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German Pages 189 [98] Year 1970
l:'owohlts 1nohog1"aphien. HERAUSGEGEBEN VON
KURT KUSENBERG
LENIN IN SELBSTZEUGNISSEN UND BILDDOKUMENTEN
DARGESTELLT VON HERMANN WEBER
ROWOHLT
Dieser Band wurde eigens für «rowohlts monographien» geschrieben . Den Anhang besorgte der Autor Herausgeber: Kurt Kusenberg · Redaktion: Beate Möhring Umschlagentwurf: Werner Rebhuhn Vorderseite: Lenin (Hermann Weber, Mannheim) Rückseite: Bolschewistische Demonstranten, 1907 (Ullstein Bilderdienst, Berlin)
INHALT EINLEITUNG KINDHEIT UND JUGEND
7 9
DER MARXIST LENIN
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VERBANNUNG UND EXIL
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«GEBT UNS EINE ORGANISATION VON REVOLUTIONÄREN ... » DIE REVOLUTION VON 1905
54
DIE BOLSCHEWISTISCHE PARTEI
70
KRIEG UND IMPERIALISMUS DAS REVOLUTIONSJAHR 1917
1.-20. Tausend 21 .-25 . Tausend 26.-30. Tausend 31.-35. Tausend 36.-39. Tausend 40.-44. Tausend
August 1970 Januar 1972 Februar 1973 April 1974 August 1975 September 1976
©
89
102
DER FÜHRER DES SOWJETSTAATES
123
DAS AUSBLEIBEN DER WELTREVOLUTION
1 39
KRITIK UND SELBSTKRITIK
1 49
ANMERKUNGEN ZEITTAFEL ZEUGNISSE
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, August 1970 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1970 Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten · Gesetzt aus der Linotype-Aldus-Buchschrift und der Palatino (D. Stempel AG) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Printed in Germany 580-ISBN 3 499 50168 6
49
163
169 1 73
BIBLIOGRAPHIE
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NAMENREGISTER
183
ÜBER DEN AUTOR
186
QUELLENNACHWEIS DER ABBILDUNGEN
186
,
EINLEITUNG
...
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Die Übernahme der Macht in Rußland im Oktober 1917 durch die Bolschewiki unter der Führung Lenins markiert sowohl einen Ein- . schnitt der russischen als auch der Weltgeschichte. Die Auswirkungen dieser Revolution, die in ihrer Bedeutung durchaus der französischen vergleichbar ist, prägen nach wie vor die politischen und sozialen Entwicklungen unserer Zeit, Die These, daß die Geschichte von Männern gemacht werde, ist in ihrer Einseitigkeit gewiß abzulehnen. Andererseits muß jedoch der überragende Einfluß Wladimir Iljitsch Uljanows - bekannt unter dem Namen Lenin - auf den Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts anerkannt werden. Selbst ein Anhänger des historischen Materialismus wie Sinowjew bezeichnete «neun Zehntel» der russi'schen Revolution als «das Werk Lenins» 1 *. Der Marxist und kritische Revolutionär Trotzki sagte, die Geschichte kenne niemanden, von dem die historische Entwicklung der Menschheit in gleich starkem Maße geprägt worden sei wie von Lenin. Trotzki ging sogar so weit, zu schreiben, daß es gar keinen Maßstab gebe, mit dem die historische Bedeutung Lenins zu messen sei. 2 Wie für die Anhänger, so steht auch für die Gegner Lenins - die sich aufs heftigste von ihm herausgefordert sahen - fest, daß Lenin «überragende weltgeschichtliche Bedeutung»3 hat. An Lenins 100. Geburtstag im April 1970 zeigte sich, daß das Bild Lenins noch immer «von der Parteien Gunst und Haß» bestimmt wird. Sein Leben ist heute mehr denn je von Legenden umwoben, und schon seit Lenins Tod ist der Buchstabe und erst recht der Geist seines Werkes in äußerst gegensätzlicher Weise ausgelegt worden. Doch die erfolgreiche Russische Revolution, das Niederreißen der alten russischen Gesellschaftsordnung und die ersten Schritte des Neuaufbaus sind für immer verbunden mit dem Namen Lenins, oder genauer - wie es in der zeitgenössischen Literatur hieß - mit «Lenin und Trotzki». Die Rolle Trotzkis wird von den heutigen Sowjetführern verschwiegen oder verschleiert, und seit der Beseitigung des Stalin-Kults rücken die kommunistischen Parteien Lenin in doppelt helles Licht; bei jedem Anlaß wird er zitiert oder. als unanfechtbare Autorität hingestellt. Das führt zu einer recht einseitigen Betrachtung nicht nur des Werkes, sondern auch des Lebens Lenins. Wenn auch unzweifelhaft ein Traditions- und Wirkungszusammenhang von Lenin über Stalin zur Welt der heutigen sozialistischen Staaten besteht, so kann man doch diese Entwicklung nicht als ein* Die hochgestellten Ziffern verweisen auf die Anmerkungen 5. 163 f.
