplexität dieser Leseszene fassbarer. Denn nicht nur überschreitet Törleß im Romanverlauf das erogene wie das feminine Stadium des Masochismus, um endlich eine selbstbestimmte Haltung moralischer Arroganz einzunehmen – diese Entwicklung wird hier überdies durch eine Leseerfahrung vermittelt, die selbst am Masochismusbegriff teilhat und welche einen Text ins Treffen führt, in dem laut Freud die philosophischen Resultate des moralischen – und also vollendeten – Masochismus sich offenbaren. Es stellt sich also zunächst die Frage, wo innerhalb von Freuds Schema die Szene des Lesens einzuordnen wäre. Anders gesagt, wenn der Leseprozess selbst masochistischer Natur ist, welche Stufe des Masochismus wird darin offenbar? Ist Lesen moralisch motiviert? Oder bietet es uns einen Grund zur Annahme einer vierten masochistischen Modalität – einer Art textuellen Masochismus, der sich weder intersubjektiv noch im subjektiven Gewissen, sondern zwischen Lesendem und Gelesenem vollzieht? Diese Frage verkompliziert sich durch den Umstand, dass der infrage stehende Text die begrifflichen Früchte des moralischen Masochismus trägt. Woher also agiert der kategorische Imperativ? Von der Vernunft aus, oder aus den Buchseiten, die seinen Begriff bestimmen? Ist es der kategorische Imperativ, der uns schmerzt, wenn wir lesen? Oder vollzieht sich die Lektüre auf der Basis ganz anderer Imperative? Hängt das Lesen ab vom Folgen einer Maxime oder will es die Gesetzlosigkeit? Anders gefragt: Was heißt Lesen?
22 Musil, Törleß, S. 80. 23 Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, S. 16. 24 Musil, Törleß, S. 80.
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Bekanntermaßen wurde Kants kategorischer Imperativ schon des Öfteren im Zusammenhang unbändiger Gewalt, zumal einer sexuellen, verstanden. Nietzsche behauptet in der Genealogie der Moral lakonisch, der kategorische Imperativ rieche nach Grausamkeit.²⁵ Vor allem aber sind die Arbeiten Horkheimers und Adornos und späterhin Lacans zu erwähnen, die Kants Aufklärung vor dem Hintergrund jener Gewaltorgien lesen, die sich beim Marquis de Sade finden.²⁶ Musils Episode scheint sich nun in die Tradition dieses Diskurses einzuschreiben, allerdings nicht ohne dessen Parameter grundlegend zu verschieben. Denn hier wird das Problem als das einer masochistischen Leseerfahrung etabliert und perspektiviert. Mit einem zentralen Begriff Paul de Mans könnte man sagen, dass es sich bei Törleß’ KantLektüre um eine Allegorie des Lesens handelt. Sie geht keineswegs in ihrer phänomenalen Darstellung und also in ihrem thematischen Gehalt auf, sondern verweist als Ort der Gewalt auf alle anderen Formen von Gewalt, Zwang, Schmerz, und der Lust daran, deren Multiplikation das Narrativ des Romans sozusagen ausmacht. Das heißt nichts anderes, als dass sich die körperliche Gewalt, die sich beispielsweise gegen Basini richtet, nicht wesentlich von jener unterscheidet, die Törleß während seiner Kant-Lektüre erfährt. Und dennoch sind sie nicht identisch – denn die Leseszene enthält eine allegorische Tiefe, in der sich erst jener Raum auftut, in dem Repräsentationen von Gewalt Platz finden können. Die Allegorie des Lesens als Allegorie der Zucht züchtet die verschiedenen Formen von Gewalt, die Musils Roman gleichsam „befähigen“. Den Roman selbst als Gewaltvehikel zu verstehen, bringt es letztlich mit sich, auch unsere eigene Lage in Bezug auf diesen Text – will sagen, den Musil’schen – zu berücksichtigen. Törleß beim Lesen „zuzulesen“ impliziert freilich den Blick auf uns, die wir, Törleß’ Leseszene lesend, selbst den Törleß lesen. Wenn es wahr ist, dass Lesen in diesem Roman unter anderem Gewalt bedeutet, zumindest Schmerz erzeugt, dann ist diese Hypothese auch auf unser eigenes Verhältnis zu Musils Roman auszuweiten und wirft somit die Frage auf, ob die Musil-Lektüre selbst eine Erfahrung der Schmerzenslust offenbart. Freilich ist dieses Problem nicht auf den Törleß beschränkt. Vielmehr lässt sich sagen, dass die scène de lecture einen integralen Schauplatz masochistischer Verhältnisse markiert, wann immer sie literarisch zur Darstellung gelangt. In seiner Studie über Masoch entwickelt Deleuze den Gedanken, dass der Masochist die
25 Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. München 1999 (Kritische Studienausgabe, Bd. 5), S. 300 [II: § 6]. 26 Vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1988, S. 88–127; Jacques Lacan: Kant mit Sade. In: ders.: Schriften. Bd. 2. Hg. v. Norbert Haas. Olten 1975, S. 133–164. Eine von Mai Wegener neu durchgesehene und überarbeitete Fassung von Lacans Text findet sich auf der Webseite des Psychoanalytischen Salons Berlin: https://pasberlin.de/texte/ (letzter Zugriff: 28.06. 2023).