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zig mögliche und folgerichtige ansehen. Inmitten der Kontinuität gibt es nämlich auch so manche Bruchstelle; selbst Lenin darf nicht als eine in sich einheitliche, während seines Wirkens unverändert gebliebene Größe verstanden werden. Die einzelnen Phasen seines theoretischen und politischen Werkes und vor allem die des nachleninschen Kommunismus ergeben ein sehr unterschiedliches Bild des «Leninismus ». Inzwischen hat die Literatur über Lenin und den Leninismus schier unübersehbare Ausmaße angenommen. Umfangreiche Biographien sind nicht nur im Osten, sondern in jüngster Zeit auch im Westen erschienen (Fischer, Wolfe, Ulam). Gegenüber diesen ausführlichen Darstellungen kann die vorliegende Monographie nur skizzenhaft bleiben. Das Ziel ist, zu zeigen, daß nicht nur der Kommunismus entscheidenden Wandlungen unterworfen war, sondern auch Lenin im Laufe seines Lebens mancherlei Veränderungen durchmachte. Im Gegensatz zu einigen großen Biographien kann dabei - gerade durch die Selbstzeugnisse - auch das persönliche Leben Lenins illustriert werden, wobei sich allerdings zeigt, daß bei Lenin, dem Politiker par excellence, Person und Politik nicht zu trennen sind. Lenins Geburtshaus in Sirnbirsk an der Wolga
KINDHEIT UND JUGEND Wladimir Iljitsch Uljanow entstammte, wie so viele russische Revolutionäre, einer Intellektuellenfamilie. Er wurde am 22. April 1870 (dem 10. April nach dem alten russischen Kalender) in Simbirsk an der Wolga, dem heutigen Uljanowsk, als viertes Kind des Ehepaares Uljanow geboren. Rußland war damals ein noch von feudalistischen Strukturen geprägtes Land. Politische Unterdrückung und Polizeiwillkür kennzeichneten das absolutistische Zarenreich. Sibirien, die Stätte der Verbannten, galt als das Wahrzeichen des Zarismus. Nicht weniger groß war die wirtschaftliche Unterentwicklung. Die industrielle Produktion lag weit unter der westlicher Länder. Auch die Landwirtschaft, von der vier fünftel de.r Bevölkerung lebten, zählte zu den rückständigsten der Welt. Erst im Jahrzehnt vor Lenins Geburt wurden Reformen eingeführt, die den Anschluß an die übrige zivilisierte Welt bringen sollten; so wurde im Jahre 1861 die Leibeigenschaft aufgehoben. Es blieb die kulturelle Rückständigkeit, die sich in einem weitverbreiteten Analphabetismus und der sprichwörtlichen Weltabgeschiedenheit und Zivilisationsfeindlichkeit des russischen Dorfes besonders kraß ausdrückte. Die Klasse, auf die sich Lenin später be·rief, die Industriearbeiterschaft, war in Rußland zur Zeit seiner Geburt erst im Entstehen begriffen, es gab nur 700 ooo Arbeiter. 9
Der Vater: Ilja Nikolajewitsch Uljanow
Die Mutter: Maria Alexandrowna, geb. Blank
Spiegelbild der russischen Provinz war Lenins Geburtsort Simbirsk. Die Uljanows übersiedelten 1869 in die 1648 gegründete Stadt an der Wolga. Sie zählte damals 30 ooo Einwohner; wie in ganz Rußland waren die Stadtteile streng nach Klassen geteilt: Adel, Händler und Kleinbürger. Simbirsk war eine zurückgebliebene Provinzstadt, mit den damals üblichen, meist einstöckigen Holzhäusern. Keine Bahnlinie verband Simbirsk mit der Außenwelt, obwohl es das Verwaltungszentrum des großen gleichnamigen Gouvernements war. Auf 43 ooo Quadratkilometern lebten 1 13 Millionen Menschen, darunter viele Tataren, ,Mordwinen und Tschuwaschen. Das Wolgagebiet war in der russischen Geschichte mehrfach Stätte von Aufständen gewesen, die sich im 17. und 18. Jahrhundert mit den Namen Stepan Rasin und Pugatschow verbinden. Doch Simbirsk war davon unberührt geblieben, es hatte als eine der wenigen Wolgastädte auch Stepan Rasin widerstanden. Auch im 19. Jahrhundert war es die «konservativste und beharrlichste» aller Wolgastädte. «Die Bauern waren hier noch rückständiger, der Adel noch verarmter und von ausgeprägterer reaktionärer Unbeugsamkeit als in den anderen Wolgastädten. Die Zeit schien hier stehengeblieben zu sein.»4 In diese stickige Atmosphäre war 1869 Ilja Nikolajewitsch Uljanow mit seiner 10
Familie aus der berühmten russischen Messestadt Nischni-Nowgorod gekommen. . Ilja Uljanow hatte sich aus armen Verhältnissen nach oben gearbeitet. Nicht einmal der Familienname stand endgültig fest: Die Geburtsurkunde des Vaters lautete auf Uljanin, im Meisterbuch stand Uljaninow, er selbst nannte sich Uljanow. Ilja Uljanow wurde am 26. Juli 1831 in Astrachan geboren, sein Großvater war Bauer gewesen, der Vater Nikolai Wassiljewitsch hatte das Schneiderhandwerk erlernt. Der 1765 geborene war bei Iljas Geburt bereits 66 Jahre alt, er starb 1838 1 als Ilja, der vierte und letzte Sohn, noch ein Kind war. Iljas Mutter, Anna Alexejewna Smirnowa war 25 Jahre jünger als ihr Mann, kalmückischer Abstammung und Analphabetin. Ilja wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, er konnte das Gymnasium nur besuchen, weil sein ältester Bruder Wassili, der ihn auch erzogen hatte, ihm Schule und Studium finanzierte. Wassili war Salinenbereiter, später arbeitete er als Fuhrmann und Handlungsgehilfe. Nachdem der fleißige Ilja das Astrachaner Gymnasium erfolgreich absolviert hatte (er wurde mit einer Silbermedaille ausgezeichnet), konnte er sich 1850 an der physikalisch-mathematischen Fakultät der Universität Kasan .immatrikulieren. 1854 bestand er die Abschlußprüfung, erhielt den Grad eines Kandidaten der mathematischen Wissenschaften und wurde im Mai 1855 zum Oberlehrer für Mathematik und Physik am Adelsinstitut in Pensa ernannt. Ein Kollege Uljanows in Pensa war mit Anna Blank verheiratet; dort lernte Ilja deren Schwester Maria Alexandrowna Blank kennen. Im Frühjahr 1863 verlobten sich beide, im August 1863 heirateten sie und siedelten im gleichen Jahr nach Nischni-Nowgorod über, wo Ilja Uljanow als Physik- und Mathematiklehrer im Knaben- und Mädchengymnasium unterrichtete. Maria Blank entstammte einer früh russifizierten wolhynien-deutschen Familie. Ihr Vater, der Arzt Alexander Dimitrijewitsch Blank (geboren 1802), hatte die medizinisch-chirurgische Abteilung der Universität Petersburg besucht und war sieben Jahre lang als Polizeiarzt tätig. Später wurde er Abteilungsarzt eines Krankenhauses. Blanks Frau, Anna Iwan.owna Groschopf, stammte aus einer Lübecker Großbürgerfamilie, außerdem hatte sie schwedische Vorfahren. «Der legendäre Großvater, der Vater von Marias früh verstorbener Mutter Anna Iwanowna Groschopf, war niemals in seinem Leben krank gewesen. Im Alter hatte er sich eine harte Regel auferlegt: Am Ersten eines jeden Monats nahm er zur Prophylaxe einen Eßlöffel voll Rizinusöl, zur Reinigung der Maschine, wie er sagte. Verheiratet war er mit der Schwedin Anna Karlowna Ostedt. 11
Der Vierjährige mit seiner Schwester Olga. Simbirsk, 1874