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Funktion eines Erziehers einnimmt. Er trage didaktisch dafür Sorge, dass sein Begehren entsprechend ausgetragen und exekutiert wird. Als der eigentliche Umsetzer der masochistischen Fantasie will sein Gegenüber zu diesem Zweck hinreichend abgerichtet sein. Deleuze kommentiert kurzerhand: „hier nun ist alles Überredung und Erziehung.“²⁷ Dem Masochisten ist es um die erzieherische Einweisung ins Curriculum seines Begehrens zu tun. Und dazu bedarf es eines bestimmten pädagogischen Programms und einer Reihe erzieherischer Gesten: „Der Masochist muß sich seine Despotin heranbilden, er muß sie überreden.“²⁸ Bei Deleuze liegt der Fokus der Analyse dieses Umstands auf dem Problem der Rhetorik, das heißt, dass er sich vorwiegend für die sprachlichen Mittel interessiert, welche die Überredung und Erziehung zur Despotin ermöglichen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass der Masochismus seine eigene Lektüreliste registriert – und dass, über die Rhetorik des Erziehens und Überredens hinaus, Szenen des Lesens die Ökonomie der masochistischen Disposition wesentlich strukturieren. Man denke diesbezüglich bloß an den Anfang von Venus im Pelz, da der Erzähler der Rahmenhandlung aufgeweckt wird, weil er bei der Hegel-Lektüre eingeschlafen war.²⁹ Für Deleuze ist dies bereits Grund genug, anzunehmen, dass der Masochist im Kern ein Dialektiker sei, ein Idealist.³⁰ Innerhalb von Sacher-Masochs Roman gibt es auch noch zahlreiche weitere Leseszenen, welche die masochistische Situation determinieren. Aber auch wenn man sich näher ans Umfeld des Törleß heranbewegt, finden sich weitere einschlägige Beispiele solcher Lektüreakte. Da wäre etwa das Institut Benjamenta im Jakob von Gunten, worin es bloß ein einziges Schulbuch gibt, das sich allerdings nicht auf ein spezifisches Schulfach, sondern auf die Institution an sich bezieht: „Was bezweckt Benjamentas Knabenschule?“ heißt das Buch im Titel, womit angezeigt ist, dass hier völlig frei von pädagogischen Inhalten operiert wird und am Ende nur die Erziehungseinrichtung selbst als einzig noch möglicher Gegenstand der Vermittlung erhalten bleibt.³¹ Nichts wird hier
27 Deleuze, Sacher-Masoch und der Masochismus, S. 176. 28 Deleuze, Sacher-Masoch und der Masochismus, S. 177. In der Dialektik der Aufklärung entwickeln Adorno und Horkheimer ein Argument, das Deleuze dahingehend ergänzt, dass es den Sadisten als modernen Wissenschaftler vorstellt: „Juliette hat die Wissenschaft zum Credo. Scheußlich ist ihr jede Verehrung, deren Rationalität nicht zu erweisen ist […]. Sie operiert mit Semantik und logischer Syntax wie der modernste Positivismus“ (Horkheimer/Adorno, S. 104). Geriert sich der Masochist als Erzieher, ist der Sadist als Wissenschaftler zu verstehen – und zwar ganz in dem Sinne, dass er sein Gegenüber nicht als überredbares Subjekt, sondern als vollends vergegenständlicht und für den Gewalteinfluss bereit begreift. 29 Vgl. Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt a. M. 1980, S. 13: „Eine Schande in Kleidern einzuschlafen und noch dazu bei einem Buche […] von Hegel“. 30 Vgl. Deleuze, Sacher-Masoch und der Masochismus, S. 178: „Masoch ist Dialektiker.“ 31 Vgl. Robert Walser: Jakob von Gunten. Frankfurt a. M. 2013, S. 8.
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unterrichtet, kein Wissen wird verhandelt, kein Denken gefördert, keine Sprachen, keine Begriffe, keine Wahrheiten mitgeteilt; das einzig noch mögliche pädagogische Thema ist die Einrichtung der Pädagogik selbst, welcher Selbstbezug sich schließlich auch in einer gewaltsamen Monotonie der Didaktik niederschlägt: „Es gibt nur eine einzige Stunde, und die wiederholt sich immer“³², schreibt Walser. Der anfangs erwähnte Roman Heinrich Manns wiederum beginnt mit einer Leseszene, die sich auf Schiller bezieht, genauer auf dessen Jungfrau von Orleans. ³³ Als Unrats Klasse sich für ein schriftliches Examen zusammenfindet, bittet Professor Unrat den Primus mit dem sprechenden Namen Angst, das Prüfungsthema an die Tafel zu schreiben. Die Szene nimmt folgenden Verlauf: Alle sahen mit Spannung unter der Kreide die Buchstaben entstehen, von denen so viel abhing. Wenn es nun eine Szene betraf, die man zufällig nie „präpariert“ hatte, dann hatte man „keinen Dunst“ und „saß drin“. […] Schließlich stand dort oben zu lesen: „Johanna: Es waren drei Gebete, die du tatst; Gib wohl acht, Dauphin, ob ich sie dir nenne! (‚Jungfrau von Orleans‘, I. Aufzug. 10. Auftritt.) Thema: Das dritte Gebet des Dauphins.“ Als sie dies gelesen hatten, sahen alle einander an. Denn alle „saßen drin“. Unrat hatte sie „hineingelegt“.³⁴
Die hier sich entfaltende Szene des Lesens entwirft einerseits eine Art Genesis des Lektürevermögens, sieht man doch die Worte und Buchstaben auf dem Dunkel der Tafel erst entstehen, ganz als geschähe es zum ersten Mal, als würde hier gleichsam etwas wie Schrift und die Möglichkeit ihrer Entzifferung erst erfunden. Andererseits ist die Natur des hier auf dem Spiel stehenden Lesens eine entschieden sekundäre, denn der Akt des Ablesens von der Tafel ist im besten Fall für den Schüler einer des Wiederlesens, also des Wiedererkennens dessen, was man gelernt hat.
32 Walser, S. 8 f. 33 Kursorisch sei darauf hingewiesen, dass es oft klassische Texte sind, die hier eine Rolle spielen: Kant bei Musil, Hegel bei Sacher-Masoch, Schiller bei Heinrich Mann. Es ist davon auszugehen, dass in diesen Romanen der Institution, der Erziehung und der erzieherischen Gewalt das auf dem Spiel steht, was die Klassik Bildung nennt. 34 Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Frankfurt a. M. 2014, S. 11. Unrats Gemeinheit in diesem Zusammenhang zielt darauf ab, dass Johanna, bevor sie Karl das dritte Gebet nennen kann, von diesem mit den Worten „Genug! Ich glaube dir! Soviel vermag / Kein Mensch!“ unterbrochen wird. Die sich in Unrats Klassenzimmer entfaltende Szene fordert also ein Unmögliches: nämlich noch das Ungeschriebene und Ungesagte lesend zu entziffern: „es war, als hätten sie es nie gelesen. Der Primus und noch zwei oder drei […] waren sogar sicher, sie hätten es nie gelesen. […] Das dritte [Gebet] stand schlechterdings nicht da.“ (S. 12) Es scheint im Wesen der Gewalt des Lesens zu liegen, die Lektüre noch dessen zu verlangen, was schlechterdings nicht dasteht.
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Man wünscht sich eine Passage, die man gut kennt, genau studiert und oft schon gelesen hat. Die Lektüre eröffnet so keinen neuen hermeneutischen Horizont, sondern bestätigt schlicht ein bereits generiertes Wissen. Diese Dopplung im Wesen der Lektüre ist gerahmt vom Umstand, dass uns diese Szene zurück auf das Problem sadistischen Vergnügens führt, denn die Zermürbung auf Seiten der Schüler geschieht freilich zugunsten eines Lustgewinns seitens des Professors. Unrat, so erfährt man aus dieser Episode, macht sich einen sinistren Spaß aus der Angelegenheit – und keiner der Zöglinge kann eine sinnvolle Korrespondenz zwischen dem aus den Tiefen des Tafeldunkels hervorgetretenen Prüfungsthema und jenen intensiven Leseübungen erkennen, die man im Vorfeld dem Werk Schillers gewidmet hatte. Immerhin, „mit der Jungfrau von Orleans beschäftigte die Klasse sich seit Ostern […]. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa zurück in Verse“³⁵. All die transversalen Akte des Lesens führten letzten Endes zu nichts, da die Leseszene im Examen die Beteiligten in völliger Ratlosigkeit zurücklässt. Unrat hatte sie hineingelegt.
4 Der Schmerz der praktischen Vernunft Der kurze Hinweis auf Robert Walser und Heinrich Mann zeigt, dass die Frage des Lesens sich dem Roman der pädagogischen Institution an sich und nicht nur im Törleß stellt. Die Allegorie des Lesens als eine des Züchtens von Gewalt ist deshalb auch nicht auf Törleß’ Kant-Lektüre reduzierbar, vielmehr zeigt sich Musils Leseszene einer Tradition verpflichtet, die mindestens bis Sacher-Masoch zurückreicht. Romane, deren Sache die Gewalt ist, drehen sich nicht zuletzt um die Gewalt des Lesens und damit auch ums Gewaltsame ihrer eigenen Lektüre. Wie die Beispiele zeigen, markiert die Szene des Lesens den privilegierten Ort der Vermittlung jener Arten von Gewalt, die den modernen Roman der pädagogischen Institution bedingen. Die Allegorie des Lesens, die immer auch unsere eigene Position zum Text befragt, impliziert und destabilisiert, wird zum Brennpunkt, der die verschiedenen Formen der Gewalt konzentriert, deren Multiplikation das Narrativ strukturiert. Wenn wir vor diesem Hintergrund zu Törleß und seiner Begegnung mit Kant zurückkehren, so ist der Gegenstand seiner Lektüre noch einmal exakter auf das hin zu befragen, was denn genau an diesem Lesen schmerzvoll ist. In dieser Hinsicht ist das schale Argument kaum zufriedenstellend, eine Kant-Lektüre, zumal
35 Mann, Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen, S. 12.
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eine initiale, sei eben schon aufgrund ihres immensen Schwierigkeitsgrads schmerzhaft. Wenn die Prominenz des Namens Kant bei Musil keine zufällige ist und wenn es Kants Moralphilosophie ist, die Musil ins Zentrum seiner Allegorie des Lesens stellt und wenn, drittens, diese Allegorie eine Art von Gewalt züchtet, die sich nicht auf die Repräsentation körperlicher Misshandlung reduzieren lässt, dann ist es notwendig, einen genauen Blick auf die Rolle des Schmerzes innerhalb der Struktur der praktischen Vernunft selbst zu werfen. Mit Freud konnte man sehen, dass der Name Kant in der Psychoanalyse für die Vergeistigung der Schmerzenslust und also für den Terror des subjektiven Gewissens steht. Will man diesen Konnex zwischen der Ökonomie des Masochismus und den transzendentalen Maximen der praktischen Vernunft ernst nehmen, so ist letztlich der Kant’sche Text selbst dahingehend zu befragen, ob und wie sich um den kategorischen Imperativ so etwas wie Schmerz freisetzt. Und welche Art von Schmerz wäre das, die direkt von der Vernunft ausginge? Ist auch mit diesem Schmerz etwas wie Lust verbunden – und wem gebührte das Empfinden derselben, wo doch der Imperativ der Moral sich über jedweden Sinneseindruck erhaben zeigt? Kant geht auf dieses Problem nicht ausführlich ein, aber er streift es. Den „Triebfedern der Reinen Praktischen Vernunft“ nachgehend, schreibt er im Dritten Hauptstück der Zweiten Kritik, dass die Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz diesen nicht seiner Freiheit beraubt, sondern ihn unter „Abweisung“ „sinnlicher Antriebe“ erst zu einem freien mache. Der freie Wille bestimmt sich mithin durch den „Abbruch aller Neigungen“, sofern diese dem Gesetz zuwiderlaufen.³⁶ Dies wirft die Frage danach auf, was denn der Abbruch der Neigungen durch das Gesetz genau für unseren Gefühlshaushalt bedeutet. Kant behandelt dieses Problem in einer eigentümlich aporetischen Passage: „alle Neigung“ schreibt er, und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl. Folglich können wir a priori einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unseren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirken müsse, welches Schmerz genannt werden kann und hier haben wir nun den ersten, vielleicht auch den einzigen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältnis eines Erkenntnisses (hier ist es einer reinen praktischen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust bestimmen konnten.³⁷
36 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 192 [A 128, 129]. 37 Kant, S. 192 f. [A 129, 130].