Zwei seiner Söhne, die Onk~i der Mädchen, waren angesehene Männer geworden : Karl war Vizedirektor im Departement für Außenhandel, und Gustav leitete die Zollinspektion in Riga. »s Anna Groschopf starb, als Maria drei Jahre alt war; deshalb wurden die fünf Kinder von ihrer Schwester Katharina erzogen. Der Vater Alexander übersiedelte in den vierziger Jahren als Militärarzt in den Ural, wo die Kinder aufwuchsen. Blank, ein Mann .von schroffem . Charakter, war Anhänger von Wasserheilkuren, seine Kinder wurden «zur Gesundheit» erzogen. Nachts hüllte er seine Töchter in feuchte Umschläge, um ihre Nerven zu stärken. Als Gutsbesitzer war Blank zunächst Herr über Leibeigene; nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 wurde sein Gut verkleinert. Maria Blank, die Lieblingstochter ihres Vaters, war ein stiller, ruhiger Mensch, in deutscher Tradition erzogen. Die Internatsschule brauchte sie nicht zu besuchen, sie erhielt sogenannte häusliche Erziehung: vor allem wurde sie in Musik, Sprachen und Literatur unterwiesen und beherrschte Deutsch, Englisch und Französisch. Ihren vier Jahre älteren Mann heiratete Maria Blank mit 28 Jahren, ihre Mitgift bestand aus dem fünften Teil des nicht mehr sehr großen väterlichen Gutes. In Nischni-Nowgorod wurden drei Kinder geboren: 1864 Anna, 1866 Alexander und 1868 Olga (die im gleichen Jahr starb). Im Herbst 1869 übersiedelten die Uljanows nach Simbirsk, und hier wurde Wladimir geboren. Der Vater Ilja Uljanow hatte das neugeschaffene Amt eines Volksschulinspektors im Gouvernement Simbirsk erhalten - eine große Aufgabe. Es gab nur wenige Schulen, und an diesen herrschten primitive Zustände, so daß der Vater viel unterwegs sein mußte. «Da Vater oft abwesend war, verbrachten wir unsere Zeit vorwiegend mit Mutter, lasen viel, lernten und schnitten aus Pappe und buntem Papier Tannenbaumschmuck aus. Da fast der ganze Baumschmuck von uns selbst unter Muttis Anleitung hergestellt wurde, begannen wir die Arbeit daran lange vor Weihnachten, und so waren unsere Winterabende ganz ausgefüllt.» 6 Wladimir Uljanow, der spätere Lenin, verlebte eine glückliche und frohe Kindheit. «Er war ein lebhafter, aufgeweckter und fröhlicher Junge, liebte lärmende Spiele und tollte gern umher. Für Spielsachen interessierte er sich wenig, meist zerbrach er sie»7, schilderte ihn seine ältere Schwester Anna. Wladimir bekam noch vier jüngere Geschwister: 1871 wurde Olga geboren (gleichnamig der 1868 gestorbenen Olga, 1873 Nikolaj (1873 gestorben) , 1874 Dimitrij und 1878 Maria. Die Kinder erhielten eine strenge und religiöse Erziehung, sie sollten arbeitsame und pflichtbe-
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Familie Uljanow (Hinterg rund Mitte: Alexander; vorne rechts: Lenin)
wußte Menschen werden. Der Vater war ein autoritärer Mann, der die Kinder kommandierte. Dimitrij berichtete später: «Ich erinnere mich an einen Abend in unserem Hause. Alle sind beschäftigt. Vater beugt sich über seinen Schreibtisch im Arbeitszimmer, im Obergeschoß sind Wladimir und Alexander in ihre Bücher vertieft, unten im Speisezimmer sitzt Mutter am großen Tisch und stickt oder macht eine andere Handarbeit. Neben ihr blättern Anna und Olga in ihren Büchern und Hefte!:. Maria und ich spielen leise. Uns Kleinen ist streng untersagt, die Alteren durch Lärm zu stören. Wenn jemand doch laut redet oder wenn Wladimir, nachdem er sein Pensum bewältigt hat, herunterkommt und mit uns lacht, erscheint sofort der Vater und sagt streng: 14