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Was hier zur Sprache steht, ist nichts Geringeres als die Möglichkeit eines aller empirischen Neigungen entbundenen Gefühls, das sich voll aus der reinen Vernunfterkenntnis erschließt. Kant argumentiert, das Gefühl der Ausschaltung aller Gefühle sei selbst noch Gefühl; und der Name, den er diesem Gefühl verleiht, das den Abbruch all unserer Neigungen anzeigt und eigentlich keins mehr ist, ist Schmerz. Dieser Schmerz ist allerdings kein empirischer mehr, sondern eine Art transzendentaler Schmerz, ein Gefühl a priori.³⁸ Wenn aller sinnliche Antrieb auf Gefühl gründet, dann entsteht für Kant als transzendentaler Schmerz jene Art von Gefühl, die bleibt, wenn alle Neigung gebrochen ist, mithin ein Gefühl, das die eigene Unausdrückbarkeit im Sinnlichen erträgt. Die Unmöglichkeit der Äußerung dieses Gefühls artikuliert sich im Schmerz – einem solchen allerdings, der voll vom Empirischen getrennt ist, der unfühlbar bleibt und sich nicht in sinnliche Antriebe übertragen lässt. Es ist der Schmerz, der in der reinen praktischen Vernunft selbst statthat, als die A-priori-Verbindung zwischen Vernunft und Unlust. In diesem Sinne äußert sich im Schmerz der Vernunft die Unfähigkeit der Gefühlsäußerung im Sinnlichen. Es ist das Gefühl, das entsteht, wenn es Gefühlen untersagt ist, sich zu äußern – das Gefühl, dem die eigene Unfähigkeit zu fühlen schmerzt. Es ist das Schmerzgefühl über den Verlust aller Gefühle. Kurzum, ein Gefühlsunmöglichkeitsgefühl. Es ist zweifelhaft, ob Freud diese Passage vor Augen stand, als er im ,Ökonomischen Problem des Masochismus‘ Kant als Modell dessen setzte, was er „moralischen Masochismus“ nennt. Tatsächlich zeigt der Abschnitt aus der Kritik der praktischen Vernunft, dass schon in der Struktur der Sittlichkeit selbst ein masochistisches Element am Werk ist. Dieses Element hat seinen Platz allerdings nicht im Gewissen, sondern im Gesetz der Vernunft und ist mithin transzendentaler Natur. Die Erkenntnis des Vernunftgesetzes erzeugt einen Schmerz, der jenseits dessen residiert, was sich empirisch darstellen lässt. Es ist ein Unbehagen a priori. In Kant scheint sich also etwas wie ein transzendentaler Masochismus zu formieren, der noch vergeistigter ist als der moralische bei Freud und bei welchem das Verhältnis der reinen praktischen Vernunft zu Lust und Unlust auf dem Spiel steht. Vor diesem Hintergrund wird klar, weshalb Törleß’ Leseszene so entscheidend ist. Kants Präsenz im Roman ist, das wurde deutlich, kein Zufall. Das Lesen seiner
38 In seinem unlängst erschienenen Fragment Andere Schmerzen diskutiert Werner Hamacher einen ähnlichen Moment in Kants Anthropologie, worin der Schmerz „allen objektiven Erfahrungen vorausgeh[t]“. Damit ist nichts anderes gesagt, als dass der Schmerz ein Gefühl ist, das sich der Erfahrung von Gefühlen vorlagert – mithin ein Gefühl, das noch unserer Fähigkeit zu fühlen vorausgeht. Ohne Schmerz kein Schmerz, denn wo immer gefühlt wird, hat sich ein Schmerzen schon vollzogen. Vgl. Werner Hamacher: Andere Schmerzen. Zürich 2022, S. 79 f. Vgl. außerdem die Bezugnahme auf Kants Tugendlehre bei Adorno/Horkheimer, S. 102.
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Moralphilosophie eröffnet einen Raum, der zwischen empirisch Darstellbarem und unausdrückbarem Apriori suspendiert ist. Die Kant-Lektüre umfasst so das gesamte Spektrum von Gewalt- und Schmerzerfahrung, deren diverse Ableger (oder Zöglinge) den Musil’schen Roman bevölkern. Als Urort der Gewalt, der Ort einer Gewalt a priori, bieten die Szene des Lesens und ihre Allegorie der Zucht den ontologischen Grund all jener Gewaltphänomene, die im Lauf des Narrativs verhandelt werden. In der Leseszene verbindet sich die noumenale, gesetzgebende, rechtsetzende, undarstellbare Gewalt der praktischen Vernunft mit der vorstellbaren Gewalt, die zwischen empirischen Phänomenen waltet. Kein anderer Moment in Musils Roman schlägt diese Brücke zwischen materieller Gewalt und reiner Vergeistigung. Als ihr absoluter Grund ist die Szene des Lesens keiner der beiden Gewaltformen verpflichtet, geschweige denn auf eine der beiden zu reduzieren. Erst in der Allegorie des Lesens haben sie ihren Platz. Erst aus ihr werden sie gezüchtet. Lektüren des Törleß, die auf die Misshandlungen Basinis abstellen, ohne die Gewalt des Lesens zu berücksichtigen, greifen daher zu kurz. Die Gewalt gegen Basini ist nicht grundsätzlich verschieden von der Gewalt des Lesens, sondern wird von ihr ermöglicht und durch sie vermittelt. Die Erfahrung der Kant-Lektüre eröffnet das volle Gewaltpotential – von der empirischen Gewalt, die im Roman ihre Darstellung findet, zum transzendentalen Masochismus a priori, der jeder Darstellung vorgelagert ist. Die Allegorie des Lesens muss sich noch diesem a priori vorlagern, um das volle Gewaltpotential des Romans zu vermitteln. Die Szene des Lesens – unsere und die des Zöglings – züchtet die unerschöpfliche Möglichkeit dieser Gewalt. Ihr materieller Gehalt findet seinen Ort in den verschiedenen Hinterzimmern und Dachkammern, worin der Roman seine Geschichte erzählt – und hat sein Pedant in der Gewalt der reinen praktischen Vernunft, die allem sinnlichen Nachvollzug Abbruch tut. Die Allegorie des Lesens entfaltet das Spektrum dieser Opposition. Entsprechend wurde im Vorangehenden gezeigt, dass die Romane der erzieherischen Institution im frühen 20. Jahrhundert allesamt ein Gewaltgeschehen verhandeln, in dem jene Gewalt sich repräsentiert, der die Form des Institutionenromans selbst geschuldet ist. Geht man diesem Gewaltgeschehen nach, stößt man einerseits auf sadistische Phänomene, die den Akt des Instituierens von Form gleichsam nachvollziehen – und Praktiken des Masochismus andererseits, die sich zunehmend vergeistigen und die Frage nach der Einrichtung von Form mit jener nach dem Ursprung von Sittlichkeit kreuzen. Der einzige Punkt, worin all diese Gewaltformen – die empirische wie die intellektuelle, die vorgestellte wie die undarstellbare – sich überlagern, ist die Szene des Lesens. Indem er Törleß an der Kant-Lektüre scheitern lässt, entwirft Musil eine Allegorie des Lesens als Allegorie der Züchtung von Gewalt – nämlich insofern, als das Lesen erst jenen Raum auftut, in welchem die Spannung zwischen empirischer Gewaltanwendung und rein in-
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tellektuellem Schmerz (als Gefühl a priori) sich vollzieht und die den Roman antreibenden Gewaltformen sich entwickeln können. Der Allegorie des Lesens gegenüber können wir keinen sicheren Platz im Außerhalb einnehmen, sondern sie betrifft immer auch uns, die wir Törleß beim Lesen lesen.
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W./Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1988, S. 88–127. Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2.1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 179–203. Campe, Rüdiger: Das Bild und die Folter. Robert Musils Törleß und die Form des Romans. In: Weiterlesen. Literatur und Wissen. Hg. v. Ulrike Bergermann u. Elisabeth Strowick. Bielefeld 2007, S. 121–147. Campe, Rüdiger: James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man und die zwei Seiten des Romans. Bildung und Institution. In: IASL 41 (2016) 2, S. 356–375. Campe, Rüdiger: Die Institution im Roman. Robert Musil. Würzburg 2020. Deleuze, Gilles: Sacher-Masoch und der Masochismus. In: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt a. M. 1980, S.163–281. Freud, Sigmund: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: ders.: Studienausgabe. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1975, S. 339–361. Hamacher, Werner: Andere Schmerzen. Zürich 2022. Johannßen, Dennis/Dominik Zechner (Hg.): Forces of Education. Walter Benjamin and the Politics of Pedagogy. London 2023. Johnson, Barbara (Hg.): The Pedagogical Imperative. Teaching as a Literary Genre. Yale French Studies 63 (1982). Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974. Lacan, Jacques: Kant mit Sade. In: ders.: Schriften. Bd. 2. Hg. v. Norbert Haas. Olten 1975, S. 133–164. Mann, Heinrich: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Frankfurt a. M. 2014. Niekerk, Carl: Foucault, Freud, Musil. Macht und Masochismus in den „Verwirrungen des Zöglings Törleß“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), S. 545–566. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. München 1999 (Kritische Studienausgabe, Bd. 5). Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek b. Hamburg 2000 (Gesammelte Werke, Bd. 2). Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1983. Vogl, Joseph: Grenze und Übertretung. Der anthropologische Faktor in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.“ In: Robert Musils „Kakanien“. Subjekt und Geschichte. Hg. v. Josef Strutz. München 1987, S. 60–76.
Autorinnen und Autoren Artur R. Boelderl ist Universitätsdozent für Philosophie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und Senior Scientist am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv ebenda. Neben der laufenden Arbeit am Ausbau des Editionsportals MUSIL ONLINE (https://edition.onb.ac.at/ musil) gelten seine Forschungsinteressen vornehmlich dem französischen Denken des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart sowie der (digitalen) Literaturvermittlung. Homepage: https://www.aau.at/team/boelderl-artur-reginald/, E-Mail: [email protected] Giordano Dal Poz hat im Juni 2023 an der Universität L’Orientale (Neapel) mit einer Dissertation mit dem Titel Il campo del sapere. L’opera di Musil come poetica dell’organizzazione [Das Feld des Wissens. Musils Werk als Organisationspoetik] promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte richten sich vorwiegend auf die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere auf die Beziehungen zwischen literarischer Produktion und (natur‐)wissenschaftlichem Diskurs. E-Mail: [email protected] Franz Fromholzer ist Privatdozent am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Frühen Neuzeit, der Klassischen Moderne und der Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschien Die Sprache der Physis. Friedrich Nietzsche und die Heraufkunft der Theatrokratie (2023). Homepage: https://www.uni-augsburg.de/de/fakultaet/philhist/professuren/germanistik/neuere-deut sche-literaturwissenschaft/team/franz-fromholzer/, E-Mail: [email protected] Till Greite hat 2022 im Rahmen einer bi-nationalen Betreuung mit der Arbeit Die leere Zentrale. Berlin, ein Bild aus dem deutschen Nachkrieg (Göttingen: Wallstein i. Vb.) promoviert. Derzeit im Goethe-Projekt von Associate Professor Joel B. Lande (Princeton University) tätig, ist er im akademischen Jahr 2023/24 Postdoc-Fellow an der School of Advanced Study der University of London mit dem Forschungsprojekt Michael Hamburger and the No Man’s Land of Languages zum deutsch-jüdischen Exil in UK. Aktuelle Forschungsinteressen im Bereich der Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insb. Sprache und Exil, theoretische Schwerpunkte auf der Phänomenologie, Hermeneutik und Philosophischen Anthropologie. E-Mail: [email protected] Christian Heinrichs ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er promoviert zu Erzählimperien bei Christian Kracht; sein Forschungsinteresse gilt (post‐)modernen Identitätskonzepten (insbesondere Adoleszenznarrativen), Fragen der Interkulturalität und Postcolonial Studies sowie Literatur und/als Spiel. https://www.germanistik.hhu.de/abteilungen/abteilung-ii-neuere-deutsche-literaturwissenschaft/univprof-dr-henriette-herwig/team/christian-heinrichs, E-Mail: [email protected] Ricarda Hirte ist Universitätsprofessorin für deutsche Philologie an der Universidad de Córdoba in Spanien und lehrt zudem in den Translationswissenschaften und im Masterstudium für Übersetzung. Ihre Forschung konzentriert sich vornehmlich auf die Verbindung von Literatur und Psychologie und Interkulturalität. ORCID 0000-0002-8582-1259. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110988352-018