Und im Nu ist alles still. Im äußersten Fall ruft Vater den Schuldigen zu sich ins Arbeitszimmer, setzt ihn neben sich hin und gibt ihm eine Aufgabe. Also war die Ordnung im Hause recht streng.» 8 Anna Uljanowa schrieb später, der Vater habe die Kinder nie gelobt, obwohl sie ausgezeichnet lernten, er wollte sie immer zu noch höheren Leistungen anspornen. Ilja Uljanow war ein staatstreuer und religiöser Mensch. Mit selbstloser Hingabe und unermüdlichem Fleiß brachte er das im Simbirsker Gouvernement darniederliegende Schulwesen auf ein höheres Niveau. 1874 wurde er Direktor des Volksschulwesens in Simbirsk und gleichzeitig in den Beamtenadel erhoben. Mit ihm gehörten auch seine Kinder zum russischen niederen Adel. Von revolutionärer Gesim;mng konnte zu Lebzeiten des Vaters im Hause Uljanow überhaupt nicht die Rede sein. Mit leichterer Hand als der strenge Vater übernahm die Mutter die Haupterziehung der Kinder. Ruhig und ausgeglichen, fröhlich und freundlich, war sie zugleich Erzieher und Spielkamerad der Kinder. Wladimir Iljitsch lernte spät laufen, fast gleichzeitig mit der um anderthalb Jahre jüngeren Schwester Olga, der er ·sich aufs engste verbunden .fühlte. Der Knabe stürzte oft schwer, in weitem Umkreis war dann sein Gebrüll _zu hören. Mit ·f ünf Jahren begann Wladimir - gemeinsam mit der jüngeren Olga - lesen zu lernen. Die Mutter widmete der Lektüre der Kinder große Aufmerksamkeit und begann, nachdem sie das Russische beherrschten, schon bald mit dem Fremdsprachenunterricht. Als Junge übte sich Wladimir auch im 'Musizieren, mit acht Jahren spielte er viele Kinderstücke flott auf dem Klavier. Früh begann er auch das Schachspiel und war bald ein ausgezeichneter Spieler. Doch mit dem Eintritt ins Gymnasium vernachlässigte er Musik und Spiel und konzentrierte sich aufs Lernen. Im Herbst 1879, im Alter von neuneinhalb Jahren, trat Lenin ins Simbirsker Gymnasium ein; er war ein guter Schüler und hatte schon damals die Fähigkeit, konzentriert und systematisch zu arbeiten. f rühzeitig war eine Ähnlichkeit zwischen Wolodja (wie Wladimir genannt wurde) und seinem Vater festzustellen: er hatte dessen Statur, die breiten Backenknochen und Gesichtszüge, den etwas mongolischen Schnitt der Augen und die hohe Stirn geerbt. Wie der Vater besaß er einen lebhaften Charakter, und sein ansteckendes Lachen war bekannt. Große Willensstärke, Energie, die Fähigkeit, sich ungeteilt der Arbeit hinzugeben, dazu ein starkes Pflichtbewußtsein, waren ihnen gemeinsam. Wladimir Uljanows Fähigkeiten und Fleiß, · seine Wißbegier und Arbeitsintensität machten ihn zu einem hervorragenden Schüler, er wurde immer mit Auszeichnungen in die nächsthöhere Klasse versetzt. Doch so wenig das Milieu seiner Kind1.5
heit «revolutionär» war, so wenig war der Knabe ein «Wunderkind». «Er wuchs als normales, gesundes Kind heran, in den allerersten Jahren war er vielleicht sogar etwas zurückgeblieben.»9 Eine so glückliche und friedliche Atmosphäre wie in seiner Kindheit war dem Jugendlichen Wladimir Uljanow nicht beschieden. Am 24. Januar (12. nach dem alten Kalender) 1886 starb Vater Ilja mitten in der Arbeit. Der Fünfundfünfzigjährige schrieb seinen Jahresbericht, er fühlte sich unwohl, schaute nochmals nach der Familie, als wollte er Abschied nehmen. Der. Arzt stellte um fünf Uhr nachmittags den Tod fest. Den damals sechzehnjährigen Wladimir traf ein Jahr später der Tod seines ältesten Bruders weit härter. Alexander war das Vorbild des jungen Wladimir, der in seiner Nachahmung des geliebten Bruders so weit ging, daß ihn die anderen Geschwister manchmal damit aufzogen. «Was man ihn [Wladimir] auch fragen mochte, er verwies unwandelbar auf seinen geliebten Sascha [Alexander] », berichtete später Lenins Schwester Anna. 10 Alexander war ein ungewöhnlich ernster, pflichtbewußter und charakterfester Junge. In einem Schulaufsatz hatte er geschrieben, daß der Mensch für eine nützliche Tätigkeit «erstens Ehrlichkeit, zweitens Fleiß, drittens Charakterfestigkeit, viertens Geist und fünftens Wissen braucht» 11, und er bemühte sich, nach dieser Maxime zu handeln. Als Student schloß er sich der russischen revolutionären Organisation «Narodnaja Wolja» [Volkswille] an. Im März 1887 verhaftete die zaristische Geheimpolizei Alexander Uljanow, seine Gruppe hatte ein Attentat auf den Zaren Alexander III. vorbereitet. Alle Bemühungen der Mutter, den Sohn zu retten, blieben erfolglos, wohl auch deshalb, weil dieser mutig zu seiner Tat stand. Am 20, (8.) Mai 1887 wurde Alexander Uljanow in der Peltersburger Schlüsselburg gehängt. Die Hinrichtung des Bruders Alexander hinterließ bei Wladimir Uljanow einen unauslöschlichen Eindruck. Er verlor in seinem Bruder Alexander ein Jahr nach dem Tode des Vaters das große Vorbild seiner Kindheit und Jugend. Wie alle seine Geschwister wurde auch Wladimir nicht zuletzt durch den Tod des Bruders auf die revolutionäre Bahn gelenkt. Sicher hat ihn gerade dieses Erlebnis nicht nur zu einem Feind, sondern zu einem haßerfüllten Gegner des Zarismus gemacht. Doch Lenin wurde in den nächsten Jahren, als er sich zum Revolutionär entwickelte, auch davon überzeugt, daß man den Zarismus nicht durch Attentate - an deren Erfolg der Bruder noch geglaubt hatte - überwinden könne, sondern daß dazu eine starke revolutionäre Organisation erforderlich sei. Nach dem Tode des Bruders wurden bei Lenin aber auch liberale Neigungen verschüttet. Viele Freunde des Vaters waren Liberale, sie mieden nach 16
Das Gymnasium von Uljanowsk (früher: Simbirsk), in dem Lenin lernte
Alexanders Verhaftung die Familie Uljanow. Aus dieser Zeit stammt Wla~imirs später oft in zynischer Weise zum Ausdruck gebrachte Ablehnung, ja Bekämpfung der «liberalen Weichlinge». Während Wladimir Uljanow um das Schicksal des Bruders bangte, mußte er das Abitur ablegen. Mit großer Willenskraft, die ihn zeitlebens auszeichnete, bereitete sich der Siebzehnjährige auf die Prüfungen vor: Sie fanden vom 17. Mai bis zum 22. Juni statt - am 20. Mai wurde Alexander hingerichtet. Wladimir erhielt ausgezeichnete Noten, er wurde «des Reifezeugnisses und der Goldmedaille für würdig befunden». In der Charakteristik des Rektors des Gymnasiums, Kerenski (Vater des späteren Mi,histerpräsidenten), hieß es: «Außerordentlich begabt, ständig eifrig und akkurat, war Uljanow in allen Klassen der beste Schüler und wurde bei Beendigung des Studienganges wegen seiner Erfolge, seiner Entwicklung und seines Betragens als Würdigster mit der goldenen Medaille ausgezeichnet. Weder im Gymnasium noch außerhalb desselben wurde bei Uljanow auch nur ein einziger Fall beobachtet, wo er in Wort oder Tat bei den Leitern und Lehrern des Gymnasiums eine abfällige Meinung über sich hervorgerufen hätte! Auf 17
Bruder Alexander
das ,Studium und die moralische Entwicklung Uljanows achteten sorgfältig die Eltern immer, und ab 1886, nach dem Tod des Vaters, die Mutter allein, deren ganze Sorge der Betreuung und Erziehung der Kinder galt. Der Erziehung lag die Religion und vernünftige Disziplin zugrunde. Die guten Früchte der häuslichen Erziehung waren aus dem ausgezeichneten Benehmen Uljanows ersichtlich.» 12 Das alles läßt erkennen, wie weit der Weg Wladimir Uljanows zum Revolutionär Lenin noch war. Nach seinen späteren Aussagen 18