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Autorinnen und Autoren
Sebastian Hüsch ist Professor für Ideengeschichte an der Universität Aix-Marseille und Mitglied der Forschungseinheit Centre Gilles Gaston Granger UMR 7304. Neben ideengeschichtlichen Problemstellungen liegen seine Forschungsschwerpunkte in der Geschichte der Philosophie (18.–21. Jh.), der Existenzphilosophie, der Religionsphilosophie, sowie in Fragestellungen zum Verhältnis von Philosophie und Literatur. Aktuelle Veröffentlichungen: Das Konzept ‚Leben‘ in der Philosophiegeschichte (hg. m. Oliver Victor 2023); ,Geistlosigkeit. Reflexionen zur Aktualität von Søren Kierkegaards Konstruktion des Selbst im Spannungsfeld von Immanenz und Transzendenz‘; ,Das Selbst im Spannungsfeld von Denken und Existenz. Indirekte Mitteilungsverfahren in der Existenzphilosophie Søren Kierkegaards und im Zen-Buddhismus‘ (2021). Homepage: https://centregranger.cnrs.fr/spip.php?article782; E-Mail: [email protected] Ludwig Janus ist ärztlicher Psychotherapeut in eigener Praxis in Dossenheim bei Heidelberg. Seine Interessengebiete sind Geschichte der Psychoanalyse, Pränatale Psychologie und Psychohistorie. Speziell hat er sich für die Förderung der vorgeburtlichen Mutter-Kinderbeziehung engagiert, s. www.bin dungsanalyse.de. Zusammen mit dem Neonatologen Otwin Linderkamp ist er Leiter des Instituts für Pränatale Psychologie und Medizin in Heidelberg, s. www.praenatalpsychologie.de. Homepage: http://www.Ludwig-Janus.de, E-Mail: [email protected] Lilith Jappe ist Coach für Stimme und Neurosystemische Integration®, ganzheitlich-integrative Traumaarbeit und begleitet Menschen seit 2013 in ihrer persönlichen und stimmlichen Entfaltung. Forschungsschwerpunkt ist das Verständnis des Menschen, auch in der Literatur. Ihre Dissertation zu Robert Musil mit dem Titel Selbstkonstitution im Mann ohne Eigenschaften und in der Psychoanalyse erschien 2011 in den Musil-Studien. Homepage: https://www.stimme-entfalten.de, E-Mail: [email protected] Gunther Martens ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Gent, Belgien. 2005 Gastforscher an der Universität Hamburg. 2007 bis 2010 Professor an den Universitäten Brüssel (VUB) und Antwerpen (UA). Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts; enzyklopädische Literatur; Narratologie; Computerphilologie. Er war Vorsitzender des European Narratology Network (ENN, 2015–2017) und ist derzeit Vorstandsmitglied der Internationalen Robert-MusilGesellschaft (IRMG). Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschriften Alexander Kluge-Jahrbuch und Authorship und Mitglied im Beirat der Musil-Studien. Neueste Publikationen über Online-Literaturkritik anhand von Machine Learning und Neurodiversität. Homepage: http://users.ugent.be/~gnmarten/, E-Mail: [email protected] Ansgar Mohnkern lehrt Deutsche und Allgemeine Literatur an der Universität von Amsterdam. Er ist Autor einer Vielzahl von Büchern und Aufsätzen über Literatur, Philosophie, Gesellschaft und Ideologie. Monografien: Metapher, Wiederholung, Form. Zu Goethes Unbegrifflichkeiten (2012), Grund: Szenen einer Metapher (2021), Gegen die Erzählung: Melville, Proust und die Algorithmen der Gegenwart (2022), Einer verliert immer. Reflexionen über Fußball und Ideologie (2023, i. Vb.). Sammelband: Kulturelle Anatomien: Gehen (hg. m. Daniela Hahn und Rolf Parr 2017). Homepage: https://www.uva.nl/profiel/m/o/a.k.mohnkern/a.k.mohnkern.html, E-Mail: [email protected] Barbara Neymeyr ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Literatur, Ästhetik und Philosophie (18.–20. Jh.). Monographien über Schopenhauers Ästhetik (1996), Kafkas Beschreibung eines Kampfes (2004), Musils
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Roman Der Mann ohne Eigenschaften (2005) und seine Essays (2009), intertextuelle Transformationen von Goethes Werther (2012). Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen (2 Bde, 2020). Sammelbände zum Stoizismus (2008), zu Nietzsche (2012) und Büchner (2013). Homepage: https://www.aau.at/germanistik/sprach-und-literaturwissenschaft/team/neymeyr-barbara/, E-Mail: [email protected] Oliver Pfohlmann arbeitet als freier Literaturwissenschaftler und Kritiker für Zeitungen und Rundfunk. Er verfasste für die Reihe Rowohlts Monographien den Band Robert Musil (2012), einen Kommentar zu Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Suhrkamp BasisBibliothek, 2013) sowie mehrere Beiträge für das Robert-Musil-Handbuch (2016). In seiner Dissertation widmete er sich dem Komplex Musil – Psychoanalyse – psychoanalytische Literaturwissenschaft („Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht“? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil 2003). Homepage: https://www.oliverpfohlmann.de, E-Mail: [email protected] Harald A. Wiltsche ist Professor für theoretische Philosophie an der Universität Linköping, Schweden. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der allgemeinen Wissenschaftstheorie unter besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Physik, der Erkenntnistheorie und der Phänomenologie. Neben zahlreichen Journalartikeln ist er Verfasser einer Einführung in die Wissenschaftstheorie (bei UTB 2013, 22022) und Herausgeber des Sammelbandes Phenomenological Approaches to Physics (2022) als Teil der Synthese Library (Springer). 2023 erscheint der von ihm mitherausgegebene Sammelband Phenomenology and QBism: New Approaches to Quantum Mechanics in der Routledge Series in the Philosophy of Mathematics and Physics. Homepage: http://www.haraldwiltsche.com, E-Mail: [email protected] Pascal Zambito ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für theoretische Philosophie der LMU München. Er war Feodor-Lynen-Stipendiat an der Universität Wien mit einem Projekt zu Dichtung und Philosophie der Wiener Moderne. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind Wittgenstein, sein intellektuelles Umfeld und die systematischen Implikationen seiner Philosophie. 2023 erscheint ein von ihm mitherausgegebener Sammelband zu Wittgenstein und Nietzsche. E-Mail: [email protected] Dominik Zechner ist Assistant Professor of German an der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey. Zuvor war er als Forscher am Pembroke Center der Brown University tätig. Er promovierte an der New York University mit einer Dissertation zum Werk Kafkas. Er ist der Herausgeber von Forces of Education: Walter Benjamin and the Politics of Pedagogy (Bloomsbury 2023) und Thresholds, Encounters: Paul Celan and the Claim of Philology (SUNY 2023). Homepage: www.dominikzechner.com, E-Mail: [email protected]
Personenregister Abrams, Meyer Howard 155 Adler, Alfred 196, 285 Adorno, Theodor W. 295, 308, 342, 343, 347 Agamben, Giorgio 235 Alewyn, Richard 23, 34 Arendt, Hannah 280 Aristophanes 324 Aristoteles 19, 43 f., 75, 185, 296 Arntzen, Helmut 43, 269 Aurnhammer, Achim 211 Bachofen, Johann Jakob 210 Bahr, Hermann 215, 219, 235, 240 Barthes, Roland 292, 320, 341 Baudouin, Charles 280 Beckett, Samuel 159, 270, 278 Benjamin, Walter 210, 306, 336 Benn, Gottfried 275 Bernhard, Thomas 116, 280 Bernheim, Hippolyte 241 Bion, Wilfred 153 Bischof, Norbert 100, 109 Blei, Franz 16 f., 40, 311 Bleuler, Eugen 196, 270 Bloch, Ernst 295 Blumenberg, Hans 32, 59, 61 Boelderl, Artur R. 13, 285 Böhme, Hartmut 9, 322–327 Bollnow, Otto Friedrich 29 Bonacchi, Silvia 137 Böschenstein, Bernhard 28 Bouveresse, Jacques 58, 63 f., 71 Brentano, Franz 18, 49, 60, 98 Breuer, Josef 196 f., 202, 205, 240 Buber, Martin 325 Büren, Erhard von 45, 197 Burke, Edmund 75 f. Busch, Walter 79, 81, 84 Campe, Rüdiger 9, 333 f., 336 f. Cantor, Georg 125–128, 130 f. Charcot, Jean-Martin 199, 220, 241 Connor, Steven 270 https://doi.org/10.1515/9783110988352-019
Corino, Karl 180, 195, 205, 207, 261, 268, 271 Courbet, Gustave 243 Cremerius, Johannes 195 Cytowic, Richard E. 270, 271 Dalí, Salvador 159 De Jaegher, Hanne 268 de Man, Paul 342 Dehaene, Stanislas 286 Delbrück, Anton 204 Deleuze, Gilles 299, 337, 338, 342 f. Derrida, Jacques 315, 336 Descartes, René 60, 64 di Gaspero, Matthias 227 Didi-Huberman, Georges 220 Dober, Benjamin 59 Döblin, Alfred 275 Donath, Alice (née Charlemont) 204, 205, 207, 209, 212, 213 f. Donath, Gustav (Gustl) 205, 212, 214 Döring, Sabine A. 50 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 230 Duncker, Karl 97 Dürer, Albrecht 244 Duttlinger, Carolin 280 Eco, Umberto 116 Ehrenfels, Christian von 9, 49, 96, 267 Eichendorff, Joseph von 103, 295 Einstein, Albert 2, 117–122, 132 f., 325 Emerson, Ralph Waldo 1 Escher, M[aurits] C[ornelis] 283 Fanta, Walter 9, 13, 18, 20, 41, 53, 293 Federer, Roger 272 Fellmann, Ferdinand 25, 28 Feyaerts, Jasper 268 Feyerabend, Paul 115 Fließ, Wilhelm 210 f. Fontana, Oskar Maurus 174 Frank, Manfred 65 Frege, Gottlob 131 Freud, Anna 106
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Personenregister
Freud, Sigmund 1 f., 5 f., 8 f., 29, 41 f., 48, 106, 156, 159, 162, 166 f., 179, 193 f., 196 f., 200– 203, 205 f., 211, 219 f., 226–228, 232 f., 238, 240 f., 285, 291, 300–304, 308, 316–319, 321 f., 324–327, 337–341, 346 f. Frith, Uta 284 Fuchs, Thomas 268, 283
Horváth, Ödön von 333 Huch, Ricarda 232 Huizinga, Johan 27 Husserl, Edmund 1, 3, 5 f., 14, 17, 18, 26 f., 32, 52, 60, 283, 300 Hutto, Daniel 268, 284 Huysmans, Joris-Karl 230
Gadamer, Hans-Georg 14, 17, 292 Galilei, Galileo 117 Gallagher, Shaun 268, 279 Gebser, Jean 166 Geisenhanslüke, Achim 321 Goethe [Göthe], Johann Wolfgang von 145, 215, 300, 305 Grabowsky, Norbert 211 Graumann, Carl F. 26 Guattari, Félix 299
Illies, Florian 159 Innerhofer, Roland
2, 141,
Habermas, Jürgen 59 Hahn, Marcus 281 Hamacher, Werner 347 Hamburger, Michael 24, 31 Happé, Francesca 284 Harden, Maximilian 240 Hassenstein, Bernhard 153 Hebbel, Friedrich 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 308, 311, 323 f., 343, 344 Heidegger, Martin 1, 6 f., 17, 29, 57–68, 70 f., 157, 162, 165, 321, 325 Heider, Fritz 267, 284 Heraklit 321 Herder, Johann Gottfried 97 Hesse, Hermann 333, 335 Heydebrand, Renate von 27 f., 37 Hilbert, David 125 Hippokrates 198 Hirsch, Emanuel 70 Hirschfeld, Magnus 211 Hoffmann, Christoph 98 f., 257 Hofmannsthal, Hugo von 77, 85, 201, 225, 237, 240 Hoheisel, Claus 268 Hölderlin, Friedrich 2, 84, 314 Horkheimer, Max 342, 343, 347 Hornbostel, Erich von 284 f.