im Parteifragebogen war Lenin in der Tat bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr religiös. Der Einfluß des Vaters war unverkennbar, hatte doch Anna Jelisarowa-Uljanowa geschrieben: «Ilja Nikolajewitsch war ein tiefgläubiger Mensch und erzog seine Kinder in diesem Sinn, wobei er von ihnen gleichzeitig verlangte.» 1 3 Der Bruch mit den überkommenen Vorstellungen hängt bei Wladimir Uljanow eng mit dem Schicksal des Bruders zusammen: Mein Weg ist mir durch meinen älteren Bruder vorgezeichnet worden, soll er einem Mitgefangenen bei seiner ersten Verhaftung gesagt haben. 1 4 Nachdem Wladimir und Olga ihr Abitur bestanden hatten, fuhr die Familie Uljanow Ende Juni 1887 nach Kokuschkino, zum Gut der Familie Blank. Die älteste Tochter Anna, die zusammen mit Alexander verhaftet worden war, lebte nach ihrer Freilassung dort. Wladimir Uljanow durfte sich an der Universität Kasan immatrikulieren, und die Familie übersiedelte im Herbst 1887 nach Kasan. Zu dieser Zeit hatte die zaristische Unterdrückung einen Höhepunkt erreicht. Die Studentenschaft war damals die einzige revolutionäre Gruppe, und gerade bei ihr hatte die Hinrichtung Alexander Uljanows und seiner vier Mitangeklagten im Mai 1887 Angst und Schrekken, aber auch erneute f:mpörung hervorgerufen. Immer wieder kam es an den Universitäten zu Protesten. Zu dieser aufgewühlten Studentenschaft gehörte nun auch Wladimir Uljanow. Schon bald geriet er, den die Polizei kurze Zeit nach der Hinrichtung des Bruders überwachte, in Schwierigkeiten. Am 16. (4.) Dezember beteiligte er sich an einer Studentenkundgebung an der Kasaner Universität. Obwohl Wladimir Uljanow vermutlich nichts mit der Einberufung der Protestversammlung zu tun hatte, wurde er am nächsten Tage zu Hause verhaftet; angeblich war er in der ersten Reihe der Versammlung gesehen worden. Mit vierzig Verhafteten saß Lenin mehrere Tage im Kasaner Polizeigefängnis. Er wurde von der Universität relegiert und aus Kasan ausgewiesen. Dabei soll sich zwischen ihm und dem Polizeibeamten ein bezeichnender Dialog abgespielt haben: «Was rebellieren Sie, junger Mann? Sie haben doch eine Mauer vor sich.» Eine Mauer schon, aber eine morsche, man stoße, und sie bricht zusammen. 1 5 Wladimir Uljanow wurde nach dem Dorf Kokuschkino auf das Gut der Blanks verbannt und, wie seine Schwester Anna, unter Polizeiaufsicht gestellt. 16 Ein Jahr lebte er in der Einsamkeit des russischen Dorfes, von der seine Schwester Anna berichtete: «Nachbarn hatten wir keine. Wir verbrachten den Winter in tiefster Einsamkeit. Gelegentlich suchte uns ein Vetter auf, und manchmal erschien der Kreispolizeichef, um zu kontrollieren, ob ich noch an Ort und Stelle
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war und die Bauern nicht aufwiegelte ... Wladimir Iljitsch las viel ... Neben seiner Lektüre beschäftigte sich Wladimir Iljitsch mit seinem jüngeren Bruder und ging auf die Jagd, im Winter auf Schneeschuhen. Aber dies waren sozusagen seine ersten Schießversuche, und die Jagd brachte den ganzen Winter über nichts ein.» 1 1 Ein Jahr später, im Oktober :1888, erhielt Wladimir Iljitsch die Erlaubnis, wieder nach Kasan zurückzukehren. Die Familie mietete eine Wohnung, die recht malerisch am Berghang lag. Eine d,er beiden Küchen wählte Wladimir als Arbeitsraum, da sie abgefegener war, hier «umgab er sich mit Büchern und hockte den größteh Teil des Tages über diesen» 18 . Lenin arbeitete streng an sich, nach späteren Berichten soll er während dieser Zeit zum erstenmal auch das «Kapital» von Marx gelesen haben. Er traf auch mit Revolutionären zusammen, mit Vertretern der Narodnowolzen, den russischen Bauernrevolutionären. Ohne Zweifel beschäftigte er sich bereits mit revolutionärer Theorie. Typisch für den damals Neunzehnjährigen scheint folgender Vorfall. Er hatte zu rauchen begonnen, seine Mutter fürchtete um seine Gesundheit, die in seiner Kindheit und Jugend nicht die beste war, und wollte ihn zum Verzicht des Rauchens bewegen. Ihre Argumente versagten, bis sie ihn darauf verwies, daß die Familie, die von ihrer Pension lebte, sich die zusätzliche Ausgabe eigentlich nicht leisten könne. «Dies Argument wirkte, und Wolodja stellte das Rauchen sofort, und zwar für immer, ein.» 1 9 Im Mai :1889 verließ. die Familie Uljanow Kasan, sie übersiedelte in das Dorf Alakajewka bei Samara. Die Gendarmerie-Verwaltung berichtete: «Am 4. des verstrichenen Monats Mai kam [nach Alakajewka] die unter der Aufsicht der Geheimpolizei stehende Tochter eines ordentlichen Staatsrats Anna Uljanowa ... mit ihr trafen ihre Mutter ein, die Schwestern Olga und Marija, der unter der Aufsicht der Geheimpolizei stehende Bruder Wladimir.» 20 Die Mutter hatte hier ein kleines Gut mi't etwa 225 Morgen Land und einer Mühle erworben. Dafür war das Haus der Uljanows in Simbirsk und vermutlich auch der Anteil des Kokuschkinoer Gutes verkauft worden, denn die bescheidene Witwenrente von :1200 Rubel im Jahr reichte bei der großen Familie g~rade für das Leben. Damals versuchte die Mutter Uljanowa, Wladimir zum Bauern zu machen. Er berichtete später seiner Frau: Meine Mutter hätte gerne gesehen, daß ich mich mit der Landwirtschaft befaßte. Ich begann auch damit, sah aber ein, daß es nicht ging; die Beziehungen zu den Bauern wurden anormal. 21 Wolfe schließt aus diesen Andeutungen, daß der neue Besitz ge20
Lenin als Primaner. Simbirsk, 1887
gen Geld oder Naturalien den notleidenden Dorfbewohnern in Pacht gegeben wurde. Damit wäre der künftige Führer der Russischen Revolution in seiner Jugend, wenn auch nur für kurze Zeit, Gutsherr und Ausbeuter der Bauern gewesen. Es blieb eine kurze Episode. Nach einem halben Jahr, im Oktober 1889, verließ Lenin das Gut und zog nach Samara. Wladimir Uljanow entwickelte sich in seiner Samaraer Zeit weiter zum Revolutionär. Von der Poliz.ei argwöhnisch beobachtet, setzte er seine Studien fort. Mehrmalige Gesuche um Wiederzulassung zur Universität oder einen Auslandsbesuch wurden abschlägig beschieden. Erst im Mai 1890 wurde ihm gestattet, als Externer die staatlichen Prüfungen an der Universität Petersburg abzulegen. Mit seiner gewohnten Arbeitsamkeit und Willensanstrengung bereitete er sich auf die Examen vor und legte bereits ein Jahr später, im Frühjahrssemester 1891, an der Juristischen Fakultät die ersten staatlichen Prüfungen ab. Während der Zeit seiner Examen lebte Wladimir Uljanow in Petersburg, wo sich damals auch seine jüngere Schwester Olga befand. Sie berichtete der Mutter, daß Wolodja ein ruhiges Zimmer gefunden habe, wo er gut arbeiten könne. «Ich glaube, liebe Mutti, daß Du Dich umsonst um seine Gesundheit beunruhigst. Erstens ist Wolodja die verkörperte Vernunft und zweitens sind die Examen sehr leicht. Er hat bereits zwei Fächer abgelegt und in beiden Fällen eine