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Jaensch, Erich Rudolf 236 Jakobson, Roman 298, 302 Janus, Ludwig 7, 178 f., 183, 187 Jappe, Lilith 8, 160–164 Jastrow, Joseph 238 Jelinek, Elfriede 333 Johnson, Barbara 333 Joyce, James 159, 314, 334 Jung, C[arl] G[ustav] 6, 8, 96, 109 f., 166 f., 193, 196, 204, 285 Kafka, Franz 156, 159, 201, 278, 314, 334 Kaltenbeck, Franz 314, 322, 328 Kant, Immanuel 9, 43 f., 76 f., 79, 86 f., 92, 131, 154 f., 157, 323, 333, 339 f., 342, 344, 345– 348 Karthaus, Ulrich 195 Kerr, Alfred 226 Kessler, Harry Graf 225 Kierkegaard, Søren 69, 156, 165 Klages, Ludwig 1 f., 6, 8, 193, 198, 202, 203– 205, 207, 208 Klein, Melanie 242 Koffka, Kurt 135, 285 Köhler, Wolfgang 135 f., 140–142, 252, 275 f., 285 Krafft-Ebing, Richard von 193, 199, 200, 211 Kretschmer, Ernst 47, 196 f., 213 Krewet, Michael 44 Kristeva, Julia 321, 329 Kroemer, Roland 233 Krüger, Felix 285 Kümmel, Albert 254 Kuhn, Thomas S. 115 Kukkonen, Karin 286 Kutzbach, Karl August 227
Personenregister
Lacan, Jacques 9, 106, 108, 242, 302, 304, 311– 322, 324–329, 342 Le Rider, Jacques 212 Lenz, Siegfried 333 Lévinas, Emmanuel 30 Lévy-Bruhl, Lucien 236 Lewin [Levin], Kurt 26, 136, 250, 253 f., 267, 285 Lipps, Theodor 219 Liszt, Franz 305 f. Löser, Kai 80 Lorentz, Hendrik Antoon 2, 118, 121 Lukács, Georg 304 Mach, Ernst 2 f., 9, 18, 21, 25, 27, 80, 115, 194, 238, 267, 270, 284–286, 325 Maeterlinck, Maurice 230, 232 Mann, Heinrich 333, 344, 345 Mann, Thomas 159, 210, 285, 334 Maradona, Diego 270 Marcovaldi, Gaetano 269 Matsuzawa, Tetsuro 282 Mauch, Gudrun 80 Mauser, Wolfram 80 f. Maxwell, James Clerk 117, 251 Meinong, Alexius 49, 52, 284 Merleau-Ponty, Maurice 283 Messer, August 43 f. Minkowski, Hermann 2 Misselhorn, Catrin 37, 47 Moser, Walter 231 Mülder-Bach, Inka 27, 140 Müller, Aloys 26 Mulligan, Kevin 13, 18, 52, 60 Munch, Edvard 159 Münsterberg, Hugo 249 Musil, Elsa 181 Musil, Martha 294, 325 Napoleon (Bonaparte) 123 Necker (de Saussure), Louis Albert 238, 283 Nemitz, Rolf 312, 318 f., 328 Neymeyr, Barbara 38, 52 Niekerk, Carl 241, 337–339 Nietzsche, Friedrich 1, 16, 19, 29 f., 43–45, 77, 137, 141–143, 155, 194, 201, 202, 204 f., 209 f., 215, 216, 230, 238 f., 342
Noë, Alva 268 Nolan, Christopher O’Regan, Kevin Orwell, George Ovid 84
357
303
268 116
Palmer, Stephen 97 Pascal, Blaise 19, 64 Paul, Jean ( Johann Paul Friedrich Richter) 79, 82 Peano, Giuseppe 325 Pekar, Thomas 208 Petermandl, Mary 305 Pfohlmann, Oliver 8, 41, 187, 195 f. Pickerodt, Gerhard 79 Platon 198, 305, 321, 324, 329 Polo, Marco 5, 195 Popper, Karl 115 Porge, Erik 319 Pott, Hans-Georg 41 Priessnitz, Reinhard 314 Primavera-Lévy, Elisa 44 Prince, Morton 201 Propp, Vladimir 163 Proust, Marcel 272, 306
77,
Rank, Otto 154, 162, 166, 194 Recki, Birgit 79 Rehlander, Hermann 226 Reik, Theodor 316 f. Reiter, Heinrich 269 Ribot, Théodule 201 Rickenbacher, Sergej 53, 284 Rilke, Rainer Maria 239, 276, 279, 333 Russell, Bertrand 131, 326 Sacher-Masoch, Leopold von 343, 344, 345 Sade, Donatien Alphonse François (Marquis de) 342 Saunders, Peter 96 Schaffner, Jakob 226 Schapp, Wilhelm 14 Schaps, Regina 200 Scheler, Max 1, 6, 13–34, 38 f., 52 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 101 Schiller, Friedrich 77, 79, 86, 97, 154, 344 f.
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Personenregister
Schlegel, Friedrich 65 Schmitt, Arbogast 44 Schmitt, Carl 306 Schnitzler, Arthur 210, 314 Schopenhauer, Arthur 211 Schumann, Friedrich 235 Serres, Michel 270 Servaes, Franz 226 Shakespeare, William 84 Shelley, Percy Bysshe 84 Simmel, Georg 210 Simmel, Marianne 284 Skarr, Patricia 96 Sloterdijk, Peter 63, 340 f. Spengler, Oswald 314, 325 Spinoza, Baruch de 43 f. Spörl, Uwe 237 Stegmaier, Werner 44 Stern, Wilhelm (William) 285 Stifter, Adalbert 314 Stumpf, Carl 1, 3, 9, 18, 46, 49, 53, 95 f., 135, 227, 235, 238, 267, 284 f., 325 Swedenborg, Emanuel 323 Thomas von Aquin(o) 140 Thomé, Horst 199 Todorov, Tzvetan 78
Torberg, Friedrich 333–335 Trakl, Georg 210 Tugendhat, Ernst 65 Tyrka, Stefanie 226, 229, 237 Vanheule, Stijn 268 Vogl, Joseph 336 Vogt, Guntram 161 Wagner, Richard 201, 207 Wagner-Egelhaaf, Martina 100 Wallace, David Foster 271–273, 275, 280 Walser, Robert 333–335, 344 f. Wegener, Mai 342 Weininger, Otto 211, 242 Wertheimer, Max 97, 135, 285 Wiegler, Paul 227 f., 240 Wiethölter, Waltraud 79 Wilhelm II. (Kaiser von Deutschland) 188 Win[c]kelmann, Johann Joachim 97 Winnicott, Donald 153, 174 Wittgenstein, Ludwig 63, 65, 161, 238, 285 Wundt, Wilhelm 38 f. Zweig, Stefan 285 Žižek, Slavoj 320